Theologische Realenzyklopädie: Band 32 Spurgeon - Taylor, Jeremy
 9783110864830, 9783110167122

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Theologische Realenzyklopädie Band X X X I I

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Theologische Realenzylaopädie In Gemeinschaft mit Horst Balz • James K. Cameron Stuart G. Hall • Brian L. Hebblethwaite Karl Hoheisel • W o l f g a n g Janke Kurt N o w a k • Knut Schäferdiek Henning Schröer • Gottfried Seebaß Hermann Spieckermann • Günter Stemberger Konrad Stock herausgegeben v o n Gerhard Müller

Band XXXII Spurgeon - Taylor

Walter de Gruyter • Berlin • New York 2001

Redaktion: Dr. Claus-Jürgen T h o r n t o n / D r . Albrecht Döhnert Lieferung 1 Lieferung 2 / 3 Lieferung 4 / 5

Juli 2 0 0 0 Spurgeon - Stift Stift - Symbol Dezember 2 0 0 0 Symbol - Taylor Mai 2001

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ClP-Einheitsaufnahme

Theologische Realenzyklopädie / in Gemeinschaft mit Horst Balz . . . hrsg. von Gerhard Müller. - Berlin ; New York : de Gruyter. ISBN 3-11-002218-4 Bd. 32. Spurgeon - Taylor. - 2001 ISBN 3-11-016712-3

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Spurgeon Spurgeon, Charles Haddon 1. Leben

2. Werk

1

(1834-1892)

3. Homiletisches Profil

(Quellen/Literatur S. 3)

1. Leben Der englische Baptistenprediger Charles Haddon Spurgeon wurde am 19. Juni 1834 in Kelvedon (Essex) geboren. Sein Vater war kongregationalistischer Laienprediger, sein Großvater kongregationalistischer Geistlicher (-»Kongregationalismus). Durch seinen Großvater James Spurgeon (1776-1864) lernte er in Stambourne die puritanische Literatur (—»Puritanismus) kennen und schätzen. Als Vierzehnjähriger kam er zu der Überzeugung, daß die -»Taufe an gläubigen Erwachsenen vollzogen werden sollte, nicht an Kindern. Am 13. Januar 1850 erlebte er die Predigt eines Primitive Methodist ( - • Methodistische Kirchen 2.1.) in einer Kirche in Colchester als Bekehrung zum Evangelium und als Zusage der Erlösung. Vier M o n a t e später, am 3. Mai 1850, wurde Spurgeon im Fluß Lark nahe der Fähre von Isleham in Cambridgeshire getauft. Obwohl er keine ordentliche theologische Ausbildung erhalten hatte, wurde er 1851 Pastor einer kleinen baptistischen Kirche in Waterbeach bei Cambridge. Gleichzeitig besserte er sein Einkommen durch eine Lehrtätigkeit an einer Cambridger Schule auf. 1854 siedelte Spurgeon nach London über und wurde Pastor der New Park Street Baptist Church im Stadtteil Southwark. 1856 heiratete er Susannah Thompson, eine Frau aus seiner Gemeinde. Sie bekamen Zwillinge, Charles und Thomas, die später beide baptistische Geistliche wurden. In London gewann Spurgeon ein so hohes Ansehen als Prediger, daß 1855 eine bauliche Erweiterung der Kirche erforderlich wurde. 1861 wurde diese dann durch das gänzlich neue Metropolitan Tabernacle in Newington Butts ersetzt, das ca. 5600 Menschen Platz bot. Sein Wirken an dieser Predigtstätte machte Spurgeon zum berühmtesten Prediger Englands und verbesserte Ansehen und Einfluß der nonkonformistischen Kirchen in der englischen Gesellschaft. Er war ein überzeugter Anhänger von William Ewart Gladstones (1809-1898) Liberaler Partei (-»Liberalismus), wenn er auch dessen Bestrebungen für die Loslösung Irlands vom englischen Mutterland (Homerule Bill, 1886) nicht billigte. Spurgeons Tätigkeiten blieben nicht auf die Kanzel beschränkt. Seit 1856 bildete er selber Studenten für das geistliche Amt aus. In der zunächst als The Pastor's College (später Spurgeon's College [-»London 3.]) bekannten Lehranstalt wurde mehr Wert auf erwiesene Fähigkeiten im Predigen als auf die Vermittlung von Faktenwissen gelegt. Das College vergrößerte sich schnell. Bis 1911 waren 2 4 % aller baptistischen Geistlichen Großbritanniens dort ausgebildet worden. Viele von Spurgeons ehemaligen Studenten wirkten in neuerrichteten baptistischen Kirchen vorwiegend in London und im Südosten Englands, deren Gründung er gefördert hatte. Auf diese Weise prägte die konservative evangelikale Theologie Spurgeons und seiner Studenten die Gestalt der modernen baptistischen Glaubensgemeinschaft in Großbritannien. 1867 gründete Spurgeon auch ein Waisenhaus, das bis heute unter dem Namen Spurgeon's Child Care besteht. Spurgeon war ein hartnäckiger und furchtloser Kontroverstheologe und um nahezu jeden Preis bereit, für sein Wahrheitsverständnis zu streiten. 1864 griff er in einer Predigt die evangelikalen Anglikaner an (-»Kirche von England). Er bezeichnete ihren Verbleib in der englischen Staatskirche als unaufrichtig, da deren -*Book of Common Prayer die Wiedergeburt durch die Taufe vertrat, eine Lehre, welche die meisten Evangelikaien ablehnten. Im Verlauf der Auseinandersetzung entschloß sich Spurgeon zum Austritt aus der -»Evangelischen Allianz. 1887 kehrte er aus Protest der Baptist Union den Rücken, da diese sich weigerte, gegen die seiner Meinung nach unvertretbar liberalen Ansichten von Sühne und Inspiration der Bibel vorzugehen. Diese Auseinandersetzung (sog. Downgrade Controversy) ging nicht spurlos an der baptistischen Glaubensgemeinschaft vorüber. Spurgeon selbst war zutiefst betroffen darüber, daß viele seiner ehemaligen Studenten zu schwach waren, ihm beim Austritt aus der Union zu folgen.

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Spurgeon

Sein zustand sischen London

durch eine chronische Nierenentzündung bereits angeschlagener Gesundheitsverschlechterte sich zusehends. Spurgeon starb am 31. Januar 1892 im franzöMenton. Den Weg des Trauerzuges zu seinem Begräbnis am 11. Februar in säumten mehr als 100000 Menschen.

2. Werk Spurgeon war ein fruchtbarer Erbauungsschriftsteller. Sein bedeutendstes Werk ist der siebenbändige Psalmenkommentar The Treasury of David. Sein populärstes Buch ist eine Sammlung von Sprichwörtern und praktischer spiritueller Weisheit mit dem Titel ]ohn Ploughman's Talk: or Piain Advice for Piain People (1868). Bis 1900 wurden 400000 Exemplare verkauft. Seit 1865 gab Spurgeon seine eigene Kirchenzeitschrift The Sword and the Trowel heraus, die weit über die Gemeindegrenzen hinaus Beachtung fand. Spurgeon war kein origineller theologischer Denker, für moderne Tendenzen in Bibelwissenschaften und Theologie hatte er keinen Sinn. Dennoch wäre es falsch, ihn als Fundamentalisten zu bezeichnen. Er war ein vielbelesener Mann, der Bildung und Theologie nicht geringschätzte; für ihn selber war jedoch die calvinistische Tradition (-•Reformierte Kirchen), wie sie von den englischen Puritanern vertreten wurde, die einzig entscheidende. Das -»Abendmahl nahm für den Anhänger -»Calvins eine besonders wichtige Stellung als Gnadenmittel ein, weshalb er sich weigerte, es wie die Mehrheit der Baptisten seiner Zeit lediglich als Gedächtnismahl im Sinne -»Zwinglis zu begreifen (vgl. T R E l,113,27ff.). Er hielt an der Realpräsenz Christi im Sakrament fest, betonte aber, daß die Präsenz nicht fleischlich sei. Seinen Studenten vermittelte er bis heute gültige homiletische Ratschläge, die in drei Reihen unter dem Titel Lectures to my Students veröffentlicht wurden (vgl. T R E 15,541,46-50). Spurgeons Predigten begeisterten nicht nur die damals größte protestantische Gemeinde der Welt. Auch in gedruckter Form wurden regelmäßig 25000 Exemplare seiner Predigten verkauft, die von der ersten Ausgabe von The New Park Street Pulpit 1855 bis zur Einstellung von The Metropolitan Tabernacle Pulpit 1917 wöchentlich in Einzelausgaben erschienen. Die Predigten wurden in viele Sprachen übersetzt und werden nach wie vor viel gelesen, besonders in den USA. 3. Homiletisches

Profil

Spurgeons Predigten waren bisweilen exegetisch naiv, vermittelten aber in einer farbenfrohen Alltagssprache und mit bodenständigem —»Humor eine strikt christologische Botschaft. Bei der Eröffnung des Metropolitan Tabernacle 1861 betonte Spurgeon, daß sein geistliches Amt an keine theologische Lehre oder Institution gebunden sein dürfe, auch nicht an den Hochcalvinismus (-»Orthodoxie II) seines berühmten Vorgängers in der Gemeinde von New Park Street, Pastor John Gill (1720-1771). Vielmehr wolle er allein Christus dienen, „der Summe und Substanz des Evangeliums ist, in sich selbst alle Theologie, die Menschwerdung jeder wertvollen Wahrheit, die allherrliche Verkörperung des Weges, der Wahrheit und des Lebens" (vgl. Autobiography III, 1). Spurgeon sah Christus in der ganzen Schrift, und er setzte seine überwältigende physische Präsenz und überschießende Energie ein, um Christus den Menschen nahezubringen. Der Prediger sei ein Zeuge, der Männer und Frauen durch Einfachheit und Direktheit zur Versöhnung mit Gott dränge. Diese Aufgabe sei aber nicht allein durch menschliche Beredsamkeit zu erfüllen. Zeugenschaft vollziehe sich pneumatologisch: „Wenn wir nicht den Geist haben, den Jesus verheißen hat, können wir nicht den Auftrag ausführen, den Jesus erteilte" (vgl. Lectures to my Students II, 3). Spurgeons Verständnis der Wirksamkeit des Geistlichen war stark trinitarisch geprägt: Der Dienst sei auf die Verherrlichung Gottes in der Kraft des Geistes ausgerichtet, und das würde durch die glaubwürdige Predigt von Jesus Christus erreicht, vor allem aber durch die wirksame -»Verkündigung von Christus, so daß die Menschen zur Bekehrung fänden. Spurgeons Predigten waren durch und durch evangelistisch, ließen aber soziale Themen nicht gänzlich

Spurgeon

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außer Betracht. 1860 prangerte er von der Kanzel die amerikanische -»Sklaverei (V) an und weigerte sich später, sein Urteil zurückzunehmen, obwohl es dem beträchtlichen Umsatz seiner Predigten in den amerikanischen Südstaaten schadete. Spurgeon war ein Meister des Epigramms und der -»Rhetorik, die er allerdings nicht zur künstlichen Ausschmückung seiner Reden anwendete. Vielmehr war er davon überzeugt, daß das Wort des Evangeliums in gewöhnlicher Sprache und alltäglichen Bildern Fleisch werden müsse. Die Rhetorik wurde so in den Dienst der Theologie gestellt. In einem für das 19. Jh. ungewöhnlichen M a ß interessierte Spurgeon sich für die Beziehung zwischen Kultur und Sprache sowie für die Bedeutung dieser Beziehung bei der Verkündigung der christlichen Botschaft. In seinen Lectures to My Students behauptete Spurgeon, „wer sich unter Bergleute und Grubenarbeiter mit theologischen Fachbegriffen und salonüblichen Vokabeln begibt, der benimmt sich wie ein Idiot. Die Verwirrung der Sprachen zu Babel war weitreichender, als wir annehmen. Sie gab nicht nur den Völkern verschiedene Sprachen, sondern machte auch die Sprache jeder einzelnen gesellschaftlichen Schicht verschieden" (vgl. Lectures to my Students II, 30). Predigen sei eine ganzheitliche Tätigkeit von Körper, Geist und Seele. Nach Meinung von H. -»Thielicke war Spurgeons Predigtstil selbst eine Veranschaulichung für die Einheit von Natur und Gnade. A. Geduhn hat auch überraschend die Zusammenhänge mit den Quellen der -»Mystik aufweisen können. Der sehr weltsinnige und irdische Humor von Spurgeons Predigt, der von intellektuellen Zeitgenossen so oft verhöhnt wurde, war der Schlüssel zu seiner unvergleichlichen Fähigkeit, das Evangelium von der Erlösung in die Sprache und Denkform seiner Zeit zu übersetzen. Quellen

(Auswahl)

Werke: John Ploughman's Talk. Or Plain Advice for Plain People, London 1868 (NA 1963); dt.: Reden hinterm Pflug, Kassel s 1901. - The Treasury of David. An Expository and Devotional Comm. on the Psalms, 7 Bde., London 1 8 7 0 - 1 8 8 6 = Welwyn 1977; dt.: Die Schatzkammer Davids, 4 Bde., Kassel 1912 = Waltrop 1995. - Lectures to my Students, London, I 1875 II 1877 III 1894; dt.: Ratschläge f. Prediger. 21 Vorl., gehalten in seinem Predigerseminar, Stuttgart 1896 2 1901 (NA Wuppertal 1962; 1975). - Library of Spurgeon's Sermons. Selected and ed. by Chas. T. Cook, 20 Bde., London 1 9 5 8 - 1 9 6 2 . - C. H. Spurgeon's Autobiography. Compiled from his Diary, Letters, and Records, by his Wife, and his Private Secretary, 4 Bde., London 1 8 9 7 - 1 9 0 0 ; dt.: Alles zur Ehre Gottes. Autobiographie, Wuppertal u.a. 1984. Herausgeber: The Sword and the Trowel, London, 1 (1865) ff.; dt.: Schwert u. Kelle, Hamburg, 1 (1881) - 6 (1886).

Literatur Günter Balders, Art. Spurgeon: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde, hg. v. Helmut Burkhardt/ Uwe Swarat, Wuppertal/Zürich, 3 (1994) 1890f. - Adalbert Geduhn, Simplicitas Evangelica. Rhetorik in den Predigten bei C.H. Spurgeon, Diss. Münster 1978. - Gustav Gieselbusch, Art. Spurgeon: RE 5 18 (1906) 6 9 7 - 7 0 7 . - Mark Hopkins, Spurgeon's Opponents in the Downgrade Controversy: BQ 32/6 (April 1988) 2 7 4 - 2 9 4 . - Ders., The Down Grade Controversy. New Evidence: ebd. 35/6 (April 1994) 2 6 2 - 2 7 8 . - Gustav Kawerau, C. H. Spurgeon, ein Prediger v. Gottes Gnaden, Hamburg 1892. - Burkard Krug, Art. Spurgeon: BBKL 10 (1995) 1080. - Patricia S. Kruppa, Charles Haddon Spurgeon. A Preacher's Progress, New York/London 1982. - Mike Nicholls, C . H . Spurgeon. The Pastor Evangelist, Didcot 1992. - G. Holden Pike, The Life and Work of Charles Haddon Spurgeon, 6 Bde., London 1894; 2 Bde., Edinburgh 1991. - Cornelis Anthony van der Sluijs, Charles Haddon Spurgeon. Een Baptist tussen Hypercalvinisme en Modernisme, Kampen 1987. - Peter Spangenberg, Theol. u. Glaube bei Spurgeon, Gütersloh 1969 (Lit.). - Helmut Thielicke, Vom geistlichen Reden. Begegnung mit Spurgeon. Nachw. v. Adolf Sommerauer, Stuttgart 1961 4 1978. - Jeremy Frank Thornton, The Soteriology of C.H. Spurgeon. Its Biblical and Hist. Roots and its Place in his Preaching, PhD. Thesis Univ. of Cambridge 1975.

Brian Stanley

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Staat/Staatsphilosophie I

Staat/Staatsphilosophie I. II. III. IV. V.

Altes Testament Neues Testament Judentum . . . Kirchengeschichte Staatsphilosophie

S. 9 S.20 S.22 S.47

I. Altes Testament 1. Vorbemerkungen 2. Geschichte und Formen der Staatlichkeit in Altisrael Bilder des Staates im Alten Testament 4. Schlußbemerkungen (Literatur S. 8)

1.

3. Orte und

Vorbemerkungen

In keiner semitischen Sprache gibt es ein begriffliches Äquivalent für „Staat", unter dem sich unterschiedliche Staatsformen subsumieren ließen. Der Alte Orient kennt im Grunde nur eine Staatsform: das -»Königtum (gemeinsemitisch bezeichnet mit Derivaten der Wurzel mlk, akkadisch sarru/sarrütu). Altorientalische Königreiche weisen die klassischen Merkmale von Staatlichkeit - abgegrenztes Staatsgebiet, benennbares Staatsvolk, zentrale Staatsgewalt - sehr wohl auf, jedoch in unterschiedlichen Ausgestaltungen: als Stadtstaaten (-»Stadt) und Flächenstaaten, mit stärkerer oder schwächerer Zentralgewalt, als Kleinstaaten und Großreiche, mit voller oder reduzierter Souveränität. Überdies kommt es zu Mischformen mit der anderen großen politischen Organisationsform: der Stammesgesellschaft, die in sich wiederum vielfältige Varianten aufweist. Trotz der fließenden Grenzen ist die Grundunterscheidung zwischen Stamm und Staat, zwischen dezentral verteilter und zentral ausgeübter Macht, zwischen verwandtschaftlich-horizontalen und hierarchisch-vertikalen Strukturen sinnvoll und nötig - und Israel hatte im Lauf seiner Geschichte Anteil an beidem. 2. Geschichte

und Formen

der Staatlichkeit

in

Altisrael

Bis zum 14. J h . v . C h r . wurde das politische Erscheinungsbild Kanaans durch einen bunten, keineswegs lückenlosen Teppich von Stadtstaaten geprägt (vgl. die Amarna-Korrespondenz, dort aber bereits Nachrichten über ein Territorialfürstentum unter Labaja). In den dünnbesiedelten, gebirgigen Landesteilen ließen sich ab dem 13. J h . verstärkt Neusiedler nieder, für die alsbald der Name „Israel" aufkam (vgl. die Merneptah-Stele). Sie organisierten sich in einzelnen Stämmen, bildeten aber kein geeintes Zwölfstämmevolk und auch keine Amphiktyonie (vgl. die Stammessagen in Jdc 3 - 1 6 ; in Jdc 9 der Reflex eines gescheiterten Staatsgründungsversuches durch Abimelech). Gerade von den Stämmen aber ging um 1000 v. Chr. die Initiative zur Bildung eines Flächenstaates aus. Verschiedene Voraussetzungen dafür lassen sich benennen: der politisch-ökonomische Niedergang des Stadtstaatensystems unter ägyptischer Ägide; die Expansion der Siedlertätigkeit im Bergland und die dadurch bewirkte Verschiebung des politischen und ökonomischen Status quo; die wachsende Solidarität unter den Stämmen und ihr Bedürfnis nach weiträumigeren Verkehrsund Handelsbeziehungen sowie nach zentraler Regelung der komplexer werdenden gesellschaftlichen Strukturen; militärische Konfrontationen nicht nur mit den Stadtstaaten (Jdc 4f.), sondern auch mit Nachbarn aus dem Westen (Jdc 1 3 - 1 6 ; I Sam 4; 13f.) und dem Osten (I Sam 11); endlich auch die Aussicht auf Kontrolle des internationalen Nord-Süd-Handels auf der Via Maris im Westen und dem sog. Königsweg im Osten.

Der erste, vom (Heeres-) Volk auf den Schild gehobene König Israels, -»Saul, gehörte dem kleinen Stamm Benjamin an, besaß also wenig Hausmacht (I Sam 9 - 1 1 ) . Abgesehen von der Gefolgschaftstreue seiner Sippen- und Stammesangehörigen (I Sam 20,25; 22,6f.), einer kleinen Söldnertruppe (I Sam 14,52) und einigen Latifundien (II Sam 19,30) verfügte er über keine Machtmittel. Von einem Verwaltungsapparat, vom Recht auf Steuereinnahmen, von dauerhafter Pflicht aller Stämme zur Heeresfolge verlautet nichts. Das Herrschaftsgebiet war klein und zerrissen (II Sam 2,9). Man spräche hier wohl besser von „Häuptlingtum" ( c h i e f d o m ) als von „Königtum" oder „Staat".

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Anders bei -»David und -»Salomo. Ihr Reich umfaßte neben einem Kernland - Juda, Israel und Kanaan, als Zentrum -»Jerusalem - eine breite Einflußzone in Ostjordanien und sogar gegen Syrien hin (II Sam 2f.; 5; 8; 24; I Reg 4f.; 11). Sie installierten eine Verwaltung (II Sam 8,16-18; 20,23 - 2 6 ; I Reg 4) und erlegten ihren Untertanen Abgabe-, Arbeits- und Militärpflichten auf (I Sam 25; II Sam 2 4 , 1 - 1 0 ; I Reg 5,6.27-29; 12,4). In der Hauptstadt wurden ein Palast und ein Staatstempel errichtet, im Land entstanden Festungsbauten (II Sam 5,9; I Reg 6f.; 9,15-19). Auch wenn die biblische Uberlieferung speziell die Herrschaft Salomos in gar zu leuchtenden Farben malt, sind die genannten Sachangaben im Kern zuverlässig. Das biblische Bild ist auch gar nicht einseitig positiv, sondern läßt durchaus Schwachstellen des davidisch-salomonischen Staates erkennen: die Isolierung des Königshauses vom Volk und die undurchsichtig-autoritäre Art der Nachfolgeregelung (II Sam 1 0 - 2 0 ; I Reg l f . ) , vor allem die nie behobenen Gegensätze zwischen dem israelitischen Norden und dem judäischen Süden (II Sam 2f.; 1 6 , 1 - 8 ; 1 9 , 4 2 - 4 4 ) , die sich in heftigen Aufständen entluden (II Sam 1 5 , 6 - 1 0 ; 20; I Reg 11,26 - 2 9 . 4 0 ) .

Nach Salomos Tod sagte sich der Norden endgültig vom Davidshaus los (I Reg 12). Fortan existierten zwei Königtümer deutlich unterschiedlicher Ausprägung. Im Nordreich scheint das tribale Erbe stärker fortgewirkt und die Monarchie sich nur mit Mühe etabliert zu haben. Den ersten König, -»Jerobeam I., setzte das Volk ein (I Reg 12,20), und bereits gegen seinen Sohn kam es zum ersten von vielen Thronstürzen (I Reg 15,27). Usurpatoren waren auch ->Omri und ->Jehu, die Begründer der beiden bedeutendsten Königshäuser. Die Omriden betrieben eine weltoffene Politik des Ausgleichs: im Innern zwischen dem kanaanitisch-städtischen und dem israelitisch-tribalen Element, nach außen zwischen den verschiedenen Regionalmächten Syrien-Palästinas. Sie übten eine kraftvolle Zentralherrschaft aus und errangen sich überregionalen Einfluß (II Reg 3; 8). Ein politischer Umschwung in Damaskus und Jehus Putsch (II Reg 8 - 1 0 ) führten zu einem tiefgreifenden Wandel. Die neue Dynastie verfolgte eine eher isolationistische Linie: im Innern gegen die kanaanitischen Elemente, nach außen gegen die Aramäer. Diese nahmen blutige Revanche (II Reg 6 f . ; Am 1,3), bis die Assyrer vom Norden eingriffen und Israel vorübergehend noch einmal zur führenden Regionalmacht aufstieg (II Reg 13f.).

Politische Wirren (Hos 10; II Reg 15), soziale Gegensätze (Am 3 - 6 ) und vor allem der Ansturm der Assyrer setzten dem Königreich Israel 722 v. Chr. ein Ende (II Reg 17). Dem an sich viel kleineren und schwächeren Südreich Juda war ein längerer Bestand beschieden: bis ins Jahr 586. Hier stand das Herrschaftsrecht der Daviddynastie nie in Frage (vgl. schon II Sam 2,4 mit 5,3). Vorhandene Widersprüche, namentlich zwischen hauptstädtischer Aristokratie und Landbevölkerung, wurden jeweils zwischen verschiedenen davidischen Thronprätendenten ausgetragen (z.B. I Reg lf.; II Reg 11; 21,23f.; 23,29f.). Außenpolitisch war Juda lange Zeit abhängig vom Nordreich (I Reg 22,4; II Reg 3,7; 9,27f.; 10,12-14), an dessen Untergang es dann freilich tatkräftig mitwirkte (II Reg 16,5-9; Jes 7 , 1 - 1 6 ; Hos 5 , 8 - 1 0 ) . Danach betrieb man in Jerusalem eine Schaukelpolitik zwischen den Großmächten Assyrien, Ägypten und Babylonien, denen man zumindest einen Teil seiner Eigenständigkeit abtreten mußte (II Reg 18,13-16; 20,12-19; 2 1 , 1 - 3 ; 23,29.33 —35), bis diese von den Babyloniern ganz ausgelöscht wurde (II Reg 24f.; Jer 39; 52). Im Judentum der Exilszeit gab es eine pro- und eine antibabylonische Richtung (Jer 2 7 - 2 9 ; 40f.; 50f.; Ez 17; Ps 80; 89; 137). Die Auseinandersetzung endete spätestens mit dem überraschenden Siegeszug des Perserkönigs Kyros, mündete alsbald aber in den neuen Streit, ob man nun auf die Restituierung des davidischen Königtums hoffen (Hag 2; Sach 4) oder sich mit einer relativen Autonomie unter persischer Oberhoheit begnügen sollte (I Sam 8; Esrabuch; Nehemiabuch). Die zweite Linie setzte sich durch. Die Perser hatten die staatliche Macht in Händen, erlaubten aber den Juden, den Tempel und die Stadt von Jerusalem wiederaufzubauen, eine eigene Provinz Jehud zu bilden und die Tora zu ihrer gemeinsamen religiösen und kulturellen Grundlage zu machen. Die tribalen

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bzw. familialen Strukturen, die in Israel und Juda immer fortgelebt hatten, erfuhren eine Renaissance (vgl. z . B . Num l f . ; I Chr 1 - 9 ; Esr 2; Neh 3). Es folgten lange Jahrhunderte persischer, griechischer und römischer Fremdherrschaft. Nur als die Seleukiden durch übergroße politische und ökonomische Pressionen den Makkabäeraufstand auslösten (I. Makkabäerbuch) und sich aus diesem wiederum das Königtum der Hasmonäer (103 - 6 3 v. Chr.) entwickelte, wurde der Traum von jüdischer Eigenstaatlichkeit - mit eigener Armee, eigenem Münzrecht usw. - noch einmal wahr. Er endete jedoch alsbald in der Pax Romana.

3. Orte und Bilder des Staates im Alten Testament 3.1. Im -»Pentateuch spielen Staaten nur eine Neben- und noch dazu eine überwiegend negative Rolle. Aus der biblischen -»Urgeschichte werden, ganz unüblich im Alten Orient, Staat und Königtum völlig ferngehalten, ja, in die anderswo dem König vorbehaltene Position des Ebenbildes Gottes tritt „der M e n s c h " ein (Gen l,26f.). In den Erzelterngeschichten bildet sich die staatliche Zukunft Israels höchstens schattenhaft ab, während die Erfahrungen mit fremden Königen als trübe erscheinen (Gen 1 2 , 1 0 - 2 0 ; 14; 20; 26). Die Josephnovelle (Gen " 3 7 - 5 0 ) zeigt eine gewisse Sympathie für staatliche Herrschaft, notiert aber mit Befremden die Machtfülle des ägyptischen Königs (Gen 40f.; 47). In den Mosegeschichten nimmt der Pharao endgültig die Züge eines Sklaventreibers und Tyrannen an (Ex 1; 5 - 1 4 ) ; draußen aber, bei den Stämmen der Steppe, winken Freiheit und Gottesnähe (Ex 2 - 4 ) .

Fernab jeglicher Staatsgrenzen und vor jedem Gedanken an eigene Staatlichkeit konstituiert sich Israel: als Gottes-, nicht als Staatsvolk. Statt einem König gibt Mose dem Volk die Gesetze. Darin ist nur ganz kurz einmal und bezeichnend restriktiv von künftigen eigenen Königen die Rede (Dtn 1 7 , 1 4 - 2 0 ) . 3.2. Zu Beginn der Geschichtsbücher agiert Israel betont als Stämmevolk: Ohne königliche Führung, um so deutlicher mit göttlicher Hilfe gewinnt es sein Siedlungsland (Josuabuch), richtet sich darin ein und erwehrt sich seiner Feinde (Jdc 1 - 1 2 ) . Doch als dann Wirren unter den Stämmen (Jdc 1 7 - 2 1 ; I Sam 2 , 1 1 - 3 6 ; 8 , 1 - 5 ) und von außen der Druck der Philister (Jdc 1 3 - 1 6 ; I Sam 4) überhandnehmen, entschließt man sich zur Installierung des Königtums. Die deuteronomistische Geschichtsschreibung, die diesen Texten die letzte Gestalt gegeben hat, ist in sich uneins, ob die Entwicklung positiv (so eine ältere Schicht: J d c 17,6; 21,25; I Sam 8 , 1 5 . 2 0 b - 2 2 ) oder negativ zu bewerten ist (so eine jüngere Schicht: Jdc 8,22f.; I Sam 8,6—20a). Auch die früheren Textstraten der Samuelbücher zeichnen sowohl von Saul als auch von seinem viel glücklicheren Nachfolger David und erst recht von Salomo ambivalente Bilder. Sehr bewußt läßt die biblische Überlieferung immer wieder Propheten den Königen gegenübertreten: teils als Helfer und Berater (I Sam 9,1-10,16; II Sam 7; I Reg 1 1 , 2 9 - 3 9 ; 1 8 , 4 1 - 4 6 ; 20; II Reg 3; 9 , 1 - 1 0 ; 1 3 , 1 4 - 1 9 ; 18,17-20,11; 2 2 , 1 2 - 2 0 ) , teils als Kritiker und Gegner (I Sam 15; II Sam 12; I Reg 13f.; 21f.; II Reg 1; 2 0 , 1 2 - 1 9 ; 2 1 , 1 0 - 1 6 ) .

Das Königtum erscheint als gefährdete und gefährliche Institution. Wohl gibt es mitunter achtbare Könige, die meisten aber (und vor allem die des Nordreichs!) neigen zu religiösen Fehlhaltungen (z.B. I Reg 11 f.; 16,31 f.; II Reg 1; 16; 21) und politischen Fehlentscheidungen (z.B. I Reg 1 2 , 1 - 1 4 ; 22; II Reg 1 4 , 8 - 1 4 ; 2 0 , 1 2 - 1 9 ; 24,1.20). Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit müssen sie zuerst im Norden, dann im Süden die Bühne räumen (II Reg 17; 24f.). 3.3. In den Prophetenbüchern spiegeln sich sowohl direkte Erfahrungen mit dem Königtum als auch nachträgliche Reflexionen darüber. Beides fällt ausgesprochen zweideutig aus. Das Königreich Nordisrael ist nur mehr in schmalen Textbereichen präsent, und dies in durchweg negativer Beleuchtung (Jes 2 8 , 1 - 4 ; Hos l , 3 f . ; 10; 1 3 , 1 - 1 0 ; Am 2 , 1 3 - 1 6 ; 7,10f.; 9 , 8 - 1 0 ) . Gegenüber dem davidischen Königshaus nehmen die Propheten eine ambivalente Haltung ein. Jesaja etwa will die Könige -»Ahas und -»Hiskia in wichtigen politischen Fragen beraten, trifft

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aber wiederholt auf Ablehnung und kündigt daraufhin Juda eine schlimme Zukunft an (Jes 6 - 8 ; 20; 2 8 - 3 1 ) . Nahum, Habakuk und Zephanja wehren sich gegen den sozialen und religiösen Anpassungsdruck, den die Assyrer auf Juda ausüben. Jeremia kann zwar zu Fragen der Außenpolitik Einfluß bei Hofe nehmen, sich aber nicht durchsetzen; über die meisten Könige seiner Zeit hat er sich sehr ungünstig geäußert (Jer 22; 27f.; 34; 3 6 - 3 8 ) . Ezechiel bzw. seine Schule rechnen mit dem Staat insgesamt (Ez 34) und speziell mit dem letzten judäischen König -»Zedekia scharf ab (Ez 17); den nach Babylon verschleppten Davidsproß -»Jojachin scheinen sie zu schonen, doch in ihrem Verfassungsentwurf für die Zeit nach der Rückkehr (Ez 4 0 - 4 8 ) vermeiden sie den Begriff madsk „König" sorgfältig. Für Deuterojesaja ist Jhwh selbst der König Israels (Jes 43,15; 44,6; 52,7); die Davidverheißungen gehen auf das Gottesvolk (Jes 5 5 , 1 - 3 ) , die äußeren Machtmittel auf den Perser Kyros über (Jes 4 5 , 1 - 7 ; ähnlich schon Jer 2 7 , 5 - 7 gegenüber Nebukadnezar). Haggai und Sacharja hoffen auf die Wiedererrichtung des Staates unter dem Davididen -»Serubbabel (Hag 2; Sach 4), doch tritt neben und bald vor diesen der Hohepriester Josua (Sach 3).

Ideale Könige hat Israel eigentlich nur für die Zukunft erwartet (Jes 9 , 1 - 6 ; 1 1 , 1 - 1 0 ; Jer 2 3 , 1 - 8 ; Mi 5 , 1 - 6 ; Sach 9,9f.). Beides ist bezeichnend: daß sie aus dem Davidhaus stammen sollen - und daß sie immer weniger als reale Herrscher und immer mehr als Symbolfiguren eines gottgewirkten, gerechten und friedlichen Miteinanders in Israel und auf der ganzen Welt erscheinen. 3.4. Innerhalb der restlichen Schriften des Alten Testaments sind dort, wo noch die Eigenstaatlichkeit den Hintergrund bildet, ebenfalls unterschiedliche Töne zu vernehmen. Neben deutlich proköniglichen Liedern und Sprüchen (etwa Ps 2; 45; 72; Prov 20,26f.; 22,11) gibt es ebenso eindeutig königskritische (z.B. Ps 33; Prov 20,2; 28,15f.; 29,26). Könige werden ermahnt, ihre Macht nicht zu mißbrauchen - also taten sie es (Prov 20,8; 29,12; 3 1 , 1 - 9 ) .

Die nachexilische Zeit idealisiert und spiritualisiert die eigenen Könige zunehmend. David erscheint als vorbildhafter Beter und Büßer (Ps 3—89), Salomo als exemplarischer Weiser (vgl. die Zuschreibung von Proverbia, Kohelet und Hohemlied an ihn [-»Salomo/ Salomoschriften I]). In der Chronik figurieren beide weniger als Machthaber denn als Kultstifter (I Chr 13; 15f.; 2 1 - 2 9 ; II Chr 3 - 7 ) . Die wirkliche staatliche Macht liegt jetzt bei fremden Herrschern. Damit muß man sich abfinden (Koh 5,7f.; 8 , 2 - 9 ) , daraus kann man auch großen Nutzen ziehen (Esr 1; 6f.; Neh 1 f.; Dan 1). Doch birgt die Situation unkalkulierbare Risiken für einzelne wie für das ganze jüdische Volk (Dan 1 - 6 ; Est 1 - 3 ; I Makk 1). Der apokalyptische Seher sieht, gelassen und gespannt zugleich, wie die Weltreiche kommen und gehen — und am Ende den „Heiligen des Höchsten" die Herrschaft übergeben wird (Dan 2; 7). 4.

Schlußbemerkungen

Über weite Strecken seiner Geschichte ist Israel ohne eigenen Staat, nie aber ohne die tribalen Strukturen und Denkweisen ausgekommen, die es von früh an geprägt haben. Daher erklärt sich die augenfällige Distanziertheit des Alten Testaments gegenüber Königtum und Staat. Andererseits hat man die Vorzüge staatlicher Ordnung — selbstgeschaffener oder von außen auferlegter - sehr wohl wahrgenommen und auch zu nutzen versucht. In Israel wurde um eine angemessene Einschätzung und um eine menschenfreundliche Gestaltung des Staates fortgesetzt gerungen, und man ist dabei zu Einsichten gelangt, die demokratischen Idealen zumindest nahekommen. Man erkannte den Staat als beides: als nie vollkommen und stets mißbrauchbar, aber auch als hilfreich, wohl gar unentbehrlich bei der Organisation großer und komplexer Gesellschaften. Solche Fähigkeit zu nüchterner Wahrnehmung erwuchs Israel offenbar aus der äußerst wechselhaften Geschichte, die es durchlebt hat. Eine große Rolle kam dabei der Jhwh-Religion zu. Von allem Anfang an erfuhr Israel Jhwh als einen Gott, der aus den Zwängen gerade staatlicher Macht befreit. Zwar konnte man auch in der eigenen Staatenbildung eine solche Befreiung und also in Jhwh einen Staatsgott zu sehen versuchen (II Sam 6; I Reg 8; 12). Doch behielt im Bewußtsein Israels stets Gottes enge Bindung an sein Volk den Vorrang.

Staat/Staatsphilosophie I

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Staat/Staatsphilosophie II

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II. Neues Testament 1. Jesus und die Jesusbewegung 2. Paulus 4. Apostelgeschichte 5. Johannesapokalypse

3. Pastoralbriefe, 1. Petrusbrief und Hebräerbrief (Literatur S. 17)

1. Jesus und die Jesusbewegung Das Verhältnis Jesu von Nazareth und seiner Anhängerschaft zu den staatlichen Ordnungen ihrer Zeit wird einerseits bestimmt durch das grundsätzliche theologische Problem, inwieweit Jesus mit seiner Botschaft von der nahenden Gottesherrschaft (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) alle weltliche Ordnung in ihrem Sein in Frage gestellt hat, und andererseits durch die konkreten Problemkreise seiner Stellung zur politischmessianischen Aufstandsbewegung gegen die römische Herrschaft (-»Zeloten) und seines Verhältnisses zu der halbautonom herrschenden jüdischen Tempelaristokratie. Die Botschaft Jesu vom Kommen des zukünftigen Gottesreiches stellt grundsätzlich alle weltlichen Ordnungen unter einen eschatologischen Vorbehalt, denn die in ihr erhoffte Rechts- und Sozialordnung steht im Widerspruch zu Grundelementen bestehender staatlicher Herrschaft (vgl. Theißen/Merz 251). So wird zwar das Gottesreich z. B. nicht hierarchielos gedacht, doch findet eine Umkehrung der Machtverhältnisse statt. Die Herrscher der Welt (Mk 10,42 par.) gehören nicht in den Bereich des Gottesreiches. Seit H.S. -»Reimarus wurde immer wieder die Frage diskutiert, ob sich Jesus und seine Anhänger aktiv gegen die römische Herrschaft einsetzten. Auf historisch sicherem Boden befindet man sich mit der Annahme, daß Jesus von der römischen Obrigkeit als politischer Aufrührer mißverstanden wurde. Die Pilatusfrage (Mk 15,2) zeigt, daß sich die römischen Behörden allein für die politische Frage interessieren, ob Jesus ein neuer König der Juden sei und mit diesem messianischen Anspruch die eigene Herrschaft in Frage stelle. Die Formulierung „König der J u d e n " entstammt, wie der biblische Befund zeigt, römischer, nicht jüdischer Diktion. Sie wird bei M a r k u s nur dort verwendet, w o Jesus und die römische Obrigkeit aufeinandertreffen. „König der J u d e n " ist das Leitmotiv (Mk 15,9.18.26) sowohl in dem von Pilatus durchgeführten Verhör als auch in der Kreuzigungsszene. Bei der Verurteilung und Hinrichtung Jesu durch die römischen Behörden spielten religiöse Gründe keine Rolle. Die Kreuzigung als typische Hinrichtungsart für Hochverräter und Rebellen (-»Kreuz) und der titulus crucis unterstreichen die Vermutung, dal? Pilatus und seine römische Behörde in Jesus eine Bedrohung der staatlichen Ordnung sahen und ihn deshalb wegen Majestätsverbrechen hinrichten ließen. Im Johannesevangelium wird das irdische Königtum Jesu ausdrücklich verneint (Joh 18,33-38; vgl. 6,15).

Die Argumente für die Annahme, daß Jesus selbst als politischer Messias gegen die römische Obrigkeit gekämpft habe, können nicht überzeugen. Es gibt zwar einige begründete Hinweise darauf, daß Jesus während seiner öffentlichen Wirksamkeit mit zelotischen Kreisen in Berührung gekommen ist, da er in Galiläa, der Heimat des Zelotismus, lehrte und seine Botschaft besonders an die Kreise der Bevölkerung richtete, die auch für Freiheits- und Hoffnungsparolen der Zeloten aufgrund ihrer sozialen Situation empfänglich waren. Auch könnten einige Jüngernamen (vgl. bes. Simon der Zelot, Lk 6,15; aber auch -»Judas Iskariot) darauf hinweisen, daß ehemalige Widerstandskämpfer zum engsten Kreis um Jesus gehörten. Doch sagt dies über die inhaltliche Ausrichtung der Botschaft Jesu nichts aus, sondern beschreibt das Lokalkolorit seines Wirkungsfeldes. Auch das lukanische Schwertwort (Lk 22,35-38) führt nicht weiter. Der Jesus zugeschriebene Ausspruch „Jetzt aber, wer einen Geldbeutel hat, nehme ihn und eine Reisetasche, und wer nichts hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert" (V. 36) will keine Gewaltanwendung gegen die römische Obrigkeit sanktionieren, sondern spiegelt die häufig bedrohte Situation der Wandermissionare in der frühapostolischen Zeit. Es geht bei diesem nachösterlichen Wort um das geringstmögliche Maß an Vorsorge zum Schutz des eigenen Lebens in Zeiten der äußeren Bedrohung. Demgegenüber hat die „Zinsgroschenepisode" (Mk 12,13-17 par.) ein erheblich stärkeres

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argumentatives Gewicht. In ihr grenzt sich Jesus aus religiösen Motiven eindeutig gegen politischen -»Widerstand ab, wie er in der radikaltheokratischen Lehre des Judas Galilaios ab 6 n.Chr. gefordert wurde. Im Mittelpunkt der Szene steht die Kopf- und Grundsteuer, die von der Zelotenpartei mit der Begründung, sie symbolisiere Knechtschaft und Götzendienst, abgelehnt wurde, jedoch von den römischen Behörden in Judäa und Samaria 6/7 n. Chr. eingeführt wurde. Hätte Jesus auf die Frage der -»Pharisäer geantwortet, daß man den Römern die Steuermünze verweigern solle, wäre klar gewesen, daß er sich mit dem zelotischen Aufruf zur Steuerverweigerung identifiziert. Die Münze ist Sinnbild des kaiserlichen Anspruchs auf göttliche Verehrung, der für jeden gläubigen Juden ein Greuel gewesen sein muß. Jesus fragt nun: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?" (Mk 12,16) Damit macht er deutlich, wem die Münze gehört, und zieht hieraus den Schluß: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" (Mk 12,17) Die Betonung liegt auf der zweiten Hälfte des Satzes (so Cullmann), womit der Entscheidungsmaßstab bei Gott und nicht beim Kaiser liegt. Im Konfliktfall ist die Schuld gegenüber Gott immer höher zu bewerten als die gegenüber staatlichen Gewalten.

Der Glaube an einen einzigen Gott beinhaltet für Jesus keine Notwendigkeit, dem Kaiser Widerstand zu leisten. „Aber auch bei Jesus findet sich eine radikaltheokratische Alternative: Zwischen Gott und dem Mammon gibt es nur ein schroffes Entweder Oder. In diesem Bereich kann man nicht zwei Herren zugleich dienen (Mt 6,24/Lk 16,13). Da der Kaiser letztlich hinter dem Geld steht, bleibt auch bei Jesus eine politische Spannung" (Theißen/Merz 140). Auch die Austreibung der Wechsler und Opfertierhändler aus dem -»Tempel (Mk 1 1 , 1 5 - 1 8 par.) läßt sich schwerlich als Beleg für Jesu revolutionäre Gesinnung und grundsätzliche Gewaltbereitschaft heranziehen. Es handelt sich hierbei um eine kultkritische Symbolhandlung, die sachlich mit Jesu Prophetie gegen den bestehenden Tempel zusammengehört. Das Nichteingreifen der römischen Behörden deutet ebenfalls darauf hin, daß die Motive Jesu nicht im politisch-religiösen Bereich gelegen haben können. Die Konfrontationen, die Jesus mit den Herodianern (Mk 3,6; 12,13) und den -»Sadduzäern (vgl. bes. die Passionsgeschichte) hatte, entsprangen religiösen Motiven, berührten in der Steuerfrage und in der Tempelkritik aber auch die politische Machtbasis dieser herrschenden jüdischen Gruppierungen. Die Kritik Jesu an der Praxis des Tempelbetriebes ist auch eine Kritik an den Resten einer halbautonomen Theokratie, wie sie unter den Hohenpriestern zur Zeit Jesu in -»Jerusalem bestand. 2. Paulus 2.1. Die Aussagen, die in den genuin paulinischen Schriften über das Verhältnis der frühen Christen zu staatlichen -»Obrigkeiten gemacht werden, sollten sowohl unter missionsstrategischen als auch biographischen Gesichtspunkten verstanden und eingeordnet werden. Die paulinische Sicht des Staates und des Verhältnisses zu seinen Vertretern war eingebettet in die persönliche Erfahrung, daß Konflikte mit den Obrigkeiten den Auftrag, das Evangelium rasch unter den Heiden zu verbreiten, gefährden, ja verhindern konnten. 2.2. Bereits in der Frühzeit der missionarischen Tätigkeit des -»Paulus kam es zu einem heftigen Zusammenstoß mit dem Ethnarchen des Nabatäerkönigs Aretas IV. Paulus mußte Damaskus fluchtartig verlassen (II Kor l l , 3 2 f . ) . Ob er durch missionarische Aktivitäten unter den heidnischen Nabatäern Anstoß erregte oder ob seine Predigt zu Denunziationen aus jüdischen Kreisen führte (vgl. Act 9 , 2 2 - 2 5 ) , bleibt ebenso offen wie die genauen Motive der Verfolgung. Doch handelt es sich bei diesem Zwischenfall um den ersten uns bekannten Zusammenstoß zwischen staatlichen Gewalten und Paulus aufgrund seiner Missionsverkündigung. Im Laufe der weiteren Missionstätigkeit kam es dann zu teils lebensbedrohenden Konflikten mit staatlichen Gewalten, vor denen Paulus auch durch sein römisches Bürgerrecht nicht geschützt war. Innerhalb eines Peristasenkatalogs berichtet der Apostel, selbst dreimal die staatliche Auspeitschung er-

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litten zu haben (II Kor 11,25). Erzählungen aus der Apostelgeschichte können wegen ihres recht genauen Lokalkolorits Hinweise auf die Ursachen der Konflikte geben: Act 16,19ff. nennt als Motiv, daß Paulus und Silas Unruhe in die Stadt brächten (V. 20). Vor dem Prokonsul Gallio wird Anklage wegen Verstoßes gegen die Gesetze erhoben (Act 1 8 , 1 2 - 1 7 ) . Der erhobene politische Tatbestand wird mit dem Vorwurf aus Act 17,7 vergleichbar gewesen sein: Dort wird der Vorwurf des Gesetzesverstoßes insbesondere dadurch konkretisiert, daß man die (nicht anwesenden) Missionare anklagt zu behaupten, einem anderen als dem Kaiser gebühre der Titel „König". Damit versetzten sie das Volk nicht nur in Unruhe, sondern brächten es zum Aufstand (Act 17,8). Im Kern wird den Christen hier unterstellt, sie würden dem römischen Imperator die Weltherrschaft bestreiten. O b Paulus aufgrund solcher Vorwürfe in Ephesus ad bestias verurteilt wurde oder ob er sich in I Kor 15,32 nur übertragener Redeweise bedient, kann nicht eindeutig entschieden werden. Zumindest spricht er in II Kor 1,9 von einem Todesurteil, das in der Asia (-»Kleinasien) über ihn verhängt wurde, indem er den technischen Ausdruck damaliger Amts- und Gerichtssprache für das Strafmaß verwendet (Hans Windisch, Der zweite Korintherbrief, '1924 [Neudr. 1970] [KEK 6] 46). Hintergrund all dieser Vorkommnisse bildet die Religionspolitik des Kaisers Claudius (41—54 n. Chr.), die einerseits von Anstrengungen zur Wiederbelebung des altrömischen Kultes als einer die Völkervielfalt verbindenden Religion, andererseits aber auch deutlich vom Bemühen um Toleranz gegenüber den zahlreichen Religionen seines Weltreichs bestimmt war (vgl. die beiden judenfreundlichen Edikte des Kaisers: Josephus, Ant X I X , 2 8 6 - 2 9 1 ) . Allerdings fand, wie den Warnungen in den an die Juden gerichteten Toleranzedikten zu entnehmen ist, die Duldung des Kaisers dort ihre Grenze, wo der politische Frieden durch religiöse Gruppen gefährdet war. Besonders sah der Kaiser in magischen und astrologischen Praktiken orientalischer Kulte eine Gefährdung seiner Stellung, was bei seiner Haltung gegenüber dem Christentum immer mitzubedenken ist. Mit dieser Haltung konnte er sich auf die unter Augustus und Tiberius erlassenen Edikte gegen Astrologen und Wahrsager berufen. 2.3. Paulus reagiert auf die dauernde Gefährdung seines Auftrages mit einer Strategie der größtmöglichen Konfliktvermeidung gegenüber den staatlichen Gewalten. Bereits in den Paränesen des 1. Thessalonicherbriefes als ältesten erhaltenen Paulusbriefs findet sich eine ausgeprägte Tendenz zum allgemeinen Respektieren der gesellschaftlichen Ordnung (s. I Thess 4,12: „... damit ihr anständig vor denen draußen euer Leben führt"; 5 , 1 2 - 1 5 ) trotz einer virulenten Naherwartung innerhalb der Gemeinde. Umstritten ist, ob Paulus darüber hinaus in I Thess 4,11 vor politischen Aspirationen warnt. Eine solche politische Interpretation wurde bereits von Ernst von Dobschütz (Die Thessalonicher-Briefe, 7 1909 [Neudr. 1974] [KEK 10] 180) vertreten. Es ginge dann Paulus darum, die Gemeinde davor zu warnen, Staats- und Stadtangelegenheiten nach einem eigenen eschatologischen Programm regeln zu wollen (dagegen etwa: Traugott Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher, 1986 = 3 1998 [EKK 13] 176). Festzuhalten bleibt jedoch, daß der Apostel seine Gemeinden zu einem Respektieren der weltlichen Strukturen immer wieder aufgerufen hat (so auch I Kor 7 , 1 7 - 2 1 ; 14,40). Besonders konkret wird diese Haltung in der paulinischen Sicht der Sklavenfrage (-»Sklaverei), die Paulus aufgrund eines konkreten Einzelfalles im —•Philemonbrief anspricht. Wie auch sonst unterscheidet der Apostel hier zwischen dem Binnenverhältnis des Zusammenlebens von Christen in ihren Gemeinden und der Haltung der Christen nach außen: die bestehenden staatlichen Rechtsverhältnisse werden nicht in Frage gestellt; andererseits bittet Paulus Philemon, seinen Sklaven brüderlich in seine Hausgemeinde aufzunehmen, ja er bietet sogar Schadenersatz an (V. 19). Die bestehenden Verhältnisse werden nicht einfach negiert, sondern in ihrer eschatologischen Endlichkeit respektiert und im internen Zusammenleben der christlichen Gemeinden transzendiert. In I Kor 6 , 1 - 1 1 lehnt es Paulus mit allem Nachdruck ab, daß Christen zur Bereinigung von internen Rechtsstreitigkeiten die staatlichen Gerichte anrufen. In dieser Ablehnung wird das Selbstbewußtsein der frühen Christenheit aus paulinischer Sicht deutlich. M a n kann diese Haltung als „eschatologische Souveränität" beschreiben, sollte allerdings bedenken, daß es auch innerhalb des Judentums vorgeschrieben war, die eigene Zivilgerichtsbarkeit in Anspruch zu nehmen.

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2.4. R o m 1 3 , 1 - 7 gilt bis heute als exegetischer Angelpunkt jedweder Diskussion um das Verhältnis von Staat und Kirche. Eine Interpretation des Abschnittes sollte seinen paränetischen Charakter, seinen Situationsbezug und seine Einbindung in den literarischen Kontext auf dem generellen Hintergrund der paulinischen Missionsstrategie beachten, um Mißverständnisse des Textes zu vermeiden: Der literarischen Form nach kann der Text als eine Abfolge instruktiver und argumentativer Aussagen gewertet werden. Die instruktiven Textteile geben Anweisungen für zukünftiges Handeln und haben von daher für die Adressaten besondere Bedeutung. Dagegen kommt den argumentativen Textteilen rational begründende Funktion zu. Durch ihren instruktiven Charakter erhält - neben der den Gedankengang eröffnenden Mahnung der Unterordnung unter die übergeordneten Gewalten - die Aufforderung, das Gute zum eigenen Lob zu tun und das Böse zu unterlassen, besondere Bedeutung (V. 3b—4). Die zwischengestellten begründenden Aussagen (V. l b - 3 ) explizieren die Forderung nach Unterordnung. Hierzu verwendet Paulus Termini verwaltungsrechtlicher Sprache (Strobel, Verständnis 76). V.5 faßt den Gedankengang verschärfend zusammen, während V.6f. die Forderungen auf einen konkreten Fall abschließend anwenden. Für die paulinische Argumentation typisch ist eine Theologisierung profaner Aussagen, die er durch die mehrfache Beiordnung des Genitivattributes Ocov zur Funktionsbestimmung obrigkeitlicher Gewalten (z. B. „Diener Gottes") und durch die Übernahme des jüdisch-christlichen Wortfeldes vom endzeitlichen -»Gericht nach den Taten erreicht. Die Möglichkeit einer Theologisierung mit Hilfe dieses Wortfeldes ist dadurch gegeben, daß es in dem intentionalen Moment der göttlichen -»Strafe für das böse Werk und des göttlichen Lobes für die gute Tat semantisch und formal mit der aus der pagangriechischen Historiographie stammenden Zuordnung von Lob/Tadel zu der guten/schlechten Tat übereinstimmt. Die Legitimität der Forderung nach Unterordnung wird folglich durch den Hinweis auf analoges göttliches Verhalten den Rezipienten einsichtig gemacht. Theologische Topoi stehen im Dienst der dringlichen Mahnung zu allgemein sanktioniertem Verhalten. Paulus legt das Schwergewicht auf die paränetischen Aussagen, sich den übergeordneten Gewalten unterzuordnen und das Gute zu tun. Diesem Ziel dient auch die Aussage, daß derjenige, der sich der staatlichen Gewalt widersetzt, damit auch der Anordnung Gottes widersteht. Es handelt sich hier nicht um eine allgemeingültige Aussage über das Verbot des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, sondern um eine der paränetischen Situation entsprechende theologische Begründung der Mahnung zur Unterordnung. Die Aufforderung, das Gute zu tun, bindet Rom 13,1-7 in den unmittelbaren Kontext ein (vgl. Rom 12,9.17.21; 13,8-10). Die konkrete historische Situation, auf die sich der Abschnitt bezieht, ist mit der Annahme eines endzeitlich begründeten Enthusiasmus unter den römischen Christen (Käsemann, Grundsätzliches 216) nur unzureichend beschrieben. Ihr Anlaß könnte darin bestanden haben, daß sich römische Christen der drückenden Steuer- und Abgabenlast, die erst durch das Neronische Reformedikt von 58 n. Chr gemildert wurde, zu widersetzen versuchten (Friedrich/Pöhlmann/Stuhlmacher). Damit wäre Rom 1 3 , 1 - 7 als eine bewußt auf die Situation der Gemeinde in Rom abgestimmte Paränese zu verstehen. Paulus entwirft keineswegs eine allgemeine Staatslehre mit metaphysischem Gehalt (anders: Zsifkovits), sondern es geht ihm um die Beratung der römischen Gemeinde in einer aktuellen politischen Lebenssituation. Als exegetisch nicht haltbar haben sich alle Versuche erwiesen, Rom 13,1-7 als unpaulinische Interpolation theologisch zu entwerten (Barnikol u.a.), ebenso wie der Versuch einer angelologischen Deutung des Begriffes ¿fouov'a, mit der entweder die weltlichen Mächte als zu Aufruhr und Rebellion gegenüber Gott neigende dämonische Mächte beschrieben werden oder aber die Unterordnung der Engelmächte unter den Kosmokrator Christus betont wird (Barth). Damit würde der Staat dem christologischen Bereich zugeschlagen und zum Bereich des weltlichen Gottesdienstes eines jeden Christen. Das reformierte Paradigma von „Evangelium und Gebot" wurde hier zum Interpretationsschlüssel des Textes. Paulus geht in seiner Argumentation in R o m 1 3 , 1 - 7 auf eine ihm offensichtlich bekannte Situation innerhalb der stadtrömischen Christengemeinde mit einer Strategie konformer Ethik ein. Dieser Konzeption ist ein sowohl missionsstrategisches als auch missionarisches Element inhärent. Missionsstrategisch weiß Paulus aus seinen Erfahrungen mit staatlichen Gewalten, daß die Vermeidung von Konflikten die Ausbreitung des Evangeliums vor der erhofften eschatologischen Wende erleichtert. Daneben eröffnet die Konformität mit Wertmaßstäben der Umwelt die Möglichkeit, durch vorbildhaftes Verhalten Vorurteile abzutragen und nach außen missionarisch zu wirken. Die theologisch primäre Antwort auf das Verhältnis der Christen zum Staat gibt Paulus allerdings nicht in R o m 1 3 , 1 - 7 , sondern in Phil 3 , 2 0 (so bereits Schlier, Beur-

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teilung 3). iloXheofia sollte nicht unscharf mit „Heimat" übersetzt werden, sondern mit „Staat" bzw. „Staatswesen" (Nachweis bei Aland, Verhältnis 5 0 - 5 9 ) . Es handelt sich um einen staatsrechtlichen Terminus, den Paulus übernimmt (so Ruppel mit zahlreichen Belegen). Damit werden in Phil 3 , 1 8 - 2 1 in einem bewußten Gegensatz diejenigen, die irdisch gesinnt und Feinde des Kreuzes Christi sind, den Christen gegenübergestellt, die von sich sagen können: „Unser Staat existiert im Himmel" (Phil 3,20). Paulus macht auf diese Weise deutlich, daß der irdische Staat für Christen nicht der Staat schlechthin ist. Letztlich verpflichtet sind die Christen dem himmlischen Staatswesen. Von daher erwarten sie auch ihren Retter. Rom 1 3 , 1 - 7 ermahnt die Christen zum Gehorsam gegenüber den übergeordneten staatlichen Gewalten in vollem Bewußtsein dessen, daß die vorfindliche Welt ihrem Ende entgegengeht. Phil 3,20 spricht die erwartete letztgültige Perspektive an, die alle irdischen Bindungen relativiert, ohne sie bereits für obsolet zu erklären. Diese „dualistisch-eschatologische Staatslehre" (Windisch, Imperium 28) ermöglicht es dem Christen auch, dort gegen die staatlichen Gewalten Widerstand zu leisten, wo diese ihm den Abfall vom Glauben abfordern wollen. Im Grunde ist bereits hier der spätere Gegensatz von civitas dei und civitas terrena (s.u. IV.2.) vorgebildet. Auch im nachpaulinischen Schrifttum findet sich diese relativierende Beurteilung der Bindungen an weltliche Mächte mehrfach: Kol 2,20; Mt 6 , 3 1 - 3 3 ; 6,24; I Joh 2,15 u.ö. 3. Pastoralbriefe,

1. Petrusbrief

und

Hebräerbrief

3.1. In den -*Pastoralbriefen spiegeln sich Gemeindeverhältnisse (wahrscheinlich in Ephesus) gegen Ende des 1. Jh. in der Form von Anweisungen für ein praktisches Christentum wider. Da alle drei Briefe in paulinischer Tradition stehen, wahrscheinlich sogar eine kleine Sammlung von Paulusbriefen voraussetzen, ist es verständlich, daß in ihnen das Verhältnis der Christen zu den staatlichen Gewalten in einer gewissen Anlehnung an paulinisches Gedankengut bedacht wird (bes. I Tim 2 , 1 - 3 ; Tit 3,1—3). Auch in I Petr 2,13.17 finden sich — allerdings auf dem Hintergrund einer von den Pastoralbriefen verschiedenen Gemeindesituation - Teile des paulinischen Begriffsfeldes aus Rom 13,1-7. Drei der vier Texte haben Elemente, welche dem pagan-hellenistischen Wortfeld „Lob und Tadel durch übergeordnete Instanzen" (s. Strobel, Furcht) entstammen, in die eigene Argumentation

inkorporiert (epyov, inaivog, Ttfiti und ößo$), d.h. sie treten in eine Auseinandersetzung mit nor-

mativen Aussagen der paganen Umwelt zum Verhältnis zwischen Bürger und Staat ein. I Tim 2 , 1 - 3 nimmt den bereits aus dem hellenistischen Frühjudentum bekannten Topos des Gebets für die heidnische Obrigkeit auf; der Text entstammt also der frühchristlichen öffentlichen Gebetspraxis. Rom 13,1 Petr 2 und Tit 3 verwenden dieselbe Begrifflichkeit, um die Unterordnung unter die staatlichen Gewalten zu beschreiben (vnoxaaata K T X . ) . Spiegelbildlich werden die Machthaber in ihrer faktischen übergeordneten Stellung aufgeführt. Das Verbum vnep£xManichäismus. Danach begann aber unter Karter, dem Führer der Magier, eine rigorose Verfolgung anderer Religionen; deren Heiligtümer wurden zerstört und durch zoroastrische ersetzt (nach der Karter-Inschrift, Z. 9 f.: ed. Martin Sprengling, Third Century Iran. Sapor and Kartir, Chicago 1953). Aus zahlreichen christlichen Märtyrerakten des 4. und 5. Jh. läßt sich diese Politik der Verfolgungen ablesen, auch wenn es immer wieder Perioden gab, in denen eine gewisse -»Toleranz vorherrschte. Jedenfalls trifft das Kriterium der Staatsreligion hier zu, da die religionspolitischen Maßnahmen immer von den Vertretern der zoroastrischen Religion und dem sie stützenden Machtapparat ausgingen. Dem widerspricht auch nicht, daß seit der zweiten Hälfte des 5. Jh. Juden und Christen eine bevorzugte Stellung eingeräumt wurde, sie aber eine besondere Kopfsteuer zahlen mußten - möglicherweise das Vorbild für die islamische Kopfsteuer (gizya). Nach dem politischen Untergang des Iran trat bei den Zoroastriern immer stärker das ethische Element in den Vordergrund, sie richteten sich - auch wegen des Fehlens eines Staatswesens - nicht mehr gegen andere Religionen. Das klassische Beispiel für eine Staatsreligion schlechthin bietet der -»-Islam. Nach muslimischem Verständnis geht das von der Religion geforderte Ideal aber noch weiter, indem es von der Identität von muslimischem Staat und Religion ausgeht. Insbesondere wird hervorgehoben, daß nur die von Gott dem Propheten M u h a m m a d geoffenbarte Religion (dttt) unverfälscht und richtig sei; sie wird gegenüber den din (Religionen) der Ungläubigen abgegrenzt (Sure 109,6). Nach der Überzeugung der Muslims übermittelte Gott mit der Religion ein für allemal vollständig auch seine Ordnung, die gemäß diesem Verständnis keiner geschichtlichen Entwicklung unterliegt. Der Islam in all seinen Verzweigungen war und ist die Religion des Staates, d.h. der von Muslims beherrschte Staat soll nach islamischen Ordnungen und Prinzipien gelenkt werden, also der sarTa, die alle Bereiche des Lebens umfaßt. Ihr hatten sich bis zu einem gewissen Grade auch die nichtmuslimischen Untertanen unterzuordnen. Diesem Konzept liegt die Vorstellung von einer einstmals einheitlichen Gemeinschaft (umma) der gesamten Menschheit zugrunde, die durch Ungehorsam gegen Gott zerstört, aber schließlich durch den Propheten M u h a m m a d im Auftrag Gottes neubegründet wurde. Somit ist umrna der Begriff für die Gemeinschaft aller Muslims, die nach den Idealvorstellungen immer ein einheitliches Ganzes bildet. Sichtbarer Ausdruck dieser Einheit stellte deren Oberhaupt, der Kalif (halifa), dar, der als Stellvertreter des Propheten die Gemeinde leitete. Ungeachtet der politischen Verselbständigung vieler islamischer Staaten (bereits ab dem 8. Jh.) und sogar der Bildung von Gegenkalifaten blieb der Kalifatsgedanke als Ideal erhalten, der im 20. Jh. nach der Abschaffung des Kalifats in der - • T ü r k e i eine Neubelebung erfuhr, jedoch ohne faktische Konsequenzen. Während der gesamten muslimischen Geschichte bis zum Einbruch des europäischen Kolonialismus sind immer wieder Versuche gescheitert, die Sphären von Religion und Staat voneinander abzugrenzen (es entstand der Begriff styäsa, „Staatskunst"). Erst die Kolonialregime führten in islamischen Territorien das moderne staatsrechtliche Prinzip der Trennung von Staat und Religion ein, das von einer Reihe heutiger Staatsführungen aufgegriffen wurde; einige bezeichnen ihre Staatsverfassung ganz offen als „säkular". Gegen diese Entwicklung wenden sich Vertreter eines orthodoxen Islam, weil sie die Trennung von

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Religion und Staat als „unislamisch" und dem Willen Gottes entgegenstehend betrachten; man bezeichnet solche Strömungen als „islamistisch". So beseitigte die islamische Revolution des Äyatolläh Humayni im Iran den säkularen Staat, während in der Türkei bisher islamistische Tendenzen erfolgreich abgewehrt wurden, obwohl man den Einfluß solcher Institutionen wie der „Anstalt für Religionsangelegenheiten" nicht unterschätzen darf. Nach Ibn Hanbai, dem Begründer einer der muslimischen Rechtsschulen, habe der Prophet gegen die Ungläubigen gekämpft, weil er in deren dttt die gefährlichste Bedrohung der jungen islamischen Gemeinde sah. Daher sind die Aufkündigung der Zugehörigkeit zum Staat, d. h. der Gemeinde des Propheten, und die Ablehnung der Religion Gottes eins. In Sure 2,193 und 8,39 wird der Kampf gegen die Ungläubigen deshalb verlangt, damit niemand versuchen solle, die Gläubigen zum Abfall vom Islam zu bewegen. Dieser Kampf gegen die Ungläubigen galt als (kleiner) gihäd, das „Bemühen für die Sache Gottes", was in der Praxis die Ausbreitung der islamischen Macht bedeutete. Ausdrücklich wurde aber betont (Qur'än 2,256), daß der gihäd nicht zur Zwangsbekehrung benutzt werden dürfe. Einzige Ausnahme bildet die Arabische Halbinsel als Geburtsstätte des Islam, wo keine andere Religion geduldet werden durfte. Für alle anderen von Muslims beherrschten Gebiete galt gemäß Sure 9,29, daß die Nichtmuslims eine Kopfsteuer zahlen mußten. Dies bezieht sich hauptsächlich auf die sog. „Schriftbesitzer" (ahl al-kitäb), d.h. Juden, Christen und Zoroastrier, die damit in muslimischen Ländern unter gewissen Restriktionen ihre Religion ausüben durften. Die Einstellung gegenüber „Götzendienern", d.h. den Verehrern von Idolen (watan, im Osten später auch bud, von Buddha abgeleitet), war viel rigoroser, da hier nur das Prinzip Bekehrung zum Islam oder Tod gelten sollte. In der Praxis ließ sich dies aber nicht immer durchführen, insbesondere nicht in Indien, da es zu permanenter Unruhe in den dortigen muslimischen Staaten (seit dem 12. Jh.) geführt hätte. Entweder wurde aus pragmatischen Gründen darüber hinweggesehen, oder man suchte eine theologische Begründung, die Hindus und die Anhänger anderer indischer Religionen zu „Schriftbesitzern" zu erklären. Bei den unter dem Begriff —»Hinduismus zusammengefaßten indischen Religionssystemen ist selten ein exklusiver Anspruch auf den Vorrang der eigenen Glaubensrichtung anzutreffen. Vielmehr herrschte die „Inklusivismus" genannte Praxis vor, den von den eigenen Glaubensvorstellungen abweichenden Systemen eine untergeordnete Stellung zuzuweisen, sie gewissermaßen zu integrieren. Daher kann man zwar immer wieder das Vorherrschen einer Religion (zumeist sivaitischer oder visnuitischer Prägung) in einem bestimmten Gebiet für einen gewissen Zeitraum beobachten, nur selten aber Tendenzen zur Ausformung einer Staatsreligion. Nur vereinzelt lassen sich Maßnahmen nachweisen, die auf eine konkrete Unterdrückung einer Religion durch die Führung eines Staates hinweisen, die einer bestimmten Glaubensrichtung anhing. Dies ist der Fall bei dem südindischen Cö|a-König Kulöttunka II. (reg. 1133-ca. 1150), der als fanatischer Sivait eine berühmte Visnu-Skulptur entfernen ließ. Solche Maßnahmen sind aber eher vereinzelt und führten nicht zur Etablierung einer Staatsreligion im engeren Sinne. Bemerkenswert ist aber eine sich über Jahrhunderte erstreckende Kampagne gegen die Religionsgemeinschaft der Jainas (->Jainismus) im südlichen Indien, deren Stellung durch Gewalt (zum Teil mit Hilfe staatlicher Organe) und Propagierung der fremden Lehre stark erschüttert wurde. Erst in der Moderne haben sich im Gefolge des indischen Nationalismus hindu-chauvinistische Strömungen gebildet, die dem in der Vergangenheit - eher aus Gründen der wissenschaftlichen Terminologie - gebildeten Begriff „Hinduismus" eine politische Stoßrichtung gaben, die sich gegen den modernen säkularen Staat richtet. Hinduistische Kulte, die in Südostasien ihren Eingang fanden, wurden in vielen Gebieten dieser Region nur von der Elite praktiziert, wie uns inschriftliche Befunde des kambodschanischen (-»Kambodscha) Khmer-Reiches (z.B. das Reich von Arikor im

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9 . - 1 4 . Jh.) und des hinduisierten Staates Campä im heutigen Südvietnam nahelegen. Die dortigen Eliten übernahmen mit anderen indischen Kulturgütern indische Religionen (Sivaismus, Visnuismus, -»Buddhismus), an denen die einfache Bevölkerung offensichtlich keinen oder nur geringen Anteil hatte, sondern weiterhin an den überkommenen Ahnen- und Geisterkulten festhielt. In diesem Sinne kann man - wenn man lediglich die Elite mit dem Staat gleichsetzt - mit Einschränkung von einem „Staatskult" sprechen, der aber anders als eine inklusivierende Staatsreligion exklusiv ist. Auch für den Buddhismus gelten grosso modo die für den Hinduismus getroffenen Aussagen. Eine Ausnahme bildet die Theraväda-Schule des Buddhismus in Sri Lanka (Ceylon), die schon sehr früh eine Identifikation von singhalesischer Nation und buddhistischer Religion vornahm. Diese Gleichsetzung wurde sogar von der Mönchsgemeinschaft (sahgha) als der Trägerin der buddhistischen Lehre vertreten, auch wenn damit Grundsätze der buddhistischen Ethik in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Andere Religionen - wie der Hinduismus — wurden als landesfremd betrachtet und von Seiten der staatlichen Gewalt bekämpft. Nicht zuletzt spielt dieses Selbstverständnis der Singhalesen im heutigen Konflikt mit den mehrheitlich hinduistischen Tamilen immer noch eine Rolle, obwohl formal im modernen Sri Lanka Religionsfreiheit besteht. In den Staaten Südostasiens, in denen heute der Theraväda-Buddhismus vorherrscht (Burma, Thailand, -»Laos, Kambodscha), nahm diese Religion von verschiedenen Zeitpunkten zwischen dem 11. und 14. Jh. an eine dominierende Stellung ein, erhob aber nie den exklusiven Anspruch einer Staatsreligion. Scheinbare Ausnahmen bilden die übersteigerten Machtansprüche burmesischer und thailändischer Könige des 18. und 19. Jh., die die buddhistische Religion für ihre expansiven Zwecke instrumentalisierten, indem sie sich als Verkörperungen des zukünftigen Buddha betrachteten. Diese Anschauungen wurden aber offensichtlich von der Mönchsgemeinschaft nicht offiziell unterstützt, so daß man in diesen speziellen Fällen besser vom Phänomen des „Religionsstaates" sprechen sollte, d.h. eines Staates, der die Religion für seine eigenen Zwecke benutzt. Ein klassisches Beispiel für eine Theokratie (—»Königtum) bietet der Buddhismus in Tibet. Die beherrschende Rolle, die der Mönchsklerus bis zu seiner fast völligen Entmachtung durch die Chinesen nach 1950/1959 spielte, kommt der Stellung einer Staatsreligion sehr nahe. Dem widerspricht aber die Vielfalt der existierenden Schulen des tibetischen Buddhismus (zwischen denen auch Konflikte ausgetragen wurden) sowie die Tatsache, daß es kein gemeinsames Oberhaupt der verschiedenen Richtungen gibt (der Dalai Lama gilt lediglich als gemeinsames politisches Oberhaupt). Zudem wurden die Laien nicht gezwungen, sich zu einer bestimmten religiösen Schule zu bekennen. Es herrscht zwar eine gewisse Uniformität in der religiösen Ausrichtung vor, doch weist diese vielfach Züge auf, die bei einer Volksreligion anzutreffen sind. Die Situation in Ostasien, d.h. vor allem in -»China, -»Korea, -»Japan und —»Vietnam, stellt sich insofern ganz anders dar, als die vorherrschenden Leitlinien des Staates sich nicht an einer Religion, sondern an einer Philosophie orientierten, die über weite Strecken in China der Konfuzianismus (-»Chinesische Religionen 8.) war, in dessen Maximen auch andere philosophische Vorstellungen eingegangen waren. In der altchinesischen Religion spielten die Verehrung des Himmels und der Ahnenkult eine gewichtige Rolle. Ein gewisses Gegengewicht bildet der Daoismus, der den Charakter des Menschen durch eine Verwandlung von innen heraus läutern will und so auf das richtige Funktionieren der Gesellschaft zielt. Die Konfuzianer hingegen legten ein bestimmtes Wertesystem zugrunde, durch das die Gesellschaft verbessert werden kann. Beide Systeme richteten sich gegen „Fremdreligionen" wie Buddhismus, Manichäismus, Christentum, Judentum, Islam usw. Obwohl es zeitweise zu Verfolgungen kam, insbesondere, nachdem sich der Buddhismus unter der Tang-Dynastie (618-907) stark verbreitet hatte, erfolgte niemals ein längerfristiges Ausschalten einer Religion oder gar die Etablierung einer Staatsreligion. Diese Aussagen treffen im großen und ganzen auch für die übrigen Länder Ostasiens zu, wo bisweilen — wie in Japan — nur die Akzente verschieden sind.

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Wenngleich der -»Kommunismus keine Religion, sondern allenfalls einen Religionsersatz darstellt, kann man ihn unter diesem Gesichtspunkt gewissermaßen als „Staatsreligion" der Volksrepublik China betrachten, der die Religionsausübung anderer Glaubensgemeinschaften reglementierte. Nach Verfolgungen (von unterschiedlicher Intensität) der verschiedenen in China anzutreffenden Religionen nach der Staatsgründung und insbesondere der Kulturrevolution wurde die Kultausübung von fünf Religionen, die „nicht dem Aberglauben verhaftet sind", gestattet: Islam, Buddhismus, Taoismus, Protestantismus und Katholizismus. Literatur Heinz Bechert, Zum Ursprung der Geschichtsschreibung im indischen Kulturbereich: NAWG. Philol.-hist. Kl., Jg. 2/1969. - Die Chronik v. Arbela, übers, v. Eduard Sachau, Berlin 1919, 62. - George Coedes, Inscriptions du Cambodge, 8 Bde., Hanoi/Paris 1 9 3 7 - 1 9 6 6 . - Hamid Dabashi, Theology of Discontent. The Ideological Foundations of the Islamic Revolution in Iran, New York/London 1993. - Karl-Heinz Golzio, Das Problem v. Toleranz u. Intoleranz in indischen Religionen anhand epigraphischer Quellen: Helmut Eimer (Hg.), Frank-Richard Hamm Memorial Vol., October 8, 1990, Bonn 1990, 8 9 - 1 0 2 . - Ders., Buddhas eigenes Land? Die auserwählten Länder des Theraväda-Buddhismus: Suhrllekhäh. FG f. Helmut Eimer, Swisttal-Odendorf 1996, 1 7 - 2 8 . - Paul Hacker, Rel. Toleranz u. Intoleranz im Hinduismus: Saec. 8 (1957) 1 6 7 - 1 7 9 . - The Iranian Revolution, hg. v. John L. Esposito, Miami, Fla. 1990. - Hans-Joachim Klimkeit, Der politische Hinduismus, Wiesbaden 1981. - Donald E. Maclnnis, Religion in China Today, Maryknoll, N.Y. 1989. - Ramesh Chandra Majumdar, Ancient Indian Colonies in the Far East. I. Champa, Lahore 1927. - Baqer Moin, Khomeini. Life of the Ayatollah, London 1999. - Tilman Nagel, Staat u. Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich/München 1981. - Religion, Macht, Gewalt. Rel. Fundamentalismus u. Hindu-Moslem-Konflikte in Südasien, hg. v. Christian Weiß/Tom Weichen u.a., Frankfurt a.M. 1996. - Renouveaux religieux en Asie. Textes reunis par Catherine Clement-Ojha, Paris 1997. - Jakob Rösel, Der Bürgerkrieg auf Sri Lanka, Baden-Baden 1997. Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus, München/Zürich 1998. - Geo Widengren, Iranische Geisteswelt, Baden-Baden 1961.

Karl-Heinz Golzio

II. Im Christentum 1. Begriffe

1.

2. Geschichte

(Literatur S. 73)

Begriffe

Gegenüber dem üblichen Ineinssetzen von „Staatsreligion" und „Staatskirche" erfordert eine präzisere rechtsgeschichtliche (und aktuelle) Begriffsbestimmung die Unterscheidung. Staatskirche bezeichnet eine spezifische Form der Zuordnung von Staat und Kirche ( - » K i r c h e und Staat): Beide bilden eine Gesamtkörperschaft. In neuerer staatsrechtlicher Terminologie (-»Staat/Staatsphilosophie) erscheint die Kirche dabei als Staatsanstalt. Daraus folgt nicht nur eine - historisch variable - Vielzahl von Einwirkungsrechten in das Innere der Kirchenverfassung (Besetzung höherer Kirchenämter; Entscheidung von Lehrstreitigkeiten, Besteuerungsrechte, Verfügung über das Kirchengut etc.) meist auf dem Wege der staatlichen Gesetzgebung, sondern auch und vor allem die Indienstnahme der Kirche für staatliche Zwecke. Demgegenüber zielt die Staatsreligion auf die religiöse Einheit des Untertanenverbandes. In dem M a ß e , wie die Religion als Teil der öffentlichen Ordnung gilt, wird ein religiöser -»Pluralismus als Bedrohung der Staatseinheit empfunden, da er den Keim des Bürgerkriegs, jedenfalls aber den eines Widerstandsrechts aus Gewissensgründen, in sich trägt. D a m i t mischen sich lange Zeit Gedanken einer herrscherlichen Verantwortung für das Seelenheil der Untertanen, die nur in einer allgemeinen Verpflichtung auf die jeweilige Konfession gewahrt werden kann. Während eine Staatsreligion regelmäßig staatskirchliche Formen nach sich zieht, sind diese nicht unbedingt ein Indiz für eine einheitliche Staatsreligion. Gerade in der Neuzeit bestehen vielfach mehrere Staatskirchen paritätisch nebeneinander, später finden

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sich in den weltanschaulichen Diktaturen des 20. Jh. immer wieder Versuche, das Ideologiemonopol durch staatskirchliche Reglementierung der Religionsgemeinschaften zu sichern. Andererseits bestehen traditionelle Staatskirchen auch in solchen Staaten fort, die sich längst zu religiös neutralen Gemeinwesen entwickelt haben. Der Gegenbegriff zur Staatskirche ist deshalb die Trennung von Staat und Kirche, derjenige zur Staatsreligion ist der Grundsatz der religiösen (und weltanschaulichen) Neutralität des modernen, freiheitlichen Verfassungsstaats. 2. Geschichte 2.1. Die Geschichte des Christentums als Staatsreligion beginnt mit den Toleranzedikten von Serdica (Galerius, 311) und Mailand (Licinius, 313). Über eine bloße Duldung hinaus wird hier der christliche Kultus den heidnischen Kulten in Gebet und Opfer für das Wohl des Staates gleichgestellt und damit in das System der römischen Loyalitätsreligion einbezogen. Da die sich in alle Gesellschaftskreise ausbreitende Kirche mit ihrer staatsunabhängigen Organisation als Konkurrenz um die Macht gefährlich, als Verbündete wertvoll erschien, suchte -»Konstantin I. der Große nach dem Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke (312), vor allem aber während seiner Alleinherrschaft (324-337) das Bündnis mit der Kirche als Klammer der Reichseinheit, um namentlich mit ihrer Hilfe die Diokletianischen Reformen zu vollenden. Blieben daneben andere Religionen noch geduldet, so erlangte sie unter -»Thcodosius I. dem Großen den Status einer alleinberechtigten Reichskirche, der zunehmend durch scharf sanktionierte Verbote der heidnischen Kulte gesichert wurde. Damit verpflichtete der Kaiser die Reichskirche freilich zugleich autoritativ auf die nicänische Orthodoxie (orthodoxe Restauration), erklärte den homöischen -»Arianismus zur Häresie und bedrohte dessen Anhänger kraft seiner göttlichen Vollmacht mit aller Schärfe des Ketzerrechts (Edikt Cunctos populos von 380: QGPRK 1, Nr. 310). In der reichen Ausstattung mit Privilegien und Herrschaftsrechten spiegelte sich nicht nur die moralische Autorität der in eine verfallende Welt eintretenden Kirche, sondern auch die überlegene faktische Verwaltungskompetenz der Bischöfe in einer sich zersetzenden Staatsordnung. Gleichzeitig erneuerte die christliche Transformation der sakralen Herrschaftslegitimation (Kaiser als sacerdos-imperator) die Einheit von geistlicher und weltlicher Leitungsgewalt. 2.2. Begünstigt durch die Schwäche der staatlichen Macht gelang es der Kirche im Westreich mit zunehmendem Erfolg, ihren Anspruch auf Oberhoheit im - weitgespannten - Bereich des Religiösen zur Geltung zu bringen. Die Augustinische (-•Augustin/ Augustinismus) Vorordnung der civitas Dei vor die civitas terrena wurde hier unbefangen mit dem Verhältnis von Kirche und Staat identifiziert. -»Ambrosius* von Mailand Bild vom Kaiser als „Soldat Gottes", der in Glaubensdingen der bischöflichen Jurisdiktion unterworfen ist und der Kirche seinen weltlichen Arm zu leihen hat, gehört zu den prägenden Leitideen im abendländischen Katholizismus der Folgezeit. Dagegen befestigte sich im Osten ein sakraler Absolutismus (Byzantinismus) in Form der „Symphonie" von Staats- und Kirchenregiment (-»Byzanz). Der Kaiser besetzt die wichtigen Bischofsstühle, ihm obliegt die umfassende (auch wirtschaftliche) Fürsorge für die Kirche, er regelt ihr inneres Leben und entscheidet dogmatische Streitigkeiten im Wege der Gesetzgebung. Seinen Niederschlag fand dies im Corpus Juris Civilis, der umfassenden Kodifikation des Römischen Rechts durch -»Justinian (533-542 - hier insbesondere im 1. Buch des Codex Justinianus und in den Novellen), die nach ihrer Rezeption im Abendland (13.-16. Jh.) gemeineuropäische Wirksamkeit erlangte. Sie begründete - als „kaiserliches Recht" - den Rechtstitel für eine weitgespannte herrscherliche Kirchenhoheit und trat damit in ein Spannungsverhältnis zum „päpstlichen Recht" des Corpus Juris Canonici (-»Kirchenrechtsquellen) mit seinem kirchlichen Suprematsanspruch. Nachhaltig blieben die von den orthodox-autokephalen Kirchen (-»Orthodoxe Kirchen) geprägten Staaten byzantinischen Traditionen verhaftet, in denen Staatsreligion

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und Staatskirche verschmolzen (in Rußland: Geistliches Reglement Peters des Großen [1689-1725] 1721). Sie schwächten nicht nur die kirchlichen Abwehrkräfte gegen die Verfolgung in der revolutionären und Stalinschen Sowjetunion, sondern führten auch im betont atheistischen Staat zum Fortbestand staatskirchlicher Elemente und zur Indienstnahme für politische Zwecke. Noch die Religionsgesetzgebung der osteuropäischen Reformstaaten zeigt mit ihrer Tendenz zur Bevorzugung der Orthodoxen Kirche Anklänge an die Perpetuierung einer Staatsreligion. Aber auch in -»Griechenland ist bis heute die Orthodoxe Kirche Staatskirche, deren Orthodoxie Staatsreligion. 2.3. Im Abendland brach sich der beschriebene kirchliche Suprematsanspruch zunächst an der (aus vorchristlichen Traditionen gespeisten) Kirchenherrschaft der germanischen Stammesfürsten. Die Überlagerung der römischen Kirchenordnung durch das in die Kirche einziehende Lehnswesen schuf nicht nur ein dichtes Geflecht von Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Herrscher und Bischöfen, diesen wuchsen auch als (regierenden) Reichsfürsten - namentlich im Sacrum Imperium - zahlreiche gesamtstaatliche Verwaltungsaufgaben im Dienst des Königs zu, für deren Erfüllung sie verstärkt mit Reichsgütern, Privilegien und Ämtern ausgestattet wurden. Sie bildeten zunehmend das tragende Beamtentum des Reiches und wurden vom König mit geistlichen wie weltlichen Herrschaftsrechten (mit Ring und Stab) belehnt (das sog. Ottonischsalische Reichskirchensystem; -»Deutschland I.2.4.). Der im Zuge der Gregorianischen Reform (-•Gregor VII.) ausgebrochene -•Investiturstreit stellte zwar in einem Kompromiß die kirchliche Mitwirkung bei der Ämterbesetzung wieder her (Wormser Konkordat 1122), beeinträchtigte aber die weltliche Machtfülle der geistlichen Reichsfürsten nur marginal. In zahlreichen westeuropäischen Ländern bildeten sich Tendenzen zu Nationalkirchen heraus, was namentlich im -»Gallikanismus zu einem weitgehend von Rom unabhängigen Staatskirchentum führte und die englische Staatskirche später aus dem Verband des römischen Katholizismus herauslöste. Freilich darf nicht verkannt werden, daß die Kirche nur das Prinzip der Staatskirche, nicht aber das der Staatsreligion bekämpfte. In den Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt stand die religiöse Einheit des -»Corpus Christianum außer Streit. Dementsprechend ließ das Papsttum keinen Zweifel an seinem Verlangen, der Ketzerei auch mit aller Schärfe des weltlichen Schwerts zu begegnen. 2.4. In -+ Deutschland führte die Reformation zu einer besonderen Form des Staatskirchentums. §15 des -»Augsburger Religionsfriedens (1555) hatte neben den katholischen auch den evangelischen Reichsständen das Bestimmungsrecht über das Kirchenwesen ihres Territoriums garantiert (in der späteren Publizistik als Jus reformandi bezeichnet und mit dem Schlagwort cuius regio eius religio umschrieben). Es bildete die verfassungsrechtliche Grundlage des evangelischen landesherrlichen -»Kirchenregiments, das sich unter den religionspolitischen Gegebenheiten des Reiches - gegen die in der lutherischen -»Zweireichelehre prinzipiell angelegte Scheidung von kirchlicher und weltlicher Ordnung — auf Dauer durchzusetzen vermochte. Allerdings bewahrten und vermehrten auch die katholischen Reichsstände ihre älteren Rechte in Kirchensachen (sog. vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment), so daß sich das Staatskirchentum in den katholischen und protestantischen Territorien nur graduell unterschied. Die Fixierung der erlaubten Religionsausübung auf das Normaljahr 1624 durch den -•Westfälischen Frieden von 1648 (Instrumentum Pacis Osnabrugense [Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. I. Urkunden, bearb. v. Antje Oschmann, 1998 (APW Ser. 3 Abt. B1)] Art. V, §31) beschränkte das Jus reformandi (mit Ausnahme der Habsburgischen Erblande) nicht unerheblich. Da die evangelischen wie die katholischen Reichsstände jedoch die kirchenregiminalen Rechte auch gegenüber danach zu duldenden konfessionellen Minderheiten in Anspruch nahmen, entstanden in einzelnen Territorien zwei Staatskirchen bei allerdings einer bevorrechtigten Staatsreligion. Dagegen entwickelte sich das Reich zu einem paritätischen Gemeinwesen, in dem neben

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Katholiken und Lutheranern nun auch die Reformierten als dritte Konfession gleichberechtigte Anerkennung fanden. Der nach dem Augsburger Religionsfrieden noch schwelende Streit über die katholische Prägung des Reiches wurde im Sinne einer Gleichberechtigung der christlichen Bekenntnisse entschieden (Instrumentum Pacis Osnabrugense Art. V, § 1). Die Grundlage bildete die fortgeschriebene Hoffnung auf Wiedervereinigung der Religionsparteien in einer Kirche. Demgemäß blieb das reichsverfassungsrechtliche Sektenverbot in Kraft. Auf Reichsebene galt deshalb eine zwei- bzw. dreikonfessionell bestimmte Staatsreligion. 2.5. Im Zeitalter der - sich in den führenden europäischen Nationen durchsetzenden - vernunftrechtlichen Staatsauffassung (17. und 18. Jh.) wandelt sich die Begründung für Staatsreligion und Staatskirche in der Tiefe. Gesellschafts- und Staatsvertrag (als hypothetische Grundlagen aller Staatlichkeit) zielen nicht auf eine religiöse Vergemeinschaftung. „Die Staaten sind nicht um der Religion willen gegründet", lautet ein Leitsatz der Frühaufklärung (S. -»Pufendorf, De habitu religionis christianae ad vitam civilem, Bremen 1687 [Neudr. 1972], §5, p. 15; John Locke, A Letter concerning Toleration [1689]; dt.: Ein Brief über Toleranz, übers., eingel. u. in Anm. erl. v. Julius Ebbinghaus, Hamburg J1966, 42; vgl. auch 12-14). Damit ist dem Staat freilich nur der Zugriff auf den Gewissensbereich verwehrt, als Teil der öffentlichen Ordnung unterliegt die äußere Bestimmung über Kirche und Religion der umfassenden herrscherlichen Direktionsgewalt. Eine Tolerierung dissentierender Minderheiten ist nur dort angezeigt, wo sie den sozialen Frieden nicht „turbiren" (Christian Thomasius/Enno Rudolph Brenneysen, Das Recht ev. Fürsten in Theol. Streitigkeiten, Halle 1696, 147 [XI. Satz]). 2.5.1. Demgemäß verschieben sich in Deutschland auch die theoretischen Grundlagen des landesherrlichen Kirchenregiments. Es wird nicht mehr historisch aus der Übertragung der bischöflichen Rechte durch den Augsburger Religionsfrieden abgeleitet (sog. Episkopalsystem), sondern gilt als untrennbarer Bestandteil der Territorialhoheit des Landesherrn (Territorialsystem) und wird deshalb auch gegenüber Katholiken beansprucht. Versuche im Zuge der Aufklärung, die Landeshoheit auf die allgemeine Korporationsaufsicht zu begrenzen, für die innere Ordnung der Kirche als collegium aber korporative Selbstverwaltungsrechte zu reklamieren (Kollegialsystem), vermögen sich in der Folgezeit zunächst nur ansatzweise durchzusetzen. In ihrer Konsequenz lag es, den landesherrlichen Summepiskopat als kirchlichen Rechtstitel zu bestimmen und von der Funktion des Landesherrn als Staatsoberhaupt kompetentiell zu unterscheiden. Während das preußische Allgemeine Landrecht (1794) im Kern noch territorialistischen Vorstellungen verhaftet ist, beginnt ein Abbau des evangelischen Staatskirchentums im kolIegialistischen Sinn erst in der Mitte des 19. Jh. Allerdings blieb der Summepiskopat als persönliche Rechtsstellung des Monarchen bis 1918 erhalten, die Staatskirche wurde zur Hofkirche (F.D.E. -»Schleiermacher). 2.5.2. Auch in den katholischen Staaten verdichteten sich die monarchischen Eingriffsrechte in den inneren Kirchenbereich zu einem System des Staatskirchentums. In diesem Prozeß überlagerten sich vielfach ständische Konflikte, d.h. die Durchsetzung absolutistischer Ansprüche gegenüber dem evangelischen (-»Österreich, Kurköln u.a.) bzw. hugenottischen Adel (Frankreich), mit dem Bemühen um Rückgewinnung der Staatseinheit auch im Religiösen („un roi, une loi, une foi"). Die Rezeption der umfassenden naturrechtlichen Herrschaftslegitimation bot hierfür das staatstheoretische Fundament. In Deutschland fand dieses Staatskirchentum seinen Höhepunkt in Bayern unter Maximilian Graf von Montgelas (1759-1838; Geheimer Staats- und Konferenzminister 1799-1817), in den Habsburgischen Erblanden in der Alleinregierungszeit Josephs II. (1780-1790; Josephinismus), obwohl hier zugleich ein reformkatholischer Impetus spürbar ist. Überall ging es nicht nur darum, den Einfluß auswärtiger Kirchenoberer - einschließlich des Papstes — zu minimieren, sondern auch darum, den gesamten

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Temporalienbereich der Kirche herrschaftlicher Kontrolle zu unterwerfen. Instrumente dazu sind eine straffe Vermögensaufsicht, die Diözesanregulierung mit dem Ziel, die Diözesangrenzen den Staatsgrenzen anzupassen sowie die Bischöfe von auswärtiger Jurisdiktion zu eximieren, umfassende Stellenbesetzungs- und Besteuerungsrechte, Klosteraufhebungen, schließlich die staatliche Plazetierung aller kirchlichen Erlasse und Rekursmöglichkeiten von kirchlichen an staatliche Gerichte (Recursus ab abusu). Die beschränkte Toleranzgewährung an Protestanten und Juden (in Österreich: 1781) hob indes den Charakter des Katholizismus als Staatsreligion nicht auf. Kennzeichnend ist die unbeschränkte Indienstnahme der Kirche für Staatsaufgaben im Sinne aufgeklärter Nützlichkeitsethik (Geistliche als „Offiziere der Moral"). Auch in -»Spanien und -»Frankreich bildete sich ein vergleichbar straffes Staatskirchentum heraus. Es erstreckte sich in Spanien auch auf dessen lateinamerikanische Besitzungen. Gemäß dem älteren Leitbild eines Corpus Christianum wurden hier insbesondere die Jesuiten mit der Erziehung der Indios zu „Bürgern" betraut und mit weitreichenden Freiheiten und Kompetenzen ausgestattet, die für ihre Missionsstationen eine gewisse eigenständige Staatsgewalt einschlössen („Jesuitenstaat" in Paraguay 1631-1767). Dies brachte sie aber in eine sich steigernde Konfliktsituation mit Kolonialverwaltung und Grundherren. Sie wurden zunächst mit den bekehrten Stämmen in Rückzugsgebiete (reducciones) abgedrängt, später des Landes verwiesen. In Frankreich bestand ein Staatskirchentum - nach der revolutionären Zerschlagung der stolzen gallikanischen Kirche - auch unter der Staatsreligion des Kultes der Vernunft (Dekret vom 7. November 1793), später des -»Deismus (Être Suprême, 1794) fort, das die Kirche in Zustimmende und Ablehnende spaltete und mit einer gleichzeitigen brutalen Kirchen verfolgung einherging - eine Dialektik, die im 20. Jh. das Staatskirchenrecht der totalitären Weltanschauungsregime kennzeichnen sollte. Die Normalisierung im Napoleonischen Konkordat von 1801 (-» Napoleonische Epoche 2.1.3.1.) wurde freilich durch die diesem widersprechenden, im Folgejahr einseitig als Staatsgesetz verkündeten Organischen Artikel in staatskirchliche Bahnen zurückgelenkt. Ähnlich verfuhr Bayern, indem es zahlreiche im Konkordat von 1817 enthaltene Zugeständnisse durch das als Beilage zur Verfassung von 1818 in Kraft getretene Religionsedikt einseitig revidierte. 2.5.3. Gleichwohl war der Kampf der katholischen Kirche im 19. Jh. um die eigenständige Gestaltung ihrer inneren Ordnung weitgehend erfolgreich. Unterstützung fand sie nicht nur in der nach den napoleonischen Kriegen in Kontinentaleuropa einsetzenden -•Restauration, sondern später auch in der zeitweisen Interaktion mit der vom liberalen Bürgertum getragenen Verfassungsbewegung, die zur Verankerung kirchlicher Freiheiten in den Konstitutionen der Jahrhundertmitte führte. Versuche zur Wiederbelebung staatskirchlicher Formen nach dem -*SyIlabus errorum -»Pius' IX. und dem Infallibilitätsdogmades I. -»Vatikanum (1870) scheiterten letztlich im -»Kulturkampf der 70er Jahre, der - in unterschiedlicher Schärfe - in zahlreichen Staaten entbrannte. Sein Ausgang steckte für die Folgezeit die Grenzen der Wirksamkeit des säkularen Staates in Religionsdingen ab, verstärkte aber auch die Tendenzen zur Trennung von Staat und Kirche und zwang die Kirche, ihren Anspruch auf eine katholisch geprägte Gesellschaftsordnung ein Stück weit zurückzunehmen. In Frankreich etablierte sich in den Trennungsgesetzen von 1905 der Laizismus als Staatsdoktrin und verweigerte den Kirchen durch die rechtliche Aufsplitterung in Kultvereine eine ihrem dogmatischen Selbstverständnis entsprechende Rechtsform. Die daraus erwachsenden Konflikte konnten erst in den folgenden Jahrzehnten durch die abgewogene Judikatur des Conseil d'État grundrechtskonform entschärft werden. 2.5.4. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit vorangegangenen strikt laizistischen bis kirchenfeindlichen Regierungen führten die katholische Kirche in Bündnisse mit autoritären Regimen des 20. Jh. (Italien, Spanien, Portugal, Ungarn). Hier gelang erneut die verfassungsrechtliche oder konkordatäre Etablierung des Katholizismus als Staatsreligion

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- bei gleichzeitigen Garantien kirchlicher Eigenständigkeit (insbesondere Lateranverträge in Italien 1929). Namentlich für Religionsfreiheit, Ehe- und Bildungswesen ergaben sich daraus erhebliche Konsequenzen. Erst der Untergang dieser Staatsformen und das Bekenntnis des II. -»Vatikanum zur Religionsfreiheit als Grundprinzip sozialer Gemeinschaftsordnung haben den Bemühungen um die Durchsetzung einer derartigen Staatsreligion ein Ende bereitet. 2.6. Die im Gefolge der Reformation entstandenen Staatskirchen in Skandinavien und in einigen Schweizer Kantonen verloren ihre Stellung als alleinberechtigte Kirchen meist schon im 19. Jh. Mit dem Siegeszug grundrechtssichernder Verfassungsstaatlichkeit wurde — im Gefolge einer sich auflockernden konfessionellen Homogenität - auch andersgläubigen Minderheiten -•Religionsfreiheit zugestanden, ohne indes mit den Traditionen einer engen staatlichen Verbindung zur alten Volkskirche zu brechen. Während sich damit die neu zugelassenen Glaubensgemeinschaften in relativer Freiheit entfalten konnten, wurden die staatskirchlichen Formen von der jeweiligen Volkskirche zunehmend als Fessel empfunden. Dies galt vor allem dort, wo sie zur Durchsetzung gesellschaftspolitischer Postulate parlamentarischer Mehrheiten auch im kirchlichen Raum genutzt wurden (etwa in Schweden). Initiativen zum Abbau des Staatskirchentums gingen daher nicht zuletzt von den großen Volkskirchen aus. Derartige Reformen sind hier fast überall im Gange, sie führten in Schweden bereits zur Entlassung der bisherigen Staatskirche in die Eigenständigkeit (1. Januar 2000). Lediglich in Dänemark blieb der staatskirchliche Status quo bislang unangefochten. 2.7. Eine gewisse Sonderstellung nimmt die -•Kirche von England ein (nicht in -•Schottland, hier ist Staatskirche die reformierte Churcb of Scotland, ebenso nicht in -•Wales und Nordirland). Ihr Status als „established by l a w " verbindet einen immer noch beträchtlichen Staatseinfluß mit rechtlicher Selbständigkeit. Die Krone hat das Ernennungsrecht für die Bischöfe, denen andererseits teilweise (neben den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften) ein Sitz auch im nunmehr reformierten Oberhaus zusteht. Die Gesetzgebungsvorschläge des 1970 geschaffenen kirchlichen Vertretungsorgans, der „General Synod", unterliegen weiterhin dem Ablehnungsrecht des Parlaments, wie überhaupt der Erlaß von Kanonischem Recht der königlichen Zustimmung bedarf („royal assent"). Auch hier hat nach der im 19. Jh. erreichten rechtlichen Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften (insbesondere Katholikenemanzipation 1829) englisches Traditionsbewußtsein ältere Formen des Staatskirchentums unter Wahrung der Religionsfreiheit konserviert. 2.8. Die -»Säkularisierung des Staates in der Neuzeit läßt jedoch Staatskirche wie Staatsreligion prinzipiell als Relikte älterer Entwicklungsstufen des -»Staatskirchenrechts erscheinen. Moderne Verfassungen bekräftigen daher die Trennung von Staat und Kirche. Allerdings verbergen sich hinter diesem Blankettbegriff ganz unterschiedliche Wirklichkeiten. 2.8.1. Wie schon erwähnt, verband sich in den nationalsozialistischen und marxistischen Weltanschauungsdiktaturen der Ausschließlichkeitsanspruch einer religionsfeindlichen Staatsideologie durchaus mit staatskirchlicher Instrumentalisierung der Religionsgemeinschaften. Trennung und „Entkonfessionalisierung" zielten hier auf eine völlige Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Leben bei gleichzeitiger strenger Überwachung der Kirchen, ihres Schrifttums und der theologischen Fakultäten, auf die Beschränkung und Reglementierung ihrer seelsorgerischen und diakonischen Tätigkeit bis hin zu strikten Verboten (Taufe nur von religionsmündigen Jugendlichen im nationalsozialistischen „Warthegau" und in der Sowjetunion, hier auch Untersagung allen geistlichen Wirkens außerhalb der Kirchenmauern). Damit einher gingen massive Einflußnahmen auf die Besetzung von Kirchenämtern und auf die Willensbildung kirchlicher

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Staatskirche/Staatsreligion II

Organe. Im Kirchenkampf des „Dritten Reiches" (-»Nationalsozialismus und Kirchen) erfuhr die ideologiekonforme Gruppierung der -»Deutschen Christen staatliche Unterstützung bei der teilweisen Eroberung der Landeskirchen und bei der Gleichschaltung im Rahmen einer protestantischen Reichskirche. Die Bestellung eines Staatskommissars für die preußischen Landeskirchen (23. Juni 1933) und - nach dem weitgehenden Scheitern der deutschchristlichen Machtübernahme — die Einrichtung staatlicher Finanzabteilungen bei den obersten Kirchenleitungen (11. März 1935) gaben der „Staatskirche im kirchenfeindlichen Staat" (Erler 78) ihre unverhüllte Gestalt. 2.8.2. Trennung ohne Freiheitsverlust bedarf daher der Einbettung in das Verfassungsgefüge des grundrechtssichernden, demokratischen Staates. Als Vorbild wirkte hier das 1. Amendment zur US-Bundesverfassung von 1791 (—»Vereinigte Staaten von Amerika). Es untersagte dem Kongreß die Annahme jedes Gesetzes, das eine Staatsreligion einführt oder die freie Religionsausübung behindert („no-establishment-" und „freeexercise-clause"). Beides wurde dann in einem vom Supreme Court aufgenommenen Wort Thomas Jeffersons (1743-1826) vom „wall of Separation" zwischen Staat und Kirchen zusammengezogen. Sollte ursprünglich damit die staatskirchenrechtliche Autonomie der Einzelstaaten gewährleistet werden, in denen überwiegend durchaus staatskirchliche Verhältnisse herrschten, so veränderte die Garantie ihre Bedeutung grundlegend durch die 1940 vom Supreme Court verfügte Geltung dieser Grundsätze auch für die Einzelstaaten. Damit zeigten sich aber alsbald (wie - unter ganz anderen Entstehungsbedingungen - in Frankreich) die Aporien eines strikten Trennungssystems. Die sozialen und vermögensrechtlichen Rechtsverhältnisse der Kirchen konnten nicht einfach aus dem staatlichen Regelungs- und Rechtsschutzsystem ausgeklammert bleiben, eine staatliche Förderung gesellschaftlicher Tätigkeiten geriet dann in Konflikt mit dem Gleichheitssatz, wenn diejenigen davon ausgenommen wurden, die aus religiöser Motivation heraus erfolgten. Die Gerichte haben hier (wiederum wie in Frankreich) den Trennungsgrundsatz mit Recht dort zurücktreten lassen, wo seine undifferenzierte Anwendung zu Grundrechtsverletzungen geführt hätte. 2.8.3. In Deutschland beendete die Weimarer Verfassung von 1919 mit dem lapidaren Satz „Es besteht keine Staatskirche" (Art. 137 Abs. 1) jahrhundertealte institutionelle Verbindungen von Staat und Kirche. Mit anderen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen wurde diese Regelung 1949 auch Bestandteil des Grundgesetzes. Im Unterschied zu anderen Trennungssystemen sollte damit indes kein „wall of Separation" aufgeschüttet werden. Vielmehr behielten Weimarer Verfassung und Grundgesetz eine Reihe von verbindenden Elementen bei. Sie verbürgten den Religions- (und Weltanschauungs-)Gemeinschaften (-»Religionsgesellschaften) - in den Schranken des „für alle geltenden Gesetzes" - einerseits die eigene Ordnung ihrer Angelegenheiten, gewährleisteten aber andererseits etwa staatlichen Religionsunterricht, Besteuerungsrecht, Militär- und Anstaltsseelsorge und anderes mehr. Gleichwohl bilden diese nicht etwa Residuen eines vergangenen Staatskirchentums, sondern sie stehen - in unterschiedlicher Weise — im Dienste einer effektiven Verwirklichung von individueller und korporativer Religionsfreiheit. Sie verweisen - mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts - Staat und Kirche auf den Weg einer „verständigen Kooperation", die ihrerseits auf der wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Aufgabenbereiche und Kompetenzen beruht. In dieser Ausgleichsordnung, die Staat und Kirche ohne Freiheitsverlust das Ihre zu geben versucht, hat sich das deutsche Staatskirchenrecht grundsätzlich bewährt. Seine Elastizität gründet sich auf die religiöse wie weltanschauliche Neutralität des grundrechtssichernden Verfassungsstaates und ist daher offen auch für die Einbeziehung nichtchristlicher Religionen (insbesondere des Islam). Staatsreligion und Staatskirche gehören deshalb auch in Deutschland der Geschichte an.

Staatskirchenrecht

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Staatskirchenrecht 1. Staatskirchenrecht als Teil des Verfassungsrechts 2. Staatskirchenrecht als ausfüllungsbedürftiges Rahmenrecht 3. Elemente der staatskirchenrechtlichen Ordnung 4. Trennung von Kirche und Staat 5. Kooperation von Staat und Kirche in Korrespondenz zur Trennung 6. Neue Fragen bei unveränderter Rechtslage (Literatur S. 81) 1. Staatskirchenrecht

als Teil des

Verfassungsrechts

Staatskirchenrecht ist der Inbegriff der rechtlichen Regelungen für die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften (-»Religionsgesellschaften). Deutschland kennt herkömmlich eine institutionelle und grundrechtliche O r d n u n g des Verhältnisses von Staat und Kirche ( - » K i r c h e und Staat). Im Kreise der europäischen Staaten ist dieses keine Einmaligkeit; auch andere L ä n d e r kennen solche Regelungen, deren Besonderheit darin liegt, d a ß sich die staatliche O r d n u n g im Verhältnis zu den Kirchen nicht a u f die G e w ä h r u n g der -»Religionsfreiheit und die Festlegung einer Trennung des staatlichen und religiösen Bereiches beschränkt. H i e r kann m a n v o m Staatskirchenrecht als einem besonderen Rechtsgebiet sprechen, in dem die Beziehungen zwischen Staat und Kirche durch staatliche N o r m e n geordnet werden. Diese Regelung hat ihre Grundlage im öf-

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Staatskirchenrecht

fentlichen Recht, weithin sogar im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder. Sie ist vor allem durch die Verbürgung und die Verwirklichung der Religionsfreiheit bestimmt. Die organisatorische Trennung von Staat und Kirche einerseits, die Anerkennung einer Stellung der Religionsgemeinschaften im Bereich des öffentlichen andererseits haben eine hervorgehobene Stellung der religiösen Gemeinschaften im staatlichen Recht und auf bestimmten Gebieten eine geregelte Verbindung von Staat und Kirche zur Folge. Diese in verschiedene Richtungen weisenden und aus unterschiedlichen Epochen stammenden Elemente des Staatskirchenrechts stehen untereinander in enger Beziehung und finden durch ihre Ausdeutung in Rechtsprechung und Lehre ihre systematische Einheit. Im Verhältnis zu anderen Bereichen des Verfassungsrechts weist das Staatskirchenrecht Besonderheiten auf. Eine augenfällige Eigenart besteht darin, d a ß es in starkem M a ß e von der geschichtlichen Entwicklung geprägt ist. Grundlegende N o r m e n sind f ü r längere Epochen der deutschen Entwicklung, und zwar meist im Verfassungsrecht, festgelegt worden. Hier sind Begriffe und Vorstellungen erhalten geblieben, die erst auf der Grundlage ihrer historischen Entstehung verständlich sind. Es handelt sich also um ein Rechtsgebiet, das zwar auf der einen Seite der Fortentwicklung offensteht, sogar in besonders sensibler Weise auf geistige und soziale Wandlungen reagiert. Grundbegriffe und Leitgedanken sind aber über längere Z e i t r ä u m e hin wirksam geblieben. Auffällig ist das Fortleben von Elementen des Rechts aus älteren Schichten des Staatslebens, die im übrigen abgestorben sind. Die gleichgebliebene Befriedungsaufgabe, einen Ausgleich zwischen den Institutionen von Staat und Kirche zu finden, hat dazu geführt, daß relativ alte, bewährte Rechtsinstrumentarien hier weiterhin in Gebrauch sind. Das erklärt das ins Auge fallende Alter der in das Grundgesetz übertragenen Artikel der Weimarer Reichsverfassung (Art. 140 GG [Grundgesetz] in Verbindung mit Art. 136ff. WRV [Weimarer Reichsverfassung]). Sie waren auch 1919 nicht neu erfunden, sondern unter abermaliger Öffnung und Liberalisierung aus schon damals alten Verfassungsurkunden übernommen worden.

Die Kontinuität der Aufgabe hat also die Kontinuität des Rechts gestützt. Das Fortleben alter Rechtsbestimmungen erfordert seinerseits ein gewisses M a ß an historischem Wissen. Auch die epochale Abschaffung der Staatskirche (Art. 137 Abs. 1 WRV, heute in Verbindung mit Art. 140 GG) bedarf historisch erhellter Ausdeutung, gab es doch schon vor Erlaß der Reichsverfassung 1919 in Deutschland keine Staatskirchen mehr. 2. Staatskirchenrecht

als ausfüllungsbedürftiges

Rahmenrecht

Das Staatskirchenrecht zeichnet sich durch eine besondere Offenheit zur Wirklichkeit hin aus. Weniger als andere Rechtsbereiche kann es vom Staat als geschlossene O r d n u n g normiert werden. Der Inhalt der Rechtsbestimmungen ergibt sich weithin nicht aus ihnen selbst, sondern erst durch die Einbeziehung der religiösen und kirchlichen Wirklichkeit, die gerade einer Regelung unterworfen werden soll. Diese Eigenart beruht nicht auf Willkür oder Zufall. Der säkulare, in neuer Terminologie der religiös-neutrale C h a rakter des freiheitlichen Staates verbietet es, den religiösen Bereich selbst zu definieren und zu ordnen. Die Trennung von Staat und Kirche, die Anerkennung der Grundrechte, insbesondere das der Religionsfreiheit, beschränken die staatliche Kompetenz auf den weltlichen Bereich. Dieser Umstand läßt staatskirchenrechtliche Regelungen in einem M a ß e als offen und ausfüllungsbedürftig erscheinen, d a ß ihnen etwas „ T o r s o h a f t e s " anhaftet. Die Regelungen des Staatskirchenrechts haben die kirchliche O r d n u n g vor Augen und öffnen ihr durch die Anerkennung der Selbstbestimmung einen R a u m . „ D a s Staatskirchenrecht setzt seitens des Staates den R a h m e n , in dem sich das Leben der Religionsgesellschaften entfalten k a n n " (Scheuner, System 8). Die Besonderheit des Staatskirchenrechts ist nicht auf die Ebene der Verfassung beschränkt. Bezugnahme und Verweisung setzen sich auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechtes fort, und zwar nicht zufällig, sondern notwendigerweise auf G r u n d der beschränkten Regelungskompetenz des säkularen Staates. Die Festlegung eines R a h m e n s staatskirchenrechtlicher O r d n u n g gehört zu seinen Aufgaben. Dabei spielen aber reli-

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giöse Begriffe, Vorgänge und Institutionen eine hervorragende Rolle. Die aus der Religionsfreiheit und der Trennung von Staat und Kirche resultierende Aufgabenbeschränkung des Staates und seine Inkompetenz in religiösen Fragen versagen es ihm, eine inhaltliche Bestimmung eben dieser Begriffe, Vorgänge und Institutionen vorzunehmen. Er ist bei der Regelung auf die säkulare Seite seiner staatskirchenrechtlichen Objekte begrenzt. Solche sind die allgemein schulischen und organisatorischen Gesichtspunkte beim -»Religionsunterricht, die allgemein wissenschaftlichen und organisatorischen Fragen im Blick auf die theologischen -»Fakultäten, allgemeine kunsthistorische, architektonische und denkmalpflegerische Gesichtspunkte bei der Denkmalpflege von Sakralbauten, steuerrechtliche Rahmenfragen beim Kirchensteuerrecht (-»Abgaben, Kirchliche), im Gegensatz zu den spezifisch religiösen Aspekten. Letztere sind die theologischen und religionspädagogischen Gesichtspunkte im Schul- und Hochschulrecht, die liturgischen Aspekte bei kirchlichen Kulturdenkmälern, die Regelung der Kirchenzugehörigkeit im Kirchensteuerrecht usw.

Die genannten Gebiete müssen vom Gesetzgeber und von der Verwaltung bearbeitet werden. Alle sind sie aber nur teilweise deren Zugriff unterworfen. Das erklärt die Besonderheit der Mantel- und Rahmenbestimmungen im staatskirchenrechtlichen Bereich. Die inhaltliche religiöse Ausfüllung der Rechtsbegriffe und Rechtsformen kann durch den Staat selbst nicht vorgenommen werden. Die Normen nehmen deshalb entweder auf die religiöse Seite Bezug, oder sie verweisen über den Bereich des säkularen Rechts hinaus auf den religiösen Gehalt, auf den das weltliche Recht Bezug nimmt. Die Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 G G gewährleistet Freiheit und Schutz des Glaubens. Sie überläßt es aber den Gläubigen oder Ungläubigen und der respektiven Glaubensgemeinschaft zu definieren, was dazu gehört. Art. 4 Abs. 2 G G garantiert die ungestörte Religionsausübung. O b dazu nur Gottesdienst oder auch Unterricht, diakonische Betätigung, Prozessionen oder Speisevorschriften zählen, kann der Staat nur zur Kenntnis nehmen, nicht aber dekretieren. Art. 140 G G in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 W R V regeln das Selbstbestimmungsrecht in eigenen Angelegenheiten. Was dazu zählt, können die respektiven Religionsgemeinschaften nur selbst bestimmen. Der säkulare Staat kann den Kreis der „eigenen Angelegenheiten" nicht mehr selbst umschreiben, nachdem er mit der organisatorischen Trennung von Staat und Kirche und der Anerkennung der Religionsfreiheit die staatliche Aufsicht über die Kirchen verloren hat. Das gleiche Phänomen der Ergänzungsbedürftigkeit findet sich im Bereich des Kirchenguts, des Religionsunterrichts, der Lehrerbildung, im Recht der theologischen Fakultäten, beim Denkmalschutz, in der Krankenhaus-, Gefängnis- und Militärseelsorge, beim Friedhofsrecht, beim Kirchensteuerrecht usw. Die Ausfüllungsbedürftigkeit der staatskirchenrechtlichen Normen soll sicherstellen, daß Gesetzgeber und Verwaltung sich nicht selbst an die inhaltliche Ausfüllung und Definition des religiösen Bereichs heranmachen. Was dem Staat bleibt, ist die Festlegung säkularer, religiös neutraler Schrankensetzung im Interesse der Gemeinverträglichkeit. Das meint die „Schranke des für alle geltenden Gesetzes" (Art. 140 G G in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 W R V ) . Im Verweisungs- und Bezugnahmecharakter der staatskirchenrechtlichen Mantelund Rahmenbestimmungen liegt die Notwendigkeit der zahlreichen Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung von Staat und Kirche begründet. Es ist nicht eine Neigung zur Kumpanei mit der Kirche, sondern es folgt aus dem säkularen Charakter des Staates, daß er als freiheitlicher, die Entscheidung der Staatsbürger und deren religiöse Option respektierender Staat zur Zusammenarbeit mit den religiösen Institutionen bereit ist und deren Selbstverständnis berücksichtigt. Für die Interpretation der Kirchenartikel gilt dabei grundsätzlich nichts anderes als für andere Teile der Verfassung. Allerdings ist der Bestand der Bestimmungen durch eine verzettelte Plazierung innerhalb des Grundgesetzes einerseits, in den Landesverfassungen und zahlreichen gesetzlichen Regelungen andererseits nicht übersichtlich. Des-

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Staatskirchenrecht

halb tritt a u f den ersten Blick nicht deutlich hervor, d a ß es sich um eine geschlossene M a t e r i e handelt, deren Teile sowohl historisch wie systematisch in Z u s a m m e n h a n g stehen. Die Gesamtheit dieser Regelungen ist zweimal in der deutschen Verfassungsgeschichte Gegenstand eines Verfassungskompromisses geworden. Ohne ihn wären die Weimarer Reichsverfassung 1919 und das Bonner Grundgesetz 1949 nicht zustande gekommen. Der Kompromiß, der deutlich den Charakter eines Ausgleichs trägt, bildet also ein konstitutives Element des gesamten Verfassungskonsenses. Veränderungen der zugrunde liegenden Anschauungen und der politischen Kräfte haben nur in wenigen Fällen äußere Umgestaltungen herbeigeführt. Inhaltlich gehören die räumlich in Art. 140 so weit von der in Art. 4 G G garantierten Religionsfreiheit abgeschlagenen Kirchenartikel in die Nähe der Grundrechte. Dieser Zusammenhang ist bei der Redaktion des Grundgesetzes verlorengegangen. Aus föderalistischen Rücksichten sollte zunächst von einer staatskirchenrechtlichen Regelung in der Bundesverfassung abgesehen werden. Später änderte man diese Meinung, brachte das Staatskirchenrecht aber nur mehr in Art. 140 G G unter. Der Sache nach gehört Art. 140 in den Grundrechtsteil. Dementsprechend ist das Grundgesetz heute so zu lesen, als stünde Art. 140 zwischen Art. 4 und 5. Unbeschadet dieser redaktionellen Besonderheiten müssen die allgemeinen Grundsätze der Verfassungsauslegung auch hier Geltung beanspruchen: der Gedanke der Einheit der Verfassung, das d a m i t korrespondierende Prinzip der harmonisierenden Auslegung (Konkordanz-Prinzip), der Gedanke des inneren Z u s a m m e n h a n g s grundrechtlicher und institutioneller und organisatorischer Vorschriften und schließlich das Abstellen a u f den objektiven Sinn der Verfassung im Unterschied zum Rückgriff auf ihre Entstehungsgeschichte. Der Grundsatz der Auslegung der Verfassung als Einheit schließt es aus, den G e s a m t k o m p l e x des Staatskirchenrechts unter einen speziellen Systemgedanken zu stellen und alles von hieraus zu deuten. 3. Elemente

der staatskirchenrechtlichen

Ordnung

Religionsfreiheit begründet nach heutigem Verständnis ein individuelles und ein kollektives Recht. In ihrem objektiven Gehalt ist sie ein wesentliches Element der offenen und freiheitlichen O r d n u n g des Grundgesetzes. Ihr k o m m t überragende Bedeutung zu. Die Gesamtheit des Verhältnisses von Staat und Kirche ist mit diesem einen Begriff aber nicht umrissen. Das Staatskirchenrecht ist ein k o m p l e x e r Bereich von Beziehungen, der nicht von einem Begriff oder Schlagwort allein beherrscht wird. Die Religionsfreiheit, ein wesentlicher Bestandteil, wurde in Jahrhunderten entwickelt und ist in Deutschland erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1 9 1 9 zur vollen Entfaltung gelangt. Das Grundgesetz vermeidet in Art. 4 den Begriff der Religionsfreiheit und zählt statt dessen mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und der ungestörten Religionsausübung wesentliche Elemente des Grundrechts auf. Damit wird zum einen die Erinnerung an die schrittweise Ausweitung dieses Menschenrechts lebendig gehalten. Zum anderen wird nach den Eingriffen des NS-Staates hervorgehoben, daß Religionsfreiheit nicht auf interne und vermeintlich rein religiöse Aspekte eingeschränkt werden darf. Art. 4 G G gewährleistet heute volle religiöse und, damit rechtlich gleichgestellt, weltanschauliche Freiheit, also auch die Freiheit des keiner Begründung bedürftigen Unglaubens. Die damit einhergehende Unabhängigkeit der bürgerlichen und der staatsbürgerlichen Rechte und des Zugangs zu den öffentlichen Ämtern ist zusätzlich gewährleistet (Art. 3 Abs. 3; Art. 33 Abs. 3; Art. 140 G G in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV). Die hierin zum Ausdruck kommende Trennung weltanschaulicher Bezüge von der bürgerlichen Ordnung geht in den Anfängen schon auf die Aufklärung zurück. Heute ist sie vollendet. Die staatliche Rechtsordnung nimmt am Bekenntnis des Staatsbürgers kein Interesse mehr, sofern nicht die Religionsfreiheit selbst in besonderen Zusammenhängen dessen Beachtung erheischt. Das ist z. B. der Fall bei den konfessionell gebundenen Staatsämtern (Professoren der Theologie, Religionslehrer, Anstalts- und Militärseelsorger [-»Gefangenenfürsorge/Gefangenseelsorge, -»Militärseelsorge]). Die Offenheit der säkularen staatskirchenrechtlichen Normen für die religiösen und innerkirchlichen Sachverhalte ist kein Widerspruch zur Religionsfreiheit, sondern Ausdruck ihrer Anerkennung. Die staatskirchenrechtliche Ordnung Deutschlands vermeidet damit das verbreitete Mißverständnis, daß Religion in dem Sinne Privatangelegenheit sei, daß der Staat sie ignorieren dürfe.

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Die Religionsfreiheit erschöpft sich nicht in der Sicherung der individuellen Freiheit. Sie schützt auch die kollektive religiöse Betätigung und die Freiheit der Kirchen- und Religionsgesellschaften selbst. Wie die anderen Grundrechte enthält auch Art. 4 GG Elemente objektiven Gehalts. Mit der Sicherung der Religionsausübung wird das religiöse Leben in der Gemeinschaft insgesamt geschützt. Heute ist der Staat verweltlicht, hat seine religiöse Grundlage aufgegeben und das Bündnis mit der Kirche gelöst. Er befleißigt sich religiöser Neutralität. Da tritt neben die negative Seite der Religionsfreiheit deren positive Bedeutung stärker in den Vordergrund. Das Recht zur Fernhaltung ist selbstverständlich geworden. Dagegen hat das Recht der ungestörten Religionsausübung und des Hineinwirkens in die Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen. Die statistische Veränderung der Konfessionszugehörigkeit hat zwei Rechtsfragen der Religionsfreiheit besondere Aktualität verliehen: Einmal ist der Genuß der Religionsfreiheit der Muslime ein Problem, weil es muslimische Staaten gibt, die keine Religionsfreiheit gewähren. Z u m anderen ist immer wieder umstritten, in welchem Maße ungewohnte Verhaltensweisen oder Betätigungen von Angehörigen neuer Religionsgemeinschaften den Schutz des Art. 4 G G genießen. 4. Trennung von Kirche und Staat Trennung von Staat und Kirche ist nicht nur ein Schlagwort, sondern ein wesentliches Moment der staatskirchenrechtlichen Ordnung in vielen Ländern, auch in Deutschland. Der Begriff bezeichnet aber in verschiedenem Zusammenhang stark voneinander abweichende staatskirchenrechtliche Regime. Er k o m m t im Grundgesetz nicht vor. Die institutionelle Verselbständigung von Staat und Kirche ist mit dem Satz, daß keine -•Staatskirche bestehe (Art. 137 Abs. 1 W R V in Verbindung mit Art. 140 GG), aber gemeint. Trennung von Staat und Kirche zielte in den USA, in Frankreich, den totalitären Regimen im Deutschland der NS-Zeit und der früheren DDR einerseits, unter der Reichsverfassung von 1919 und dem Grundgesetz andererseits auf unterschiedliche Ziele. Sollte sie hier die Religionsfreiheit sichern und den religiösen Kräften die Entfaltung erleichtern, so war es dort das erklärte Ziel, die Religionsausübung aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und sie einzuschränken. Es muß also im Einzelfall geprüft werden, worum es sich handelt. Versatzstücke des Trennungssystems eines bestimmten Landes lassen sich trotz identischen Begriffs nicht ohne weiteres in einem anderen verwenden. Welcher Art Trennung ist also wo beabsichtigt? Art. 137 Abs. 1 WRV war von Anfang an Gegenstand heftiger Kontroversen. Einerseits klangen in der an der Paulskirchenverfassung angelehnten Formulierung liberalistische und antikirchliche T ö n e an, welche auf eine radikale Trennung hinzudeuten schienen. Diese war aber durch andere Absätze desselben Artikels und weiterer Artikel der gleichen Reichsverfassung gerade ausgeschlossen. Art. 137 Abs. 1 WRV war insofern nur ein Teilaspekt einer Gesamtkonzeption. Andererseits gab es eine Staatskirche, wie sie im Preußischen Allgemeinen Landrecht verankert war, im Jahre 1919 schon lange nicht mehr.

Geblieben war nach 1849 das landesherrliche —• Kirchenregiment mit weitreichenden staatlichen Kirchenhoheits- und Kirchenaufsichtsrechten. Ihre Aufhebung war das aktuelle Nahziel, das mit dem Verbot der Staatskirche 1919 angestrebt wurde. Die ganze Bedeutung des Art. 137 Abs. 1 WRV erschöpfte sich in diesem tagespolitischen Aspekt freilich nicht. Unbeschadet der organisatorischen Trennung von Staat und Kirche hat der deutsche Verfassungsgeber in den Verfassungskompromissen von 1919 und 1949 zweimal bewährte Elemente herkömmlicher Kulturverfassung erhalten. Die mit dem Körperschaftsstatus umschriebene Möglichkeit für Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, sich im öffentlichen Recht anzusiedeln, die Beibehaltung des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen, die Theologischen Fakultäten im Rahmen der staatlichen Universitäten, die auf das religiöse Bedürfnis von Anstaltsinsassen Rücksicht nehmende Anstaltsseelsorge sind vom Verfassungsgeber ebenso verfügt wie die Trennung. Die deut-

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sehe Verfassungsordnung ist also nicht ausreichend charakterisiert, wenn man sie als ein Trennungssystem beschreibt, ganz mißverstanden, wenn man den Trennungscharakter leugnet. Seit der Paulskirchenverfassung erweist sich das Trennungssystem als Komplementärgarantie zur Religionsfreiheit. Im Blick auf konfessionelle Vorgaben hatte der Gedanke der Trennung von Staat und Kirche historisch gesehen eine polemische Frontstellung. Er wendete sich gegen die dem Staat verbundene oder verschwisterte Kirche. Das ist aber ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Geblieben ist die Funktion, die Unabhängigkeit des Staates und der Kirche zu gewährleisten. Insofern ist Trennung unter dem Grundgesetz Ausdruck staatlicher und kirchlicher Selbständigkeit und Freiheit und eine sachlogische Konsequenz der Religionsfreiheit. Die deutschen Reichs-, Bundes- und Landesverfassungen haben die Trennung als Instrument des Ausgleichs aufgenommen. Deshalb muß das Trennungsprinzip im Zusammenhang mit den Freiheitsrechten und als Ergänzung hierzu gesehen werden. Die Trennung von Staat und Kirche soll Freiheit durch Offenheit und Ausfüllungsbedürftigkeit erlauben. Sie wird in Deutschland also gerade nicht als Mittel staatlicher Herrschaft über die Kirchen eingesetzt. Sie soll die Kirchen und die religiösen Anliegen der Staatsbürger nicht aus der Öffentlichkeit verdrängen. Sie ist auch kein Mittel des staatlichen Eingriffs in die Kirchen mit Hilfe säkularer Freiheitsvorstellungen. Mit diesem auf Ausgleich und Konsens bedachten Ansatz hat das deutsche Staatskirchenrecht Freiheit und Rechtskontinuität verbürgt statt Zwang und Umbruch. Mit dem Schlagwort Trennung allein ist also noch nicht alles geklärt. Deshalb hat U. Stutz schon in der Weimarer Zeit im Blick auf die Reichsverfassung anschaulich von einem System „,hinkender' Trennung" (Stutz, Die Päpstliche Diplomatie unter Leo XIII., 1926 [APAW.PH 1925] 54 Anm. 2) gesprochen, einer Trennung also, die doch keine Trennung nach amerikanischem oder französischem Muster ist, andererseits aber doch eine Trennung, die der bis dahin für Deutschland charakteristischen Verbindung von Staat und Kirche ein Ende setzt. In Anlehnung an eine parallele französische Entwicklung sprach man in Deutschland auch von positiver Trennung oder von einer balancierten Trennung von Staat und Kirche. Staat und Kirche sind nicht nach Bereichen oder Sachgebieten getrennt, sondern in vielfältiger Weise miteinander verflochten. Es gibt keinen Bereich, keine Aktivität der freien Träger, in denen der Staat nicht fördernd, planend oder lenkend tätig wäre. Die staatliche Planung, Normierung, Kontrolle und Subvention umfaßt mit der Wohlfahrtspflege, den Krankenhäusern, Kindergärten und Altersheimen auch den Bereich, auf dem ein Schwerpunkt der kirchlichen Tätigkeit liegt (->Diakonie). Hierbei tritt in Erscheinung, daß es die gleichen Menschen sind, die politisch zur Einheit und zum handlungsfähigen Subjekt verbunden den Staat bilden und die in der Gesellschaftssphäre ihres persönlichen, familiären, geselligen Lebens ihre berufliche, wirtschaftliche, geistig kulturelle, aber auch religiöse Betätigung haben. Schon aus diesem Grunde stehen Staat und Kirche nicht beziehungslos nebeneinander, wie es die Theorie einer strikten Trennung wahrhaben möchte. Ebensowenig gibt es nur einseitige Auswirkungen des Staates auf die Gesellschaft. Es ist im Gegenteil gerade Ausdruck der freiheitlichen Verfassung, daß auch von der Gesellschaft, also auch von den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen Einflußnahmen auf den Staat durch seine Organe ausgehen. In einer offenen Gesellschaft kann der Staat das nicht abblocken. Dies ist Ausdruck der offenen Willensbildung im politischen Prozeß. Dieser läuft von der Gesellschaft auf den Staat zu. Das politische Entscheidungshandeln der staatlichen Organe ist von diesem Prozeß nicht abgesetzt, sondern eingebunden und unterliegt zudem einer periodisch zu erneuernden demokratischen Legitimation. Auch in sachlicher Hinsicht lassen sich ein staatlicher und ein kirchlicher Bereich nicht säuberlich trennen. Die Unterscheidung von geistlich und weltlich bezieht sich primär nicht auf Gegenstände, sondern auf die Ziel- und Zweckausrichtung. Weite Bereiche staatlicher und kirchlicher Tätigkeit betreffen „gemeinsame Angelegenheiten", die zugleich einen weltlichen und einen kirchlichen Bezug

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haben. Gewiß beansprucht der Staat auch hier die Regelungskompetenz für den weltlichen Teil der Angelegenheit. Die freiheitliche Verfassung beschränkt seine Zuständigkeit aber und macht ihm die Beachtung der Freiheitsrechte, hier also insbesondere der religiösen Entfaltungsrechte, zur Pflicht. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben wie alle gesellschaftlichen Kräfte von ihren Tätigkeits- und Freiheitsbereichen her stets die Möglichkeit, auf den Staat und die dort anstehenden Überlegungen, Maßnahmen und Entscheidungen einzuwirken.

Mit der organisatorischen Trennung von Staat lind Kirche und der Anerkennung der vollen Religionsfreiheit einschließlich der religiösen Vereinigungsfreiheit sind alle Religionen und alle Weltanschauungen rechtlich gleichgestellt. Der privilegierende Vorrang der früher herrschenden Kirchen ist aufgehoben.

5. Kooperation von Staat und Kirche in Korrespondenz zur Trennung Paradoxerweise machen Religionsfreiheit und Trennung von Staat und Kirche Absprachen, Kontakte und Kooperation von Staat und Kirche nicht überflüssig, sondern im Gegenteil unabweislicher als im früheren System staatlicher Kirchenhoheit. Heute kann der Staat in den Kirchen und Religionsgesellschaften nicht mehr aufsichtführend und steuernd Einfluß nehmen. Eine Zensur oder eine Veranstaltungsverordnung nach dem Vorbild der früheren D D R sind undenkbar. Will der Staat bei seiner umfassenden Planungs- und Steuerungstätigkeit nicht ständig Gefahr laufen, das Religiöse selbst zu definieren und damit zu verfälschen, muß er sich zum respektiven kirchlichen Standpunkt in Beziehung setzen, d.h. daß er die Stellungnahme der kirchlichen Instanz erfragen und berücksichtigen muß. Die zahlreichen gesetzlichen Berücksichtigungsklauseln und Mitwirkungsrechte sind also nicht Folge einer verfassungsrechtlich verbotenen Verbindung von Staat und Kirche. Sie spiegeln den Willen des freiheitlichen Staates, den religiös-weltanschaulichen Pluralismus ernst zu nehmen, wider und die Notwendigkeit der Kooperation eines freien Staates mit staatsfreien Religionsgesellschaften, die auf Gebieten tätig sind, auf denen sich auch der Staat bewegt. Ausdruck dieses Abstimmungsbedürfnisses zwischen Staat und Religionsgesellschaften sind die Kirchenverträge (-»Staatskirchenverträge). Sie haben ihre Ursache in der Kompetenzbeschränkung des Staates auf den weltlichen Bereich und auf den weltlichen Aspekt des Rechts und der zu regelnden Materie. Überschneidungen staatlicher und kirchlicher Tätigkeit sind alltäglich. Umfassende Planung, Lenkung und Finanzierung fast aller Lebensbereiche einerseits, grundrechtliche Sicherung der freien Betätigung in erzieherischen, diakonischen und anderen Bereichen andererseits machen vertragliche Abmachungen wünschenswert. Verträge vermitteln in einem Bereich immerfort notwendiger Abstimmung die Rechtsgrundlage einer für beide Partner notwendigen rechtsstaatlichen Berechenbarkeit und Konstanz bei sozial- und kulturstaatlicher Tätigkeit. Selbstverständlich ist keine Religionsgemeinschaft gezwungen, ihren Mitgliedern Kenntnis der Grundlagen ihrer Religion in der Schule vermitteln zu lassen. Keine braucht ihren Nachwuchs an staatlichen Universitäten ausbilden zu lassen. Aus staatlicher Sicht muß keine für die religiöse Versorgung ihrer Konfessionsangehörigen in Krankenhäusern, Gefängnissen oder der Armee Sorge tragen. Keine Religionsgemeinschaft braucht den staatlichen Anteil an den Kosten von Krankenhäusern, Kindergärten usw. anzunehmen. Keine schließlich braucht von der Möglichkeit des staatlichen Kirchensteuereinzugs Gebrauch zu machen. Allemal handelt es sich um Angebote, die einem die Grundrechte der Staatsbürger ernst nehmenden Staat angemessen sind. Verfassungsrechtliche Gebote, die die Kirchen anzunehmen gezwungen wären, sind es nicht. Für diejenigen Kirchen und Religionsgemeinschaften aber, die diese Angebote wahrnehmen wollen, ist eine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen unabweislich. Gerade die Beschränktheit staatlicher Kompetenz, der torsohafte Charakter der staatlichen Regelungsmöglichkeiten läßt es geraten erscheinen, über die Kooperationsfelder, die so schnell auch Konfliktfelder werden können, Vereinbarungen zu treffen. Dies ist die Funktion der staatskirchenrechtlichen Vereinbarungen, welche sich in der alten Bundesrepublik bewährt haben. Aus diesem Grunde haben alle neuen Länder Verträge mit den Kirchen geschlossen. Entsprechende Abmachungen mit jüdischen und anderen kleinen Religionsgemeinschaften sind zahlreich.

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Das deutsche Staatskirchenrecht ist dadurch ausgezeichnet, daß es frühere Verfassungszustände zwar noch erkennen läßt, die früher gegebene Ungleichbehandlung der Religionsgemeinschaften aber durch kontinuierliche, immer weiter vorangetriebene Liberalisierung ausgeschlossen hat. Alle Religionsgemeinschaften haben heute die gleichen rechtlichen Möglichkeiten. Natürlich haben die Kirchen statistisch einen großen Vorsprung, und sie hatten bereits den Körperschaftsstatus, den andere erst nach 1919 erwerben konnten, allerdings auch in großer Zahl erworben haben. Weitere Religionsgemeinschaften lehnen es ab, mit dem Staat und der öffentlichen Ordnung in nähere Beziehung zu treten, und sie verharren deshalb rechtlich auf dem Status privatrechtlicher Vereinigung. Dabei genießen sie den gleichen Grundstatus der Religionsfreiheit, der Selbständigkeit gegenüber staatlicher Aufsicht und ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht. 6. Neue Fragen bei unveränderter

Rechtslage

Das geltende Recht wird in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt: Das Aufkommen neuer Religionsgemeinschaften (-»Neue Religionen) stellt die staatlichen Behörden insofern vor schwierige Aufgaben, als sie ungewohnte Verhaltensweisen als Religionsausübung ausgeben. Demgegenüber betont die neuere Lehre, daß unter Religion und Religionsausübung nichts Beliebiges zu verstehen ist, sondern das, was unter Absehung theologischer Beurteilung im einzelnen sich nach dem herkömmlichen Religionsverständnis als Religion oder Weltanschauung darstellt. Die staatlichen Begriffe können Freiheit nur gewährleisten, sofern sie vom Staat ihren Geltungsrahmen erhalten. Bei Scientology (vgl. TRE 24,303,42-60) führt das z.B. zu dem Ergebnis, daß die Verhaltensweise der Angehörigen dieser Gemeinschaft zwar Grundrechtsschutz genießt, aber nicht den der Religionsfreiheit, weil das kommerzielle Verwerten psychologischer Praktiken nach deutscher Rechtsordnung ein möglicherweise erlaubtes Gewerbe ist, aber nicht Religionsausübung. Auch die Wiedervereinigung bedeutete eine Infragestellung der geltenden Ordnung. Das DDR-Regime hat sich, wie man nach seinem Untergang feststellen kann, erfolgreich als ein Trennungsregime dargestellt, obwohl es in Wirklichkeit das Gegenteil war: Die DDR war ein Weltanschauungsstaat mit einem Weltanschauungsmonopol. Das ganze Leben in allen seinen Ausfächerungen sollte vom Geist der marxistisch-leninistischen Weltanschauung durchdrungen sein. (Im Grundgesetz werden Religion und Weltanschauung rechtlich gleichbehandelt.) Gegenüber der Erfahrung der DDR ist festzuhalten, daß die modernen sozialstaatlichen Beziehungen und Verbindungen zu Staat und Religionsgemeinschaft mit den 1990 abgestreiften nicht zu verwechseln sind. Sie sind auch nicht Ausdruck der Wertschätzung der christlichen Wahrheit, welche der Grund für die Privilegierung der Kirchen bis 1919 war. Es gilt vielmehr der Grundsatz, daß der Staat, sofern er bestimmte gesellschaftliche Aktivitäten fördert, kirchliche Rechtsträger von solcher Förderung nicht ausschließen darf. Auch der statistische Rückgang der Zahlen der Kirchenglieder in den mitteldeutschen neuen Ländern ändert als solcher die Rechtslage nicht, weil das deutsche Staatskirchenrecht nicht nur für Mehrheitskirchen gilt, sondern für alle Religionsgemeinschaften. Verlorengegangen ist die selbstverständliche traditionelle Christlichkeit der Gesellschaft. Die Neutralität des Staates ist Programm. Neu und ungewohnt ist der Verlust der „präkonstitutionellen Harmonie" zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche erleichtert hat. Die religiös-weltanschauliche Pluralisierung der Gesellschaft macht gesteigerte Bemühungen staatlicherseits erforderlich. Die Versuchung, aus Stumpfsinn, aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder aus Ideologie die tatsächliche Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Optionen der Staatsbürger als Aufspaltung der Gesellschaft zu inkriminieren und sich um staatliche Homogenisierung zu bemühen,

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wie sie im brandenburgischen Versuch zum Ausdruck k o m m t , konfessionellen Religionsunterricht nach eigener Wahl durch einheitliche, staatlich verordnete religiös-weltanschauliche Ertüchtigung zu ersetzen (vgl. T R E 2 9 , 4 0 , 3 6 - 4 0 ) , entspricht allerdings nicht dem freiheitlichen C h a r a k t e r des deutschen Staatskirchenrechts und d e m grundrechtlich gebotenen Willen, die religiös-weltanschauliche Vielfalt der Gesellschaft als Herausforderung anzunehmen. Literatur Alfred Albrecht, Koordination v. Staat u. Kirche in der Demokratie, Freiburg/Basel/Wien 1965. - Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde f. den Preußischen Staat vom 31.1.1850, Berlin, I 1912. - Ders., Die Verfassung des Dt. Reichs vom 11. August 1919, Berlin 1921 " 1 9 3 3 (Nachdr. Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1968; Neudr. Aalen 1987). - Peter Badura, Das Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrcchts. 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Axel Freiherr von Campenhausen

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Staatskirchenverträge

Staatskirchenverträge (Quellen und Literatur S. 89) Das Vertragskirchenrecht hat eine alte Tradition. Verträge mit der —•Römisch-katholischen Kirche, in der Regel -»Konkordat genannt, gibt es seit Jahrhunderten. Staatskirchenverträge der evangelischen Kirche gibt es erst seit dem Ende des Landesherrlichen -»Kirchenregiments, nachdem die Weimarer Reichsverfassung (1919) die Verflechtung der evangelischen Kirche mit dem Staat beseitigt hatte. Erst dann wurden Verträge zwischen den Staaten und den evangelischen Kirchen möglich. Überraschenderweise hat gerade die Trennung von Staat und Kirche den Gedanken des Vertragskirchenrechts einen neuen Auftrieb gegeben. Das gilt für kein Land mehr als für Deutschland. Hier haben die Verträge dem -»Staatskirchenrecht seit 1919 und verstärkt seit 1949 eine charakteristische Prägung verliehen. Das Vertragskirchenrecht bildet eine wichtige Quelle des geltenden Staatskirchenrechts. Im Unterschied zur Weimarer Zeit, wo die katholischen Verträge als Schrittmacher fungierten und evangelische Kirchenverträge ihnen nachfolgten, sind in der Zeit nach 1949 die evangelischen Kirchenverträge zeitlich und inhaltlich vorangegangen. Ursächlich dafür war einmal der Umstand, daß die Römisch-katholische Kirche durch die Konkordate der Weimarer Zeit im wesentlichen befriedigt war, vor allem aber die Schwierigkeiten, die sich aus dem Streit um die Rechtsgültigkeit des Reichskonkordats ergaben. Als Vorbild wirkte der sog. Loccumer Vertrag (vgl. T R E 14,441,14-18), der im Kloster Loccum unterzeichnete Vertrag des Landes Niedersachsen mit den Evangelischen Landeskirchen von Niedersachsen vom 19. März 1955 (dazu ein Ergänzungsvertrag vom 4. März 1965). Ihm folgten (nahezu inhaltsgleich) Verträge weiterer Bundesländer mit den entsprechenden Landeskirchen (Schleswig-Holstein 23. April 1957 [vgl. T R E 30,210,16-21]; Hessen 18. Februar 1960; Rheinland-Pfalz 3. November 1962). Hierher gehört ferner der Vertrag des Landes Nordrhein-Westfalen mit den Evangelischen Kirchen von Rheinland und Westfalen vom 9. September 1957. Der Vertrag des Landes Nordrhein-Westfalen mit der Lippischen Landeskirche vom 6. März 1958 mit Ergänzung vom 26. September 1959 erstreckt im wesentlichen den preußischen Kirchenvertrag von 1931 auf die Lippische Landeskirche. Zu erwähnen ist ferner der Düsseldorfer Vertrag vom 29. März 1984 zum Hochschulwesen in Nordrhein-Westfalen. Der saarländische Kirchenvertrag von 1968 regelt lediglich die Rechtsverhältnisse des Theologischen Lehrstuhls an der Universität Saarbrücken. Auf Bundesebene wurde der Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der -»Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung der evangelischen -* Militärseelsorge vom 22. Februar 1957 geschlossen. Die Verträge der Weimarer Zeit gelten fort, soweit sie nicht durch die jüngeren Abmachungen überholt wurden, nämlich die evangelischen Kirchenverträge von Bayern (15. November 1924, gesonderte Verträge mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern [rechts des Rheins] und der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz), Preußen (11. Mai 1931) und Baden (14. November 1932). Einzelne Staatskirchenverträge erfuhren Änderungen, zahlreiche Vereinbarungen über einzelne Rechtsfragen traten hinzu. Neuen Verträgen zwischen Staat und Kirche wurde seit dem umstrittenen Konkordat des Landes Niedersachsen mit dem Heiligen Stuhl (1965) wiederholt das Ende vorausgesagt. Die Wirklichkeit ist solchen Prophezeiungen nicht gefolgt. Der Vertrag zwischen Staat und Kirche hat sich als Instrument des Ausgleichs bewährt und immer neue Bestätigung erfahren. Das bezeugen zahlreiche Abmachungen in der alten Bundesrepublik. Besonders eindrucksvoll zeigte sich die Beliebtheit dieses Instituts nach dem Ende der DDR. Deren System der Benachteiligung der Religionsgemeinschaften (-»Religionsgesellschaften), der Behinderung und Beaufsichtigung der Kirchen und der Verweigerung einer unvoreingenommenen Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen ließ Verträge

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als Instrument des Ausgleichs, die diese Mängel vermeiden helfen, in hellem Lichte erscheinen. Drei der fünf neuen Länder (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt) haben in ihren Verfassungen den Vertrag als Instrument zur Konkretisierung der wechselseitigen Beziehungen von Staat und Kirche vorgesehen. Binnen sechs Jahren kam in jedem Land ein Vertrag mit evangelischen Landeskirchen zustande. Mehrere Verträge regeln nur Einzelfragen (z. B. die seelsorgerische Tätigkeit in Justizvollzugsanstalten [-»Gefangenenfürsorge/Gefangenenseelsorge] und bei der Polizei; ein Vertrag mit den Kirchen beider Konfessionen betrifft Einzelheiten des -»Religionsunterrichts). Die Staatskirchenverträge der Länder Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen und Brandenburg mit den in ihren Ländern gelegenen evangelischen Landeskirchen regeln die Beziehungen von Staat und Kirche grundsätzlich und umfassend. Alle passen sich in die Landschaft der älteren evangelischen Staatskirchenverträge ein. Sie alle bringen den Wunsch zum Ausdruck, unter veränderten politischen Verhältnissen zu einem förderlichen Miteinander von Staat und Kirche (-»Kirche und Staat) zu kommen. Überall wird der Wille bekundet, an die geschichtlich gewachsenen Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche anzuknüpfen, historische Rechte und Pflichten zu berücksichtigen und fortzubilden. Dabei nehmen die Verträge stets auf die älteren Vereinbarungen Bezug, ohne sich zu deren umstrittener Fortgeltung oder Nichtgeltung klar zu äußern. Wie sehr um diese Frage gerungen wurde, läßt das Schlußprotokoll zum Wittenberger Vertrag (1993) erkennen. Die Frage ist in ihrer Bedeutung dadurch relativiert, daß nunmehr die neuen Verträge maßgeblich sind und insbesondere im Blick auf finanzielle Leistungen des Staates den neuen Verträgen eine novatorische Wirkung zukommt. In der Betonung der gegenseitigen Unabhängigkeit von Staat und Kirche (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Brandenburg) deutet sich eine gewisse Distanzierung von Staat und Kirche an, der freilich das „Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung" (Sachsen), des gemeinsamen Willens (Sachsen-Anhalt) und der Wille, die „bildungs- und kulturpolitische sowie sozial-diakonische Tätigkeit der Kirchen" zu fördern (Thüringen, Sachsen-Anhalt), gegenüberstehen. Die Präambel des Güstrower Vertrages (1994) setzt hier besondere Akzente. Indem die Vertragschließenden die Motive für den Vertragsschluß skizzieren, tritt das in Erscheinung, was die bis 1989 dem Gewaltstaat DDR unterworfenen Menschen als ihre „besonderen Erfahrungen" oft beschworen, freilich selten konkretisiert haben. Hier wird etwas davon erkennbar, wenn -»Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche und kirchliches Selbstbestimmungsrecht nicht nur beschworen werden. Neu ist in einem Vertrag, d a ß das „Bewußtsein der Unterschiedlichkeit des geistlichen Auftrags der Kirchen und der weltlichen Aufgaben des Staates" besonders hervorgehoben wird. Die Vertragschließenden sind „der Uberzeugung, d a ß die Trennung von Staat und Kirche gleichermaßen Distanz und Kooperation gebietet", d a ß „Unabhängigkeit und Kooperation" ihr Verhältnis prägen (Brandenburg). Sie schließen ihn „in Würdigung der Bedeutung, die christlicher Glaube, kirchliches Leben und diakonischer Dienst im religiös neutralen Staat für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger h a b e n " (ebenso Brandenburg). Die im Vertrag geregelten Gegenstände entsprechen den traditionellen Vertragsmaterien, wie sie aus den Konkordaten und Kirchenverträgen seit 75 Jahren in Deutschland selbstverständlich sind. Sie erhalten ihr besonderes Gewicht auf der Folie der Erfahrungen in der überwundenen, weltanschaulich eifernden, intoleranten, freiheitsfeindlichen D D R . In Einzelfragen bringen sie Neues.

Die prinzipielle Bedeutung und Funktion, die Bindungswirkung der Verträge im Verhältnis zur Souveränität des Gesetzgebers, Verträge mit einzelnen Religionsgemeinschaften im pluralistischen Staat, überhaupt die Daseinsberechtigung solcher Abmachungen sind immer wieder in Frage gestellt worden. Säkularer Staat und Religionsgemeinschaften stehen sich als zwei voneinander geschiedene Rechtssubjekte mit eigener Rechtsmacht gegenüber, die jedes nach seiner vom anderen unabhängigen - Rechtsordnung leben. Da ihr personelles Substrat aber identisch ist und ihre Aufgabenbereiche sich überlappen, leben sie nicht im Zustand der Isolierung, sondern in vielfältiger Berührung. Dabei ist der Staat der Herr der weit-

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liehen Rechtsordnung; er hat die Regelung des weltlichen Rechtsverkehrs in seiner Hand. Gerade hinsichtlich der Religionsgemeinschaften ist es für ihn jedoch schwierig, die Rechtsetzung einseitig vorzunehmen, denn deren spezifisch religiöse Aufgaben liegen jenseits seiner Zuständigkeit, und er ist durch die Verfassung gehalten, die Eigenständigkeit des kirchlichen Bereichs zu respektieren. Die kooperative Ordnung des kritischen Rechtsbereichs durch Vertrag enthebt den freiheitlichen Staat, der eine sachgemäße Lösung wollen muß, der Gefahr, mit einer noch so wohlwollenden, einseitigen Regelung das Einmischungsverbot zu verletzen. Deshalb ist der Vertrag ein adäquates Mittel der Rechtsgestaltung. Für und nicht gegen das Vertragskirchenrecht spricht also gerade die Inkompetenz des neutralen Staates in religiös-weltanschaulicher Hinsicht. Allein die Pluralität der religiösen Standpunkte schließt es schon aus, die Rechtsordnungen des Staates und der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften mit allen implizierten Geboten und Forderungen ohne weiteres in Einklang zu bringen. Es ist unbestritten, daß Staat und Religionsgemeinschaften ihre Anschauungen nicht zur Deckung bringen können; sie erwarten deshalb von anderen nichts Unmögliches an Anpassung oder Unterwerfung und haben ein Instrument herausgebildet, das erlaubt, sich zu arrangieren, nämlich die Kirchenverträge. Diese sind insofern Ausdruck der beiderseitigen Bereitschaft zu Kommunikation und Kooperation. Mit den Worten der Präambel des richtungweisenden niedersächsischen Kirchenvertrages, des sog. Loccumer Vertrags, werden die Staatskirchenverträge geschlossen „im Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung", „geleitet von dem Wunsche, das freundschaftliche Verhältnis zwischen Land und Landeskirchen zu festigen und zu fördern", unter Achtung „der freiheitlichen Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche". Das Vertragsstaatskirchenrecht ist also ein Teil der Rechtsordnung, dessen Besonderheit darin besteht, daß der Staat, der über die Kompetenz zu einseitiger Rechtsetzung verfügt, in diesem Bereich davon keinen Gebrauch macht, sondern den von der Verfassung gesteckten Rahmen kooperativ mit den Betroffenen im Vertragswege ausfüllt. Allerdings werden solche Verträge vom Gesetzgeber als Gesetz verabschiedet und verkündet, und damit wird der Vollzug für Behörden und Staatsbürger angeordnet. Insofern haben Verträge die gleiche demokratische Legitimation wie Gesetze. Da die Gesetzgebung heute weithin auf vorangehender Absprache beruht und zunehmend kontraktähnliche Elemente enthält, liegt das Vertragsrecht auf der Linie neuerer Entwicklung. Auch wenn das Staatskirchenrecht durch das Mittel des Gesetzes gestaltet wird, können vorangehende Kontakte zur Ermittlung der kirchlichen Belange stattfinden, und diese Belange könnten Berücksichtigung finden. So ist z.B. die Republik -»Österreich bei Erlaß des sog. Protestantengesetzes (1961) verfahren. Hier hat ein Paktieren über die Frage der Rechtsgestaltung stattgefunden. Die Bedeutung des Vertragsstaatskirchenrechts liegt also darin, daß Staat und Kirchen in den Verträgen ein Stück inneren Verfassungslebens im Rahmen der Verfassung in gemeinsamer Verantwortung regeln und daß die Verträge die Gegensätze staatlicher und kirchlicher Auffassung ausgleichen oder wenigstens Formen vorsehen, wonach diese Gegensätze ausgeglichen werden sollen. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß beide Partner bereit sein müssen, vertraglich gesicherte „Rechtspositionen im Lichte geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse darauf zu prüfen, ob sie noch gerechtfertigt und erfüllt sind". Freilich entspricht die Vorstellung einer solchen Rechtspflicht nicht neuer Erkenntnis. Alle in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Staatskirchenverträge enthalten eine dem Art. 35 II des Reichskonkordats entsprechende „Freundschaftsklausel", worin sich die Vertragspartner verpflichten, „im gemeinsamen Einvernehmen eine freundschaftliche Lösung herbeizuführen", falls „sich in Z u k u n f t wegen der Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung dieses Konkordats irgendeine Meinungsverschiedenheit" ergibt. Die durch die Schul- und Hochschulreform notwendig gewordenen Revisionen älterer Verträge in Niedersachsen (1965, 1973), Bayern (1968, 1974) und Rheinland-Pfalz (1973) zeigen, d a ß die Bereitschaft zur Über-

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prüfung nicht nur auf d e m Papier steht. In diesen Fällen haben sich die Verträge als Instrument der Befriedung bewährt. D a die Überschneidung staatlicher und kirchlicher Tätigkeits- und Interessenbereiche eine in J a h r h u n d e r t e n nur wenig beeinträchtigte Konstanz zeigt, weist auch der Inhalt von K o n k o r d a t e n und Kirchenverträgen t r o t z des Übergangs z u m pluralistischen und neutralen Staat der G e g e n w a r t typische traditionelle Vertragsgegenstände auf. In den in Deutschland geltenden A b m a c h u n g e n fällt zunächst die vertragliche Wiederholung von verfassungsrechtlichen Gewährleistungen auf: Der Schutz der Religionsfreiheit (unter Einschluß des karitativen kirchlichen W i r k e n s ) , der Schutz des kirchlichen Eigent u m s , die Selbständigkeit kirchlicher Organisation und Stellenbesetzung. Eine zweite G r u p p e sichert den staatlichen Schutz zu und gewährleistet den Korporationsstatus und bestimmte, d a m i t verbundene Rechte, z. B. das Besteuerungsrecht. Eine weitere G r u p p e von A b m a c h u n g e n läßt das Interesse des Staates an der kirchlichen Organisation und der Geistlichkeit deutlich werden: Sie betreffen die Beteiligung des Staates bei Gebietso d e r organisatorischen Veränderungen, die politische Klausel, die Theologischen Fakultäten, die Ausbildungsstandards der Geistlichen. Eine regelmäßig v o r k o m m e n d e G r u p p e bilden Bestimmungen vermögensrechtlicher Art, die in der früheren Verbindung von Staat und Kirche in den ->Säkularisationen ihren Ursprung haben, z . B . Dotationen und Baulastfragen. Fünftens regeln die Verträge die beiderseitige Abgrenzung in den gemeinsamen Angelegenheiten, wobei Schulfragen einen wichtigen Platz einnehmen (Bestimmung des Typs der Regelschule, des Religionsunterrichts, der Ausbildung der Lehrer). In neueren Verträgen sind auch die angemessene Beteiligung an Sendezeiten des Rundfunks (vgl. T R E 1 1 , 8 9 , 3 5 - 4 4 ) und Möglichkeiten der Erwachsenenbildung geregelt worden. Zu den wenigen nicht nur deklaratorischen und in der Literatur umstrittenen Regelungen evangelischer Kirchenverträge zählt die Frage der Beteiligung der evangelischen Kirche bei der Berufung von Theologieprofessoren. Die älteren evangelischen Kirchcnverträge sehen anders als die katholischen für die Kirche in der Regel nur das Recht zu gutachterlicher Äußerung vor, und dies nur bei der Berufung bzw. Einstellung eines Theologen. Eine nachträgliche Beanstandung kennt das Vertragsrecht für die evangelische Kirche nicht. Dementsprechend sind Abhilfe oder Ersatzgestellungspflichten für den Staat nicht vorgesehen. Diese ins Auge fallenden Besonderheiten sind historisch bedingt. Die Kirchenverträge spiegeln insoweit eine frühere Rechtslage wider, als die evangelischen Kirchen als der Staatsaufsicht unterliegende Landeskirchen kein eigenes Fakultätenrecht entwickeln konnten und das staatliche Ministerium auch noch kirchliche Funktionen wahrnahm. Unzweifelhaft genügen die alten Vertragsregelungen auch heute den praktischen Bedürfnissen. Allerdings müssen sie im Lichte des Verfassungsrechts angewendet werden, d.h. die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten müssen besser unterschieden werden, als das zur Zeit der Vertragsschlüsse gelungen war. Nur wenn Staat und Kirche in dem Sinne verbunden wären, daß der Staatsbehörde die letzte kirchenrechtliche Entscheidung über die Eignung von Theologen zustände, wäre die „gutachtliche Stellungnahme" für den Staat unverbindlich. Diese Situation des ausgehenden Landesherrlichen Kirchenregiments besteht jedoch seit dem 11. August 1919 nicht mehr. Aus der mit dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments einhergehenden Trennung von Staat und Kirche (Art. 140 G G [Grundgesetz] in Verbindung mit Art. 137 I W R V [Weimarer Reichsverfassung]) folgt, daß dem Staat die letzte Entscheidung in Glaubensfragen und Kirchendingen verwehrt ist. Der Staat hat auch nicht die Aufgabe, in kirchlichen Kontroversen zu entscheiden, sondern muß dies den kirchlich vorgesehenen Organen überlassen. Daraus folgt, daß die Frage der Eignung eines Theologieprofessors nur von der Kirche festgestellt werden kann, wie das für Religionslehrer, Militär- oder Gefängnisseelsorger selbstverständlich ist. Es hat mit anderen Worten unbeschadet der altmodischen Redeweise in den älteren Kirchenverträgen die Stellungnahme der Kirchenleitung keineswegs einen unverbindlichen, sondern einen rechtlich bindenden Charakter. Dem entsprechen auch die neueren Kirchenverträge. Die Anstellung eines hauptamtlichen Hochschullehrers bedarf danach der Zustimmung der zuständigen Landeskirche. Diese erhält rechtzeitig Gelegenheit zur Äußerung. Gegen ein ausdrückliches Votum leitet die Landesregierung eine Berufung nicht ein und nimmt eine Anstellung nicht vor bzw. wird die Landesregierung die Stellungnahme achten. Die nunmehr gewonnene Klarheit ist zu begrüßen. Sie ist kein Anzeichen einer „Katholisierung" des Staatskirchenrechts, sondern selbstverständliche Folge staatlicher Säkularität und Neutralität.

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Der Rechtslage entspricht die Praxis. Es ist kein Fall bekannt, d a ß ein staatliches Ministerium die kirchliche Äußerung als unverbindlich behandelt hätte. Entsprechendes gilt für das Recht der nachträglichen Beanstandung. Aus der fehlenden Regelung in den Verträgen folgen weder der Ausschluß einer kirchlichen Beanstandung noch deren Unbeachtlichkeit. Die Lehrverantwortung ist auch für die evangelische Kirche unverzichtbar. Keinesfalls wird der Staat die Frage auf sich beruhen lassen können, ob ein Theologe seine Eignung verloren hat, z.B. weil er aus der Kirche ausgetreten ist oder in zentralen Punkten nachhaltig eine Linie verficht, die bei seinen Hörern Lehrbeanstandungsmaßnahmen nach sich ziehen würde, wenn sie ihrem Lehrer folgten. Die Professoren haben ein kirchlich gebundenes Staatsamt inne und verlieren dieses, wenn sie die Voraussetzungen nicht mehr haben. Von der Frage der Beachtlichkeit einer Beanstandung ist zu unterscheiden die Frage, o b der Staat verpflichtet ist, für den beanstandeten und auszurangierenden Theologen Ersatz zu stellen. Das ist auch ohne vertragliche Grundlage möglich. Eine Verpflichtung besteht dazu aber nicht.

In den nach der friedlichen Revolution in der DDR von den wiederhergestellten Ländern abgeschlossenen Verträgen fallen folgende Besonderheiten auf: (a) die Zusicherung gleichmäßiger, also die Kirchen nicht diskriminierender Förderung der Kirchen und ihrer gemeinnützigen Anstalten und Einrichtungen sowie (b) die Anerkennung staatlicher Förderungspflicht auch für kirchliche Denkmale. Die absichtliche Diskriminierung christlicher Einrichtungen als der größten Gruppe unter den Freien Trägern und die staatliche Tendenz der DDR, auch wertvolle Denkmale unter kirchenkämpferischen Gesichtspunkten der Verrottung anheimzugeben, lassen solche scheinbar selbstverständlichen Regelungen nicht unnötig erscheinen. Sie sind Ausdruck des Willens zur Rückkehr zu rechtsstaatlicher Normalität und unbefangener sachlicher Zusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Institutionen und Behörden. Die Bindungswirkung vertraglicher Abmachungen ist unter Berufung auf die Souveränität des Gesetzgebers immer wieder in Zweifel gezogen worden. Kirchenverträge sollen danach der Wirksamkeit entbehren, „wenn und soweit ihnen eine lex posterior die gesetzliche Deckung entzogen h a t " (Quaritsch 139; dagegen Scheuner, Kirchenverträge). Diese Lehrmeinung beruht auf der Verkennung dreier Punkte: Einmal übersieht sie die verfassungsrechtliche Anerkennung echter Vertragsbindung in Art. 123 GG. Zweitens verkennt sie den rechtlichcn Unterschied zwischen der staatsrechtlichen Ebene der Kirchenverträge und der verwaltungsrechtlichen Vereinbarung. Das Gesetz geht zwar einer Verwaltungsvereinbarung vor und hebt diese selbst auf. Es ist aber seit langem anerkannt, daß die Kirchenverträge der staatsrechtlichen Sphäre zuzurechnen sind. Es ist unumstritten, daß der Staat sich von einer im Staatsvertrag eingegangenen Verpflichtung rechtlich nicht durch einseitige Erklärung zu lösen vermag, abgesehen von dem seltenen Fall eines äußersten Widerspruchs zum Staatswohl. Drittens muß man deshalb zwischen Können und Dürfen unterscheiden. Selbstverständlich begibt sich der staatliche Gesetzgeber mit dem Vertragsabschluß nicht der Entscheidungsfreiheit und der Gesetzeskompetenz für die betreffende Materie. Daß er dem Vertrag widersprechende Gesetze zu erlassen vermag, ist eine Folge seiner Hoheit. Solche Gesetze sind auch rechtsgültig, aber das vertragswidrige Gesetz hat nicht die Kraft, den Vertrag selbst aufzuheben, dieser bleibt gültig, wenn auch verletzt. Es gilt mit anderen Worten auch im Vertragskirchenrecht der Grundsatz, d a ß neueres Gesetz das ältere aufhebt (/ex posterior derogat legi priori), aber der Gesetzgeber macht sich des Vertragsbruchs schuldig, wenn das Gesetz mit dem Vertrag nicht übereinstimmt. Gerade diese Bindungswirkung unterscheidet den Kirchenvertrag von dem auch noch gebräuchlichen paktierten Gesetz und macht ihn als Instrument des Ausgleichs und der Befriedung, wenn nicht zu dem heute Gebotenen, so doch zu einer normalen und angemessenen Form der rechtlichen Regelung. Die Verträge haben dem Staatskirchenrecht der Nachkriegszeit eine charakteristische Prägung verliehen. Es ist kein Vorrecht der großen Kirchen, daß der Staat mit ihnen Verträge abschließt. Das zeigen zahlreiche Abmachungen mit kleinen Religionsgemeinschaften, insbesondere den jüdischen Kultusgemeinden oder Gemeindeverbänden, aber auch mit Freidenkergemeinden. Diese Verträge haben vielfach nur finanzielle Leistungen

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des Staates zum Inhalt, welche ebenfalls, soweit sie nicht auf historischen Rechtsgrundlagen beruhen, kein Vorrecht der großen Religionsgemeinschaften sind. Einen umfassenden, also über finanzielle Leistungsverpflichtungen hinausgehenden Charakter hat insbesondere der Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 23. M ä r z 1994 (Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Sachsen-Anhalt, S. 795). Hier ist z. B. erstmals die ewige Unberührbarkeit jüdischer Friedhöfe vertraglich garantiert. Quellen und Literatur Texte: Joseph Listl (Hg.), Die Konkordate u. Kirchenverträge in der BRD, 2 Bde., Berlin/ München 1987. Axel v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (1973), München J 1996, 55 - 99.105-112 (Lit.). Ders., Fünfzig Jahre bayerischer Kirchenvertrag: Nachrichten der Ev.-luth. Kirche in Bayern 22 (1974) 421-426. - Ders., Der Güstrower Vertrag - ein Schritt zur Normalisierung des Verhältnisses v. Staat u. Kirche: Landes- u. Kommunalverwaltung, München/Frankfurt a. M. 1995, 233-236. Ders., Vier neue Staatskirchenverträge in vier neuen Ländern: Neue Zs. f. Verwaltungsrecht, München/Frankfurt a. M. 1995, 757 - 762. - Wilhelm Dantine, Erwägungen zum sog. „neuen Protestantenpatent" der Ev. Kirche in Österreich: ZEvKR 10 (1963/64) 225 - 2 4 8 . - Siegfried Grundmann, Das Verhältnis v. Staat u. Kirche auf der Grundlage des Vertragskirchenrechts: ders., Abh. zum Kirchenrecht, hg. v. Reinhold Zippelius u.a., Köln u.a. 1969, 298-318. - Alexander Hollerbach, Verträge zw. Staat u. Kirche in der BRD, Frankfurt a.M. 1965. - Ders., Die neuere Entwicklung des Konkordatsrechts: Jb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Tübingen, NF 17 (1968) 117-163. - Ders., Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts: HSKR 2 1 (1994) 253-287. Ders., Vertragsstaatskirchenrecht als Instrument im Prozeß der dt. Wiedervereinigung: KuR H.l/ 1995, 1 - 1 2 . - Hartmut Johnsen, Die Ev. Staatskirchenverträge in den neuen Bundesländern — ihr Zustandekommen u. ihre prakt. Anwendung: ZEvKR 43 (1998) 182-222. - Ernst Gottfried Mahrenholz, Das Niedersächsische Konkordat u. der Ergänzungsvertrag zum Loccumer Vertrag: ZEvKR 12 (1966/67) 2 1 7 - 282. - Rainer Mainusch, Lehrmäßige Beanstandung eines ev. Theologieprof.: Die öffentliche Verwaltung, Stuttgart 1999, 677-685. - Hugo Maser, Die ev. Kirche im demokratischen Staat - der bayerische Kirchenvertrag v. 1924 als Modell f. das Verhältnis v. Kirche u. Staat, München 1983 (Lit.). - Konrad Müller, Der Loccumer ev. Kirchenvertrag als Spiegel der staatskirchenrechtlichen Lage in der Bundesrepublik: Die öffentliche Verwaltung, Stuttgart 1955, 421-427. - Klaus Obermayer, Die Konkordate u. Kirchenverträge im 19. u. 20. Jh.: Staat u. Kirche im Wandel der Jahrhunderte, hg. v. Walter Peter Fuchs, Stuttgart 1966, 166-183. - Dietrich Pirson, Der Kirchenvertrag als Gestaltungsform der Rechtsbeziehungen zw. Staat u. Kirche: FS f. Hans Liermann, hg. v. Klaus Obermayer, Erlangen 1964, 177-195. - Ders., Art. Vertragsstaatskirchenrecht: EStL3 2 (1987) 3814-3827. - Ders., Gegenstand u. Rechtsqualität v. Verträgen zw. Staat u. Kirche: Richard Puza/Abraham-Peter Kustermann (Hg.), Neue Verträge zw. Kirche u. Staat. Die Entwicklung in Deutschland u. Polen, Freiburg i.Ue. 1996, 3 1 - 4 9 . - Helmut Quaritsch, Kirchenvertrag u. Staatsgesetz: Hamburger FS f. Friedrich Schack, hg. v. Hans Peter Ipsen, Hamburg 1966, 125-141. - Ulrich Scheuner, Die staatskirchenrechtliche Tragweite des niedersächsischen Kirchenvertrages v. Kloster Loccum: ZEvKR 6 (1957/58) 1 - 3 7 . - Ders., Ev. Kirchenverträge I: StL'3 (1959) 1 7 1 - 1 7 6 . - D e r s . , Art. Konkordat: EStL1 (1966) 1124-1130. - Ders., Kirchenverträge in ihrem Verhältnis zu Staatsgesetz u. Staatsverfassung: FS f. Erich Ruppel, hg. v. Heinz Brunotte/ Konrad Müller/Rudolf Smend unter Mitw. v. Klaus Bielitz u. Johann Frank, Hannover 1968, 312-328 [alle 4 Beitr. jetzt in: ders., Sehr, zum Staatskirchenrecht, Berlin 1973,301-372]. - Rudolf Smend, Der Niedersächsische Kirchenvertrag u. das heutige dt. Staatskirchenrecht: Juristenztg., Tübingen, 11 (1956) 5 0 - 5 3 . - Axel Vulpius, Der Ev. Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt aus der Sicht der Verwaltung: Landes- u. Kommunalverwaltung, München/Frankfurt a. M. 1994, 277-280. — Ders., Der Ev. Kirchenvertrag Sachsen-Anhalt unter besonderer Berücksichtigung der Nihil obstatFrage: Jb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Tübingen, NF 43 (1995) 3 2 7 - 354. - Hermann Weber, Der Wittenberger Vertrag - Ein Loccum f. die neuen Bundesländer?: Neue Zs. f. Verwaltungsrecht, München/Frankfurt a. M. 1994, 759-766. Axel Freiherr von Campenhausen

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Stadt I

Stadt I. Altes Testament II. Neues Testament III. Kirchengeschichte

S. 92 S. 94

I. Altes Testament 1. Definition

2. Geschichtliche Entwicklung

(Literatur S. 92)

1. Definition Die moderne Stadtforschung versteht unter Stadt (a) eine auf Dauer angelegte, topographisch abgeschlossene Siedlung mit größerer Bevölkerungszahl (wobei konkrete absolute Zahlen umstritten sind) mit (b) (zumindest in Teilbereichen) eigener juristischer und administrativer Organisation, d.h. der Ausbildung einer sozialen und rechtlichen Führungsschicht, (c) einer entsprechend den sozialen Gegebenheiten differenzierten Bausubstanz mit einfachen Wohnhäusern und Palästen (als Oberbegriff für größere Bauten) sowie öffentlichen Gebäuden, (d) einer weitgehend nicht auf Selbstversorgung, sondern auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft mit dem Ziel, einen Uberschuß zu erwirtschaften, um damit Handel treiben und nicht am Ort verfügbare Waren kaufen zu können, und mit (e) einer Bedeutung als kultischer, rechtlicher und/oder administrativer Zentralort für das Umland. Die Lage von Städten ist dabei in der Regel von natürlichen Gegebenheiten (ausreichende Wasserversorgung, fruchtbares Umland für den Ackerbau, Vorkommen spezifischer Rohstoffe) sowie besonderen strategischen und ökonomischen (Handelswege!) Voraussetzungen bestimmt. Das hebräische 'ir deckt sich nicht völlig mit dieser Definition, sondern umfaßt Siedlungen unterschiedlicher Größe „vom Wachtturm bis zur befestigten Stadt" (II Reg 17,9). Palästinische Städte waren im Altertum selten größer als 1 - 2 ha. In der Spätbronzezeit mit den für sie typischen Stadtstaaten waren 21 Ortslagen zwischen 1 und 5 ha, vier Orte zwischen 5 und 10 ha groß, und nur -»Lachisch (20 ha) und -»Hazor (84 ha; vgl. J o s 11,10: „Hazor war einst das Haupt aller dieser Königtümer") erreichten beträchtliche Ausmaße. Im 8. J h . v. Chr. wiesen nur zehn westjordanische Orte eine Fläche von über 10 ha auf: Dan (20 ha), Hazor (12 ha), -»Samaria (maximal 60 ha), -»Jerusalem (ca. 30 ha; gegen Ende des 8. J h . ca. 70 ha), Akko (20 ha), Dor (10 ha) und Teil el-Hest (13 ha) sowie die philistäischen Städte Aschdod (40 ha), Aschdod-Yam (12 ha) und Ekron (25 ha). Pro Hektar Siedlungsfläche kann man von durchschnittlich 250 Einwohnern ausgehen (vgl. jedoch Zorn).

Mehr als die Größe betonen das hebräische 'ir (von *'r/gr „schützen" abgeleitet), aber auch die vornehmend für Hauptstädte verwendeten Begriffe qiryäh bzw. qxrxt (von qtr „Mauer") den Schutzcharakter der Ortslage. Darin unterscheidet sich 'ir von dem Gehöft (häser), einem einfachen, meist in unmittelbarer Nähe des landwirtschaftlichen Besitzes gelegenen Gebäude mit umzäuntem Hof (Lev 2 5 , 2 9 - 3 3 ; II Reg 25,4). In der Regel gab es in den Ortschaften Israels keine bedeutende Arbeitsteilung; nahezu alle Bewohner lebten von Ackerbau und Viehzucht (vgl. Jer 31,24). In der Königszeit sind nur für Jerusalem und Samaria spezielle Berufe wie Metallhandwerker (II Reg 24,14.16), Bäcker (Jer 37,21), Bau- und Textilhandwerker sowie Getreidehändler (II Reg 7,1.18) nachgewiesen. Töpfer und Kunsthandwerker waren über das ganze Land verteilt und versorgten jeweils den regionalen Bedarf. In nachexilischer Zeit wurde die Arbeitsteilung weiterentwickelt (vgl. z.B. Ex 35,35; Neh 3,8.31f.; 13,16; I Chr 4,21.23; II Chr 26,15). Die Städte wurden von den Ältesten geleitet (-»Recht/Rechtstheologie/Rechtsphilosophie I). Die Männer oder Grundbesitzer einer Stadt entschieden als Vollversammlung

Stadt I

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bei allen Fällen, die die gesamte Stadt betrafen (Krieg und Frieden; allgemeine Krisensituationen). In der Königszeit kam den Beamten eine steigende Bedeutung in der Organisation der Städte und in der Rechtsprechung zu. Mit dem Fortfall der Königsherrschaft gewannen die Ältesten und Familienoberhäupter (vgl. z. B. Esr 10,8.14.16) wieder verstärkt an Bedeutung für die Organisation der Städte. 2. Geschichtliche

Entwicklung

Im 8.Jt. v.Chr. wurden in -»Jericho ein Turm und eine Stadtmauer (gegen Überschwemmungen, weniger gegen Feindeseinfall) errichtet. Angesichts der beträchtlichen Größe der Ortslage, der gemeinschaftlich errichteten Befestigungen und der zu postulierenden arbeitsteiligen Struktur (Landwirtschaft, Viehzucht, Salz- und Asphaltabbau am Toten Meer) kann man von Anfängen einer Stadtentwicklung reden; es fehlt jedoch bislang jeglicher Nachweis einer sozialen und hierarchischen Differenzierung. Erst mit der Erfindung des Pfluges, der Kultivierung der Olivenbäume und Weinstöcke sowie der Verhüttung der Metallvorkommen in der Araba entwickelte sich in der Frühbronzezeit eine Urbane Kultur mit Palästen, Tempeln und öffentlichen Gebäuden. Die einseitige Ausrichtung auf Überschußproduktion und Handel führte jedoch in überregionalen Krisenzeiten (Frühbronzezeit IV/Mittelbronzezeit I und Spätbronzezeit/Eisenzeit I) zu einem weitgehenden Zusammenbruch der Stadtkultur. In der Mittel- und Spätbronzezeit lagen die Stadtstaaten, denen das Umland (vgl. dazu Bunimovitz) zur landwirtschaftlichen Versorgung diente, vornehmlich in den fruchtbaren Tälern und Ebenen (Ausnahmen: -»Sichern und Jerusalem). Nur wenige Städte der Spätbronzezeit waren mit einer Mauer umgeben (vgl. Gonen); auch ging die Zahl und Größe der Städte gegenüber der Mittelbronzezeit stark zurück. Ein zunehmender Anteil der Gesamtbevölkerung lebte in den weniger fruchtbaren Gegenden als Kleinviehnomaden oder als grundbesitzlose outlaws (Chapiru; -»Geschichte Israels). Um 1200 v. Chr. brach die Stadtkultur allmählich zusammen. Im Bergland und im Negeb entstanden zahlreiche Siedlungen mit durchschnittlich etwa 20 ringförmig aneinandergereihten Breiträumen und gemeinschaftlichem Innenhof für Kleinviehherden. Aus den Breiträumen entwickelte sich durch Vorlagerung von drei Räumen (ein Stall, ein Wohnraum, ein zentraler Hof) das Vierraumhaus (kein ethnisches Kennzeichen der Israeliten; vgl. Braemer). Ab dem 9. Jh. bildete sich wieder eine städtische Kultur aus. Öffentliche Gebäude sind in den Städten, abgesehen von der Stadtmauer und dem Tor (einziger freier Platz, daher Handelsort, Gerichtsplatz und allgemeiner Treffpunkt), selten. Paläste (für den König bzw. den lokalen Kommandanten) mit meist erheblichem Platzbedarf sind textlich und/oder archäologisch für die Hauptstädte und einige strategisch besonders günstig gelegene Orte nachgewiesen. In manchen Städten gab es längliche, durch zwei Pfeilerreihen geteilte Hallen (wahrscheinlich Lagerräume, vorgeschlagen sind auch Stall, Basar oder Kaserne), gemeinschaftlich genutzte Silos (z. B. -»Megiddo) und (in Hazor, Samaria und Megiddo) in der Nähe der Paläste „Schreiberkammern". Während in den philistäischen Städten Stadttempel existierten, scheint sich das kultische Leben der israelitischen Orte in der Eisenzeit auf stadtnahe Stein- (—»Gilgal: Jos4f. u.ö.) und Baumheiligtümer (z. B. Gen 21,33; Jdc 6,11.19), Kulthöhen und allenfalls kleine Tempel (-•Silo: I Sam 1 - 4 u.ö.; Nob: I Sam 21,2-10; 22,6-23; Dan: Jdc 18) konzentriert zu haben. Im 10. Jh. wurden in Jerusalem, -»Bethel (I Reg 12,26-13,22; Am 7,10-17) und Dan (I Reg 12,30; die dort ausgegrabene „Kulthöhe" dürfte eher das Fundament eines Palastes sein!) Staatsheiligtümer gegründet. O b es in Samaria (I Reg 16,32 [deuteronomistisch]) und Jerusalem (II Reg 11,18 [deuteronomistisch]) auch Baaltempel gab, ist unklar. Die Wasserversorgung der Stadt mußte vor Feinden gesichert werden (vgl. II Reg 3,19.25; II Chr 32,30; KAI 189). In mehreren Städten wurden Schächte vom Stadtinneren aus zu einer Quelle gegraben. Der -»Friedhof lag grundsätzlich (abgesehen von den Königsgräbern) außerhalb der Ortschaften. In der persischen Periode wurden die alten, meist auf einem Siedlungshügel {Teil) mit steilen Flanken erbauten

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S t a d t II

S t ä d t e in die b e n a c h b a r t e E b e n e v e r l a g e r t . N u n w a r e n a u c h n i c h t m e h r alle S t ä d t e u m m a u e r t (vgl. N u m 1 3 , 1 9 ; P r o v 2 5 , 2 8 ; E s t 9 , 1 9 ) .

Literatur T h e Architecture of Ancient Israel. From the Prehistoric to the Persian Periods, hg. v. Aaron Kempinski/Ronny Reich, Jerusalem 1992 (Lit.). - Frank Braemer, L'architecture domestique du Levant à l'âge du Fer, Paris 1982. - Shlomo Bunimovitz, T h e Problem of Human Resources in Late Bronze Age Palestine and its Socioeconomic Implications: UF 26 (1994) 1 - 2 0 . - Paulette Maria Michèle Daviau, Houses and their Furnishings in Bronze Age Palestine, 1993 ( J S O T / A S O R Monograph Series 8). - Chantal Foucault-Forest, L'habitat privé en Palestine au Bronze Moyen et au Bronze Récent, 1996 (BArR 625). - Volkmar Fritz, Die Stadt im alten Israel, München 1990. - Cornelis H . J . de Geus, De Israelit. Stad, Kampen 1984. - Ders., T h e City of Women. Women's Place in Ancient Israelite Cities: Congress Vol. Paris 1992, 1995 (VT.S 61) 7 5 - 8 6 . - Shulamit Geva, Hazor, Israel. An Urban Community of the 8th Century B.C.E., 1989 (BArR 543). - Rivka Conen, Urban Canaan in the Late Bronze Period: B A S O R 253 (1984) 6 1 - 7 3 . - Ze'ev Herzog, Archaeology of the City, Tel Aviv 1997. - T h o m a s L. McClellan, Town Planning in Tell en-Nasbe: ZDPV 100 (1984) 5 3 - 6 9 . - Hermann Michael Niemann, Stadt, Land u. Herrschaft, Diss. B. theol. Rostock 1 9 9 0 , 6 - 6 2 (nicht in F A T 6 (s.u.] abgedruckt!). - Ders., Herrschaft, Königtum u. Staat, 1993 (FAT 6). — Die orient. Stadt. Kontinuität, Wandel, Bruch, hg. v. Gernot Wilhelm, Saarbrücken 1997. Eckart Otto, Art. "tr. T h W A T 6 (1989) 5 6 - 7 4 (Lit.). - Christa Schäfer-Lichtenberger, Stadt u. Eidgenossenschaft im AT, 1983 (BZAW 156). - Semitica 43/44 (1995) [enthält die Akten eines Kolloquiums zu „La ville d'après les sources épigraphiques et littéraires ouest-sémitiques de 1200 avant J.-C. à l'Hégire"]). - Lawrence E. Stager, T h e Archaeology of the Family in Ancient Israel: B A S O R 260 (1985) 1 - 3 5 . - Studies in the History and Archaeology of Jordan, Amman, V 1995, 1 1 9 - 3 7 3 [mehrere Beitr.]. - M a x Weber, Die Stadt: Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik 47 (1920/21) 6 2 1 - 7 7 2 . - Eugen Wirth, Die orient. Stadt: Saec. 26 (1975) 4 5 - 9 4 . - Jeffrey R . Zorn, Estimating the Population Size of Ancient Settlements. Methods, Problems, Solutions, and a Case Study: BASOR 295 (1994) 3 1 - 4 8 . Wolfgang Zwickel

II. N e u e s T e s t a m e n t 1. Terminologie teratur S. 93)

2. Die Situation der neutestamentlichen Gemeinden in den Städten

(Li-

1. Terminologie D e r B e g r i f f n ö k u ; w i r d i m N e u e n T e s t a m e n t g a n z unspezifisch u n d g e g e n die griec h i s c h e T r a d i t i o n a u c h „ u n p o l i t i s c h " v e r w e n d e t ; m i t i h m w e r d e n alle S i e d l u n g e n u n a b h ä n g i g v o n i h r e r p o l i t i s c h e n V e r f a s s u n g und G r ö ß e b e z e i c h n e t . D i e G r e n z e n z u m D o r f (Kcbfiri) sind

fließend

(vgl. e t w a M k 1 , 3 8 : Kcofiönokiq),

o b w o h l S t a d t und D o r f

d u r c h a u s u n t e r s c h i e d e n w e r d e n ( M k 6 , 5 6 ; M t 1 0 , 1 1 ; L k 1 3 , 2 2 ) . TlöXn;

kann auch das

S t a d t v o l k b e z e i c h n e n ( M t 8 , 3 4 ; 2 1 , 1 0 ; M k 1 , 3 3 ) . N u r hier und da reflektiert d a s N e u e T e s t a m e n t die i n n e r e V e r f a s s u n g s p ä t a n t i k e r S t ä d t e ( A c t 1 7 , 6 . 8 : Koknäpxr}Q). w i r d d a s B ü r g e r r e c h t des - » P a u l u s in T a r s u s e r w ä h n t ( A c t 2 1 , 3 9 : nokixrjg). b e t r a c h t e t e n sich a b e r i m ü b e r t r a g e n e n S i n n e als

aofinoXhai

TCÖV

äyicov

Beiläufig

Die Christen (Eph 2,19). So

b e z o g sich d e r 7röA/?-Begriff a u c h a u f die H i m m e l s s t a d t ( - » J e r u s a l e m I I . 4 . ) , die e i g e n t l i c h e H e i m a t d e r C h r i s t e n , w i e es s c h o n d u r c h - » P h i l o v o n A l e x a n d r i e n u . a . v o r g e g e b e n w a r ( z . B . H e b r 1 1 , 1 6 ; 1 3 , 1 4 ; A p k 2 1 ; vgl. Phil 3 , 2 0 :

2. Die Situation der neutestamentlichen

noXnEüfia).

Gemeinden in den Städten

D a s C h r i s t e n t u m w a r v o n A n f a n g a n a u c h u n d v o r a l l e m eine S t a d t r e l i g i o n . J e s u s a l l e r d i n g s h a t t e a u f d e m L a n d e g e l e b t u n d in l ä n d l i c h e n G l e i c h n i s s e n gelehrt ( - » J e s u s C h r i s t u s ) . D i e E v a n g e l i e n b i e t e n ein l ä n d l i c h e s K o l o r i t , u n d a u c h „ S t ä d t e " w i e N a z a r e t h u n d K a p e r n a u m w a r e n realiter

D ö r f e r (vgl. S c h m e l l e r ) . D i e l ä n d l i c h e P r ä g u n g

b l i e b d e m U r c h r i s t e n t u m in e i n e r S e i t e n s t r ö m u n g v o r e r s t eigen: In den E v a n g e l i e n ist ein in j ü d i s c h e r T r a d i t i o n s c h o n v o r g e p r ä g t e r G e g e n s a t z v o n L a n d ( G a l i l ä a ) und S t a d t

Stadt II

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(Jerusalem als Sitz von -»Tempel und Tempelaristokratie) zu beobachten (vgl. Theißen). Die -»Apostelgeschichte bezeugt dann aber eine auf die Städte zielende Mission der Hellenisten (z.B. Act 8,40). Der Städter Paulus wählte Städte, besonders solche übergeordneter Bedeutung, als Missionszentren. Schon sein anfänglicher Aufenthalt in der Arabia (Gal 1,17) dürfte ein Wirken in den dortigen nabatäischen Städten umfaßt haben. Damaskus spielte dabei auf jeden Fall eine besondere Rolle. Später wählte er die westsyrische Metropole -»Antiochien als Missionsbasis. Die von ihm bereisten Städte boten die geeignete Infrastruktur für seine Mission: Öffentlichkeit sowie Quartier und Versammlungsräume bei schon Bekehrten, aber auch Erwerbsmöglichkeiten durch die Ausübung seines Handwerks. Dabei ist die von der Apostelgeschichte behauptete Anknüpfung an die städtischen Synagogengemeinden aus seinen Briefen nicht zu erheben. Das mittelbar noch von der heidnischen Polemik gegen das Christentum (Celsus) bestimmte Bild älterer Forschungen, das Christentum sei eine Religion der Unterschichten gewesen, ist mittlerweile von einer differenzierteren Sichtweise abgelöst worden (vgl. Meeks; Theißen). Während die eigentliche städtische Oberschicht (die Dekurionen) sich erst ab dem 2. Jh. verstärkt den christlichen Gemeinden anschloß, waren diese doch von Anfang an von einer städtischen Mittelschicht geprägt, die über Häuser und somit über Versammlungsräume und über materielle Möglichkeiten zur Unterstützung der Missionare verfügte. Innerhalb der städtischen Gemeinden konnten die Angehörigen dieser Schicht repräsentative Ämter übernehmen, die ihnen im weltlichen Gemeinwesen verschlossen blieben - Erastus aber w a r i m m e r h i n oÎKOvâfioç rijç nôXecoç (Rom 16,23),

wobei die genaue Klassifizierung dieses Amtes strittig ist. In Korinth (vgl. I Kor 11) kam es zu sozialen Spannungen zwischen Gemeindemitgliedern (vgl. Theißen 231—271). Die höhergestellten Mitglieder der Gemeinde konnten als Patrone der Gemeinden oder einzelner Gruppen in ihnen auftreten (z. B. Phöbe als npomâxiç [Rom 16,1 f.] oder auch Priska und Aquila [I Kor 16,19]). In den Städten konnte das Christentum als ein religiöser Verein (collegtum) neben anderen erscheinen oder als eine Parallele zu den städtischen Synagogengemeinden, doch organisierten sich die christlichen Gruppen eher als Hausgemeinden ( - » H a u s III.3.). Literatur Albrecht Alt, Die Stätten des Wirkens Jesu in Galiläa territorialgesch. betrachtet: ders., KS, München, II 1953, 4 3 6 - 4 5 5 . - Walter Bauer, Jesus der Galiläer: ders., Aufs. u. KS, hg. v. Georg Strecker, Tübingen 1967, 9 1 - 1 0 8 . - O t t o Böcher, Die hl. Stadt im Völkerkrieg: Josephus-Stud. FS O t t o Michel, Göttingen 1974, 55 - 7 6 . - Herbert Braun, Das himmlische Vaterland bei Philo u. im Hebräerbrief: Verborum Veritas. FS Gustav Stählin, Wuppertal 1970, 319-327. - Josef Ernst, Die griechische Polis - das himmlische Jerusalem - die christl. Stadt: T h G l 67 (1977) 2 4 0 - 258. Sein Freyne, Jesus and the Urban Culture of Galilee: Texts and Contexts. Biblical Texts in their Textual and Situational Contexts, hg. v. Tord Fornberg/David Hellholm, Oslo/Kopenhagen/ Stockholm/Boston 1995, 5 9 7 - 6 2 2 . - Paul H o f f m a n n , Stud. zur Theol. der Logienquelle, Münster 1972 = s 1982 (Exkurs: 278-280). - Sherman E. Johnson, Paul the Apostle and his Cities, Wilmington, Del. 1987. - Aryeh Kasher, Jews and Hellenistic Cities in Eretz-Israel, 1990 (TSAJ 21). - Wayne A. Meeks, The First Urban Christians, London 1983; dt.: Urchristentum u. Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993. - T h o m a s Schmeller, Der Weg der Jesusbotschaft in die Städte: BiKi 47 (1992) 18 - 2 4 . - Karl Ludwig Schmidt, Jerusalem als Urbild u. Abbild: ders., N T - Judentum - Kirche. KS, München 1981, 265-306. - Roland Schwarz, Bürgerliches Christentum in den Städten am Ende des 1. Jh.?: BiKi 47 (1992) 25 - 2 9 . Ceslas Spicq, Notes de Lexicographie Néo-Testamentaire, Göttingen/Fribourg, II 1978, 7 1 0 - 7 2 0 . - T h o m a s Staubli, Das Image der Stadt auf dem Lande. Atl. u. jesuanische Kritik an der Stadt: BiKi 47 (1992) 10-17. - Gerd Theißen, Stud. zur Soziologie des Urchristentums, 1979 = '1989 ( W U N T 19). Weitere Lit. s. bei -*Sozialgeschichtsschreibung.

Klaus Fitschen

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Stadt III III. Kirchengeschichte

1. Spätantike und Frühmittelalter 2. Hoch- und Spätmittelalter 3. Spätmittelalterliche Übergänge; die Reformationszeit 4. Neuzeit. Praktisch-theologische Fragen (Literatur S. 102)

1. Spätantike

und

Frühmittelalter

1.1. Ansätze zur christlichen Durchdringung der Stadt. Das Christentum der Spätantike blieb zunächst eine Stadtreligion; so waren seit dem 3. Jh. in allen großen Städten christliche Gemeinden und Bischöie zu finden. Die Mission und Ausbreitung des Christentums (A. von - » H a m a c k ) schritt von Stadt zu Stadt voran (-»Mission III). Oberschicht und Bischöfe gingen in den Städten ein Bündnis ein, das sich ab dem 4. Jh. auch offiziell durchsetzen sollte. Durchdrang die christliche Religion die Städte von innen her, konnte sich dies doch erst nach der Konstantinischen Wende in eine verstärkte äußerliche Prägung der Stadt umsetzen. Das Wachstum der Gemeinden und das Wachstum ihrer Repräsentation in der Stadt durch die Bauten und durch karitative (-•Armenfürsorge II) und andere Aktivitäten des Bischofs und des Klerus korrespondierten miteinander. 1.2. Geistige Auseinandersetzung mit der Stadt. Das Verhältnis der Christen zur Stadt war von Anfang an ambivalent. Die Sehnsucht nach dem himmlischen -»Jerusalem war aus der durch das Neue Testament vermittelten jüdisch-apokalyptischen Tradition heraus stark. Hinzu kam das platonische Verständnis, die ideale nöhq sei im Himmel zu finden (Plato, resp. IX.592; vgl. Clemens, str. IV,172,3). Daß sich das christliche Leben eigentlich schon in der himmlischen Stadt abspielte, war auf Grundlage von Phil 3,20 ein tragendes Motiv (z. B. Herrn sim I; Clemens, paed. 1,45,2; 111,99,1; Tertullian, cor. 13,4). Umgekehrt war die Stadt ein Sinnbild für die Welt, der man fremd sein sollte (Clemens, str. VII,77,3), und die innere Abkehr von der Welt war in erster Linie Abkehr von den Verlockungen der Stadt. So wurde das Leben in der Stadt zum Leben in der Wüste (ebd.) oder zum hinzunehmenden Lebensumstand: Christen waren bloße Beisassen in der Stadt (Diog 5). Die Christen sind diesem Äon fremd; ihre TzöXiq und ihre avanavaic, („Ruhe") sind woanders (Makarius, log. 32,8,12/hom. 15,26). Aber auch der Mensch selbst konnte als Verkörperung der JlöXit; und des Bösen in ihr gesehen werden (Origenes, hom. in N u m . XIII,1). Eine zeitliche Heimat konnte die Sehnsucht nach der himmlischen Stadt in der Wüste finden, die durch den Lebenswandel der Asketen zu einer himmlischen Stadt gemacht wurde (v. Anton. 14). Das Kirchengebäude konnte zur Stadt in der Stadt werden (Eusebius, h.e. X,4,7). Die christliche Gemeinde überhaupt kann als TiöXn; gesehen werden (Clemens, paed. 11,93,4; Origenes, Cels. VIII,75). -»Augustin griff in seiner Rede von civitas terrena und civitas Dei auf alttestamentliche Aussagen über die nöXig zurück (civ. XI,1).

1.3. Bischof und Stadt. Durch die Konstantinische Wende (-»Konstantin I.) wurden den Bischöfen (-»Bischof I) bedeutende Funktionen in der Stadt übertragen, die sie zum Teil zuvor schon für ihre Gemeinde versehen hatten: Die bislang im freiwilligen Schiedsverfahren geübte Gerichtsbarkeit der Bischöfe (audientia episcopalis) erhielt die gleiche Verbindlichkeit wie die der regulären Richter (CodTheod 1,27,1), und der Klerus genoß seit 313 Immunität im Blick auf die öffentlichen Lasten (Eusebius, h.e. X,7; CodTheod XVI,2,lf.7). Da die kuriale Oberschicht sich zunehmend ihren Lasten entzog, traten der Bischof oder ein Beamter in die Funktion des Stadtregenten (defensor civitatis) ein. So bahnte sich gerade im Westen eine neue Eigenständigkeit der Städte an. Die Transformation der römischen Herrschaft im Westen machte die civitates mit ihren Bischöfen — sofern die Bischöfe nicht weichen mußten - in der Völkerwanderung zu Trägern des kirchlichen und kulturellen Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter. Gerade am Rhein aber kam es auch zum Abbruch von städtischer und kirchlicher Geschichte. Mit der Taufe -»Chlodwigs begann dann aber auch der Wiederaufbau: Bischofssitz und civitas wurden synonyme Begriffe, fränkische wie westgotische Könige versammelten die Bischöfe im 6. Jh. zu Landessynoden. Wo sich die Siedlungskerne verlagerten, erhielt auch die oft nahe der Stadtmauer stehende Bischofskirche noch einmal einen neuen, prominenteren Platz. Die Stadt blieb der Hort römischer und christlicher Kultur. Schon früh kam es aber auch zu einem Dualismus zwischen Bischöfen und weltlichen

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Herren, da die Städte eigentlich durch einen königlichen comes verwaltet wurden. Im 5. und 6. Jh. waren die Bistümer im Frankenreich vom gallorömischen Senatorenadel besetzt. Seit dem Ende des 6. Jh. setzte dann eine Entwicklung ein, die statt der Romanen verstärkt Franken auf die Bischofsstühle brachte. Damit wurden die Bistümer bevorzugt durch Parteigänger des Königs besetzt; dementsprechend wurden auch die civitates ihrer Eigenständigkeit entkleidet und in das Frankenreich eingegliedert. Die Bischöfe wurden so von relativ autonomen Stadtherren zu mittelbaren Instanzen der Reichsverwaltung. 1.4. Frühbyzantinische Entwicklungen. In -»Byzanz setzte sich die spätantike Tradition vorerst ungebrochen fort. Allerdings wurde im 6. Jh. die Selbstverwaltung der Städte durch die Kurien abgeschafft. Auch hier bauten die Bischöfe ihre zentrale Stellung in den Städten aus. Die Gesetzgebung wies ihnen in Aufnahme älterer Bestimmungen eine wichtige Funktion in der Stadtverwaltung zu. Sie waren u.a. für die Versorgung der Stadt zuständig (Cod. Just. 1,4,17.26.29; X,27,3f.). Mit den militärisch-außenpolitischen Krisen des 7. Jh. (Völkerwanderung, Kriege gegen Sasaniden und Araber) setzte dann ein Niedergang des Städtewesens ein, der erst in der Konsolidierungsphase seit dem 9. Jh. wieder aufgeholt wurde. Städte wurden nun verstärkt zu Festungen. Manche Stadt erlangte mit kaiserlicher Hilfe eine Doppelfunktion als Pilgerzentrum und militärischer Vorposten, so die Menasstadt in Ägypten und Sergiopolis/Resafa in Syrien. 1.5. Das Bild der Stadt. Im Frühmittelalter setzte sich die Durchdringung des Stadtbildes mit christlichen Bauten weiter fort. Die spätantiken Vorstellungen bleiben erhalten: Die Kirche ist die Gestaltwerdung der Himmelsstadt. -»Isidor von Sevilla nahm die ciw/jj-Definition Augustins (civ. 11,21; XIX.21) auf, der sich wiederum auf Cicero bezogen hatte: communio concors und cortsensus iuris einen den populus bzw. die cives (Isidor, et. IX,4,5). Die christliche Vorstellung der Stadt war so auch eine rechtliche. Die Stadt besteht also nicht aus den Steinen, sondern den Einwohnern (ebd. XV,2,1). Für den Byzantiner Prokopius von Cäsarea (ca. 490 - nach 562) allerdings sind es immer wieder die Gebäude, die eine glückliche Stadt ausmachen (Prokopius, De aedificiis).

2. Hoch- und

Spätmittelalter

2.1. Bürger und Bischöfe. Seit dem späten 8. Jh. gruppierten sich um Klöster, Grafenund Bischofsburgen neue Siedlungen von Kaufleuten, die Wiken, die immer weiter anwuchsen. Mit der politischen Konsolidierung Zentraleuropas bekamen auch die Städte eine neue Bedeutung. In Deutschland wurden im 10./11. Jh. Bischofssitze planmäßig zu Städten erweitert; in der großen Gründungswelle des Hochmittelalters wurden Hunderte von Städten neu gebaut. Mit dem Wachstum der Städte wuchs auch das Selbstbewußtsein ihrer Bürger gegenüber den Stadtherren. Seit dem 11. Jh. brachen die Konflikte zwischen Bürgern und bischöflichen Stadtherren parallel zum Investiturstreit in voller Schärfe aus, obwohl es den Bischöfen einstweilen gelang, ihre Stadtherrschaft zu festigen. Die Stadtbürger aber begriffen sich mehr und mehr als coniurati, die dem Bischof gegenüberstanden, und somit als eine Rechtsgemeinschaft (Schwureinung). Seit dem Anfang des 12. Jh. breitete sich auch die Institution des Stadtrates von Oberitalien nach Deutschland aus. Viele Bischöfe wurden zeitweilig oder auf Dauer gezwungen, ihre Städte zu verlassen. Die Integration des übrigen Klerus in die Stadtgemeinde sollte dann im Spätmittelalter ein zentrales Thema werden. 2.2. Neue religiöse Bewegungen in der Stadt. Im 12. Jh. wurde die Stadt zum Schauplatz neuer religiöser Strömungen: Ketzer kamen mit ihrer Kritik an Bischof und Klerus in die Stadt (-»Heinrich der Mönch, -»Arnold von Brescia, -»Katharer und -»Waldenser). In Oberitalien war die —»Pataria als innerstädtische kirchliche Reformbewegung schon im 11. Jh. aufgekommen. Vor allem aber prägten seit dem 13. Jh. die mit der Städtekultur und ihrem Wohlstand aufkommenden Bettelorden die Stadt in neuer Weise (-•Franziskaner, -»Dominikaner; -»Mönchtum II). Obwohl ihre Haltung gegenüber den Städten anfangs sehr reserviert war, hielten sie schon bald nach ihrer Gründung Einzug in die Städte. Die Ansiedlung der Bettelorden wurde von den Bürgern erheblich

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gefördert, und ihre Familienangehörigen traten dann auch in die Klöster ihrer Stadt ein. Während der Dombezirk meist zentral oder gar auf einer Anhöhe lag, fügten sich die Bettelordensniederlassungen in die bürgerlichen Quartiere ein oder nahmen gar eine Randlage an der Stadtmauer ein. Der Einsatz der Bettelorden für den Stadtfrieden in Konkordanz mit der seit dem Ende des 11. Jh. in deutschen Städten bemerkbaren Gottesfriedensbewegung (-•Frieden V) steigerte noch ihr Ansehen bèi Bürgern und Rat. Ein kritischer Punkt war das wirtschaftliche Engagement der Orden (und auch der Weltkleriker), das gerade angesichts der Abgabenfreiheit des Klerus eine große Konkurrenz für die bürgerlichen Kaufleute und Produzenten darstellte. Dieses Engagement brachte auch -»Zisterzienser und andere Orden in die Städte, die hier Wirtschaftshöfe und Herbergen für durchreisende Ordensleute errichteten. Das kirchliche Leben der Städte wurde seit dem 12. Jh. auch durch eine religiöse Frauenbewegung getragen, die an dem relativen wirtschaftlichen und auch rechtlichen Freiraum für Frauen in der Stadt partizipierte. Die weiblichen Zweige der Bettelorden spielten hier eine große Rolle; seit dem 13./14. Jh. dann auch die -»Beginen, die in Wohngemeinschaften (Höfen) als Semireligiose zusammenlebten. Ein weiterer Sonderaspekt mittelalterlicher Stadtgeschichte sind die Stadtgründungen des Deutschen Ordens (-»Ritterorden, Geistliche). Im 13. Jh. kam es im Zuge der Kolonisierung -»Preußens zur Gründung mehrerer Städte. Eine zweite Gründungswelle setzte nach der endgültigen Unterwerfung Preußens ein (1286 Königsberg). Neben der Tätigkeit der Bettelorden wurde auch das 2.3. Bürger und Kirchenwesen. Spitalwesen (-»Krankenpflege) ein Ort der Verflechtung von Stadtbürgertum und Kirche (-•Hospital 1.; -•Armenfürsorge III.5.). Die Spitäler bildeten jeweils einen eigenen Bezirk in der Stadt und waren oft mit einer Mauer umgeben. Das bürgerliche Schulwesen mit seiner Ausrichtung auf die bürgerlichen Gewerbe trat im 12. Jh. an die Seite des kirchlichen (-»Bildung IV). Seit dem 13. Jh. gründeten die Städte auch eigene Lateinschulen, die den Stadtkirchen angegliedert wurden. Die kirchliche Struktur der Stadt begann sich seit dem 9. Jh. gerade in den Bischofsstädten durch die Ausbildung innerstädtischer Parochien zu verändern. Aus ihnen entwickelten sich dann seit ottonischer Zeit die späteren Stadtviertel; in den Parochien organisierten sich auch die Kaufmannsgilden. Die Pfarrorganisation in der Stadt war schon deshalb ein Problem, weil viele neugegründete Städte auf dem Gebiet eines schon bestehenden dörflichen Pfarrsprengels lagen, es also für die Stadt schon eine außerhalb liegende Pfarrkirche gab. Um 1300 setzte dann eine Welle des Pfarrkirchenbaus ein, wobei die Zahl der Kirchen unabhängig von der Größe der Stadt war. Die in den Städten errichteten Pfarrkirchen wurden mit eigenem Vermögen (der Kirchenzeche) ausgestattet, das von Laien (den Kirchenpflegern) verwaltet wurde. Neubauten von Kirchen zeugten vom religiösen Gestaltungswillen der Bürger, die repräsentative gotische Kirchbauten an die Stelle älterer Kirchen zu setzen begannen und so das Stadtbild für Jahrhunderte prägten. Nicht nur architektonisch, sondern auch geistig wurden die Städte vom Ensemble ihrer Kirchen geprägt. Die Ausstattung der Kirchen mit Altären und Bildschmuck bildete das bürgerliche und religiöse Selbstverständnis der Stadt ab. Die Kirchen garantierten mit ihren Reliquien (oft denen der Stadtheiligen) das Heil der Stadt (-»Patrozinium); die Heiligenfeste bestimmten nicht nur das religiöse Leben in ihr (-»Heilige/Heiligenverehrung IV). Die Stadtsiegel idealisierten die Stadt als sakrale Größe (so etwa das Trierer und das Kölner Siegel aus dem 12. Jh.). Geradezu heilige Städte waren Pilgerstädte wie Santiago de Compostela. Auch das Leben der byzantinischen Städte und besonders das Konstantinopels war liturgischkirchlich geprägt; viele kirchliche Feste hatten mit Daten aus der Stadtgeschichte zu tun (vgl. Konstantinos VII. Porphyrogennetos [905-959], De Ceremoniis). 2.4. Juden und Christen in der Stadt. Ein eigener Gesichtspunkt städtischen Lebens war die Koexistenz von Juden und Christen. Seit der Karolingerzeit hatten Juden sich unter kaiserlichem und auch bischöflichem Schutz in den Städten ansiedeln können. Die Pogromstimmung des 1. Kreuzzugs hatte für viele jüdische Gemeinden aber ver-

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heerende Folgen gehabt. Danach kam es zu einer Konsolidierung des Zusammenlebens in den Städten: Nicht überall mußte die jüdische Bevölkerung im Ghetto leben, und hier und da konnte sie auch ins Bürgerrecht eintreten. Meist aber blieben christliche und jüdische Stadtbewohner rechtlich geschieden: Für die jüdische Bevölkerung war ein Judenrat verantwortlich, der vom Bischof, später vom Stadtrat eingesetzt wurde. Die Pogrome in der Mitte des 14. Jh. zerstörten die leidliche Koexistenz aber grundlegend; die jüdische Bevölkerung wurde vertrieben und siedelte sich im Osten an. 2.5. Das Bild der Stadt. Die spätantik-frühmittelalterlichen Traditionen wurden weiter rezipiert (-•Hrabanus Maurus, De universo XIV,1). Die Hrabanus nur zugeschriebenen und wohl hochmittelalterlichen Allegoriae in sacram scripturam bieten unter dem Stichwort civitas eine zeittypische Deutung des biblischen Materials: Die civitas ist die himmlische Stadt, die Kirche, die menschliche Gemeinschaft, die Welt, aber auch die Gemeinschaft der Gläubigen (PL 112,897f.). Für -»Bernhard von Clairvaux allerdings war Paris das sündige Babylon, aus dem der Klerus fliehen sollte (Bernhard, Ad clericos de conversione XXI [37]). Die Stadt wurde sonst aber wie das Kloster als ideale christliche Lebensgemeinschaft angesehen. Dieses Verständnis wurde von -»Thomas von Aquino auch den neuen Orden vermittelt. Thomas hat auch Ratschläge für die rechte Art der Städtegründung gegeben (Thomas, De regimine prineipum, Buch II). Überdies blieb es bei der Vorstellung von der Stadt als Ort des Rechtes und der Ordnung. Hier spielte -»Aristoteles' Politik, im 13. Jh. ins Lateinische übersetzt, eine große Rolle. Das Stadtideal wurde in der aus der Antike stammenden Literaturgattung der Laudes urbium gepflegt. Die -»Romanik nahm das Sinnbild des himmlischen Jerusalems als der idealen Stadt massiv wieder auf: Es wurde in Handschriften und in der Malerei (z. B. im Braunschweiger Dom) dargestellt und gewann Gestalt in den Apk 21 nachgebildeten Radleuchtern der Kirchen (Aachen). Daß die romanischen Basiliken das Abbild einer Stadt (so Kitschelt) und die gotischen Kathedralen (-»Kirchenbau) ein Abbild des himmlischen Jerusalems sein sollten (so Sedlmayr), läßt sich allerdings nicht mehr mit der lange üblichen Entschiedenheit sagen (vgl. Markschies). Eine eschatologische Vorstellung von der Stadt mußte sich im Mittelalter erst verfestigen. Für den Heliand ist das Himmelreich noch die grüne Au, für viele Dichter ein Paradiesesgarten. Garten- und Stadtmotiv konnten auch kombiniert werden (-»Paradies VII). 3. Spätmittelalterliche

Übergänge;

die

Reformationszeit

3.1. Bürger und städtisches Kirchenwesen. Aus den Interessenskonflikten zwischen Bürgern und Klerikern (-»Bürgertum 1.5.) entwickelten sich Spannungen, deren Lösung dann in der Reformation eintrat. Die Stadträte gingen im Verlauf des Mittelalters noch stärker dazu über, das kirchliche Leben und Vermögen zu kontrollieren, und auch das Stiftungswesen wurde immer mehr vom Rat überwacht, vor allem die Altar- und Meßstiftungen. Das aus dem -»Ablaß gezogene Geld blieb zum Teil in den Städten und wurde für städtische kirchliche Belange verwendet. Der Klerus, der sich nicht selten aus Stadtkindern rekrutierte, kam den städtischen Bestrebungen zu seiner Integration teilweise entgegen: Einzelne Geistliche, aber auch ganze Klöster und andere Korporationen traten in das Bürgerrecht ein. Am stärksten setzte sich diese Integration in Straßburg durch. Die Bürger formulierten ihre religiös-kirchlichen Interessen unterdessen neu: So kam es zur Errichtung von Stiftungen für Predigerpfründen, für deren Besetzung der Rat auch ein Wahlrecht geltend machte, das aber realiter nur selten durchgesetzt werden konnte. Durch die Bestallung von Bürgern zu Kirchen- und Spitalpflegern kam es zu einer starken Mitverantwortung von Laien in kirchlichen Belangen und zum Einzug genossenschaftlicher Elemente in die Pfarrgemeinden. O b man das Verhältnis von Stadt und Klerus als „Sakralgemeinschaft" oder corpus christianum im kleinen (Frölich; später Moeller, dann Isenmann) bezeichnen kann, ist durchaus strittig. 3.2. Stadt und Reformation in der Forschung. A. Schultze hatte 1918 unter verfassungsrechtlicher Perspektive nach dem Anteil des Stadtbürgertums in der -»Reformation gefragt. Damit betonte er stark den Aspekt der Reformation durch den Rat, und er sah darin den Durchbruch des Körperschafts- und Gemeindegedankens in den Bereich der Kirche. L. von Muralt hatte 1930 parallele Entwicklungen in der Schweiz aufgezeigt und gleichzeitig mit der später so genannten „Gemeindereformation" in Korrespondenz gebracht. Diese Sicht wurde 1933 von K. Frölich noch einmal aufgenommen. F. Lau hatte 1959 demgegenüber den spontanen, antiobrigkeitlichen Charakter der

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Reformation betont. Ein wesentliches Forum für die „kleinen Leute" seien dabei die städtischen Kirchspiele gewesen. Lau hob vor allem den gemeindlichen Charakter der Reformation hervor. B. Moeller (Reichsstadt) setzte 1962 den Ausgangspunkt für eine neue Sicht der Dinge (obwohl er in der Grundidee auf den Genossenschaftsgedanken Schultzes zurückgriff). Er wies nun den Bürgern, nicht dem Rat die zentrale Rolle zu; die Stadträte wurden als nachvollziehende Organe des Reformationswillens der Bürger angesehen. Moeller sah zwischen der lutherischen und der schweizerisch-oberdeutschen Reformation große Unterschiede im Blick auf ihre Stadtbezogenheit: -•Zwingiis und -»Bucers städtisch geprägte Theologie und Gemeinschaftsethik habe besser zum Genossenschaftsdenken der Bürger gepaßt als die lutherische. Diese Grundansätze wurden von Moeller in einer Neuauflage (1987) kritisch modifiziert. G. Pfeiffer nuancierte 1966 das Bild, indem er zwar die Rolle des Rates in spätmittelalterlicher Tradition hervorhob, aber auch Luthers Gemeindeverständnis betonte, das bestehenden genossenschaftlichen Vorstellungen korrespondiert habe. A.G. Dickens konnte in Moeliers Folge 1974 den vielzitierten Satz formulieren: „ T h e German Reformation was an urban event" (Dickens 182), wobei Dickens die Reformation in die Folge der spätmittelalterlichen Laisierungstendenzen der Gesellschaft stellte. Nachdem schon B. Hall 1971 die Reformation als Befreiungsversuch von kirchlicher und politischer Bevormundung gedeutet hatte, stellte S.E. Ozment 1975 noch einmal die von Moeller auch herausgearbeitete frömmigkeitsgeschichtliche Dimension der Reformation heraus: Die Reformation sei eine Befreiung der Bürger vom Streben nach Vollkommenheit und von der Last des privilegierten Klerus gewesen. Auch für Ozment war der Rat eher der Moderator und Verlangsamer der Reformation. In jüngerer Zeit sind diese Aspekte noch weiter differenziert worden. O . Mörke hatte 1983 am Beispiel norddeutscher Städte die Verflochtenheit von Volks- und Ratsreformation herausgearbeitet. P. Blickle stellte 1985 sein Konzept der „Gemeindereformation" vor (-»Reformation 3.2.4.): Hier wurde der Rat als zweitrangige Kraft und vor allem als Ordnungsfaktor angesehen, während der Gemeine M a n n und die reformatorischen Prediger als die treibenden Kräfte in der Frühphase der Reformation identifiziert wurden. Ähnliche Tendenzen hob H.R. Schmidt 1986 hervor. Kommunalistische Tendenzen in Stadt und Dorf waren damit als Ursprungssituation der Reformation benannt. Einen verwandten Aspekt hatte Th.A. Brady ebenfalls 1985 herausgearbeitet: Die Reformation habe die Einheit von Volk und Kirche angesichts der innerstädtischen Probleme und der Bedrohung städtischer Freiheiten durch die Fürsten ermöglicht. Brady kritisierte Moeliers Vorstellung von der mittelalterlichen Sakralgemeinschaft, indem er die Rolle der Unterschichten problematisierte und den Rat nochmals als Verhinderer einer wirklichen, auch politischen Reformation des Gemeinwesens identifizierte. Neben diesen Gesamtinterpretationen wurden nun auch vermehrt Studien zu einzelnen Städten vorgelegt, so daß jetzt an konkreten Beispielen die unterschiedlichen innerstädtischen Kräfte und die Phasen ihrer Wirkung studiert werden können. B. H a m m hat 1996 die Stadt als „verdichtete Sakralgemeinschaft" beschrieben und auf dieser Grundlage die Verflechtung von religiösen und gesellschaftlichen Impulsen, wiederum im Sinne der Kommunalisierung und Gemeindereformation, betont. 3.3. Grundkräfte der städtischen Reformation. D a ß die reformatorische B e w e g u n g sich nicht in allen Städten durchsetzen k o n n t e , verweist auf die Verschiedenheit der A u s g a n g s b e d i n g u n g e n u n d der R e a k t i o n e n v o n Stadträten u n d auch B i s c h ö f e n . A n g e sichts der E n t w i c k l u n g e n in verschiedenen Städten lassen sich verschiedene T y p e n u n d Phasen der Stadtreformation unterscheiden, in d e n e n die verschiedenen Kräfte jeweils unterschiedlich mit- und g e g e n e i n a n d e r agierten. D e r R a t erscheint in der A n f a n g s p h a s e eher als v e r l a n g s a m e n d e Kraft, Prediger u n d Bürger als eine treibende. In - » N ü r n b e r g aber g e l a n g es gerade durch ein b e h u t s a m e s Vorgehen d e s Rates, d a s a u c h eher im lutherischen Sinne w a r , d i e Sache der R e f o r m a t i o n zur D u r c h s e t z u n g zu bringen. S c h o n 1 5 2 4 / 2 5 w u r d e s o die R e f o r m a t i o n in N ü r n b e r g a b g e s c h l o s s e n . In Straßburg w a r der D r u c k der Bevölkerung u n d Prediger (der a u c h d e n R a t in N ü r n b e r g antrieb) heftiger, und der R a t w a r n o c h stärker in der P o s i t i o n des M o d e r a t o r s . Straßburg u n d N ü r n b e r g w a r e n in ihrem je unterschiedlichen reformatorischen P r o z e ß a u c h Vorbilder für kleinere Städte. A l s es in M ü n s t e r n o c h e i n m a l z u einer Radikalisierung der R e f o r m a t i o n k a m , sollte der R a t auch diesen P r o z e ß eine g a n z e Z e i t l a n g m o d e r i e r e n d begleiten. N a c h d e m - • B a u e r n k r i e g (der a u c h m a n c h e Städte schädigte) zeigte sich, d a ß Räte, Bürger u n d Städte ihre zentrale R o l l e im r e f o r m a t o r i s c h e n G e s c h e h e n an die Fürsten a b g e b e n m u ß ten. Blickt m a n auf d e n lutherischen Z w e i g der R e f o r m a t i o n , s o sind Luthers A p p e l l e an d i e städtische Obrigkeit ein wichtiger Faktor; gerade in N ü r n b e r g fand Luther hiermit

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Resonanz. Luther ging es nur indirekt um Fragen der Stadtverfassung - allerdings wandte er sich bald bevorzugt an die Obrigkeit als einen potentiellen Träger der Veränderungen (-•Luther I), während im schweizerisch-oberdeutschen Sinne die Obrigkeit viel mehr zum Objekt der Reformation wurde. Direkt ging es Luther um das Schulwesen (An die Katsherren, 1524) und um die Sozialordnung. Wegweisend wurde die Leisniger Kastenordnung von 1523 (-»Armenfürsorge IV). Die Verantwortung für die neuen Kirchen-, Schul- und Sozialfonds lag beim Rat, das Programm lieferten die städtischen Reformatoren. Der Rat sollte transformieren und das Kirchenwesen neu ordnen; die Regularien dafür wurden in den —•Kirchenordnungen niedergelegt. Luthers Denken war nur im Ansatz „kommunalistisch", allerdings wurde er gerade in Oberdeutschland durchaus in diesem Sinne verstanden. Das Recht der -•Gemeinde auf die Wahl des Pfarrers ( D a ß eine christliche Versammlung, 1523) war durchaus kommunalistisch zu sehen. Dabei war Luthers Erfahrungshorizont eben nicht der eines Bürgers einer Reichsstadt. Zwingli und Bucer hatten ihm hierin und auch in ihrem kommunalistischen Bewußtsein einiges voraus. Bucer wollte in Straßburg ja gar eine civitas christiana errichten (Das ym selbs, 1523), und -»Calvin gestaltete das gesamte religiöse, politische und soziale Leben in -•Genf um. 3.4. Städtische Reformation im Gefüge des Reiches. Die Städte spielten überhaupt erst seit dem Ende des 15. Jh. als politische Größe im Reich eine Rolle. Sie waren seit dem Spätmittelalter in einer schwierigen Situation. Wollten sie dem Zugriff der Territorialfürsten entgehen, mußten sie sich den Kaiser gewogen machen. Nach dem Wormser Edikt war klar, daß nur eine antireformatorische Politik langfristig den Schutz durch den Kaiser garantieren konnte. Dies wurde schon 1524 deutlich, als —»Karl V. das Edikt noch einmal einschärfte: Durch die Nichtbefolgung stellten sich die Städte nun gegen den Kaiser. Die Stadträte waren in der prekären Lage, sowohl den inneren Frieden als auch den Status der Städte nach außen garantieren zu müssen. Letztlich aber wurde seit der Mitte der 20er Jahre deutlich, daß die Städte sich für oder gegen die Reformation entscheiden mußten. Der -»Schmalkaldische Bund bot den Städten Schutz vor Restitutionsforderungen; um so härter wurden sie aber vom Augsburger -»Interim nach dem Sieg des Kaisers getroffen. Das Interim führte in den Städten zu einem Rekatholisierungsschub und auch zum Wiedererstarken der Macht der Patrizier, so daß es auch die kommunalistischen Tendenzen abschnitt. Nach dem -»Augsburger Religionsfrieden 1555 entschieden sich viele Städte eindeutig für das reichsrechtlich privilegierte Luthertum, nur wenige wie Bremen oder Colmar gingen später im Zuge der „Zweiten -»Reformation" zum reformierten Bekenntnis über. Der Religionsfriede hatte den Reichsstädten das ius reformandi nicht zugestanden (§ 27) und so versucht, ein Nebeneinander der Konfessionen zu ermöglichen. 4. Neuzeit.

Praktisch-theologische

Fragen

4.1. Neue Entwicklungen. Der allgemeinen politischen Entwicklung entsprechend verloren die Reichsstädte erheblich an politischer Bedeutung. Das Stadtbürgertum erlebte zugleich einen kulturellen Niedergang (-»Literatur und Religion V). Die Residenzstädte der Fürsten wurden nun zu neuen Zentren; die Fürsten selbst bestimmten mit ihrer Politik das kirchliche Leben in den Landstädten ihrer Territorien mit. In den Verhandlungen um den -»Westfälischen Frieden zeigte sich, d a ß die politische und kirchenpolitische Bedeutung der Städte stark geschwächt war. Der -»Dreißigjährige Krieg hatte viele Städte verwüstet; die Konfession hatte oft gewechselt, und man mußte erst mit einem kirchlichen Wiederaufbau beginnen. Die -»Jesuiten gewannen dabei mit ihrem Wirken an den Universitäten und der Ansiedlung von Kollegien samt angeschlossenen Gymnasien bedeutenden Einfluß in den Städten. Volksprediger wie Abraham a Santa Clara (1644-1709) konnten die städtische Öffentlichkeit beeinflussen (vgl. -»Predigt VII.2.4.). Auch der -»Pietismus fand in den Städten einen besonderen Nährboden; Ph.J.

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-»Spener selbst wandte sich mit seinem Reformprogramm zunächst an süddeutsche Reichsstädte. Die Ausbildung von Personalgemeinden (-»Gemeinde 1.3.4.) begann die Pfarreistruktur zu überformen und den Kontakt vieler Kirchenglieder zu den Geistlichen zu schwächen. In der -»Aufklärung fanden die kirchenkritischen Impulse in der Stadt den größten Widerhall. In der Frühen Neuzeit wurde das kirchliche Leben in den Städten von der jeweiligen Konfession geprägt; unterschiedliche Formen des -»Kirchenbaus bildeten sich heraus. Die fürstbischöflichen Residenzen erhielten jetzt ein spezifisch christlich-barockes Antlitz. Ordensleute, adlige Domkleriker und die übrige Geistlichkeit prägten das Stadtleben mit, während sich die protestantische Frömmigkeit aus der Stadtöffentlichkeit ins Haus und in die Kirche verlagerte. Der Spätabsolutismus nahm mit seinem kirchenreformerischen Zug auch das Verhältnis von Kirche und Stadt in Angriff. Kaiser Joseph II. (-»Josephinismus) verwendete den aus -»Säkularisationen gespeisten Religionsfonds zur Vermehrung der Pfarreien gerade in den Städten. Durch den Reichsdeputationshauptschluß (1803) verloren die Residenzstädte der Fürstbischöfe ihren R a n g als kirchliche und kulturelle Zentren. 4.2. Idealbilder der Stadt. Die frühneuzeitliche Stadtvorstellung integrierte noch Modelle idealer religiöser und architektonischer Formen. Ein literarisches Beispiel dafür ist die Christianopolis J.V. -»Andreaes (1619). Seit der Renaissance wurden, nun oft ganz säkular gedacht, Idealstädte entworfen und auch gebaut. Ideale Siedlungsformen sollten ein ideales Zusammenleben garantieren. Mit christlichem Impetus gebaute Idealstädte sind z. B. die Hugenottensiedlungen Karlshafen und Erlangen, auch Herrnhut und Friedrichstadt. Die Romantik idealisierte immer noch die mittelalterliche Stadt, während die Gegenwart der Städte kaum in den Blick kam. Tatsächlich prägten die alten Kirchen immer noch das Gesicht der Stadt, und auch neue sollten es nach dem Willen ihrer Erbauer. Der Traditionalismus in der Architektur (Neugotik, Vollendung gotischer Kathedralen wie des Kölner Domes) wies auf die historischen Leitbilder hin. 4.3. Entfremdung von Kirche und Stadt. Das 19. J h . brachte mit der —»Industrialisierung einen neuen Urbanisierungsschub. Die Städte wuchsen und sprengten ihre mittelalterlichen Grenzen. Diesem schnellen Wachstum und dem damit verbundenen Wachstum der bestehenden Parochien entsprach aber keine Neugründung von Pfarreien. In der zweiten Hälfte wurde dann die Entkirchlichung der -»Arbeiter in der Stadt zum Hauptproblem christlicher Sichtweise. Nun mischten sich auch immer stärker die Konfessionen in den Städten. J . H . —»Wiehern wies 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag auf den kirchlichen Notstand in den großen Städten hin ( J . H . Wichern, SW, 10 Bde., hg. v. Peter Meinhold, Berlin, I 1962, Nr. 19). Auf dem 6. Evangelischen Kirchentag 1853 wurde das noch einmal eindringlich thematisiert und der Staat zur Vermehrung der Kirchen und der Pfarrstellen sowie zum Kampf gegen die Unmoral aufgerufen (ebd., II 1965, N r . 46). Wichern betonte hier die Einbeziehung der Laien und die Verkleinerung der Gemeinden als wichtige Ziele. Das Unbehagen an der Stadt, gar ein aggressiver Pessimismus, war bei Wichern u.a. deutlich spürbar. F. - » N a u m a n n nannte (bei allem Realitätssinn für die innerstädtischen Probleme seiner Zeit) -»Berlin einmal die kirchlich verwahrloseste Stadt auf der ganzen Erde (F. Naumann, Werke, Köln/Opladen, I 1964, 35). Faktisch entwickelte sich zwischen neuer Kirchenfeindschaft und traditioneller Christlichkeit oft ein nach Milieus und Schichten differenziertes Spektrum religiöser Pluralität. Konfessionelle Prägungen, aber auch neue religiöse Strömungen in England und Nordamerika machten sich bemerkbar. In den nächsten Jahrzehnten sollte die von Vereinen getragene Stadtmission bzw. die Katholische Arbeiterseelsorge in den Städten sozial und evangelistisch Erfolge erzielen. Ein immer wieder diskutiertes Problem war die Kooperation von städtischen Kirchengemeinden und kirchlichen Vereinen. 4.4. Kirchliche Reformkonzepte. Nur gelegentlich wurde die Einmischung der Kirche in die Stadtgestaltung gefordert, so 1906 von W. Classen. Ein wesentlicher Aspekt innerstädtischen „Gemeindeaufbaus" war der der Mitwirkung der Gemeinde, die schon O. Pank 1876 angeregt hatte. Einen wesentlichen Anstoß dazu gab dann 1891 auf evangelischer Seite E. Sülze, dessen Impulse in Abwandlung z. B. von O. -»Dibelius 1910 aufgenommen wurden: Die Gemeinden sollten überschaubar und lebendig sein, die Personalgemeinden aufgelöst werden (vgl. TRE 12,324). Katho-

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lischerseits wurde nach einem stärkeren seelsorgerischen Kontakt zwischen Priestern und Laien gesucht. Diese Absicht wurde, in geradezu josephinischer Tendenz, von dem Wiener Pastoraltheologen H. Swoboda 1909 in den Mittelpunkt gestellt. Seine Großstadtseelsorge stellt einen wichtigen Neuansatz für die Beschäftigung mit dem Problem Kirche und Stadt dar. Dabei nahm er bewußt tridentinische Anliegen (sess. 23, c. 1 de ref.; sess. 24, c. 13 de ref.) und Anliegen des nachtridentinischen Reformkatholizismus auf. Zur gleichen Zeit (1910) betonte P. Grünberg noch einmal die Mitarbeit der Gemeinde. Auch Grünberg hob die negativen Seiten der Großstadt hervor. Konstruktiv wurde die Einteilung der großen Parochien in Seelsorgebezirke angeregt, die jeweils einem Pfarrer zugeordnet werden sollten. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs bot L. Heitmann eine zeittypische Analyse des Lebens in der Großstadt; er setzte dem diagnostizierten, durch die zunehmende Individualisierung erklärten Verfall die Hoffnung auf die Wiedererstehung der Religion aus dem Schoß der Familie entgegen. Die Vorbehalte gegenüber der Stadt sollten sich in den 20er Jahren in der Theologie und im allgemeinen Bewußtsein noch verstärken. L. Engelhart forderte in der Folge Swobodas 1928 eine effektivere Organisation der Seelsorge in der Stadt. In den USA war der Zugang zum Thema Kirche und Stadt durch die dort entwickelte Stadtreportage und Stadtsoziologie einfacher. So wurden hier in den 50er und 60er Jahren des 20. J h . kirchensoziologische Erhebungen in einigen Städten durchgeführt und ausgewertet. Auch von Frankreich aus kamen in dieser Zeit neue Impulse. Im 20. J h . stellte sich auch immer wieder das Definitionsproblem der Stadt. M . -»Weber hatte sie nach ökonomischen Kriterien bestimmt, die Stadtgeschichtsforschung fragte nach historisch zu gewinnenden Kriterien. Die Stadt galt als Brennpunkt der Entchristlichung. Kirche und Theologie standen in der Linie der zeitgenössischen Stadtkritik, die von der „Unwirtlichkeit der Städte" (Alexander Mitscherlich, Frankfurt a . M . 1965) sprach.

1966 stieß N. Greinacher die Debatte erneut an. Grei4.5. Neueste Entwicklungen. nacher wollte eine „pastorale Realutopie". Die Gemeinde sollte sich um Wort und Sakrament sammeln und nach außen hin missionarisch aktiv werden. Hier deutete sich schon eine Verschränkung mit der späteren Gemeindeaufbaubewegung an. Von da an wurde das Thema in Rückkoppelung mit der Stadtsoziologie vielfältig behandelt, so etwa 1969 von A. Jansen. Die Stadtsoziologie selbst blendete das Themenfcld Kirche und Religion weitgehend aus oder behandelte es als historischen Gegenstand. Hans Paul Bahrdt (Die moderne Großstadt, Reinbek bei Hamburg 1961) bot eine z. B. von Ch. Bäumler rezipierte Grundunterscheidung städtischen Lebens nach Öffentlichkeit und Privatheit, ohne auf Religion und Kirche einzugehen. Kultursoziologische Überlegungen konnten ohne Reflexion auf das Thema Religion unter den Titel Himmlisches Babylon (Johannes Boettner, Berlin/New York 1989) gestellt werden. Dabei wird man an den Problemanzeigen der Stadtsoziologie nicht vorbeigehen dürfen, etwa an der, daß die Stadt durch geistige und lokale Mobilität schon lange kein geschlossener Raum mehr ist. Für die evangelische Sicht der Dinge war H. Cox mit Stadt ohne Gott Anstoß und anstößig. Cox interpretierte die Stadt radikal positiv und sah die -»Säkularisierung in ihr als Befreiung. Die Kirche sollte als Avantgarde diese Tendenz zu Mündigkeit und Verantwortung verstärken. War Cox die Stadt als Konkretisierung des Symbols „Reich Gottes" erschienen, setzte K. Duntze 1972 die moderne Großstadt noch einmal mit Babylon gleich: Die Kirche sollte konstruktiver Störenfried und Anwalt, aber nicht Lükkenbüßer in der verwalteten Stadt sein. Duntze legte später (1993) selbst Rechenschaft über die Problematik eines intensiven Engagements der Gemeinden für die Belange der Stadt ab. F. Borggrefe hatte 1973 Cox' Optimismus unter Bezug auf die stadtkritischen Tendenzen der Bibel heftig kritisiert. Diese biblische Stadtkritik sollte mit Blick auf das Leitziel des himmlischen Jerusalems die kirchliche Stellung zur Stadt prägen. So wurde das zeitliche Stadtleben oft in eine heilsgeschichtliche Dimension eingestellt. Insgesamt ging es immer wieder um eine mitgestaltende und auf Gottes Stadt hinweisende Funktion der Kirche, nicht mehr nur um eine diakonische. Auch Cox hatte vom heilenden Dienst der Kirche an der Stadt gesprochen, der vom kommenden Reich geformt sein sollte. Cox revidierte bald darauf mit seinem Fest der Narren seine Sicht teilweise und verstärkte den auch in Stadt ohne Gott angelegten Ruf zu Sozialkritik und phantasievoller Veränderung. Ch. Bäumler publizierte schon 1973 eine Arbeit zu diesem Thema und konnte 1993 noch eine umfassende Untersuchung dazu vorlegen. Bäumler ging es um die Hu-

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m a n i s i e r u n g d e r S t a d t , d i e er als v o n M e n s c h e n g e s t a l t e t e n P r o z e ß v e r s t a n d . D i e S t a d t w u r d e a u c h z u m T h e m a k i r c h l i c h e r V e r l a u t b a r u n g e n (vgl. Menschengerechte Stadt, 1984). D i e Verantwortung der Christen für die N e u g e s t a l t u n g der Städte wurde so zur S p r a c h e g e b r a c h t . D i e t h e o l o g i s c h e u n d spirituelle D i m e n s i o n erhielt, a u c h i m Z u g e d e r G e m e i n d e a u f b a u b e w e g u n g , ein stärkeres G e w i c h t . D e r R u f z u k o n k r e t e r H i l f e für d i e Städter w u r d e m i t d e m A n l i e g e n d e r S e e l s o r g e v e r b u n d e n . T a t s ä c h l i c h ist e i n e R ü c k k o p p e l u n g d e r T h e o l o g i e d e r Stadt m i t d e r P r a x i s d e r K i r c h e in d e r Stadt nur s c h w e r in e i n G e s a m t m o d e l l u m z u s e t z e n . D i e k i r c h l i c h e G e m e i n w e s e n - u n d Stadtteilarbeit ist ein w e s e n t l i c h e r A s p e k t , ein anderer d e r v o n d e n C i t y - K i r c h e n - K o n z e p t e n o d e r K i r c h e n bauten mit t h e o l o g i s c h e m P r o g r a m m ( - • Kirchenbau V) a u s g e h e n d e Versuch, christliche K u n s t u n d S p i r i t u a l i t ä t w i e d e r in d a s L e b e n der Stadt z u integrieren. A n d e n z a h l r e i c h e n gedruckt vorliegenden Konzepten, M o d e l l e n und Erfahrungsberichten aus Europa und d e n U S A läßt sich d i e a k t u e l l e D i s k u s s i o n s - u n d A k t i o n s l a g e a b l e s e n . N e u e r e B e i s p i e l e d a f ü r s i n d d i e v o n d e r A r b e i t s s t e l l e „ K i r c h e u n d S t a d t " d e r T h e o l o g i s c h e n F a k u l t ä t in H a m b u r g h e r a u s g e g e b e n e n B ä n d e Kirche in der Stadt. K i r c h e u n d T h e o l o g i e n e h m e n a n d e n V e r s u c h e n teil, d i e Stadt n e u zu s e h e n u n d d i e T h e o l o g i e d e r Stadt in d i e G e g e n w a r t h i n e i n f o r t z u s c h r e i b e n . D a b e i w i r d d i e S t a d t i m m e r m e h r a u c h als religiöser M a r k t e r f a h r e n - hierin k a n n d a s z e i t g e n ö s s i s c h e C h r i s t e n t u m a n d i e S e l b s t w a h r n e h m u n g des spätantiken anknüpfen. Literatur Allgemeines/Epochenübergreifendes (vgl. auch die Art. zu einzelnen Städten): Bischofs- u. Kathedralstädte des M A u. der frühen Neuzeit, hg. v. Franz Petri, Köln 1976. - O t t o Borst, Babel oder Jerusalem? Sechs Kap. Stadtgesch., Stuttgart 1984. - Bürgerschaft u. Kirche, hg. v. Jürgen Sydow, Sigmaringen 1980. - T h e Church in T o w n and Countryside, hg. v. Derek Baker, 1979 (SCH[L] 16). - Carl Joachim Classen, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones u. Laudes u r b i u m in der antiken u. m a . 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Klaus Fitschen

Stählin, Wilhelm 1. Leben

(1883-1975)

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 107)

1. Leben Wilhelm Stählin wurde am 24. September 1883 als elftes Kind des Pfarrers und ehemaligen Indien-Missionars Wilhelm Stählin und seiner Frau Sophie (geb. Hauser) im bayrischen Günzenhausen geboren. Kindheit und Jugend verlebte er 1 8 8 6 - 1 9 0 1 in Augsburg und studierte von 1901 bis 1905 Theologie in Erlangen, unterbrochen durch drei Semester in Rostock und Berlin, wo er besonders von A. —»Harnack beeindruckt war. Wichtiger als die akademischen Lehrveranstaltungen wurden ihm jedoch die Begegnungen mit den liberalen Nürnberger Predigern Christian Geyer ( 1 8 6 2 - 1 9 2 9 ) und Friedrich

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Rittelmeyer (1872-1938), dem späteren Begründer der -»Christengemeinschaft. Eine Erklärung gegenüber dem Konsistorium der bayrischen Kirche betreffs Schwierigkeiten mit dem Apostolikum gefährdete zeitweise die Ordination (damals üblicherweise kurz nach dem Ersten Examen). Durch einen viermonatigen Englandaufenthalt erwarb Stählin Kenntnis der englischen Sprache, die ihn künftig zur Teilnahme an ökumenischen Konferenzen befähigte (Stockholm 1925, Cambridge 1931, Lund 1952). Während des Pfarramts in Egloffstein/Franken (ab 1910) studierte er Psychologie in Würzburg bei Oswald Külpe (1862-1915) und promovierte 1913 mit der Arbeit Z w Psychologie und Statistik der Metaphern. 1917 wurde Stählin zweiter Pfarrer der Nürnberger Lorenzkirche. 1921 wurde er in die Bundesleitung des Bundes Deutscher Jugendvereine (BDJ) berufen, von 1922-1932 war er dessen Leiter. Die -»Jugendbewegung ermöglichte ihm den eigenen theologischen Weg: Er konnte seinen Widerspruch gegen bürgerliche und kirchliche Selbstsicherheit nun unabhängig vom theologischen Liberalismus formulieren. Durch seine Schriften Fieber und Heil in der Jugendbewegung (1921) und Schicksal und Sinn der deutschen Jugend (1926) wurde er zum Theoretiker der Jugendbewegung in der Weimarer Republik, und in Nürnberg wurde er neben Geyer schnell der zweite Starprediger. Im Dezember 1925 erfolgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Münster, wo Stählin bis 1945 lehrte — vom Sommer 1926 bis Frühjahr 1930 gemeinsam mit K. -»Barth. Beide waren sich einig in der Kritik am neuen kirchlichen Selbstbewußtsein der Weimarer Zeit, wie es von O. -»Dibelius verkörpert wurde. 1923 begannen die Berneuchener Konferenzen, und 1931 gründete Stählin mit anderen die -»Michaelsbruderschaft (vgl. T R E 21,403,27-45). Das 1926 erschienene Berneuchener Buch, das Stählin mit Ludwig Heitmann (1880-1953) und Karl Bernhard Ritter (1890-1968) gemeinsam formulierte, war als Kirchenreformschrift auch mit kybernetischen und sozialen Aspekten gedacht. Dennoch spielte später vorwiegend die gottesdienstliche Form eine Rolle, und die Berneuchener galten schnell als liturgische Bewegung. Im Kirchenkampf geriet Stählin zwischen die Fronten: 1936 erfolgte ein Boykott durch Studenten der Bekennenden Kirche, weil Stählin sich an Prüfungen der DC-Kirchenleitung (-»Deutsche Christen) beteiligt hatte, 1941 trat er aus der Bekennenden Kirche aus. Von 1945-1952 war er Bischof in -»Oldenburg, wo seine liturgischen Impulse jedoch auf Kritik stießen (Vorwurf „katholisierender Neigungen"). Im Ruhestand komplettierte er seine Predigthilfen, die in fünf umfangreichen Bänden erschienen (19581971). Neben literarischen und kirchlichen Aktivitäten {Lutherische Liturgische Konferenz, Theologischer Konvent Augsburgischen Bekenntnisses, Abendländische Akademie) wurde Stählin ab 1959 noch einmal einer großen Öffentlichkeit bekannt als anerkannter Sprecher des „Wortes zum Sonntag" im Fernsehen. Er starb am 16. Dezember 1975 in Prien am Chiemsee. 2. Werk Noch nach seinem Tode ist Stählin weithin bekannt gewesen durch seine Predigthilfen und durch seine vielgelesene Autobiographie Via Vitae. Diese bringt es auf über 700 engbeschriebene Seiten und ist vor allem eine Quelle für die kirchliche Zeitgeschichte im Hinblick auf den Kirchenkampf, die Geschichte der Jugendbewegung in der Kirche und die evangelischen liturgischen Bewegungen im 20. Jh. Die Predigthilfen zeichnen sich durch prägnante Kürze und manchen guten Einfall aus. Da sie nach der Reihenfolge der biblischen Bücher geordnet sind, lassen sie sich nicht nur für die Predigtvorbereitung angenehm benutzen. Darüber hinaus hat Stählin trotz einer fast zwei Jahrzehnte dauernden akademischen Lehrtätigkeit kein im eigentlichen Sinn praktisch-theologisches Buch geschrieben. Schon gar nicht war er ein Theoretiker der akademischen Praktischen Theologie - im Gegenteil zweifelte er gegen Ende seiner Lehrtätigkeit in Münster mehr und mehr an der universitären Theologenausbildung und suchte vielmehr nach bruderschaftlich-al-

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ternativen Ausbildungskonzepten. Seine kirchliche und öffentliche Wirkung ging offenbar zeitlebens mehr vom mündlichen als vom schriftlichen Wort aus. Seine unzähligen, fast unüberschaubaren Veröffentlichungen waren weitgehend zeitgebundene Kleinschriften, Aufsätze und Miszellen. Die umfangreicheren Schriften zur Jugendbewegung sind jedoch nicht nur historisch, sondern auch praktisch-theologisch bedeutend wegen des Bemühens, Themen von Jugendlichen wahrzunehmen, zu beschreiben und vom Evangelium her zu deuten. So kann sein Werk als eine implizit von „Leben, Leib und Liturgie" her konzipierte Praktische Theologie interpretiert werden (vgl. MeyerBlanck). Das Eigentümliche von Stählins Theologie in ausgebildeter Gestalt ist am besten greifbar in den Schriften Vom Sinn des Leibes (1930) sowie Vom göttlichen Geheimnis (1936); ferner in den gesammelten Aufsätzen unter dem Titel Symbolon (Folge I—IV, 1 9 5 8 - 1 9 8 0 ) , wobei allerdings der von Stählin selbst programmatisch gewählte Symbolbegriff zu unspezifisch ist. Bemerkenswert ist in der Schrift Vom Sinn des Leibes der Versuch, die Leiblichkeit des Menschen und den Leib Christi zusammenzudenken, also Verbindungen zwischen Anthropologie, Christologie und Ekklesiologie herzustellen. Unter der Schlüsselkategorie des Leibes wird der Mensch in seiner Relationalität beschrieben. An philosophisch-theoretischen Klärungen, etwa mit Hilfe der sich entwickelnden -•Phänomenologie, die Stählin in seiner Nürnberger Zeit kennengelernt hatte, bleibt er jedoch uninteressiert. Im Mittelpunkt steht vor allem das liturgische Interesse: Die Übung des Leibes bis hin zum liturgischen Agieren, Schreiten und Begehen werden theologisch wichtig. Damit sind Aspekte benannt, die in der Praktischen Theologie und Kirche erst in den letzten Jahren Allgemeingut wurden. Bei Stählin haben sie allerdings eine spezifische Kontur: Der Sinn des Leibes ist die Bezeugung der sich durchsetzenden Geschichte Gottes in der Welt, der Gottesdienst formt den Menschen neu und zielt so auf die neue Schöpfung. Die Liturgie ist damit der Brennpunkt von Ekklesiologie und Anthropologie. Weitergeführt sind diese Gedanken in dem Buch Vom göttlichen Geheimnis, welches Stählin selbst für das wichtigste hielt. Als „Mysterium" bezeichnet er das Sakrament, die Kirche und den Leib des einzelnen. Das leibhaftige Mysterium des Sakraments wirkt im Leib Christi auf den Leib des Menschen. Die Kirche ist der Raum, in dem die Kräfte des Heiligen, des Mysteriums, real wirksam sind. Der Leib Christi wird — beeinflußt vom jugendbewegten Leibbegriff — vitalistisch-effektiv gedacht, und explizit wendet sich Stählin in diesem Zusammenhang gegen eine nur forensisch verstandene Rechtfertigungslehre. Auch dieser Gedanke ist in der jüngsten Praktischen Theologie ähnlich formuliert worden.

3. Wirkung Das Verdienst Stählins ist die Öffnung der Kirche zur Jugendbewegung, später der Dialog mit der -»Anthroposophie, vor allem aber die liturgische Arbeit, welche die lutherischen Kirchen nach 1945 mitprägte. Stählins Theologie war auch die Basis einer neuen Verständigung mit der römisch-katholischen Kirche (Gründung des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen 1946), und die eucharistische Interpretation des Abendmahls ist inzwischen zum liturgiewissenschaftlichen Allgemeingut geworden, was zu Stählins Lebzeiten kaum zu erwarten war. Seine Theologie des Leibes und des Mysteriums hat deutliche Parallelen in gegenwärtigen praktischtheologischen Bemühungen, das Spezifikum religiöser Kommunikation zu beschreiben. In diesem Bemühen liegt die Stärke seiner Theologie. Die Schwäche wird man jedoch darin sehen müssen, daß die Tradition der Aufklärung mit der unhintergehbaren Reflexivität auch im Hinblick auf die Beschreibung von Religion damit nicht wirklich integriert, sondern eher in einer Art von Unmittelbarkeit zu überspringen gesucht wird. Dieses Motiv ist zwar begreiflich angesichts der Modernisierungsprozesse im 20. Jh., ob aber der christliche Glaube in der Informationsgesellschaft des 21. Jh. so wirksam zur Sprache gebracht werden kann, muß kritisch gefragt werden.

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Stahl Quellen

1. Bibliographien: Eine nahezu vollständige Aufstellung findet sich in: Wilhelm Stählin, Wissen u. Weisheit. Symbolon Folge III, hg. v. Adolf Köberle, Stuttgart 1973, 2 7 5 - 3 1 2 . - Ein Verz. mit unveröff. Schriftstücken Stählins aus dem Nachlaß, eine Bibliogr. zur Prakt. Theol. Stählins sowie weitere Sekundärlit. enthält: Michael Meyer-Blanck (s.u. Lit.) 4 2 1 - 4 5 9 . 2. Schriften in chronologischer Reihenfolge: Zur Psychologie u. Statistik der Metaphern. Eine methodologische Unters., Leipzig/Berlin 1913. - Jesus u. die Jugend, Wülfingerode-Sollstedt 1921. - Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie: ARPs 2/3 (1921) 1 3 6 - 1 5 9 . - Fieber u. Heil in der Jugendbewegung, Hamburg 1921 "1922. - Die völkische Bewegung u. unsere Verantwortung, Wülfingerode/Sollstedt o . J . [1924]. - Advent. Fünfzehn ['1922: 12] Predigten, München M925. Das Schuldgefühl der modernen Jugend: Unser Bund 13 (1924) 1 8 9 - 1 9 2 ; abgedr.: Leopold Cordier, Ev. Jugendkunde. I. Quellenbuch zur Gesch. der ev. Jugend, Schwerin 1925, 4 5 6 - 4 6 0 . - Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, hg. v. der Berneuchener Konferenz, Hamburg 1926. - Schicksal u. Sinn der dt. Jugend, Wülfingerode-Sollstedt 1926. - Vom Sinn des Leibes, Stuttgart 1930 J 1934 J 1952 Konstanz 4 1968. - Vom göttlichen Geheimnis, Kassel 1936; 2 1970 u.d.T.: Mysterium. Vom Geheimnis Gottes. - Berneuchen. Unser Kampf u. Dienst f. die Kirche, Kassel o.J. [1938]. - Berneuchen antwortet. Eine Erwiderung auf Gerhard Kunzes „Gespräch mit Berneuchen", Kassel o.J. [1939], - Bruderschaft, Kassel 1940. - Fragen der Anthroposophie an die ev. Kirche: ders. (Hg.), Evangelium u. Christengemeinschaft, Kassel 1953, 1 1 0 - 1 3 2 . - Predigthilfen, 5 Bde., Kassel 1 9 5 8 - 1 9 7 1 . - Symbolon (GAufs.), 4 Bde., Stuttgart u.a. 1 9 5 8 - 1 9 8 0 . - Via vitae (Lebenserinnerungen), Kassel 1968. Literatur Ralf Dziewas, Art. Stählin, Wilhelm: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde, hg. v. Helmut Burkhardt/Uwe Swarat, Wuppertal u.a., 3 (1994) 1897. - Hans Eduard Kellner, Das theol. Denken Wilhelm Stählins, 1991 (EHS.T 439). - Adolf Köberle, Wilhelm Stählin: Tendenzen der Theol. im 20. Jh. Eine Gesch. in Porträts, hg. v. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart u.a. 1966, 2 3 1 - 2 3 6 . - Kosmos u. Ekklesia. FS f. Wilhelm Stählin zu seinem siebzigsten Geburtstag 24. September 1953, hg. v. HeinzDietrich Wendland, Kassel 1953. - Gerhard Kunze, Gespräch mit Berneuchen, Göttingen 1938. Michael Meyer-Blanck, Leben, Leib u. Liturgie. Die Prakt. Theol. Wilhelm Stählins, 1994 (APrTh 6). - Johann Friedrich Moes, Die Apostelkirche als Ort geistlicher Erneuerung. Zum Gedenken an Wilhelm Stählin: 700 Jahre Apostelkirche Münster, hg. vom Presbyterium der Apostel-Kirchengemeinde, Münster 1984, 2 6 1 - 2 7 3 . - Wilhelm Mogge, Das Menschliche bewahren. Ein Versuch über Wilhelm Stählin 1 8 8 3 - 1 9 7 5 : J b . des Archivs der dt. Jugendbewegung 8 (1976) 1 6 5 - 1 7 3 . Erich Nestler, Der Beitr. Wilhelm Stählins zur Jugendbewegung, Lauf 1986. - Udo Schulze, Wilhelm Stählin. Lehrer u. Bischof der Kirche: J B N K G 81 (1983) 1 8 9 - 1 9 8 . - Ders., Wilhelm Stählin u. der Neuanfang der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg 1945/1946: J B N K G 93 (1995) 2 5 9 - 2 8 2 . Michael Meyer-Blanck

Stände/Ständelehre -»Adel, -»Arbeiter/Arbeiterbewegung/Angestellte,

-•Bauerntum,

- • B ü r g e r t u m , - » G e s e l l s c h a f t / G e s e l l s c h a f t und C h r i s t e n t u m

S t a h l , Friedrich 1. Leben 1.

Julius

(1802-1861)

2. Lehre und Wirken

(Quellen/Literatur S. 109)

Leben

F r i e d r i c h J u l i u s S t a h l w u r d e a m 16. J a n u a r 1 8 0 2 in H e i d i n g s f e l d b e i W ü r z b u r g ( G e burtsname: Jolson-Uhlfelder) geboren. E r entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie und k o n v e r t i e r t e 1 8 1 9 z u r l u t h e r i s c h e n K i r c h e . N a c h e i n e m G y m n a s i a l l e h r e r e x a m e n i m J a h r 1 8 1 9 u n d e i n e m J u r a s t u d i u m in W ü r z b u r g , H e i d e l b e r g u n d E r l a n g e n w i r k t e e r seit 1 8 2 7 als P r i v a t d o z e n t in M ü n c h e n , seit 1 8 3 2 als o r d e n t l i c h e r P r o f e s s o r z u n ä c h s t in E r l a n g e n , d a n a c h in W ü r z b u r g für k a n o n i s c h e s R e c h t , seit 1 8 3 4 e r n e u t in E r l a n g e n als P r o f e s s o r für S t a a t s - u n d K i r c h e n r e c h t . I m J a h r 1 8 4 0 w u r d e e r a u f F r i e d r i c h C a r l v o n Savignys ( 1 7 7 9 - 1 8 6 1 ) B e t r e i b e n v o n F r i e d r i c h W i l h e l m IV. n a c h B e r l i n b e r u f e n , w o e r S t a a t s - u n d K i r c h e n r e c h t s o w i e R e c h t s p h i l o s o p h i e l e h r t e . H i e r g e h ö r t e er zu d e n M i t -

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Stahl

begründern der Konservativen Partei in Preußen und ihres Presseorgans, der Kreuzzeitung. Eine bedeutende öffentliche Wirkung entfaltete er in der Reaktionszeit 1 8 4 9 - 1 8 5 8 : seit 1849 gehörte er der preußischen ersten Kammer (späteres Herrenhaus) und dem Erfurter Parlament an, 1854 wurde er zum Kronsyndikus für das Herrenhaus ernannt und Mitglied des Staatsrates. Kirchenpolitisch engagierte er sich seit 1846 als Vertreter der juristischen Fakultät in der preußischen Generalsynode und war von 1 8 5 2 - 1 8 5 9 Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats. Darüber hinaus hielt er als Vizepräsident des evangelischen -»Kirchentages und als Mitglied des Centraiausschusses für die Innere Mission bedeutende kirchliche Ämter inne. Stahl starb am 10. August 1861 während einer Kur in Bad Brückenau.

2. Lehre und Wirken Das Hauptwerk Stahls ist die dreibändige Philosophie des Rechts (1830; 2., völlig umgearbeitete Ausgabe 1847; 5 1878), der groß angelegte Versuch eines Gegenentwurfs zu jeder naturrechtlich geprägten wie auch zur spekulativen Rechtsphilosophie -»Hegels. Ausgehend von den Grundintentionen der historischen Schule der Rechtswissenschaft, wie er sie im ersten Band „Geschichte der Rechtsphilosophie" darlegte, ging sein Bestreben dahin, über das Faktische: „wie das Recht entsteht" hinaus das Ethische, „den Inhalt, welches die gerechten sittlichen Einrichtungen und Gesetze sind" (Philosophie des Rechts I, 587), aufzuzeigen. In pointierter Kritik der vorherrschenden philosophischen Richtungen, denen er einen pantheistischen Rationalismus vorwarf, der die Welt allein in logischen Gesetzen erfassen wollte, damit die Wirklichkeit des lebendigen Gottes leugnete und letztlich die Grundlagen von Kirche und Staat zerstören würde, rief er zur „Umkehr der Wissenschaft" (ebd. I I / l , IX). Konsequent stellte er im zweiten Band seiner Rechtsphilosophie „Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung" die Lehre von der Persönlichkeit und Freiheit Gottes an den Beginn seiner Ausführungen, um von hier aus die Ethik, insbesondere den Begriff der Gerechtigkeit, und sodann die Grundlinien des Rechts und die rechtliche Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen zu entwickeln. Im Sinn seiner schnell zum Schlagwort gewordenen Parole „Autorität, nicht Majorität" verwies er gegen alle demokratischen Bestrebungen auf die Setzungen Gottes, der Ordnungen für den Menschen festgesetzt und geheiligt habe, die unverhandelbar seien. Im Blick auf den Staat, den er als „göttliche Institution" (ebd. 176) verstand, betonte Stahl die Unablösbarkeit der öffentlichen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung von den Prinzipien christlicher Lebensführung, Erziehung und von dem Zeugnis der christlichen Religion selbst. Das von Stahl geprägte Leitbild des „christlichen Staates" steht somit für den unverzichtbaren Beitrag des Christentums zur Versittlichung des öffentlichen Lebens. Damit ist allerdings kein staatlicher Zwang zugunsten der christlichen Kirchen gemeint, wohl aber ihre öffentliche Förderung und somit eine entschiedene Bekämpfung des Standpunktes einer möglichen Indifferenz des Staates gegenüber den Kirchen. Diese Haltung schlägt sich insbesondere in Stahls Plädoyer nieder, die bürgerlichen Rechte allen Staatsangehörigen ohne Unterschied des Glaubens zu verleihen, politische Rechte jedoch von der Zugehörigkeit zu einer anerkannten christlichen Kirche abhängig zu machen. Im Blick auf die verfassungspolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit leistete Stahl einen „Brückenschlag zwischen monarchisch-ständischer und konstitutioneller Ordnung" (Wehler 452). Mit seinem Eintreten für konsequente Rechtsstaatlichkeit, wonach das positive Recht die Schranke auch der königlichen Macht darstellt, sowie mit seinem Plädoyer für eingeschränkte Mitwirkungsrechte der Volksvertretungen bei einem politischen Letztentscheidungsrecht der Fürsten hat er den Konservativismus als moderne politische Partei mitbegründet. Stahl hat seine Auffassungen vehement in der Öffentlichkeit vertreten und wurde zu einem der bedeutendsten Parlaments- und Debattenredner der preußischen Konservativen. Eine speziell für den deutschen Protestantismus kaum zu überschätzende Wirkung

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ging vor allem von seiner apokalyptisch a n m u t e n d e n Stigmatisierung der -»Revolution von 1848 aus. In politischen Reden wie in Vorlesungen geißelte er die Revolution als Verstoß gegen die göttliche wie gegen jede menschliche O r d n u n g . Er sah in ihr eine Entfesselung der M ä c h t e der menschlichen Sünde gegen die vorgegebenen Autoritäten u n d deren geschichtliche Vertreter. Angesichts dieser D r a m a t i k hielt er eine bloß politische Bekämpfung der Revolution f ü r unzureichend, allein die M a c h t des Christentums vermochte in dieser Sicht „die Revolution zu schließen" (Siebzehn parlamentarische Reden 242). Vor diesem Hintergrund ist auch seine grundsätzliche Kritik sozialistischer T h e o r i e n als „absolut u n a u s f ü h r b a r " und „sittlich absolut verwerflich" (Philosophie des Rechts II/2, 88.92) zu verstehen. Kirchenpolitisch w a r Stahl — in Entsprechung seines autoritären Staatsverständnisses - ein Verfechter des Episkopalsystems. Die Kirche als von G o t t gestiftete Institution, die er der Gemeinde, den im Glauben verbundenen Menschen, gegenüberstellte, sollte d u r c h Bischöfe als den auf Lebenszeit eingesetzten Autoritäten geleitet werden. Dem landesherrlichen -»Kirchenregiment stand er skeptisch gegenüber, die preußische Union lehnte er als bewußter Lutheraner ab. Presbyterial-synodale Elemente (-»Presbyterialsynodale Kirchenverfassung) k o n n t e sich Stahl als ergänzende Bereicherung des bischöflichen Amtes zwar vorstellen, angesichts der Situation breiter entkirchlichter Massen hielt er jedoch den Z e i t p u n k t ihrer E i n f ü h r u n g in den vierziger Jahren für ungünstig. Stahl als Verfechter eines autoritären Staats- und Kirchenverständnisses hat den Mehrheits-Protestantismus des 19. und des frühen 20. J h . in Deutschland stark geprägt. N e b e n der Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze hat er auch dazu beigetragen, antidemokratische und antisozialistische Haltungen zu verstärken. Darüber hinaus hat er auch im Ausland, etwa auf A b r a h a m Kuyper (1837-1920) in den Niederlanden, nachhaltig gewirkt. In der Zeit des Nationalsozialismus w u r d e sein konsequent rcchtsstaatlichcs Denken von renommierten Juristen als „Einbruch des jüdischen Geistes" (Heckel; vgl. auch Schmitt) diffamiert. Für die Gegenwart k a n n seine Betonung der öffentlichen politischen Bedeutung des Protestantismus als produktive H e r a u s f o r d e r u n g wirken. Quellen Ausgewählte Werke: Die Phil, des Rechts, Heidelberg, I-II/2 1830-1837 '1878 = Darmstadt 1963. - Die Kirchenverfassung nach Lehre u. Recht der Protestanten, Erlangen 1840 '1862. - Das monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abh., Heidelberg 1845. - Fundamente einer christl. Phil., Heidelberg 1846. - Der christl. Staat u. sein Verhältnis zu Deismus u. Judenthum. Eine durch die Verhandlungen des Vereinigten Landtags hervorgerufene Abh., Berlin 1847 '1858. - Die Revolution u. die constitutionelle Monarchie. Eine Reihe ineinandergreifender Abh., Berlin 1848 '1849. - Der Protestantismus als politisches Prinzip, Berlin 1853 (Nachdr. Aalen 1987). - Wider Bunsen, Berlin 1856. - Die luth. Kirche u. die Union, Berlin 1859 21860. - Siebzehn parlamentarische Reden u. drei Vortr., Berlin 1862 (Nachdr., hg. v. Bertha v. Kröcher, Berlin 1921). - Die gegenwärtigen Parteien in Staat u. Kirche, Berlin 1863 '1868. Literatur Erwin Fahlbusch, Die Lehre v. der Revolution bei Friedrich Julius Stahl, Diss. theol. Göttingen 1954. - Wilhelm Füßl, Prof. in der Politik. Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Das monarchische Prinzip u. seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, 1988 (SHKBA 33) (Lit.). - Dieter Grosser, Grundlagen u. Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, Köln/Opladen 1963. - Johannes Heckel, Der Einbruch des jüd. Geistes in das dt. Staats- u. Kirchenrecht durch Friedrich Julius Stahl: HZ 155 (1937) 506-541. - Helmut Heinrichs, Die Rechtslehre Friedrich Julius Stahls, Diss. jur. Köln 1967. - Reinhard Hübner, Friedrich Julius Stahl u. der Protestantismus, Berlin 1928. Gottfried Hütter, Die Beurteilung der Menschenrechte bei Richard Rothe u. Friedrich Julius Stahl. Zur christl. Sicht der Menschenrechte im 19. Jh., 1976 (EHS.T 71). - Gerhard Masur, Friedrich Julius Stahl. Gesch. seines Lebens - Aufstieg u. Entfaltung (1802-1840), Berlin 1930. - Albrecht Müller, Beitr. zur Gesch. der Entwicklung Friedrich Julius Stahls, Diss. theol. Tübingen 1933. Arie Nabrings, Friedrich Julius Stahl. Rechtsphil. u. Kirchenpolitik, 1983 (UnCo 9). - Adelheid Roos, Konservatismus u. Reaktion bei Friedrich Julius Stahl, Diss. phil. Bonn 1957. - Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938 (Nachdr. mit einem Anh. u. Nachw. Köln 1982). - Otto Volz, Christentum u. Positivismus. Die Grundlagen der Rechts-

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Stancaro

u. Staatsauffassung Friedrich Julius Stahls, Tübingen 1951. - Hans-Ulrich Wehler, Dt. Gesellschaftsgesch. II. Von der Reformära bis zur industriellen u. politischen „Dt. Doppelrevolution" 1815 — 1845/49, München 1987 = J 1996. - Hanns-Jürgen Wiegand, Das Vermächtnis Friedrich Julius Stahls. Ein Beitr. zur Gesch. konservativen Rechts- u. Ordnungsdenkens, Königstein i.Ts. 1980.

Traugott Jährlichen

Stancaro, Francesco d.Ä. (ca.

1501-1574)

(Literatur S. 112)

Francesco Stancaro, Theologe, Mediziner und bedeutender Hebraist, wurde um 1501 in Mantua in Italien in einer wahrscheinlich jüdischen Familie geboren. In späteren Zeiten verbreitete man Legenden über seine fürstliche Herkunft. Stancaro kann man als typisch humanistischen bomo trium littguarum bezeichnen, der sich jedoch die neuzeitlichen Sprachen nicht so gut anzueignen vermochte. In Italien lebte Stancaro als ziemlich wohlhabender Priester oder Mönch und betätigte sich als akademischer Lehrer; in dieser Zeit stand er unter dem Einfluß des Spiritualisten Camillo Renato (gest. nach 1570). Schon um das Jahr 1530 (oder früher) veröffentlichte Stancaro sein erstes, die Hebraistik betreffendes Buch. Unter dem Einfluß des ehemaligen Franziskaners Girolamo Galateo (ca. 1490-1541) wandte er sich 1540 - im toleranten Padua und Friuli — der Reformation zu, woraufhin er für 14 Monate durch die venezianischen Behörden inhaftiert wurde. Nach seiner Freilassung begab sich Stancaro 1542 in die Schweiz, wo es zu Auseinandersetzungen mit den Täufern und Camillo Renato kam. Noch in Venedig hatte er in erster Ehe Magdalene N. geheiratet, eine übelbeleumundete Frau aus Piur (nahe bei Chiavenna im Kanton Graubünden). Angeblich hat Stancaro sich bald von ihr scheiden lassen, denn eben aus dieser Zeit dürfte sein damals gedrucktes Büchlein über die Zulässigkeit der Scheidung aufgrund des Alten Testaments stammen. Merkwürdigerweise hat Stancaros zweite Frau, die er später in Polen heiratete, denselben Vornamen; sie stammte jedoch aus einer polnischen Adelsfamilie, Los; ihr Vater soll protestantischer Pastor gewesen sein. In Basel erwarb Stancaro nach entsprechender Ausbildung den Doktor der Medizin, so daß man ihn bei seinen späteren Aufenthalten in Ungarn (1548 und später) zwar mit Recht für einen Arzt, aber fälschlicherweise auch für einen Mitbegründer des Antitrinitarismus (-»Antitrinitarier) gehalten hat. Tatsächlich aber lehnte er den Antitrinitarismus nachdrücklich ab. Stancaro war äußerst streitsüchtig; wo immer er sich aufhielt, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Daß er in Deutschland kaum in Auseinandersetzungen geriet, mag damit zusammenhängen, d a ß er die deutsche Sprache nicht beherrschte. Es ist nicht klar, ob Stancaro den Doktor der Theologie erwarb. Die Jahre 1543/44 verbrachte der aus religiösen Gründen Vertriebene in der Schweiz (Basel, Chiavenna), in Süddeutschland (Regensburg, Augsburg) und Österreich. 1544 übernahm er eine Professur für Hebraistik an der Wiener Universität, verließ die Stadt aber noch vor seiner von -»Ferdinand I. erzwungenen Entlassung und begab sich nach Regensburg, wo er beim dortigen —•Religionsgespräch auch Bernardino —»Ochino begegnete. Anschließend wollte er in Basel den theologischen Doktor erwerben. Von dort aus richtete er ein Aufforderungsschreiben zur Reformation an die Republik Venedig (1547). Nach einem kurzen Zwischenspiel in Siebenbürgen ließ er sich schließlich in Polen nieder, dem Staat, der damals als höchst tolerant galt. In der Schweiz begann die erste Periode seiner regen (im Jahr 1547 erstaunlich intensiven) Tätigkeit als reformatorischer Schriftsteller; u.a. hat er die venezianische Bürgerschaft beraten, wie die Kirche zu reformieren sei (dies in seiner umfangreichsten Abhandlung Opera nuova). Insgesamt veröffentlichte er etwa 50 Werke in lateinischer und italienischer Sprache. Seine religiösen und gesellschaftlichen Anschauungen oszillierten zwischen Luthertum und Calvinismus, wobei Stancaro selber sich keinem Bekenntnis ganz anschließen

Stancaro

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konnte und wollte; dabei stand er dem Calvinismus kritischer gegenüber als dem Luthertum. Von beiden Bekenntnissen trennte ihn vor allem die Auffassung, daß Christus nur seiner menschlichen Natur nach Mittler zwischen Gott und der Menschheit sei. Gelegentlich schien er auch zum Katholizismus zu neigen, doch an seinem Lebensende ist er angeblich Calvinist geworden. In Polen hielt sich Stancaro das erste Mal in den Jahren 1549-1551 auf. 1548 empfahl ihn die Königin von Ungarn, Isabelle Jagellone-Zapolya, ihrem Bruder Sigismund II. August, König von Polen (reg. 1548-1572), und ihrem Vetter Albrecht von Hohenzollern (Herzog Albrecht von Preußen). Nach kurzem Aufenthalt am polnischen Königshof wurde Stancaro dank der königlichen Empfehlung und auf Veranlassung des Schutzherrn aller Humanisten, des Krakauer Bischofs Samuel Maciejowski (1546-1550), als Hebräischprofessor an die Universität Krakau berufen. Schon im darauffolgenden Jahr versuchte Stancaro in seinen Vorlesungen, den Protestantismus zu vertreten, wobei er insbesondere gegen Heiligenverehrung und Marienkult auftrat. In dem vor 1548 entstandenen, verlorengegangenen Traktat Adversus novos Arianos bekämpfte Stancaro den damals in Italien und anderen Ländern entstehenden Antitrinitarismus. Diese Abhandlung enthielt aber auch einige Thesen seiner späteren Lehre de Mediatore. Infolgedessen hat Stancaro die Freundschaft des polnischen Intellektuellen und späteren Bischofs Martin Kromer (1512-1589) verloren; als die Zuhörer die kirchlichen Behörden über die Ansichten unterrichteten, die ihr Lehrer verbreitete, wurde Stancaro im bischöflichen Gefängnis auf der Burg Lipowiec bei Krakau inhaftiert. Dort hat Stancaro angeblich vier Werke geschrieben: Contra invocationem sanctorwn\ De Ecclesia et signis eius; Quod tota doctrina Trinitatis in sacris litteris est relata und Canones reformationis ecclesiarum Polonicarum. Das letzte Werk wurde 1552 in Frankfurt an der Oder gedruckt; es hat viel Ansehen bei den Protestanten gewonnen und wurde sogar ins Polnische übersetzt. Stancaro entwickelte hier seine Ideen über die Reformierung der Kirche in Polen unter dem Schutz des Königs, um auf diese Weise eine Nationalkirche aufbauen zu können. Am 14. September 1550 wurde Stancaro von polnischen Adeligen aus dem Gefängnis befreit und suchte infolge des königlichen Strafmandates Zuflucht im Städtchen Dubiecko (bei Przemysl) bei dem Adeligen Stanislaus Matthäus Stadnicki (gest. 1563), später im kleinpolnischen Städtchen Piriczow bei Nikolaus Olesnicki (gest. 1566/67). In Pinczöw begann damals die große Zeit der polnischen Reformation. Während der ersten Synode der kleinpolnischen Pastoren in Piiiczow (Oktober 1550) stand Franciscus Stancarus Mantnanus, doctor Italus als erster auf der Teilnehmerliste. Dort hat er die sog. Kölnische Reformation des Erzbischofs Hermann von Wied (1477-1552) vorgestellt. Pinczöw erhielt dank des großen Ansehens Stancaros und seiner Schüler die Benennung „Sarmatisches Athen". Wahrscheinlich auf seinen Rat hin vertrieb der Grundherr Pinczöws, der erwähnte Olesnicki, die Pauliner Mönche aus der Stadt und führte eine reformierte Gottesdienstordnung ein. Stancaro wurde auch zum geistlichen Vater der berühmten protestantischen, später antitrinitarischen Schule in Pinczöw. Doch mußte er aufgrund eines am 12. Dezember 1550 durch König Sigismund II. August erlassenen Mandates zur Vertreibung fliehen. Zunächst fand er Zuflucht bei dem mächtigen großpolnischen Magnaten Andreas Gorka (ca. 1500-1551) in Posen. Doch schon im Mai 1551 wurde er an die Universität Königsberg berufen. Dort kam es allerdings sofort zu heftigen Auseinandersetzungen mit A. -»Osiander, dem „geistlichen Vater" von Herzog Albrecht, da Osiander damals bereits die These vertrat, daß Christus nur nach seiner göttlichen Natur die Gerechtigkeit des Menschen sei. Da aber die Gegner Oslanders auch mit seiner Gegenthese nicht einverstanden waren, verließ er Königsberg im August desselben Jahres und begab sich über Elbing, Danzig und Stettin nach Frankfurt an der Oder, wo er an der Viadrina als Privatdozent Vorlesungen hielt. Aber auch dort wurde er nicht lange geduldet, als er in Auseinandersetzungen mit Andreas Musculus (1514-1581) geriet, in die der Bran-

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Stancaro

denburger Kurfürst dann auch J . -»Bugenhagen und Ph. —»Melanchthon einschaltete. Die nächsten Jahre verbrachte er umherirrend in Polen, Ungarn und Siebenbürgen, wobei es überall sehr schnell zu Auseinandersetzungen kam. 1553 sprach man bereits von einer „Stancarianischen Sekte". Im Spätfrühling 1559 kehrte Stancaro nach Pinczów zurück, wurde dort jedoch ziemlich kühl aufgenommen. Als sein hauptsächlicher Feind galt damals der strenge Calvinist J . -»Laski. Zwischen 1559 und 1563 blühte die „Stancarianische Häresie" sehr stark auf. Zwar mußte Stancaro Pinczów verlassen und sich unter den Schutz von S . M . Stadnicki in Dubiecko begeben, doch hatte er viele Anhänger im kleinpolnischen Adel gewonnen, u. a. die Familien Zborowski, Stadnicki, Ossoliñski u. a. Auch einige Gelehrte, z. B. der Lehrer aus Pinczów, Gregorius Orszak von Auschwitz (ca. 1 5 2 0 - ca. 1567), und der berühmte polnische Denker A. F. —»Modrzewski, waren ihm gewogen. Stancaro gründete seine eigene Schule in Dubiecko und verbreitete die Meinung, daß die papistica Ecclesia mala sei, peior Lutherana, omrtium pessima Helvetica, hatte man doch in die Auseinandersetzungen mit Stancaro von polnisch-reformierter Seite auch die Zürcher und Genfer Theologen eingeschaltet. Darüber hinaus kam es zum Streitschriftenwechsel mit den nach Polen geflüchteten italienischen Antitrinitariern. Dabei geriet er freilich mit der Uberzeugung, daß es sich bei Vater, Sohn und Geist um bloße Namen der einen göttlichen Substanz handele, selbst an die Grenze des Antitrinitarismus. Nach dem Tod S. M. Stadnickis mußte Stancaro auch Dubiecko verlassen und begab sich in die Walachei. Homo irrequieti ingenii, gelähmt und alt, begab er sich um das Jahr 1565 unter den Schutz des Magnaten Petr Zborowski (gest. 1581) in Stopnica bei Sandomierz. Und sein Mäzen sorgte dafür, daß seine letzten Werke in Krakau gedruckt werden konnten. 1570 veröffentlichte Stancaro eine kurze Zusammenfassung seiner Anschauungen unter dem Titel Summa confessionis fidei. Darin folgte er -»Luthers Meinungen über den Wert der Bibel und ebenso dessen Lehre über die Sakramente, wobei er sich auch auf die Lehre des Heiligen -»Thomas von Aquino berief, aber an seiner Überzeugung, daß Christus nur nach der menschlichen Natur Mittler sei, unbeirrt festhielt; dabei geriet er bis an die Grenze der Leugnung der Menschwerdung Gottes überhaupt. Auch in den gesellschaftlichen Fragen näherte er sich Luthers gemäßigten und positiven Anschauungen über die Staatsmacht an. Etwa um das Jahr 1570 aber verlor Stancaro auch die letzten seiner Anhänger. Angeblich hat er vor seinem Tod seinen Irrtümern sogar selbst abgeschworen und sich mit den Calvinisten ausgesöhnt. Am 12. November 1574 starb er in dem Städtchen Stopnica (Sandomirer Woiewodschaft). Sein Sohn Franciscus Stancaro d. J . (1562-1621) wurde als kleinpolnischer Superintendent zu einem hervorragenden Vertreter der calvinistischen Kirche. Cum authore sepulta est omnis eius gloría. Stancaros Nachkommen bildeten in der Ukraine über lange Zeit eine angesehene polnisch-calvinistische Adelsfamilie. Das Familienarchiv befindet sich derzeit teils in Kiew und teils in St. Petersburg. Stancaro hat zur Zersplitterung der polnischen Reformation, aber auch zur Entstehung des polnischen „Arianismus" beigetragen, obwohl er zu dessen Gegnern zählte. Doch mit seinen Ausführungen zu Gotteslehre und Christologie hat er zu Zweifeln am trinitarischen Dogma beigetragen. Das zeigte sich nicht nur in Polen, sondern ebenso auch in Ungarn. Literatur Robert Dán, Humanizmus, reformado, antitrinitarizmus és a héber nyelv Magyarországon, Budapest 1973, 9 2 - 95.214f.228.241. - Lorenz Hein, Ital. Protestanten u. ihr Einfluß auf die Reformation in Polen während der beiden Jahrzehnte vor dem Sandomirer Konsens 1570, Leiden 1 9 7 4 , 6 6 - 1 1 8 . - Haiina Kowalska, Dziatalnosc reformatorska J a n a Laskiego w Polsce 1 5 5 6 - 1 5 6 0 , Breslau/Warschau/Krakau 1969, 1 4 1 - 1 4 8 . - Józef M . Ossoliñski, Franciszek Stankar: ders., Wiadomosci historyczno-krytyczne do dziejów literatury polskiej, Lwow (Lemberg), IV 1 8 5 1 , 3 5 0 - 4 4 1 . - Francesco Ruffini, Francesco Stancaro: ders., Studi sui riformatori italiani, Turin 1955, 1 6 7 - 4 0 5 .

Staphylus

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Waclaw Urban, Die großen Jahre der stancarianischen Häresie (1559-1563): ARG 81 (1990) 3 0 9 319. - Ders., Canones reformationis ecclesiarum Polonicarum di Francesco Stancaro: Studia ItaloPolonica, Krakau, IV 1 9 9 1 , 4 1 - 5 2 . - Ders., Dwa szkice z dziejow reformacji, Kielce 1 9 9 1 , 7 9 - 1 5 0 (mit Stancaro-Autograph am Anfang). - George Huntston Williams, T h e Radical Reformation, Philadelphia, Pa. 1962 Kirksville, M o . J 1992 (SCTS 15). - Theodor Wotschke, Francesco Stancaro: Altpreussische Monatsschrift 47 (1910) 465 - 498.570 - 613. Waclaw Urban

Staphylus, Friedrich 1. Leben 1.

2. Werk

(1512-1564) 3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 115)

Leben

F r i e d r i c h S t a p h y l u s (eigentlich S t a p e l l a g e ) g e h ö r t zu d e n e r s t e n T h e o l o g e n , d i e n a c h Anschluß an die R e f o r m a t i o n aus grundsätzlichen Erwägungen zum Katholizismus konv e r t i e r t e n . G e b o r e n 1512 in O s n a b r ü c k als S o h n e i n e s b i s c h ö f l i c h e n V e r w a l t e r s , w u c h s d e r f r ü h V e r w a i s t e bei V e r w a n d t e n d e r M u t t e r in D a n z i g u n d K a u n a ( L i t a u e n ) a u f . D e m S t u d i u m d e r artes in K r a k a u seit 1529 s c h l o ß sich a u f e i n e r I t a l i e n r e i s e 1 5 3 0 / 3 1 d a s in P a d u a , e i n e m Z e n t r u m d e s N e u a r i s t o t e l i s m u s , a n . Z u n ä c h s t n a c h D a n z i g z u r ü c k g e k e h r t , s t u d i e r t e e r - g e f ö r d e r t v o n — » M e l a n c h t h o n - seit 1535 in W i t t e n b e r g (1541 M a g i s t e r ) . 1546 g e w a n n - » A l b r e c h t v o n P r e u ß e n d e n p o l n i s c h s p r e c h e n d e n G e lehrten (u.a. Plan einer polnischen Bibelübersetzung) f ü r eine theologische Professur an der Universität -»Königsberg. In den sogleich beginnenden Auseinandersetzungen um den Exilholländer Wilhelm Gnapheus (ca. 1493-1568) profilierteer sich als Melanchthonschüler und dezidiert antischwärmerischer Theologe. Unter seinem Einfluß ließ der Herzog Gnapheus in einem kanonisch geprägten Verfahren verurteilen und exilieren. Kritische Stellungnahmen dazu (u.a. auch von Melanchthon) führten am 7. Oktober 1548 zu Staphylus' Rücktritt von der theologischen Professur. Aus dem 1549 beginnenden Streit um die Theologie A. -»Oslanders hielt sich Staphylus heraus, doch kam es bei Versuchen, Preußen zur Annahme des -»Interim zu bewegen, zu Auseinandersetzungen um den Meßkanon, seine Rechtfertigungslehre und die Geltung der vox primae ecclesiae. Nach einer kurzen Tätigkeit als Griechischlehrer in Breslau, wo er die Ehe mit Anna Heß schloß, kehrte Staphylus im Herbst 1550 nach Königsberg unter der Bedingung zurück, frei zu sein, wenn der Herzog sich religiösen Ansichten zuwende, die „wider die heilige schrifft und primitivae apostolicae, et catholicae ecclesiae consensum" sein würden. Schon damals nämlich war Staphylus überzeugt, daß in Osianders Rechtfertigungslehre die Imputation geleugnet werde. In dem nun entbrennenden Streit scheiterten J. -»Mörlins Vermittlungsversuche an Staphylus* entschiedenem Widerstand. Da der Herzog Osiander favorisierte, verließ Staphylus, noch bevor das Verfahren ad consensum ecclesiae überwiesen wurde, im August 1551 Königsberg und verfaßte in Danzig eine umfangreiche Schrift gegen Osiander (Synodus Sanctorum Patrum contra nova dogmata Andreae Osiandri, Nürnberg 1552), die sein theologisches Abrücken von der Reformation erkennen läßt. N a c h B r e s l a u z u r ü c k g e k e h r t , v e r f o l g t e e r in d e n D i e n s t e n d e s k i r c h e n p o l i t i s c h u n e n t s c h i e d e n e n B i s c h o f s B a l t h a s a r v o n P r o m n i t z ( 1 5 3 9 - 1 5 6 2 Bischof v o n Breslau) S c h u l p l ä n e . In finanzielle B e d r ä n g n i s g e r a t e n , v o l l z o g S t a p h y l u s i m S e p t e m b e r 1553 d i e „ R ü c k kehr zur K i r c h e " , die von Kardinal - » H o s i u s finanziell u n d mit einem Stellenangebot honoriert wurde. Doch blieb Staphylus zunächst am Bischofshof in Neisse und entfaltete kräftig gegenreformatorische Aktivitäten (Unterhaltung einer Buchdruckerei in Neisse; Versuch der Gründung eines Priesterseminars; Kontakt zu den Jesuiten in Wien, u.a. P. -»Canisius). Seit 1555 als Consiliarius König -»Ferdinands in die kaiserliche Religionspolitik einbezogen, nahm er 1557 am Wormser Religionsgespräch (vgl. T R E 28,661,29-662,32) teil, dessen Eklat er in seiner Schrift Trimembris Epitome Theologiae Lutheranae (1558) publizistisch wirkungsvoll zur grundsätzlichen Abrechnung mit der Theologie der Reformation nutzte, und war auch an dem dem Trienter Konzil (-»Tridentinum) eingereichten Reformationslibell beteiligt. Seit 1558 auch Rat Herzog Albrechts V. von Bayern (1528-1579), wurde er 1559 aufgrund päpstlichen Dispenses zum Doktor der Theologie

114

Staphylus

promoviert, an die Universität -»Ingolstadt berufen und als Superintendent zuständig für ihre jesuitische Reform.

Die beratende Teilnahme am Trienter Konzil lehnte er ab. Er starb, schon lange ein offenbar kränkelnder Mann, 1564. 2. Werk Als reformatorischer Theologe verbindet Staphylus grundlegende reformatorische Lehren (u.a. Unterscheidung von Gesetz und Evangelium; das verbum externum als ausschließliches Gnadenmittel) mit augustinischen Aussagen (dreistufiger ordo salutis; das Verständnis der Gnadenwirkung als ein Heilen des Willens, jedoch ohne daß ihm eine Mitursächlichkeit am Heil zukommt) und aristotelischer Schulterminologie. Formalursache der -»Rechtfertigung ist die einwohnende Gerechtigkeit Christi samt der durch sie bewirkten dispositionellen Erneuerung in Glaube und Hoffnung; ihr effectus sind daraus resultierende Akte der Liebe. Die imputatio iustitiae sichert angesichts der fragmentarischen Erneuerung das erworbene Heil in der durch den Glauben geschehenden Verbindung mit Christus. Staphylus ist damit dem Kreis der „Vermittlungstheologen" zuzurechnen, die einerseits die Sündhaftigkeit des Menschen und sein bleibendes Angewiesensein auf Christus, andererseits das tatsächliche Wirksamwerden der Gnade in der Liebe theologisch verankern wollen. Staphylus' Verständnis des Wortes Gottes gründet in der Augustinischen Zeichenhermeneutik, wonach dem Wort Gottes die sufficientia ad salutem zukommt, sich das geistgewirkte Verstehen der biblischen Wahrheit aber in der Übereinstimmung mit der Tradition manifestiert (Konsens als testimonium veritatis)-, so konnte er sich in Übereinstimmung mit Melanchthons Traditionalismus wähnen. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Osiander wird einerseits (anknüpfend an Eph 2,8f. „wir sind seine Werke") gegen dessen Ein wohnungslehre der Zusammenhang der göttlichen mit der menschlichen Gerechtigkeit nicht mehr als formaler, sondern als Wirkzusammenhang aufgefaßt (Rechtfertigung als Übermittlung einer gratia creata) und so die Brücke zum Thomismus geschlagen, andererseits der Konsens als notwendiges Wahrheitskriterium betrachtet und der -»Schrift die -»Tradition als Gewißheit gewährend beigeordnet (Synodus Sattctorum Patrum, Vorwort). Publizistisch dezidiert antireformatorisch tritt Staphylus erst nach seiner Konversion und dem Regensburger Religionskolloquium von 1557 hervor. Kurz und schlagkräftig zählt die Trimembris Epitome (1558) die internen Lehrdifferenzen der Reformation propagandistisch wirkungsvoll auf (Kap. 2) und versteht sie als Folge ihrer ungenügenden formalen Grundlegung (Kap. 1), deren Konsequenz inhaltliche Beliebigkeit und die zunehmende Selbstauflösung sei („Ketzertafel", Kap. 3). Unter einem vorgeschobenen Schriftprinzip herrschten in Wahrheit das Autoritätsprinzip und die Willkür subjektiver Meinungen. Auf die fundamentaltheologische Frage nach den Prinzipien der Theologie als Wissenschaft im aristotelischen Sinne bleibt sein ganzes Werk bezogen, das erst in Auseinandersetzung mit Melanchthon (Defensio, 1560) und - nach dessen Tod 1560 mit J. -»Andreae voll entfaltet wird (Christlicher Gegenbericht, 1561). Ins Zentrum rückt die kirchliche Tradition als zweites, die Schrift nicht ergänzendes, aber vergewissernd auslegendes Prinzip der Theologie, das (entgegen der der Reformation vorgeworfenen Partikularisierung) das Erfassen des ganzen Glaubens und damit Katholizität ermögliche. 3. Wirkung Staphylus' Schriften, durch Laurentius Surius (1522-1578) auch ins Lateinische übersetzt, kommt für den Prozeß der katholischen Konfessionalisierung eine zweifache Bedeutung zu. Sie belegten nicht nur detailliert das propagandistisch wirkungsvolle „häßliche" Gesamtbild einer in sich zerstrittenen Reformation, sondern trugen auch zur

Statistik

115

Erneuerung und Festigung eines dezidiert katholischen Selbstbewußtseins bei, indem sie ein attraktives und plausibles Bild des katholischen Glaubens entwarfen, für den die Kirche in diachroner und synchroner Dimension Universalität, Einheit und Gewißheit verbürge. Direkt und indirekt wurde damit die evangelische Seite zur Reaktion gezwungen. M. -»Chemnitz, der Staphylus von seinem Königsberger Theologiestudium her kannte, und J . Andreae, der die Last der publizistischen Kontroverse mit ihm trug, bemühten sich um das Konzept eines evangelischen Konsenses (vgl. Vorrede zur Konkordienformel, 1578). Der Hebraist M . -»Flacius Illyricus verteidigte mit seiner Clavis Scripturae Sacrae (1567) und Glossa Compendiaria (1570) das Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift und suchte mit dem Catalogus testium veritatis (1556, 1562) die Übereinstimmung der evangelischen mit der allgemeinen Glaubenswahrheit aller Zeiten aufzuweisen. Quellen Friderici Staphyli, Caesarii quondam Consiliarii, in causa religionis sparsim editi libri, in unum vol. digesti, Ingolstadt 1613. - Disputatio contra Circumcelliones, Königsberg 1548. - Synodus Sanctorum Patrum Antiquorum contra nova dogmata Andreae Osiandri, Nürnberg 1552. — Paul Tschackert, Urkundenbuch zur Reformationsgesch. des Herzogthums Preußen, 3 Bde., Leipzig 1890 = Osnabrück 1965. Zum Nachweis v. Einzeldrucken vgl. Walter Klaiber, Kath. Kontroverstheologen u. Reformer des 16. Jh. Ein Werkverz., 1978 (RGST 116).

Literatur Gustav Bauch, Gesch. des Breslauer Schulwesens, 2 Bde., Breslau 1 9 0 9 - 1 9 1 1 . - Benno v. Bundschuh, Das Wormser Religionsgespräch v. 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik, 1988 ( R G S T 124). - Jörg Rainer Fligge, Herzog Albrecht v. Preußen u. der Osiandrismus 1522-1568, Diss. Bonn 1972. - Winfried Kausch, Gesch. der Theol. Fak. Ingolstadt im 15. u. 16. Jh. (1472-1605), Berlin 1977. - Ute Mennecke-Haustein, Die Konversion des Friedrich Staphylus zur kath. Kirche, HabSchr. Göttingen 1997 (Lit.). - Carl Prantl, Gesch. der LudwigMaximilians-Univ. in Ingolstadt, Landshut, München, 2 Bde., München 1872. - Alfred Sabisch, Das Hirtenschreiben des Breslauer Bischofs Balthasar v. Promnitz an den Klerus u. die Weihekandidaten vom Jahre 1555, seine Veranlassung u. seine Folgen: ASKG 8 (1950) 7 7 - 1 0 4 . - Theodor Sickel, Das Reformations-Libell des Kaisers Ferdinand vom Jahre 1562 bis zur Absendung nach Trient: AÖG 45 (1871) 1 - 9 6 . - Johannes Soffner, Friedrich Staphylus. Ein kath. Kontroversist u. Apologet aus der Mitte des 16. Jh., gest. 1564, Breslau 1904. - Martin Stupperich, Osiander in Preußen 1549-1552, 1973 (AKG 44). - Paul Tschackert/Wilhelm Möller t , Art. Staphylus, Friedrich: RE 1 18 (1906) 7 7 1 - 7 7 6 . - Hermann Tüchle, Erste Versuche der Kath. Wiedererneuerung in Schlesien. Eine Denkschrift des Friedrich Staphylus: Reformata Reformanda. FG f. Hubert Jedin, hg. v. Erwin Iserloh u. Konrad Repgen, II 1965 (RGST.S 1/2) 1 1 4 - 1 2 9 .

Ute Mennecke-Haustein

Statistik,

Kirchliche

1. Vorformen 2. Die amtliche Statistik der evangelischen Kirche in Deutschland in anderen Kirchen (Quellen und Literatur S. 119)

3. Statistik

Kirchliche Statistik ist die methodische Beobachtung der Erscheinungen und Zustände des kirchlichen Lebens. Dazu gehören insbesondere die Zusammenstellung, wissenschaftliche Bearbeitung und Veröffentlichung entsprechender statistischer Erhebungen für die Planungsaufgaben der -»KirchenVerwaltung, aber auch die Förderung der Kirchenkunde durch Erhebungen, Beobachtung kirchlicher Bewegungen und Veröffentlichungen (vgl. Bekanntmachung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, betreffend das Kirchenstatistische Amt vom 2. Januar 1923: AKED 1923, 58). Diese Definition aus den Anfangszeiten kirchenamtlicher Statistik hat ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren, wenngleich Datengewinnung und -interpretation heute bei weitem den Schwerpunkt statistischer Arbeit darstellen.

116 1.

Statistik Vorformen

Statistische „Erhebungen" sind uralt. Schon aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. wird uns über solche einmaligen oder wiederholten Maßnahmen berichtet, die von der weltlichen Obrigkeit angeordnet wurden. Die mittelalterlichen Stadtverwaltungen legten in ihren Archiven, vor allem in den Chroniken und Stadtbüchern, ein umfangreiches statistisches Material nieder. Die ältesten noch vorhandenen Matrikel der katholischen Kirche, in denen Trauungen, Taufen und Bestattungen angegeben sind, stammen aus dem 14. Jh. Evangelische Kirchenbücher reichen bis ins 16. Jh. zurück. Die moderne Statistik als Wissenschaft hat ihren Ursprung einerseits in der im 17. Jh. entstandenen „Universitätsstatistik", der Lehre von den „Staatsmerkwürdigkeiten". In der Literatur wird der so verstandene Begriff „Statistik" sowohl als „Staatskunde" als auch als „Lehre vom Status" interpretiert, die sich zunächst mit der systematischen Massenbeobachtung zur (verbalen) Beschreibung von Zuständen befaßt. Auch die kirchliche Statistik folgt in ihren Anfängen diesem historisch-geographischen Ansatz und wird als eine umfassende Ausformung der Kirchenkunde verstanden. Statistische Daten sucht man in dem von Johann Christian Wilhelm Augusti 1837 veröffentlichten Werk Beyträge zur Geschichte und Statistik der evangelischen Kirche daher vergeblich. Eingang in die theologische Wissenschaft findet die kirchliche Statistik vor allem durch ED.E. -•Schleiermacher, der wiederholt Vorlesungen über dieses Thema hielt. In seiner Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (hg. v. Heinrich Scholz, Leipzig 1919) schrieb er: „Die Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der Statistik. Erst seit kurzem ist dieser Gegenstand in gehöriger Anordnung disziplinarisch behandelt worden, daher auch, sowohl was Stoff, als was Form betrifft, noch vieles zu leisten übrig ist" (§ 95; vgl. auch §§ 195; 233). „Die bloß äußerliche Beschreibung des Vorhandenen ist für diese Disziplin, was die Chronik für die Geschichte ist" (§246). Mit Weitblick erkennt er: „Durch besondere Beschäftigung mit diesem Fach ist noch vieles zu leisten, sowohl was den Stoff anlangt, als was die Form. Die neueste Zeit hat zwar viel Material herbeigeschafft; aber es ist selten aus den rechten Gesichtspunkten aufgefaßt. Und umfassendere Arbeiten gibt es noch so wenige, d a ß die beste Form noch nicht gefunden sein k a n n " (§245).

Auch J. Wiggers vertritt in seinem zweibändigen Werk Kirchliche Statistik oder Darstellung der gesammten christlichen Kirche nach ihrem gegenwärtigen äußeren und inneren Zustande unter Berufung auf Schleiermacher den kirchenkundlichen Ansatz. Für ihn ist kirchliche Statistik „die wissenschaftliche Darstellung der gegenwärtigen Kirche, nach dem vollen Umfange ihrer räumlichen Ausbreitung wie nach dem vollen Inhalte ihres erscheinenden Lebens. Es handelt sich daher nicht um ein dürres Verzeichnis von bloßen Namen und Zahlen, nicht um eine nackte Kopfzählung" (Wiggers I, IV). „Die Statistik der Kirche ist gleichsam ein Querschnitt ihrer Geschichte, ein Blick auf die vorliegende Breite der Entwicklung, deren Länge die Kirchengeschichte ins Auge f a ß t " (ebd. 6). Eine andere Wurzel der modernen Statistik, die „Politische Arithmetik", geht von Zahlen aus, die zu systematischen Berechnungen verwendet werden. Lange Zeit hindurch lieferten die Kirchenbücher das hauptsächliche Material für solche Art von Statistik, und darum sind auch Theologen in besonderer Weise an der Entwicklung dieser Wissenschaft beteiligt. Der bedeutendste Vertreter der Politischen Arithmetik in Deutschland war Johann Peter Süßmilch (1707-1767), ein Feldprediger Friedrichs des Großen (17401786), der mit dem Nachweis des gesetzmäßigen Verlaufs natürlicher demographischer Vorgänge in seinen 1741 erschienenen Betrachtungen über die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung derselben erwiesen einen Gottesbeweis erbringen wollte. 2. Die amtliche Statistik der evangelischen

Kirche in

Deutschland

Die organisierte amtliche Statistik nahm zu Beginn des 19. Jh. ihren Anfang. Als erster deutscher Staat richtete Bayern 1801 ein besonderes Büro für statistische Erhe-

Statistik

117

bungen ein, aus dem 1833 das dortige Statistische Landesamt entsteht. Die protestantische Kirche Bayerns erstellt wenige Jahre später regelmäßig Jahrestabellen über Geborene, Konfirmierte, Kommunikanten, Getraute, Geschiedene und Gestorbene. Der Grundstein einer kirchlichen Statistik des „ganzen evangelischen Deutschlands" wird auf der 5. Deutschen Evangelischen Kirchen-Conferenz 1859 in Eisenach gelegt. Hier machen einige landeskirchliche Vertreter deutlich, daß nicht nur der Staat ein (damals noch stärker als heute ausgeprägtes) Interesse am Verhalten der Menschen zur Religion und Kirche haben könne. Auch die Kirchen selbst müßten an einer „Darstellung der auf den Zustand einer Kirche sich beziehenden Tatsachen" (Protokolle [1859] 143) interessiert sein, um daraus ein klareres Verständnis ihrer bereits erfolgten Entwicklung zu gewinnen und einen Schluß auf die voraussichtliche spätere Entwicklung ziehen zu können. Erst dadurch werde man befähigt, die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen, ihre Ursachen und ihre Wirkungen herauszufinden und richtig zu ermessen. Folgerichtig beschließt die Kirchenkonferenz, „daß das in den einzelnen Ländern bereits vorhandene, von dem Vorstande zu erbittende Material einem anerkannten Statistiker übergeben und dieser veranlaßt werde, dasselbe zusammenzustellen und zugleich Vorschläge zu machen, wie dasselbe im Interesse der Kirche benutzt werden möchte" (ebd. 23). Die gemeinsame kirchliche Statistik für das gesamte evangelische Deutschland ist damit aus der Taufe gehoben. Die erste Erhebung wurde für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1862 mit einem „Formular zu kirchlich-statistischen Notizen, betreffend die deutsche evangelische Bevölkerung" durchgeführt, mit dem bei allen Parochien die Zahl der evangelischen Einwohner, ihr Anteil an der Bevölkerung, die Zahl der Geistlichen, die Einkommen der Kirchenstellen, Taufen, Konfirmationen, Trauungen und ohne evangelische Trauung abgeschlossene Ehen evangelischer Einwohner, Ehescheidungen und wiederverheiratete Geschiedene, zur evangelischen Kirche Übergetretene und aus der evangelischen Kirche Ausgetretene, Kommunikanten und Beerdigungen, zum Teil mit weiteren Untergliederungen, erfragt werden. 1865 werden die Ergebnisse über den Buchhandel veröffentlicht. Die nächste allgemeine statistische Erhebung fand erst 18 Jahre später statt. Hierfür wurden zwei Fragebogen vorgelegt: Tabelle I über „Umfang und Einrichtungen der Kirchenkreise", die von da an alle zehn Jahre läuft, und Tabelle II über „Äußerungen des kirchlichen Lebens", die seit 1890 bis heute jährlich unter diesem Namen erhoben wird. Die einzelnen Landeskirchen führten die Erhebungen bei ihren Gemeinden durch und lieferten fertige Tabellen nach Berlin, wo der Evangelische Oberkirchenrat die Aufrechnung besorgte. 1923 übernahm das Kirchenstatistische Amt im Kirchenbundesamt in Berlin diese Aufgabe, die heute vom Statistikreferat des Kirchenamtes der -»Evangelischen Kirche in Deutschland fortgeführt wird. Im Laufe der Zeit gerieten weitere Themenkreise ins kirchenstatistische Blickfeld: Die Erhebungen über geistliche Stellen und Kräfte, Besetzung der Stellen, Lebens- und Dienstalter ausscheidender Pfarrer und den Kandidatennachwuchs (Tabellen III, IV und V) werden bis heute fortgeführt und als Tabelle III „Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Ausbildung zum Pfarrdienst, Pfarrstellen und Theologen" jährlich bei den zentralen Verwaltungsstellen der Landeskirchen abgefragt. Tabelle VI über die kirchliche Bautätigkeit wurde bis 1976 jährlich erhoben und dann eingestellt. Ebenfalls keinen Bestand hatte die Ermittlung der freiwilligen Zuwendungen (Tabelle VII), die lediglich von einigen Landeskirchen fortgeführt wird. Neben den alteingeführten Statistiken gehören zum aktuellen Arbeitsprogramm der kirchlichen Statistik Erhebungen in sechsjährigem Turnus über die Wahl und Zusammensetzung der Kirchenparlamente (Tabellen IV a bis IV c) sowie die Erhebung über Bestand und Nutzung kirchlichen Grundbesitzes (Tabelle V), die zuletzt 1986 durchgeführt wurde. Wichtige Fragenkreise, die von der amtlichen Statistik für die öffentliche Verwaltung regelmäßig erhoben werden, fristen in der kirchlichen Statistik eher ein Schattendasein, obwohl der Kenntnis dieser Daten hier nicht weniger Bedeutung zukäme: Die Zahl der nichtgeistlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde nur einmal 1973 umfassend ermittelt. Finanzstatistiken für den Gesamt-

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Statistik

bereich der EKD finden in sehr großen zeitlichen Abständen statt (1979, 1984 und 2000). Seit Beginn der siebziger Jahre wird jährlich eine Kirchensteuerstatistik durchgeführt, deren Ergebnisse bis auf wenige Eckdaten dem innerkirchlichen Dienstgebrauch vorbehalten sind. Die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete für die gesamtdeutsche kirchliche Statistik eine Zäsur. Z w a r umfaßte die EKD bis zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK DDR) im Jahr 1969 alle evangelischen Landeskirchen. Die Ermittlung kirchenstatistischer Daten für die östlichen Gliedkirchen gelang jedoch nur bis einschließlich 1960 und wurde im Laufe der Jahre immer lückenhafter. Ab 1961 wurden auf EKD-Ebene ausschließlich Daten für die westlichen Gliedkirchen erhoben und veröffentlicht. Nur wenige östliche Gliedkirchen (z. B. die heutige Evangelische Kirche der schlesischen Oberlausitz [-»Schlesien II]) führten die Tradition der kirchlichen Statistik aus eigener Initiative fort. Auch der BEK DDR hielt die Wiedereinführung allgemeiner kirchenstatistischer Erhebungen nicht für erforderlich. So hat die Wiederherstellung der Einheit der EKD 1991 die kirchliche Statistik vor besondere Aufgaben gestellt. Erst beinahe zehn Jahre später gelingt es allmählich, einheitliche Daten aus Ost und West zu ermitteln und gemeinsam zu veröffentlichen. Die amtlichen Ergebnisse der kirchlichen Statistik werden - in den Anfangsjahren als reine Zahlenübersichten - zunächst im Allgemeinen Kirchenblatt für das Evangelische Deutschland, dann im Gesetzblatt der Deutschen Evangelischen Kirche und heute im Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlicht. Eine textliche Auswertung erfolgt außerdem jährlich im 1894 gegründeten Kirchlichen Jahrbuch. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit werden darüber hinaus kurze statistische Übersichten und Broschüren eingesetzt, die wichtige Informationen in leicht verständlicher Form darbieten. Daneben hat sich ein umfangreiches Auskunftswesen entwickelt, das bei der Recherche und Zusammenstellung von Statistikmaterial für wissenschaftliche Zwecke behilflich ist. Außerdem bedient man sich heute zur Verbreitung von Zahlen aus dem kirchlichen Bereich auch der modernen Medien. Unter den Internet-Adressen von EKD und Diakonischem Werk können jeweils die aktuellsten Daten online abgerufen werden. Kirchliche und staatliche Statistik arbeiten seit jeher Hand in H a n d . So ist die Konfessionsstatistik traditionell eine Angelegenheit des Staates, die sich zum Teil bis heute erhalten hat. Viele bevölkerungsstatistische Merkmale werden nach wie vor nach der Religionszugehörigkeit erfaßt. Damit ist die (staatliche) „Amtliche Statistik" eine wichtige Quelle für die Fortschreibung der Kirchenmitgliederzahlen. Z u r Ermittlung von Trau-, Tauf- und Bestattungsziffern werden die demographischen Bezugsgrößen bereitgestellt. Angaben über Theologiestudierende an wissenschaftlichen Hochschulen und abgelegte Examina liefern wichtige Informationen für die Personalplanung im Pfarrdienst. Die in dreijährigem Rhythmus stattfindende staatliche Lohn- und Einkommensteuerstatistik dient der Verteilung der Kirchensteuereinnahmen auf die Landeskirchen in gleicher Weise wie der Festlegung der Zerlegungsanteile der den Wohnsitz-Bundesländern zustehenden Lohnsteuerbeträge. Für innerkirchliche Planungen werden auf der Grundlage der amtlichen Bevölkerungsvorausberechnung in größeren zeitlichen Abständen Berechnungen der voraussichtlichen Entwicklung der Kirchenmitgliederzahl angestellt. Im Gegenzug zu dieser vielfältigen Nutzung staatlicher Daten veröffentlicht das Statistische Bundesamt in seinem Statistischen Jahrbuch regelmäßig Angaben der beiden großen Volkskirchen über deren Mitgliederzahlen, die Amtshandlungen und die Kirchensteuereinnahmen. 3. Statistik in anderen

Kirchen

In der katholischen Kirche können als erste Versuche kirchenstatistischer Auswertungen die Diözesanschematismen angesehen werden, die in einzelnen Diözesen bis ins 18. Jh. zurückgehen. Sie enthalten in der Regel wenigstens die Zahl der Gläubigen, der Seelsorgebezirke sowie der Priester und Ordensleute. Amtliche kirchenstatistische Zu-

Staupitz

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sammenstellungen hat es dort dagegen auch im 19. Jh. noch nicht gegeben. Mit der Gründung des Kirchlichen Handbuchs werden von der katholischen Kirche 1908 erstmals Konfessionsstatistiken veröffentlicht, die vom Kaiserlichen Statistischen Amt erhoben wurden. Durch Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz 1909 wird eine provisorische Zentralstelle in Breslau eingerichtet, die von 1909 an - zunächst mit mäßigem Erfolg - in sämtlichen Pfarreien Deutschlands nach einem gleichartigen Schema amtliche statistische Erhebungen über den Stand und die Bewegung der katholischen Bevölkerung, die Seelsorgegeistlichkeit und den Sakramentsempfang durchführen soll. 1915 wird die Amtliche Zentralstelle für Kirchliche Statistik des katholischen Deutschlands in Köln gegründet, die bis 1975 mit der Durchführung der kirchlichen Statistik betraut ist und nunmehr das Kirchliche Handbuch. Amtliches statistisches Jahrbuch der katholischen Kirche Deutschlands herausgibt. Seit 1978 ressortiert die Statistik beim Sekretariat. Das amtliche Publikationsorgan der katholischen Kirchenstatistik ist weiterhin das Kirchliche Handbuch. Auch die christlichen Kirchen im Ausland erheben statistische Daten. Allgemein verbreitet ist dabei die Erfassung der Kasualien, des Gottesdienstbesuchs und der Finanzen. Während die skandinavischen Kirchen außerdem über eine umfassende Mitgliederstatistik verfügen, sucht man Gemeindegliederzahlen bei der -»Kirche von England vergebens. Allgemein verfügbar sind viele dieser Statistiken heute im Internet auf den Homepages der Kirchen. Statistische Angaben kirchenkundlicher Art finden sich auch in den einzelnen Länderartikeln. Quellen und Literatur Statistische Ergebnisse u. Abb.: AB1EKD 3 (1949) ff. (Statistische Beilagen). - AKED 8 (1859) - 85 (1936); fortgef. AEvKR 1 (1937) - 5 (1941). - GDEK.A, 1938-1944. - KH 1 (1907/08)ff. - KJ 1 (1874) ff. Johann Wilhelm Christian Augusti, Beyträge zur Gesch. u. Statistik der ev. Kirche, 3 Bde., Leipzig 1837-1838. - Annemarie Burger, Hundert Jahre statistischer Arbeit in der ev. Kirche: KJ 86 (1959) 338-350. - Dies., Art. Statistik, kirchl.: RGG 1 6 (1962) 338-341. - Franz Groner, Art. Statistik, kirchl.: LThK' 9 (1964) 1022f. - Christiane Kayser, Das Kirchengesetz über die Statistik im Lichte kirchenstatistischer Tradition u. im Kontext statistischer u. datenschutzrechtlicher Gesetzgebung: ZEvKR 39 (1994) 418 - 4 4 4 . - Protokolle der dt. ev. Kirchen-Conferenz in Eisenach 1859. - Protokolle der dt. ev. Kirchen-Conferenz in Eisenach 1861. - Johannes Schneider, Art. Statistik, kirchl.: Hb. f. das kirchl. Amt, hg. v. Martin Schian, Leipzig 1928, 584f. - Karl Friedrich Stäudlin, Kirchl. Geographie u. Statistik, 2. T., Göttingen 1804. - Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode u. der Fortpflanzung desselben, Berlin 1765. - Paul Troschke, Aus der Gesch. der Statistik, Aufgabe u. Arbeitsweise ev. Kirchenstatistik. Ev. Kirchenstatistik Deutschlands I, Berlin 1929. - Julius Wiggers, Kirchl. Statistik oder Darst. der gesammten christl. Kirche nach ihrem gegenwärtigen äußeren u. inneren Zustande, 2 Bde., Hamburg/Gotha 1842-1843. Christiane Kayser

Staupitz, Johann[es]

von (ca.

1468-1524)

1. Leben 2. Das literarische Werk 3. Das theologische Profil 5. Gesamtcharakteristik (Quellen/Literatur S. 126) 1.

4. Staupitz und Luther

Leben

Die besondere Bedeutung Johanns von Staupitz für die Kirchengeschichte liegt in seiner Schlüsselstellung am Übergang von der spätmittelalterlichen Reform zur Reformation. Er stammte aus Meißnischem Adel, geboren um 1467/68 auf dem Gut Motterwitz bei Leisnig (Sachsen). Seine für die Reformationsgeschichte folgenreiche Freundschaft mit Kurfürst -»Friedrich dem Weisen hat wohl ihre Wurzeln darin, daß sie sich von Jugend her kannten und vielleicht gemeinsam im nahen Grimma unterrichtet wurden. Sein Studium in Köln (Immatrikulation 1483),

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Staupitz

Leipzig und wieder Köln, also an Universitäten der Via antiqua, schloß er 1489 mit dem Grad des Magister artium ab. Wann Staupitz (zwischen 1489 und 1494) in die deutsche Reformkongregation der -»Augustiner-Eremiten eintrat, ist unbekannt. Er muß in einem der Generalstudien des Ordens Theologie studiert und soll im Münchener Konvent seine Profeß abgelegt haben. Wahrscheinlich von hier aus ging er 1497 als Ordenslektor an die Universität -»Tübingen, um auch die akademischen Grade des theologischen Lehrers zu erwerben. Bereits 1498 wurde er Baccalaureus biblicus und damit Mitglied des theologischen Lehrkörpers, 1499 Baccalaureus sententiarius, 1500 (6./7. Juli) Lizentiat und Dr. theol. Gleichzeitig war er Prior des Tübinger Augustinerklosters. Während dieser drei Universitätsjahre ist Staupitz wohl mehr als bisher mit der spätfranziskanischen, besonders scotistischen Lehrrichtung vertraut geworden. Für die Jahre 1500-1503 übernahm Staupitz das Priorat im Münchener Konvent, wurde aber vor Ablauf der Amtsperiode von Kurfürst Friedrich dem Weisen nach -»Wittenberg geholt, um ihn bei der Gründung der neuen Universität (1502) zu beraten. Er erhielt die Bibelprofessur an der theologischen Fakultät und wurde deren erster Dekan. Eigenarten der Wittenberger Universität gingen offensichtlich auf seinen Einfluß zurück: so die Wahl -»Augustins zum Patron und die weitgehende Übernahme der Tübinger Statuten. Die humanistischen Studien an der Universität wurden von ihm gefördert, obwohl er selbst bei aller Aufgeschlossenheit für die humanistischen Bildungsziele kein Humanist war. Am 7. Mai 1503 wurde Staupitz als Nachfolger von Andreas Proles (1429-1503) zum Generalvikar (Stellvertreter des Ordensgenerals) der observanten Augustiner-Eremiten Deutschlands und der Niederlande gewählt. Damit waren 30 Konvente seiner Verantwortung unterstellt. Gewissenhaft nahm er diese Aufgabe durch ausgedehnte Visitationsreisen wahr. Seine Sorge galt der Regelstrenge im Sinne einer verinnerlichten, aus dem Geist brüderlicher Liebe und apostolischer Armut gelebten Observanz. Diesem Ziel diente auch die Abfassung gesonderter Ordenskonstitutionen für die Reformkongregation (s.u. 2.3.). Nach dem späteren Zeugnis -»Luthers (WA.TR 5, Nr. 5346; vgl. 5374) hat Staupitz die Konvente zu eifriger Bibellektüre angehalten. Im Winter 1506/ 07, als er in Italien weilte (und die päpstliche Bestätigung der Universität Wittenberg erwirkte), besprach er wohl mit dem neuen Ordensgeneral -»Egidio da Viterbo das Vorhaben, die Reformkongregation mit der sächsisch-thüringischen Ordensprovinz unter einem gemeinsamen Oberen zu vereinen. So sollte den Rivalitäten zwischen Provinz und Kongregation ein Ende bereitet, die Ordenseinheit gestärkt und die Observanz zum Sauerteig der Reform gemacht werden. O b w o h l die Vereinigung durch eine päpstliche Bulle (vom 15. Dezember 1507) angeordnet und Staupitz auf einer zweiten Romreise im Frühjahr 1510 vom Ordensgeneral als Provinzial der sächsisch-thüringischen Provinz (in Personalunion mit dem Amt des Generalvikars) bestätigt wurde, so daß ihm nun über 50 Konvente unterstanden, war der Plan nicht zu verwirklichen. Er scheiterte am zähen Widerstand sieben reformierter Konvente, die um den Standard ihres observanten Klosterlebens fürchteten (in ihrem Auftrag reiste Luther 1510/11 nach Rom). Staupitz, für den eine Haltung der kompromißbereiten Versöhnung und der Reform des inneren Menschen Vorrang vor energisch betriebener Reformpolitik hatte, verzichtete im Frühjahr 1512 auf den Unionsplan. Im Herbst dieses Jahres gab er seine Wittenberger Professur auf, um — entlastet von universitären Pflichten und reformpolitischen Anstrengungen - als Visitator, Prediger und geistlicher Schriftsteller zu wirken. Mit Predigten in Nürnberg, Salzburg und München wandte er sich nun auch, ebenso wie in seinen jetzt deutschsprachigen (bzw. sogleich ins Deutsche übersetzten) erbaulichen Schriften, an ein größeres Laienpublikum. Damit relativierte er die Grenzen zwischen Ordensreform und Reform von Kirche und Welt, zwischen Ordens- und Laienspiritualität. In der Reichsstadt Nürnberg predigt er während der Advents- und Fastenzeit 1516/17 mit solchem Erfolg, daß sich ein StaupitzFreundeskreis (Sodalitas Staupitzianä) bildet, dem vornehme Bürger angehören (zu den Personen vgl. H a m m , Ethik 133-143). M a n feiert ihn als „einen Schüler, ja die Zunge des Apostels Paulus" und „Herold des Evangeliums" (ebd. 136 Anm. 289). Seit Ende 1511 hielt sich Staupitz nirgendwo so oft und lange auf und predigte an keinem Ort so häufig wie in Salzburg. Fast jährlich, nachweisbar von der Passionszeit 1512 bis zur Passionszeit 1520 (mit Ausnahme 1517), vertrat er mit Zyklen von Fasten- und/oder Adventspredigten den sog. Stiftsprediger in der Stadtpfarrkirche. Adressat der Predigten war somit die Salzburger Bürgergemeinde, aber auch der Frauenkonvent der Benediktinerabtei St. Peter, der seinen Chor in der Stadtpfarrkirche hatte. Von den Petersfrauen wurden Staupitz' Predigten dieser Jahre und der Fastenzeit 1523 vollständig oder teilweise aufgezeichnet. Nach Beginn des Ablaßstreits geriet Staupitz als Luthers Vorgesetzter so unter Druck, d a ß er auf dem Eislebener Kongregationskapitel am 28. August 1520 sein Amt als General vikar niederlegte. Z u seinem Nachfolger wurde Wenzeslaus Linck (1483—1547) gewählt. Staupitz zog sich nach Salzburg zurück. Er suchte, dem geistlichen Ideal der „Gelassenheit" entsprechend, äußere und innere Ruhe in der Distanz zum Kampf um Luther, ohne sich von ihm und seiner Theologie zu distanzieren. Vor diesem Hintergrund wird man wohl auch den ungewöhnlichen Schritt sehen, d a ß er im April 1522 in den Benediktinerorden übertrat, also aus einem strengeren in einen „laxeren" Orden. O b dies aus eigenem Antrieb geschah und wieweit dabei der Wunsch des Papstgünstlings M a t t h ä u s

Staupitz

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Lang (1468-1540) - zu dem Staupitz ein gutes Verhältnis hatte - im Spiel war, ist unbekannt. Der Salzburger Kardinal hat jedenfalls kräftig Einfluß darauf genommen, daß Staupitz im August zum Abt (Johannes IV.) des Klosters St. Peter in Salzburg gewählt wurde. Auch als Abt blieb er dem Predigen (zumindest vor den Petersfrauen), der deutschsprachigen erbaulichen Schriftstellerei und seiner bisherigen Theologie treu. Er starb am 28. Dezember 1524 und wurde in der Veitskapelle (Marienkapelle) von St. Peter beigesetzt (zeitgenössische Grabplatte mit lateinischen Distichen; Text bei Sallaberger, Abt 329; Abb. ebd. 97). 2. Das literarische

Werk

S t a u p i t z ' P r e d i g t e n u n d T r a k t a t e g e h ö r e n in d e n Bereich d e r „ F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e " , d . h . sie w o l l e n d u r c h U n t e r r i c h t u n g , W e i s u n g u n d T r o s t zu f r o m m e r L e b e n s p r a x i s a n l e i t e n . U n i v e r s i t ä t s t h e o l o g i e k o m m t n u r z u m T r a g e n , s o w e i t sie d i e s e r A u f g a b e d i e n t . Bietet d e r A u t o r in s e i n e m ersten - n o c h in d e n u n i v e r s i t ä r e n R a h m e n g e h ö r e n d e n - O p u s d e r T ü b i n g e r P r e d i g t e n e i n e Fülle v o n Q u e l l e n a n g a b e n (an d e r Spitze A u g u s t i n , g e f o l g t v o n - • G r e g o r d e m G r o ß e n , —»Ägidius v o n R o m , - » T h o m a s v o n A q u i n o , - » P e t r u s L o m b a r d u s u n d J . - » G e r s o n ) , so l ä ß t er sie s p ä t e r f a s t völlig w e g u n d ersetzt sie d u r c h Bibelhinweise. A u c h d a r i n ist d e r S p r a c h - u n d D e n k s t i l n i c h t m e h r s c h o l a s t i s c h , s o n d e r n seelsorgerliche r b a u l i c h , g a n z a m G e s i c h t s p u n k t d e s H e i l s d i e n l i c h e n o r i e n t i e r t , a b e r m i t seiner bibelt h e o l o g i s c h e n K o m p o s i t i o n s w e i s e zugleich fein g e w o b e n u n d s e h r a n s p r u c h s v o l l . D i e f o l g e n d e Ü b e r s i c h t ü b e r d i e S c h r i f t e n o r i e n t i e r t sich — a b g e s e h e n v o n d e n B r i e f e n an der biographisch-chronologischen Ordnung. 2.1. Tübinger Predigten über Hiob. Die 34 gelehrten Predigten von 1497/98 brechen bei der Erklärung von Hi 2,10 ab. Sie waren als geschlossenes Corpus von Lesepredigten (vornehmlich) für Mönche bestimmt. Die Wahl des Vorbildes Hiob entspricht einer Konzentration auf die vertraucnsvoll-getröstete Annahme von äußerer und innerer Anfechtung in der Gleichförmigkeit mit Christus. - Kritische Edition des Staupitz-Autographs: Sämtl. Schriften I. 2.2. Decisio quaestionis de audientia missae in parochiali ecclesia dominicis et festivis diebus. Der noch im Bereich der akademischen Quästionenliteratur, an der Nahtstelle von Moraltheologie und Kanonistik, angesiedelte kleine Traktat erschien im Frühjahr 1500 als Staupitz' erste Druckschrift. - Kritische Edition: Sämtl. Schriften V. 2.3. Constitutiones fratrum Eremitarum sancti Augustini ad apostolicorum privilegiorum formam pro reformatione Alemanniae. Wieweit Staupitz persönlich an dieser Umarbeitung der Ordenskonstitutionen für den Bereich seiner Reformkongregation (s.o. 1.) beteiligt war, ist nicht zu klären; doch wurde das Werk nach Billigung durch die Kongregation (28. April 1504) in seinem Auftrag gedruckt. - Kritische Edition: Sämtl. Schriften V. 2.4. Salzburger Predigten 1512. Die Nachschrift der Petersnonnen enthält zwölf Predigten, die Staupitz während der Passionszeit in der Salzburger Stadtpfarrkirche gehalten hat. Sie behandeln die Leidensgeschichte Jesu, beginnend mit dem Abschied Jesu von seiner Mutter und endend mit Kreuzabnahme und Grablegung. - Kritische Edition durch Schneider-Lastin. 2.5. Ein büchlein von der nachfolgung des willigen sterbens Christi. Er ist der erste unter Staupitz' erbaulichen Traktaten (gedruckt 1515). Staupitz hat ihn der schwerkranken Gräfin Agnes von Mansfeld gewidmet. Als Anleitung zum heilsamen Sterben steht er in der Tradition der Arsmoriendi-Literatur (-»Ars moriendi), doch fällt das Gewicht nicht auf die aktive Vorbereitung des Christen, sondern auf sein Einbezogenwerden in die Wirkung des Sterbens Jesu am Kreuz. Betrachtung und Nachfolge der Passion führen ihn bis zur höchsten Stufe der mystischen „Gelassenheit", d.h. der allen Eigenwillen loslassenden Gottergebenheit. - Kritische Edition durch Knaake (SW I, 5 0 - 8 8 ) . 2.6. Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis. In dem Traktat hat Staupitz seine Nürnberger Adventspredigten (1516) zur kunstvoll gegliederten Summe paulinischer und augustinischer Theologie verarbeitet. Noch vor dem Nürnberger Erstdruck des lateinischen Originals erschien im Januar 1517 die deutsche Übersetzung Ch. Scheurls. Der ungewöhnliche Ansatz der Predigten bei der göttlichen Erwählung bedeutet, d a ß Staupitz, ausgehend von Rom 8 , 2 8 - 3 0 , das gesamte Christenleben mit seinen geistlichen Erfahrungen innerlicher Christusgemeinschaft (Kap. 15-24) im Extra nos der göttlichen Barmherzigkeit, der Inkarnation und des Leidens Christi verankert (Kap. 1 - 1 4 ) . - Kritische Edition der lateinischen und deutschen Fassung: Sämtl. Schriften II.

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Staupitz

2.7. Nürnberger Predigt- und Lehrstücke. Die teils ausführlich referierenden, teils nur einen Gedanken knapp exzerpierenden Aufzeichnungen der Fastenpredigten, die Staupitz im Frühjahr 1517 gehalten hat, stammen vom theologisch verständnisvollen Stadtschreiber L. -»Spengler. - Kritische Edition durch Knaake (SW I, 13-42). 2.8. Nürnberger Tischreden. Nach den gemeinsamen Mahlzeiten, die Staupitz und sein Freundeskreis (s.o. 1.) zwischen Mitte November 1516 und Mitte April 1517 im Augustinerkloster einnahmen, hat Spengler diese teils theologisch-seelsorgerlichen, teils lebensklugen und launigen Aussprüche des Augustinervikars notiert. - Kritische Edition durch Knaake (SW I, 4 2 - 4 9 ) . 2.9. Von der lieb gottes. Den aus seinen Münchener Predigten der Adventszeit 1517 hervorgegangenen und Anfang 1518 gedruckten Traktat widmete Staupitz der Herzoginwitwe Kunigunde von Bayern. Er spricht darin von der Liebe, die Gott selbst ist und die durch das Wirken des Heiligen Geistes die Seele des Menschen gottliebend macht. Die Tradition der (Braut-)Mystik wird so umgeformt, daß in der Unio der Liebenden nur noch die absteigende Gnadenbewegung des sich selbst schenkenden Gottes zählt, durch die alle heilsame Veränderung und Tätigkeit der Kreatur ein Ausrichten auf vollkommenes Empfangen hin ist. - Kritische Edition durch Knaake (SW I, 88-119). 2.10. Salzburger Predigten 1518 in Auszügen. Die - wie alle Salzburger Predigtnachschriften - von den Benediktinerinnen des Petersklosters stammenden Aufzeichnungen enthalten Auszüge aus drei Fastenpredigten (von der Schreiberin - irrtümlich? - auf den Advent datiert) und, getrennt davon, aus Passionspredigten über Kohelet und die Leidensgeschichte. - Überlieferung: Cod. St.Peter b V 8 , fol. 6 1 r - 6 5 r und 6 6 r - 7 2 v ( = 1520 oder später angefertigte Abschrift der Predigtnachschriften); bisher ungedruckt und - wie auch die folgenden Nachschriften - ohne hinreichende wissenschaftliche Auswertung. 2.11. Salzburger Predigten 1519 in Auszügen. Exzerpte aus vier Predigten der Fastenzeit über die Abschiedsreden Jesu. - Überlieferung: wie Nr.2.10., fol. 7 3 r - 8 1 v ; bisher ungedruckt. 2.12. Salzburger Predigten 1520 in Auszügen. Exzerpte aus sechs Passionspredigten der letzten Tage vor Ostern über Hiob als „Figur" des Leidens Christi, damit „all klainmüetig menschen, die mit den inwendig leiden pekümert und angefochten werden, wol darin ainen trost finden" (fol. 83 r). - Überlieferung: wie Nr.2.10., fol. 8 3 r - 9 9 r sowie zwei spätere Abschriften in der Salzburger Benediktinerinnenabtei Nonnberg Cod. 23 D 4, früher 27 B17, fol. 3 6 r - 7 8 v (1540) und Cod. 23 C 4, früher 27 B 3, fol. 27 v - 6 1 r (1554); bisher ungedruckt. Kommentierte engl. Übersetzung von Markwald (1990). Kritische Edition von Nrn. 2 . 1 0 . - 2 . 1 2 . in Vorbereitung durch Schneider-Lastin. 2.13. Undatierte Salzburger Fastenpredigten. Nachschriften von acht und zweimal sieben Predigten aus der Fastenzeit zweier nicht genannter Jahre. - Überlieferung: Cod. Nonnberg 23 E* 16, früher 27 A30, fol. l r - 1 2 8 r ; vgl. Wolf 276f. Nr. 3; Verzeichnis der Predigtanfänge bei Lindner 243 - 245; bisher ungedruckt. 2.14. Consultatio super confessione fratris Stephani Agricolae. Das im Frühjahr 1523 verfaßte Gutachten betrifft den Augustiner-Eremiten, Doktor der Theologie, Prior des Klosters Rattenberg am Inn und Lutheranhänger Stephan Agricola (Kastenbauer) (1491 - 1 5 4 7 ) , der unter dem Vorwurf ketzerischer Lehren 1523/24 in Mühldorf am Inn gefangengehalten wurde und dort von einem Bevollmächtigten des Salzburger Erzbischofs verhört worden war. Staupitz' Beurteilung der Aussagen Agricolas ist milde und zurückhaltend: Er habe viel Wahres, aber auch Irriges oder Anmaßendes gelehrt und nur Weniges, was der Erbauung und dem Trost diene. - Kritische Edition: Sämtl. Schriften V. Ein zweiter, sehr scharfer Schriftsatz aus dem gleichen Prozeß (vom November 1523) stammt nicht, wie wiederholt behauptet wurde, von Staupitz. 2.15. Salzburger Predigten 1523. Nachschriften von 23 Predigten, die Staupitz während der Fastenzeit in der Siechenstube des Frauenklosters von St. Peter hielt. - Überlieferung: Cod. St. Peter b II 11, fol. l r - 2 3 5 r ; die ersten sieben wurden publiziert von Aumüller (Staupitz-Predigten; ders., Predigten); Auflistung aller Predigten nach den Perikopen bei Aumüller (Staupitz-Predigten 59 f.) und bei Lindner 241 f. Nachschrift einer Predigt, die Staupitz wieder im 2.16. Undatierte Salzburger Adventspredigt. Nonnenkloster, diesmal aber im Refektorium, hielt, als er den Frauen „die gemain peicht" zugesagt hatte (fol. 236r). - Überlieferung: wie Nr. 2.15., im Anschluß an die 23 Fastenpredigten: fol. 2 3 6 r - 2 4 6 v ; abgedruckt bei Kolde 4 5 2 - 4 5 6 . 2.17. Von dem heiligen, rechten christlichen glauben. Der wohl in Staupitz' letzter Lebensphase entstandene und postum 1525 gedruckte Traktat charakterisiert - unter dem Einfluß der Neuak-

Staupitz

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zentuierung des Glaubens in der lutherischen Theologie - den Glauben an Christus als alleinige Grundlage des Lebens der Erwählten. Zugleich aber betont er, daß die aus dem Glauben der Gottesliebe fließenden guten Werke „zu der Seligkait not und nütz" sind. Alle Kapitel entsprechen so genau den Gedanken und Formulierungen, die Staupitz in früheren Schriften vertreten hat, daß der gesamte Traktat als authentisch gelten muß. - Kritische Edition durch Knaake (SW1,119-136). 2.18. Briefe. Abgesehen von amtlichen Dokumenten des Augustinervikars und Benediktinerabts sind mindestens 23 Staupitz-Briefe erhalten, darunter die den Schriften vorangestellten Widmungsbriefe, Schreiben in Ordensangelegenheiten und vor allem Briefe, die sich mit der Luther-Sache beschäftigen. Adressaten sind u.a. die Herzöge von Mecklenburg, der fränkische Markgraf Kasimir, Kurfürst Friedrich der Weise und sein Rat G. -»Spalatin sowie die Ordensbrüder Johann Lang (ca. 1487-1548) und Wenzeslaus Linck. Den zwei Briefen an Luther vom 14. September 1518 und 15. April 1524 stehen zehn Briefe Luthers an ihn aus den Jahren 1518 bis 1523 gegenüber, doch sind viele Stücke aus diesem Briefwechsel wie aus der gesamten Staupitz-Korrespondenz verlorengegangen. In seiner spärlichen Hinterlassenschaft spiegelt sich das Schicksal des Mannes, der zwischen die konfessionellen Fronten geriet. Staupitz' Schriften kamen seit 1557 auf den römischen Index; 1584 übergab der Abt von St. Peter den persönlichen schriftlichen Nachlaß seines Vorgängers dem Scheiterhaufen (vgl. Sämtl. Schriftcn II, 10). 3. Das theologische

Profil

Der Schlüssel zum Verständnis der Staupitzschen Theologie von den Tübinger bis zu den späten Salzburger Jahren liegt nicht darin, d a ß sie einer bestimmten spätscholastischen Lehrrichtung außer- oder innerhalb des Augustinerordens zuzurechnen wäre. Alle Versuche einer solchen Verortung - bei E. Wolf: Via antiqua des T h o m a s von Aquino u n d Ägidius R o m a n u s , bei D. C. Steinmetz: N ä h e zur scotistisch-nominalistischen Lehre - blieben trotz beachtlicher Teilerkenntnisse unbefriedigend, weil sie an Staupitz' theologischer Hauptintention vorbeigingen. Was die Ordenstheologie der Augustiner-Eremiten betrifft, so ist zwar wahrscheinlich, d a ß Staupitz nicht n u r aus der älteren Schule des Ägidius R o m a n u s schöpfte, sondern mit seiner theologisch sehr exponierten Rezeption des antipelagianischen Augustin in enger Fühlung zur „ m o d e r n e n " Lehrrichtung des Gregor von Rimini stand (vgl. O b e r m a n , Werden; Schulze); doch n a h m er nie ausdrücklich darauf Bezug. Das Kampffeld der Lehr-„Wege" mied er und w a n d t e sich vom scholastischen Diskurs ab. Unter d e m Leitgestirn der humanistisch neu erschlossenen Werke Augustins bediente er sich, eigenwillig auswählend und k o m ponierend, unterschiedlicher patristischer, monastischer, scholastischer und mystischer Quellen, u m sein praktisch-seelsorgerliches Ziel zu erreichen. Die Intention lag darin, den Auserwählten Gottes die Grundlage, den Weg und das Ziel alles Guten, d a m i t aber zugleich den einzigen Trost und die alleinige Kraftquelle ihres geistlichen Lebens zu zeigen. Für Staupitz, dessen Theologie sich vorwiegend als Advents- und Passionspredigt darstellt, heißt das: den gesamten Weg des Menschen zum Heil ausschließlich in der Barmherzigkeit, Liebe und G n a d e Gottes zu verankern, die sich durch M e n s c h w e r d u n g und Passion Christi so mit d e m Elend der Menschen verbindet, d a ß der Weg der Sünder aus ihrer N o t ganz und gar zur schenkenden Bewegung Gottes wird. Wenn sie zum Glauben k o m m e n , G o t t zu lieben, an den eigenen Kräften zu verzweifeln u n d allein auf seine G n a d e zu vertrauen beginnen, seinen G e b o t e n gehorchen, in der Bereitschaft zu geduldigem Leiden und in der freudigen E r f a h r u n g der Liebesgemeinschaft mit Christus wachsen, ihm gleichförmig werden und sich so auf das ewige Heil zubewegen, dann ist das die Weise, wie Gottes Erbarmen, die Liebe des Gekreuzigten und die Kraft seines Geistes in ihnen zum Z u g e k o m m e n . Ganz anders als etwa sein älterer M i t b r u d e r J. von -»Paltz vertritt Staupitz eine stark verinnerlichte Theologie, f ü r die eine deutliche Reserve gegenüber dem äußeren Kirchenwesen, sogar gegenüber den Leistungen des Ordenslebens, charakteristisch ist. Entscheidend ist f ü r ihn der Geist, der in den - von ihm keineswegs geringgeschätzten - kirchlichen Institutionen lebendig ist, während ihm die Vorstellung von einer den Geist vermittelnden Sakralinstitution fremd ist. Auch die Verinnerlichung dient bei Staupitz d e m Ziel, den Geschenkcharakter des christlichen Lebens hervorzuheben, indem

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Staupitz

er — gut augustinisch — das Gewicht darauf legt, daß Gott selbst alles Heilsame in der Seele des Menschen wirkt. Diese Denkweise mit ihren mystischen Ingredienzen ist ganz auf das Individuum, auf die unmittelbare, persönliche Beziehung der Seele zu ihrem Bräutigam Christus, konzentriert; erst von dieser Grundbeziehung her kommen die Umrisse einer spirituellen Ekklesiologie (Kirche der Erwählten) in den Blick. Mit seiner außergewöhnlichen Neuinterpretation Augustins hat Staupitz nicht nur junge Theologen seines Ordens wie Luther, Linck, Johannes Lang und Kaspar Güttel (1471-1542) beeindruckt, sondern auch entscheidenden Einfluß auf die Wende seines Wittenberger Kollegen A. Karlstadt von der scholastischen Theologie zu einem gnadentheologischen Augustinismus mit spiritualistischen Zügen genommen. Staupitz hatte schon in den Tübinger Predigten einen scharfen Blick für problematische Zustände der Kirche, wie seine völlig desillusionierte Papst- und Prälatenkritik zeigt. Doch entspricht es seinem Z u g zur Verinnerlichung und seiner Spiritualität der Gelassenheit, daß diese Kritik selten aufblitzt und ihn nicht mit Luther zur Verwerfung der päpstlichen Institution führte. Seine gelegentlichen Äußerungen zu Erscheinungen der populären Kirchenfrömmigkeit verraten eine deutliche, zum Teil schroffe Distanz zu multiplizierten Devotionspraktiken (wie Wallfahrten, häufiges Beichten, Ablässe, Gebetsleistungen, Heiligen- und Reliquienverehrung). Wahre Frömmigkeit führt die Seele zu jener vertrauensvollen Christusgewißheit, die Staupitz in Ps 118,94 (Vulgata): „Dein bin ich, mach mich selig!" findet. Er hat diesen Vers zu seinem persönlichen Leitwort gemacht und seinen gedruckten Traktaten vor- und nachgestellt. Die Hoffnungsperspektive der durch Gottes Barmherzigkeit begründeten Zugehörigkeit zu Christus und damit der Grundton der Liebe ist für den Gesamtcharakter der Staupitzschen Theologie so bestimmend, daß die Züge der Verwerfung, der richtenden und strafenden Gerechtigkeit Gottes und des Wirkens von Teufel, Antichrist und Dämonen stark zurücktreten. Schreckenerregende und drohende Hinweise auf die jenseitigen Strafen sind seiner Predigt- und Seelsorgeweise fremd - so wie auch die für die christlichen Zeitgenossen charakteristische Aggressivität gegen Juden und Häretiker völlig fehlt. Anders als Luther sieht Staupitz die Macht Satans durch Gottes allmächtige Barmherzigkeit derart gebändigt, daß er sie, wenn überhaupt, nur im Ton der gelassenen Zuversicht erwähnt. 4. Staupitz und

Luther

Für Kenntnis und Beurteilung der Beziehung zwischen Staupitz und Luther sind die Dokumente vor Staupitz' Tod von primärer Bedeutung, haben aber auch die späteren Rückblicke Luthers (unter ihnen sehr viele Tischreden) hohen Zeugniswert. So sagte Luther 1532 (WA.TR 1, Nr. 173): „Ich hab all mein ding von Doctor Staupiz; der hatt mir occasionem geben." Zutreffend daran ist jedenfalls, daß für die berufliche, menschliche, theologische und kirchenkritische Entwicklung Luthers in den entscheidenden Jahren 1505 bis 1524 keine andere Person eine ähnlich wichtige Bedeutung gewonnen hat wie sein Ordensvorgesetzter, Förderer, theologischer Lehrer, Seelsorger und väterlicher Freund Staupitz. Als Ordensoberer förderte Staupitz die Karriere Luthers, indem er ihn 1508/09 mit den moralphilosophischen Vorlesungen in der Wittenberger Artes-Fakultät betraute und zugleich zum Baccalaureus biblicus promovieren ließ, ihn im September 1511 endgültig nach Wittenberg versetzte, den Widerstrebenden zum Erwerb der Doktorwürde drängte und zum Nachfolger auf seinem Lehrstuhl bestimmte. Auch im Orden übertrug er ihm wichtige Aufgaben: Predigt, Studienleitung und Klosteraufsicht (als Provinzialvikar von 1515-1518 über elf Konvente in Sachsen und Thüringen). In Luther sah Staupitz offensichtlich mehr und mehr denjenigen, der sein Lebenswerk an der Spitze der Kongregation, aber auch über die Ordensgrenzen hinaus fortführen könnte. Die intensivste Bedeutung gewann Staupitz für den jungen Mitbruder dadurch, d a ß er ihm während der Jahre schwerster religiöser Anfechtungen (zwischen 1507/1517) im Gespräch und durch Briefe tröstend beistand. Seelsorgerliche Hilfe verband sich dabei eng mit der Eröffnung grundlegender theologischer, besonders christologischer Erkenntnisse. Von Staupitz erfuhr Luther: 1. Die verzweifelte Traurigkeit über das eigene Ungenügen vor Gottes fordernder und strafender

Staupitz

125

Strenge wird ihm letztlich förderlich sein: „Ach, yhr wisset nit, wie es euch so not ist; sonst wurde nichts guts aus euch" (WA.TR 1, Nr. 518). 2. In der Prädestinationsanfechtung soll er auf den Gekreuzigten blicken: „In den Wunden Christi und nirgendwo sonst versteht und ündet man die Prädestination" (WA.TR 2, Nr. 1490). 3. Wenn ihn die heilige Nähe Gottes im Altarsakrament erschreckt, soll er wissen: „Christus erschreckt nicht, sondern tröstet" (WA.TR 2, Nr. 2318). 4. Wahre Buße ist nicht das Ergebnis eines Prozesses, der von der Furcht zur Liebe führt, sondern von Anfang an wurzelt sie in der Liebe zu Gott und seiner - in Christi Leiden versöhnten - Gerechtigkeit. 5. Statt immer neu und vergeblich ein frommes Leben zu geloben, soll man sich Gottes Erbarmen anvertrauen. 6. Ein tröstliches Kriterium für den Wahrheitsgehalt der Theologie ist darin zu sehen, daß man alle Ehre Gott gibt, alles seiner Gnade und nichts den Menschen zuschreibt. - Was er Staupitz verdankte, faßte Luther rückblickend (1545) in die Worte: „das er erstlich mein Vater ynn dieser lere gewest ist vnd ynn Christo geborn hat" (WA.B ll,67,7f.). „Staupicius hat die doctrinam angefangen", indem er ihm sagte: „Man mus den man ansehen, der da heyst Christus" (WA.TR 1, Nr. 526). Obwohl Staupitz Luthers Nöte nicht aus eigener Erfahrung verstehen konnte, stellte er ihnen einen tröstenden Gegenpol gegenüber. Während sich Luther durch das Gottesbild seines Elternhauses, die Erwerbsmentalität der zeitgenössischen Frömmigkeit, das klösterliche Streben nach vollkommener Buße und die ockhamistische Theologie (W. von -»Ockham) auf das eigene Leistungsvermögen vor Gott fixiert sah, wurde ihm durch Staupitz erstmals das Tor zu einer andersartigen, strikt antiockhamistischen und radikal paulinisch-augustinischen Denk- und Trostweise eröffnet. Während des Ablaßstreits (wie auch später) sah Staupitz in Luther den Zeugen der Wahrheit und das Werkzeug Gottes gegen eine verdorbene Kirche. Er stellte sich vorbehaltlos vor ihn, indem er ihn z. B. im April 1518 auf dem Heidelberger Kongregationskapitel seine Disputationsthesen über die theologia crucis vortragen ließ. Diese klare Haltung des Augustinervikars schirmte Luther gegen die römische Ordensleitung ab und veranlaßte wohl auch, daß Kurfürst Friedrich der Weise an Luther festhielt. Beim Augsburger Verhör durch -»Cajetan stand Staupitz Luther zur Seite (am 13./14. Oktober 1518), empfahl ihm aber auch die demütige Unterwerfung unter das Urteil der Kirche. Auch in der Folgezeit hat er sich nicht von Luther abgewandt, obgleich dieser die vieldeutige Art der Distanz, die Staupitz, z. B. durch vorübergehende Unterbrechung des Briefkontakts, suchte, so interpretierte. Der drohende bzw. vollzogene Bann gegen Luther stürzte Staupitz während der Jahreswende 1520/21 in größte Loyalitätskonflikte. Einerseits kann er sich dem päpstlichen Verlangen, die von Rom zusammengestellten Sätze Luthers als ketzerisch zu verwerfen, mit dem Argument entziehen, er müsse nicht widerrufen, was er nie gesagt habe. Andererseits erkennt er den Papst ausdrücklich als Richter an. Luther schreibt ihm am 9. Februar nach Salzburg: „Ich fürchte sehr, daß du zwischen Christus und dem Papst in der Mitte schwebst" (WA.B 2,264,42f.). Die Enttäuschung Luthers, die durch Staupitz' Ordenswechsel und Annahme der Abtswürde noch verstärkt wird, ändert aber nichts an der herzlichen Zuneigung, die er seinem „verehrten Oberen, Vater und Lehrer in Christus" auch noch im letzten Brief vom 17. September 1523 entgegenbringt (WA.B 3,155f.). Sei Staupitz doch derjenige, „durch den zuerst das Licht des Evangeliums aus der Finsternis in unseren Herzen aufzustrahlen begonnen hat". In seinem Antwortbrief vom 1. April 1524 (WA.B 3,263f.) beteuert Staupitz, daß seine Liebe zu Luther von ungebrochener Festigkeit sei, „beständiger sogar als Frauenliebe" (II Sam 1,26). Zwar äußert er sein Befremden darüber, daß Luther so viele „äußere Dinge" der Kirche verwirft, z.B. das Klosterleben, die als solche mit der Frage des Glaubens und der Gerechtigkeit nichts zu tun haben; es überwiegt aber der Ton der dankbaren Übereinstimmung mit Luther: „Wir schulden dir, Martin, vieles, denn du hast uns vom Futter für die Schweine auf die Weiden des Lebens, zu den Worten des Heils, zurückgeführt." Seine eigene Rolle definiert Staupitz als die des praecursor der neuen Lehre: „bin ich doch einst als Vorläufer der heiligen evangelischen Lehre hervorgetreten und habe die babylonische Gefangenschaft gehaßt, wie ich dies auch heute noch tue". So bezeugt der Briefwechsel zwischen Staupitz und Luther am Ende eine bekräftigte Freundschaft und eine theologische Grundübereinstimmung. Sie überbrückt den ekklesiologischen Dissens, der darin zum Ausdruck kommt, daß der Ältere für sich weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit sieht, die innere Freiheit des Glaubens als äußeren Bruch mit der „gefangengehaltenen" Kirche des Papsttums und der Kardinäle zu vollziehen. 5.

Gesamtcharakteristik

Für Staupitz* Stellung in seiner Zeit ist charakteristisch, daß seine Theologie ebenso wie alle seine Aktivitäten als Universitätslehrer, Augustinervikar und Benediktinerabt

126

Staupitz

g a n z im R a h m e n d e r spätmittelalterlichen T h e o l o g i e und Kirchlichkeit gesehen w e r d e n k ö n n e n . Andererseits sind die G e m e i n s a m k e i t e n m i t der neuen T h e o l o g i e Luthers beachtlich. Keine a n d e r e T h e o l o g i e v o r der R e f o r m a t i o n führte s o n a h e an die R e f o r m a t i o n heran und s o leicht in sie hinüber wie die in N ü r n b e r g und M ü n c h e n 1 5 1 6 / 1 7 gepredigte und publizierte T h e o l o g i e des Augustiners. Die Zweiseitigkeit dieser T h e o l o g i e -

gut

„ s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h " und d o c h a m Beginn der „ n e u e n L e h r e " stehend - b e s t i m m t e a u c h Staupitz' Verhalten „ z w i s c h e n L u t h e r und P a p s t " in den letzten Lebensjahren. An i h m scheitern die aus s p ä t e r e r Z e i t s t a m m e n d e n konfessionellen Z u o r d n u n g e n . Staupitz w a r zugleich R e p r ä s e n t a n t einer A r t katholischer

R e f o r m , die d u r c h den tridentinischen K a -

tholizismus ausgegrenzt w u r d e , und einer A r t evangelischer

Katholizität, die d e m P r o -

testantismus der konfessionellen Lehrbildung halbherzig und nicht tradierenswert e r schien. D a g e g e n haben Vertreter einer irenischen, spiritualistischen und pietistischen F r ö m m i g k e i t von S. - » F r a n c k über K. v o n - » S c h w e n c k f e l d , Daniel S u d e r m a n n ( 1 5 5 0 1 6 3 1 ) , V. —»Weigel und J . - » A r n d t bis zu P h . J . - » S p e n e r und G . - » A r n o l d in Staupitz den T h e o l o g e n einer verinnerlichenden Christusmystik g e s c h ä t z t . Seine Schriften VOM der lieb Gottes

und Vom rechten

glauben

w u r d e n in dieser T r a d i t i o n evangelischer F r ö m -

migkeit w ä h r e n d des 17. und 18. J h . i m m e r wieder neu, oft in Verbindung mit a n d e r e n mystisch-erbaulichen T e x t e n des Spätmittelalters, publiziert. Quellen Johann v. Staupitz, SW, ed. Joachim Karl Friedrich Knaake, I. Dt. Sehr., Potsdam 1867 (mehr nicht ersch.). - Heinrich Aumüller, Die ungedr. Staupitz-Predigten in Salzburg: J G G P Ö 2 (1881) 4 9 - 6 0 . - Ders., Predigten v. Staupitz in Salzburg: ebd. 11 (1890) 1 1 3 - 1 3 2 . - Johann v. Staupitz, Sämtl. Sehr., ed. Lothar Graf zu Dohna/Richard Wetze!, I. Tübinger Predigten, ed. Richard Wetzel, 1987 (SuR 13); II. Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis/Ein nutzbarliches büchlein v. der entlichen volziehung ewiger fürsehung, ed. Lothar Graf zu Dohna/Richard Wetzel/Albrecht Endriß, 1979 (SuR 14); V. Gutachten u. Satzungen, ed. Lothar Graf zu Dohna/Wolfgang Günter, 2000 (SuR 17); die GA wird fortgesetzt. - Salzburger Predigten 1512, ed. Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 1 9 9 0 . - S a l z b u r g e r Predigten 1520, in Engl, bei: Rudolf K. Markwald, A Mystic's Passion. T h e Spirituality of Johannes v. Staupitz in his 1520 Lernen Sermons. Transl. and Comm., New York/Bern/Frankfurt a . M . 1990 (Renaissance and Baroque Studies and Texts 3). - Briefe: als „Beil.": Kolde (s.u. Lit.) 435 - 4 4 9 . Literatur Lothar Graf zu Dohna, Von der Ordensreform zur Reformation. Johann v. Staupitz: Kaspar Elm (Hg.), Reformbemühungen u. Observanzbestrebungen im spätma. Ordenswesen, Berlin 1989 (Ordensstud. 6) 5 7 1 - 5 8 4 . - Ders./Richard Wetzel, Die Reue Christi. Zum theol. Ort der Buße bei Johann v. Staupitz: S M G B 94 (1983) 4 5 7 - 4 8 2 . - Albrecht Endriß, Nachfolgung des willigen Sterbens Christi. Interpretation des Staupitztraktates v. 1515 u. Versuch einer Einordnung in den frömmigkeitsgesch. Kontext: Josef Nolte u.a. (Hg.), Kontinuität u. Umbruch, Stuttgart 1978, 9 3 - 1 4 1 . - Wolfgang Günter, Johann v. Staupitz (ca. 1 4 6 8 - 1 5 2 4 ) : Kath. Theologen der Reformationszeit, V 1988 (KLK 48) 1 1 - 3 1 . - Berndt Hamm, Frömmigkeitstheol. am Anfang des 16. J h . , 1982 (BHTh 65) 2 3 4 - 2 4 5 . - Ders., Humanistische Ethik u. reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg: Mitt. des Vereins f. Gesch. der Stadt Nürnberg 76 (1989) 6 5 - 1 4 7 , hier 1 3 3 - 1 4 3 . - Ders., Johann v. Staupitz (ca. 1 4 6 8 - 1 5 2 4 ) - spätma. Reformer u. ,Vater' der Reformation: A R G 92 (2001). Theodor Kolde, Die dt. Augustiner-Congregation u. Johann v. Staupitz, Gotha 1879. - Adalbero Kunzelmann, Gesch. der dt. Augustinereremiten. T. 5. Die sächsisch-thüringische Provinz u. die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden, 1974 (Cass. 26/5). - Pirmin Lindner, Professbuch der Benediktiner-Abtei St. Peter in Salzburg ( 1 4 1 9 - 1 8 5 6 ) : M G S L 46 (1906) 2 4 1 - 2 4 7 . - Rudolf K. Markwald/Franz Posset, 125 Years of Staupitz Research (since 1867). An Annotated Bibliography of Studies on Johannes v. Staupitz (ca. 1 4 6 8 - 1 5 2 4 ) , St. Louis, M o . 1995 (SixteenthCentury Bibliography 31). - Heiko A. Oberman, Werden u. Wertung der Reformation, Tübingen 1977, 8 2 - 1 4 0 . - Ders., Duplex misericordia. Der Teufel u. die Kirche in der Theol. des jungen Johann v. Staupitz: T h Z 4 5 (1989) 2 3 1 - 2 4 3 . - Johann Sallaberger, Johann v. Staupitz, Luthers Vorgesetzter u. Freund, u. seine Beziehung zu Salzburg: Aug(L) 28 (1978) 1 0 8 - 1 5 4 . - Ders., Abt Johann v. Staupitz ( 1 5 2 2 - 1 5 2 4 ) , Luthers einstiger Freund u. Vorgesetzter: Ausstellungskat. Das älteste Kloster im dt. Sprachraum St. Peter in Salzburg, Salzburg 1982, 9 1 - 9 8 (vgl. Ausstellungsstücke Nr. 3 0 4 - 3 2 6 ) . - Manfred Schulze, ,Via Gregorii' in Forschung u. Quellen: Gregor v. Rimini. Werk u. Wirkung bis zur Reformation, hg. v. Heiko A. Oberman, 1981 (SuR 20) 1 - 1 2 6 . - David

Stein, Edith

127

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Bemdt Hamm

Stein, Edith 1. Leben

(1891-1942) 2. Werk

3. Neueste Debatten und Wirkung

(Quellen/Literatur S. 130)

1. Leben Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891 in Breslau als Kind jüdischer Eltern geboren. Nach dem Besuch des Obergymnasiums war sie 1911 eine der ersten Frauen, die an der Universität -»Breslau studieren konnten. Neben dem Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie engagierte sie sich im Preußischen Verein für Frauenstimmrecht und trat dem Bund für Schulreform bei. Ebenso arbeitete sie im Rahmen des Humboldt-Vereins für Volksbildung mit. Nach dem Ersten Weltkrieg trat sie der nationalliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP; vgl. T R E 2 4 , 2 2 7 , 1 1 - 1 4 ) bei. Beeindruckt von E. -»Husserls Logischen Untersuchungen ging Stein 1913 nach Göttingen, um bei ihm zu studieren. Sie wollte an einer Neubegründung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften mitarbeiten. Aus einer Staatsexamensarbeit erwuchs die Dissertationsschrift Zum Problem der Einfühlung (Halle 1917 [Nachdr. München 1980]), aufgrund deren sie 1916 in Freiburg im Breisgau, wohin Husserl inzwischen berufen worden war, summa cum laude promoviert wurde. In der Hoffnung auf die Möglichkeit der Habilitation wurde sie Husserls Privatassistentin, löste dieses Anstellungsverhältnis aber 1918 auf, nachdem ihr Husserls Widerstand gegen ihr Habilitationsprojekt und ihr - insbesondere durch M. -»Scheler und Adolf Reinach ( 1 8 8 3 - 1 9 1 7 ) angeregtes - eigenständiges religionsphilosophisches Erkenntnisinteresse bewußt geworden war. Von 1919 bis 1921 hielt sie vor etwa 50 Studierenden im großen Saal ihres Elternhauses in Breslau Vorlesungen und Seminare über -»Phänomenologie. Norbert Elias ( 1 8 9 7 - 1 9 9 0 ) war einer ihrer Hörer. Nachdem auf ihre Eingabe hin das preußische Kultusministerium im Jahr 1920 Frauen zur Habilitation an Universitäten zugelassen hatte, suchte sich Stein an verschiedenen Universitäten (Göttingen, Hamburg, Kiel, Freiburg und Breslau) zu habilitieren. Drei ihrer später gedruckten Arbeiten waren Habilitationsschriften. Die erste Arbeit, Psychische Kausalität, Individuum und Gemeinschaft. Eine Untersuchung über

den Staat, reichte sie 1919 ohne Erfolg in Göttingen ein. Diese Abhandlung wurde erst 1922/1925 veröffentlicht (JPPF 5 [1922] 2 - 2 8 3 ; 7 [1925] 1 - 1 2 3 ) . Eine zweite Habilitationsschrift mit dem Arbeitstitel Potenz und Akt wurde für Martin Honecker ( 1 8 8 8 - 1 9 4 1 ) 1932 an der Universität Freiburg erarbeitet. Sie wurde auf Wunsch der Vorgesetzten im Kölner Karmel 1935 überarbeitet, konnte aber erst 1950 postum unter dem Titel

Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (Werke II) erscheinen.

Eine dritte Habilitationsschrift, die 1932 für die Universität Breslau gedacht war, stellt eine Überarbeitung von Steins Breslauer Vorlesungen Anfang der zwanziger Jahre (s. o.) dar. Sie wurde erst sehr spät unter dem Titel Einführung in die Philosophie (Werke XIII) veröffentlicht.

128

Stein, Edith

Seit 1917 fühlte sich Stein aufgrund der Lektüre des Johannesevangeliums dem Christentum verbunden. Unter dem Eindruck von Das Leben der heiligen Theresia von Jesu (-•Teresa von Avila) fand sie 1921 zum katholischen Glauben. Die religiöse Erschütterung war so stark, daß Stein nach ihrer Taufe in Bad Bergzabern 1922 glaubte, sie könne nicht mehr wissenschaftlich arbeiten, sondern müsse in ein Kloster eintreten, um ganz dem Gebet zu leben. Ihre theologischen Berater hielten sie aber jahrelang von diesem Wunsch ab. Um beruflich unabhängig zu sein, war sie acht Jahre lang Lehrerin an der Schule und der Lehrerinnenbildungsanstalt der Dominikanerinnen in Speyer. Religionsphilosophen wie E. -»Przywara, Dietrich von Hildebrand (1889-1977) sowie der Theologe Günther Schulemann (1889-1964) aus Breslau wurden auf sie aufmerksam und regten sie an, -»Thomas von Aquino zu studieren, um die ihr philosophisch so fremde Geisteswelt der katholischen Schulphilosophie kennenzulernen. Neben ihrer Schultätigkeit übersetzte sie Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit (Werke III und IV). 1932 übernahm sie eine Dozentur am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster (Westfalen). Die „Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 zerstörte alle weiteren wissenschaftlichen Pläne. Durch den Erlaß des Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums wurde Steins fruchtbare Tätigkeit in Münster nach einem Jahr abgebrochen. In dieser Lage sah sie sich frei, ihren Wunsch nach dem klösterlichen Leben zu realisieren. Am 14. Oktober 1933 trat sie in den Kölner Karmel ein, wo sie weiterhin wissenschaftlich arbeiten durfte. Nach den Novemberpogromen 1938 boten ihr die Karmelitinnen von Echt in den Niederlanden ihre Gastfreundschaft an. Von dort wurde sie am 7. August 1942 zusammen mit ihrer Schwester Rosa und ca. 1.000 weiteren jüdischen Bürgern und Bürgerinnen, darunter 63 Katholiken jüdischer Herkunft, nach Auschwitz abgeschoben. Aufgrund eines entsprechenden Befehls des Reichskommissars für die Niederlande, Arthur von Seyß-Inquart (1892-1946), wurde Edith Stein zusammen mit ihrer Schwester und den übrigen Katholiken jüdischer Herkunft am 9. August 1942 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet. Edith Stein wurde von Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 1987 in Köln selig- und am 11. Oktober 1998 in Rom heiliggesprochen. 2. Werk Husserl lehrte, dal? eine objektive Außenwelt nur intersubjektiv erfahrbar sei durch eine Mehrheit von erkennenden Individuen, die miteinander im Wechselverhältnis stehen. Er nannte das „Einfühlung", ohne diesen Sachverhalt zu entfalten. In ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung untersuchte Stein den Akt der Einfühlung in Abgrenzung zu anderen Bewußtseinsakten. Sie stellte die Frage nach der Erfahrung des anderen und seinem Erleben, eine Grundfrage im Kreis der Phänomenologen. Stein hat sie fast als erste bearbeitet in Abgrenzung von Theodor Lipps (1851-1914), M . Scheler und W. -»Dilthey. Ohne dessen Handschriften zum 2. Band der Ideen zu kennen, hatte Stein ein Thema vorweggenommen, dem Husserl sich erst 13 Jahre später (in der 5. und 6. Cartesianischen Meditation) zuwenden sollte. Indem sie die Notwendigkeit einer absolut existierenden Natur einforderte, überschritt sie Husserls Idealismus.

In ihren Beiträgen zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften (Psychische Kausalität, Individuum und Gemeinschaft. Eine Untersuchung über den Staat) nahm Stein im Psychologismusstreit eine mittlere Position ein (Rath). Ihr Denken kreist um einen Personalismus, der sich um den Aufbau der menschlichen Natur in gleicher Weise bemüht wie um das Phänomen der Gemeinschaft unter den Menschen. Gegen eine empiristisch abgewertete Psychologie sah Stein die Psychologie zunächst als eine Disziplin innerhalb der Geisteswissenschaften. Im Sinne Ernst Cassirers (1874-1945) war sie für das Ideal einer philosophisch-psychologischen Zusammenarbeit. Im Rahmen des Interesses an einer geisteswissenschaftlichen Psychologie machte sie namentlich gegenüber Dilthey einen eigenen anthropologischen Standpunkt geltend. Während für Dilthey der Grund des Konkreten das Leben ist, dessen Individuation sich

Stein, Edith

129

in Personen und geschichtlichen Wandlungen zeigt, ist für Stein der Grund des Konkreten der Geist, die Bindung von Geist zu Geist, besonders in personaler Einfühlung, die Ausrichtung der Werte, die nicht mehr psychische Phänomene sind. Daraus folgt nicht zuletzt die Betonung der Personalität der Frau, ihrer Geistigkeit und ihrer Selbständigkeit im Denken. Mann und Frau sind für Stein gleichwertig und fähig zu gleichem personalem Selbststand (vgl. Werke V, 20). Die Frau ist vollwertiges Gegenüber zum Mann. Auch nach der Zerstörung der natürlichen Disposition des Menschen ist Personsein intangibilis (vgl. Secretan). In ihrem Werk Einführung in die Philosophie (Werke XIII) behandelt sie in einem ersten Teil die Probleme der Naturphilosophie, in einem zweiten die Probleme der Subjektivität. Wie immer bei Stein gibt es keine festen Lösungen, sondern Offenheit für verschiedene Positionen. Nach Przywara kennt sie keine letzten Gegensätze, keine in sich geschlossene ideale Welt, sondern eine freie ideale Welt, in der das Wesen des je einzelnen sein darf und angeschaut wird. „Es ließe sich wohl zeigen", schreibt Stein, „daß es auch der modernen Philosophie im Grunde um das wahre Sein zu tun war, und daß sie mit ihrem Aufgreifen von Gedankenansätzen, die gleichfalls bis in die Anfänge der griechischen Philosophie zurückreichen und notwendige Erkenntnisrichtungen bezeichnen, wertvolle Dienste für die Seinsfrage geleistet hat" (Endliches und ewiges Sein: Werke II, 484). Sie bedauerte es, daß sowohl die damalige neuscholastische Philosophie (-»Scholastik II) als auch die moderne Philosophie große Schwierigkeiten hatten, einander zu verstehen, und wünschte sich, daß beide Richtungen aufeinander zugingen. Die im Karmel neu geschriebene Ontologie Endliches und ewiges Sein (s.o. 1.) nennt H. Rombach (81) ein Werk von großer synthetischer Kraft. Auch wenn Stein nicht die Geschichtlichkeit oder die Sprache selbst bedenkt, so ist ihre Ontologie doch eine bedeutende theoretische Leistung. Stein denkt nicht im Rahmen einer neuscholastischen Schulphilosophie; es geht ihr vielmehr um die Offenheit des Miteinander-Philosophierens. Von -»Heidegger beeinflußt, stellt sie die Seinsfrage in den Mittelpunkt; sie reflektiert nicht über das Sein, sondern fragt nach dem Sinn des Seins. Obwohl Stein dem Ansatz Husserls immer treu blieb und wohl eine der besten Kennerinnen seines Werkes war, neigte sie in ihrer realistischen Ausrichtung auch zur Sozialaktlehre Reinachs und stand im Vergleich mit Husserls Transzendentalismus näher bei der Fundamentalontologie Heideggers. 3. Neueste Debatten und

Wirkung

Zwei Kongresse (Rolduc [Niederlande] 1990 und Eichstätt 1991) haben eingehende Debatten über Edith Stein ausgelöst. In dem Tagungsband Edith Stein. Leben, Philosophie, Vollendung hat L. Elders ihr Thomas-Verständnis einer eingehenden Kritik unterzogen. Wenn Stein in ihrem Artikel für die Husserl-Festschrift 1929 mit dem Titel Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas von Aquino. Versuch einer Gegenüberstellung unter dem Einfluß von J. -»Maritain von einer „materialen Abhängigkeit" des philosophischen Denkens von Glaubenswahrheiten spricht, so bedeutet das, daß letztlich die Theologie das Kriterium für die Wahrheit der Philosophie liefert. Auch ihre Kritik an Heidegger leide an der Vorstellung, Philosophie müsse aus Glauben hervorgehen oder zu ihm hinführen. Diese These steht nach Elders im Widerspruch zur Position des Thomas. „Edith Stein hat auch nicht hinreichend darauf geachtet, wie scharf Thomas die natürliche Ordnung vom Glauben trennt. Für Thomas ist das erste philosophische Axiom nicht, daß Gott die erste Wahrheit ist, sondern die Einsicht der Existenz der Welt, unser selbst und der evidenten Seinsprinzipien" (Elders 259f.).

Die Akten des zweiten Edith-Stein-Kongresses in Eichstätt Studien zur Philosophie von Edith Stein versuchten, neue Perspektiven zu eröffnen. R.L. Fetz stellt in Steins Denken die Verbindung dar zwischen klassischer Geistmetaphysik und Seelenlehre mit der modernen Bewußtseins- und Ich-Philosophie. Fetz vermißt, daß Steins

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Stein, Edith

Anregungen zur Klärung des Begriffs Selbst nicht ausgeschöpft sind. K.-H. Lembeck bringt einen interessanten Vergleich zwischen dem Neukantianer Paul Natorp (1854-1924) und Steins phänomenologischer Ontotogie. Bei großen Differenzen kommen beide Denker zu ähnlichen Ergebnissen. Während Steins Realismus (Wesensforschung) die faktische Wirklichkeit - überspitzt gesagt ignoriert, um das ideal-identische Wesen der Dinge zu ergründen, ist der Marburger transzendentale Idealismus an „Tatsachen" orientiert, am Faktum wissenschaftlicher Vernunftbetätigung. Die kritischen Erlebnisanalysen Steins und Natorps geraten beide an die Grenze philosophischer Reflexion. Beide konvergieren in der „Not letzter Begründung". Fetz und K. Hedwig verweisen auf die Theorie personaler Identität in Steins Spätwerk (Endliches und ewiges Sein-, Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce [Werke I]; Wege der Gotteserkenntnis - Dionysius der Areopagit und seine symbolische Theologie [NA München 1979]). Hedwig zeigt, daß für Stein ein Konzept abgestufter Personalität zentral bleibt. Er spricht von einer Neuinterpretation Steins in bezug auf die analogia entis. Stein entwickle aus dem biblischen „Ich bin, der ich bin" (Ex 3,14) eine analogia personae. Nach H.-B. Gerl-Falkovitz hat Stein den Namen „Gott" in der Wissenschaft wieder lebendig werden lassen. H. Hecker spricht in übertragenem Sinn von einer „Phänomenologie des Christlichen bei Edith Stein". Stärker als die philosophischen Grundfragen Steins wirkt ihr mystischer Personalismus. Ihr jüdisches Schicksal in der Shoa hat viele Christen wachgemacht für die Aufgabe, die Bedeutung Israels für die christliche Theologie zu erkennen. Bedauerlich ist, daß die feministische Theologie Steins bahnbrechende Gedanken über die Rolle der Frau in den zwanziger Jahren nicht zur Kenntnis nimmt. E. Gößmann hat sich als einzige dieser Thematik angenommen. Quellen GA: Edith Steins Werke, hg. v. Lucy Gelber/Romaeus Leuven OCD/Michael Linssen OCD, Freiburg i.Br. 1983ff. (bisher 18 Bde.). Literatur Edith Stein - eine große Glaubenszeugin, hg. v. Waltraud Herbstrith, Annweiler 1986. - Edith Stein. Leben, Phil., Vollendung. Abh. des int. Edith-Stein-Symposiums, Rolduc, 2 . - 4 . November 1990, hg. v. Leo Eiders, Würzburg 1991. - Leo Eiders, Edith Stein u. Thomas v. Aquin: Edith Stein. Leben, Phil., Vollendung (s.o.) 253 - 271. - Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Unerbittliches Licht. Edith Stein, Phil., Mystik, Leben, Mainz 1998. - Reto Luzius Fetz, Ich, Seele, Selbst. Edith Steins Theorie personaler Identität: Stud. zur Phil. v. Edith Stein (s.u.) 286-319. - Elisabeth Gößmann, Simone Weil u. Edith Stein: dies., Die Frau u. ihr Auftrag (1961), Freiburg i.Br. 2 1965, 184f. - Dies., Zum Gedanken der geistlichen Mutterschaft in der christl. Tradition: Gottesgeschichten. Beitr. zu einer syst. Theol. FS Gottfried Bachl, hg. v. Wilhelm Achleitner u.a., Freiburg i.Br. 1992, 326 - 334. - Herbert Hecker, Phänomenologie des Christlichen bei Edith Stein, Würzburg 1995 (Stud. zur syst, spirituellen Theol. 12). - Klaus Hedwig, Edith Stein u. die analogia entis: Stud. zur Phil. v. Edith Stein (s.u.) 320-352. - Waltraud Herbstrith, Die Frage nach Wesen u. Aufbau der Person: dies., Das wahre Gesicht Edith Steins, Bergen-Enkheim 1971 Leutesdorf 7 2000, Kap. 12. - Dies., Edith Stein (1891-1942): Emerich Coreth/Walter M. Neidl/Georg Pfligersdorffer (Hg.), Christi. Phil, im kath. Denken des 19. u. 20. Jh., Graz/Köln, II 1988, 650-665. - Dies. (Hg.), Denken im Dialog. Zur Phil. Edith Steins, Tübingen 1991. - Dies., Edith Stein - Das eine Menschsein. Die Frau im Christentum, München 1993. - Beat W. Imhof, Edith Steins phil. Entwicklung. Leben u. Werk, Basel/Boston 1987 (Basler Beitr. zur Phil. u. ihrer Gesch. 10). - Wolfdietrich v. Kloeden, Art. Stein, Edith: BBKL 15 (1999) 1318-1340 (Lit.). - Karl-Heinz Lembeck, Von der Kritik zur Mystik. Edith Stein u. der Marburger Neukantianismus: Stud. zur Phil. v. Edith Stein (s.u.) 170-196. - Camilo Maccise, Come parlare di Dio dopo Auschwitz?: Edith Stein. Testimone per oggi, profeta per domani. Simposio internationale su Edith Stein, Rom 1999,7—17. - Andreas Uwe Müller, Grundzüge der Religionsphil. Edith Steins, 1993 (Sym. 97). - Matthias Rath, Die Stellung Edith Steins im Psychologismusstreit: Stud. zur Phil. v. Edith Stein (s.u.) 197 - 2 2 5 . - Heinrich Rombach, E. Stein. Christi. Phil, unserer Zeit: AnzKG 59 (1950) 7 9 - 8 3 . - Philibert Secretan, Erkenntnis u. Aufstieg. Einf. in die Phil. v. Edith Stein, Innsbruck/Wien 1992. - Stud. zur Phil. v. Edith Stein. Int. Edith Stein-Symposion Eichstätt 1991, hg. v. Reto Luzius Fetz/Matthias Rath/Peter Schulz, Freiburg/München 1993 (Phänomenologische Forschungen 26/27). - Theresa Wobbe, Die Hürde der Habilitation. Die Philosophin Edith Stein (1891-1942): dies., Wahlverwandtschaften. Die Soziologie u. die Frauen auf dem Weg zur Wiss., Frankfurt a.M./New York 1997, 6 9 - 8 7 . Waltraud Herbstrith

Stein, Freiherr vom und zum

131

Stein, Karl Heinrich Friedrich Freiherr vom und zum (1757—1831) 1. Leben

2. Werk

3. Würdigung

(Quellen/Literatur S. 132)

1. Leben Als Sohn eines wohlhabenden Reichsfreiherrn wurde Karl Heinrich Friedrich vom und zum Stein am 26. Oktober 1757 in Nassau geboren. Er blieb auch als Wahlpreuße zeitlebens geprägt durch die Traditionen der selbstbewußten Reichsritterschaft und die nach Westen ausgerichtete Atmosphäre seiner westdeutschen Heimat. Nach dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in ->Göttingen trat er 1780 in preußische Dienste, zunächst als Referendar im Bergwerksdepartment. Seine ersten großen Erfolge feierte er in -»Westfalen, wo er seit 1784 lebte und vom Bergamtsdirektor zum Kammerpräsidenten und schließlich 1796 zum Oberpräsidenten aufstieg. 1804 kam er als Staatsminister nach Berlin, wo er vor allem mit Finanz- und Wirtschaftsfragen beschäftigt war. Sein Versuch, eine durchgreifende Regierungs- und Verwaltungsreform durchzusetzen, führte Anfang 1807, nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon (-•Napoleonische Epoche), zum Zerwürfnis mit König Friedrich Wilhelm III. Stein zog sich auf seine Güter zurück und arbeitete die „Nassauer Denkschrift" aus, die Programmschrift der preußischen Reformen. Als er im Oktober 1807 zum leitenden Minister in -•Preußen zurückberufen wurde, leitete er sogleich sein Reformwerk ein. Ein konspirativer Brief, in dem Stein die Möglichkeit einer Erhebung gegen die französische Besatzungsmacht erörtert hatte, zwang den König aber schon im November 1808 zu seiner Entlassung. Stein flüchtete zuerst nach Böhmen und hielt sich seit 1812 als Berater des Zaren in Rußland auf. Hier war er daran beteiligt, das preußische Bündnis mit Rußland zur Befreiung Europas von Napoleon zu vermitteln. Als Leiter der Zentralverwaltung der befreiten Gebiete kehrte er 1813 nach Deutschland zurück, mußte aber erleben, daß der Wiener Kongreß statt der von ihm favorisierten bundesstaatlichen Verfassung einen Staatenbund und eine -»Restauration des fürstlichen Absolutismus brachte. Enttäuscht zog sich Stein aus der Politik zurück und verbrachte seinen Lebensabend auf dem westfälischen Schloß Cappenberg, beschäftigt überwiegend mit historischen Studien. Als Marschall des Westfälischen Provinziallandtags hatte er seit 1826 noch einmal ein mehr repräsentatives Amt inne, das ihn aber erneut in die Kämpfe um eine ständische Verfassung hineinführte. Er starb am 29. Juni 1831 in Cappenberg. 2. Werk Steins Name ist untrennbar verbunden mit den auch nach ihm (und seinem Vorgänger und Nachfolger Karl August Freiherr von Hardenberg [1750-1822]) benannten preußischen Reformen. Die neuere Forschung bewertet die von Stein eingeleiteten Reformen eher kritisch und möchte sein Wirken in eine umfassendere Reformzeit von ca. 1770 bis 1848/49 einordnen. Doch dies kann nicht dagegen sprechen, Stein eine herausragende Bedeutung zuzusprechen, wenn man bedenkt, daß er schon vor 1807 Verantwortung trug und daß manche seiner Anstöße nach seinem Rückzug vom politischen Leben weiterwirkten. Auch die Bilanz des einjährigen „Reformministeriums" bleibt bei aller Ambivalenz beachtlich. Die Bauernbefreiung, nur auf den Domänengütern konsequent durchgeführt, brachte in Teilen Preußens die wirtschaftlich ohnmächtigen Bauern in eine nur noch größere Abhängigkeit von den Grundeigentümern, eine Entwicklung, für die aber eher die unvollkommene Fortsetzung der Agrarreformen unter Steins Nachfolgern verantwortlich zu machen ist. Die Modernisierung der Staatsverfassung durch die Einführung von Fachressorts perfektionierte die Verwaltung, förderte jedoch nur eingeschränkt den in der Nassauer Denkschrift geforderten „Gemeingeist und Bürgersinn". Der evangelischen Kirche sollte sie mehr Selbständigkeit bringen, wirkte aber durch die Auflösung der -»Konsistorien und die Einrichtung einer Sektion für Kultus und Unterricht im Innenministerium (aus der später das Kultusministerium wurde) zu-

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Stein, Freiherr vom und zum

nächst wie eine „Verstaatlichung", weil die gleichfalls eingeleiteten Pläne für eine Synodalverfassung scheiterten. Nur in der Städteordnung konnte Stein sein Selbstverwaltungsideal realisieren. Ohne dauerhafte Wirkung blieb dagegen seine Arbeit in der Zentralverwaltung, die sich weitgehend darauf beschränkte, die Ressourcen für die Fortsetzung des Krieges zu sichern, und sein Einsatz auf dem Wiener Kongreß. Die 25jährige Verwaltungstätigkeit in Westfalen steht ebenso wie die Zeit des Alters im Schatten der Jahre 1804-1815. Immerhin konnte Stein aber die wirtschaftliche Entwicklung der ihm anvertrauten Gebiete nachhaltig fördern und den Grundstein für den wirtschaftlichen Vorsprung der Westprovinzen legen. Als Oberpräsident oblag ihm nach 1802 die Eingliederung der katholischen Gebiete um Münster und Paderborn in den preußischen Staat, eine Aufgabe, die er mit großem Geschick und ökumenischer Weitherzigkeit löste. Sein gutes Verhältnis zu dem späteren Münsteraner und Kölner Bischof Ferdinand August Graf von Spiegel (1764-1835) kam ihm dabei zugute. Die in Cappenberg entstandenen historischen Darstellungen zur deutschen und französischen Geschichte (erst 1972 veröffentlicht) sind beachtliche Forschungsleistungen. Das größte Verdienst erwarb sich Stein auf diesem Gebiet jedoch durch die Gründung eines Vereins zur Veröffentlichung der Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters (der Monumenta Germaniae Historica [MGH]). 3. Würdigung Stein ist eine der wenigen Gestalten der deutschen Geschichte, die in der Nachwelt nahezu ausnahmslos positiv bewertet wurden. Das führte zu einem schillernden Persönlichkeitsbild, da alle politischen Lager versuchten, ihre Ideen schon in ihm wiederzufinden. In der Tat kann man bei ihm konservative und liberale, restaurative und emanzipatorische Züge finden. Sein gern betonter Nationalismus war noch reichsorientiert und hatte wenig mit dem Nationalismus der zweiten Jahrhunderthälfte gemeinsam. M. Lehmanns These, Stein sei von den „Ideen von 1789" (-»Französische Revolution) beeinflußt gewesen, hat eine rege Diskussion ausgelöst, ist jedoch weitgehend zurückgewiesen worden. Doch auch die Einflüsse der englischen Theorie des „self-government" dürfen nicht überbewertet werden. Die neueste Forschung hat mit Recht die Originalität Steins betont, der Anregungen aus verschiedenen Quellen zu einer geschlossenen politischen Theorie verschmolzen hat. Wenn man einen einzelnen Einflußfaktor hervorheben will, so müßte es das evangelische Christentum sein. Was schon G. Ritter und E. Botzenhart unterstrichen haben, belegen die jetzt veröffentlichten Briefe der Cappenberger Zeit noch eindrucksvoller: Steins Verwurzelung im biblischen Ethos und im reformatorischen Berufsgedanken. Dem korrespondiert freilich ein tiefgreifender Traditionalismus, der es kaum zuläßt, Stein als Freiheitskämpfer in Anspruch zu nehmen. Quellen Erich Botzenhart (Hg.), Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften, Aufzeichnungen, 7 Bde., Berlin 1931-1937. - Ders./Walther Hubatsch (Hg.), Freiherr vom Stein. Briefe u. amtliche Sehr., 10 Bde., Stuttgart 1957-1974. - Heinrich Scheel (Hg.), Das Reformministerium Stein, 3 Bde., Berlin 1966-1968. Literatur Erich Botzenhart, Stein als Christ u. Edelmann, Münster 1953. - Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, Bielefeld 1997 (UnCo 20) 5 7 - 7 8 . - Werner Gembruch, Freiherr vom Stein im Zeitalter der Restauration, 1960 (SWGF.G 2). - Ders., Nationalistische u. personalistische Tendenzen in der Stein-Historiographie: NasA 90 (1979) 8 1 - 9 7 (Lit.). - Ders., Zum Stein-Bild in Publizistik u. Historiographie der Epoche der Restauration: Zs. f. Hist. Forschung 11 (1984) 23 - 6 0 . - Ders., Staat u. Heer, hg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1990 (Hist. Forschungen 40) 433-555. Marion W. Gray, Prussia in Transition. Society and Politics under the Stein Reform Ministry of 1808, 1986 (TAPhS NS 76/1). - Alfred Hartlieb v. Wallthor, Der Freiherr vom Stein u. Rußland, Münster 1992. - Ders., Der Freiherr vom Stein u. Hannover: NSJ 66 (1994) 233 - 2 5 9 . - Maximilian

Stellvertretung I

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Herberger, Die Staats- u. Gesellschaftstheorie des Freiherrn vom Stein: Rechtsgesch. als Kulturgesch. FS Adalbert Erler, Aalen 1976,611 - 6 4 8 . - Franz Herre, Freiherr vom Stein, Köln 1973. - Katharina Horberth (Bearb.), Karl Freiherr vom u. zum Stein, Koblenz o.J. [1981] (Verz. der Stadtbibliothek Koblenz 26) (Lit.). - Walther Hubatsch, Stein-Stud., Köln/Berlin 1975. - Ders., Die Stein-Hardenbergschen Reformen, 1977 (EdF 65) (Lit.). — Michael H u n d t , Stein u. die dt. Verfassungsfrage in den Jahren 1812 bis 1815: Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, hg. v. Heinz Duchhardt/ Andreas Kunz, 1998 ( VIEG Beih. 46) 152-180. - M a x Lehmann, Freiherr vom Stein, 3 Bde., Leipzig 1902-1905 *1931. - Gerhard Ritter, Stein, 2 Bde., Stuttgart 1931 4 1981. - Bernd Sösemann (Hg.), Gemeingeist u. Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993 (FBPG N F Beih. 2).

Martin Friedrich Steiner, Rudolf

Anthroposophie

Stellvertretung I. II. III. IV. V.

Religionsgeschichtlich Altes Testament Judentum Neues Testament Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch

S. S. S. S.

135 138 140 145

I. Religionsgeschichtlich (Quellen/Literatur S. 135)

1. Stellvertretung ist Handeln anstelle eines anderen, für einen anderen oder von etwas anderem. In der Religionsgeschichte bedeutet das die Wahrnehmung der Funktionen eines Herrschers oder Erlösers durch einen Platzhalter. Außerdem enthält der Begriff eine symbolische Variante, insofern der König Abbild, „Schatten" seiner Gottheit oder gar „Sohn des Himmels" ist und die numinosen Mächte auf Erden repräsentiert (Begründung des sakralen -»Königtums). Der König vertritt die Gottheit und ist Garant für ihren Advent, womit das Anbrechen eines neuen Zeitalters verbunden ist. 2. In diesem Sinne wird z.B. der altorientalische König zum Abbild/Schatten des Gottes Marduk, Schamasch usw. Assurbanipal trägt z. B. den Titel ensi issaku, „Statthalter" (Ringgren 163) oder „Assurs issaku". Substitute waren Tiere, Kultbilder in Menschengestalt, aber auch Kriegsgefangene. In einem hethitischen Ritual aus dem 14. bis 13. Jh. v.Chr. tritt ein Ersatzkönig als Substitut an die Stelle des vom Unheil bedrohten und seines , , - » M a n a " verlustig gegangenen Herrschers (zeitweise Stellvertretung). Im alten Mexiko wurde anläßlich der Hochzeit des Gottes Tezcatlipoca ein „Ersatzkönig" (meistens ein Kriegsgefangener) geopfert, der die Gottheit vertrat und ihr Abbild darstellte. Im Opferritus, den man im Frühling beging, beschwor man die Welterneuerung. In einem völlig anderen Kontext, dem Mithraskult, übernahm sogar die Erlösergestalt selbst während der Opferhandlung stellvertretend die Aufgabe des Demiurgen (Substitution); nach der doketischen Christologie, nach der Jesus während der Kreuzigung nur einen Scheinleib trug, war es ein anderer, der stellvertretend für ihn gekreuzigt wurde (Der zweite Logos des großen Seth: N H C VII,2,55,18f.; vgl. Qur'än-Sure 4,157); auch die manichäisch-gnostische Vorstellung vom „erlösten Erlöser" läßt sich aus dem Stellvertretermotiv erklären. Als „soteriologische" Stellvertretung im Sinne einer Katharsis ist der „Sündenbock" zu werten, der in vielen Kulturen (so z. B. während des Thargelienfestes in Athen) als Entsühnungsritus eine Rolle spielte: Sog. Pharmakoi entsühnten den Ort, indem sie das Böse, das sich dort angehäuft hatte, gleichsam auf sich luden, sich entfernten und dann getötet wurden. Sie handelten „stellvertretend" für die schuldbeladene Bevölkerung (Ersatzhandlungen).

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Stellvertretung I

3. Stellvertretung im Sinne obiger Definition (sakrales Königtum) übte der KhalTf im frühen Islam aus. Das Wort halTfa bedeutet „Nachfolger, Stellvertreter", ein Titel, den die Imäme als Nachfolger und Stellvertreter Muhammads (halTfat rasül Alläh bzw. amir al-mu'mintn, „Befehlshaber der Gläubigen" [z. B. 'Umar]) trugen. Im Qur'än (Suren 6,165; 24,55; 27,62) bezeichnet halTfa den Träger des ererbten Segens, den Gerechten (7,69.74), den Statthalter Gottes (balifat Alläh) auf Erden (Adam, Sure 2,30) oder seinen Stellvertreter (David, Sure 38,26). In diesem Sinne wird das KhalTfat der Umayyadendynastie (661750) mit den Worten begründet: „Die Erde gehört Gott; er hat sie seinem halTfa anvertraut; der, der auf ihr der Herrscher ist, wird nicht besiegt werden" (Watt/Marmura 73). Der halifa wird zum Vollstrecker der sari'a auf Erden (Lambton 948). Seit 'Umar (634- 644) wird halTfa Terminus für „Nachfolger des Gesandten Gottes" (mit Ausnahme von dessen prophetischen und spirituellen Funktionen), später (seit 'Utman [644- 656]) wird der anspruchsvolle Ehrentitel halifat Alläh, „Stellvertreter Gottes", auf alle Khallfen angewandt. ijalTf und imäm werden damit zu Synonymen (Lambton 948). Die mahdistischen Bewegungen übertrugen die ursprüngliche Bedeutung von auf den mahdt (Sarkisyanz 259f.).

halifa

Der sunnitische mahdt ist als letzter Khatif „der (von Allah) Geleitete", der Erneuerer und Wiederhersteller des Glaubens. Der Verborgene Imäm der Zwölfer Si'a, dessen Rückkehr man erwartet, wird von den Sl'iten in Persien al-mahdT (muntazar), „erwarteter mahdt", genannt. „Das Amt des Imam ist wie das des Propheten; beide haben die Funktion der Autoritätsausübung über alle Gläubigen, sowohl in Angelegenheiten der Religion als in denen des Staates" (Donaldson 316f.). Die Stellvertretung wird damit zum religionspolitischen Mandat. Schließlich wird der Tod von Muhammads Enkelsohn Husayn, der auf dem Schlachtfeld von Kerbela fiel (10. Oktober 680), als stellvertretendes Leiden gedeutet. Sein Tod „erhielt einen soteriologischen Sinn; er wurde als freiwillig erduldetes Martyrium erlebt" (Sarkisyanz 240; christlicher Einfluß auf den schiitischen Stellvertretungsmythos). 4. Der Bodhisattva ist eines von vielen Wesen, die sich auf die Erleuchtung vorbereiten („Erleuchtungswesen"). Er gleicht dem arhät, dem Mönchsheiligen, der die Welt aufgibt, ein asketisches Leben führt und durch Weisheit Erlösung erlangt, aber er läßt — im Gegensatz zu diesem — die Mit-Lebewesen nicht im Stich, „mit denen zu leben, zu empfinden, zu fühlen und zu leiden ihm geboten i s t " (Mehlig 58). Der Bodhisattva löst den arhät ab und wird zum O b j e k t der Verehrung für breite Bevölkerungsschichten. Denn er „sucht und findet Mittel und Wege, seinen Mitmenschen den Pfad zur Erleuchtung zu weisen" (ebd.), indem er Mitleiden und Opferbereitschaft im Hinblick auf die zahllosen anderen Lebewesen entwickelt und sich mit diesen (bis zur Aufhebung des IchBewußtseins) identifiziert. Das Bodhisattva-Ideal ist also Teil der mahäyäna-buddhistischen Heilslehre, in deren Zentrum das stellvertretende Mit-Leiden steht. Zu den klassischen Texten, die das Bodhisattva-Ideal in diesem Sinne beschreiben, gehört das Ashtäsäkäshrikä 15,293 (dt. Conze, Buddhismus 121): „Täter dessen, was schwer ist, sind die Bodhisattvas, die großen Wesen, die darauf ausgehen, höchste Erleuchtung zu gewinnen. Sie haben nicht den Wunsch, ihr eigenes privates Nirväna zu erreichen. Im Gegenteil, sie kennen die furchtbare, leidenvolle Welt der lebenden Wesen und, obwohl es sie danach verlangt, die höchste Erleuchtung zu gewinnen, so zittern sie doch nicht vor Geburt und Tod. Sie haben sich auf den Weg begeben zum Vorteil der Welt, zur Hilfe für die Welt, aus Mitleid mit der Welt. Sie sind entschlossen: ,Wir wollen ein Hafen für die Welt werden, eine Zuflucht für die Welt, der Ruheplatz der Welt ..., Inseln der Welt, Leuchten der Welt, Führer der Welt, - der Weg der Welt zur Erlösung'". Der Bodhisattva stellt seine eigene Erlösung so lange zurück, bis die anderen Lebewesen in das Nirväna eingegangen sind; erst dann folgt er ihnen. Der Bodhisattva behält also die erworbenen Verdienste nicht für sich, sondern gibt sie und sich - altruistisch - für die Erlösung der anderen Wesen hin. Er opfert sich für die leidende „Kreatur", indem er ihr Joch auf sich nimmt: „Ich nehme auf mich die Last aller Leiden, . . . ich ertrage sie ...; von mir müssen alle Wesen befreit werden. Von mir muß die ganze Welt der Lebenden gerettet werden . . . Alle Wesen müssen von mir . . . aus der Flut des samsära herausgeholt werden" (Vajradhvija-Sütra: Sikslsamuccaya des Santideva [7. Jh. n.Chr.]; dt. Winternitz 34f.).

Stellvertretung II

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V o r a u s s e t z u n g für das stellvertretende M i t - L e i d e n ist, d a ß Vorstellungen wie „ I c h " , „ M e i n " und „ S e l b s t " v e r s c h w u n d e n sind, d a m i t sich der B o d h i s a t t v a völlig selbstlos seinem E r l ö s u n g s w e r k hingeben k a n n . Im japanischen B u d d h i s m u s seit Shinran ( 1 1 7 3 - 1 2 6 2 ) schließlich verschmilzt d a s B o d h i s a t t v a - I d e a l mit d e m A m i d a ( A m i t ä b h a ) - B u d d h i s m u s , der von seinen A n h ä n g e r n n u r den G l a u b e n fordert, a u f den A m i d a / A m i t ä b h a mit seinem E r b a r m e n a n t w o r t e t . Quellen Cecil Bendall/William Henry Denham Rouse (Hg.), Santideva, Siksasamuccaya, London 1922. - Johannes Mehlig (Hg.), Weisheit des alten Indien. II. Buddhistische Texte, München 1987. Richard Schmidt, Bodhicaryävatära des Santideva, Paderborn 1923. - Moritz Winternitz, Der M a häyäna-Buddhismus, 1930 (RGL 15). Literatur Thomas W. Arnold, T h e Caliphate, London 1924 = M965. - Ders., Art. khalifa: HIsl (1941) 2 9 1 - 2 9 6 . - Walter Beyerlin (Hg.), Religionsgesch. Textbuch zum AT, 1975 ( G A T 1). - Edward Conze, Buddhism. Its Essence and Development, Oxford 1951; dt.: Der Buddhismus. Wesen u. Entwicklung, 1953 '1981 (UB 5). - Har Dayal, T h e Bodhisattva Doctrine in Buddhist Sanscrit Literature, London 1932. - Ernst Ludwig Dietrich, Der Mahdi Muhammad Ahmad nach arab. Quellen, Berlin 1925. - Dwight Martin Donaldson, T h e Shiite Religion, London 1933. - Yaakov (Jack) Elman, T h e Suffering of the Righteous in Palestinian and Babylonian Sources: I Q R 80 (1989/ 1990) 3 1 5 - 3 3 9 . - Ignaz Goldziher, Du sens propre des expressions Ombre de Dieu, pour designer les chefs dans l'Islam: R H R 35 (1897) 3 3 1 - 3 3 8 . - Frederik de Jong, Art. Mysticism: EI 2 4 (1978) 9 5 0 - 9 5 2 . - Nathan Katz, Buddhist Images of Human Perfection, Delhi u.a. 1982. - Ann Katharine S. Lambton, Art. Khalifa. II. In Political Theory: EI 2 4 (1978) 9 4 7 - 9 5 0 . - Johannes Laube, Das Ideal des mahayana-buddhistischen Bodhisattva bei Shinran: Grundwerte menschlichen Verhaltens in den Religionen, hg. v. Horst Bürkle/Hans-Joachim Klimkeit, Frankfurt a . M . 1993 (Religionswiss. 6) 4 3 - 5 2 . - Duncan B. Macdonald, Art. al-Mahdl: HIsl (1941) 3 9 3 - 3 9 7 . - David Samuel Margoliouth, T h e Sense of the Title Khalifah: A Vol. of Oriental Studies presented to Edward Granville Browne, hg. v. Thomas W. Arnold/Reynold A. Nicholson, Cambridge 1922, 3 2 2 - 3 2 8 . - Yann Richard, Le shiismc en Iran, 1980 (Inilsl 10); dt.: Der verborgene Imam. Die Gesch. des Schiismus im Iran, Berlin 1983. - Helmer Ringgren, Die Religionen des Alten Orients, 1979 (GAT.S). - Emanuel Sarkisyanz, Rußland u. der Messianismus des Orients, Tübingen 1955, bes. 2 3 9 - 2 6 8 (Lit.). - Katesa Schlosser, Propheten in Afrika, Braunschweig 1949. - Dominique Sourdel, Art. Khalifa. I. History of the Institution of the Caliphate: El 2 4 (1978) 9 3 7 - 9 4 7 (Lit.). - Rudolf Strothmann, Die Zwölfer SchT'a, Leipzig 1926. - John S. Trimingham, Islam in the Sudan, London 1949. - W. Montgomery Watt, God's Caliph. Qur'änic Interpretations and Umayyad Claims: Iran and Islam, hg. v. Clifford Edmund Bosworth, Edinburgh 1971, 565 - 5 7 4 . - Ders./Michael Marmura, Der Islam. II. Politische Entwicklungen u. theol. Konzepte, 1985 ( R M 25,2). Peter Gerlitz

II. Altes T e s t a m e n t (Literatur S. 137) M a n k a n n in einem weiten Sinne jedes M i t t l e r a m t rechtlicher und religiöser A r t , in d e m j e m a n d anstelle v o n (einem) a n d e r e n handelt, als Stellvertretung bezeichnen. Die P e r s o n des M i t t l e r s repräsentiert im religiösen Bereich G o t t g e g e n ü b e r einem einzelnen b z w . einer G r u p p e u n d / o d e r den einzelnen b z w . die G r u p p e gegenüber G o t t . In dieser Konstellation sind z . B . - » A b r a h a m (Gen 1 2 , 1 - 3 ; 15; 17 u . ö . ) , - » I s a a k (Gen 2 6 , 3 - 5 . 2 9 ; 2 7 , 2 8 f . u . ö . ; keine Stellvertretung in G e n 2 2 ) und - » J a k o b (Gen 2 8 , 1 3 - 1 5 ; 3 0 , 2 7 . 3 0 ; 3 5 , 9 - 1 3 u . ö . ) , aber a u c h der K ö n i g ( - » K ö n i g t u m ) als Segensmittler tätig (Ps 7 2 u . ö . ; - » S e g e n / S e g e n und F l u c h ) , - » M o s e als M i t t l e r der G e b o t e G o t t e s und als F ü r s p r e c h e r des Volkes ( E x 3 2 , 1 1 - 1 3 . 3 0 - 3 2 ; N u m 1 1 , 1 - 3 . 1 0 - 1 5 ; 1 4 , 1 1 - 1 9 ; D t n 9 , 1 8 - 2 0 . 2 5 - 2 9 u . ö . ; vgl. Aurelius), - » D a v i d als königlicher Verheißungsmittler (II S a m 7 ; seit der Exilszeit z u n e h m e n d als corporate

identity

für d a s k ö n i g l o s e Volk: Ps 8 9 u . ö . ) , die - » P r i e s t e r

als M i t t l e r der - » S ü h n e beim - » O p f e r und die - » P r o p h e t e n als M i t t l e r des G o t t e s w o r t e s .

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Stellvertretung II

Im Unterschied zu dieser allgemein verbreiteten Konzeption von Stellvertretung als Repräsentation ist die Stellvertretung im Sinne der Substitution sehr selten belegt. Freilich gewinnt sie erst in diesem Verständnis theologische Prägnanz. Unter dem Aspekt der Substitution rückt die stellvertretende Lebenshingabe eines Menschen zum Heil anderer ins Zentrum theologischer Reflexion. Dieser Gedanke ist nur in einem alttestamentlichen Text, dem vierten Gottesknechtslied in Jes 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 (-•Deuterojesaja 5.), realisiert worden. Gestalt und Gehalt des Textes geben zu erkennen, daß Vorstellungen aus dem Bereich der repräsentativen Stellvertretung rezipiert und im Sinne einer substitutiven Stellvertretung verarbeitet worden sind. Dadurch scheint eine neue Dimension theologischen Denkens am Horizont auf, deren Entwicklung im vierten Gottesknechtslied selbst noch ablesbar ist. Z u den konstitutiven Vorläufern des Gedankens der stellvertretenden Lebenshingabe im vierten Gottesknechtslied gehören wahrscheinlich keine kultischen Texte. Weder die Weihe der Leviten für J h w h anstelle der Erstgeborenen in Num 8 , 5 - 2 2 noch das Ritual des Versöhnungstages in Lev 16 sind vom Gedanken der Stellvertretung im Sinne der Substitution bestimmt (Körting). Beim Azazelritus in Lev 1 6 , 2 0 - 2 2 handelt es sich um einen Eliminationsritus, in dem durch Aarons beidhändigen Gestus der Handaufstemmung auf den Kopf des Sündenbockes die Objektübertragung der Sünde stattfindet. Bei bestimmten Tieropfern (Lev 4 u.ö.) wird durch den einhändigen Gestus der Handaufstemmung keine Subjektübertragung im Sinne der symbolischen Lebenshingabe des Opfernden im stellvertretenden Tod des Opfertieres erreicht (so Janowski), sondern es handelt sich um einen Akt der Besitzanzeige, der die Voraussetzung dafür schafft, daß das im Blut enthaltene Leben des Opfertieres gemäß der in Lev 17,11 formulierten Vorstellung Sühne für den Opfernden wirken kann. Demgegenüber führen bestimmte Entwicklungen in der Prophetie des 7. und 6. J h . in die Nähe des substitutiven Stellvertretungsgedankens (Spieckermann). Es handelt sich dabei um die Verbindung von prophetischer Fürbitte für das Volk und Leiden des Propheten am göttlichen Auftrag und am Volk. Diese Verbindung wird in Texten des Jeremia- und des Ezechielbuches anschaulich. Während im Jeremiabuch scheiternde und untersagte Fürbitte für das Volk mit dem Leiden des Propheten in engen Zusammenhang kommen (Jer 7,16; 11,14; 1 4 , 1 1 - 1 6 ; 15,1; 1 8 , 1 8 - 2 3 ) , kennt das Ezechielbuch neben ähnlichen Texten (Ez 9 , 8 - 1 0 ; 13,5; 1 4 , 1 2 - 2 0 ; 22,30; zum Umfeld gehörig: Gen 1 8 , 2 2 b - 3 3 ; Am 7 , 1 - 8 ) auch das repräsentative Tragen der Schuld des Volkes durch den Propheten (Ez 4 , 4 - 8 ) . In die Nähe gehört gleichermaßen die prophetische Charakterisierung des M o s e im Deuteronomium, der den Zorn Gottes um der Israeliten willen erleidet (Dtn 1,37; 3 , 2 3 - 2 8 ; 4,21). Freilich gilt für alle genannten Texte: Z w a r leidet der Stellvertreter, aber er leidet nicht stellvertretend. Unter Aufnahme von Motiven aus dem Jeremia- und Ezechielbuch ist es erst das dritte Gottesknechtslied (Jes 5 0 , 4 - 9 ) , das die noch nicht realisierte Verbindung von göttlichem Auftrag und stellvertretendem prophetischem Leiden geradezu herausfordert. Sie wird im vierten Gottesknechtslied realisiert (-»Rechtfertigung), bezeugt sowohl von Gott selbst (Jes 5 2 , 1 3 - 1 5 ; 5 3 , l l a / ? b - 1 2 ) als auch von einer Gruppe, die von sich im Wir-Stil spricht (53,1 — l l a a ) und am ehesten die ins Land zurückgekehrte Gola repräsentiert. Der nicht identifizierte Knecht leidet und stirbt stellvertretend für andere. Dieser Gedanke steht im Zentrum des Textes (53,4f.). Dabei handelt der Knecht in einer eigentümlichen Einheit aus Selbstentschluß zum Auf-sich-Nehmen des Leidens für andere und Gottes Entschluß, diesen Knecht die Strafe für die Sünden anderer treffen zu lassen. Die Sequenz der Aussagen in Jes 5 3 , 4 - 6 und 53,10 läßt die Willenseinheit von G o t t und Knecht deutlich zutage treten, ohne daß das Verhältnis der beiden zueinander Gegenstand expliziter Reflexion würde. Das für andere heilsame Todesgeschick des Knechtes zeigt, daß seine stellvertretende Tat so einmalig ist wie ihre Voraussetzung exzeptionell: die Schuldlosigkeit des Knechtes (53,9b). Schuldlosigkeit und Todesgeschick des Knechtes lassen kaum Zweifel zu, daß es sich ursprünglich um eine individuelle Gestalt

Stellvertretung II

137

gehandelt haben m u ß . Zugleich ist eine Offenheit zum kollektiven Verständnis gegeben, da die Deutung des Knechtes auf (Teile von) Israel in den Wachstumsringen des Deuterojesajabuches bereits vorgegeben ist (Jes 4 2 , 5 - 7 ; 4 9 , 8 - 1 3 ; 50,10f.; besonders wichtig 4 2 , 1 8 - 2 5 ; Kratz). O b die rahmenden Gottesreden in Jes 5 2 , 1 3 - 1 5 und 5 3 , l l a / ? b - 1 2 von Anfang an zum G r u n d b e s t a n d des vierten Gottesknechtsliedes gehört haben, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. D a in den beiden Teilen der Gottesrede Vorstellungen aus der formal u n d inhaltlich abgerundeten Rede der W i r - G r u p p e präzisiert bzw. weiterentwickelt werd e n , liegt der G e d a n k e der Fortschreibung nahe. Sie wäre zunächst in 5 3 , l l a / ? b - 1 2 mit dem Ziel erfolgt, die stellvertretende Tat des Knechtes nicht nur einmal, sondern ein f ü r allemal geschehen sein zu lassen. Die futurisch zu übersetzenden Verbformen über die fortbestehende Bedeutung der T a t des Knechtes lassen dies deutlich werden. D a m i t hängt z u s a m m e n , d a ß die Tat nicht allein der W i r - G r u p p e , sondern auch k ü n f tig lebenden Menschen zugute k o m m t , nämlich den Vielen (rabbtm), wie in 53,11 betont wird. Wer sich zu den Vielen rechnen darf, wird gegenüber der Rede der W i r - G r u p p e deutlich ausweitend gesagt. Es sind die Sünder (53,12b) — a m ehesten die Sünder in Israel. Schließlich werden durch die einleitende Gottesrede in Jes 5 2 , 1 3 - 1 5 die Vielen, denen das stellvertretende Handeln des Knechtes zugute k o m m t , mit den vielen Völkern in Z u s a m m e n h a n g gebracht. Die Niedrigkeit des Knechtes ist seine E r h ö h u n g coram gentibus. Z w a r wird in 52,15 nicht gesagt, d a ß die Völker an der heilsamen W i r k u n g von Leiden und Sterben des Knechtes teilhaben. Aber der weitere G a n g des Textes in Jes 53 kann im Lichte von 52,15 gar nicht anders verstanden werden. In der Endfassung erfüllt sich im vierten Gottesknechtslied, was das erste und zweite Gottesknechtslied in redigierter Gestalt ankündigen: d a ß der Knecht Israel z u m Licht für die Völker werden wird ( 4 2 , 1 - 7 ; 4 9 , 1 - 6 ; in 49,7 liegt bereits ein Echo auf 52,15 vor). Israel ist nun der Knecht, durch den G o t t zugleich an Israel und an der Völkerwelt handelt. Stellvertretung ist zur schon geschehenen, endgültigen Heilstat mit universaler Bedeutung geworden. Der Gedanke der Stellvertretung im Sinne der substitutiven T a t des Knechtes hat im Alten Testament weder in seiner Ausrichtung auf Israel noch auf die Völker Fuß fassen können. D a s vierte Gottesknechtslied ist ein singulärer Text geblieben, der im Blick auf das Stellvertretung leistende Subjekt und die Stellvertretungstat selbst noch Unklarheiten in sich hat. Stellvertretung wird in den jüngsten Stadien des Jesajabuches abgelehnt (Jes 5 9 , 1 5 - 2 0 ; 6 3 , 1 - 6 ) und scheint im Fortgang der alttestamentlichen Traditionsbildung b e w u ß t nicht weiter verfolgt worden zu sein (Wolff). Literatur Erik Aurelius, Der Fürbitter Israels. Eine Stud. zum Mosebild im AT, 1988 (CB.OT 27). - Samuel Eugene Balentine, The Prophet as Intercessor. A Reassessment: JBL 103 (1984) 161-173. - Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Stud. zur Sühnetheol. der P u. zur Wurzel KPR im Alten Orient u. im AT, 1982 ( W M A N T 55). - Ders., Stellvertretung. Atl. Stud. zu einem theol. Grundbegriff, 1997 (SBS 165). - Corinna Körting, Der Schall des Schofar. Israels Feste im Herbst, 1999 (BZAW 285). - Reinhard Gregor Kratz, Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgesch. Unters, zu Entstehung u. Theol. v. Jes 4 0 - 5 5 , 1991 (FAT 1). - Der leidende Gottesknecht. Jes 53 u. seine Wirkungsgesch., hg. v. Bernd Janowski/Peter Stuhlmacher, 1996 (FAT 14) (Lit.). - Adalbert Metzinger, Die Substitutionstheorie u. das atl. Opfer unter besonderer Berücksichtigung v. Lev 17,11: Bib. 21 (1940) 159-187.247-272.353 - 3 7 7 . - Adrian Schenker, Versöhnung u. Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im AT. Mit einem Ausblick auf das NT, 1981 (BiBe 15). - Hermann Spieckermann, Konzeption u. Vorgesch. des Stellvertretungsgedankens im AT: Congress Vol. Cambridge 1995, 1997 (VT.S 66) 281-295. - Hans Walter Wolff, Jesaja 53 im Urchristentum, Bielefeld 1942 *1984 (TVGMS 233). - Noam Zohar, Repentance and Purification. The Significance and Semantics of httä't in the Pentateuch: JBL 107 (1988) 6 0 9 - 618.

H e r m a n n Spieckermann

138

Stellvertretung III

III. J u d e n t u m 1. Beauftragung und Durchführung vertretende Entsühnung und Erlösung 1. Beauftragung

und

2. Mose: Stellvertreter Gottes und des Volkes (Literatur S. 140)

3. Stell-

Durchführung

N a c h rabbinischem Verständnis ist ein Stellvertreter (besonders säliah) eine Person, deren amtliche Funktionen und Wirkmöglichkeiten von G o t t und von der halachischen jüdischen Autorität ermöglicht und umgrenzt werden. Letztere kann gremial (der jüdische Gerichtshof) oder individuell (zuverlässige Einzelpersonen) sein. D a s W o r t säliah (.sälüah) kann mit „Bevollmächtigter, Beauftragter, Legitimierter, Beamter, Gesandter, Ersatzperson, Vermittler, A p o s t e l " u.a. wiedergegeben werden. Für das Verhältnis des säliah zum menschlichen Auftraggeber lautet der Grundsatz: „Der säliah eines Menschen ist wie dieser selbst" (k'motö: mBer 5,5; yQid 2,1 [61a]; bBer 34b; bQid 41b; bNed 72b; bHag 10b; bSan 113a; bBM 96a; bMen 93b u.ö.). Er spricht und handelt „an Stelle" der beauftragenden Instanz (tah'täw. mYom 1,1; tYom 1,4). Er füllt den Platz des Auftraggebers, der Väter oder Amtsvorgänger aus (m'malle' mäqöm) (bHor I I b ; bKet 103b; bSan 24a; KallaRti 3,2). Bei seinem Tun übernimmt der Beauftragte den Willen des Auftraggebers und wird für den/die Adressaten implizit zum Auftraggeber bzw. Absender selbst (ETal 1, 725 - 7 3 4 ) . Wenn ein Stellvertreter seinen Auftrag böswillig abändert, wirkt sich dies auch negativ auf seine Auftraggeber aus. In mBer 5,5 wird im Falle des von der Gemeinde bestimmten Vorbeters (säliah jibbur) gesagt: Wenn er sich beim offiziellen Gemeindegebet irrt, „dann ist er (!) ein schlechtes Zeichen für die, die ihn bestellt haben" (vgl. bNed 54a; bPes 8a). D a ß und wie beim beamteten Stellvertreter die göttliche und die menschliche Beauftragungsinstanz ineinandergreifen, wird von den Rabbinen besonders im Falle der entsühnenden Kultfunktionen ( - » S ü h n e ) des Hohenpriesters und der Priester a m Versöhnungstag ( - » F e s t e und Feiertage H.5.; III.3.8.) diskutiert und festgelegt. N a c h d e m sich der Hohepriester eine W o c h e lang den halachischen Instruktionen des bet din (Gerichtshofes) unterzogen hatte, w u r d e er von einigen Ältesten dieses Gesetzesgremiums in den Tempel hinein begleitet, damit er d o r t mit ihnen und den assistierenden Priestern, Leviten und Standmannschaften schwierige liturgische Vorgänge zur Entsühnung einübe. Am Vortag des Versöhnungsfestes verabschiedeten sich die Ältesten laut der Mischna-Tradition von ihm mit den Worten: „Wir sind die Stellvertreter (s'lühim) des bet din, du bist unser Stellvertreter und der Stellvertreter des bet din. Wir verlangen einen Eid von dir bei dem, der seinen Namen in diesem Haus hat wohnen lassen, daß du keine Sache von dem änderst, was wir dir gesagt haben" (mYom 1,5). Die Tosifta sagt ergänzend: „Weshalb sondern sie anstelle des Hohenpriesters einen andern Priester aus? Damit dieser, wenn dem Hohenpriester ein Makel zustößt, an seiner Stelle den liturgischen Dienst versehe" (tYom 1,4, S. 180; vgl. Schwarz; Larsson z.St.). Da „die Rabbanan ihre Verordnungen den Verordnungen der Tora gleichgestellt haben" (bYom 31a), blieb Raum für das Bewußtsein, daß der Hohepriester bei seinen liturgischen, das Volk mit Gott versöhnenden Handlungen „nicht nur unser Stellvertreter" ist, sondern auch der „Stellvertreter des Allbarmherzigen" (sälüah de Rah'mana'). Er schuldete Gott und dem ihn beauftragenden irdischen Gesetzesgremium Gehorsam und Rechenschaft (bYom 1 9 a - b ; bNed 35b; bQid 23b). Entsühnung kommt also nicht nur von gesetzlich exakter Durchführung her, sondern auch vom partizipierenden Gott, der als Bevollmächtiger (m'salleah) seines liturgischen Stellvertreters mysterial wirkt. Deshalb darf das bet din die -»Priester „nicht zum Selbstzweck benützen" (bNed 35b). „Die Priester bewirken (hif. von 'bd) ja etwas, was wir nicht bewirken können" (bQid 23b; bYom 19b). 2. Mose:

Stellvertreter

Gottes

und des

Volkes

N a c h rabbinischer Tradition (z. B. M e k h Y zu E x 19,34) gelten die mehrmaligen Aufstiege - » M o s e s zu G o t t auf den Sinai und sein nachheriges Z u r ü c k k o m m e n zum Volk (nach E x 19f.; 2 4 ; 3 2 - 3 4 ) als exemplarische und bindende Vermittlertätigkeit. „ O h n e Z ö g e r n unternahm M o s e seine Vermittlungsgänge, um Israel a u f den T o r a - E m p f a n g vorzubereiten" (Levinas 104). Aufgrund seiner eifrigen Auftrags- und Ausgleichsbemü-

Stellvertretung III

139

hungen wird er in der H a g g a d a als gizbar (Schatzmeister), parnas (Verwalter), sarsür/ sirsür (Unterhändler), sos'vin (Brautführer), P ä d a g o g e , sanegor (Advokat, Fürsprecher) und 'orban (Bürge) bezeichnet ( T h o m a / L a u e r / E r n s t I, 1 0 8 - 1 1 1 . 2 1 6 - 2 2 2 ; III, 3 6 3 f . ; t D e m 1 : 2 2 a ; SifDev 3 4 4 ) . In ySan 1,7 (19b) wird M o s e als „verläßlicher und erfahrener Schatzmeister bei der Planung des H a u s h a l t e s " des Volkes bezeichnet: Als Beauftragter G o t t e s übermittelte er dem Volk die göttlichen Ge- und Verbote; als Beauftragter des Volkes brachte er bei G o t t die Bitten um E r b a r m e n vor. N a c h Rabbi J o c h a n a n ( b R H S h 17b) hat sich G o t t vor M o s e „ w i e ein sältah zibbür [in den Gebetsmantel] eingehüllt, d e m M o s e die Gebetsordnung gezeigt und gesagt: I m m e r wenn die Israeliten sündigen, sollen sie sich nach dieser Gebetsordnung verhalten, und ich vergebe i h n e n " . M o s e w a r also auch der sältah Gottes bei der Einrichtung der jüdischen Gemeindeliturgie. Als Mittler nach zwei Seiten hin w a r sich M o s e seiner doppelten Verantwortung bewußt. Als die Israeliten das Kalb anbeteten, zerschlug M o s e die Gesetzestafeln. Dabei sagte er sich: E s ist besser, wenn die Israeliten als unreife Sünder gerichtet werden und nicht als bewußt Schuldige (ShemR tissa 4 3 , 1 [zu E x 3 2 , 1 1 ] ; vgl. m B B 5 , 8 ; 9 , 4 ; D e v R 3 , 1 2 ; T h o m a / L a u e r / E r n s t I, 2 1 0 - 2 1 3 ) . 3. Stellvertretende

Entsühnung

und

Erlösung

Im Mussafgebet des Neujahrsfestes wird gebetet, G o t t m ö g e „des Bundes, der G n a d e und des Schwures g e d e n k e n " , die E r d e m - » A b r a h a m a u f dem Berg M o r i a zugeschworen habe: „ V o r Dir soll aufscheinen die Akeda, denn unser Vater A b r a h a m band seinen Sohn Isaak auf dem Altar und bezwang sein väterliches E r b a r m e n , um Deinen Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen. So m ö g e auch Dein E r b a r m e n Deinen Z o r n von uns w e g bezwingen. In Deiner großen G ü t e m ö g e Dein Z o r n sich von Deinem Volk, Deiner Stadt und Deinem E r b e entfernen . . . " (Gebetbuch 104). Der vorbildliche Gehorsam Abrahams gilt also als Angeld für das Erbarmen Gottes gegenüber späteren Generationen. Auch über -»Isaak, -»Jakob, Mose, -»David wird gesagt, daß ihr GrundVerdienst (z'khüt) eine vorausgehende Stellvertretung, ein Versöhnungs-Kapital, für das spätere sündige Israel war. Von Mose und David wird gesagt, daß sie „durch ihre guten Taten die Sünden Israels zu tragen vermochten" (SifDev 26). Es ist ein dominanter jüdisch-traditioneller Glaube, daß die Verdienste der Väter, der Gerechten aller Zeiten und der Märtyrer das sündige Volk Israel immer wieder dem Erbarmen Gottes zuzuführen vermögen. „Wegen eines Gerechten wird die Welt erhalten; es heißt ja in Prov 10,25: ,Der Gerechte ist das Fundament der Welt'" (bYom 38b; vgl. Sifra zu Lev 26,42; BerR 56 zu Gen 22; bSan 89b; PRE 31; ShemR 44,3 zu Ex 32,13). In gleichem Sinn wird in bSuk 45b gesagt, daß auf den 36 Gerechten, die in jeder Generation auftreten, die Erhaltung der Welt beruht (ähnlich BerR 35; bHul 92a; b M Q 28a; PRE 25). Diese Lehre war später im -»Chasidismus dominant. Rabbi Nachman von Brazlaw (1771-1810) unternahm stellvertretend seine Reise ins heilige Land, um dem Messias den Weg zu bereiten (vgl. Brocke; Cunz). Ein Beispiel für eine Stellvertretung durch den Tod ist das legendäre Martyrium der zehn rabbinischen Weisen nach dem Bar-Kochba-Aufstand (bBer 61b; bTaan 29a; bSan 14a). Es wurde in spättalmudisch-frühmittelalterlicher Zeit als Bestrafung und Sühneakt für das weit zurückliegende unbestrafte Vergehen des Verkaufes Josefs durch seine Brüder an die Ismaeliten (Gen 37) gedeutet. In biblischer Zeit wurden die Brüder Josefs für ihre Tat nicht vor Gericht gestellt. Kaiser Hadrian habe um dieses religionsrechtliche Manko gewußt und daher zu den verhafteten Weisen gesagt: „Eure Väter, die ihren Bruder verkauften, waren des Todes schuldig. Auch ihr seid alle des Todes schuldig. ... Jetzt da sie nicht mehr in der Welt sind, fordere ich sie von euch ein; denn ihr seid deren Söhne und müßt ihren Schuldbrief einlösen!" (Reeg 5 8 - 6 2 ; vgl. BerR 94,4; yTer 8,10:46b). Die zehn Märtyrer akzeptierten ihre schwere Aufgabe des stellvertretenden Todes für ihre sündigen Urväter. Sie waren unschuldig Verurteilte. Schuldig Verurteilte dagegen können durch den Tod nur von eigener Schuld frei werden (mSan 6,2). N a c h bTaan 8a bringt jeder, „ d e r sich über die Heimsuchungen, die ihn treffen, freut, Heil in die W e l t " . N a c h b T a a n 2 1 b bergen auch Taten der Nächstenliebe die Kraft in sich, Unheil von den M i t m e n s c h e n abzuwenden. Als G r o ß e Israels - so SifDev 3 4 4 (S. 4 0 1 ) - sind jene zu bezeichnen, „die sich für Israel v e r p f ä n d e n " . W i e G o t t die

140

Stellvertretung III

ganze Schuld der Israeliten (nach E z 4 , 4 - 6 ) von Israel weg auf den Propheten gelegt habe, s o sei der volle liebende Einsatz der Gerechten das entscheidende Gewicht zum Heil Israels. Das in J e s 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 geschilderte Leiden des Gottesknechtes wird im T a r g u m nicht als stellvertretendes Sühneleiden im substitutiven Sinne gedeutet. N a c h T a r g u m J o n a t h a n bezieht sich J e s 5 2 , 1 3 - 5 3 , 1 2 a u f den Israel und seine w a h r e Gottesverehrung wiederherstellenden - » M e s s i a s . Anders der m o d e r n e jüdische H o l o c a u s t - D e u t e r I. M a y b a u m : N a c h ihm litten die jüdischen O p f e r in den G a s k a m m e r n von Auschwitz als leidende und sterbende Knechte G o t t e s im Sinne von J e s 5 2 f . eine (im substitutiven Sinne) „stellvertretende Sühne für die Sünden der M e n s c h h e i t " und sind daher „die ersten F r ü c h t e der E r n t e G o t t e s " (vgl. M a y b a u m 3 5 f . 6 3 ; ferner C o h n - S h e r b o k 1 0 - 1 2 ; Thoma 391-397). Literatur Theofried Baumeister, Die Anfänge der Theol. des Martyriums, 1980 (MBTh 45). - Gerhard Bodendorfer, Das Drama des Bundes. Ez 16 in rabbinischer Perspektive, Freiburg i.Br. 1997 (Herders Bibl. Stud. 11). - Michael Brocke, Die Erzählungen des Rabbi Nachman v. Bratzlaw, München 1985. - Dan Cohn-Sherbok, Issues in Contemporary Judaism, London 1991. - Martin Cunz, Die Fahrt des Rabbi Nachman v. Brazlaw ins Land Israel (1798-1799), 1997 ( T S M J 11). - Yaakov Elman, The Suffering of the Righteous in Palestinian and Babylonian Sources: J Q R 80 (1989/90) 3 1 5 - 3 3 9 . - ETal 1 (1973) 725 - 7 3 4 . - Gebetbuch f. das Neujahrsfest, hg. v. Wolf Heidenheim/Selig Bamberger, Basel 1943. - Joachim Jeremias, Jerusalem z.Z. Jesu, Göttingen 1 9 2 3 - 1 9 2 4 J 1962. Art. Kiddush Ha-Shem/Chillul Ha-Shem: E J 10 (1971) 9 7 7 - 986. - Klaus Koch, Messias u. Sündenvergebung im Jesaja 53-Targum. Ein Beitr. zur Praxis der aram. Bibelübers.: J S J 3 (1972) 117— 148. - Lukas Kundert, Die Opferung/Bindung Isaaks, 2 Bde., 1998 ( W M A N T 7 8 - 7 9 ) . - Göran Larsson, Der Tosefta-Traktat Jom hak-Kippurim, 1. T., Lund 1980. - Verena Lenzen, Jüd. Leben u. Sterben im Namen Gottes. Stud. über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem), München 1995. - Emmanuel Levinas, A l'heure des nations, Paris 1988; dt.: Stunden der Nationen. Talmudlektüren, München 1994. - Ignaz Maybaum, The Face of God After Auschwitz, Amsterdam 1965. - Gottfried Reeg, Die Gesch. v. den Zehn Märtyrern. Synopt. Ed. mit Übers, u. Einl., 1985 (TSAJ 10). - Stefan Schreiner, Jes 53 in der Auslegung des Chizzuq Emuna v. R. Isaak ben Avraham aus Troki: Bernd Janowski/Peter Stuhlmacher (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 u. seine Wirkungsgesch., 1996 (FAT 14) 1 5 9 - 1 9 5 . - Matthew B. Schwartz, The Meaning of Suffering. A Talmudic Response to Theodicy: Jdm 83 (1983) 4 4 4 - 4 5 1 . - Adolf Schwarz, Der Segan: M G W J 64 (1920) 3 0 - 5 5 . - Günter Stemberger, Der Talmud. Einf., Texte, Erläuterungen, München 1982. - Clemens Thoma, Das Messiasprojekt. Theol. jüd.-christl. Begegnung, Augsburg 1994. - Ders./ Simon Lauer/Hanspeter Ernst, Die Gleichnisse der Rabbinen, 3 Bde., 1 9 8 6 - 1 9 9 6 (JudChr 10.13.16). - Solomon Zeitlin, The Legend of the Ten Martyrs and its Apocalyptic Origins: J Q R 36 (1945/46) 1-16. Clemens T h o m a

IV. Neues T e s t a m e n t 1. Bestimmung und Abgrenzung des Begriffs 2. Beschreibung und Entfaltung der Vorstellungsstruktur 3. Traditions- und religionsgeschichtliche Fragen zur Deutung des Todes Jesu als Akt der Stellvertretung 4. Diskussion der wichtigsten Textgruppen (Literatur S. 144)

1. Bestimmung und Abgrenzung des Begriffs Stellvertretung ist ein sehr weiter, noch dazu neuzeitlicher Begriff, der ebensowenig wie im Alten Testament (s.o. II.), so a u c h im Neuen T e s t a m e n t (wie im Altgriechischen überhaupt) eine direkte lexikalische Entsprechung besitzt, sondern eher eine hinter verschiedenen T e x t e n liegende g e m e i n s a m e religiöse Vorstellung bezeichnet, die teilweise im kultischen Bereich, teilweise a n der Grenzlinie von Soteriologie und - • E t h i k anzusiedeln ist. U m der terminologischen und gedanklichen Klarheit willen empfiehlt es sich m . E . für den vorliegenden, speziell neutestamentlich-exegetischen Z u s a m m e n h a n g , einen

Stellvertretung III

141

„exklusiven" Begriff von Stellvertretung zugrunde zu legen und wie folgt zu definieren: Stellvertretung meint das Erbringen einer Leistung bzw. das Auf-sich-Nehmen eines Geschicks durch einen dazu geeigneten religiösen „Mittler", welche der Vertretene nicht oder nicht in derselben Weise zu erbringen bzw. auf sich zu nehmen vermag wie der Vertreter und welche unmittelbar, d . h . ohne eigene Aktivitäten ( = „substitutiv" im Sinne von oben II.), der Herstellung oder Wiederherstellung eines intakten Gottesverhältnisses des Vertretenen oder seiner In-Beziehung-Setzung mit -»Gott überhaupt (in der Fürbitte) dienen. Die Aktivität des Stellvertreters hat also Gott selbst zum direkten Gegenüber oder Adressaten und nicht nur den vertretenen Menschen. Eine Wirksamkeit „zugunsten v o n " oder „ a n " dem Menschen (im Sinne seiner Befreiung oder Reinigung von der Sünde oder ähnlichem) allein reicht für das Vorliegen des Stellvertretungsgedankens im hier gewählten engeren Sinne nicht aus, und es erscheint fraglich, ob der in der Systematischen Theologie verbreitete Gebrauch quasi als Synonym für „Erlösung" oder „ G n a d e " für die Exegese, insbesondere für den religionsgeschichtlichen Vergleich, sinnvoll ist. Mit dem Gesagten ist eine Abgrenzung gegenüber einem „inklusiven" Stellvertretungsbegriff vorgenommen, wie er häufig auch in der Exegese anzutreffen ist. Nach diesem besitzt der stellvertretende Sühnetod Christi (-»Sühne) eine das Leben des Sünders „einschließende" (inkludierende) Wirkung (vgl. Rom 6,3; II Kor 5,14; Gal 2,19) - was m.E. ein logischer Selbstwiderspruch ist und eher Anlaß sein sollte, das Vorliegen des Stellvertretungs- und Sühnegedankens an den genannten Stellen überhaupt in Frage zu stellen (vgl. auch Schröter 272ff., der jedoch weiterhin mit einem ungeklärten Stellvertretungsbegriff arbeitet; Röhser, Stellvertretung). Immerhin könnte man urteilen, Christus sei in seinem Sterben (und Auferstehen) den Weg des Heils vorangegangen, er habe also gewissermaßen „stellvertretend" den Durchbruch vom Tod zum Leben geschafft, und die Glaubenden gewinnen (wesentlich in der -»Taufe) Anteil an seinem Geschick (Partizipation, „Inklusion"; z.B. Rom 6,3f.; Kol 3,1). Doch auch in diesem Fall wäre die Verwendung des Stellvertretungsbegriffs irreführend, da nicht daran gedacht ist, daß die Menschen diesen Durchbruch eigentlich selbst hätten vollziehen müssen. Die Aussage liefe also letztlich auf die Unmöglichkeit der Selbsterlösung hinaus, wodurch der Stellvertretungsbegriff wieder sein spezifisches Profil verlöre. Wie (in diesem Sinne) „inkludierendes" Verständnis und genuine Stellvertretung sich verbinden können, zeigt Kol 2 , 1 2 - 1 4 (V. 12: mit Christus begraben in der Taufe-, V. 13 f.: tot in den Übertretungen, mit lebendig gemacht nach Schulderlaß aufgrund des stellvertretenden Todes Christi am Kreuz). 2. Beschreibung

und Entfaltung

der

Vorstellungsstruktur

In vielen Fällen gibt es keine eindeutigen sprachlichen Kriterien für Stellvertretung. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Präposition önep mit Genetiv, die „ f ü r " , „zugunsten/zugute", „anstatt/anstelle v o n " sowie auch „wegen, um . . . willen" (I Kor 15,3; Gal 1,4; I Clem 16,7) bedeuten und deren Kontext - ebenso wie zahlreiche andere neutestamentliche Aussagen - den Stellvertretungsgedanken implizit enthalten kann. Dennoch läßt sich eine übergreifende Vorstellungsstruktur wie folgt beschreiben und in konkreten Ausformungen entfalten. 2.1. Subjekt der Stellvertretung ist eine religiös d a f ü r qualifizierte Mittlergestalt. Dies können Menschen sein, die als Gemeindeglieder (und damit als Gerechtfertigte und Heilige) auf wirksame Weise (vgl. Jak 5,16 b) für andere vor Gott aktiv werden können, die dieses jetzt oder überhaupt nicht können oder wollen. Was Jesus Christus angeht, so sind hier die neutestamentlichen Prädikate zu nennen, die seine einzigartige Qualität als Stellvertreter der Menschen (bei Gott) zum Ausdruck bringen: Er ist gerecht, heilig, sündlos, das wahre Unschuldslamm usw. Dies ist unabdingbare Voraussetzung für die einzigartige Wirksamkeit seiner Stellvertretung.

142

Stellvertretung III

2.2. Bei den Formen der Stellvertretung ist z. B. an kultische wie - » G e b e t und - » O p f e r zu denken. Hierbei gilt, daß jede Fürbitte eines Gerechten als solche einen Akt der Stellvertretung im kultischen Sinne darstellt, welchem die Annahme durch Gott (Erhörung) sicher ist (dazu T R E 12,54ff.). Von Gottes Geist kann gesagt werden, daß er den Christen zu Hilfe kommt und in diesem Sinne „ f ü r " sie „eintritt", indem er das Stöhnen in ihren Herzen in himmlische, G o t t gemäße Sprache übersetzt (Rom 8,26f.). Von Stellvertretung im soteriologisch-ethischen Sinne kann erst dort die Rede sein, wo es um die Bewältigung von Sünde, Unheil und Tod geht. 2.2.1. Was die Möglichkeiten von Gemeindegliedern angeht, so ist hier neben Jak 5,15 f. (wechselseitiges stellvertretendes Gebet um Sündenvergebung) und I Joh 5,16 vor allem I Kor 15,29 zu nennen. Demnach ist in Korinth ein stellvertretendes Sich-taufen-Lassen für Verstorbene praktiziert worden, um auch diesen (den Geist und damit) die Möglichkeit der -»Auferstehung (oder zumindest irgendeines Lebens nach dem Tode) zu vermitteln. Sollte es sich bei dieser Taufe um die kultische Vorbereitung für ein wirkmächtiges stellvertretendes Gebet für die Toten um ihre Begabung mit Geist (für ein Leben vor Gott; vgl. I Petr 4,6c) handeln (so jetzt Berger 118f.137; vgl. auch II Makk 12,42ff.)> wäre die übliche Bezeichnung als „Vikariatstaufe" nicht mehr sachgemäß und der Akt der Stellvertretung auf das Gebet beschränkt. 2.2.2. Nach Rom 8,33 f.; Hebr 7,25; 9,24 und I Joh 2,1 f. tritt Christus als himmlischer Fürbitter (I Joh 2,1: Paraklet) bei und gegenüber Gott für die Christen wirksam gegen jegliche Anklage (bzw. jeglichen Ankläger; vgl. Rom 8,38) aufgrund ihrer Sünden ein; Grundlage dafür ist jeweils sein Opfer- bzw. stellvertretender (Sühne-)Tod. In allen Fällen geht es um das Problem der (vergebbaren) Sünde der Christen, nicht um die initiale Erlösung (grundsätzliche Sündenvergebung bei der Bekehrung). 2.2.3. Mit dem Genannten ist zugleich ein weiterer Parameter der Vorstellungsstruktur erfaßt: derjenige von Zeitpunkt und Ort der Stellvertretung. Wirksame Stellvertretung kann sowohl auf Erden (z. B. durch das Leiden und Sterben Jesu) als auch im Himmel (durch den erhöhten Christus, s. 2.2.2.) geleistet werden. In diesem Zusammenhang muß auch die Frage erörtert werden, ob Jesus nicht ebenso wie in seiner gesamten himmlischen Existenz (vgl. Hebr 7,25 b: „allezeit lebend, um einzutreten für sie"), so auch in seiner gesamten irdischen Existenz eine stellvertretende Funktion wahrnehmen kann. Ich möchte eine solche umfassende Bedeutung z. B. für J o h 1,29 („das Lamm Gottes, das wegnimmt die Sünde der Welt") in Erwägung ziehen. Schon in I J o h 3,5 läßt sich gegenüber 4,10 eine Ausweitung vom Sühnetod als dem Zweck der Sendung Jesu auf das Wegnehmen der Sünden als dem Sinn und Inhalt seiner gesamten Offenbarung beobachten. Von daher erhält das völlige Zurücktreten der Sühneterminologie im -»Johannesevangelium gegenüber dem 1. Johannesbrief besonderes Gewicht, und es legt sich nahe, das Lamm in J o h 1,29 nicht als Passa-, sondern als „Unschuldslamm" zu deuten. Dann ergibt sich als Gesamtsinn: Das sündlose Dasein Jesu gilt vor G o t t stellvertretend für die ganze Welt ( = alle Menschen) und hebt damit deren -»Sünde (und ihre Folgen) auf (anders noch Röhser, Metaphorik 63ff.: immerwährende stellvertretende Fürbitte Jesu). Zu vergleichen ist etwa ein Text wie 1QS 8: Danach soll das Zwölfergremium der QumranGemeinschaft die Schuld des ganzen Landes (Israel) wiedergutmachen bzw. „sühnen" (metaphorisch-kultische Terminologie im Rahmen des Selbstverständnisses der Gemeinde als „-»Tempel") dadurch, daß seine Mitglieder Gericht und Gerechtigkeit üben (Z. 3.10), und die Sühnefunktion kommt von daher der ganzen Gemeinde zu (Z. 6; 9,4f.). Vollkommener Wandel der einen gilt vor Gott als stellvertretender Ausgleich für die Schuld der anderen (vgl. schon Sir 45,23: der Eifer des Pinchas als „Sühne" für Israel). Auch I Kor 1,30 könnte eine ähnliche Vorstellung zugrunde liegen: Christus ist uns zur Gerechtigkeit geworden, d.h. seine stellvertretende -»Gerechtigkeit kommt uns zugute. 2.2.4. Aufgrund seiner Bedeutung ist im Rahmen der irdischen Stellvertreterfunktionen Jesu sein Leiden und Sterben „für" die Menschen bzw. „wegen" ihrer Sünden besonders zu nennen und zu besprechen. Ein angemessenes Verständnis hängt wesentlich von der Beantwortung der traditionsgeschichtlichen Fragen ab.

Stellvertretung III 3. Traditions- und religionsgeschichtliche Akt der Stellvertretung

143

Fragen zur Deutung des Todes Jesu als

Zur genaueren Erklärung der stellvertretenden Funktion des Todes Jesu werden in der Forschung mindestens vier mögliche Hintergründe für diese Vorstellung diskutiert, die sich teilweise überschneiden: 3.1. Bei den alttestamentlichen Sühnopfern übernimmt das sterbende Opfertier (inklusiv-)stellvertretend den Tod des Sünders („Existenzstellvertretung"; vgl. Lev 17,11). Kritisch wird eingewandt: Diese Auffassung läßt sich den alttestamentlichen Texten nicht eindeutig entnehmen; diese sind mehr am korrekten Vollzug (Gehorsamsakt) denn an einer Deutung der Opferriten interessiert (Barth 50ff.; s. auch o. II.). 3.2. Die Deutung als Sühnetod wurde durch das Gottesknechtskapitel Jes 53 hervorgerufen. Zur Kritik: Eine nachweisbare direkte Bezugnahme auf das stellvertretende Leiden des Gottesknechts liegt neutestamentlich nur in I Petr 2,24 vor; eine Formulierung mit vnip oder die Rede von vergossenem Blut und der Hingabe des Lebens als „Schuldopfer" (V. 10) findet sich in Jes 53 L X X (!) nicht; mit dem Lamm von V. 7 ist der Gottesknecht nur unter dem Aspekt des duldenden Schweigens verglichen, auch der Aspekt der Unschuld spielt hier keine Rolle. Erkennbare Anspielungen auf den stellvertretenden Tod des Gottesknechts enthalten Rom 4,25 a; Hebr 9,28 und vielleicht Rom 8,32 (ferner TestBenj 3,8; vgl. zu allen Jes 53,6.12 LXX). Die Beziehungen zwischen Mk 10,45 und I Tim 2,6 einerseits sowie Jes 53,10 (aber auch 43,3 f.) andererseits sind zu schwach. Beide neutestamentlichen Stellen sind überdies - wie auch Tit 2,14 und I Petr l,18f. - der Loskauf- bzw. Lösegeld-Vorstellung zuzuordnen, die sich zwar mit dem Stellvertretungsgedanken verbinden kann (so auch Gal 3,13; Apk 5,9; vgl. weiter Philo, Sacr 121 f.), grundsätzlich aber davon zu unterscheiden ist. 3.3. Nach II Makk 7,37f.; 8,5.27; IV Makk 6,27-29; 17,20-22 wirken die jüdischen Märtyrer - griechisch-römischen Menschenopfern durchaus vergleichbar (Hengel 7 f.) — mit ihrem Blut, d.h. hier: durch ihren metaphorisch-kultisch verstandenen Tod, Sühne für die Sünden des Volkes und erretten es so aus dem bereits hereingebrochenen göttlichen Zorngericht. Wichtig ist hier die Verbindung einer auch im Alten und Neuen Testament begegnenden kultischen Terminologie (Reinigung/Läuterung durch Blut, Sühnetod) mit einer wrcp-Formulierung (IV Makk 6,28). Der Gedanke und die Wertschätzung des (stellvertretenden) Todes „für" etwas (die Gesetze) oder andere (die Gemeinschaft, das Vaterland) selbst stammt aus der griechischen Antike. Gemäß hellenistischer Freundschaftsethik ist es ein Gebot wahrer Freundschaft, für Verwandte oder Freunde notfalls sogar das Leben hinzugeben (vgl. Schröter 272.318 [mit Belegen; dazu LibAnt 40,3f.]). 3.4. Von entscheidender Bedeutung (für alle genannten Ansätze und darüber hinaus) ist ohne Zweifel der alttestamentlich-jüdische Tat-Ergehen- bzw. Sünde-Unheil-Zusammenhang, nach welchem einem bestimmten menschlichen Tun notwendig ein entsprechendes Ergehen nachfolgt (Rom 6,23a: „der Sold der Sünde ist Tod"). Dieser von Gott konstituierte und getragene („schicksalwirkende Tatsphäre") bzw. eigens hergestellte („gerechtes Gericht") Zusammenhang erfordert es, daß eine Sünde nicht „einfach" vergeben oder gar ignoriert werden kann, sondern sich entweder auswirken (Unheil, -•Strafe) oder zusammen mit ihrer Strafe „aufgehoben", „(weg)getragen", beseitigt werden muß. Letzteres leistet nach dem Neuen Testament Christus an unser aller Statt und ein für allemal - durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben für alle Menschen und für alle Sünden. Die Ermöglichung und Initiative zu solcher Sündenbeseitigung geht dabei (wie im alttestamentlichen Sühnekult) letztlich von Gott selbst aus - durch die Glauben fordernde Sendung des Sohnes. Die Universalisierung des Gedankens ist im frühen Christentum in den Kreisen der sog. Hellenisten oder erst durch Paulus selbst vollzogen worden (vgl. Rom 3,25-30).

144 4. Diskussion der wichtigsten

Stellvertretung III Textgruppen

4.1. Deutlich im Horizont kultischer Sühne bewegen sich Texte wie Rom 3,25; I Joh 2,2 (vgl. mit Reinigungsmetaphorik 1,7); 4,10 sowie die einschlägigen Aussagen des Hebräerbriefes. Zwar ist auch in letzterem (wie schon in Lev 16,16-22) die Grundmetaphorik diejenige der Reinigung mit Blut und des Wegschaffens der Sünden. Eine stellvertretende Sühnewirkung des Blutes könnte aber ebenso mit anklingen (Hebr 2,17; 9,7.25f.28; 10,12). In Rom 8,3 und II Kor 5,21 ist die Bedeutung „Sündopfer" möglich, aber nicht erweisbar. 4.2. Die Mehrzahl der sog. Sterbens- und (Selbst-)Dahingabeformeln (z. B. I Thess 5,10; Rom 5,6.8; Eph 5,2) läßt sich traditionsgeschichtlich hinreichend aus der Verbindung von alttestamentlich-jüdischem Sünde-Tod-Zusammenhang und aus griechischhellenistischer Ethik stammender, jetzt auch auf „Sünder" ausgeweiteter Selbsthingabe erklären. Deutlich wird dies insbesondere dort, wo die stellvertretende Tat einem Individuum zugute kommt (Rom 5,7; 14,15; Gal 2,20). In den Fällen der Selbsthingabe Christi wird man aber neu (im Sinne von 2.2.3.) überlegen müssen, ob überhaupt (bzw. ausschließlich) auf den Tod Jesu (und nicht vielmehr auf seine gesamte Existenz) abgezielt ist bzw. inwiefern überhaupt „Stellvertretung" vorliegt. Das gilt auch für das Johannesevangelium und seine typische Wendung „sein Leben geben" bzw. „einsetzen f ü r " (zum freundschaftsethischen Hintergrund vgl. Joh 15,13; I Joh 3,16), für Joh 6,51 (zum Tod Jesu im Johannesevangelium s. zuletzt Müller 45 ff.; Dietzfelbinger) sowie für Mk 10,45 und I Kor 11,24 („mein Leib für euch"). Zum Ganzen vgl. Berger § 29. 4.3. Die Deuteworte beim -»Abendmahl stehen exemplarisch für das obengenannte Problem einer nur impliziten (und deswegen nicht eindeutig feststellbaren) Stellvertretungsaussage. So findet sich das „für euch" bzw. „für viele" beim Brotwort nach Matthäus und Markus überhaupt nicht, und die Bedeutung „Blutvergießen" beim Kelchwort kann keineswegs als gesichert gelten. Nach Lk 22,20 wird wohl nicht das Blut, sondern der Kelch als Zeichen des neuen Bundes in Jesu (Leben und) Sterben „ausgegossen" (dazu zuletzt Brandt 223ff.). 4.4. Eine eigene Gruppe bilden schließlich die wenigen „Versöhnungsaussagen" (zur Terminologie s. Breytenbach) in der paulinisch-deuteropaulinischen Theologie. Gemeinsame Vorstellung ist hier: Christus hat als Repräsentant Gottes durch seinen Tod/mit seinem Blut stellvertretend Wiedergutmachung (an Gott) geleistet und damit die Möglichkeit eines Friedens (aufgrund von Gerechtigkeit) zwischen Gott und den Menschen bzw. einer universalen Versöhnung eröffnet. Texte: II Kor 5,19.21; Rom 5,1.9f.; Eph 2,13-17; Kol 1,20-22; 2,14. Literatur Gerhard Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des NT, Neukirchen-Vluyn 1992 (Lit.). - Jürgen Becker, Die ntl. Rede vom Sühnetod Jesu: ZThK.B 8 (1990) 2 9 - 4 9 . - Johannes Behm, Art. itapäKhjTOQ: T h W N T 5 (1954) 798 - 812. - Klaus Berger, Theologiegesch. des Urchristentums, Tübingen/Basel 1994 '1995, bes. § 29. - Sigrid Brandt, Opfer als Gedächtnis. Z u r Kritik u. Neukonturierung theol. Rede v. Opfer, HabSchr. Heidelberg 1997. - Cilliers Breytenbach, Versöhnung, Stellvertretung u. Sühne. Semantische u. traditionsgesch. Bemerkungen am Beispiel der paulinischen Briefe: N T S 39 (1993) 5 9 - 7 9 . - Christian Dietzfelbinger, Sühnetod im Johannesevangelium?: Evangelium - Schriftauslegung - Kirche. FS Peter Stuhlmacher, Göttingen 1997, 65 - 7 6 . - Marie-Louise Gubler, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu, 1977 (OBO 15) (Lit.). - Martin Hengel, Der stellvertretende Sühnetod Jesu: IKaZ 9 (1980) 1 - 2 5 . 1 3 5 - 1 4 7 . - Otfried Hofius, Paulusstud., 1989 ( W U N T 51). - Martin Karrer, Jesus Christus im NT, 1998 ( G N T 11) 7 2 - 1 3 2 . - Wolfgang Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe, 1991 ( W M A N T 66). - Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 u. seine Wirkungsgesch., hg. v. Bernd Janowski/Peter Stuhlmacher, 1996 (FAT 14). - Helmut Merklein, Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod: ders., Stud. zu Jesus u. Paulus, 1987 ( W U N T 43) 181-191. - Ulrich B. Müller, Z u r Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu: Z N W 88 (1997) 2 4 - 5 5 . - Harald Riesenfeld, Art. unep: T h W N T 8 (1969) 5 1 0 - 5 1 8 .

Stellvertretung V

145

- G ü n t e r Röhser, Metaphorik u. Personifikation der Sünde, 1987 (WUNTII/25). - Ders., „Inklusive Stellvertretung"? Überlegungen am Beispiel v. R o m 6 u. II Kor 5: Ntl. Religionsgesch. FS Klaus Berger, hg. v. Axel v. Dobbeler/Kurt Erlemann/Roman Heiligenthal, Tübingen/Basel 2000 (in Erscheinen). - Jens Schröter, Der versöhnte Versöhner, 1993 ( T A N Z 10). - Peter Stuhlmacher, Existenzstellvertretung für die Vielen. M k 10,45 (Mt 20,28): ders., Versöhnung, Gesetz u. Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 2 7 - 4 2 . - Ders., Bibl. Theol. des NT. I. Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992 2 1997, 1 1 9 - 1 4 3 . 1 9 1 - 1 9 6 . 2 9 1 - 2 9 9 .

Günter Röhser

V. Kirchengeschichtlich und systematisch-theologisch 1. Begriff 2. Stellvertretung als soteriologische Kategorie in der Kirchengeschichte 3. Stellvertretung in der neueren und neuesten deutschsprachigen Theologie 4. Ausblick (Literatur S. 152)

1. Begriff 1.1. Einführung. „Stellvertretung" ist in der heutigen deutschen Sprache die umfassendste Vokabel, die zur Bezeichnung von Vertretungsvorgängen aller Art zur Verfügung steht. Vorgänge des Repräsentierens, Symbolisierens, Interzedierens (Interzession), Platzhaltens (Statthalterschaft, Bekleidung einer Stelle), Stellen-Schaffens, Substituierens und Vikarierens werden „Stellvertretung" genannt. Die Frage, ob es einen alle diese Formen umgreifenden Grundsinn von Stellvertretung gibt, ist noch nicht geklärt. Häufig wird eine „eigentliche", d.h. „personale" Stellvertretung von einer „uneigentlichen" (die nur Ersatz meint) unterschieden. Es ist aber noch offen, inwieweit diese Unterscheidung sinnvoll ist. In der christlichen Theologie ist „Stellvertretung" folglich eine Grundkategorie, deren Implikationen noch nicht völlig erschlossen sind. Obwohl in vielen Zusammenhängen seit langem präsent, wurde sie erst im 20. Jh. in ihrer tragenden Bedeutung gewürdigt. Stellvertretung ist theologisch grundlegend, weil das Zentrum des christlichen Glaubens sich in den Satz fassen läßt: Gott tritt für uns - die Menschen, die Sünder — in Jesus Christus ein; Gott tritt an unsere Stelle. Auch für andere Religionen bildet Stellvertretung eine wichtige Kategorie (s.o. I.), wie sich im Vorkommen z. B. von Priestern, Mittlem und Opfern zeigt. Sodann: In der Ethik und im gesellschaftlichen Leben ist vieles auf Stellvertretung gegründet: von der Nächstenliebe bis zu entlastenden Institutionen, von der Verantwortungsübernahme von Deputierten, Delegierten und Repräsentanten bis zum Prinzip der Subsidiarität und zur Bedeutung von -»Symbolen. Trotz der Relevanz der Sache selbst trat der deutsche Term „Stellvertretung" erst in der zweiten Hälfte des 20. J h . allmählich aus seinem bisherigen kulturwissenschaftlichen Schattendasein heraus. Seither aber wird ihm in Theologie und Philosophie eine stark zunehmende Beachtung gezollt.

stellvertretender 1.2. Sühne und Stellvertretung. Es ist zu fragen, ob der -»Tod Jesu ein Sühnetod war, was gegenwärtig wieder mit relativ breiter Zustimmung bejaht wird. In der evangelischen Theologie betont z. B. jüngst M . Bieler: „Mit dem Kreuz als stellvertretender Sühne steht das Christentum selbst auf dem Spiel" (Bieler 15). Dies kann je nach dem, was man genau unter „-•Sühne" und unter „Stellvertretung" versteht, verneint oder bejaht werden (Sühne ohne Stellvertretung z.B. bei Fischer und -»Rahner). Generell umstritten ist, ob die Rede vom stellvertretenden Sühnetod notwendigerweise impliziere, es werde durch Jesu Tod ein Ersatz für etwas von den Menschen nicht Erbringbares geleistet. Exklusive und inklusive Stellvertretung werden dabei oft sich ausschließend gegenübergestellt. Es ist daher geboten, noch genauer als bislang zu fragen, in welchem Sinn die diversen Denotate des Wortes „Stellvertretung" in der christlichen Erlösungs- und Versöhnungslehre tatsächlich verwendet werden (-»Heil und Erlösung; -•Versöhnung). Problematisch ist, daß „Stellvertretung" - obwohl noch weitgehend ungeklärt - in den letzten Jahren zu einem Integral heranreift, das viele soteriologische und ethische Aspekte umgreifen will.

Stellvertretung V

146

1.3. Repräsentation und Vikariat. Das deutsche Wort „Stellvertretung" bezeichnet zwei verschiedenartige Phänomene. Die erste Sachgruppe von Vertretungen gliedert sich — das wird in allen europäischen Sprachen so wahrgenommen - dem Term Repräsentation an, die zweite aber dem Term Vikariat. Repräsentation geschieht, wo ein Subjekt oder eine Macht so groß geworden ist, daß sie in andere Bereiche überfließt und sich nun auch dort Vertretungen ihrer selbst schafft, folglich im Repräsentanten immer selbst impliziert ist. Zu einem Vikariat aber kommt es, wenn z. B. eine Macht oder Person die Erfüllung aller ihrer Aufgaben nicht mehr gewährleisten kann, weshalb dann eine Vertretung an bestimmter Stelle in deren Bereich tätig wird. 1.4. Herkunft des deutschen Abstraktums „Stellvertretung". Die näheren Umstände der Entstehung des sprachgeschichtlich jungen deutschen Abstraktnomens „Stellvertretung" sind erst seit ganz kurzer Zeit bekannt: Das Wort verdankt seine Entstehung der Problemlage der evangelischen Theologie in der -»Aufklärung. Es war im 18. Jh. zu philosophischer und pietistischer Kritik an der innerhalb der altprotestantischen - » O r thodoxie entwickelten Lehre von der im Kreuzestod Jesu geleisteten stellvertretenden Genugtuung (satisfactio vicaria) gekommen. —»Kant z.B. hielt diese altprotestantische Lehre für unvereinbar mit der moralischen Unvertretbarkeit jedes Menschen (vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793 2 1794, B 169ff.). Der -»Pietismus sah die Gefahr einer matten allgemeinen Gnade, die nicht zur Bekehrung und zur sittlichen Besserung anspornt. Jahrzehntelang war diskutiert worden, ob die als unstrittig angesehene Genugtuung oder Sühne, die Jesus Christus am Kreuz leistete, tatsächlich auch eine stellvertretende gewesen sei. Darüber löste sich allmählich das Moment des Stellvertretens von der Genugtuung ab. Es kam dann - vielleicht zuerst bei dem Erlanger Theologen Georg Friedrich Seiler (1753-1807) in dessen Werk Über den Versöhnungstod Jesu Christi (1778/79) - aus vermittlungstheologischen Gründen zur Bildung des Abstraktsubstantivs „die Stellvertretung" (Menke, Schlüsselbegriff 82f.). Dieses Wort ist dann auch in die - vom Lateinischen ins Deutsche übergehende - juristische Sprache übernommen worden, um dort neue, mit der -»Französischen Revolution verknüpfte Formen der politischen Staats- und Volksvertretung zu bezeichnen, insbesondere in Übersetzung des staatsrechtlichen französischen Modeworts representation. 2. Stellvertretung 2.1. Alte

als soteriologische

Kategorie in der

Kirchengeschichte

Kirche

Die altkirchlichen Stellvertretungslehren gehen davon aus, daß bald nach der Mitte des 1. Jh. die - von Jesu Auferweckung her wahrgenommene — Heilsbedeutung des Lebens und Sterbens Jesu auch als soteriologischer Vorgang der Menschwerdung bzw. der inkarnatorischen Selbstentäußerung Gottes ausgesagt werden konnte ( - • Jesus Christus). Diese Inkarnationsaussage faßte das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu in eines. Die heilbringende Stellvertretung des auferstandenen Gottessohns wurde in der Alten Kirche bald mehr staurozentrisch (wie in den ersten Anfängen), bald aber auch mehr inkarnatorisch interpretiert. Wurde das Erlösungsgeschehen mehr staurozentrisch expliziert, so traten inhaltlich der durch Jesu Stellvertretungstod erreichte Loskauf der Seelen aus dem Besitz des Teufels und die durch Jesu Lebens-Op/er geleistete Sühne für unsere -*Sünden in den Vordergrund. Wurde das Erlösungsgeschehen hingegen primär inkarnationstheologisch ausgelegt, konnte es inhaltlich auf die Erziehung der zu erlösenden Menschen zugespitzt werden (Christus als Urbild, das in uns nachgebildet werden soll), ferner auf den Austausch (commercium) zwischen göttlicher Vollkommenheit und menschlichem Mangel und mithin auf das Heilsziel der Vergöttlichung des Menschen hin {0eo7ioit](JIBeneficium]), die ihnen relative Handlungsfreiheit gab, soweit das jedenfalls die Pflichten zuließen. Wegen der dem Stift eigenen zentralen Aufgabe, dem officium divinum, war

162

Stift

dem Recht auf Sitz im Chor (stallum in choro) die Residenzpflicht verbunden. Außerdem stand dem Recht auf Mitbestimmung im Kapitel (votum in capitulo) die Pflicht zur Übernahme von Ämtern gegenüber, die je nach Größe des Stifts denen der -»Domkapitel entsprachen und als wesentliches Element des Stifts eine Hierarchie schufen. Neu gegenüber der Institutio Aquisgranensis war die allmählich schwindende Leitungsfunktion des Propstes zugunsten des Dekans, der ungefähr seit dem 9. Jh. als Vorsteher des Stifts angesehen wurde. Voraussetzung zur Aufnahme in ein Stiftskapitel waren eheliche Geburt, kein körperlicher Defekt, ein Mindestalter von meistens 18 Jahren, die Subdiakonatsweihe und eine ehrbare Lebensführung, wobei aber für alle Bedingungen Ausnahmeregelungen (päpstlicher Dispens) möglich waren. Im übrigen wurden Einzelheiten des stiftischen Lebens in Statuten bzw. Consuetudines, Kapitelsprotokollen u.a. festgeschrieben, die die lokalen Besonderheiten spiegeln. 4. Ausbreitung

und Aufgaben

des weltlichen

Kollegiatstifts

Im Bereich der deutschen Reichskirche sind nach vorläufiger Schätzung während des gesamten Mittelalters etwa 600 bis 700 Kollegiatstifte (Domstifte ausgenommen) gegründet worden, wobei sich ein im einzelnen noch zu differenzierendes Zahlengefälle von West nach Ost und von Süd nach Nord ergibt. Der Schwerpunkt, was Zahl, Größe und Rang der Stifte betrifft, liegt eindeutig im Westen an Rhein und Mosel. Kanonissenstifte dagegen finden sich in größter Dichte im Norden des Reichs: im mittelalterlichen Sachsen wurden vom 9. bis 11. Jh. 45 Frauenstifte gegründet. Als Gründer von Kollegiatstiften traten zuerst die Bischöfe hervor, die sich ihrer als Stadtherren wie als Diözesanobere zu gleichzeitig geistlichen wie politischen Zwecken bedienten. Zur Idealtopographie der Bischofsstadt gehörte die sog. Kirchenfamilie, die neben dem Dom mindestens ein Stift umfaßte. Außerdem erfüllten Stifte unmittelbar vor den Mauern der Bischofsstadt durch die praesentia ihrer Heiligen und das Gebet ihrer Kleriker die Funktion einer zweiten spirituellen Mauer zum doppelten Schutz der civitas. Aber auch im übrigen Bistumsbereich erfüllten bischöfliche Stifte herrschaftsmarkierende und herrschaftssichernde Funktionen. Sie dienten dem bischöflichen Landesausbau und der Pfarrorganisation, sie konnten durch Inkorporation von Pfarrkirchen regionale kirchliche Zentren bilden. Sie dienten der Durchgliederung der Diözesen, indem ihre Pröpste z. B. als Archidiakone eingesetzt werden konnten, und sie sicherten und setzten so Grenzen und Rechte. Ihre Kapitel boten den Bischöfen ein umfangreiches Personalreservoir für ihre vielfältigen Aufgaben nicht nur in den Diözesen, sondern auch im Reichsdienst. Ihre Pfründen waren einsetzbar für den bischöflichen „Stab", der mit politischen, juristischen, geistlichen und Verwaltungsaufgaben betraut werden konnte, sowie für die Klientel des Bischofs. Stifte waren einsetzbar für Mission, Kirchenreform, als politische Gegengewichte, auch als Konkurrenz und Ersatzinstitution zu den Domstiften. Das erstaunliche Anwachsen von bischöflichen Stiftsgründungen im 10./11. Jh. ist den überragenden Repräsentanten des ottonisch-salischen Reichsepiskopats zu verdanken. Kaiser, Könige, Adel und Bürger folgten dem Beispiel der Bischöfe, zum Teil in phasenverschobenem Abstand, und nutzten das Kollegiatstift nicht nur als geistliche Institution, sondern gleichzeitig als Herrschaftsinstrument. An den Zentren ihrer Macht, bei ihren Pfalzen, errichteten Kaiser und Könige Kollegiatstifte. Vorbild für alle - etwa Frankfurt am Main, Regensburg, Goslar u.a. - war das Marienstift in Aachen. In den Pfalzstiften wurde einerseits durch das Gebetsgedenken die Legitimität des Herrschergeschlechts verankert sowie durch festliche Gottesdienste repräsentiert, andererseits dienten die Kapitel als Nachwuchsreservoir für Führungspersonal, sei es in der Hofkapelle oder auf Bischofsthronen. Für die Burg- und Residenzstifte des Adels lassen sich vergleichbare Gründungsmotive erkennen: sie dienten dem Ansatz und der Festigung des Landesausbaus und der Herrschaftsbildung, als Grablege und durch das Gebetsgedenken der Identitätsfindung der Familie und Sippe sowie der Repräsentation der ade-

Stift

163

ligen Herrschaft. Als Beispiele seien nur die Stiftsgründungen der Konradiner an der Lahn, der Brunonen in Braunschweig oder der collégiales castrales in Flandern erwähnt. Im Spätmittelalter trugen adelige Stifte wesentlich zur Residenzbildung bei und konnten sogar Vorstufen für künftige Landesbistümer bilden. Auch große Benediktinerabteien, z. B. Fulda und Prüm, bedienten sich eigener Kollegiatstifte zum Zweck der Seelsorge und Verwaltung. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die Kanonissenstifte, die in demselben Sinn zentrale und zentrierende Funktionen übernahmen. Das königliche Kanonissenstift Quedlinburg wirkte unmittelbar am politischen Geschehen und an der Präsentation des Kaisertums mit: während der Abwesenheit Kaiser Ottos II. (reg. 973-983) und der Unmündigkeit -»Ottos III. amtierte die Äbtissin als matricia, als Reichsverweserin. Das Stift, nicht die Pfalz war in diesen Fällen Herrschaftszentrum des Reichs, es stellte den Rahmen nicht nur für königliche Osterfeiern, sondern auch für Reichsversammlungen. Auf dem Niveau adeliger Herrschaft erfüllten Kanonissenstifte vergleichbare Mittelpunktsfunktionen. Ihre auffallend hohe Anzahl in Sachsen läßt auf die Konkurrenzsituation der adeligen Herrschaftsbereiche und somit auf ihre identitätsstiftende und herrschaftsmarkierende Aufgabe schließen. Seit dem 13. Jh. traten auch Städte bzw. deren Rat sowie einzelne Bürger als Stiftsgründer auf, wobei Pfarrkirchen in Kollegiatstifte umgewandelt wurden, die Zahl der Pfründen aber wie auch in manchen Residenzstiften klein war. Existentielle Bedeutung hatte die Institution des Kollegiatstifts für die mittelalterlichen Universitäten, denn ohne Stiftspfründen zur Versorgung der dort lehrenden Doktoren und Magister wären Universitäten wie -»Prag, -»Wien, -»Heidelberg, -»Tübingen, -»Greifswald u.a. nicht lebensfähig gewesen. 5. Kritik und

Gefahren

Die Erfüllung solch vielfältiger Aufgaben war den Stiftsherren nur möglich durch die Aufhebung der vita communis sowie durch die Gütertrennung und Schaffung der Pfründe, „eine der großen Abstraktionsleistungen der alteuropäischen Welt" (Moraw, Stiftspfründen 274). Nur durch die damit ermöglichte Handlungsfreiheit und Freizügigkeit seiner Mitglieder konnte das Stift zur „Stätte der Begegnung von Kirche und Welt" (Moraw, Typologie 11) werden, konnte es politisch, juristisch, wissenschaftlich und seelsorgerisch tätige Führungskräfte hervorbringen oder anziehen, die wesentlich an der Gestaltung und Modernisierung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Welt beteiligt waren. Andererseits aber hat diese Offenheit der Institution Stift von Beginn an die Kritik strenger Kirchenkreise eingetragen. Schon -»Benedikt von Aniane verurteilte das Stift als unvollkommenes Kloster, dessen Mitglieder geringere Heilschancen hätten als die Mönche. Das gleichlautende Verdikt der -»Lateransynode von 1059 sowie die Reformen Papst -»Gregors VII. bewirkten jedoch keine einheitliche Reform der Kollegiatstifte nach monastischem Vorbild, sondern eine Spaltung des Kanonikertums: fortan gab es regulierte Stifte, die nach der -»Augustinusregel lebten (-»Orden I.5.2.2.), und Säkularstifte, die dank ihrer Flexibilität eine bemerkenswerte Aktualität behielten, so daß bis in die Neuzeit Stiftsgründungen vollzogen wurden im Gegensatz etwa zu den alten Orden. Manche Benediktiner- und Zisterzienserklöster übernahmen im Spätmittelalter sogar die stiftische Verfassung. Richtig ist allerdings auch, daß die vielfältigen Aufgaben der Kanoniker, auch die zur Existenz des Klerikers häufig notwendigen Pfründenkumulationen, die Residenzpflicht und somit den ursprünglichen Zweck des Stifts, den feierlichen Gottesdienst der Kanoniker, gefährdeten, so daß vielfältige Regelungen, z. B. die Präsenzzahlungen für Gottesdienstteilnehmer oder die Stiftung von Vikarien, dem Übelstand abhelfen sollten. Vikare gehören deshalb zum Personalbestand jedes bedeutenderen Stifts, sie konnten unter Umständen sogar begrenzte Mitsprache im Kapitel erringen.

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Stift

Wegen der vielfältigen Aufgaben stellte die Stiftspfründe einen erstrebenswerten Besitz dar, weshalb sie trotz des theoretisch freien Selbstergänzungsrechts der Kapitel den Interessen von Papst, König, Bischof und den jeweils bestimmenden sozialen Gruppen ausgesetzt war. In der durch Personenbeziehungen geprägten mittelalterlich-frühneuzeitlichen Welt wurde das Kanonikat zudem nicht primär nach Leistung und Qualifikation, sondern weitgehend nach sozialer und regionaler Zugehörigkeit des Bewerbers vergeben. Die Begünstigung von Verwandten und Freunden war Teil und Basis von Herrschaft, das Stift konnte damit zum Objekt politischer und sozialer Interessenkämpfe werden. Diese Tatbestände oder Gefahren haben dazu beigetragen, daß die Geringschätzung der Institution Stift im Vergleich zum Kloster auch in der Forschung lange Zeit communis opinio blieb: während dem Kirchenhistoriker A. —»Hauck noch „die ganze Einrichtung des kanonischen Lebens . . . wie ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche" erschien (Hauck, Kirchengeschichte, Leipzig, II J _ 4 1 9 1 2 = '1954, 600), Stifte auch weit weniger Bearbeitung erfuhren als Klöster, ist das wissenschaftliche Interesse an der Institution Stift seit den siebziger Jahren des 20. Jh. merklich gestiegen, wobei im Zusammenhang sozialgeschichtlicher Fragestellungen vor allem die Rolle des Stifts als Indikator politischen und sozialen Wandels hervorgehoben wurde. 6. Das Stift seit dem 16.

Jahrhundert

Wie für Klöster, so bedeuteten die -»Reformation und die -»Säkularisation des 18./ 19. Jh. auch für Stifte größtenteils Aufhebung ihrer Existenz. In den protestantisch gewordenen Gebieten wurden einige, vor allem Dom- und Kanonissenstifte, zwar durch den -»Westfälischen Frieden 1648 in ihrer Verfassung bestätigt, verloren aber einen Teil ihrer Einkünfte und ihres Grundbesitzes, so daß sich Pfründen, Einfluß und Bedeutung verminderten. Nach reformatorischer Lehre, jedoch in Anknüpfung an mittelalterliche Aufgaben, sollten evangelische Stifte und Klöster kirchlichen, karitativen und pädagogischen Zwecken dienen. Stiftspfründen wurden deshalb zur Besoldung von protestantischen Pfarrern und Prädikanten, Universitäts- und Lateinschullehrern vergeben, letztere z. B. im Basler Petersstift, im Züricher Großmünster, in Merseburg, Zeitz, Naumburg und anderswo. Stifts- und Klosterbesitz wurde von den Landesherren überwiegend ad pias causas, u.a. zur Ausstattung von Schulen und Universitäten, verwandt; in den weifischen Herzogtümern wurden, getrennt von der landesherrlichen Finanzverwaltung, Sondervermögen angelegt, die spätere Klosterkammer Hannover und der Braunschweigische Vereinigte Kloster- und Studienfonds, aus denen sich bis heute die evangelischen Stifte und Klöster, vor allem Damenstifte (6 Lüneburger, 5 Calenberger, 2 Braunschweigische u.a.), finanzieren, die der Erziehung und Versorgung vor allem des weiblichen Adels, später auch des Bürgertums und heute als Wohngemeinschaften älterer Damen dienten und dienen. Die Stifte in den katholischen Gebieten erlebten im 17./18. Jh. noch einmal eine Blütezeit. Es gab Neugründungen, speziell von Damenstiften (St. Anna in München, Wien, Innsbruck u.a.). Die barocke Kultur entsprach in besonderer Weise den stiftischen Zwecken. Von den durch den Reichsdeputationshauptschluß 1803 zur Säkularisation freigestellten Stiften überlebten ähnlich den Klöstern nur wenige, am ehesten noch die Domstifte, soweit sie auch nach der Neuordnung der katholischen Kirche noch an Bischofssitzen lagen und der Kirchenorganisation dienten. In den evangelischen Gebieten existierten die preußischen Domstifte Brandenburg, Merseburg, Naumburg sowie das Stift Zeitz weiter, allerdings unter staatlicher Aufsicht zu weitgehend staatlichen, kaum zu kirchlichen Zwecken, um „ausgezeichnete Verdienste Unserer getreuen Untertanen auf eine würdige Weise [mit Präbenden] zu belohnen" (Statuten König Friedrich Wilhelms III. [reg. 1797-1840] 1826: Heckel 426). Fast folgerichtig wurden sie 1930 in Stiftungen des öffentlichen Rechts zur Förderung kultureller und sozialer Aufgaben umgewandelt. Merseburg, Naumburg und Zeitz existieren in dieser Form bis heute, während Brandenburg nach 1945 in die Verfügung der evangelischen Landeskirche übernommen wurde, so

Stift

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daß die Inhaber kirchlicher Ämter am D o m gleichzeitig Domherren sind. Das Hochstift Meißen und das Domstift Würzen stehen bis heute im Vertragsverhältnis zur evangelischlutherischen Landeskirche -»Sachsens, wobei der jeweilige Landesbischof zum Stiftsherrn gewählt wird und die Domherren aufgrund eines Dreiervorschlags ernennt. Literatur Gerd Althoff, Gandersheim u. Quedlinburg. Ottonische Frauenklöster als Herrschafts- u. Überlieferungszentren: FMSt 25 (1991) 1 2 3 - 1 4 4 . - Ulrich Andermann, Die unsittlichen u. disziplinlosen Kanonissen. Ein Topos u. seine Hintergründe: WestfZs 146 (1996) 3 9 - 63. - Norbert Backmund, Die Kollegiat- u. Kanonissenstifte in Bayern, Windberg 1973. - Julia Barrow, Cathedrals, Provosts and Prebends. 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Irene Crusius

Stiftungen, Kirchliche

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I. Alte Kirche und Mittelalter II. Reformation bis Neuzeit

S. 170

I. Alte Kirche und Mittelalter (Literatur S. 169)

Stiftungen sind eine universalhistorische Erscheinung, sie begegnen also auch außerhalb des Christentums. In der römisch-heidnischen Antike dienten sie beispielsweise dazu, die Erinnerung an Verstorbene durch periodische Gedächtnismähler am Grab des Stifters zu evozieren; für den Totenkult wurden Teile des Nachlasses so angelegt, daß er von den Zinsen bestritten werden konnte. Im Christentum wurden die heidnischen Totenkultstiftungen in Stiftungen für das Seelenheil verwandelt. Griechische und römische Kirchenväter (-»Basilius d.Gr., -»Gregor von Nazianz, -»Gregor von Nyssa, -»Johannes Chrysostomus, -»Augustin u.a.) empfahlen den Gläubigen, eine bestimmte Quote ihres Erbes letztwillig der Kirche bzw. der Sozialfürsorge zu widmen, um ihr Seelenheil zu erlangen (Seelteil, Sohnesquote). Adressat der Gabe war Gott selbst als ewiger Richter, doch wurden zugleich die Heiligen als Patrone des jeweiligen Gotteshauses und vor allem die Geistlichen und Bedürftigen einbezogen, die als Interzessoren zugunsten des Stifters wirken sollten ( - • Heilige/Heiligenverehrung). Auch im Christentum waren die Stiftungen häufig an das Grab gebunden; im Unterschied zum orientalischen und antiken Totenkult (etwa im Ägypten der Pharaonenzeit) zeichnet es sich aber durch eine potentielle Ubiquität der Gedenkstätten aus; das Gebetsgedenken wurde gern besonders vielen Kirchen, Altären und geistlichen Gemeinschaften anvertraut, um die Wirkung zu sichern oder zu steigern. Wie in der Antike war das Stiftergedenken von bestimmten Rhythmen geprägt, insbesondere von den linear begrenzten Gebetszeiten unmittelbar nach dem Tode (vor allem in bezug auf den siebten, dreißigsten und auch vierzigsten Tag) oder von den Jahrtagen (Anniversaren), die periodisch wiederkehrten und „auf ewig" begangen werden sollten. Eine Innovation des Christentums war die Verbindung des Stiftungswesens mit der Caritas. Gegenüber der altorientalischen Wohltätigkeit einerseits und den griechisch-römischen Totenkultstiftungen andererseits zeichneten sich die

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Stiftungen, Kirchliche

I

christlichen Stiftungen dadurch aus, daß sie noch postmortalen Werken der Nächstenliebe eine Heilswirkung für den Stifter zuschrieben. Die materiellen Wohltaten setzten aber auch die Armen instand, Gutes zu tun und für ihr eigenes Seelenheil zu sorgen. Die dauernde Wechselwirkung zwischen dem Stifter und den durch ihn Begünstigten ist das hervorragende Kennzeichen der Stiftung. Diesen wird die Gabe nicht wie bei der Schenkung uno actu zuteil, sondern wiederholt sich als Zins des „ewig" bestehenden Gutes in regelmäßigen Abständen und bewirkt so die zyklisch verlangte Gegengabe von Fürbitte und Gebet. Um Stiftungen handelt es sich also nicht bei Votivgaben aus leicht vergänglichem Material (etwa Wachs), wohl aber bei Kunstwerken, die auf Dauer dem Kult dienen sollen und zugleich den Stifter in Bild, Wappen und Inschrift vergegenwärtigen; Gaben an die Kirche um der Gesundheit willen (wie beim französischen König Ludwig XI. [gest. 1483]) sind wegen ihrer zeitlich begrenzten Intention, auch wenn sie in der Überlieferung als fundatio, fondacion o.ä. bezeichnet werden, keine Stiftungen, sondern Schenkungen mit (Gebets-)Auflage. Im strikten Sinne können selbst Meßreihen, die auf eine begrenzte Anzahl von eucharistischen Opfern angelegt sind, nicht als Stiftung bezeichnet werden. Solche Meßreihen lassen sich auf die Vorstellung eines Partikulargerichts bald nach dem Tod des einzelnen zurückführen und sollen die Qualen der Seele im Fegfeuer verkürzen. Die These, daß die Fegefeuerlehre im 14./15. Jh. die Erwartung eines allgemeinen Weltgerichts am Ende der Zeiten zugunsten des Partikulargerichts allmählich schwinden ließ und deshalb auch die Meßreihen die gestifteten Ewigmessen beiseitedrängten (Chiffoleau; Schmitt), konnte neuerdings überzeugend zurückgewiesen werden (Lusiardi). Das Hauptproblem der Stiftungen war es, Personen und Personengruppen auf der Grundlage des Stiftungsgutes dauerhaft zum Gebetsgedenken zu verpflichten. Die Familie war zwar stets der natürliche Träger der Totenmemoria, doch mißtrauten die Stifter der Bereitschaft ihrer Nachkommen zum ständigen Gedenken, wenn sie nicht überhaupt ohne Angehörige auf andere Menschen setzen mußten. In der römischen Spätantike haben Testatoren den Totenkult häufig ihren Freigelassenen übertragen, die die Pflicht zur Versorgung der Grabstätte von Generation zu Generation weitergeben sollten. Im Christentum boten sich statt dessen besonders die Klöster und Stiftskirchen als Grabsorge- und Memorialgemeinschaften an. Als Institution, die nicht vergeht, war die Kirche überhaupt für die dauernde Totensorge prädestiniert, während weltliches Recht und staatliche Ordnung die Stiftungen im Mittelalter niemals effektiv sicherten. Die Stifter bemühten sich selbst darum, durch Urkunden und Testamente Kontrollen für die Stiftungsorgane und Stiftungsbegünstigten zu errichten (etwa durch Verwandte, Bischöfe und Äbte oder spätmittelalterliche Stadträte). Durch die Stiftung reichten die sozialen Bindungen des Stifters in seine Nachwelt hinüber; indem die Erträge seiner Güter durch die Verwalter der Stiftung den Mönchen, Priestern und Bedürftigen zugute kamen und diese in Gebet und Opfer dafür seiner gedachten, wurde er unter den Lebenden vergegenwärtigt. In der allgemeinen liturgischen Gemeinschaft der Lebenden und Toten etablierten Stiftungen so allerdings besondere Beziehungen und Gruppen, die von der Amtskirche als Gefährdung der Einheit empfunden werden konnten; andererseits waren laikale Stiftungen unverzichtbar für die Ausbreitung des Christentums und den Gottesdienst. Die Kirchenstiftungen der nachkonstantinischen Zeit dienten ursprünglich dem Kult am Märtyrergrab, doch schob sich mindestens seit dem 6. Jh. die liturgische Versorgung des Gründergrabes als Motiv in den Vordergrund. Die Bestattungen von Laien im Kirchengebäude wurden von der Kirchenleitung zwar bekämpft, doch blieb dieser Konflikt mit den Stiftern während des ganzen Mittelalters im Prinzip ungelöst. Kirchenstiftungen dienten freilich ebenso der Förderung des Heiligenkultes oder der Eucharistiefrömmigkeit. Die Konstantinische Wende hatte auch die christliche Caritas vor gewaltige neue Aufgaben gestellt, die mit der herkömmlichen Gemeindearmenpflege nicht mehr zu bewältigen waren. Mindestens seit Mitte des 4. J h . wurden durch Stiftungen eigene Wohl-

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tätigkeitsanstalten geschaffen, die Xenodochien oder -»Hospitäler, die namentlich der Codex lustinianus und die Briefe -»Gregors des Großen gut bezeugen (Piae Causae). In der Zeit des frühmittelalterlichen -» Eigenkirchenwesens verloren die privat errichteten Kirchen und Spitäler zwar ihre Selbständigkeit, doch sicherte ihnen die Gesetzgebung zur Zeit -»Karls des Großen und Ludwigs des Frommen (813/14-840) einen Rest stiftungsrechtlicher Freiheit. Beim Übergang zum Hochmittelalter wurden durch Memorialstiftungen an -»Domkapiteln und Stiftskirchen Sondervermögen geschaffen, die die Mensenteilung und Verpfründung förderten oder gar herbeiführten. Zur gleichen Zeit verlagerte sich mit der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Schwerpunkt der caritativen Tätigkeit in die Städte; die Stiftungen der Bürger führten eine neue Blüte des Spitalwesens (-»Hospital) und des religiösen Kultes herbei. Auch die Mendikanten, die ursprünglich keine Stiftungsgüter und -einkünfte erwerben durften, ließen sich seit dem 14. Jh. reich bestiften. Die kostspieligsten bürgerlichen Stiftungen waren, abgesehen von ganzen Spitälern oder Kirchen, die Priesterstellen (Altarbenefizien u.a.), die häufig mit eigener Kapelle, eigenem Altar und (Familien-)Grablege verbunden waren; preisgünstig und deshalb ein Massenphänomen waren hingegen einfache Memorier), die zwar ein dauerhaftes Gebetsgedenken im Rahmen des (Gemeinde-)Gottesdienstes, aber keine besondere Ewigmesse begründeten. Wo das eigene Vermögen trotzdem nicht ausreichte, legten die Stadtbewohner für kollektive Stiftungen zusammen (z. B. in -»Bruderschaften); auch die Räte der Städte und - auf dem L a n d e - die Bewohner von Dörfern förderten durch gemeinsame Stiftungen die Werke der Frömmigkeit und die Seelsorge. Dem Abfluß des zu versteuernden Vermögens an die Kirche durch Stiftungen suchten Stadträte, Bürgermeister und Fürsten durch Amortisationsgesetze zu begegnen, obgleich sie selbst zu den eifrigsten Stiftern zählten. Auf Stiftungen beruhten auch die Universitäten im spätmittelalterlichen Territorialstaat; die Doktoren und Magister wurden durch kirchliche Pfründen für ihre Lehrtätigkeit ausgestattet, blieben dabei jedoch häufig der Stiftermemoria verpflichtet. Gleiches gilt für Studierende, die Stipendien ihrer Heimatstädte oder zu Wohlstand gelangter älterer Gelehrter in Anspruch nahmen. Literatur Marlene Besold-Backmund, Stiftungen u. Stiftungswirklichkeit. Stud. zur Sozialgesch, der beiden oberfränkischen Kleinstädte Forchheim u. Weismain, Neustadt a.d. Aisch 1986. - Michael Borgolte, Freigelassene im Dienst der Memoria. Kulttradition u. Kultwandel zw. Antike u. MA: FMSt 17 (1983) 234 - 250. - Ders., Stiftergrab u. Eigenkirche. Ein Begriffspaar der Mittelalterarchäologie in hist. Kritik: Zs. f. Archäologie des MA 13 (1985) 2 7 - 3 8 . - Ders., Die Stiftungen des MA in rechts- u. sozialhist. Sicht: ZSRG.K 74 (1988) 7 1 - 9 4 . - Ders., Petrusnachfolge u. Kaiserimitation. Die Grablegen der Päpste, ihre Genese u. Traditionsbildung, Göttingen 1989 '1995. Ders., Die ma. Kirche, München 1992 (Enzyklopädie dt. Gesch. 17), bes. 121f.l45f. (Lit.). - Ders., Das G r a b in der Topographie der Erinnerung. Vom sozialen Gefüge des Totengedenkens im Christentum vor der Moderne: ZKG 2001 (im Druck). - Ders./Peter Schreiner/Suraiya Faroqhi, Art. Stiftung: LMA 8 (1997) 1 7 8 - 1 8 2 (Lit.). - Clive Burgess, Late Médiéval Wills and Pious Convention. Testamentary Evidence Reconsidered: Profit, Piety and the Professions in Later Médiéval England, hg. v. Michael Hicks, Gloucester 1990, 1 4 - 3 3 . - Jacques Chiffoleau, La comptabilité de l'au-delà. Les hommes, la mort et la religion dans la région d'Avignon à la fin du Moyen Age (vers 1320 vers 1480), Rom 1980. - Du guoter tôt. Sterben im M A, Ideal u. Realität, hg. v. Markus J. Wenninger, Klagenfurt 1998. - Rosi Fuhrmann, Kirche u. Dorf. Rel. Bedürfnisse u. kirchl. Stiftung auf dem Lande vor der Reformation, Stuttgart/Jena/New York 1995. - Hans-Rudolf Hagemann, Die Stellung der Piae Causae nach justinianischem Rechte, Basel 1953. - Hermann Kamp, Memoria u. Selbstdarst. Die Stiftungen des burgundischen Kanzlers Rolin, Sigmaringen 1993. - Brigitte Klosterberg, Z u r Ehre Gottes u. zum Wohl der Familie. Kölner Testamente v. Laien u. Klerikern im SpätMA, Köln 1995. - Hans Liermann, H b . des Stiftungsrechts. I. Gesch. des Stiftungsrechts, Tübingen 1963. - Ralf Lusiardi, Stiftung u. städtische Gesellschaft. Rel. u. soziale Aspekte des Stiftungsverhaltens im spätma. Stralsund, Berlin 2000 (Stiftungsgeschichten 2). - Materielle Kultur u. rel. Stiftung im SpätMA, Wien 1990 (Veröff. des Instituts f. ma. Realienkunde Österreichs 12) [dazu H Z 254 (1992) 719f.J. - Memoria als Kultur, hg. v. O t t o Gerhard Oexle, Göttingen 1995. - Memoria in der Gesellschaft des MA, hg. v. Dieter Geuenich/Otto Gerhard Oexle, Göttingen

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1994. - Werner Paravicini, Sterben u. Tod Ludwigs XI.: Tod im M A , hg. v. Arno Borst u.a., Konstanz 1993, 7 7 - 1 6 8 . - Dietrich Poeck, Totengedenken in Hansestädten: Vinculum Societatis. FS Joachim Wollasch, hg. v. Franz Neiske/dems./Mechthild Sandmann, Sigmaringendorf 1991, 175 - 233. - Brigitte Pohl-Resl, Rechnen mit der Ewigkeit. Das Wiener Bürgerspital im MA, Wien/ München 1996. - Hans-Jürgen Real, Die privaten Stipendienstiftungen der Univ. Ingolstadt im ersten Jh. ihres Bestehens, Berlin 1972. - Siegfried Reicke, Das dt. Spital u. sein Recht im MA, Stuttgart 1932. - Ders., Stiftungsbegriff u. Stiftungsrecht im MA: ZSRG.G 53 (1933) 247-276. Frank Rexroth, Dt. Universitätsstiftungen v. Prag bis Köln, Köln/Weimar/Wien 1992. - Christine Sauer, Fundatio u. Memoria. Stifter u. Klostergründer im Bild 1100 bis 1350, Göttingen 1993. Rudolf Schieffer, Die Entstehung v. Domkapiteln in Deutschland, Bonn 1976. - Corine Schleif, Donatio et Memoria. Stifter, Stiftungen u. Motivationen an Beispielen aus der Lorenzkirche in Nürnberg, München 1990. - Karl Schmid, Stiftungen f. das Seelenheil: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, hg. v. dems., München/Zürich 1985, 5 1 - 7 3 . - Wolfgang Schmid, Stifter u. Auftraggeber im spätma. Köln, Köln 1994. - Jean-Claude Schmitt, Les revenants, Paris 1994; dt.: Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im MA, Stuttgart 1995. - Waither Schönfeld, Die Xenodochien in Italien u. Frankreich im frühen MA: ZSRG.K 12 (1922) 1 - 5 4 . - Stiftungen u. Stiftungswirklichkeiten. Vom MA bis zur Gegenwart, hg. v. Michael Borgolte, Berlin 2000 (Stiftungsgeschichten 1). - Wolfgang Eric Wagner, Universitätsstift u. Kollegium in Prag, Wien u. Heidelberg. Eine vergleichende Unters, spätma. Stiftungen im Spannungsfeld v. Herrschaft u. Genossenschaft, Berlin 1999 (Europa im MA. Abh. u. Beitr. zur hist. Komparatistik 2). - Herbert Zielinski, Die Kloster- u. Kirchengründungen der Karolinger: Beitr. zu Gesch. u. Struktur der ma. Germania Sacra, hg. v. Irene Crusius, Göttingen 1989, 9 5 - 1 3 4 .

Michael Borgolte II. Reformation bis Neuzeit 1. Reformationszeit

1.

2. Neuzeit ab 1577

3. Neuzeit ab 1789

(Literatur S. 173)

Reformationszeit

Hatten Landesherren und Städte schon lange vor der Reformationszeit unter Berufung auf die ihnen zustehende Kirchenhoheit Einfluß auf die Besetzung von kirchlichen Ämtern genommen, so griffen sie immer häufiger auch auf kirchliches Stiftungsvermögen zurück, um damit eigene Ziele zu verfolgen. Insbesondere boten die Neugründungen von -»Universitäten immer wieder den Anlaß, Stiftungspfründen zur Besoldung der Professoren zu verwenden. Objekte solcher Zugriffe waren nicht nur unselbständige Zustiftungen, die ohnehin der Verwaltung der weltlichen Obrigkeit unterstanden: Im Wege einer vermeintlichen Reform nahm das landesherrliche —•Kirchenregiment überall auch eine Konzentration der bis dahin selbständigen kirchlichen Stiftungsmassen vor, um so eine effektivere Kontrolle vornehmen zu können. Das Stiftungsvermögen entfernte sich durch diese Maßnahmen von den Personen, die sich früher - in korporativer Gebundenheit - schützend vor die Stiftung stellen konnten. Eine „sich selbst gehörende" Vermögensmasse war einem Zugriff, der den Stiftungszweck mißachtete, sehr viel leichter ausgesetzt. Auf der anderen Seite brachte die Konzentration des Stiftungsvermögens bei Fürsten und Städten auch einen gewissen Schutz. So bestimmte das Stadtrecht von Frankfurt am Main (sog. Reformation von 1509): „Es sollen auch alle Treuhänder in milden Sachen ihre Rechenschaft tun vor den Ratsfreunden, die dazu geordnet sind" (Titel 38 Abs. 8). In Bayern verbot z.B. Herzog Wilhelm IV. (reg. 1508-1550) 1537 dem Stadtrat von Straubing, kirchliche Stiftungen für Schulmeister und Ärzte zu verwenden. Mit der Reformation verstärkten sich die schon seit dem 14. Jh. zu beobachtenden Erscheinungen: Konzentration des Stiftungsvermögens, Aufsichtsrecht der weltlichen Obrigkeit, Versuche zur Abänderung des ursprünglichen Stiftungszweckes. In den religiös motivierten Unruhen der Anfangsjahre der Reformation sind nicht selten einzelne kirchliche Stiftungen, insbesondere Kultgegenstände, die für den reformatorischen Gemeindegottesdienst nicht benötigt wurden, entfremdet oder zerstört worden. Insgesamt aber dürfen diese Verluste nicht den Blick dafür verstellen, daß die Reformation gegenüber den überkommenen kirchlichen Stiftungen eine eher bewahrende Haltung ein-

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nahm. M a n sah sie als „Gottes Weihtum" (Deo dicatum) an und schützte sie vor profaner Enteignung. Die Zentralisierung der Stiftungsvermögen nahm aber noch weiter zu, wobei man sich oft genötigt sah, die ursprüngliche Zweckbestimmung einer Stiftung, etwa eines Meßstipendiums, im reformatorischen Sinne abzuändern. Bezeichnend ist z. B. das Gutachten -»Melanchthons für die Stadt Nürnberg von 1525. Der Reformator vertrat den Standpunkt, die für die Stiftungsverwaltung verantwortlichen Personen seien verpflichtet, den frommen Werken eine der neuen theologischen Einsicht entsprechende Richtung zu geben. Für den in der Praxis sehr häufigen Fall, daß der Stifter bereits verstorben war und nur noch seine Nachfahren lebten, sollte die Änderung des Stiftungszweckes nicht zum Rückfall des Stiftungsvermögens an die Erben des Stifters führen, sondern dem Gottesdienst dienen. Man könne vermuten, so meinte Melanchthon, daß der Stifter bei dem allgemeinen Wandel der religiösen Gesinnung und der damit verbundenen anderen Bewertung der Meßstipendien der Zweckänderung, etwa zur Besoldung des evangelischen Predigers oder im Sinne der Armenfürsorge, zugestimmt hätte. —>Bucer dagegen schlug in seinem Gutachten von 1538 Ein außführlich Bedenken, wie es umb die Kirchen-Güter geschaffen, und wie mit denselben ttmbgegangen werden soll (Text [zusammen mit anderen Gutachten]: ARG 1 [1903/04] 299-336) einen radikaleren Weg vor, da er die allgemeine Uberführung des Kirchengutes in Gemeindeeigentum propagierte. Die Praxis folgte aber dem gemäßigten Standpunkt Melanchthons, der differenziertere Möglichkeiten zu weiterer Verwendung des Vermögens der kirchlichen Stiftungen bot, wobei man danach trachtete, unter Aufrechterhaltung der Rechtspersönlichkeit einer jeden Stiftung den Stiftungszweck von Fall zu Fall anzupassen oder umzuwandeln. Es ist bezeichnend, daß für die Zweckänderung die Richtlinien des Kanonischen Rechts nicht beiseite geschoben, sondern grundsätzlich beibehalten wurden. Man legte großen Wert darauf, die Anpassung der Stiftungen an die neue Situation als eine iusta et gravis causa im Sinne des überlieferten Kirchenrechts darzustellen. Die Zusammenlegung von Stiftungen machte eine Neuordnung der Vermögensverwaltungen erforderlich. Der von -•Luther mitgestalteten Leisniger Kastenordnung von 1523 kam eine Vorbildfunktion zu. Ihre Richtlinien wurden in vielen evangelischen Städten aufgegriffen. So sah z.B. die Göttinger Kastenordnung von 1531 die Bildung von fünf Kästen vor, die den fünf Pfarreien der Stadt entsprachen. In diese Kästen sollten alle Stiftungen an Memorien, Vigilien, Seelenmessen, Kirchengefällen und die Einkünfte der Stiftungen für Lichter einfließen. Mit der Einrichtung der „gemeinen Kästen" ging eine Änderung der Armenfürsorge einher. War im Mittelalter der Bettler noch als ein notwendiges Glied in der menschlichen Gesellschaft angesehen worden, der den begüterten Mitmenschen die Gelegenheit zur Übung christlicher Nächstenliebe verschaffte, so wurde nun das Betteln vielfach als Mißstand angesehen, der mit Hilfe obrigkeitlicher Disziplinierung bekämpft werden sollte. In katholischen wie in evangelischen Gebieten sah man die Armenfürsorge nunmehr als Aufgabe der Allgemeinheit, als ein Problem der guten „Policey" an. In kleineren evangelischen Städten führte dies zu einer „Fusionierung" der vorhandenen Stiftungen, die zugunsten des Gemeinen Kastens aufgelöst wurden und so ihre Identität ganz verloren haben. In größeren Städten, die sich der Reformation angeschlossen hatten, bot der Gemeine Kasten nur den Rahmen für die Sammlung der verschiedenen kirchlichen Stiftungen, die aber jeweils ihre rechtliche Sonderexistenz behielten. So bestimmte etwa die Hamburger Kirchenordnung von 1529, daß die Gemeinen Kästen zwar alle Kirchengüter aufnehmen, daß aber „einer jeden Kirche Gut mit der anderen Kirchen Gut am Kapital unvermengt bleiben" sollte. In den Territorien waren die Eingriffe der Landesherren in die Stiftungen noch deutlicher, wobei die Unterschiede zwischen den verschiedenen Konfessionen nicht sehr ins Gewicht fallen: In den evangelischen Gebieten berief man sich später zur Rechtfertigung auf den Umstand, daß die bischöflichen Jurisdiktionsrechte auf den Landesherren übergegangen seien, während man sich in den katholischen Territorien auf das Recht der

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Advokatie des Landesherren und sein ius reformationis stützte. Der Erfolg war ungefähr der gleiche. In Württemberg z. B. wurde das gesamte kirchliche Vermögen zugunsten einer als „Kirchengut" bezeichneten Kasse eingezogen, die von der landesherrlichen Kammer verwaltet wurde und die zur Besoldung der Pfarrer sowie zum Unterhalt von Kirchen und Schulen dienen sollte. In Hessen wurden viele Klöster und die mit ihnen verbundenen Stiftungen dazu verwendet, Hospitäler auszustatten, im Hochstift Hildesheim verwandelte man sie in Lateinschulen. In Hannover wurde das zusammengefaßte Stiftungsvermögen auf Grund der Calenberger Kirchenordnung von 1542 in den Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds, in Braunschweig in den Vereinigten Braunschweigischen Kloster- und Studienfonds eingebracht. Noch bestehende Kanonissenstifte und aufgelöste Frauenklöster wurden vielfach in evangelische Damenstifte umgewandelt, die u.a. der Versorgung von unverheirateten Töchtern des Adels dienten. Die Angehörigen der katholischen Religionspartei empfanden die Neuordnung der Kirchengüter durch die reformierte Obrigkeit oft als Entfremdung und Raub. Die daraus entstehenden Streitigkeiten wurden durch den - * Augsburger Religionsfrieden von 1555 (§ 19) im Sinne einer Sanktionierung der neuen Verhältnisse reichsrechtlich entschieden. 2. Neuzeit ab 1577 Nachdem die Reichspolizeiordnung von 1577 (Art. XXVII § 2 und Art. X X X I I § 4) die weltliche Obrigkeit zur Aufsicht über die Stiftungen verpflichtet hatte, wurden nunmehr Grundsätze einer „Stiftungspolizei" entwickelt. Auf der Grundlage des ius canonicum erließen die Territorien eigene Gesetze zur Verwaltung des Stiftungsvermögens und zur Stiftungsaufsicht, was die Tendenz zur Säkularisierung der Stiftungen förderte. Die Streitigkeiten zwischen den Religionsparteien um den Besitz jener Stiftungsvermögen, die während des —»Dreißigjährigen Krieges oft in verschiedenen Händen gewesen waren, wurden durch den -»Westfälischen Frieden von 1648 (Instrumentum Pacis Osnabrugensis [ed. Karl Müller, Instrumenta Pacis Westphalicae, 1949 (QNG 12-13)], Art. V § 15) beigelegt, wobei für den Besitzstand das sog. Normaljahr (1. Januar 1624) entscheidend war. Noch im Laufe des 17., vor allem aber im 18. Jh. zeigte sich für das kirchliche Stiftungswesen eine ganz andere Gefahr: Die beginnende -»Aufklärung begegnete den kirchlichen Stiftungen mit großer Skepsis. So meinte etwa (ca. 1743) der protestantische Kirchenrechtler Justus Henning Böhmer (1674-1749), Zuwendungen ad pias causas zur Förderung der christlichen Religion seien in der Regel superstitiosae, d.h. abergläubisch. Nützlich seien dagegen jene Stiftungen, die der utilitas publica dienten. Ahnlich kritisch äußerte sich der französische Physiokrat Anne Robert Jacques Turgot (1727-1781) in einem Artikel von 1757 für die Encyclopédie: Nach seiner Meinung beruhten die Stiftungen auf der Eitelkeit der Stifter, die in ihrem begrenzten Verstand Vermögen für die Ewigkeit festlegen wollten, obwohl es so infolge der raschen Veränderung der Verhältnisse durch seine Zweckbindung unnütz und gesellschaftsschädlich werden müsse. Auch I. -»Kant äußerte in seiner Metaphysik der Sitten ( 2 1798; Rechtslehre, Anhang erläuternder Bemerkungen, 8. B): „Stiftungen, ... sobald sie einen gewissen, von dem Stifter nach seiner Idee bestimmten entworfenen Zuschnitt haben, können nicht auf ewige Zeiten fundirt und der Boden damit belästigt werden; sondern der Staat muß die Freiheit haben, sie nach dem Bedürfnisse der Zeit einzurichten" (Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin, VI 1907/1914, 369,16-20). Trotz dieser ungünstigen Stimmung wurden auch im 17. und 18. Jh. bedeutende Stiftungen begründet, so z. B. 1692 die Francke'schen Stiftungen in Halle (A.H. —»Francke) und 1763 die Senckenbergischen Stiftungen in Frankfurt am Main, doch steht hier die Förderung von Erziehung und Wissenschaft im Vordergrund. Die Kritik der Aufklärung an religiösen Stiftungszwecken und an der „Unvernunft" privater Wohltätigkeit führten zu einer Erweiterung der Eingriffsbefugnisse der Landesherren und zu einer gesetzlichen Beschränkung des Stiftungswesens. Vielfach wurde die gesonderte Verwaltung von Stiftungsvermögen aufgehoben und die Vermögensmasse dem Staatshaushalt einverleibt.

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3. Neuzeit ab 1789 Nachdem die -»Französische Revolution zunächst mit der Beseitigung des Feudalsystems die Zufuhr von Mitteln an Stiftungen zum Erliegen gebracht hatte, erfolgte dann durch das Säkularisationsdekret vom 4. November 1789 die Auflösung des gesamten kirchlichen Vermögens (-»Säkularisation). Auch nach der Wiederherstellung der Religionsfreiheit im Jahre 1794 und nach dem Abschluß des -»Konkordates von 1801 durch Napoleon (1804-1814/15) lebten die Stiftungen nicht mehr auf. Dies galt auch weitgehend in den deutschen Gebieten links des Rheins, die seit dem Friedensvertrag von Luneville von 1801 der französischen Gesetzgebung unterstanden. In rechtsrheinischen Gebieten Deutschlands führte der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 zu einer weitgehenden Preisgabe von kirchlichen Stiftungen an die Staaten, da in $ 35 das gesamte Kirchengut „der freien und vollen Disposition der respectiven Landesherrn, sowohl zum Behufe des Aufwandes für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten, als zur Erleichterung ihrer Finanzen überlassen" wurde (vgl. Hanns Hubert Hofmann [Hg.], Quellen zum Verfassungsorganismus des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation. 1495-1815, 1976 [AQDGNZ 13] 352). Zwar fügte § 65 eine Schutzbestimmung hinzu: „Fromme und milde Stiftungen sind wie jedes Privateigentum zu conservieren, doch so, daß sie der landesherrlichen Aufsicht untergeben bleiben." In der Praxis aber wurde die Mehrzahl der kirchlichen Stiftungen dem Staatsvermögen einverleibt. Nach der Neuordnung durch den Wiener Kongreß von 1815 war es nunmehr Aufgabe der neuen Bundes- und Stadtstaaten, sich um das Schicksal der noch verbliebenen Stiftungen zu kümmern. Dies geschah in sehr unterschiedlicher Weise. Insgesamt aber kann man feststellen, daß man nunmehr dem Willen des Stifters wieder größere Bedeutung beimaß und danach trachtete, das Stiftungsvermögen nach Möglichkeit zu erhalten. Das Königreich Hannover z. B. verwaltete das durch die Einverleibung des Hochstifts Hildesheim erworbene Kirchengut gesondert und unterstellte es 1818 der Allgemeinen Kloster-Kammer in Hannover, wo nun nicht nur das konzentrierte Stiftungsvermögen aus dem 16. Jh., sondern auch das aus katholischem Stiftungsbesitz herrührende Kirchenvermögen verwaltet wurde. In allen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes wurde der Staatsverwaltung ein Aufsichtsrecht über das Stiftungswesen zuerkannt. In der Rechtswissenschaft des 19. Jh. zeichnete sich eine Abkehr von einem korporativen Verständnis der Stiftung ab: Mit Hilfe der sog. Fiktionstheorie (Georg Arnold Heise [1778-1851]; Friedrich Karl von Savigny [1779-1861]) sah man in der Stiftung eine eigene Art der juristischen Person, wobei allerdings zur Gründung an dem Erfordernis einer staatlichen Genehmigung festgehalten wurde. In diesem Sinn wurde das private Stiftungsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 geregelt (§§ 80ff.), wobei - auf Grund des Genehmigungsvorbehalts und der Staatsaufsicht - das Bürgerliche Recht auf diesem Gebiete bis heute in starkem Maße vom öffentlichen Recht (d.h. durch die Stiftungsgesetze der Länder) begleitet wird. Die aktuellen Reformbestrebungen sehen vor, die staatliche Dominanz im Stiftungswesen zurückzuschneiden. Kirchliche Stiftungen genießen heute den Schutz der Grundrechte und stehen unter dem Schirm des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen (Art. 140 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung). Literatur Wilhelm-Albrecht Achilles, Die Aufsicht über kirchl. Stiftungen der ev. Kirchen in der BRD, Tübingen 1986 (JusEcc 32). - Hans-Jürgen Becker, Art. Kirchengut: H D R G 2 (1978) 753 - 7 6 1 . Ders., Der Städel-Paragraph (§ 84 BGB): FS f. Heinz Hübner, hg. v. Gottfried Baumgärtel u.a., Berlin/New York 1984, 2 1 - 3 3 . - August Bröckelmann, Die Verwaltung des Kirchen- u. Pfründenvermögens in den kath. Kirchengemeinden Preußens, Münster 1898. - Wolfgang Busch, Die Vermögensverwaltung u. das Stiftungsrecht im Bereich der kath. Kirche: HSKR 2 1 (1994) 947-1008. - Axel v. Campenhausen, Aktuelle Fragen des kirchl. Stiftungswesens: ZEvKR 13 (1967/68) 115138. - Ders., Die kirchl. Stiftungen in Vergangenheit u. Gegenwar': JGNKG 82 (1984) 113-143. - Ders., Kirchl. Stiftungen: Hb. des Stiftungsrechts (s.u.) 473 - 4 9 6 . - Helmut Coing, Gesch.: Hb.

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Stigmatisierung

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Hans-Jürgen Becker

Stigmatisierung 1. H e r k u n f t des Begriffs 2. Unzureichende Hinweise in der Religionsgeschichte 3 . Berufung a u f das N e u e T e s t a m e n t 4 . Kirchengeschichtliche Beispiele und deren Klassifikation 5. Medizinisch-psychologische Erklärungsversuche 6 . Theologisch-spirituelle Beurteilung (Literatur S. 177)

1. Herkunft des

Begriffs

Unter einem Stigma (von or/'i 19 (1907) 9 7 - 1 0 2 ; 24 (1913) 536. - Ernst Koch, Victorin Strigel (1524-1569). Von Jena nach Heidelberg: Heinz Scheible (Hg.), Melanchthon in seinen Schülern, Wiesbaden 1997, 3 9 1 - 4 0 4 . - Hans Kropatscheck, Das Problem theol. Anthropologie auf dem Weimarer Gespräch v. 1560 zw. Matthias Flacius Illyricus u. Viktorin Strigel, Diss. masch. Göttingen 1943. - Werner Mägdefrau, Die Univ. Jena u. das luth. Erbe zw. Reformation u. Aufklärung: WZ(J).GS 32 (1983) 1 6 3 - 2 0 2 . - Johann Carl Theodor Otto, De Victorino Strigelio liberioris mentís in ecclesia Lutherana indice, Jena 1843. - Albert Pommerien, Viktorin Strigels Lehre v. dem peccatum originis, Diss. (Halle) Hannover 1917. - Siegfried Schmidt (Hg.), Alma mater Jenensis. Gesch. der Univ. Jena, Weimar 1983. - Johann Carl Eduard Schwarz, Das erste Jahrzehnt der Univ. Jena, Jena 1858. Helmut G. Waither (Red.), Aufbrüche - 450 Jahre Hohe Schule Jena. Kat., Jena o.J. (1998). Werner Winkler, Die urkundliche Gesch. der Pädagogik an der Univ. Jena v. J . Stigel u. V. Strigel bis zu G . J . Darjes unter besonderer Berücksichtigung des akademischen Lehrbetriebes (1548-1763), Diss. masch. Jena 1956. - Max Wundt, Die Phil, an der Univ. Jena in ihrem gesch. Verlaufe darg., 1932 (ZVThG.B 15). - Paul Zinck, Die Univ. Leipzig in den kryptocalvinistischen Wirren z.Z. des Kurfürsten August: BSKG 16 (1903) 7 1 - 1 1 9 . Ernst Koch

Strukturalismus 1. Der linguistische Strukturalismus 2. Strukturalismus in Anthropologie, Psychoanalyse und Literaturtheorie 3. Der philosophische Strukturalismus (Quellen/Literatur S.261) 1. Der linguistische 1.1. Saussures

Idee

Strukturalismus einer

synchroniscben

Sprachwissenschaft

Als ein Grundbuch des Strukturalismus gilt der 1916 erschienene Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure ( 1 8 5 7 - 1 9 1 3 ) . Dieses p o s t u m von Schülern aus Notizen und Vorlesungsmitschriften kompilierte Werk (unter teilweiser Verletzung der Intentionen Saussures; vgl. Fehr) postulierte eine rein synchronische Wissenschaft der -»-Sprache ( „ l a n g u e " ) , die alle Akte des Sprechens ( „ p a r o l e " ) systematisch ausschloß und auch den Sprachwandel nachrangig behandeln wollte. Die Sprache sollte vielmehr als geschlossenes System gedacht werden, bei d e m sowohl Bedeutung als auch Lautgestalt eines Zeichens nicht durch eine dem System transzendente Generierung, sondern innerhalb des Systems durch die Differenz zu allen anderen Systemelementen erzeugt werden: „ d o c h in der Sprache gibt es nur Differenzen ohne positive Einzelglieder (sans termes positifs)" (Saussure, C o u r s 166; dt. 143). Das Verhältnis der beiden Seiten des Zeichens - Lautbild und Begriff oder Signifikant und Signifikat - w u r d e als arbiträr bezeichnet, womit Saussure vor allem, was aber erst die Veröffentlichungen aus dem N a c h l a ß zeigen, der irreduziblen Vielheit der Sprachen gerecht werden wollte (vgl. Saussure, Linguistik). 1.2. Vom Russischen

Formalismus

zum

Prager

Linguistischen

Kreis

Saussure selbst bevorzugte als Grundbegriff den Ausdruck „System"; von „Struktur" ist im Cours nur beiläufig die Rede. Zum Gründungsvater des Strukturalismus wurde Saussure erst am Ende einer langen und komplexen Geschichte, die in Rußland mit der Gründung des Russischen Formalismus begann, der von 1915 bis 1930 seine Wirkung entfalten konnte und durch Verfolgung und erzwungene Emigration seiner Proponenten schließlich zum Schweigen gebracht wurde. Diese Richtung der Sprach- und Literaturbetrachtung ersetzte eine herkömmliche Ästhetik des Ausdrucks durch eine autonome Linguistik oder Poetik, die sich den internen Produktionsgesetzen sprachlicher und ästhetischer Gegenstände zuwandte (vgl. Erlich).

256

Strukturalismus

Einer der Hauptvertreter des Russischen Formalismus war Roman Jakobson (1896-1982), und er spielte auch nach seiner Emigration 1926 nach Prag im dortigen Prager Linguistenkreis eine führende Rolle. Auf ihn geht eine der ersten Verwendungen des Epitheton „strukturalistisch" zurück, und zwar im Rahmen einer programmatischen Kampfansage, gerichtet an den Atomismus der Assoziationspsychologie (vgl. Jakobson, Aufsätze 150). Der Strukturalismus der Prager Schule formierte sich als Quintessenz der holistischen Richtungen der damaligen Zeit, wozu neben dem Systemansatz von Saussures Cours und dem Russischen Formalismus die Gestaltpsychologie und der -»Husserl der Logischen Untersuchungen (III. Untersuchung: Zur Lehre von den Ganzen und den Teilen) gehörten. Auch R. Carnaps Bemühen um eine Reformulierung aller wissenschaftlichen Aussagen als Strukturaussagen (vgl. Carnap, Aufbau; ders., Syntax) hat den Prager Strukturalismus befördert. Als eines der Hauptwerke des Strukturalismus sind die 1939 auf deutsch veröffentlichten Grundzüge der Phonologie von N.S. Trubetzkoy anzusehen, wie überhaupt die Phonologie zur Zentraldomäne des Strukturalismus wurde. 1.3. Westwanderung

des

Strukturalismus

Doch mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland ging die Zwangsemigration weiter, und sie führte weiter nach Westen. Jakobson gelangte nach Aufenthalten in Dänemark (wo sich um Louis Hjelmslev [1899-1965], Viggo Brondal [1887-1942] und Hans Jorgen Uldall [ 1 9 0 7 - 1 9 5 7 ] mit dem Kopenhagener Linguistenkreis eine eigene strukturalistische Richtung der Sprachwissenschaft [Glossematik] gebildet hatte) und Schweden schließlich 1941 nach New York, wo er an der Columbia University sowie an der École libre des Hautes Études lehrte und 1945 die Zeitschrift Word gründete, in deren erster Nummer exilierte Wissenschaftler wie Ernst Cassirer (1874-1945) und Claude Lévi-Strauss (geb. 1908) zum Strukturalismus Stellung nahmen. Jakobson wurde 1949 an die Harvard University und 1957 ans Massachusetts Institute of Technology berufen; sein dortiges Wirken hatte im weiten Sinne Folgen sowohl für die weitere Entwicklung des Amerikanischen Strukturalismus, der nicht in dem Maße theoretisch ambitioniert war wie der europäische und seinen sachlichen Schwerpunkt in der Untersuchung von Indianersprachen hatte, als auch für Noam Avram Chomskys (geb. 1928) Projekt einer Generativen Transformationsgrammatik. Doch durch seine freundschaftliche Verbindung mit LéviStrauss und später auch mit dem Pariser Psychoanalytiker Jacques Lacan (s.u. 2.2.) sollte Jakobson in Europa und besonders in Frankreich mit dem Aufkommen eines Strukturalismus in den Sozialund Geisteswissenschaften und schließlich in der Philosophie einen weit größeren Einfluß haben. 2. Strukturalismus 2.1. Strukturale

in Anthropologie,

Psychoanalyse

und

Literaturtheorie

Anthropologie

D i e Strukturale Anthropologie von C . Lévi-Strauss geht direkt auf die in N e w York entstandene Beziehung zwischen J a k o b s o n und Lévi-Strauss zurück (vgl. Lévi-Strauss/ E r i b o n , D e près 1 6 3 ; dt. 6 5 ) . J a k o b s o n b r a c h t e Lévi-Strauss die strukturale Linguistik nahe, die dieser als L e i t w i s s e n s c h a f t seiner N e u b e g r ü n d u n g der A n t h r o p o l o g i e zugrunde legte. D e r entscheidende S c h r i t t , den Lévi-Strauss in seinem p r o g r a m m a t i s c h e n Beitrag L'analyse structurale en linguistique et en anthropologie zur ersten N u m m e r von Word vollzog, bestand in der E n t d e c k u n g einer strukturalen I s o m o r p h i e zwischen den Gesetzen der S p r a c h e und den Gesetzen der V e r w a n d t s c h a f t (Lévi-Strauss, A n t h r o p o l o g i e I, 4 0 f . ; dt. I, 4 6 ) . Indem letztere zwischen möglichen und v e r b o t e n e n H e i r a t e n unterscheiden, regeln sie nach Lévi-Strauss nicht n u r die internen, sondern auch die e x t e r n e n Beziehungen zwischen E t h n i e n - und z w a r in der geregelten F o r m des F r a u e n t a u s c h s , der A b g a b e heiratsfähiger T ö c h t e r an eine andere ethnische E i n h e i t . In s e i n e m H a u p t w e r k Les structures élémentaires de la parenté bietet Lévi-Strauss eine eigene L ö s u n g für das P r o b l e m des Inzestverbots a n , u m dessen E r k l ä r u n g v o r m a l s b i o l o g i s c h e (natürliche Inzestscheu), p s y c h o l o g i s c h e ( Ö d i p u s k o m p l e x ) und soziologische A n s ä t z e k o n k u r r i e r ten. D a s Inzestverbot ist die Kehrseite des E x o g a m i e g e b o t s , beides z u s a m m e n m a r k i e r t den U b e r g a n g von N a t u r zu Kultur, und so k o m m t es, d a ß das Inzestverbot, auch wenn es nur ein soziales, a l s o willkürlich gestiftetes G e s e t z ist, d e n n o c h die universelle Verbreitung eines Naturgesetzes aufweist. D a s Inzestverbot fällt so mit der S t r u k t u r der Verwandtschaftsbeziehungen z u s a m m e n . Lévi-Strauss hat sich später z u n e h m e n d den Klassifikationssystemen (vgl. LéviStrauss, Pensée) und den M y t h e n (ders., M y t h o l o g i q u e s ) zugewandt: I n s b e s o n d e r e für

Strukturalismus

257

letztere entwirft er ein deduktives Modell, das die Summe der möglichen Mythen aus einigen Grundkonstellationen ableitet. Dieses Modell ist anti-empiristisch und anti-historizistisch zugleich: Nicht die Analyse der Diffusionswege von Mythen soll den Anthropologen interessieren, sondern die Verortung innerhalb dieser Suprastruktur als spezifische Variationen. Für seine eigene strukturale Darstellung der Mythen Nord- und Südamerikas legt er einen Referenzmythos als Ausgangspunkt zugrunde; die Entwicklung erfolgt dann nach Art einer musikalischen Partitur. Letzten Endes ist die Strukturale Anthropologie von Lévi-Strauss eine Theorie des menschlichen Geistes, denn alle Strukturen lassen sich auf die „unbewußte Tätigkeit des Geistes" (Lévi-Strauss, Anthropologie I, 75; dt. I, 79), die „angeborene Struktur des menschlichen Geistes" (Lévi-Strauss, Introduction 22; dt. 25) zurückführen. Zwischen Natur und Kultur besteht ein Kontinuum von differenzierten und hierarchisierten Strukturierungsprozessen, deren eines Extrem der menschliche Geist darstellt, dessen Tätigkeit somit auch als Selbstbearbeitung von Strukturen durch Strukturen aufzufassen ist. Die Entzifferung der Mythen hat Lévi-Strauss mit dem Bemühen der Biologen identifiziert, den „genetischen Code" zu entschlüsseln (Lévi-Strauss, Mythologiques IV, 574; dt. IV, 753). Gerade gegen Lévi-Strauss ist denn auch der Vorwurf einer „Ontologisierung der Struktur" erhoben worden (vgl. Eco 359—377). Einen Strukturalismus avant la lettre betrieb der Religionswissenschaftler und „vergleichende Mythologe" Georges Dumézil (1898-1986), der bereits in den dreißiger Jahren eine „Ideologie der drei Funktionen" (Priester/Krieger/Produzenten des Reichtums) aufgedeckt hatte, nach der sowohl die indische als auch die germanische Mythologie und das römische Pantheon strukturiert seien. Allerdings fehlt bei Dumézil die Anbindung an eine Metatheorie des menschlichen Geistes. 2.2. Die strukturalistische

Revision

der

Psychoanalyse

In enger Anlehnung an Lévi-Strauss führte der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) seit den fünfziger Jahren eine strukturale Revision der Freudschen (S. -•Freud) Psychoanalyse durch, der ebenfalls die strukturale Linguistik nach Saussure und Jakobson zugrunde lag. Lacans Diktum, „das Unbewußte sei strukturiert wie eine Sprache", ist vor allem als methodisches Prinzip zu verstehen, sich nur im Medium sprachlicher und sprachanaloger Prozesse bewegen und die mit Affekt und Instinkt betitelten Elemente ausschalten zu wollen. Freuds zentrale Modi der Traumarbeit, „Verdichtung" und „Verschiebung", wurden in die rhetorischen Figuren „Metapher" und „Metonymie" transponiert. Von Lévi-Strauss übernimmt Lacan auch die Auffassung des Unbewußten als eines „symbolischen Systems", das zwischen Ich und Anderem sowie zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven vermittelt, sowie die Grundzüge einer strukturalen, d.h. stark entdramatisierten und entpsychologisierten Version des Ödipuskomplexes. Lacan widersteht allerdings dem Objektivismus von Lévi-Strauss und formuliert die Psychoanalyse bewußt als Theorie der Struktur eines (unbewußten, begehrenden) Subjekts. Im vom Bemühen um Formalisierung geprägten Spätwerk orientiert sich Lacan zunehmend an der mathematischen Topologie, die er nicht mehr nur als heuristisches oder methodisches Modell anerkennt, sondern mit einer für real gehaltenen Struktur gleichsetzt. 2.3. Strukturalismus

in der

Literaturtheorie

Auch der Strukturalismus in der Literaturtheorie geht von der strukturalen Linguistik als formalem Modell aus. Eine initiale Wirkung hatte 1966 die von den Autoren Roland Barthes (1915-1980; zugleich Hg.), Claude Bremond (geb. 1929), Algirdas Julien Greimas (geb. 1917), Gérard Genette (geb. 1930), Tzvetan Todorov (geb. 1939) u.a. gestaltete Nr. 8 der Zeitschrift Communications zur strukturalen Analyse von Erzählungen. Als Elementareinheit der Analyse wird, analog dem Satz als linguistischer Elementareinheit, der „Diskurs" angesetzt; unterschieden wird nach hierarchisch integrierten Sinnebenen

258

Strukturalismus

und Funktionen, deren Zusammenhang nach Art einer Grammatik aufgefaßt und dargestellt wird. Die Handlungen gelten genauso als Funktionen wie die Akteure. Um jede Illusion subjektiver Zurechnung zu vermeiden, schlägt Greimas die Ersetzung des Begriffs Akteur durch den rein formal definierten Terminus des „ A k t a n t e n " vor. Die Phase eines derart methodisch strengen und formalen Strukturalismus hielt nicht lange vor. Barthes brachte bereits kurz nach seiner exemplarischen strukturalen Analyse einer Erzählung von Honoré de Balzac ( 1 7 9 9 - 1 8 5 0 ) , S / Z (1970), wieder die „Lust am T e x t " in Erinnerung und wandte sich in den zumal stark autobiographischen Texten der siebziger Jahre einer offeneren, subjektiveren und experimentierenden Schreibweise zu, ohne die Prinzipien strukturaler Analyse auch als Themen aufzugeben. Die Gruppe Tel Quel um Philippe Sollers (geb. 1936) und Julia Kristeva (geb. 1941) machte sich ab Mitte der sechziger Jahre als zugleich literarische und literaturtheoretische Avantgarde einer strukturalistischen Praxis geltend, bevor sie im Verlauf der siebziger Jahre unter den ständigen Richtungswechseln einer linksradikalen Politisierung zerbrach und an Bedeutung verlor. 3. Der philosophische 3.1.

Strukturalismus

Entstehung

Vornehmlich Lévi-Strauss hat schon frühzeitig allgemeine epistemologische und methodologische Konsequenzen aus dem in der Linguistik und den Sozialwissenschaften praktizierten Strukturalismus zu ziehen und in Polemiken z . B . gegen -»Sartre zu bewähren versucht (vgl. Lévi-Strauss, Pensée). In den fünfziger und frühen sechziger Jahren fand die Diskussion um den Strukturalismus noch in einer weiten Fächerung und einer Gemengelage statt, in der phänomenologisch oder gestalttheoretisch orientierte Ansätze ebenso ihren Platz hatten wie der genetische Strukturalismus eines Jean Piaget ( 1 8 9 6 1980) oder Lucien Goldmann ( 1 9 1 3 - 1 9 7 0 ) (vgl. Bastide; de Gandillac u.a.). Ab Mitte der sechziger Jahre kommt es zur massiven Polarisierung insbesondere zwischen Strukturalismus und -»Phänomenologie (der der Existentialismus zugerechnet wird) und damit auch zur Ablösung von einem gestalttheoretischen Strukturbegriff, wie ihn noch Kurt Goldstein ( 1 8 7 8 - 1 9 6 5 ) oder Maurice Merleau-Ponty ( 1 9 0 8 - 1 9 6 1 ) vertraten (vgl. Boudon). Der neue Strukturbegriff bezeichnet weder ein methodisch einsetzbares Erkenntnisinstrument noch ein als solches erfahrbares Objekt. Zwischen Struktur und Subjekt gilt ein Ausschließungsverhältnis, bestenfalls läßt die Struktur Subjektivität noch als Effekt zu, ansonsten aber wird die Unterwerfung des Subjekts unter eine logisch vorgängige konstitutive Struktur (vgl. Barthes, Leçon 13; dt. 17f.) — der Sprache, der Gesellschaft, der Macht, des Symbolischen - oder gleich eine unbewußte Struktur (vgl. Lévi-Strauss, Anthropologie I, 223; dt. I, 222) postuliert. Insofern versteht sich der philosophische Strukturalismus, der 1966 bereits das J a h r seiner größten Wirkung und öffentlichen Aufmerksamkeit hat, als entschieden subjektkritisch und antihumanistisch. Als Referenzwissenschaft erkennt der Strukturalismus in seiner Hochphase entweder die Strukturale Linguistik oder eine allgemeine Semiologie an; beide werden strikt antipsychologisch als autonome Theorie der Sprache (ohne das Sprechen) oder der Zeichen (ohne intentionales Subjekt, ohne subjektive Bedeutung) verstanden. Die Entstehung von Sinn wird als emergenter Vorgang von einer formalen Organisation selbst nicht-sinnhafter Elemente her gedacht. 3.2. Zentrale

Gestalten

3.2.1. Marxismus und Strukturalismus: Louis Althusser. Lévi-Strauss hatte bereits die Debatte zwischen Strukturalismus und Marxismus (-»Marx/Marxismus) eröffnet, indem er eine Revision des Schemas von Basis/Überbau (franz.: „infrastructure/superstructures") vorschlug (Lévi-Strauss, Pensée 173; dt. 154; vgl. Oppitz 65ff.). Ihm folgte L. Sebag mit der ersten systematischen, auf eine Theorie der Ideologie abzielenden Konfrontation. Die größte Wirkung erzielte freilich der kommunistische Philosoph Louis Althusser (1918-1990), der 1965 zunächst in einer Sammlung eigener Aufsätze (Pour Marx), dann zusammen mit E. Balibar, R. Establet, P. Macherey und J. Ranciere

Strukturalismus

259

eine strukturalistische Rekonstruktion der Marxschen Kapitalismus-Analyse vorlegte (Lire le Capital). Die Marx-Lektüre der Gruppe um Althusser ist von einer entschiedenen Ablehnung existentialistischer und phänomenologischer Ansätze und deren Präferenz des Marxschen Frühwerks mitsamt der darin vorherrschenden Entfremdungsthematik geprägt; ein weiterer zu bekämpfender Feind ist die Hegelsche (-»Hegel) Dialektik und deren Nachwirkungen im Marxschen „Œuvre". Beide „Gegner" werden durch die These eines „epistemologischen Bruchs" ausgebootet (ein von dem Philosophen und Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard [1884-1962] entliehenes Theorem), der in der Entwicklung des Marxschen Werkes um 1845 herum stattgefunden haben soll und es nunmehr erlaube, zwischen einer ideologischen Frühphase und dem eigentlich wissenschaftlichen Spätwerk sowie Schriften des Übergangs zu unterscheiden. Mit der Wissenschaftlichkeit des von ihr auf diese Weise beschnittenen Gegenstandes behauptete Althussers strukturalistische Revision zugleich ihre eigene Objektivität und Wissenschaftlichkeit. Im einzelnen legten Althusser und das Autorenkollektiv durchaus beachtliche Überarbeitungen zentraler Theoreme - Theorie des Widerspruchs, der Überdeterminierung und des Verhältnisses von Basis und Überbau - der marxistischen Theorie vor. 1974 hat sich Althusser deutlich von seinem „Flirt" mit dem Strukturalismus distanziert (Althusser, Éléments 57; dt. 64); das Kollektiv war zu diesem Zeitpunkt bereits zerfallen. 1980 tötete der unter Depressionen leidende Philosoph seine Frau und verbrachte mehrere Jahre in psychiatrischen Kliniken. Postum (1992) erschien seine vielbeachtete Autobiographie. 3.2.2. Strukturalismus und Geschichte: Michel Foucault. An der Entwicklung von Michel Foucault (1926-1984) läßt sich der Übergang von einem Strukturalismus, der noch gestalttheoretische Momente beinhaltet und die Struktur als introspektiv zugänglich für ein Subjekt betrachtet, zu dem radikalen Verständnis von Struktur versus Subjekt nachvollziehen, der mit einer phänomenologischen Einbettung unvereinbar ist. Foucaults erste Schrift war eine Einführung in die französische Übersetzung eines Aufsatzes von Ludwig Binswanger (1881-1966), Traum und Existenz. Eine spezifischere Verwendung des Strukturbegriffs findet sich erstmals 1963 in der medizinhistorischen Untersuchung Naissance de la clinique, in der eine „strukturale Analyse des Signifikats" angekündigt wird (eine Formulierung, die Foucault in der Neuauflage von 1972 - neben weiteren Retuschen des strukturalistischen Vokabulars - durch die neutralere Variante „Analyse von Diskursen" ersetzen sollte). In Les mots et les choses indes, das als eines der Hauptwerke des französischen Strukturalismus gilt, kommt der Begriff, wie Foucault selbst zu Recht vermerkt, kaum vor - weshalb Piaget von einem „Strukturalismus ohne Strukturen" spricht (Piaget 108; dt. 123); vom Strukturalismus ist eher als einem atmosphärischen Phänomen die Rede: „Der Strukturalismus ist keine neue Methode, er ist das erwachte und unruhige Wissen des modernen Bewußtseins" (Foucault, Mots 221; dt. 260). Ansonsten ist der Strukturalismus für Foucault selbst ein historischer, innerhalb der Geschichte der Wissenschaften und der Denksysteme zu berücksichtigender Gegenstand: Strukturale Anthropologie (Lévi-Strauss) und strukturale Psychoanalyse (Lacan) erhalten einen prominenten Ort als Gegenwissenschaften zu den modernen Humanwissenschaften zugewiesen; Saussure dagegen wird in die historische Tradition der Junggrammatik zurückverbannt und seiner strukturalistischen Ahnenschaft beraubt. Im Original trägt das Buch den Untertitel Eine Archäologie der Humanwissenschaften, und unter den Titel einer Archäologie des Wissens stellt Foucault 1969 seine nachgelieferten methodologischen Überlegungen, mit denen er trotz einer unübersehbaren Annäherung an Althusser (Wissenschaft/Ideologie) bereits seine Abkehr vom Strukturalismus einleitet. 3.2.3. Strukturalismus und Wissenschaftstheorie: Michel Serres. Michel Serres (geb. 1930) hat zunächst nicht zu den auffälligsten Erscheinungen unter den strukturalistischen Autoren gehört; V. Descombes (104; dt. 103) bezeichnet ihn jedoch als den einzigen Philosophen in Frankreich, der die strukturalistische Methode auf der Grundlage eines strikt mathematischen (und nicht architektonischen oder organischen) Strukturbegriffs anwendet, wie ihn die Mathematikergruppe Bourbaki erarbeitet hat: „Eine Struktur ist eine operationale Menge mit Undefinierter Bedeutung ..., die beliebig viele, inhaltlich nicht spezifizierte Elemente und eine endliche Zahl von Relationen zusammenfaßt, deren Natur nicht weiter spezifiziert ist, für die jedoch die Funktion und gewisse Auswirkungen auf die Elemente definiert sind" (Serres, Hermès I, 32; dt. I, 39f.). Bei einer strukturalen Analyse zählen allein die formalen Bestimmungen, die einen Gegenstand allein noch als Modell anerkennen und ihn so vergleichbar machen. Auf diese Vergleichbarkeit kommt es Serres an, er ist auf der Suche nach „Isomorphien", und diese können zwischen höchst unterschiedlichen Objekten bestehen. So werden in den fünf Büchern Hermès nicht nur die titelgebenden Relationen (1. Kommunikation, 2. Interferenz, 3. Übersetzung, 4. Distribution, 5. Die Nordwestpassage) direkt behandelt, sondern vor allem an spezifischen Kulturphänomenen in actu gezeigt: Der Maler William Turner (1775-1851) erweist sich als Übersetzer der Wärmelehre von Nicolaus Leonard Sadi Carnot (1796-1832); der Übergang von der Thermodynamik des 19. zur Informationstheorie des 20. Jh. erfolgt über die Psychoanalyse Freuds.

260

Strukturalismus

3.2.4. Virtualität der Struktur: Gilles Deleuze. Man wird Gilles Deleuze ( 1 9 2 5 - 1 9 9 5 ) kaum als Strukturalisten bezeichnen können, obwohl er in den beiden Werken aus den Jahren 1968 (Différence et répétition) und 1969 ( L o g i q u e du sens) einen von -»Leibniz her seriell akzentuierten Strukturbegriff vertrat. 1972 legte er zusammen mit F. Guattari L'Anti-Œdipe, eine polemische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse vor, die auch den Strukturalismus und jedes Denken der Repräsentation ablehnte. Andererseits ist Deleuze ein besonders eingängiger Überblick über den Strukturalismus zu verdanken, der 1967 (unter Berücksichtigung der vorliegenden Werke von Lévi-Strauss, Althusser, Foucault, Lacan, Barthes und den Schriftstellern der Tel--Quel-Gruppe) mittels sieben Kriterien bestimmt wird: 1. Der Strukturalismus ist eine Theorie des Symbolischen als einer mittleren ordnenden Instanz zwischen dem Realen und dem Imaginären. 2. Die Struktur ist topologisch und relational; sie zeichnet vorrangig Plätze aus, ohne schon im Blick zu haben, wie sie und ob sie überhaupt besetzt werden. 3. Die „Organisation" der Elemente einer Struktur ist rein differentiell; auf dieser Basis sind spezifische Differenzierungen möglich. 4. Der „Zustand" einer Struktur ist der einer „Mannigfaltigkeit virtueller Koexistenz", die in Teilen jeweils aktualisiert werden kann. 5. Diese Aktualisierung erfolgt in Serien, und zwar müssen es wenigstens zwei sein, zwischen denen eine Verschiebung geschieht. 6. Damit es zu dieser Verschiebung kommen kann, muß ein „leeres Feld" vorausgesetzt werden, das von einem „eminent symbolischen" paradoxen Objekt ausgefüllt wird; so wird die Verbindung zwischen den zwei Serien hergestellt. 7. Eine strukturalistische Praxis wird postuliert (die 1967 noch nicht gegeben ist), die von „unpersönlichen Individuationen" und „prä-individuellen Singularitäten" ausgehend Aktualisierungen vollzieht. Deleuze macht deutlich, daß dieser Strukturbegriff selbst nur an einem spezifischen Gegenstand geltend gemacht werden kann: „In Wahrheit gibt es Struktur nur von dem, was Sprache ist, und sei es auch eine esoterische oder gar eine nicht verbale Sprache" (Deleuze, Structuralisme 300; dt. 270). 3.2.5. Phänomenologie und Strukturalismus: Jacques Derrida. Jacques Derrida (geb. 1930) hat sich 1968 kurzzeitig bestimmten Implikationen des strukturalistischen Antihumanismus (vgl. Derrida, Fins) und seine eigene Begriffsstrategie an den Begriff der Struktur (vgl. ders., Positions 39; dt. 63) angeschlossen, ansonsten aber die phänomenologische Tradition, aus der er herkommt, immanent radikalisiert und überschritten und sich schon früh als origineller Kritiker des Strukturalismus hervorgetan. Gegen Foucault, Lévi-Strauss und den Literaturwissenschaftler Jean Rousset (geb. 1910) wird das Problem einer Zentralität der Struktur aufgeworfen, die dazu führt, daß zum einen der Übergang von einer Struktur-Epoche zu einer anderen nur als „Katastrophe" gedacht werden kann und daß zum anderen der Strukturbegriff selbst als Endpunkt einer langen Kette von funktional äquivalenten Begriffen dasteht (vgl. Derrida, L'écriture 10.411; dt. 10.424). Demnach schleppt noch der sich wissenschaftlich gebende Strukturalismus ein altes metaphysisches Erbe mit. Eine spätere, abermals an Lévi-Strauss explizierte Kritik wirft dem Strukturalismus eine spezifische Voreingenommenheit gegenüber Phänomenen vor (vgl. Derrida, Temps): Indem die Strukturale Anthropologie die Herstellung des sozialen Zusammenhangs nach innen und außen als Austausch - von Gütern, Worten, Frauen - und damit immer schon in Figuren von Reziprozität und Symmetrie denkt, fallen für sie Phänomene der Asymmetrie und Nicht-Reziprozität aus dem methodischen Blick heraus. Das gilt insbesondere für „die G a b e " , und Derrida zeigt, daß Lévi-Strauss Marcel Mauss (1872-1950) Unrecht tut, wenn er behauptet, in seinem Essai sur le don sei Mauss der Voreingenommenheit eingeborener Informanten aufgesessen. Nach Derrida sitzt die Voreingenommenheit beim Strukturalismus und geht letztlich auf dessen Unvermögen oder Unwillen zurück, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu denken. Denn Gabe gibt es nur in der „Zeit", in der noch nichts auf sie erwidert worden ist, noch nicht einmal ihre Anerkennung als einer solchen. Diese initiale, offene Zeit ist vom Strukturalismus immer schon übersprungen worden. 3.3.

Ausblick

M a n hat den philosophischen Strukturalismus auch als „ N e o s t r u k t u r a l i s m u s " (M. Frank) bzw. als „ P o s t s t r u k t u r a l i s m u s " bezeichnet. Beide Begriffe werfen m e h r Probleme auf, als sie lösen, in Sonderheit die Frage der Kontinuität zu dem, was dann n o c h Strukturalismus heißt. Außerdem haben sich in der internationalen Rezeption und Diskussion Unterschiede in der Begriffsverwendung ausgebildet, die nicht übergangen werden dürfen: W ä h r e n d in den angelsächsischen Ländern mit Poststrukturalismus in der Regel das Werk Foucaults, insbesondere seine späteren Schriften, gemeint und klar der Dekonstruktion Derridas gegenübergestellt wird, bezieht hierzulande die Bezeichnung Poststrukturalismus die Dekonstruktion mit ein oder benennt sogar vorrangig diese. M a n ist über die Arbeit a m Begriff nicht hinaus, und zumindest insofern ist der Strukturalismus als Problem noch virulent. Der von F. Dosse 1 9 9 1 - 1 9 9 2 vorgelegte (sehr oberflächliche)

Strukturalismus

261

Versuch, die Geschichte des Strukturalismus zu schreiben, scheint verfrüht; ganz abgesehen davon, daß die höchst unterschiedliche Entwicklung, die die Autoren, die man um 1966 herum dem Strukturalismus hat zurechnen können, im weiteren genommen haben, es angeraten sein läßt, diese stärker in ihrer Eigenständigkeit als unter der Betonung einer temporären Zugehörigkeit zu einem nicht nur methodischen, sondern auch modischen Paradigma zu betrachten. Quellen Louis Althusser, Pour Marx, Paris 1965; dt.: Für Marx, Frankfurt a.M. 1968. - Ders., Éléments d'autocritique, Paris 1974; dt.: Elemente der Selbstkritik, Berlin 1975. - Ders., L'avenir dure longtemps suivi de Les faits, Paris 1992 '1994; dt.: Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen, Frankfurt a.M. 1993. - Ders./Etienne Balibar/Roger Establet/Pierre Macherey/Jacques Ranciere, Lire le Capital, 4 Bde., Paris 1965 »1968; dt.: Das Kapital lesen, 2 Bde., Reinbek 1972. - L'analyse structurale des récits: Communications 8 (1966). - Roland Barthes, L'activité structuraliste (1963): ders., Œuvres complètes I, Paris 1993; dt.: Die strukturalistische Tätigkeit: Kursbuch 5 (1966) 190-196. Ders., Éléments de sémiologie: Communications 4 (1964) 91-135; dt.: Elemente der Semiologie, Frankfurt a.M. 1979. - Ders., Intr. à l'analyse structurale des récits (1966): ders., Œuvres complètes, Paris, II 1994; dt.: Einf. in die strukturale Analyse v. 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Strukturalismus

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Studentengemeinde/Hochschulgemeinde

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Hans-Dieter Gondek

Studentengemeinde/Hochschulgemeinde 1. Geschichte 2. Strukturen und Arbeitsformen gemeinde (Literatur S. 267)

3. Das Gemeindekonzept der Studenten-

Studentengemeinde ist eine an studentischen Belangen orientierte „sachlich-bestimmte Personalgemeinde ..., die im Kontext von Universität und Hochschule lebt und arbeitet" (Kubitza 198), und ist in dieser Gestalt auf den deutschen Sprachraum begrenzt. Der Begriff Hochschulgemeinde wird bevorzugt, wenn alle Hochschulangehörigen als Zielgruppe begriffen werden. Eine strenge Bindung an die Autorität der Bibel und eine Abgrenzung gegenüber dem volkskirchlichen Pluralismus verbindet die missionarisch ausgerichteten Studentengruppen (Studentenmission Deutschland-, Campus für Christus-, Navigatoren). 1.

Geschichte

1.1. Geschichtliche Wurzeln. Die Studentengemeinden sind aus zwei Entwicklungen hervorgegangen: 1. Mission und Seelsorge an den Universitäten als Laienbewegung (seit 1830) (-»Vereinswesen); 2. Einrichtung von Hochschulpfarrämtern (seit 1912). Die in dieser Entstehungsgeschichte angelegte Spannung von Vereins- und Gemeindeprinzip läßt sich in Konflikten zwischen Studentengemeinden und Vertretern der verfaßten Kirche bis heute nachweisen. 1.1.1. Die evangelische Studenten- und Studentinnenbewegung ist ein „Kind der Erweckung" (Kupisch 212). Nach amerikanischem Vorbild luden Vorstandsmitglieder des Berliner Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) seit 1890 zu „Allgemeinen Christlichen Studentenkonferenzen" ein, deren Teilnehmer sich für die Einrichtung und Ausbreitung studentischer Bibelkreise einsetzten. Aus diesen Konferenzen heraus konstituierte sich 1895 die (ab 1897: Deutsche) Christliche Studenten-Vereinigung (DCSV) als ökumenisch engagierte und pietistisch geprägte Laienbewegung, 1905 folgte die Deutsche Christliche Vereinigung studierender Frauen (DCVSF, ab 1931: Deutsche Christliche Studentinnenbewegung [DCSB]). Nachdem F. - » N a u m a n n bereits 1888 einen „Stand von Studentenpastoren" (Naumann 64) gefordert hatte, beschloß die Rheinische Provinzialsynode 1919 die Einrichtung eines Evangelisch-kirchlichen Studentendienstes mit Sitz in Bonn, dessen Arbeit „dem akademischen Lehrkörper und den in Frage kommenden studentischen Vereinigungen" galt (Feist I, 38—41; II, 8f.).

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Studentengemeinde/Hochschulgemeinde

Trotz eines durchaus verbreiteten Wohlwollens innerhalb der DCSV gegenüber den Zielen des aufkommenden Nationalsozialismus ging die Zahl der Mitglieder zwischen 1932 und 1934 von 1182 auf 688 zurück, wobei der ohnehin hohe Anteil der Theologen auf über 7 0 % stieg (Kupisch 205). Nach den Barmer und Dahlemer Synoden übernahm die DCSV seit 1934 die kirchenpolitische Position der Bekennenden Kirche. Das Verbot von DCSV und DCSB (1938) ließ deren Mitglieder mit den studentischen Gruppen der Bekennenden Kirche zur „evangelischen Studentengemeinde" verschmelzen. Tragender Hintergrund der DCSV-Arbeit war die Altfreundeschaft, die sich seit 1900 aus ehemaligen DCSV-Studenten rekrutierte und ebenfalls 1938 verboten wurde (ca. 3.000 Mitglieder). Ihr Vorsitz wurde zuletzt - in Personalunion mit dem DCSV-Vorsitz - von R . von -»Thadden-Trieglaff wahrgenommen. Auch die Altmitglieder der DCVSF sammelten sich in einem Bund, der sich jedoch bereits seit 1923 als Bund christlicher Akademikerinnen (BCA) stärker der Wahrnehmung berufsständischer Interessen widmete (ca. 500 Mitglieder; vgl. Hilpert-Fröhlich 129). 1.1.2. Die Wurzel der katholischen Studentengemeinden liegt in den Vereinigungen und Verbindungen, die Mitte des 19. Jh. an den Hochschulen entstanden (1856 Cartellverband). Stärker als in der evangelischen Kirche waren diese auf den Kontext einer kirchlichen Akademiker-Bildungsarbeit bezogen (1885 Akademische Bonifatius-Vereinigung). Seit 1912 wurden Pfarrstellen für die Hochschulseelsorge eingerichtet, 1927 erließ die Fuldaer Bischofskonferenz erstmalig Richtlinien für die Hochschulseelsorge. In den 20er Jahren entstand die Arbeitsgemeinschaft der katholischen deutschen Studentenverbände, die auch die aus der -»Jugendbewegung entstandenen Gruppierungen umfaßte. Mit dem Verbot der katholischen Verbände durch die Nationalsozialisten begann ein Rückzug der Aktivitäten auf den Gottesdienst als der alleinigen, staatlich gebilligten Form kirchlicher Hochschularbeit. 1.2. Entwicklung von 1945 bis 1990. Nach 1945 wurden die seit 1938 entstandenen Evangelischen Studentengemeinden (ESG) fortgeführt und kirchlich anerkannt, behielten aber das aus der Vereinsbewegung erwachsene Selbstbewußtsein gegenüber den Landeskirchen bei. DCSV und DCSB verzichteten auf eine Neugründung, die Altfreundearbeit wurde später als Evangelische Akademikerschaft in Deutschland fortgeführt (-•Akademikervereinigungen, Christliche 2.). Die römisch-katholische Kirche errichtete an den Universitäten Katholische Studentengemeinschaften (KSG), die sich in der Folgezeit nach und nach als (Hochschul-)Gemeinden verstanden. Die Studentengemeinden in beiden Teilen Deutschlands blieben nach 1945 trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme in intensivem Austausch. Unterstützt durch das Ost-West-Referat der ESG und das Berliner Bildungszentrum der katholischen Kirche (BBZ) und weitgehend finanziert durch Mittel der Bundesregierung wurde ein umfangreiches Partnerschaftsprogramm verwirklicht (vgl. Sommer 5 8 - 1 5 6 ) . 1.2.1. In der DDR waren die Studentengemeinden in den 50er Jahren einer offensiven Verfolgung ausgesetzt (Prozeß gegen den Leipziger Studentenpfarrer Georg-Siegfried Schmutzler [geb. 1915] 1956/57), entwickelten sich aber in den 60er und 70er Jahren mit staatlicher Duldung zu ,,geschlossene[n] Orte[n] des Rückzugs in ein anderes Milieu" (Hartmann, Art. Hochschulgemeinde 189). Obwohl aus der Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit in die Kategorie der „feindlich-negativen, pseudopazifistischen Personenzusammenschlüsse" (Noack 87) fallend, konnten sie durch profilierte Vortragsveranstaltungen im Rahmen wöchentlicher Gemeindeabende ein Bildungsmonopol im nicht-staatlichen Bereich ausüben (Straube). Das geförderte und geforderte eigenständige Denken trug dazu bei, daß sich viele Studentengemeinden Ende der 80er Jahre als Versammlungsort für die wachsende innerstaatliche Opposition anboten. 1.2.2. Auch in der Bundesrepublik umfaßten die Aktivitäten der Studentengemeinden neben der traditionellen Bibelstunde Vortragsveranstaltungen und Arbeitskreise. Von

Studentcngemcinde/Hochschulgemeinde

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Anfang an wurden neben theologisch-exegetischen Fragen gesellschaftspolitische Belange und Anfragen aus der Ökumene mit Wachsamkeit verfolgt, was schon um 1960 zu Konflikten mit Kirchenleitungen und christdemokratischen Politikern führte (Wiedenmann 123-132). Seit 1967 engagierten sich die Studentengemeinden innerhalb der westdeutschen Studenten- und Solidaritätsbewegung. Während die einzelnen Studentengemeinden in ihrem theologischen Profil durch die jeweiligen Hauptamtlichen beeinflußt waren, beriefen sich die bundesweit arbeitenden Arbeitsgruppen und Kommissionen (s.u. 2.2.) seit dieser Zeit durchgängig auf die lateinamerikanische Befreiungstheologie und auf politisch engagierte deutschsprachige Theologinnen und Theologen (u.a. Johann Baptist Metz [geb. 1928]; Helmut Gollwitzer [1908-1993]; Dorothee Solle [geb. 1929]). Das hierauf gegründete Engagement führte zu Auseinandersetzungen mit Landeskirchen und Bischöfen, die eine größere theologische Pluralität und politische Ausgewogenheit einklagten. In der katholischen Kirche kulminierte der Konflikt bereits 1973, als unter massivem Druck der Deutschen Bischofskonferenz die 1947 als Vertretung aller katholischen Studierenden gegründete Katholische Deutsche Studentenvereinigung (KDSE) aufgelöst wurde. In der ESG kam es zu erbitterten Einzelkonflikten (u.a. in Hamburg, Tübingen, Köln). Im Konflikt mit landeskirchlicher Personalpolitik entstanden „autonome Studentengemeinden" (Hannover 1977-1985, Marburg 1979-1990, Heidelberg seit 1987). Bei der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geriet die ESG in Mißkredit, als 1981 ein ehemaliger Studentenpfarrer ohne Zustimmung seiner Landeskirche zum Generalsekretär gewählt wurde. Ein auf der EKD-Synode 1981 eingerichteter „Ständiger Gesprächskreis" trug jedoch zu einem wachsenden Verständnis zwischen beiden Institutionen bei. 2. Strukturen

und

Arbeitsformen

2.1. Arbeit vor Ort. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche sind sich der Bedeutung der Studierendengemeinden im Räume der Hochschule bewußt und erhoffen sich von ihnen die Übernahme einer Vermittlungsaufgabe zwischen Glaube und Wissenschaft. Dem entspricht, daß kirchlichc Hochschularbeit heute nahezu an jedem Hochschulort vertreten ist. Da für die einzelnen Studierenden keine formale Mitgliedschaft besteht, liegt über Zahl und Zusammensetzung der Gemeindeglieder keine verläßliche Angabe vor; nach einer EKD-Studie von 1991 nehmen 1% der Studierenden häufig an einer Veranstaltung der ESG teil (Der Dienst der Ev. Kirche an der Hochschule 171). Das Spektrum der Tätigkeiten reicht von einzelnen Gesprächsangeboten an kleinen Fachhochschulen bis zu differenzierten interkonfessionellen Programmen mit Gesprächsund Arbeitskreisen, Informations- und Bildungsveranstaltungen sowie kreativen, spirituellen und freizeitorientierten Angeboten. Eine besondere Bedeutung hat - vor allem für die ESG — das ökumenische Zusammensein von Studierenden aus unterschiedlichen Kulturen. Hochschulseelsorge stellt sich somit für die Hauptamtlichen als äußerst komplexes Handlungsfeld dar. Um die Vielfalt der Aufgaben wahrnehmen zu können, sind die Studentenpfarrämter deshalb durch Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen mit pädagogischen, psychologischen oder verwaltungstechnischen Aufgaben ergänzt worden. Auch zehn Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten sind charakteristische Unterschiede zwischen den Studentengemeinden im Osten und im Westen Deutschlands festzustellen. Während im Westen die Motivation zur Teilnahme oftmals an das Profil einzelner Arbeitskreise gebunden ist, steht im Osten stärker die ganze Gemeinde im Blickfeld. Die räumliche und finanzielle Ausstattung sowie der Stellenplan bleiben in den östlichen Landeskirchen und Diözesen weit hinter dem westlichen Standard zurück. Unabhängig von den unterschiedlichen kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. Feist; Hallermann) bekräftigen die Studentengemeinden weiterhin die Mündigkeit der Studierenden, die vielerorts Leitungsaufgaben übernehmen und über Semesterprogramm, Raumvergabe und den Einsatz von Haushaltsmitteln entscheiden.

266

Studentengemeinde/Hochschulgemeinde

2.2. Die Bundesarbeit. Die ESG in der Bundesrepublik ist eine basisdemokratisch orientierte Dachorganisation, die alle Studentengemeinden zur Mitarbeit auffordert. Studentische Arbeitsgruppen und hauptamtliche Referate arbeiten in den Bereichen Theologie, Bildungs-/Hochschulpolitik, Ökumene/Entwicklungspolitik, Ost-West-/Europapolitik und feministische Bildungsarbeit. Die Programmkosten werden meist aus Bundesmitteln bestritten. Die Geschäftsstelle der ESG unterstützt die Gemeinden durch Seminare, Fortbildungen und Serviceleistungen. Sie organisiert die überregionale Arbeit und gibt die Verbandszeitschrift ansätze heraus. Bei ihr angesiedelt ist überdies ein Stipendienprogramm für Studierende aus Asien, Afrika und Lateinamerika, das vom Kirchlichen Entwicklungsdienst (KED) bezuschußt wird. Mit studentischen Strukturen und pluralistischen Inhalten arbeitete bis 2000 auch die Bundesarbeit der kath. Studentengemeinden, die sich in der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Hochschulgemeinden (AGG) und der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Hochschulgemeinden an Fachhochschulen (AKHF) organisiert hatte. Ihre Interessen sollen ab 2001 im Rahmen eines der Aufsicht der Deutschen Bischofskonferenz unterstellten Forums Hochschule und Kirche vertreten werden, in dem auch andere an der Hochschule tätige Institutionen und Verbände Sitz und Stimme haben. Die vor Ort tätigen Theologinnen und Theologen sind in der Studierendenpfarrkonferenz (SPK) bzw. in der Konferenz der Katholischen Hochschulpastoral (KHP) zusammengeschlossen. 2.3. Ökumene. Der Christliche Studentenweltbund (World Student Christian Federation [WSCF]), in dem die ESG Mitglied ist, versteht sich - analog zum Weltrat der Kirchen - als ökumenischer Zusammenschluß (-»Ökumene). Sowohl die katholischen als auch die evangelikalen Gruppen haben sich jedoch in eigenständigen internationalen Dachorganisationen zusammengeschlossen. 3. Das Gemeindekonzept

der

Studentengemeinde

3.1. Gemeinde Jesu Christi an der Hochschule. Kirche wird in den lutherischen Bekenntnisschriften verstanden als „die Versammlung aller Glaubigen (congregatio sanctorum), bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden" (CA VII: BSLK 6 1 , 4 - 7 ) . Die Studentengemeinden erfüllen dieses Kriterium insofern, als sie sich im Rahmen von Semester- oder Hochschulgottesdiensten in das gottesdienstliche Leben der Kirche einordnen. Im Begriff der congregatio wird freilich vorausgesetzt, daß Predigt und Darreichung der Sakramente allerorts und unter regelmäßiger Anteilnahme der Gemeindeglieder stattfinden. Dies ist für viele Studentengemeinden nicht zutreffend, so daß ihnen - vor allem in den 70er Jahren vorgeworfen wurde, keine -»Gemeinde im Sinne der Bekenntnisschriften zu sein. K. Ahlheim hat darauf hingewiesen, daß die Kritik am Gemeindebegriff der Studentengemeinden auf ein (theologisches) Unverständnis gegenüber der von ihnen vertretenen Theologie zurückzuführen war. Unbeschadet der Legitimität ihrer Theologie müsse aber eingeräumt werden, daß die Studentengemeinden - bedingt durch ihre Arbeitsformen — weniger als Gemeinde, sondern vielmehr als Feld kirchlicher -»Erwachsenenbildung in Erscheinung träten. Daß diese Sichtweise sich nicht durchsetzen konnte, ist den studentischen Gruppen zu verdanken, die trotz (oder besser: wegen) ihres politischen Engagements beanspruchten, Gemeinden im Sinne des Neuen Testaments zu sein, dabei Glaube und Theologie nach den ihnen zugrunde liegenden Interessen, Alltagserfahrungen und Parteilichkeiten befragten und damit auch die Zeitgebundenheit und Interpretationsbedürftigkeit kirchlicher Bekenntnisse unterstrichen. Wenn heute die Studierendengemeinden unbefangen in Anspruch nehmen können, Gemeinde zu sein, ist dies daraus abzuleiten, daß sich das volkskirchliche Selbstverständnis inzwischen entsprechend gewandelt hat: Innerhalb einer Vielzahl von kirchli-

Studentengemeinde/Hochschulgemeinde

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chen Aktivitäten hat der Gottesdienst als Indikator der Gemeindezugehörigkeit an Bedeutung verloren. Studierendengemeinden besitzen dabei einen „Erfahrungsvorlauf gegenüber parochialen Gemeinden" (Klatt 523), indem sie Menschen unterschiedlicher Nationalität und Glaubensrichtungen integrieren können, insofern sie sich christlich-emanzipatorischen Zielen zuordnen. (So heißt es in der Satzung der Bundes-ESG, sie sei „offen für alle, die mit ihr an der Verwirklichung ihrer Ziele arbeiten".) Neben beispielhaften ökumenischen Lernmöglichkeiten birgt dies indessen auch ein theologisches Dilemma. Die von Jesus Christus gestiftete Gemeinde läuft der menschlichen Entscheidung für bestimmte „ Z i e l e " schon immer voraus, Gemeindezugehörigkeit wird nicht durch einen Willensakt erworben, sondern durch die Taufe geschenkt. Die Studierendengemeinden werden deshalb sicherstellen müssen, daß ihre ökumenizität theologisch reflektiert bleibt und nicht den Übergang von der christlichen Gemeinde zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter markiert. Andererseits muß sich die Volkskirche von den Studierendengemeinden fragen lassen, ob nicht Solidarität und ökumenische Offenheit in einer zutiefst unsolidarischen Welt zur notwendigen Inkulturation des Evangeliums gehören. O b das Konzept Studierendengemeinde zukunftsfähig ist, wird sich allerdings weniger aufgrund seiner theologischen Schlüssigkeit erweisen, sondern vielmehr von dem Engagement und der Einstellung der zukünftigen Studierenden abhängen. 3.2. Einstellungswandel bei den Studierenden. Studierende sind heute keinem eigenständigen intellektuellen Milieu mehr zuzuordnen. Sie unterscheiden sich in ihrer Freizeitgestaltung und ihrem Sozial verhalten nur wenig von gleichaltrigen Nicht-Akademikern. Die Zeit in der Studierendengemeinde muß eingeordnet werden zwischen Studium, gleichzeitig beginnendem Erwerbsleben und Partnerschaft, zwischen kulturellen und sportlichen Interessen. Studierendengemeinden fällt es dementsprechend schwer, Studierende zu einer regelmäßigen Teilnahme zu motivieren. Bei vielen Studierenden entspricht dem gewandelten Teilnahmeverhalten ein gewandeltes Verhältnis zur Studierendengemeinde. Sie konstituieren sich als „Gastgruppe" in kirchlichen Räumen, lassen sich aber nicht als „ G e m e i n d e " vereinnahmen. Dort, wo diese Entwicklung fortgeschritten ist, ist das Gemeindekonzept längst in Frage gestellt. Wenn Studierende keine sichtbare Gemeinde und keine klar umrissene Zielgruppe mehr darstellen, kann sich kirchliche Präsenz im Raum der Hochschule nur noch als sozialdiakonisch ausgerichtete Beratungstätigkeit, als wissenschaftstheoretisch ausgewiesene Akademiearbeit oder als Netzwerk besonderer, auf das „Selbstverwirklichungsmilieu" zugeschnittener Projekte (Hartmann, Abschied 19) manifestieren. Literatur Klaus Ahlheim, Die Studentengemeinde als Feld ev. Erwachsenenbildung, 1976 (DaH 5). - Hermann Bergengruen, Seyt nuirg keck! Zw. Studentenrevolte u. Kirchenregiment, Stuttgart 1981. Der Dienst der Ev. Kirche an der Hochschule. Eine Stud. im Auftrag der Synode der EKD, Gütersloh 1991. - Klaus Engelhardt, „Und wo stehen die Gemeinden?": Vernünftiger Gottesdienst. FS HansGernot Jung, hg. v. Frithard Scholz/Horst Dickel, Göttingen 1990, 7 1 - 8 0 . - Michael Feist, Die rechtliche Situation der Ev. Studentengemeinden, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1982. - Martin Fischer, Entwicklungslinien der Christi. Studentenbewegung 1 9 2 0 - 1 9 5 0 : ders., Wegemarken, Berlin 1959, 1 8 1 - 2 2 9 . - Johann Michael Gleich/Willi Junkmann, Kirche u. Hochschule, München 1996. Heribert Hallermann, Präsenz der Kirche an der Hochschule, München 1996. - Richard Hartmann, Art. Hochschulgemeinde, Hochschulseelsorge: LThK 3 5 (1996) 1 8 8 - 1 9 0 . - Ders., Abschied v. der Gemeinde: Kirche an der Hochschule. FS 75 Jahre Kath. Studentengemeinde Göttingen, hg. v. Udo Schnieders/Stefan Kellner, Göttingen 1996, 1 1 - 2 3 . - Karl-Behrnd Hasselmann, Politische Gemeinde, Hamburg 1969. - Ewald Hein-Janke, „Du, laß dich nicht verbittern ...": J K 29 (1978) 1 9 0 - 1 9 9 . - Christiana Hilpert-Fröhlich, „Vorwärts geht es, aber auf den Knien". Die Gesch. der christl. Studentinnen- u. Akademikerinnenbewegung in Deutschland 1 9 0 5 - 1 9 3 8 , Pfaffenweiler 1996 (Theol. Frauenforschung 5) (Lit.). - Kath. Studentenseelsorge, hg. v. Paul Benkart/Wolfgang Ruf, Paderborn 1965. - Hans-Gerhard Klatt, Art. Studentengemeinde: EKL J 4 (1996) 5 2 2 - 524. - HeinzWerner Kubitza, Gesch. der Ev. Studentengemeinde Marburg, Marburg 1992 (Marburger Wiss.

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Stundengebet I

Beitr. 1) (Lit.). - Karl Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Die Gesch. der Dt. Christi. StudentenVereinigung (DCSV), Hamburg 1964. - Norbert Maginot/Gerhard Wendland, Art. Studentengemeinde: Ö L 1 (1987) 1 1 3 9 - 1 1 4 1 . - Hans Mayr, Art. Studentenweltbund, christl.: ebd. 1 1 4 2 - 1 1 4 6 . - Friedrich Naumann, Die kirchl. Versorgung der ev. Studenten, Heilbronn 1888 ( Z C V L H. 97). - Axel Noack, Die ev. Studentengemeinde in der D D R im Blickfeld des MfS: hochschule ost 1 (1996) 8 1 - 9 4 . - Phillip Potter/Thomas Wieser, Seeking and Serving the Truth. T h e First Hundred Years o f the World Student Christian Federation, Genf 1997. - Die Präsenz der Kirche an der Univ. u. in der universitären Kultur, 1994 (VApS 118). - Wilhelm Pressel, ESG - Gemeinde Jesu Christi an der Hochschule: J K 36 (1975) 1 8 0 - 1 8 9 . - Eberhard Roterberg, Von der Freizeitgemeinde zur Hochschulgemeinde: KiZ 21 (1966) 2 2 0 - 2 2 9 . - Gisela Sommer, Grenzüberschreitungen. Ev. Studentengemeinde in der D D R u. B R D , Stuttgart 1984. - Peter-Paul Straube, Kath. Studentengemeinde in der D D R als Ort eines außeruniversitären Studium generale, 1996 (EThSt 70). - Studenten u. die Kirche, hg. v. Hermann Ringeling/Heinrich C. Rohrbach, Wuppertal 1968. - Franco W. Volontieri, Woher kommt der Hahn? Entstehung u. Entwicklung der Ev. Studentengemeinde in Deutschland sowie eine exemplarische Beschreibung der ESG Essen, Saarbrücken 1989 (Dt. Chroniken 1) (Lit.). - Wolfgang Wiedenmann, Ev. Studentengemeinde - Kirche an der Hochschule?: Christen in der Demokratie, hg. v. Heinrich Albertz/Joachim Thomsen, Wuppertal 1978, 1 2 1 - 1 5 8 . - Helmut Zeilinger, Liquidierung der Ev. Studentengemeinde?: J K 36 (1975) 2 0 - 3 0 . 9 1 - 9 8 . 1 8 9 .

B. Desmond Bell

Studios-Kloster -»Akoimeten, -»Theodor Studites Stundenbuch -»Gebetbücher, -»Passionsfrömmigkeit Stundengebet I. Geschichte II. Praktisch-thcologisch

S. 276

I. Geschichte 1. Begriff 2. Die Ansätze 3. Die Fortentwicklung in Ost und West 4. Zur Geschichte des Stundengebets in den Kirchen des Westens bis zum Mittelalter 5. Die Entwicklung seit der Reformationszeit (Literatur S. 278)

1. Begriff Die unterschiedlichen Bezeichnungen für das Stundengebet (Stundenliturgie, Tagzeitengebet, Tagzeitenliturgie, Offizium, Breviergebet) spiegeln verschiedene Typen, Verständnisweisen und Stadien des „Vollzugs" wider. Die in der römisch-katholischen Kirche bis vor nicht langer Zeit geläufigste, das Wesen der Sache aber am wenigsten treffende Bezeichnung ist Brevier (lat. breviarium = kurzes Verzeichnis), bei der das Ereignis, der „Vollzug" (ob private Rezitation oder gemeinschaftliche Feier), mit dem Buch gleichgesetzt wurde. Offizium bezieht sich auf den besonderen Auftrag der Kirche zum Lobe Gottes, zur Fürbitte für die Welt und zur Weihe von Tag und Nacht. Stundenliturgie betont gegenüber der Bezeichnung Stundengebet stärker den ekklesialen und festiven Charakter. Der Unterschied zwischen Stunden- und Tagzeitengebet bzw. Tagzeitenliturgie beruht auf den beiden Grundtypen der täglichen Liturgie, die meist als monastischer bzw. kathedraler (oder pfarrlicher) Typ bezeichnet werden. Ersterer versucht, eine Regel des „immerwährenden Gebets" durch häufige Zusammenkünfte (die sieben „kanonischen Hören") zu etablieren, während letzterer stärker am Ablauf des natürlichen Tages (Gebetszeiten am Morgen und Abend) orientiert ist. 2. Die

Ansätze

Theologisch gesehen ist die Paschavigil (-»Ostern/Osterfest/Osterpredigt) „Ursprung und Vollgestalt des christlichen Stundengebetes". Die Entwicklungslinien reichen

Stundengebet I

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aber weit in die Zeit des frühen Judentums und des Alten Testaments zurück, und oft waren andere Motive richtungsweisend für geschichtliche Fortentwicklung als das Wissen um die Pascha-Orientierung aller liturgischer Feiern der Christen. Daß alttestamentliche Texte, vornehmlich der Psalter (-*Psalmen/Psalmenbuch), das tragende Substrat des gesamten Stundengebets bilden, ist ein hinlänglich bekanntes Faktum (Gerhards, Psalmen). Die Frage ist aber, ob die Christen über die jüdische Gewohnheit des regelmäßigen -»Gebets hinaus Strukturen und Inhalte jüdischen Betens der Zeit übernommen haben. Um Zusammenhänge und Unterschiede zwischen jüdischem und christlichem Tagzeitengebet erfassen zu können, muß man die „ O r t e " jüdischer -»Liturgie und jüdischen Gebetslebens betrachten: -»Haus, -»Tempel und -»Synagoge. Mit dem Tempelkult verbindet sich die Vorstellung des beständigen Opfers. Durch die Wiederholung desselben Vorgangs am Morgen und am Abend eines jeden Tages sollte das Gedächtnis der Gegenwart des göttlichen Heils lebendig gehalten werden (vgl. Ex 29,38-43; N u m 28,1-8). Dazu kam an bestimmten Tagen noch ein Zusatzopfer. Infolge der Verdoppelung der morgendlichen und abendlichen Kultzeiten durch das „Lippenopfer" wächst die Zahl auf fünf an, wobei die Eckzeiten am Morgen und am Abend eine Schlüsselstellung einnehmen. Die besondere Wertschätzung hängt mit einer inhaltlichen Füllung zusammen: Am Abend wurde des Auszugs aus der Knechtschaft Ägyptens und am Morgen des Bundesschlusses am Sinai gedacht. Nicht zufällig leben diese Gebetszeiten aufgrund ihres Zeitansatzes und ihrer inhaltlichen Füllung im frühen Christentum fort. Bereits im 2. Jh. v. Chr. finden in hellenistischen Kreisen Septuaginta-Psalmen liturgische Verwendung (Schaper). Der Tempelkult und die damit verbundene Vorstellung des Wohnens Gottes im Heiligtum war nie unumstritten. Der von Menschenhand erbaute steinerne Tempel konnte der Idee eines transzendenten und souveränen Gottes nicht gewachsen sein (vgl. I Reg 8,27). So verwundert es nicht, daß seit dem -»Exil der Opfergedanke spiritualisiert wird. An Stelle der Opfer im Tempel treten nun feste Gebetszeiten, die auch zu Hause absolviert werden können (vgl. Dan 6,11; Ps 55,18). Hier ist der wohl entscheidende Ort jüdischen Gebetslebens, der die Kontinuität bis heute ermöglicht hat. Doch tritt, wahrscheinlich nicht allzu lange vor der Zeitwende, die Synagoge als zusätzlicher Gebetsort außerhalb Jerusalems in Erscheinung. Im Unterschied zum Tempel, dessen Kult durch eine Priesterkaste ausgeübt wurde, besteht in der Synagoge eine „demokratische Informalität" (Petuchowski 17). Nach der Zerstörung des Tempels und dem Aufhören des Opferkults wurden allerdings einige Züge der Tempelfrömmigkeit integriert. Bezeugt sind -»Gottesdienste am Abend und am Morgen. Der Abendgottesdienst hatte den Charakter eines Gebetsgottesdienstes mit den Schwerpunkten Lobpreis und Bittgebet, während der Morgengottesdienst zusätzlich Wortverkündigung und Katechese beinhaltete. Dabei spielen die Psalmen aber nicht die tragende Rolle wie in der christlichen Tradition. Auch die für die Tempelliturgie bezeugten Psalmen kommen erst später in die Synagogenliturgie. Weitere Verbreitung scheinen sie erst über die -»Volksfrömmigkeit gefunden zu haben (Stemberger).

Beide Grundtypen des synagogalen Gottesdienstes leben in der Alten Kirche weiter: Aus der synagogalen Übung der Tora-Lesung am Morgen entwickelt sich nach herkömmlicher, neuerdings jedoch auch angefochtener Auffassung (—»Schriftlesung) der christliche Lesegottesdienst, der im Laufe des 2. Jh. am -»Sonntag mit der Eucharistiefeier verbunden und mit der Zeit durch ein Perikopensystem inhaltlich geordnet wird. Also übernimmt die Eucharistiefeier die Stelle des Morgenopfers, unabhängig von der täglichen Gebetszeit am Morgen, die stärker den Charakter des Morgen-Lobes (laudes matutinae) trägt, der in erster Linie durch die regelmäßige Rezitation der Psalmen des sog. Kleinen Hallel (Ps 148-150) zustande kommt. Die abendliche Gebetszeit enthält demgegenüber offenbar schon früh einen Opferbezug. Dieser kommt in Ps 141 (140), einem individuellen Klagelied, zum Ausdruck, wobei V. 2 später Anlaß zu ritueller Entfaltung bot: „Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte vor dir, wenn ich meine Hände erhebe." Die Kirchenväter (-»Augustin) haben diesen Psalm als Vorankündigung des Opfers Christi gedeutet, wobei mit der Zeit der Bußgedanke in den Vordergrund tritt. Ein weiteres mit der Opferkategorie (nun aber im Sinne von „Lobopfer") verbundenes Ritual ist der Lichtritus (Lucernarium), über dessen Herkunft die Meinungen auseinandergehen. Das häusliche Sabbat-Ritual kennt einen

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Stundengebet I

solchen Ritus. Das dort übliche, wie alle Gebete aber nicht wörtlich festgelegte Segensgebet (berakha) übt einen großen Einfluß auf die christlichen Lichthymnen und -gebete aus (Plank). Neben dieser Einrichtung von Gebetsversammlungen an den Eckpunkten des Tages ist auch die Praxis dreimaligen Betens am Tag vom Judentum auf das Christentum übergegangen. So schreibt die -»Didache nach der Mitteilung des Vaterunsers vor: „Dreimal am Tag betet so!" (Did 8,3). Das Herrengebet tritt hier an die Stelle des jüdischen Achtzehnbittengebets. Bei aller formalen Kontinuität darf man den inhaltlichen Bruch des christlichen Tagzeitengebets gegenüber den jüdischen Vorbildern und Parallelbildungen nicht verkennen. Zwar nimmt Jesus und nehmen seine Jünger an Gebetsversammlungen in Tempel und Synagoge teil (vgl. z. B. Lk 4,15ff.; Act 2,46; 13,14ff.; 16,13ff.). Aber die Versammlungen werden genutzt zur Ankündigung der Königsherrschaft Gottes, die in Jesus angebrochen ist (Lk 4,21). O f f e n b a r spielen schon auf der E b e n e des N e u e n T e s t a m e n t s zwei verschiedene Ansätze eine Rolle, die in späterer Z e i t - w e n n a u c h selten u n v e r m i s c h t - koexistieren. Z u m einen g a b es die regelmäßigen V e r s a m m l u n g e n a m M o r g e n u n d a m A b e n d , in deren M i t t e d a s L o b G o t t e s u m Jesu willen, des gekreuzigten u n d a u f e r s t a n d e n e n H e r r n , stand. D e r natürliche Ansatz a m M o r g e n u n d a m A b e n d eines jeden Tages begünstigte die Ü b e r t r a g u n g der Lichtsymbolik auf C h r i s t u s , d a s „ a b e n d l o s e L i c h t " u n d die „ S o n n e der G e r e c h t i g k e i t " . Die G e b e t s o r i e n t i e r u n g (Ostung) g a b den V e r s a m m l u n g e n eine eschatologische K o m p o n e n t e (vgl. M t 24,27; Apk 7,2). Die G e b e t s v e r s a m m lungen der apostolischen Zeit h a t t e n ein c h a r i s m a t i s c h e s G e p r ä g e , wie a u s einzelnen Stellen des N e u e n T e s t a m e n t s (Eph 5,19 f.; Kol 3,16) h e r v o r g e h t . Sie w a r e n a b e r w o h l k a u m o h n e jede O r d n u n g . Fester Bestandteil w a r z. B. die E r f ü l l u n g des A u f t r a g s , in b e s t i m m t e n Anliegen zu beten (vgl. 1 T i m 2,1 f.). N e b e n diese bei aller S p o n t a n e i t ä t d o c h irgendwie geregelte G e b e t s p r a x i s t r a t z u m a n d e r e n der Ruf nach beständiger W a c h s a m k e i t (vgl. M k 14,38; I Petr 5 , 8 - 9 ) . Die d a h i n t e r s t e h e n d e H a l t u n g ist getragen von der E r w a r t u n g der u n m i t t e l b a r b e v o r s t e h e n d e n Parusie des H e r r n (I Petr 4,7). Die A u f f o r d e r u n g des Apostels - » P a u l u s „Betet o h n e U n t e r l a ß ! " (I T h e s s 5,17) versuchten viele Christen - auch nach der E r f a h r u n g der P a r u s i e v e r z ö g e r u n g - , m e h r oder weniger wörtlich zu befolgen. Aus dieser G r u n d h a l t u n g h e r a u s e n t s t e h e n mit der Zeit F o r m e n wie die stündlichen (d.h. den üblichen Tageseinteilungen entsprechenden) Gebetszeiten s o w i e die Vigil. (Das „ H e r z e n s g e b e t " der späteren östlichen T r a d i t i o n entspricht ebenfalls diesem Ansinnen.)

Die Angaben der erhaltenen Quellen der ersten beiden Jahrhunderte über das Tagzeitengebet sind sehr spärlich (Didache, Erster Clemensbrief). Erst seit dem 3. Jh. ist der Informationsfluß ergiebiger (—•Clemens von Alexandrien, -•Origenes, -»Tertullian, -•Cyprian). Die bedeutendste Quelle ist die sog. Traditio Apostolica (Anfang 3. Jh.; -•Kirchenordnungen 1.5.). Die verschiedenen Textzeugen der nicht im Original erhaltenen Kirchenordnung erwähnen eine Reihe von Gebetszeiten, die mit den späteren sieben „kanonischen H ö r e n " nur teilweise übereinstimmen. Wenn man hinter den verschiedenen Angaben ein einheitliches System vermuten darf, liegt folgender Brauch zugrunde: privates Gebet beim Aufstehen, zur dritten, sechsten und neunten Stunde, beim Schlafengehen, um Mitternacht, beim Hahnenschrei. Allgemeine Versammlungen finden morgens zur Unterweisung und abends zur —• Agape statt. Die Gebetszeiten zur dritten, sechsten und neunten Stunde orientieren sich an der Passionschronologie des Markusevangeliums (-•Leidensgeschichte Jesu) und stellen damit möglicherweise ein Zeugnis eines sehr frühen römischen Gebetszyklus dar. Die privaten Gebetszeiten sind für die -•Spiritualität des Gläubigen von großer Bedeutung. Dies gilt auch für die nächtlichen Gebetszeiten, von denen die um Mitternacht anhand des Gleichnisses von den „klugen und törichten Jungfrauen" (Mt 25) gedeutet wird. Die Gebetszeit beim Hahnenschrei wird als Stunde der Erkenntnis Jesu ebenfalls österlich-eschatologisch interpretiert, in Absetzung von den Kindern Israels, die Jesus verkannt hätten. Die eschatologische (Erwartung des kommenden Herrn [—•Eschatologie]) wie die asketische Motivation des Tag- und Nachtzeitengebets (Bewahrung vor Versuchung) kommen gleichermaßen zum

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Z u g e . Von besonderer Bedeutung f ü r den Gemeinschaftscharakter des Tagzeitengebets sind die beiden Versammlungen a m Morgen und a m Abend. Die Versammlung am M o r gen diente demnach in erster Linie der Verkündigung und Katechese (-»Predigt, -»Katechetik). Der Ablauf w a r offenkundig noch nicht bis ins einzelne festgelegt. Aus der abendlichen Versammlung, einer Agape, ist jedoch eine Lichtdanksagung überliefert, die der Bischof (möglicherweise aber auch der Diakon) beim Hereintragen der Lampe in die Gemeindeversammlung spricht ( K O H i p p 25). 3. Die Fortentwicklung

in Ost und

West

Die beiden Ansätze christlichen Tagzeitengebets werden meist beschrieben als der „ k a t h e d r a l e " Typ mit regelmäßigen Versammlungen a m M o r g e n und am Abend sowie gelegentlichen Vigilien und der „ m o n a s t i s c h e " Typ mit mehreren, über den ganzen Tag und die ganze N a c h t verteilten H ö r e n ( - » M ö n c h t u m ) . Dabei handelt es sich aber eher u m ein Konstrukt (Bradshaw, Cathedral 133 f.). Die Polarität der beiden G r u n d m u s t e r christlicher Zeitgestaltung liegt in der Spannung christlicher Daseinserfahrung als „begonnener Eschatologie" begründet: zwischen „ s c h o n " und „ n o c h nicht". Das „ S c h o n " des ein f ü r allemal erfolgten Ostersieges Christi wird vor allem an den Eckpunkten des Tages, am Morgen und am Abend, gefeiert. Im wachsenden und (kontrastierend) im schwindenden Licht wird der Auferstandene, das „abendlose Licht", symbolisiert gesehen. In der Vigil (vor allem der Paschavigil) tritt der G e d a n k e der eschatologischen Vollendung stärker in den Vordergrund. Die G r u n d h a l t u n g eschatologischer E r w a r t u n g k o m m t im zweiten Typ, dem „ m o n a s t i s c h e n " , freilich ungleich stärker zum Ausdruck. G e m ä ß dem Auftrag des H e r r n , allzeit wachsam zu sein, werden Systeme entwickelt, die durch ein gewisses M a ß an äußerer Organisation d a s i m m e r w ä h r e n d e Gebet (I Thess 5,17) stabilisieren sollten. Eine solche Lebensform w a r nur in monastischen Kreisen konsequent vollziehbar. Der kathedrale Ansatz der Tagzeitenliturgie ist vor allem im Orient im Laufe des 4. J h . bestimmend. Die G r ü n d e d a f ü r liegen in der größeren Urbanität des Ostens, die die Ausbildung liturgischer Traditionen begünstigte. Erste Auskünfte über das kathedrale Stundengebet erhalten wir von den Kirchengeschichtsschreibern Sokrates Scholasticus (ca. 3 8 0 - c a . 450) und -»Eusebius von Caesarea. Berichtet wird von Psalmen, H y m n e n und rituellen Vollzügen, wobei Lesungen nur vereinzelt bezeugt sind (Ägypten und Kappadokien). Am Abend spielt die Lichtdanksagung überall eine Rolle, deren Bestandteil im Osten bis heute der bereits bei -»Basilius von Cäsarea bezeugte H y m n u s Phos hilaron bildet. Gut informiert sind wir über die Tagzeitenliturgie gegen Ende des 4. Jh. in -»Antiochien durch die sog. Apostolischen -»Konstitutionen (um 380) und -»Johannes Chrysostomus. Dieser bezeugt aus der Zeit um 390 die beiden schon bei Tertullian orationes legitimae genannten Gebetszeiten am Morgen und am Abend, deren Verpflichtungscharakter aus den täglichen Opfern im Tempel abgeleitet wird. Er sagt dies in seinem Kommentar zu Ps 141 (140), der zu der Zeit bereits fester Bestandteil der Abendhore in Antiochien ist, ohne aber (wie auch die Lichtdanksagung) bereits zu einem Ritus entfaltet zu sein. Die an V. 2 anknüpfende rituelle Entfaltung - das Weihrauchopfer - ist zuerst bei -»Theodoret von Kyrrhos bezeugt. Chrysostomus bezieht sich auch auf den Morgenpsalm 63 (62). Dieser steht wie Ps 141 (140) anstelle des Tempelopfers. Während in der Deutung des Chrysostomus am Abend der Bußgedanke vorherrscht, schiebt sich am Morgen das brennende Verlangen nach Gott in den Vordergrund (Ps 62,1 LXX). Die nächtliche Vigil ist in den Apostolischen Konstitutionen bezeugt, wenig später auch für -»Jerusalem im Pilgerbericht der Egeria. Darin wird eine rituell reich entfaltete Abendliturgie beschrieben, während der Morgengottesdienst anscheinend nur aus worthaften Elementen besteht. Diese sind jedoch thematisch ausgewählt. Den Vollzug der Psalmen hat man sich im kathedralen Typ meist als Chorgesang vorzustellen, der durch Gemeindeantiphonen unterbrochen wurde. Schon früh gehören auch die klassischen Laudespsalmen 148-150 zum festen Bestand der Morgenhore in Ost und West. Die Vigilien lassen sich dagegen nicht auf einen einzigen Grundtypus reduzieren, da sie in unterschiedlichen Zusammenhängen im Verlauf des Kirchenjahres unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Drei kathedrale Grundtypen sind zu unterscheiden (Taft, Liturgy 190): 1. die wöchentliche Auferstehungsvigil;

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2. gelegentliche Vigilien, die aus der Wiederholung eines liturgischen Schemas bestehen; 3. Lesevigilien (Taufvigilien) zu Ostern und an einigen anderen Festen. Die Hinweise auf die Anfänge des monastischen Stundengebets in Ägypten sind spärlich. Genaueres erfahren wir erst bei - » J o h a n n e s Cassianus, der sich ca. 3 8 0 - 3 9 9 bei den Mönchen in der Sketischen Wüste aufgehalten, seine dortigen Erfahrungen aber erst viel später, nämlich zwischen 417 und 425 in den Institutiones, niedergeschrieben hat, als er das gallische Mönchtum reformieren wollte. Auch hier gibt es zunächst nur zwei geprägte Gebetszeiten: eine in der Nacht (zum Hahnenschrei bis morgens) und eine am Abend. Die Eigenart dieses Offiziums der ägyptischen Wüste besteht darin, daß es anachoretisch ist: Die Mönche vollziehen es privat in der Zelle. Nur samstags und sonntags versammeln sie sich zum Chorgebet, zur Eucharistie und zum gemeinsamen Mahl. Das Herzstück der Gebetszeiten sind zwölf Psalmen, die currente psalterio, d.h. fortlaufend, von einem einzelnen vorgetragen werden. Zwischen den Psalmen sind Phasen stillen Gebets, das stehend mit erhobenen Armen vollzogen, von einer Prostration unterbrochen und mit einer Collecta des Vorstehers abgeschlossen wird. Der zwölfte Psalm, ein Hallelpsalm, schließt mit dem Gloria patri. Auf die Psalmodie folgt ein Lesegottesdienst mit zwei Lesungen, werktags aus dem Alten und Neuen Testament, samstags und sonntags sowie in der Osterzeit aus den Briefen bzw. der Apostelgeschichte und aus den Evangelien. In dieser Schilderung sind bereits wichtige Grundzüge des monastischen Offiziums ausgeprägt: Die Psalmen werden nicht thematisch ausgewählt, sondern fortlaufend und ohne Unterbrechung durch Antiphonen rezitiert. Feste Gebetsformen sind weniger Selbstzweck als „Rahmen" des persönlichen Gebets, ein Grundzug, der sich selbst noch in der -»Benediktusregel auswirkt. Der Mönch betet ständig, auch bei der Arbeit. Trotzdem läßt sich bald die Tendenz feststellen, die Gebetszeiten zu vermehren. Dies hängt zum einen mit dem Ubergang zur koinobitischen, gemeinschaftlichen Lebensform zusammen. M a n gestaltet die dazwischenliegende Zeit, ohne den Anspruch des immerwährenden Gebets aufzugeben. Zum andern entstehen mit dem Aufkommen des städtischen Mönchtums im Osten, vor allem in Jerusalem, bald Mischformen von monastischen und kathedralen Gewohnheiten. Die M ö n c h e nahmen am Kathedraloffizium teil, behielten aber ihre nächtliche Morgenhore bei, was zur Verdoppelung der M o r genhore führt, füllten die Zeit am Tage mit Terz, Sext und Non auf und beschlossen den Tag mit einem Nachtgebet. Dieses erhält in den westlichen Ordnungen des 6. J h . (Regula Magistri; Aurelian; Regula Benedicti [s.u.]) den Namen „ K o m p l e t " ( p s a l m i completorii). Auch hier ist Cassian, der vor seinem Aufenthalt in der Sketis um 3 8 2 / 8 3 eine Zeitlang in Bethlehem gelebt hat, ein wichtiger Zeuge, außerdem Basilius für Kappadokien und Johannes Chrysostomus für Antiochien. Der Westen ist in der Spätantike durch große ethnische Umwälzungen geprägt. M i t dem Goteneinfall in Westeuropa ist das Ende des römischen Imperiums besiegelt. Städtische Gesellschaften existieren praktisch nicht mehr. Dies erklärt das fast völlige Fehlen von kathedralen Offizien im Westen. Kathedrale Elemente prägen vor allem die nichtrömischen Riten: die mailändische, gallikanische und mozarabische Liturgie. Hier herrscht eine größere Vielfalt in der Auswahl der Psalmen als im Osten. So sind am Abend neben Ps 140 (141) weitere Psalmen bezeugt, die die Lichtthematik entfalten. Die wichtigste Quelle des südgallischen Offiziums ist -»Caesarius von Arles. Bei ihm wird der klassische Luzemarpsalm nicht erwähnt, dafür aber - für die westliche Tradition bemerkenswert - der Schöpfungspsalm 103 (104). Am Morgen tritt im Westen der Bußpsalm 5 0 (51) zu Ps 62 (63) hinzu oder ersetzt diesen. Über die Anfänge des Offiziums in Gallien gibt Johannes Cassianus, der den südgallischen Klöstern eine Ordnung gab, Aufschluß. Aus seinen Klöstern gingen die Bischöfe hervor, die diese Ordnung im ganzen Frankenreich verbreiteten. Cassian führt die (idealisierte) Ordnung, die er in Bethlehem kennengelernt hat, in Gallien ein. Doch sind einige Unterschiede festzustellen wie der Abschluß eines jeden Psalms durch das Gloria patri, die „Kleine D o x o logie". Dieser Unterschied zwischen Ost und West besteht bis heute. Detaillierteres ist

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uns über das bedeutende Kloster -»Lerins-Arles (Caesarius und Aurelian [ca. 5 4 6 — 5 5 1 M e t r o p o l i t von Arles]) überliefert. Gegenüber Cassian k o m m e n hier H y m n e n und Schriftlesungen hinzu. D a s tägliche Stundengebet ist reich entfaltet: N o k t u r n e n (Vigilien), M a t u t i n , Prim (erstmals e r w ä h n t , freilich nur für samstags, sonntags und feiertags), Terz, Sext, N o n , L u c e r n a r i u m , D u o d e c i m a (Komplet). M a t u t i n und Lucernarium sind aus der kathedralen O r d n u n g ü b e r n o m m e n und führen zu ähnlichen Verdoppelungen der M o r g e n - und A b e n d h o r e wie im O s t e n . A u c h die nichtrömischen westlichen M ö n c h s offizien in N o r d a f r i k a , Irland und a u f der Iberischen Halbinsel enthalten viele eigenständige Aspekte. Bedeutender für die spätere Entwicklung des römischen Stundengebets sind die monastischen Ordnungen in Italien. An erster Stelle ist hier die Benediktusregel (ca. 5 3 0 - 5 6 0 ) zu nennen, die ihrerseits auf der Magisterregel (ca. 5 0 0 - 5 2 5 ) und a u f dem altrömischen Offizium fußt. Die Magisterregel enthält ein sehr durchdachtes System der Psalmodie als der tragenden Grundstruktur des Offiziums: J e 24 Psalmen sind auf die Tageshoren Prim, Terz, Sext, Non und Vesper sowie auf die Nachthoren Nokturnen und Matutin {Laudes) verteilt. Die Psalmen werden antiphonal oder responsorial vollzogen, es fehlt die Psalmodie in directum. Jede Einheit (inpositio) setzt sich folgendermaßen zusammen: Psalm, Gloria Patri, Prostration, Gebet. Zur Zeit -»Benedikts von Nursia gab es in Rom eine große Zahl von Mönchsgemeinschaften, auf deren Offizium sich Benedikt bezieht. Dieses ist freilich schwer rekonstruierbar, da direkte Quellen fehlen. Ein Vergleich der Psalmverteilung zeigt die Vorteile der benediktinischen Ordnung gegenüber der römischen: Hier wie dort ist die Aufteilung der Psalmen (mit Ausnahme der Laudes und der Komplet) currente psalterio. Die Aufteilung bei Benedikt ist aber mehr durchdacht und abwechslungsreicher. Von besonderer Bedeutung war die Einfügung von Hymnen in das Stundengebet durch Benedikt sowie die Unterbrechung der nächtlichen Psalmodie mit Lesungen. Wie alle Reformer hat Benedikt die Vorlagen eher gestrafft als erweitert, was vor allem gegenüber der Magisterregel gilt. Auch die Vesper in der Benediktusregel stellt eine Verbindung currenter und tagzeitenorientierter Elemente dar (Becker, Struktur). Das im Osten entwickelte Grundschema (Winkler) ist auch hier noch gewahrt. Doch haben die „kathedralen" Elemente keinen eigentlichen Sitz im Leben mehr. Der Tagzeitencharakter wird zurückgedrängt und durch festspezifische Elemente ersetzt. Somit wird die Vesper zwar am Abend gefeiert, ist aber (mit geringen Ausnahmen) kein eigentlicher Abendgottesdienst mehr. Der Osten zeichnet sich in der Fortentwicklung durch die weitgehende Erhaltung der kathedralen Elemente aus. Eine der bedeutendsten Traditionen kathedralen Stundengebets, die der H a g i a Sophia in Konstantinopel, ging freilich mit dem Fall der Stadt im Laufe des vierten Kreuzzugs unter und w u r d e schrittweise durch ein m o n a stisches Offizium ersetzt. Dieses fußt auf d e m sabaitischen Offizium, dem Stundengebet des Sabasklosters bei Jerusalem. D a v o n ist eine Beschreibung aus der Zeit u m 6 0 0 erhalten. Z u m ursprünglichen Bestand aus rein biblischen Elementen treten hier mit der Zeit zahlreiche poetische T e x t e hinzu (vgl. - » R o m a n u s der M e l o d e ) . Im 8. J h . w u r d e das Offizium in - » B y z a n z eingeführt und zu einem M i s c h t y p entwickelt, wobei die Tradition der poetischen Gesänge weitergeführt wurde. Dieses Offizium ist das bis heute in den Kirchen der byzantinisch-orthodoxen Tradition gebräuchliche. Die anderen ostkirchlichen Offizien bieten eine reiche Vielfalt, die nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Während das koptische Offizium infolge der Bedeutung der Klöster für die koptische Kultur in Ägypten durchweg monastischen Charakter trägt, also einen eher stereotypen Aufbau hat, zeichnen sich die anderen ostkirchlichen Traditionen teilweise durch starke „kathedrale" Orientierung aus, so z. B. das armenische und das assyro-chaldäische (ostsyrische) Offizium. Allgemein gilt, daß das Offizium im Osten in der Gemeindeliturgie verankert geblieben ist. Das Stundengebet ist wichtiger Bestandteil der allgemeinen liturgischen Spiritualität und nicht exklusiv dem Klerus und den Mönchen vorbehalten.

4. Zur Geschichte des Stundengebets in den Kirchen des Westens bis zum Mittelalter D a s R ö m i s c h e Stundengebet hat sich seit der Zeit Benedikts bis in die G e g e n w a r t hinein in seinen Grundstrukturen k a u m verändert. D e n n o c h existierte es in vielen lokalen Ausprägungen und w a r einer wechselvollen Geschichte unterworfen, die eng mit der

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Geschichte des lateinischen Christentums zwischen Spätantike und Hochmittelalter verknüpft ist. Traditionell wird Papst -»Gregor I. mit der Reform des Offiziums in Verbindung gebracht, doch ist nicht bekannt, worin seine Leistung im einzelnen bestand. Sicher ist, daß er durch das benediktinische Mönchtum die Mission der Kirche nach Norden vorantrieb, und mit den Mönchen kam auch die römische Stundenliturgie nach Nordeuropa und Britannien. -»Bonifatius (Wynfrith) und seine Gefährten brachten diese von hier aus nach Germanien mit, und -»Pippin schrieb sie etwa zur gleichen Zeit für das Frankenreich vor. -»Gregor VII. hat sie möglicherweise auf der Iberischen Halbinsel eingeführt, so daß im Mittelalter praktisch überall das römische Offizium in Geltung war, nachdem es die meisten lokalen Traditionen verdrängt hatte. Dennoch war der Zustand des Stundengebets desolat. Jede Mönchsgemeinschaft adaptierte das römische Offizium für ihre Zwecke ohne große Kenntnis der Zusammenhänge, was zu einer spirituellen Entleerung führte. Suchten die cluniazensische Reform (-»Cluny) und - mit einigem Erfolg - die Bewegung der -»Zisterzienser hier Abhilfe zu schaffen, so konnte eine grundlegende Reform erst durch Papst -»Innocenz III. mittels des Franziskanerordens vollzogen werden. Dieser verbreitete das Offizium der römischen Kurie in einer neuen komprimierten Form, dem Brevier, über das ganze Einzugsgebiet des römischen Ritus und zementierte damit die schon lange vorher begonnene Entwicklung zur Privatisierung des Stundengebets. Der Beginn der „Brevierpflicht" wird mit der Regel des Bischofs —»Chrodegang von Metz in Verbindung gebracht. Dieser schrieb für die Regularkanoniker vor, daß sie das Offizium bei Abwesenheit vom Chorgebet privat zu vollziehen hätten. Bis zur jüngsten Liturgiereform blieb der katholische Priester, was das Breviergebet anbetraf, eine Art „Mönch auf Reisen" mit der Verpflichtung zur privaten Persolvierung des Chorgebets, das als solches längst nicht mehr existierte. Weitere Entwicklungslinien verlaufen, wie bereits erwähnt, über die Bettelorden (-»Franziskaner und -»Dominikaner) und über die Universitäten des Hochmittelaltcrs. Neue Lebensumstände führten zur immer stärkeren Privatisierung des Stundengebets. Frömmigkeitsgeschichtlich trug die -»Devotio moderna das Ihre dazu bei. Infolge der monastischen Überformung des kirchlichen Stundengebets blieb die Gemeinde vom Stundengebet weitgehend ausgeschlossen. Dies hat sie freilich nicht daran gehindert, auf ihre Art Abhilfe zu schaffen. Zum einen bildeten eigene Stundenbücher für die Oberschicht ein Äquivalent zum Brevier. Aber es gab auch weiterhin tägliche Gottesdienste der Gemeinden. Abgesehen vom Weiterbestehen der lateinischen Sonntagsvesper übernahmen die nun täglich gefeierte Messe und die verschiedenen Andachten in den Pfarreien die Rolle des alten Kathedraloffiziums. Letzteren wurde der liturgische Rang freilich abgesprochen (Paraliturgie). 5. Die Entwicklung

seit der

Reformationszeit

Merkwürdigerweise haben die Reformversuche in der Zeit der Reformation keinen Durchbruch in Richtung eines vollziehbaren gemeindlichen Stundengebets erzielt. -»Luther hat wohl selbst als Kleriker unter der Pensumrezitation zu sehr gelitten. Seine Kritik richtet sich nicht von ungefähr gegen das Fabulöse und den Werkcharakter des Breviers. Dennoch behält er - bei stärkerer Betonung von Verkündigung und Predigt unter Berufung auf I Kor 14 - das Stundengebet bei. Doch sieht er den regelmäßigen Vollzug mehr für einen „kleynern hauffen" gedacht. Luthers Vorschläge werden vor allem von J . -»Bugenhagen aufgegriffen: Mette und Vesper bürgerten sich in den Städten als Morgen- und Abendgottesdienste ein. Eine Zeitlang hält sich das Stundengebet auch in den ländlichen Gebieten, reduziert sich jedoch meist auf die „Beichtvesper" am Samstag vor der Sonntagsmesse (Schulz). Th. -»Müntzer legte in seinem Deutsch kirchen ampt (Alstedt 1524) Übersetzungen von Metten und Vespern vor, von denen wohl nur die Hymnenübertragungen nachhaltige Wirkung erzielten. Das katechetisch-pädagogische Moment (Latein- und Bibelkenntnisse) tritt mehr und mehr in den Vordergrund, so daß

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das Stundengebet mit Ausnahme der klösterlichen Gemeinschaften nur mehr im Bereich von schulischen Zentren weitergeführt wird. Solche Formen des kirchlichen Stundengebets haben sich noch bis in die Zeit J.S. -»Bachs hinein erhalten, doch werden diese im späteren Verlauf des 18. J h . aufgegeben. Neben dem Privatgebet blieb lediglich das Glockengeläut als Surrogat. Auch in der katholischen Kirche hat man sich Gedanken gemacht über die unerträgliche Situation der Kleriker. Freilich gingen die Lösungsversuche keineswegs in Richtung der Wiederherstellung des kathedralen Tagzeitengebets. Vielmehr wurden Konsequenzen in Richtung eines rein privaten Stundengebets vollzogen. Am weitesten ging dabei der spanische Franziskanerkardinal Francisco de Quinones ( 1 4 7 5 - 1 5 4 0 ) , der 1535 ein Brevier für rein privaten Gebrauch veröffentlichte. Diese Konsequenz wurde von höchster Stelle nun doch nicht mitvollzogen; den theoretischen Anspruch, daß das Stundengebet Gebet der ganzen Kirche ist, wollte man nicht aufgeben. So war das Brevier, das -»Pius V. 1568 im Auftrag des -»Tridentinums herausgab und das 400 Jahre lang in Geltung blieb, in bezug auf den Gemeinschaftscharakter nichts anderes als eine Fortschreibung des alten Zustands: Privatrezitation einer für den Gemeinschaftsvollzug geschaffenen Liturgie. Allein die anglikanische Kirche kann - als rühmliche Ausnahme im Westen - auf eine lückenlose Tradition gemeindlichen Stundengebets zurückschauen. In England erschien 1549 zum ersten Mal das heute in der Fassung von 1662 verwendete -*Book of Common Prayer von T h . —»Cranmer, Erzbischof von Canterbury. Es war von den Reformansätzen der deutschen Reformatoren sowie des spanischen Reformbreviers beeinflußt, fußte aber hauptsächlich auf dem mittelalterlichen Brauch von Sarum (Salisbury), dem seit dem Spätmittelalter in Britannien meist verbreiteten „Dialekt" der römischen Liturgie. Cranmer setzte mit „Mattins" (Laudes) und „Evensong" (Vesper) die „kathedrale" Ordnung wieder in Kraft. Auf dem Kontinent gab es ernstzunehmende Reformansätze erst in der Zeit der Aufklärung. Wesentlich für die liturgische Erneuerung zur Zeit der katholischen Aufklärung in der ersten Hälfte des 19. Jh. war die Wiederentdeckung der liturgischen Versammlung als Konstitutivum der Gemeinde. Freilich blieben die Pfarrer, die ihr Tagzeitengebet teilweise als Gemeindegottesdienst gestalteten, zur doppelgleisigen Brevierrezitation verpflichtet. Die -»Liturgischen Bewegungen in der evangelischen wie in der katholischen Kirche griffen das Anliegen des gemeindlichen Charakters des kirchlichen Stundengebets auf und forderten seit ihren Anfängen die Einführung einzelner Gebetszeiten, vor allem Vesper und Komplet. Dabei spielten die klösterlichen Zentren als Impulsgeber eine wichtige Rolle. Diese pflegten ja seit jeher das gemeinschaftliche Stundengebet, obgleich sie darin (teilweise bis heute) oft keinen Raum für die „tätige Teilnahme" der Gläubigen gaben. Man suchte aber auf der Basis des klassischen Offiziums nach geeigneten Formen für ein „Laien"-Stundengebet. Eigenartigerweise erfreuten sich die monastischen Hören Prim und Komplet größerer Beliebtheit bei den Gläubigen als die ursprünglichen kathedralen Eckhoren Laudes und Vesper. Mit dem Beginn der modernen Liturgischen Bewegung sind auch erste Reformen in der katholischen Kirche verbunden. Nicht geringen Einfluß darauf dürfte die 1895 postum von dem Beuroner Benediktiner Suitbert Bäumer ( 1 8 4 5 - 1 8 9 4 ) veröffentlichte Geschichte des Breviers gehabt haben. 1911 setzt -»Pius X . u.a. eine neue Psalmenverteilung in Kraft, nach der erstmals in der Geschichte die klassischen Laudespsalmen 1 4 8 - 1 5 0 nicht mehr täglich gesprochen und auch die Morgenpsalmen 50 (51) und 62 (63) sowie das „Erntedanklied" Ps 66 (67) als feste Bestandteile aufgegeben werden. Damit verliert die Morgenhore weitgehend ihren Tagzeitencharakter. Noch einen Schritt weiter ging die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (—• Vatikanum II), die der Vesper mit der Abschaffung des Versikels Ps 140 (141),2 eines der wenigen verbliebenen Elemente kathedralen Stundengebets nahm. Dennoch sind die Prinzipien der jüngsten katholischen

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Reform des Stundengebets von hohem Wert. Dazu zählen die Berücksichtigung der Lebensverhältnisse, die veritas horarum (Einklang der kanonischen Hören mit den Tageszeiten) und die Beachtung der historischen Wahrheit (beim Heiligengedenken). Neben der Verringerung der Zahl der Hören (Abschaffung der Prim, Reduzierung der Tageshoren auf eine) ist vor allem die Psalmenverteilung im jetzigen Stundengebet hervorzuheben. Die Psalmen, deren Anzahl pro Höre verringert wurde, sind nun auf vier Wochen aufgeteilt, wobei einige ausgelassen sind, während andere, die in der Tradition einen besonderen Rang haben, öfter wiederkehren. Dies gilt insbesondere für den Sonntag, an dem für alle Hören solche Psalmen ausgewählt wurden, die nach der Überlieferung das Pascha-Mysterium besonders deutlich ausdrücken. Dem entspricht die Zuweisung von Büß- und Leidenspsalmen an den Freitag. Die drei Psalmen 78 (77), 105 (104) und 106 (105) wurden wegen ihrer christologischen Auslegung für die herausgehobenen Zeiten im Kirchenjahr reserviert. Drei Psalmen, „in denen der Fluchcharakter überwiegt", wurden nicht aufgenommen: Ps 58 (57), 83 (82) und 109 (108). Von anderen Psalmen (insgesamt 19) wurden einzelne Verse ausgelassen. Zusätzlich zu den Psalmen wurden alttestamentliche und neutestamentliche -»Cantica aufgenommen.

Vor dem Hintergrund der vergleichenden Liturgiegeschichte erscheint vieles am heutigen römisch-katholischen Stundengebet fragwürdig, jedenfalls nicht „endgültig". Die Basis für eine wirklich diesen Namen verdienende Reform der Liturgia Horarum war wohl noch zu schmal. Nach wie vor verstand man unter Offizium in erster Linie das Brevier für Priester und Ordensleute zur privaten Rezitation. Stundengebet mit der Gemeinde galt als Ausnahme. Auch war die historische Basis für das Reformwerk weitgehend unvollkommen: M a n hatte fast ausschließlich die nachmittelalterliche lateinische Tradition im Blick. Alte Kirche und Ostkirchen, aber auch die späteren abendländischen Entwicklungen in den anderen Konfessionen, wurden mehr oder weniger ignoriert. Die Fortschreibung der Reform, nun aber unter dezidiert ökumenischem Vorzeichen, steht an. (Literatur s.u. S. 278)

Albert Gerhards

II. Praktisch-theologisch 1. Heutige Praxis

2. Kriterien

3. Theologie

4. Perspektiven

(Literatur S. 278)

Sinn und Bedeutung des Stundengebets heute werden sehr unterschiedlich eingeschätzt. Einerseits wird ihm ein „eher elitäre[r] Charakter" (Grethlein 203) bescheinigt, dessentwegen es in den Gemeinden ohne größere Wirkung geblieben sei. Andererseits gibt es eine große Zahl neuer Veröffentlichungen zu Stundengebeten und in kirchlicher Praxis zahlreiche Bemühungen um Erhalt oder Wiederbelebung. Auch ist in der jüngsten Vergangenheit erneut eine lebhafte Diskussion um die gesamte Form wie um einzelne Elemente zu konstatieren, so z. B. um die gemäß neuester semiologischer Forschung angemessene Wiedergabe nach den Prinzipien der -»Gregorianik in den Landessprachen und um den Stellenwert des Psalters. 1. Heutige

Praxis

In den -»Orthodoxen Kirchen gehören Morgengottesdienst (Orthros) und Abendgottesdienst (Hesperinos) in stark tages- und kirchenjahreszeitlicher Prägung zur Ordnung der Pfarrgottesdienste und werden von allen Gläubigen in reicher musikalischer Ausgestaltung gefeiert. Charakteristisch sind die Beschränkung auf den Gesang der menschlichen Stimme und die Einbeziehung der Volksgesänge. Auch die -»Anglikanische (Kirchen-)Gemeinschaft feiert die gemeindliche Stundenliturgie ohne Abbruch der Tradition öffentlich in Kirchen und zivilen Organisationen wie Universitäten als „ M a t t i n s " und „Evensong" (reiche musikalische Ausgestaltung

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mit Kompositionen aus allen Epochen) nach dem -*Book of Common Prayer von 1662 oder in der modernisierten und verkürzten Fassung des Alternative Service Book von 1980. In der -»Römisch-katholischen Kirche dauert das zum Teil sehr erfolgreiche Bemühen um eine Erneuerung sowohl der klösterlichen als auch der gemeindlich gefeierten Stundenliturgie im Gefolge der Liturgiekonstitution des II. -»Vatikanums weiter an. Zahlreiche Teilausgaben der Liturgia Horarum (Bibliographie von M. Klöckener: Lebendiges Stundengebet 548-560) enthalten Texte und Melodien für alle Hören einschließlich der Vigilien, das katholische Gesangbuch Gotteslob bietet Materialien für Vespern im Kirchenjahr (mit Gemeindeversen) und als Hören Laudes, Sonntagsvesper und Komplet, die von den Gemeinden in unterschiedlichem Ausmaß genutzt werden. In der Ökumene gilt die Stundenliturgie, da weder die Amtsfrage noch Differenzen in der Sakramentstheologie berührt werden, als eine gute Möglichkeit zu konfessionsübergreifender gottesdienstlicher Feier. In diesem Zusammenhang ist auch -»Taize zu nennen, wo drei Hören (Morgen-, Mittags- und Abendgebet) in eigener musikalischer Prägung gefeiert werden. Taize-Gottesdienste verbreiten diese Form besonders unter Jugendlichen in vielen Ländern. Innerhalb der Evangelischen Kirchen sind zunächst die aus den -»Liturgischen Bewegungen entstandenen Gruppen zu nennen, so z.B. die Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses (mit St. Johannes-Bruderschaft ca. 600 Mitglieder, sieben Hören in einer „vorkonziliaren" Fassung: Drobnitzky); die Kirchliche Arbeit —»Alpirsbach (ca. 300 Menschen im Freundeskreis, gefeiert werden Matutin, Laudes, Sext, Vesper, Komplet in deutscher Gregorianik auf -»Luthers Bibelübersetzung in den frühen Revisionen bis 1910 in ursprünglichem romanischem, nicht spätem germanischem Dialekt: vgl. die Hefte des Alpirsbacber Antiphonale [Buchholz]); Berneuchener Dienst (ca. 650 Mitglieder und Freundeskreis, vier gesungene Hören); -»Michaelsbruderschaft (ca. 400 Mitglieder, meist vier Chorgebete in deutscher Gregorianik, gemäß der neueren Forschung mit überarbeiteten Übersetzungen, aus dem Evangelischen Tagzeiten-Buch, das die traditionellen sieben Hören von Matutin bis Komplet bietet); Rummelsberger Bruderschaft (ca. 950 Mitglieder, meist drei Hören mit den Perikopen des Sonntags, Tagespsalmen, musikalisch an Taize ausgerichtet: Millauer u.a.), dazu gibt es zahlreiche kleinere Kommunitäten. Die Arbeit dieser Gruppen hat zu einer zunehmenden Gemeindeetablierung des in den lutherischen Kirchen als Gebetsgottesdienst vorgesehenen Stundengebets (Agende II von 1960, Entwürfe für eine Neuausgabe sind in Arbeit) geführt, so daß das von lutherischen und unierten Kirchen gemeinsam herausgegebene Evangelische Gesangbuch von 1994 Ordnungen für Mette, Mittagsgebet, Vesper und Komplet anbietet. Allerdings ist festzustellen, daß - von Osternachtsfeiern abgesehen (vom Ursprung her aus Christvesper und -mette) — hinsichtlich der Zahl der Feiernden wie auch der Regelmäßigkeit der Gottesdienste weder im katholischen noch im evangelischen Bereich von „volkskirchlicher" Verbreitung gesprochen werden kann. Als geschätzte, doch befristete Erfahrung werden Stundengebete auch in vielen evangelischen und katholischen Akademien, Pastoralkollegs, Tagungshäusern sowie auf Freizeiten gefeiert. Ebenfalls zu nennen sind Morgen- oder Mittagsgebete an manchen theologischen Fakultäten sowie die liturgische Form verschiedener Schulgottesdienste, die am Stundengebet orientiert ist. Auf den Evangelischen wie Katholischen -»Kirchentagen finden sich zahlreiche Gottesdienstformen, die in engerem oder weiterem Sinne in der Tradition des Stundengebetes stehen (notwendig in Projektform, z.B. „Liturgische Nacht"). 2. Kriterien Zu unterscheiden ist zwischen Konzepten (vor allem innerhalb der evangelischen liturgischen Bewegungen), die auf die Evidenz und Kraft der traditionellen Form vertrauen, und denjenigen, die aus anthropozentrischen Erwägungen (s.u. 3.) eine Ermä-

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Stundengebet II

ßigung der Anforderung und größere Zeitbezogenheit aufweisen (z. B. „Frühschicht" in katholischen Gemeinden, „literarisches" Stundengebet; vgl. Schröer). Damit stellt sich die Frage nach den Elementen, die Stundengebete wesentlich ausmachen. Zur traditionellen Form gehören die Gemeinde (es ist kein Gottesdienst von einzelnen), Regelmäßigkeit (einschließlich der Bereitschaft zu Verbindlichkeit und Unbequemlichkeit), Psalmen — Psalmodie (in antiphonaler Singweise), Hymnus/Lied, biblische Lesungen (kursorisch oder osterzentriert) mit Responsorien, Stille/Meditation, Orationen/Kollekten, Fürbitten, Lesungen religiöser Texte, mitunter rituelle Vollzüge (Taufgedächtnis, Lichtritus usw.). Uber die N o t w e n d i g k e i t der Elemente Lesung, Lied und G e b e t herrscht weitgehend Einigkeit, hinsichtlich ihrer Gestalt werden u.a. folgende Fragen diskutiert: G e h ö r t zum Stundengebet die G r e g o r i a n i k , die Psalmodie, oder erreichen gemeindefreundlichere neue K o m p o s i t i o n e n , eventuell neue Lieder, dasselbe Ziel? Ist eine leichter verstandliche, zeitgemäßere S p r a c h e einzusetzen, o d e r gehen dabei Inhalte verloren, die das Lateinische oder die älteren Lutherrevisionen bieten? Ist, wenn denn Psalmen ein wesentliches Element sind, größere N ä h e zum Urtext anzustreben?

3.

Theologie

Es begegnen, wie auch im Hinblick auf den Sonntagsgottesdienst, ein stärker anthropozentrischer (Feier um des Menschen willen, Ziel ist Selbstfindung, Selbstvergcwisserung) und ein stärker theozentrischer Ansatz (erstes Ziel ist die Zuwendung zu Gott; die Gottesbegegnung wird geschenkt; Ruhe, Selbstfindung, meditative Einstimmung können daraus resultieren; das „ O p f e r n " des Selbst läßt das Selbst finden). Der ursprünglichen Intention wird letzterer eher gerecht, er scheint aber auch für die heutige Zeit fruchtbar zu machen zu sein: Menschen geben Gott die von ihm empfangene Zeit zurück und empfangen sie darin neu, durch das Ostergeschehen geprägt. Damit wird das Wissen um die Einbettung der Zeit in größere Zusammenhänge, also die eschatologische Erwartung, wachgehalten. Zeit und betender Mensch werden im Gebet geheiligt. Die Unterordnung unter eine fremde Form und unter die Gemeinschaft befreien den Menschen aus seiner Alltagsverhaftetheit, begrenzen seine Neigung, unkritisch und unreflektiert in Gefühlen zu schwelgen, tragen ihn und führen ihn von sich selbst weg zu Gott, die Regelmäßigkeit läßt dabei den tragenden Grund zuverlässig erfahren. Zu fragen ist, ob nicht der Sinn des Stundengebetes überhaupt erst jenseits der „Passion" von Pflicht und Langeweile erreicht wird, im Verzicht auf Selbstbestimmtheit (Demut) und in der Öffnung auf andere hin (Liebe). 4.

Perspektiven

Stundenliturgie war und ist keine Feier für die volkskirchliche Mehrheit, doch sie ist in zahlreichen Kreisen gut etabliert, die sie wegen ihres theologischen Gehalts und ihrer Wirkung auf den Alltag als unverzichtbar einschätzen und darum um ihre weitere Verbreitung bemüht sind. Dabei wird sich erweisen müssen, ob der anthropozentrische oder der theozentrische Ansatz größere Ausstrahlungskraft hat. Notwendig und noch zu entwickeln sind in jedem Fall katechumenale Formen, die in Gestalt und Inhalt einführen und einüben. Literatur Antiphonale zum Stundengebet, hg. v. den Liturg. Instituten T r i e r , Salzburg, Z ü r i c h in Z u s a m m e n a r b e i t mit den M ö n c h e n der Abtei M ü n s t e r s c h w a r z a c h , Freiburg i.Br. u.a. 1979 7 1 9 9 6 . Suitbert B ä u m e r , G e s c h . des Breviers, Freiburg i.Br. 1895; franz.: Histoire du Bréviaire, übers, u. b e a r b . v. Reginald B i r o n , 2 Bde., Paris 1905 ( N a c h d r . R o m 1967). - H a n s j a k o b B e c k e r , Poesie T h e o l . - Spiritualität. Die benediktinische Komplet als K o m p o s i t u m : d e r s . / R e i n e r Kaczynski (Hg.), Liturgie u. D i c h t u n g , II 1983 (PiLi 2) 8 5 7 - 9 0 1 . - Ders., Z u r Struktur der „vespertina S y n a x i s " in der Regula Benedicti: A L W 2 9 (1987) 1 7 7 - 1 8 8 . - D e r s . / A l b e r t G e r h a r d s , Den Abend segnen? Von der Zeitlichkeit des G e b e t e s : H e u t e segnen. W e r k b u c h zum Benediktionale, hg. v. Andreas Heinz/ Heinrich Rennings, Freiburg u.a. 1987 ( P L R - G d ) 3 2 2 - 3 3 3 . - Paul Frederick B r a d s h a w , Daily Prayer in the Early C h u r c h . A Study o f the Origin and Early Development o f the Divine Office, L o n d o n

Stundengebet II

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280

Stundengebet II

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Sturm, Sturm, Johannes 1. Leben

Johannes

281

(1507-1589)

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 283)

1. Leben Am 1. Oktober 1507 wurde Johannes Sturm als Sohn von Wilhelm Sturm, dem Rentmeister von Dietrich IV. (1481-1551), Grafen von Manderscheid-Schleiden, und Gertrud geborene Hüls in Schleiden geboren. Sturm besuchte zunächst die Schleidener Schule und von 1521 bis 1524 zusammen mit seinem Landsmann Johannes Sleidan (1505—1556) die St.-Hieronymus-Schule der -» Brüder vom gemeinsamen Leben in Lüttich; von 1524 bis 1529 setzte er seine Studien in -»Löwen fort (1527 erwarb er die Magisterwürde) und begann dort mit der Edition von klassischen Autoren und Kirchenvätern. 1529 ging er nach Paris, wo er Jura und Medizin studierte. Am Collège Royal, dem späteren Collège de France, hielt Sturm gut besuchte Vorlesungen über Rhetorik (Kommentare zu einigen Werken Ciceros) und Dialektik (in Anknüpfung an den Humanisten Rudolf Agricola [1443/44-1485]; Sturm wurde auch von G. -»Bude beeinflußt). Wahrscheinlich war er auch der Herausgeber der ersten griechischen Ausgabe der Werke des Hermogenes (1531). In Paris heiratete er die humanistisch gebildete Jeanne Pondéria und nahm auswärtige Studenten in sein Haus auf. Sturm, der zunächst unter dem Einfluß der humanistischen Gedanken des -»Erasmus stand, zählte ab 1533 zu den Anhängern der Reformation und zu den Schützlingen der Margareta von Navarra (1492-1549), Schwester des Königs -»Franz I.; wie Erasmus blieb er aber der Hoffnung, eine Einigung zwischen Evangelischen und Altgläubigen sei erreichbar. Befreundet mit den Brüdern Du Beilay, bekam Sturm eine Stelle an der Kanzlei Guillaume Du Beilays (1491 — 1543); 1534/35 nahm er an den Annäherungsbestrebungen zwischen Franz I. und den deutschen Lutheranern teil. Ende 1536 folgte Sturm einem Ruf nach -»Straßburg, um Rhetorik und Dialektik am Collegtum praedicatorum zu lehren; schon 1528 hatte er während eines kurzen Aufenthaltes in der freien Reichsstadt M. —»Bucer kennengelernt. Im Februar 1538 verfaßte Sturm ein Gutachten über die Schulverhältnisse in Straßburg: Er schlug vor, die existierenden Lateinschulen zu vereinen. Sein Vorschlag wurde vom Rat gebilligt, und das Gymnasium wurde am 30. September 1538 eröffnet; bald wurde Sturm zu dessen rector perpetuus ernannt (1539). Dieses Amt behielt er bis 1582. 1540 wurde er Kanoniker von St. Thomas, 1554 der Propst dieses Stiftes. In Straßburg beschäftigte sich Sturm nicht nur mit der Pädagogik, sondern war auch mit politischen Problemen befaßt. In den 1540er Jahren begnügte er sich nicht damit, klassische Quellen zu edieren, Schulbücher und Programmschriften zu veröffentlichen (s.u. 2.), sondern stellte sich auch in den Dienst der äußeren Politik der Stadt (Korrespondenzen mit J. -»Sadoleto und J. -»Latomus; Teilnahme an den -»Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg [1540-1541]; Fürbitte bei dem Kardinal Jean Du Beilay [1492-1560] für die Evangelischen von Metz [1543]; Verhandlungen mit Franz I. [1544-1546]). Nach dem Sieg -»Karls V. (1547) und während der Zeit des -»Interims widmete sich Sturm wieder völlig seiner literarischen Tätigkeit. Von 1553 bis 1563 aber wurde er erneut in die Politik hineingezogen (Einführung der Reformation in -»Frankreich; Metz; schriftliches Plädoyer für die -»Waldenser in Piemont; Erster -»Religionskrieg in Frankreich). Ab 1564 widmete er sich ganz dem Straßburger Gymnasium; 1566 erlangte er von Kaiser -»Maximilian II. die Anerkennung der Hohen Schule als Akademie - die Vorstufe der späteren Straßburger Universität (1621). Sturm hatte sich mit den Straßburger Reformatoren der ersten Generation (z. B. Bucer), deren Mäßigung er schätzte, gut verstanden; mit ihren Nachfolgern aber, die ein strengeres Luthertum durchzusetzen versuchten, kam es mehrmals zu Auseinandersetzungen. Ab 1561 wurde Sturm in den Streit zwischen J. -»Marbach und G. -»Zanchi

282

Sturm,

Jobannes

über das -»Abendmahl verwickelt. In den Jahren 1 5 7 1 - 1 5 7 5 griff ihn Marbach wegen seiner Sympathien für die Calvinisten und die Zwinglianer, aber auch für die „Papisten" an; 1 5 7 7 - 1 5 8 1 wandte sich Sturm in Auseinandersetzungen mit Johannes Pappus ( 1 5 4 9 1610) gegen die -•Konkordienformel und das —>Konkordienbuch und wurde deswegen seines Amtes als Rektor enthoben. Die letzten Lebensjahre waren für Sturm besonders schwer: In gerichtliche Auseinandersetzungen mit der Stadt Straßburg verwickelt und von Schulden belastet (1562, als der erste Religionskrieg ausbrach, hatte er einerseits den Hugenotten 10.000 Gulden geliehen, die ihm nur zum Teil zurückgezahlt wurden, und andererseits die Bürgschaft für eine noch höhere Summe geleistet), lebte er, fast erblindet, auf seinem Landgut Northeim bei Marlenheim. Dort starb er am 3. März 1589. 2.

Werk

2.1. Die literarischen

Gattungen

Das umfangreiche Werk von Johannes Sturm (155 Schriften nach der Bibliographie von Rott) richtet sich an unterschiedliche Leserkreise (Sturm schrieb Traktate für die Gelehrten, aber auch Schriften für ein breiteres Publikum) und umfaßt verschiedene literarische Gattungen. 1. Edition zahlreicher Texte: (a) klassische Quellen (-»Plato, Cicero, Lukian von Samosata, -•Johannes Chrysostomus); (b) zeitgenössische Schriften: pädagogische Schriftsteller (-»Melanchthons Dialektik, 1538; Konrad Dasypodius, Lexikon seu Dictionarium mathematicum, 1573; Albert Oelinger, Underricht der hochteutschen spraach, 1573; u.a.); (c) theologische Schriften (von —»Capito, Bucer, -»Calvin [Vorrede zur Ausgabe von 1543 der Institutio christianae reltgionis]); 2. Kommentare zu Rednern oder Theoretikern der Rhetorik (besonders Cicero und Hermogenes); 3. Traktate über Rhetorik {De itniversa ratione elocutionis rhetoricae, 1576; u.a.), Dialektik (Partitionum dialecticarum libri IV, 1539-1543; u.a.) oder Stilistik; 4. Programmschriften über den Unterricht und die Erziehung (De literarum ludis rede aperiendis, 1538; Nobilitas literata, 1549; De educatione prineiputn, 1551, dem Herzog Wilhelm von Jülich-Cleves gewidmet; Classicae epistolae, 1565; Academicae epistotae, 1569; u.a.); 5. Schul- und Lehrbücher (Neanisci, 1565; Onomasticon puerile, 1566; u.a.); 6. theologische Streitschriften (Epistola ad Cardinales de emendatione Ecclesia, 1538; Epistola de refutatione Tridentini concilii, 1565; Antipappi, 1579-1581; u.a.); 7. politische Schriften (De morte Erasmi episcopi Argentinensis epistolae, 1569; De hello Adversus Turcas perpetuo commentarii. E.pistolae de Turcico hello, postum 1598); 8. Gelegenheitsschriften - besonders Trostschriften (Consolatoria ad Senatum Argentinensem de morte Jacobi Sturmii, 1553). 2.2.

Inhalt

2.2.1. Der Rhetor und Pädagoge. Johannes Sturm zählt zu den größten Pädagogen des 16. J h . Sein Ideal, das er 1538 formulierte, war die sapiens atque eloquens pietas, eine sich auf Wissen und Beredsamkeit stützende Frömmigkeit. Als christlicher Humanist war Sturm überzeugt, daß die Gelehrsamkeit (sapientia) zu einer sittlich-religiösen Haltung (pietas) führe. Die eloquentia sollte die sapientia darstellen; Sturm, der einen eleganten lateinischen Stil pflegte, war der Meinung, daß die modernen Redner unter diesem Aspekt den antiken unterlegen seien und versuchte deswegen, die Rhetorik zu rehabilitieren. Die Rhetorik sollte als Erkenntnismethode und Grundwissenschaft an die Stelle der scholastischen Logik treten (vgl. Schindling, Hochschule 169f.). Neben den antiken Schriftstellern spielte für ihn die Bibel eine zentrale Rolle: Sie prägte alle Stufen des Lehrplans des Straßburger Gymnasiums. Das Griechische als Sprache des Neuen Testaments und der Philosophen der Antike schätzte Sturm höher als das Hebräische, das bei ihm nur eine untergeordnete Rolle spielte. Für die Erziehung der Jugend wies er in seinen Programmschriften nicht nur den Lehrern (sie sollten das Vertrauen der Schüler gewinnen; vgl. Classicae Epistolae), son-

Sturm,

Johannes

283

dern auch den Eltern (vgl. De literarum ludis rede aperiendis) eine wichtige Rolle zu. Was die Methode anbelangt, ließ sich Sturm von den Prinzipien der Brüder vom gemeinsamen Leben beeinflussen. Das bezeugt sein Straßburger Gutachten von 1538: stufenweiser Aufbau des einheitlichen Unterrichts und Organisation der Schule nach dem Klassenprinzip (im Straßburger Gymnasium gab es bis zu zehn Klassen, mit einem Lehrer pro Klasse); zahlreiche mündliche Übungen, damit die Kinder die Redewendungen lernen; Deklamationen, Aufführung lateinischer Dramen, um die eloquentia zu üben; Förderung des Wetteifers der Schüler durch Versetzungen am Ende jedes Halbjahres. Von den Parisern Schulen übernahm Sturm die disputationes. Wie Erasmus verfaßte er Dialogschriften. 2.2.2. Der Theologe, Politiker und Diplomat. Obwohl er sich klar für die Reformation entschieden hatte, suchte Sturm die Versöhnung zwischen den Kirchen, in der Hoffnung, die frommen und gebildeten Christen würden sich verständigen. Wie Bucer strebte er ein freies Konzil an, das weise und gemäßigte Gesprächspartner versammeln sollte. Die dogmatischen Formeln der lutherischen Orthodoxie, besonders in der Abendmahlsfrage, waren ihm fremd; wie Bucer lehnte er die Ubiquität des Leibes Christi ebenso wie die Konsubstantiation in materiellem Sinne ab. Am 15. Oktober 1561 legte er dem Thomasstift ein Glaubensbekenntnis vor, in dem er verlangte, keine Lehre zu dulden, die der Lehre Jesu Christi oder den Gesetzen der Natur widerspreche. 1577 und 1580 setzte er sich mit der Konkordienformel und mit dem Konkordienbuch auseinander. Pappus gegenüber verteidigte er die antike Philosophie: Für ihn bildete sie keinen Gegensatz zum Christentum, sondern diente seiner Vorbereitung. Wie andere Prominente seiner Zeit (z. B. Erasmus oder Luther) schrieb Sturm über die Türkengefahr. Sturm ließ allerdings nicht nur einen geistlichen (durch Gebet und Buße geführten) Krieg oder einen Verteidigungskrieg zu; nach dem Sieg von Lepanto (1571) rief er vielmehr zu weiteren konkreten militärischen Maßnahmen auf: Koalition aller Völker der Christenheit; Gründung einer professionellen Armee, finanziert durch eine Steuer im ganzen Reich; Einkreisung der Türkei durch Militärstützpunkte usw. 3.

Wirkung

Schon im 16. Jh. kamen Schüler und Studenten aus ganz Europa - aus Deutschland, aber auch aus England, Frankreich, Italien, Polen usw. - nach Straßburg. Nach zeitgenössischen Angaben soll 1545 das Gymnasium 644 Schüler und Studenten gezählt haben, eine Zahl, die manche Historiker (Lienhard 409) für übertrieben halten. Das Straßburger Gymnasium wirkte auch als Vorbild für die Organisation anderer Schulen. Unter dem direkten oder indirekten Einfluß Sturms haben sich verschiedene Schulen von seinen Methoden und Programmen inspirieren lassen: Augsburg, Genf, Heidelberg, Hornbach, Lauingen, Lausanne, Memmingen, Nîmes, Thorn usw. Zahlreiche Schüler des Gymnasiums wurden als Rektoren bzw. Organisatoren von Schulen berufen. Nicht weniger wirkte Sturm als Rhetor, wie die zahlreichen Nachdrucke seiner Werke zeigen; seine Lehrtätigkeit in Paris hinterließ dort ihre Spuren (zu seinen Hörern zählte P. —>Ramus). Mit Erasmus hat man gelegentlich bedauert, daß Sturm sich sehr wenig für die zeitgenössischen Sprachen interessierte. Vielleicht war auch seine Zielsetzung der eloquentia zu hoch gesteckt, da die Texte der zu lesenden Autoren dem Verständnis der Schüler oft unzugänglich blieben. Quellen 1. Bibliographie: Jean Rott (Hg.), Bibliogr. des œuvres imprimées du recteur strasbourgeois Jean Sturm: Actes du 95e congrès national des sociétés savantes (Reims, 1970). Section de philologie et d'histoire jusqu'en 1610, Paris, I 1975, 3 1 9 - 4 0 4 . 2. Briefwechsel: Politische Correspondenz der Stadt Strassburg im Zeitalter der Reformation, Bde. II-III bearb. v. Otto Winckelmann, Straßburg 1 8 8 7 - 1 8 9 8 ; Bde. IV-V bearb. v. Harry Gerber/

284

Sturm und D r a n g

Walter Friedensburg, Heidelberg 1 9 2 8 - 1 9 3 3 . - Sturms Briefwechsel ist teilweise v. Charles Schmidt (Universitätsbibliothek Straßburg, Mss. 3 8 8 1 - 3 8 8 3 ) niedergeschrieben und von Jean Rott vervollständigt worden. 3. Gedruckte Werke: s. Rott (s.o. bei Bibliogr.). - Jean Sturm, Epistolae classicae sive Scholae Argentinenses restitutae, übers, u. hg. v. Jean Rott, Paris/Straßburg 1938. Literatur Zu 1.: Marie Delcourt/Jean Hoyoux, Documents inédits sur le Collège Liégeois des Jéromites (1524-1526): Annuaire d'histoire religieuse 5 (1957) 933 - 979. - Robert Faerber, Bucer et Jean Sturm: Martin Bucer and Sixteenth Century Europe, hg. v. Christian Krieger/Marc Lienhard, Leiden, I 1993, 3 2 9 - 3 4 1 . - Léon Halkin, Une lettre inédite de Jean Sturm au prince-évêque Gérard de Groesbeek: Chronique Archéologique du Pays de Liège 32 (1941) 1 6 - 3 1 . - Jean Rott, Le recteur strasbourgeois Jean Sturm et les protestants français: Actes du Colloque L'Amiral Coligny et son temps (Paris, 1972), Paris 1974, 4 0 7 - 425. - Charles Schmidt, La vie et les travaux de Jean Sturm, premier recteur du Gymnase et de l'Académie de Strasbourg, Straßburg/Paris/Leipzig 1855 (Nachdr. Nieuwkoop 1970). Zu 2.2.1.: Thomas A. Brady Jr., Ruling Class, Regime and Reformation at Strasbourg 1 5 2 0 1555, 1978 ( S M R T 22). - William Melczer, La pensée éducative de Jean Sturm dans les Classicae epistolae: La Réforme et l'éducation, hg. v. Jean Boisset, Toulouse 1 9 7 4 , 1 2 5 - 1 4 1 . - Pierre Mesnard, La Pietas litterata de Jean Sturm et le développement à Strasbourg d'une pédagogie œcuménique (1538-1581): BSHPF 111 (1965) 2 8 1 - 3 0 2 . - Olivier Millet, Calvin et la dynamique de la parole. Essai de rhétorique réformée, Paris 1992. - Maretta D. Nikolaou, Sprache als Welterschließung u. Sprache als Norm. Überlegungen zu R. Agricola u. J . Sturm, Neuried 1984. - Anton Schindling, Humanistische Hochschule u. freie Reichsstadt. Gymnasium u. Akademie in Straßburg 1 5 3 8 - 1 6 2 1 , Wiesbaden 1977. - Ders., L'école latine et l'Académie de 1538 à 1621: Histoire du Gymnase Jean Sturm. Berceau de l'Univ. de Strasbourg 1 5 3 8 - 1 9 8 8 , hg. v. Georges Livet/Pierre Chang, Straßburg 1988, 1 9 - 1 5 8 . - Walter Sohm, Die Schule Johann Sturms u. die Kirche Straßburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis, München/Berlin/Oldenburg 1912. - Lewis W. Spitz/Barbara Sher Tinsley, The Reformation and Humanist Learning. Johann Sturm on Education, Saint Louis, Mo. 1995. - Cesare Vasoli, Ricerche sulle Dialettiché del Cinquecento. III. Sturm, Melantone e il Problema del Metodo: RCSF 21 (1966) 1 2 3 - 1 7 7 . Zu 2.2.2.: Robert Faerber, La pensée religieuse de Jean Sturm: Georges Livet/Francis Rapp (Hg.), Strasbourg au cœur religieux du XVIe siècle, Straßburg 1977, 1 8 9 - 1 9 6 . Zu 3.: Marc Fumaroli (Hg.), Histoire de la rhétorique dans l'Europe moderne 1 4 5 0 - 1 9 5 0 , Paris 1999, bes. 101-106.346f. - Stanislaw Kot, Le rayonnement de Strasbourg en Pologne à l'époque de l'humanisme: RESI 27 (1951) 1 8 4 - 2 0 0 . - Marc Lienhard, La Réforme à Strasbourg. Les Événements et les hommes: Histoire de Strasbourg. Sous la direction de Georges Livet et Francis Rapp, Straßburg, II 1981, 3 6 5 - 5 4 0 . - Gernot Ludwig, Zur Gesch. der Fürstlichen Schule des „ G y m n a s i u m illustre" in Lauingen. I. T.: Jahresbericht des Albertus-Gymnasiums, Lauingen a.d. Donau 1 9 6 4 , 1 - 1 6 ; II. T. „Umgestaltung der Schule durch Johannes Sturm": ebd. 1 9 6 5 , 1 - 1 7 . - Henri Meylan, Collèges et Académies protestantes en France au XVI e siècle: Actes du 95e congrès national des sociétés savantes (Reims, 1970). Section de philologie et d'histoire jusqu'en 1610, Paris, I 1975, 3 0 1 - 3 0 9 . - Anton Schindling, Humanistische Reform u. fürstliche Schulpolitik in Hornbach u. Lauingen: Neuburger Kollektaneeblatt 133 (1980) 1 4 1 - 1 8 6 . - Ders., Straßburg u. Altdorf - Zwei humanistische Hochschulgründungen v. ev. freien Reichsstädten: Peter Baumgart u.a. (Hg.), Beitr. zu Problemen dt. Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln 1978 (Wolfenbütteler Forschungen 4) 1 4 9 - 1 8 9 . Matthieu Arnold

Sturm und D r a n g 1. Begriff, Bedeutung, Zentren und Autoren Spektrum (Quellen/Literatur S. 288)

1. Begriff, Bedeutung,

Zentren und

2. Ästhetik, Theorie, Theologie und literarisches

Autoren

Unter Sturm und D r a n g versteht m a n eine - auf den deutschen Kulturraum beschränkte - literarisch-philosophische Protestbewegung der siebziger und frühen achtziger J a h r e

Sturm und Drang

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des 18. Jh., getragen von einer Generation um 1750 geborener Autoren (s. Eibl), die sich in ihrem produktiven Habitus von dem klassizistisch-gelehrten, vor allem dem moraldidaktischen Paradigma der älteren Literatur und den Theoremen des von Ch. -» Wolff und Johann Christoph Gottsched (1700—1766) vertretenen -»Rationalismus distanzierten. In provokant wirkenden Signalen der ästhetischen Neuorientierung äußerte sich die Verlagerung kulturanthropologischer, sprach- und geschichtsphilosophischer, zugleich theologischer Diskurse, wie sie - unter dem Einfluß der englischen Literatur und des europäischen Rousseauismus (J.-J. -»Rousseau) - v o n J.G. -»Hamann, J.G. -»Herder u.a. formuliert wurden. J.W. -»Goethes Gespräche mit Herder in Straßburg und die dortige studentische „Tischgesellschaft" (1770/71), der Rezensentenkreis der Frankfurter Gelehrten Anzeigen (1772), zuvor bereits der literarische Studentenbund des „Göttinger Hains" (Musenalmanach von 1774) bezeichnen wichtige personelle Konstellationen, aber auch Überschneidungen des Sturm und Drang mit Verständigungsmustern, wie sie etwa in Darmstadt im „Kreis der Empfindsamen" um Franz Michael Leuchsenring (1746-1827) gepflegt wurden (s. Seidel). Der Name Sturm und Drang wurde abgeleitet von einem durch den „Genieapostel" Christoph Kaufmann (1753-1795) so bezeichneten Drama Friedrich Maximilian Klingers (1752-1831) (ursprünglich: Der Wirrwarr, 1776), woraus sich die metonymischvage Aussagekraft erklärt. Der Titel dient zur Bezeichnung einer kurzen Phase in der Literatur der deutschen Spätaufklärung; angedeutet wird die - nicht ohne die Anregungen G.E. -»Lessings denkbare - Opposition, die sich gegen eine vom französischen -»Klassizismus geprägte Theaterkultur formierte. Uber eine Reihe von thematisch, sprachlich und strukturell innovativen Dramen verständigte sich eine Autorengeneration, zu der neben Klinger der junge Goethe, Julius Anton Leisewitz (1752—1806), Heinrich Leopold Wagner (1747-1779), der theoretisch versierte Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) sowie, in geringem zeitlichen Abstand, F. -»Schiller gehörten. Parallel zu der auch in einer Neuinterpretation W. —»Shakespeares begründeten, sozialkritisch orientierten Dramenliteratur bahnten sich - in der Kombination produktionsästhetischcr (Genieästhetik) und kultur- wie formtheoretischer (Paradigma des Volkstümlichen) Gesichtspunkte - Neuinterpretationen literarischer Leitbilder an. Programmatisch wirkte auf dem Gebiet der Lyrik (artistische Nachahmung des schlichten Liedgestus, stilistisch subjektivierte Odenpoesie) und der halbepischen Versdichtung in Gestalt der emotional bewegten, manchmal sozialkritische Perspektivik verratenden Balladendichtung (Gottfried August Bürger [1747-1794]) besonders Herders Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1773): Manifest eines „sinnlichen, lebendigen, freien lyrischen Handelns" in der Projektion quasi-volkstümlicher Spontaneität und einer den Autor mit seinem Publikum vereinigenden, gerade bei den „wilden Völkern" angeblich erhaltenen Gefühls- und Interessengemeinschaft. Weniger nachhaltig bestimmte die epische Produktion - oft in Nachfolge der älteren moralischen oder idyllisierenden Erzählung - das Gesamtbild der Bewegung. Mit einer Ausnahme: Goethes autobiographisch gefärbter, auf große Resonanz stoßender Briefroman über Die Leiden des jungen Werthers (Erstdruck 1774) verarbeitete nicht nur Protesthaltungen der jungen Generation, sondern zugleich die Aporie eines leidenschaftlich imaginierten, lebensweltlich aber nicht auszulebenden Glücksverlangens des Subjekts, wobei die Anspielungen auf das Leiden Christi, die Anlehnungen an das Johannesevangelium und die Verwendung der Abendmahlssymbole bei der Darstellung des Selbstmords („Opfertod") den Skandal der Tabuverletzung keineswegs milderten (vgl. Brinkmann 178.183; Paulin [Lit.]). 2. Ästhetik,

Theorie,

Theologie

und literarisches

Spektrum

Die in der Genieparole gefaßte Kritik der Regelästhetik und einer - in Gestalt Christoph Martin Wielands (1733-1813), aber auch -»Voltaires bekämpften - Literatur der mondän-gelehrten Aufklärung entdeckte im Künstler den Repräsentanten einer schöpferische Originalität garantierenden Naturkraft; in Goethes Essay Von deutscher Bau-

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Sturm und Drang

kunst (1772) wird das Straßburger Münster im Sinne einer solchen ganzheitlichen H a r monie des Kunstwerks beschrieben, das seine Einheit nach Maßgabe unbedingter Notwendigkeiten ausbildet: „Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist" (J.W. Goethe, SW, hg. v. Hendrik Birus, 1,18. Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt a.M. 1998, 116). Zu dieser Emanationsmetaphorik gehört die Interdependenz des „ G u t e n " und „Bösen" im Menschen, womit Goethe in seiner Frankfurter Rede Zum Shakespears Tag (1771) ein jeder Sozialdisziplin vorgeordnetes Moment der Individualität bezeichnete, das - unter Goethes M i t w i r k u n g - auch der Schweizer Theologe J.C. -»Lavater mit seinen Physiognomischen Fragmenten (1775-1778) in ihrer körperlichen Unverwechselbarkeit spekulativ umkreiste, womit er für Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) zum Exempel einer Schwärmerei wurde, die aus religiösen Motiven einem Mißbrauch der Sprache Vorschub leiste (vgl. Beutel 54). Am Beispiel Shakespeares reflektierte Goethe allerdings auch den Antagonismus voluntativer Größenphantasien und universaler Bedingtheiten, jenen ,,geheime[n] Punkt [...], in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstoßt" (SW, 1,18,11). In diesen Worten faßte sich auch die etwa gleichzeitig von Lenz (Anmerkungen übers Theater, 1774) geforderte Abkehr vom gattungsstrengen Situations- und Handlungsdrama zugunsten einer den Autorinteressen gehorchenden Bühnenliteratur zusammen, die - unter dem Einfluß von Denis Diderot (1713-1784) und Louis Sébastien Mercier (1740-1814) - unvermeidliche Konflikte des individuellen „Charakters" mit den Zwängen der sozialen Lebenswelt in den Mittelpunkt rücken sollte; parallel dazu rehabilitierte Herder in seinem Shakespeare-Essay (1773) den Dramatiker der Moderne gegenüber den Vorbildern des antiken Trauerspiels. Wirkungsästhetische Kategorien verbanden sich mit geschichtsphilosophischen, dabei rhapsodisch vorgetragenen Überlegungen, wie sie Herder ähnlich in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) vorlegte. In kompromißhaftem Ausgleich mit Vorstellungen christlicher Geschichtstheologie und französisch beeinflußter Fortschrittsdialektik gehören demnach alle künstlerischen Hervorbringungen zu einer sich in nationalen Zusammenhängen, im Wechselspiel von natürlichen, sozialen und politischen Faktoren herausbildenden kulturellen Einheit, die in ihrer jeweiligen Besonderheit zu beschreiben ist. Im Sinne dieser Vorgaben hat Goethe neben zahlreichen Fragmenten (Caesar, Mahomet) sein der Dramaturgie Shakespeares verpflichtetes Geschichtsdrama über Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (Erstfassung 1771, umgearbeitet 1773) publiziert: ein rasche Nachfolge findendes Beispiel des regellosen Dramas, aber auch der Wiederentdeckung altdeutscher Reichsherrlichkeit. Vermutlich im Anschluß an eine 1770 erschienene Abhandlung des Osnabrücker Historikers Justus Moser (1720-1794) Von dem Faustrechte wurde der spätabsolutistische Wohlfahrtsstaat mit der Figur eines „Selbsthelfers" konfrontiert, der den despotischen Machtapparat, seine Gerichtsbarkeit und damit zugleich die Macht der Gesetzgebung mit dem Verweis auf tradierte Rechtsverhältnisse herausforderte. Herder hatte im Journal meiner Reise im Jahr 1769 die alten Mythen als zeitlose Handlungsmodelle und Archetypen psychischer Zustände oder Konflikte verstanden. Goethes frühe „ H y m n e n " , freirhythmisch an Pindars archaische Lyrik angelehnt, evozierten in ähnlicher Weise mythische Figuren, um in ihnen eigene, auch religiöse Gefühlssituationen auszudrücken. Als besonders provozierend wurde die wohl 1774/75 entstandene Prometheus-Ode empfunden, die F.H. -»Jacobi als separate Beilage zur ersten Auflage seiner Briefe Ueber die Lehre des Spinoza (1785) veröffentlichte (vgl. Christ; zum weiteren Kontext Olivetti 147-155), die den sog. Pantheismusstreit auslösten (-»•Pantheismus II-III; Scholz; O t t o 173 ff. [Lit.]). Das Gedicht grenzt die göttliche Sphäre gegenüber der menschlichen ab und schildert deren „wechselseitige Unbeeinflußbarkeit" (Thomé 429), wobei unentschieden bleiben kann, gegen welche Vaterinstanzen von Familie, Staat, Religion (Titzmann 44) das autonome Individuum sich auflehnt. Im Zusammenhang der noch im 18. Jh. verbreiteten religiösen „Gewitterlieder", die der Furcht-

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bewältigung dienten, wird die Ode als Kontrafaktur lesbar (Schings). Argumente der Religionskritik grundieren den Protest, wenngleich Goethe dem mechanistischen Materialismus Paul-Henri Thiry d'Holbachs (1723-1789) (Système de la nature, 1770) nur wenig abgewinnen konnte: „wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu M u t e " (Goethe, Dichtung und Wahrheit, Buch XI). Die Radikalität der französischen Aufklärung findet bei den „Stürmern und Drängern" keine Entsprechung. Eine Ausnahme bilden lediglich die um 1776 begonnenen, aus dem handschriftlichen Nachlaß Herders überlieferten Ideen August von Einsiedels (1754-1837), der mit Goethe in dessen frühen Weimarer Jahren Umgang pflegte. Dieser Begegnung war Goethes Spinozalektüre vorangegangen, die einem im älteren Hermetismus wurzelnden Naturbegriff nicht widersprach, den Goethe in Frankfurt (1768-1770) zu einer „Privatreligion" (Dichtung und Wahrheit, Buch VIII) ausgeformt hatte. Sie sah einen gestuften, in polaren Wirkungen gedachten Zusammenhang kosmischer Kräfte vor und bezog auch den Lucifer-Mythos in die innergöttliche, universale Dialektik von „Konzentration" und „Expansion", von „Verselbstung" und „Entselbstung" ein (Zimmermann; Kemper). Bereits dadurch wurden alle skeptischen Folgerungen aus dem umstrittenen Sündenfall-Theorem der Orthodoxie negiert und Positionen vorbereitet, die der Kulturtheorie Herders assimilierbar waren. Der pelagianischen (-»Pelagius/Pelagianischer Streit) Revision orthodoxer Glaubensprämissen zugunsten des Ausbaus einer eklektischen Privatreligion entsprachen zahlreiche weitere, in Essays, Rezensionen, Repliken, Fragmenten und Briefäußerungen Goethes greifbare Vorstöße gegen ältere dogmatische Bestände. Obwohl zur selben Zeit die Begriffe Privatreligion, Privatchristentum usw. in den Sprachgebrauch eingehen, kommen die entscheidenden Anregungen für Goethe nicht von der protestantischen Aufklärungstheologie (J.S. -•Semler; s. Hornig, Freiheit; Bianco 193f.), sondern von G. -»Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie, der Genealogie einer im Konfessionalismus unterdrückten Opposition, in der auch -»Spinoza nicht - wie üblich - diskriminiert wurde (zu Goethes Spinozarezeption s. Bollacher). Angelehnt an das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" in Rousseaus Emile (1762) faßte Goethe seine kirchen-, punktuell auch offenbarungs- und religionskritischen Positionsnahmen in dem fiktiven Brief eines Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773) zusammen. Im Zeichen einer den Wahrheitsanspruch suspendierenden Toleranz tritt an die Stelle von Erbsündendogma und Strafandrohung die Hoffnung auf universale Erlösung - Reflex der auf -»Orígenes zurückgehenden Lehre von der ànoKazâazaaiç Ttàvxiav (-»Eschatologie V; -»Wiederbringung [aller]), die noch den Schluß des zweiten Teils der Faust-Tragödie mitbestimmen sollte (Breuer). Die „Göttlichkeit" der Bibel wird in Frage gestellt, konfessionelle Denominationen sind historisiert, sakramentale Handlungen und überkommene Frömmigkeitsformen gelten als Ausdruck einer ins Körperlich-Sinnliche übersetzten johanneischen Gefühls- und Liebesreligion. Die in der Rollenprosa des Pastor-Briefs zum Ausdruck gebrachte Ablehnung von Deismus und Vernunftchristentum (s. Willems 26) macht gleichwohl deutlich, daß Religion ihre identitätsbildende Funktion noch bewahrt; der „Geist Gottes" korrespondiert lebensweltlich-psychischen Bedürfnissen: „Wir sehnen uns nur nach einem Weg auf dem uns geholfen werden könnte" (Goethe, SW, 1,18, 129). Rationalistische Radikalismen - auch in Form der Gesangbuchrevision - finden von daher wenig Anklang. Die Autoren des „Sturm und Drang" gehören zu den Beobachtern einer „fortschreitenden Kritik an der dogmatischen Tradition", die sich in der „Abfolge von Wolffianismus, Neologie und Rationalismus" (Spam, Christentum 21) beschreiben läßt, wobei die Neologen in den 1770er Jahren „zunehmend deutlich heterodox[e]" Positionen einnehmen (Sparn, Fides 151). Damit war jedoch weniger die Streichung als vielmehr die Modifikation zentraler Lehren der Offenbarungswahrheit gemeint, wie G. Hornig (Lehre 130) gegenüber dem vielfach wiederholten Urteil K. Aners (180) festhält. Seit dem Beginn des Jahrhunderts war die natürliche Theologie aus ihrer bis dahin untergeordneten Stel-

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lung zu einer Instanz der „Kritik" (Birkner 285; Feiereis 122) aufgestiegen, die es erlaubte, die Lehren der Offenbarungstheologie vernünftig zu prüfen. Von großer Bedeutung waren die Kontroversen um die Schriften J.Ch. -»Edelmanns und Johann Lorenz Schmidts Wertheimer Bibel von 1735 (Stemmer 92ff.; Schröder). Beide Debatten weisen auf den von Lessing 1774 mit der Veröffentlichung der Schrift Von Duldung der Deisten - des ersten Stücks aus dem Nachlaß von H.S. —»Reimarus — eröffneten Wolfenbütteler Fragmentenstreit voraus, der über Jahre eine polarisierende Wirkung in der literarischen Öffentlichkeit entfaltete. Gleichzeitig entwickelten sich neue Formen volksaufklärerischer Literatur (Literatur bei Siegert), und in den 1770er Jahren wird das „Stichwort der Popularität" in ähnlicher Weise zu einem „Programmbegriff" (Drehsen 10), wie ein verständlicherer Predigtstil den Geistlichen auf Fragen des praktischen Lebens und auf seine soziale Verantwortung verpflichtete. Für dieses veränderte Amtsverständnis war eine zuerst 1772 publizierte Schrift des Neologen J.J. -»Spalding von Bedeutung: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (s. Wölfel 132), in der die Aufgabe des Predigers auf ihren gesellschaftlichen Nutzen reduziert wurde (Burkhardt 50), was im Kreis der Sturm und Drang-Autoren zu unterschiedlichen Reaktionen führte: Herder wendete sich in seinen An Prediger gerichteten Provinzialblättern (1774) gegen die Schrift des Berliner Konsistorialrats, worüber der mit Spalding eng vertraute Lavater entsetzt war (Werner 54). Im Briefwechsel mit Johann Daniel Salzmann (1722-1812) äußert der in Straßburg Theologie studierende Lenz ebenfalls seine Hochschätzung Spaldings (Sauder 20) und verfaßt eine Reihe populartheologischer Traktate, die sich mit neologischen Streitfragen wie der Erbsündenlehre oder - in der Durchführung wenig originell — der Katechismus-Reform auseinandersetzen (Literatur bei Weiß, Catechismus; zum weiteren Kontext Schöne 92-138; Panther). Für diese pädagogischen Unternehmen dürfte der 1771 anonym gedruckte Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk ein Vorbild geliefert haben, dessen Autor, der spätere Hofbeamte Johann Georg Schlosser (1739-1799), durch eine Reihe von theologischen Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen mit der Orthodoxie in Konflikt geriet (s. Dechent und Bräuning-Oktavio; Loewenthal; Kühlmann, Impulse), in späteren Publikationen aber die Forderung nach völliger Religionsfreiheit und eine reine Vernunftreligion im Blick auf das friedliche Zusammenleben der Bürger, also den Staatszweck, ablehnte. Die Distanz gegenüber einer radikalen Religionskritik und die unterschiedlichen Stellungnahmen zur neologischen Aufklärungstheologie zeigen, mit welcher Aufmerksamkeit die „Stürmer und Dränger" die religiösen und homiletischen Debatten der Zeit verfolgten und wie divergent sie urteilten. Bei Autoren wie Hamann (s. Bayer), Herder, Lavater (s. Janentzky) oder Matthias Claudius (1740-1815; s. Görisch) ist der individuelle Bildungsgang in Rechnung zu ziehen. Im Falle Herders sind die akademischen Lehrer Theodor Christoph Lilienthal (1717-1782), Johann David Heilmann (17271764) u.a. (s. Zippert 52ff.) zu beachten, von denen der für den Sturm und Drang einflußreichste Theologe sachlich-thematische Grundaspekte und Problemstellungen übernommen und weitergeführt hat: sowohl in der alttestamentlichen Exegese (s. Bultmann) als auch in der christlichen Anthropologie, für die er den Gedanken einer „werdenden Gottebenbildlichkeit" (Pannenberg 6) bereits in der Sturm und Drang-Zeit entfaltet hat. Quellen Z u Quelleneditionen, Auswahlausgaben, Handbüchern, Auswahlbibliographien vgl. Matthias Luserke, Sturm u. Drang. Autoren - Texte - Themen, Stuttgart 1997. - Ulrich Karthaus, Sturm u. Drang, München 2000. - Periodikum: Lenz-Jb. Sturm-u.-Drang-Stud., St. Ingbert, 1 (1991) ff. Literatur Karl Aner, Die Theol. der Lessingzeit, Halle a.d.S. 1929 (Nachdr. Hildesheim 1964). - Oswald Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg H a m a n n als radikaler Aufklärer, München/ Zürich 1988. - Albrecht Beutel, Lichtenberg u. die Religion, 1996 (BHTh 93). - Bruno Bianco,

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Stuttgarter Erklärung - » D e u t s c h l a n d , - » N a t i o n a l s o z i a l i s m u s und Kirchen

Styliten - » M ö n c h t u m

Suárez, Francisco (1548-1617) 1. Leben 2. Werk 3. Wirkung 1.

(Quellen/Literatur S. 293)

Leben

F r a n c i s c o Suárez, einer der bedeutendsten und einflußreichsten jesuitischen Philosophen und T h e o l o g e n der frühen Neuzeit, wurde a m 5. J a n u a r 1548 in G r a n a d a geboren und ist a m 25. September 1 6 1 7 in Lissabon verstorben. E r w a r als Doctor eximius bekannt und gewann mit seinen Arbeiten zur Metaphysik, Rechts- und Staatstheorie und T h e o logie internationales Ansehen. Sein Einstieg in die wissenschaftliche Tätigkeit erfolgte allerdings verzögert. Als zweiter Sohn eines wohlhabenden Anwalts wurde er 1 5 6 2 zum Studium des kanonischen R e c h t s auf die Universität - » S a l a m a n c a geschickt. D o r t bew a r b er sich um A u f n a h m e in die Gesellschaft Jesu ( - » J e s u i t e n ) , wurde jedoch wegen vermeintlich mangelnder Begabung abgewiesen. 1 5 6 4 wurde er dann aber doch in den O r d e n aufgenommen und studierte während der folgenden sechs J a h r e in Salamanca Philosophie und Theologie. 1 5 2 6 - 1 5 4 8 hatte hier F r a n c i s c o - » V i t o r i a gelehrt. Suárez' Arbeiten zur Staats- und Rechtstheorie sollten seine Vorstellungen vertiefen und ausbauen.

Suárez

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Nach dem Studium lehrte Suárez Philosophie in Segovia (1571-1574) und danach Theologie in Valladolid (1574-1575 und 1576-1580), Segovia und Avila (1575-1576), R o m (1580-1585), Alcalá (1585-1593), Salamanca (1593-1597) und zuletzt in —»Coimbra (1597-1616). Er war einer der erstrangigen Theologen und Philosophen in Europa, wurde gelegentlich aber auch unorthodoxer Auffassungen beschuldigt. Schmerzliche theologische Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Gabriel Vásquez (1549-1604) in Alcalá waren 1593 ein Grund für seinen Fortgang von dort nach Salamanca. 1603 verurteilte Papst Clemens VIII. (1592—1605) seine Auffassung von der Zulässigkeit einer brieflichen statt persönlichen Ablegung der Beichte. 1604 begab er sich nach Rom, um eine Revision dieser Entscheidung zu erreichen, blieb damit aber erfolglos und kehrte 1606 nach Spanien zurück. Papst Paul V. (1605-1621) hob zwar das Urteil Clemens' VIII. nicht auf, hielt aber Suárez in hohem Ansehen, verlieh ihm 1607 den Titel Doctor eximius und beauftragte ihn mit der Abfassung der Defensio Fidei Catholicae adversus Anglicanae sectae errores (1613). Diese Schrift richtete sich gegen die politischen Vorstellungen Jakobs I. von England (1603-1625) und trat für die vom Papst beanspruchte Vollmacht ein, häretische Herrscher zur Verantwortung zu ziehen und sogar abzusetzen. Sie wurde in London öffentlich verbrannt, und in Paris wurde sie vom Parlament verurteilt, weil ihr Verständnis der Beziehungen von -»Kirche und Staat in schroffem Gegensatz zu den Vorstellungen des -»Gallikanismus stand. Suárez starb 1617 während eines Aufenthalts in Lissabon, der durch seine Mitwirkung bei der Bereinigung einer Auseinandersetzung zwischen örtlichen weltlichen und kirchlichen Instanzen veranlaßt war. 2. Werk Suárez war ein überaus fruchtbarer Schriftsteller. Seine Werke füllen in der allerdings unvollständigen Standardausgabe des 19. Jh. 28 Bände. Viele seiner Schriften beruhen auf Vorlesungen. Er wollte sich in seinen Veröffentlichungen zu allen Aspekten der scholastischen Theologie (-»Scholastik) äußern, wie sie - » T h o m a s von Aquino behandelt hatte. In seinen älteren Schriften bot er den Text des entsprechenden Abschnitts der Summa Theologiae, gefolgt von einem kurzen Kommentar und dann einer Reihe ins einzelne gehender disputationes über theologische Fragen, die sich aus dem kommentierten Text ergaben. Eine Schrift dieser Art ist De verbo incarnato (1590). 1595 kam sie in einer überarbeiteten Fassung erneut heraus. Ein beträchtlicher Teil der dabei vorgenommenen Veränderungen geht auf die Auseinandersetzung mit Vásquez zurück. 1606 änderte Suárez sein bis dahin verfolgtes Verfahren, den Text von T h o m a s zu kommentieren und dann disputationes anzuschließen. In der Folgezeit verfaßte er in Kapitel unterteilte Abhandlungen über die von T h o m a s behandelten Hauptfragen, ließ aber den Text der Summa fort und konzentrierte sich auf Erörterungen, deren Breite nicht mehr dem von T h o m a s auf die jeweiligen Themen verwandten Umfang entsprach, sondern sich an seiner eigenen Einschätzung ihrer Bedeutung ausrichtete. Ein Werk dieser Art war De virtute et statu religionis (1609-1625), eine auf Verlangen des Jesuitengenerals Claudius Aquaviva (1543-1615) verfaßte Erörterung über den Ordensstand. Suárez' bedeutendstes Werk zur Ethik und Rechts- und Staatstheorie war De Legibus, ac Deo Legislatore (1612). Es hat verschiedentlich Anlaß gegeben, ihn als Begründer des -»Völkerrechts anzusehen. Die Defensto Fidei Catholicae (1613) war eine polemische Schrift gegen den von König Jakob I. von England geforderten und verteidigten Huldigungseid (Oath of Allegiance) von 1606. Sie ergänzt die Ausführungen zur politischen Theorie in De Legibus und bietet eine ausführliche Darlegung von Suárez' Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat. Eine Reihe von Fragen zum Problemkreis von —•Gnade, freiem Willen (-»Wille/Willensfreiheit) und Gottes Wissen behandelten die Opuscula Theologica Sex (1599). Zahlreiche Schriften von Suárez sind erst postum veröffentlicht worden.

292

Suarez

Suärez betrachtete die -»Philosophie als Hilfswissenschaft der —»Theologie. Seine bedeutendste philosophische Schrift sind die Disputationes Metaphysicae (2 Bde., 1597). Anders als die meisten älteren Arbeiten zur Metaphysik sind sie nicht als Kommentierung von -»Aristoteles, sondern als selbständige Erörterung angelegt. Sie behandeln einen weitgespannten Kreis philosophischer Fragen, darunter Probleme der Individuation, der Kausalität, des Seins und der Substanz. Im wesentlichen war Suarez theologisch wie philosophisch Thomist, unterschied sich dabei aber in vielen Einzelfragen von Thomas und wandte eine immense Beschlagenheit in der scholastischen Literatur und eine scharfsinnige Argumentationslogik auf die Ausbildung eigenständiger Ansätze. Wie Thomas behauptete er, daß Wesen und Dasein allein in Gott vereint seien, lehnte aber dessen Auffassung ab, daß in endlichen Seienden zwischen ihnen eine im Gegensatz zu einer gedanklichen zu sehende reale Unterscheidung bestehe. In der Gnadenlehre bezog er eine dem Molinismus (-»Molina/Molinismus) nahekommende Stellung und behauptete, Gott wisse (bewirke aber nicht) zukünftig Kontingentes einschließlich der bösen Taten der Sünder durch eine scientia media (eine dritte, zu den von Thomas erörterten beiden Weisen hinzutretende Art göttlichen Wissens; -»Prädestination V.3.4.). In der Universalienfrage (-»Universalienstreit) entwickelte Suärez die Anschauungen von Wilhelm von —»Ockham weiter, und man hat in ihm einen Wegbereiter des cartesianischen (-»Descartes) Verständnisses von „Idee" gesehen. In seiner Staatstheorie (-»Staat/Staatsphilosophie) stellte Suärez sich gegen die Begründung des -»Königtums auf göttliches Recht und behauptete, Herrscher leiteten ihre politische Macht nicht allein von Gott, sondern vom -»Volk ab. Ursprünglich habe die Souveränität beim gesamten Volk gelegen, und die erste Regierungsform sei daher die -»Demokratie. Eine direkte Demokratie aber sei schwerfällig, und darum sei das souveräne Volk gut beraten gewesen, seine Autorität auf einen oder einige wenige zu übertragen. Das Volk sei frei, dem Herrscher Bedingungen aufzuerlegen, wenn es ihm Macht gewähre. Verstoße er gegen sie oder zerrütte er die öffentliche Wohlfahrt, könne es ihn zur Rechenschaft ziehen. Wie die meisten Verfasser jesuitischer politischer Schriften nach der Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich (1594-1610) war Suärez in De Legibus und in der Defensio Fidei Catholicae bemüht, sich von Theorien zu distanzieren, die einen Herrschermord durch einzelne zugestanden. Aufgrund seiner Einschränkungen des Widerstandsrechts (-»Widerstand/Widerstandsrecht) ist er von einigen modernen Beurteilern als Theoretiker des königlichen Absolutismus angesprochen worden. Andere sehen in ihm einen Konstitutionalisten, dessen Widerstandstheorie sich nur oberflächlich von derjenigen der Monarchomachen des späten 16. Jh. unterscheidet. 3. Wirkung Suärez war einer der einflußreichsten Denker der Spätscholastik und hatte nicht nur in katholischen Ländern Resonanz, sondern auch in protestantischen, in denen seine Abhandlung De Legibus und seine Disputationes Metaphysica eine besonders breite Beachtung fanden. Zu den gut bewanderten Kennern seines Werks zählen R. Descartes, H. -»Grotius und Th. -»Hobbes. In England wurde De Legibus erst 1679 veröffentlicht. In Deutschland stand Suärez* Metaphysik während des gesamten 17. Jh. in der Diskussion. G.W. -»Leibniz war mit seinen Theorien vertraut und war ihm für seine eigenen Vorstellungen von Individuation und anderen Problemen verpflichtet. Die Frage nach einer über das 17. Jh. hinausführenden anhaltenden Wirkung von Suärez - abgesehen von seinem unbestrittenen Einfluß in katholischen theologischen Kreisen - mündet aus in die Frage, ob es eine geistige Revolution gegeben hat, von der die Scholastik abgetan wurde, oder ob Gestalten wie Descartes oder Grotius keine Revolutionäre, sondern Konservative waren, in deren Schriften Suärez' Gedanken in neuem Gewand weiterlebten.

Substanz

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Quellen 1. Erstveröffentlichungen: De verbo incarnato, Alcalá 1590; Überarb. Ausg. Salamanca 1595. — De mysteriis vitae... Christi, Alcalá 1592. - De Sacramentis, 1. T., Salamanca 1595; 2. T., Coimbra 1602. - Disputationes Metaphysicae, 2 Bde., Salamanca 1597. - Opuscula Theologica Sex, Madrid 1599. - De censuris, Coimbra 1603. - De uno et trino, Lissabon 1606. - De virtute et statu religionis, 1. T., Coimbra 1608; 2. T., ebd. 1609; 3. T., Lyon 1624; 4. T., ebd. 1625. - De Legibus, ac Deo Legislatore, Coimbra 1612. - Defensio Fidei Catholicae, Coimbra 1613. - De Gratia, 1. u. 3. T., Coimbra 1619; 2. T., Lyon 1651. - De Angelis, Lyon 1620. — De opere sex dierum u. De anima (gemeinsam veröff.), Lyon 1621. - De triplici virtute theologica, fide, spe et charitate, Coimbra 1621. - Tractatus quinqué in primam secundae D. Thomae, Lyon 1628. 2. Neuere Ausgaben: Op. Omnia, ed. Michel André, 28 Bde., Paris 1 8 5 6 - 1 8 7 8 . - Disputaciones metafísicas, ed. y trad, de Sergio Rábade Romeo u.a., 7 Bde., Madrid 1 9 6 0 - 1 9 6 6 (Biblioteca hispánica de filosofia). - Francisco Suárez, Ausgew. Texte zum Völkerrecht. Lat. Text nebst dt. Übers., hg. v. Josef de Vries, Tübingen 1965 (Die Klassiker des Völkerrechts 4). - De legibus. Ed. crit. bilingüe por Luciano Pereña u.a., 1 9 7 1 - 8 1 (CHP 1 1 - 1 7 . 2 1 - 2 2 ) . - Francisco Suárez, Über die Individualität u. das Individuationsprinzip. Fünfte metaphysische Disputation, hg., übers, u. mit Erläuterungen versehen v. Rainer Specht, 2 Bde., Hamburg 1976 (PhB 294a.b). - Deputazioni metafisiche 1 - 3 , testo latino a fronte. Intr., trad., note e apparati di Costantino Esposito, Mailand 1996 (Testi a fronte 39). - Disputes métaphysiques I.II.III. Texte intégral présenté, trad, et annoté par Jean-Paul Coujou, Paris 1998 (Bibliothèque des textes phil.). Literatur Michel Bastit, Naissance de la loi moderne. La pensée de la loi de saint Thomas à Suarez, Paris 1990. - Salvador Castellote Cubells, Die Anthropologie des Suárez. Beitr. zur span. Anthropologie d. 16. u. 17. J h . , 1962 = 2 1982 (Sym. 8). - Jean-François Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, Paris 1990. - Wilhelm Ernst, Die Tugendlehre des Franz Suárez, mit einer Ed. seiner röm. Vorl. De habitibus in communi, 1964 (EThSt 15). - Bernice Hamilton, Political Thought in Sixteenth-Century Spain, Oxford 1963. - Klaus Kienzier, Art. Suárez, Francisco: BBLK 11 (1996) 1 5 4 - 1 6 3 (Lit.). - Howell A. Lloyd, Constitutionalism: James Henderson Burns/Mark Goldie (Hg.), The Cambridge History of Political Thought 1 4 5 0 - 1 7 0 0 , Cambridge 1991, 2 5 4 - 297. - Antonio Molina Meliá, Iglesia y Estado en el Siglo de Oro Español. El pensamiento de Francisco Suárez, Valencia 1977. - José Maria Ortiz Ibarz, La participación como razón constitutiva del mundo. El constitutivo formal del ente finito según Francisco Suárez, Barcelona 1991. - André Rangel Rios, Die Wahrheit der Aussagesätze u. das göttliche Wissen v. zukünftig Kontingentem bei Francisco Suárez, Diss. phil. Freie Univ. Berlin 1991. - John H. M . Salmon, Catholic Resistance Theory, Ultramontanism, and the Royalist Response, 1 5 8 0 - 1 6 2 0 : The Cambridge History of Political Thought 1 4 5 0 - 1 7 0 0 (s.o. bei Lloyd) 2 1 9 - 2 5 3 . - Raoul de Scoraille, François Suarez de la Compagnie de Jésus, 2 Bde., Paris 1 9 1 2 - 1 9 1 3 . - Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., Cambridge 1978. - Josef Söder, Francisco Suárez u. das Völkerrecht, Frankfurt a.M. 1973. - Johann P. Sommerville, From Suárez to Filmer. A Reappraisal: HistJ 25 (1982) 5 2 5 - 5 4 0 . - Reijo Wilenius, The Social and Political Theory of Francisco Suárez, Helsinki 1963. J o h a n n P. Sommerville

Subsidiaritätsprinzip - » D i a k o n i e , -»Sozialethik, - » S t a a t Substanz 1. Substanzbedeutungen in der Antike 2. Substanzdenken im Mittelalter 3. Substanztheorien der Neuzeit und Gegenwart 4. Systematische Zusammenfassung (Literatur S. 302) Substanz ist ein deutsches L e h n w o r t aus dem lateinischen substantia, der Übersetzung der griechischen W ö r t e r vnöaxaaiQ und ooaia. Letzteres bedeutete vorphilosophisch „ H a b e , V e r m ö g e n " und w u r d e durch P l a t o zum philosophischen Terminus. Als Substantiv von clvai (Sein), aus d e m Feminin-Partizip o6aa gebildet, bedeutete er nun „Seiendheit", lateinisch entitas. Die abstrakte F o r m des Feminin-Substantivs d r ü c k t den Inbegriff des Seienden aus (platonisch övrax; öv, wörtlich „ d a s seiend Seiende, w a h r h a f t Seiende").

294

1. Substanzbedeutungen

Substanz

in der Antike

1.1. Plato Den Begriff ovaia führte -»Plato in seine Lehre von den Ideen ein, den Wesenheiten der Dinge, als deren Form- und Zweckursachen, die intelligibel, d.h. nur vom Intellekt erfaßbar, sind und durch allgemeine Begriffe definiert werden, im Gegensatz zu den Sinnesdingen als den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen. Die Ideen machen neben der Sinneswelt eine eigene Welt der immateriellen, unsinnlichen Wesenheiten aus, die das „wahrhaft Seiende", ovaia, sind. Plato widmete sich vor allem den Definitionen der Wesenheiten/Ideen der Dinge, des Menschen, des Guten und der Tugend(en). Jedem definierbaren Allgemeinen entsprach eine Idee. Er untersuchte durch Begriffseinteilungen (Dihäresen) die „Gemeinschaft der Ideen" (ihre Verbindungen und Trennungen), wonach sich ein pyramidaler Aufbau des Ideenreiches ergab: mit den vielen untersten Spezies an der Basis und den wenigen obersten (fünf) Gattungen an der Spitze. Diese waren: Seiendheit ( o v a i a ) , Identität und Verschiedenheit, Bewegung und Ruhe (Dialog Sophistes). Dazu kam die Idee des Einen (Dialog Parmenides), zugleich des Guten ( R e s p u b l i c a , speziell resp. VI), welche die Ursache für Sein und Erkennbarsein aller Ideen und (durch sie der Sinnesdinge) ist, „jenseits der Seiendheit" stehend, ¿iiEKEiva Ttjg ovaia$ (ebd. 509B).

1.2. Aristoteles 1) Substanz nach der ersten Kategorie: -»Aristoteles übernahm von Plato die immateriellen Formursachen, übte aber Kritik an ihrer Abtrennung (Chorismos) von den Sinnesdingen, genauer: an Piatos univoker Auffassung des Seienden, die das Seiende bzw. die Substanz mit dem Allgemeinen identifizierte. Dagegen erkannte Aristoteles: „ D a s Seiende ist keine G a t t u n g " , aufgrund der kategorialen Unterschiede des Seienden, die sich in den verschiedenen Weisen anzeigen, wie Seiendes ausgesagt wird: als Substanz/ Wesen, Quantitatives, Qualitatives, Relatives usw. Zu der nach der ersten Kategorie ausgesagten Substanz sind die nach den übrigen ausgesagten Bestimmungen ihre Akzidenzien, die an der Substanz inhärieren, während sie selbst für sich besteht, subsistiert, gleichsam den Akzidenzien „daruntersteht". Von daher bildete sich die lateinische (sinngemäße, nicht wörtliche) Ubersetzung substantia für ooaia. Wenn Aristoteles bei der ersten Kategorie zwischen erster und zweiter Substanz {nptbrf] ovaia, Sevrepa ovaia) unterschied, so waren sie nicht zwei verschiedene Dinge (gleichsam in Nachwirkung des platonischen Chorismos), sondern zwei Aspekte ein und desselben Dinges, als Einzelnes und als Allgemeines betrachtet. Das Allgemeine waren die definitorischen Begriffe (Gattung, Differenz, Spezies), die auf die Wesenheit im Einzelding abzielten. Für Aristoteles galt immer das (gegen Plato formulierte) Prinzip: „Das Allgemeine ist keine Substanz". Die „erste Substanz" in der Ordnung der Aussagen ist das Einzelding (z. B. -»Sokrates), „von dem alles übrige ausgesagt wird, das aber selbst von nichts anderem mehr ausgesagt wird". Es ist das „primär Seiende" (metaph. VII,1) im Unterschied zum abgeleiteten Seienden, den Akzidenzien. 2) Seinsanalogie: Da das Seiende keine univoke, gattungsmäßige Bedeutung hat, sondern „in vielfacher Bedeutung ausgesagt w i r d " , nach den verschiedenen Kategorien, lehrte Aristoteles, daß die verschiedenen, abgeleiteten Bedeutungen nach den übrigen Kategorien „auf ein Erstes (Prinzip) h i n " , nach der ersten, der Substanz-Kategorie, ausgesagt werden, d.h. in analoger Bedeutung und Allgemeinheit. Der (ursprünglich mathematische) Begriff der -»Analogie bedeutet ontologisch etwas Gemeinsames zwischen wesentlich Verschiedenem, genauer: zwischen Verursachtem und Ursache, so zwischen den Akzidenzien und der Substanz, sowie im Bereich der Substanzen selbst wieder zwischen den materiellen und den immateriellen Substanzen, den ersten Ursachen, und überhaupt zwischen den immanenten Ursachen der Dinge und ihrer ersten, transzendenten Ursache.

Substanz

295

3) Weitere Bedeutungen von Substanz: Mehrdeutig ist der Begriff Substanz innerhalb der ersten Kategorie dadurch, daß sie sowohl die gegebenen Erfahrungsdinge bezeichnen kann, von denen die -»Metaphysik ausgeht, als auch deren immanente und transzendente Ursachen; vgl. den Anfang von metaph. XII: „Über die Substanzen {nepi xd>v ovaicöv) handelt die (gegenwärtige) theoretische Untersuchung; denn gesucht werden die Prinzipien und Ursachen der Substanzen". Die Metaphysik-Untersuchung handelt über die Substanz nicht nur, weil sie von Dingen als Substanzen handelt, sondern auch deshalb, weil sie auf die Ursachen der Dinge zurückgeht, die wiederum (und a fortiori) Substanzen sind. Die immanenten, für die Dinge konstitutiven Ursachen sind die Materie einerseits und die Form-Bewegungs-Zweck-Ursache andererseits (metaph. X I I , 1 - 5 ) , die auch als Potenz- und Aktprinzip definiert sind (metaph. IX). Bei den Lebewesen sind dies der —•Leib und die -»Seele. In metaph. V,8 ergeben sich ebenso viele Bedeutungen für die ovaia wie für die (frvoÍQ, Natur, nämlich als die Materie- und die Form-Bewegungs-Zweck-Ursachen, die dem Naturding immanent sind, und als das aus ihnen zusammengesetzte Naturding selbst. Dieses letztere, das Einzelding, ist die „erste Substanz" nach der Kategorienlehre: das letzte Aussagensubjekt (z.B. Sokrates). Die Metaphysik geht dann auf die konstitutiven Ursachen „im letzten Aussagensubjekt" zurück, die nunmehr (und a fortiori) „erste Substanz" heißen. In metaph. VII,3 nennt Aristoteles vier Bedeutungen von ovaia, als Wesenheit (TÖ TÍ ijv elvai), Allgemeines (xaOóAov), Gattung (yévoq) und Zugrundeliegendes (ónoKEÍfievov), und übt Kritik an einem materialistischen (vorsokratischen) Argument, wonach die Bedeutung der Substanz, Zugrundeliegendes (subiectum) zu sein, dahin führe, in der Materie die erste Substanz zu sehen; denn von ihr würden alle Formbestimmungen ausgesagt. In Wahrheit ist sie dies jedoch nicht, sondern nur Materieursache im Einzelding als dem letzten Aussagensubjekt. Erst von diesem werden primär alle Formbestimmungen ausgesagt, dank der Formursache in ihm, die als erste Substanz zu betrachten ist. 4) Die erste, transzendente Ursache als Substanz: In metaph. XII,6ff. steigt Aristoteles in einem induktiven Beweisgang zur Existenz einer ersten, transzendenten Ursache auf, „von welcher der Himmel und die Natur abhängen" und die er „unbewegte", „erste", „abgetrennte Substanz" nennt. Sie ist immateriell und wird zunächst (in XII,6) als Mehrzahl eingeführt (welche die Interpreten auf die in XII,8 erwähnten „unbewegten Beweger" beziehen), dann aber (in XII,7) nur als eine einzige (offenbar über den anderen), auf die allein im vollen Sinne die Bestimmung zutrifft: „Prinzip" zu sein, „deren Wesenheit Akt ist". Sie hat als reiner „Akt der Vernunft" ein glückseligstes, „vollkommenstes Leben" und ist „der Gott". Er erkennt sich selbst als Ursache alles Seienden (vgl. metaph. 1,2). Seine Erkenntnis ist zugleich Selbsterkenntnis, in der Subjekt und Objekt, Erkenntnis- und Seinsakt, in eins zusammenfallen; sie ist „Erkenntnis der Erkenntnis" (XII,9: Kai IGTIV IJ vórjoiq vorjaeojQ vórjaiq). 5) Die -»Seele als immaterielle Substanz: Bei der Bestimmung der ersten, transzendenten (göttlichen) Ursache als immaterieller Substanz und reinen Vernunftaktes waltet eine Analogie zur menschlichen Vernunft, die, sofern aktives Prinzip in der Seele, „der Wesenheit nach in Akt ist" (an. III,5: Trj ooaíq. tbv ¿vepyeíg.). 1.3. Stoa Die -»Stoa übernahm zwar den aristotelischen Substanz-Begriff zusammen mit den Unterscheidungen in Materie- und Form-Bewegungs-Zweck-Ursachen, in Potenz und Akt, sowie mit der Lehre vom göttlichen Intellekt, doch ebnete sie die Unterschiede wieder monistisch-materialistisch ein durch die ebenfalls übernommene Lehre Heraklits vom -»Logos, der zugleich Feuer ist. Dies wirkte sich auf alle Teile ihrer Philosophie aus, auch auf den Substanz-Begriff. Während bei Aristoteles das Wahrheitskriterium bzw. die erste Evidenz das unmittelbare Wissen von Seiendem war, lag es nun bei den

296

Substanz

Stoikern (vor allem Zenon von Kition und Chrysipp, 4 . - 3 . Jh. v.Chr.) in einer „ergreifenden Vorstellung" (KaTaktjnxiKtj avxaaia) von den materiellen Objekten. Die Allgemeinbegriffe sind nur Abstraktionen in der Vernunft, ohne Entsprechung in den konkreten Dingen, die vielmehr durch und durch vereinzelt, partikulär, und voneinander verschieden sind, ohne Gemeinsames (was nur aus materialistischer Sicht stimmt). Daraus ergab sich ein Individualismus (-»Individuum/Individualismus) und —»Nominalismus. Dementsprechend definierte schon Zenon die Substanz als die „erste Materie von allem Seienden" (SVF l,24,27ff. [Nr. 871]). 1.4. Plotin Seinen intelligiblen Aspekt gewann der Substanz-Begriff erst im -•Neuplatonismus wieder. -»Plotin knüpfte bei den Bedeutungen an, die er bei Plato und Aristoteles hatte, und vermied die Mehrdeutigkeit von ovoia, die sowohl die sinnlich wahrnehmbare Substanz als auch das immaterielle Wesen bedeuten konnte, indem er für das letztere den Begriff VUÖOXCLOIQ vorbehielt. Er unterschied (z. B. in enn. V,l; 2; VI,9) drei einander untergeordnete Hypostasen, mit dem Einen/Guten als oberstem Prinzip, dann unter ihm als zweite Hypostase die Kosmos-Vernunft und als dritte darunter die Kosmos-Seele. Dabei entsprach die erste Hypostase dem platonischen Einen bzw. Guten, die zweite der aristotelischen, göttlichen Vernunft-Substanz, die sich selbst erkennt, und die dritte der Allnatur der Stoiker (bei ihnen identisch mit der göttlichen Vernunft). So gewann hier Plotin eine Synthese der drei Schulrichtungen mit dem Vorrang der platonischen. Es liegt a b e r k e i n e m a n a t i s t i s c h e r M o n i s m u s v o r . D i e dritte H y p o s t a s e geht a u s der z w e i t e n und diese a u s der e r s t e n n i c h t s o h e r v o r , d a ß a u s d e r ersten g l c i c h s a m s u b s t a n t i e l l e t w a s a b f l i e ß t . D i e A u s d r ü c k e des „ A b f l i e ß e n s " sind m e t a p h o r i s c h n a c h d e m Bild m i t der Q u e l l e zu f a s s e n . Vielm e h r h a n d e l t es sich um A u s w i r k u n g e n a u s d e r je h ö h e r e n H y p o s t a s e , die s o m ä c h t i g s i n d , d a ß sie sich h y p o s t a s i e r e n zur j e niedrigeren H y p o s t a s e ( „ z u m Stehen k o m m e n " : vnooxrjvai). A u c h in d e r m y s t i s c h e n V e r e i n i g u n g w i r d d i e S e e l e m i t d e m g ö t t l i c h e n E i n e n n i c h t s u b s t a n t i e l l eins, s o n d e r n k o m m t nur zu einer o p e r a t i v e n E i n h e i t , in d e r b e i d e w i e L i e b h a b e r und G e l i e b t e r vereinigt sind, j e n e r e m p f a n g e n d und dieser g e b e n d ( e n n . V , l , 5 ; V I , 7 , 3 4 f . ; 11; 9 , 1 1 ) .

2. Substanzdenken 2.1.

im

Mittelalter

Augustin

Auf die Verwendung des ovoia/substantia-Begriffes in theologischen Kontexten bei den Kirchenvätern kann hier nicht eingegangen werden. Erwähnt sei nur der große Einfluß, den die neuplatonischen Schriften, besonders Plotins Enneaden, auf - * Augustins Weg zur Metaphysik und christlichen Theologie gewannen. Bei der Aneignung dieses Lehrgutes gestaltete er es wesentlich um. Was Plotins Lehre der drei göttlichen Hypostasen betrifft, legte Augustin sie als Lehre der „Platoniker" (civ. VIII) so dar, daß er die drei göttlichen Hypostasen oder Substanzen in dem einen Gott zusammenfaßte, in welchem Sein, Leben und Erkennen in eins zusammenfielen, womit er sich kongenial der (von ihm nicht erwähnten) aristotelischen Lehre von der ersten, göttlichen Substanz (metaph. XII,6f.) näherte, die reiner Seinsakt, vollkommenstes Leben und Vernunfttätigkeit ist. So wurde Augustin zugleich ein wichtiger Wegbereiter für die AristotelesRezeption bei Thomas von Aquino, der sich in diesen und anderen Lehrstücken häufig auf Augustin berief. Ein wichtiger Vermittler zwischen Aristoteles und Augustin war der hervorragende Aristoteles-Kommentator -»Marius Victorinus. In seiner Trinitätstheologie verwendete Augustin die Begriffe Substanz und Relation (die zu seiner Zeit schon in allgemeinem Gebrauch waren, aber letztlich auf Aristoteles' Kategorienlehre zurückgingen), um mit ihnen das Einzigartige der -»Trinität auszudrücken (trin. V-XV): Während drei menschliche Personen in Relationen zueinander stehen, die von ihrem substantiellen Sein verschieden sind, sind die drei göttlichen Personen drei Relationen in substantieller Weise, in der einen Substanz und Wesenheit Gottes; denn die drei Personen sind nicht drei

Substanz

297

Substanzen, drei Götter (gegen den Tritheismus). Er vermied den Begriff persona für Vater, Sohn und Geist, weil er mit dem der substantia verbunden war und Substanz und Wesenheit zusammengehörten. Statt dessen bevorzugte Augustin, von drei Relationen zu sprechen, die zwar, wie gesagt, substantiell sind - subsistieren, Hypostasen sind - , aber konsubstantiell in der einen Substanz Gottes. (Es differenzieren sich hier Hypostasis/Subsistenz und Substanz, wiewohl „Substanz" die wörtliche Übersetzung von „Hypostasis" ist.) Später definierte A.M.S. —»Boethius die Person als naturae rationabilis individua substantia (-»Person I.I.). 2.2. Thomas

von

Aquino

Die aristotelische Substanz-Lehre nahm - » T h o m a s von Aquino sinngetreu wieder auf, sowohl in seinen Aristoteles-Kommentaren als auch in seinen systematischen Quaestiones und Summae. Doch erfuhr der Substanz-Begriff in seiner Theologie eine Vertiefung, so besonders in dem Lehrstück über das von -»Gott Aussagbare. Zunächst gilt, daß keine Eigenschaft, die Kreaturen haben, von Gott univok wie von diesen ausgesagt werden kann; auch nicht das Substanz-Sein. Daher „fällt Gott nicht in die (univoke) Gattung der Substanz", der die Kreaturen angehören. Wohl aber k o m m t Ihm das Substanz-Sein in analoger Hinsicht zu, als dem alles überragenden Prinzip, hinter dem die Kreaturen als seine Wirkungen zurückbleiben: sicut excellens principium, a cuius forma effectus deficit, als das hervorragende Prinzip, hinter dessen Form die Wirkung zurückbleibt (S.th. 1,13,2; vgl. S.c.g. 1,14: et tune de substantia eius [sc. Dei] erit propria consideratio, cum cognoscetur ut ab ómnibus Abhängigkeit u. Mißbrauch v. Alkohol u. Drogen, Göttingen 1997, 4 3 - 8 9 . - Barbara McCrady/James W. Langenbucher, Alcohol Treatment and Health Care System Reform: Archives of General Psychiatry 53 (1996) 737-746. - William R. Miller/Stephen Rollnick, Motivational Interviewing, New York u.a. 1991; dt.: Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung v. Menschen mit Suchtproblemen, Freiburg i.Br. 1999. - Eberhard Rieth, Art. Sucht: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde, Wuppertal/Zürich, 3 (1994) 1928-1932. - Sebastian Scheerer, Sucht, Reinbek 1995. - Walter Schulte, Art. Sucht u. Suchtgefahren: RGG 1 6 (1962) 458 - 4 6 3 . - Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- u. Sozialgesch, des Alkohols in Deutschland, Opladen 1983. - Art. Suchtkrankenhilfe: Peter Heibich/ Horst Seibert/Friedrich Thiele, Die soziale Arbeit der Kirche, Gütersloh 1982 (GTBS 1048) 162f. - Günther Wienberg, Struktur u. Dynamik der Suchtkrankenversorgung in der Bundesrepublik ein Versuch, die Realität vollständig wahrzunehmen: ders. (Hg.), Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- u. medikamentenabhängiger Menschen, Bonn 1992, 12-60. Robert A. Zucker/Hiram E. Fitzgerald/Helene D. Moses, Emergence of Alcohol Problems and the Several Alcoholisms. A Developmental Perspective on Etiologic Theory and Life Course Trajectory: Dante Cicchetti/Donald J. Cohen (Hg.), Developmental Psychopathology. II. Risk, Disorder, and Adaptation, New York 1995, 677-711. Michael Klein

Sudan 1. Begriff 2. Frühgeschichte 3. Hellenistisch-römische Zeit 4. Das 4. bis 7. Jahrhundert 5. Das 8. bis 12. Jahrhundert 6. Das 13. bis 18. Jahrhundert 7. Das 19. Jahrhundert 8. Das koloniale späte 19. Jahrhundert 9. Das 20. Jahrhundert (Quellen und Literatur S. 319) 1.

Begriff

Für den heutigen biläd al Südän ( = Sudan) adoptierte die arabische Geographie und Historiographie des Mittelalters (Verzeichnis bei Cuoq, Recueil 37f.) die alte griechische Terminologie. Entsprechend der Bezeichnung „Land der AiOioneç" (der Menschen mit den von der Sonne verbrannten Gesichtern) begann man, vom „biläd al-Südän" (Land der Schwarzen) zu sprechen. Damit war jedoch kein konkretes politisch-staatliches Gebilde gemeint, sondern der Teil -»Afrikas, der sich wie ein breiter Gürtel südlich der Sahara von West nach Ost bis zur Küste des Roten Meeres erstreckt (ca. 5300 km) und ähnliche geographisch-ökologische Strukturen aufweist (ausführlich: Lexikon der Geographie 4,440a—445b; EI 7,495; EI1 9,752b-761a). Historisch werden daher unter der Bezeichnung Sudan mehrere Länder und Völker - mit ihren differenzierten Sprachen (Arabisch, Hausa, Kanuri, Fulani, Songhay, Wolof) - erfaßt, die den mittelalterlichen Horizont Afrikas entlang des Äquators ausmachten (Mali, Nigeria, Tschad u.a.). Heute zieht man staatspolitische Strukturen den ethnokulturellen und religiösen Räumen vor. Das führt zu falschen, sogar tragischen Konsequenzen, deren Ende noch lange nicht in Sicht zu sein scheint. Gegenwärtig versteht man unter der Bezeichnung Sudan ( = as-Südän) zumeist die heutige islamische Republik Sudan (Gumhüriyya as-Südän: EI 1 9,746a—752b). Sie ist in ihren gegenwärtigen Grenzen seit d e m 1. Januar 1956 unabhängig und das größte (ca. 2,5 Millionen km 2 ) politische, multiethnische Territorium des „schwarzen Kontinents". Sie erstreckt sich in Nordostafrika entlang des N i l s und seiner wenigen Zuflüsse zwischen - • Ä g y p t e n im N o r d e n und Uganda im Süden. Seine riesigen, historisch gewachsenen Regionen N u b i a , Khartoum, Kordofan, Darfur, Bahr el Ghazal und Äquatoria (im Südsudan verwendete man früher für geographische Gebiete o f t Bezeichnungen afrikanischer Stämme, die die Gebiete b e w o h n t e n , z. B. Nuba-Berge) bestehen heute aus 26 Provinzen (nach den offiziellen englischen Bezeichnungen): Northern State, Red Sea, Darfur: N o r t h ern-, Western-, Southern-, N a h r al N i l (Atbara), Kassala, Khartoum, Gezira, Gedaref, White Nile, Sennar, Blue N i l e , Upper Nile, Jonqlei, Bahr al Jabal, Equatoria: Eastern-, Western-, Kordofan: Northern-, Western-, Southern-, Bahr al Ghazal: Western-, Southern-, Warab, Unity, Buheirat (heute will man im R a h m e n einer neuen administrativen Aufteilung neun Staaten statt Provinzen verwalten). In ihnen leben nach der Erhebung v o n 1990 ca. 2 5 , 2 M i o . Bewohner, die 134 Sprachen und Dialekte benutzen.

Sudan

311

Eine Kultur- (und Religions-)geschichte dieses Landes kann daher nur zur Geschichte der einzelnen Völker und Religionen werden, die heute der Regierung in Khartoum unterstellt sind, die aber - wenn man vom verbindenden Nil absieht - kaum andere Gemeinsamkeiten haben. Ihre religiös-kulturellen (aber auch zivilisatorischen) und vor allem mentalen Unterschiede sind gravierend. Die Herrschaft im Lande, in dem man nicht von demokratischen Verhältnissen in unserem Sinne sprechen kann (trotz der Existenz von 42 Parteien und politischen Gruppierungen, die 1986 zu den Wahlen zugelassen waren [Bechtold 7] und heute völlig von der Nationalen Islamischen Front [NIF] kontrolliert werden), liegt fast vollständig in Händen der „Nordsudanesen", die jedoch nicht alle Araber sind, wie häufig behauptet wird (über die ethnische Entwicklung im Norden des Sudan immer noch grundlegend MacMichael; s.a. Hasan). Im Nordsudan leben gegenwärtig auch noch „kleinere" Ethnien: Nubier, Bega, Berberstämme und Zigeuner ( = Ghajar) (Paul; Trimingham), die zum größten Teil arabisiert wurden. Mit der arabischen Sprache übernahmen sie auch den -»Islam, weshalb sie sich quasi als Araber betrachten. Arabisierung bedeutet de facto Islamisierung: „ T h e cultural arabization of the people was the more profound because it also meant their islamization" (Trimingham 82; vgl. Scholz, Konsequenzen; Fluehr-Lobban). 2.

Frühgeschichte

Archäologische Funde im Niltal (Kadero, Sheinab, Khartoum), in der Ostwüste (Gash-Region) und bei Gebel Moya im Westen des Landes weisen schon für eine Zeit von vor 50.000 Jahren auf einen hohen Stand der dortigen paläolithischen Kulturen hin. In dieser Epoche herrschten in diesem Gebiet andere geographisch-ökologische Bedingungen als in der historisch bekannten Zeit. Es gab u.a. westliche Nilzuflüsse, die durch reiche Fauna und Flora nachweisbar noch eine Besiedlung der Ostsahara ermöglichten (Kuper).

Die systematische archäologische Erforschung des mittleren Niltals (nördlich von Khartoum; Ausgrabungen werden noch immer u.a. in Kerma, Alt-Dongola, Karima/ Gebel Barkai, Kadero, Shendi/Meroe, aber auch in der Ostwüste durchgeführt), das allgemein mit -»Nubien in Verbindung gebracht wird, belegt eine relativ reiche und kontinuierlich dokumentierte kulturelle und religiöse Geschichtc, die lange Zeit eng mit der des alten Ägypten verbunden war. Das hatte zur Folge, daß die religiösen Vorstellungen der ersten Reiche im Niltal (Qustol [seit dem 4. Jt. v. Chr.], Kerma [seit dem 3. Jt. v. Chr.], Napata [seit ca. 1000 v. Chr.] und Meroe [seit ca. 500 v. Chr.]) sehr eng mit den altägyptischen verwoben waren. Wahrscheinlich ist für die prädynastische Zeit von übereinstimmenden religiösen Vorstellungen, mindestens der oberägyptischen und kuschitischen (die historische Toponomastik erlaubt m.E. nicht, vor dem 3. Jh. v. Chr. von Nubiern bzw. Nubien zu sprechen), auszugehen. Dennoch sind abweichende Besonderheiten zu beobachten, die einerseits auf Einflüsse aus dem Alten Orient (Meluhha-Frage), andererseits auf solche aus Schwarzafrika hinweisen. Sie waren auch durch den Handel und die Suche nach Rohstoffen (Holz, Gold, Weihrauch, Stein usw.) bedingt. Diese Tatsachen haben auch in der Bibel ihren Niederschlag gefunden, in der nicht nur Kusch (Gen 10,6; Jes 11,11; 2 0 , 3 - 5 ; Ez 29,10) und eine Kuschitin als Frau -»Moses (Num 12,1; Diebner), sondern auch der kuschitische König Tiharka ( = Taharqo; II Reg 19,9), aber auch kuschitische Diener am israelitischen Hofe seit König David (II Sam 18,21 ff.; Jer 38,7ff.) erwähnt werden (Scholz, Ebedmelek). Auch altägyptische und orientalische Text- und Bildquellen (z.B. Berichte über Punt, Meluhha, Kuschiten als Söldner etc.) bestätigen die Existenz der Großreiche am Roten Meer.

3. Hellenistisch-römische

Zeit

Auch in hellenistischer und römischer Zeit konnten die kuschitisch-meroitischen Reiche am mittleren Nil ihre Selbständigkeit bewahren. Teils schlössen sie sich in einer friedlichen Koexistenz dem ptolemäischen Ägypten an, was u.a. gemeinsame Tempelbautätigkeit, Verwendung des meroitischen Königin-Titels KavSäKTj (NBL 2,439f.) als

312

Sudan

Eigenname in Ägypten (Preisigke 164), aber auch der mögliche Aufenthalt Kleopatras am Hofe der meroitischen Herrscher (48 v. Chr.) eindeutig belegt, teils leisteten sie Widerstand gegen Rom. Die römischen Versuche, Meroe zu erobern, mißlangen. Die „einäugige" Kandake - wie die Herrscherin Meroes in römischen Quellen bezeichnet wird (Strabo, geogr. XVII,1,54; Plinius, h.n. VI,186) - blieb unbesiegt, die Legionen des Petronius und Gallus wurden zum Rückzug gezwungen (21 v. Chr.). An der Südgrenze Ägyptens stationierte man nur berittene Söldnertruppen, deren kurhan-anige Gräber 1936 von W.B. Emery und L.P. Kirwan in Qustol und Ballana entdeckt worden sind. Uber die ethnische Zugehörigkeit dieser Truppen ist wenig bekannt. M a n kann nicht ausschließen, daß es sich um die in antiken Texten als B?Jfi(fi)uei; bezeichneten Völker handelte bzw. schon um Novßai (Erathostenes von Kyrene, 3. Jh. v. Chr.), die unter ßaaikioKOi; Silko um 450 (?) das Christentum annahmen (eine entsprechende Inschrift in T R E 24,687,20-26). Die Frage der H e r k u n f t der Blemmyer k o n n t e von der historischen Ethnologie bis heute nicht eindeutig beantwortet werden. A u f g r u n d von linguistischen Untersuchungen k a n n m a n a n n e h m e n , d a ß dieser N a m e auf nomadische Völker, die später als Bega (Bedawi, Beduine?) bezeichnet worden sind, bezogen werden k a n n (Christides). Es ist nicht auszuschließen, d a ß sich d a r u n t e r als Kampfverbände auch arabische S t ä m m e b e f u n d e n haben k ö n n t e n .

Die Völkerwanderungen (die Beduinen-Frage) im Raum des Roten Meeres (zum Begriff Scholz, Orbis), die auch mit der Einführung des Dromedars in Afrika (ca. 5. Jh. v. Chr.) zusammenhängen, sind immer noch neu zu rekonstruieren und verbinden sich mit „Arabern", die viel später in diesen Raum vorzudringen begannen, als allgemein angenommen wird. Man kann dafür das 4. Jh. v. Chr. annehmen (Shahid 58), die große arabische Migration folgte erst ab dem 7. Jh., wahrscheinlich mehrheitlich über Ägypten. Arabisch ist heute die verbreitetste (Staats-)Sprache im Sudan, obwohl sie im Süden des Landes von vielen gemieden und als lingua franca das Englische bevorzugt wird, was u.a. mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der südsudanesischen Befreiungsorganisationen Sudan People's Liberation Army/Movement (SPLA/SPLM) zusammenhängt, die sich nicht arabisch ( = islamisch) verstehen möchten. Dieser Gegensatz, der historisch aus einem langen, noch nicht abgeschlossenen Prozeß erwuchs, bestimmt auch die gegenwärtige Situation, trotz politischer Versuche, einen modus vivendi zwischen der offiziellen Regierung in Khartoum und dem Revolutionary Command Council of National Salvation (RCC-NS) zu finden. Der Bericht der Apostelgeschichte (Act 8,26ff.) erlaubt, von einem sehr frühen Kontakt der Meroiten mit dem Christentum auszugehen (Scholz, Spuren), wobei zwischen der Übernahme des Christentums als Staatsreligion und der früheren Entstehung verschiedener kleiner christlicher Gemeinden (die sich u.a. auch aus Gnostikern und Verfolgten zusammengesetzt haben könnten) zu unterscheiden ist. Das archäologische Material weist auch auf Kontakte zum iranischen Raum hin, wofür z. B. die skythenartigen Begräbnisarten bei Qustol/Ballana, Bronzefigurinen mit phrygischen Mützen sowie Heliosbildnisse (bei Gebel Qeli; vgl. Scholz, Kusch) Zeugnis ablegen. Die religiös-kulturellen Verbindungen verliefen also sowohl auf der Nord-Süd- als auch auf der West-Ost-Achse (entgegen der Meinung von Adams: Török, Word). Die sparsamen I n f o r m a t i o n e n über das meroitische Reich, dessen Schrift trotz vieler Versuche (zuletzt von Winters) i m m e r noch nicht eindeutig verstehbar ist, liefern das Bild eines selbständigen Reiches, dessen religiöse Erscheinungen im Sinne des Hellenismus synkretistisch w a r e n . Altägyptische, kuschitische und hellenistische Elemente (Dionysos-Kult) flössen z u s a m m e n . Der Isis-Kult m a c h t e M e r o e sogar bei den Frauen in R o m populär (Juvenal, sat. 6,512ff.; d a z u Scholz, Forschungsbemerkungen) .

4. Das 4. bis 7. Jahrhundert Im 4. Jh. eroberte der siegreiche, zum Christentum bekehrte König 'Ezänä aus Aksum Meroe (unzureichend in T R E 1,576). Eine seinen Sieg unter dem Vorzeichen Jesu Christi

Sudan

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feiernde Inschrift gibt zugleich Namen von Völkern an, die damals zwischen dem äthiopischen Hochland und dem Niltal lebten: „In dem Glauben an Gott und die Kraft des Vaters und Sohnes und hl. Geistes, an den, der mir das Reich durch den Glauben an seinen Sohn Jesus Christus erhalten hat, der mir geholfen hat und allezeit hilft, ich Azanas, König der Aksumiten und Himyariten und von Reeidan und von Sabäern und von S(il)eel und von Kaso und von den Bedja und von T i a m o , Bisi Alene (vom Stamme Halen). / ... / ... Ich ging aus, zu bekriegen die N o b a , weil gegen sie die Mangartho und Kaso und Atiaditai ihre Klage erhoben, und die Barya, indem sie sagten: Uns haben die Noba unterdrückt, helfet uns, denn sie bedrängten uns durch Morden. Und ich erhob mich in der Macht des Gottes Christus ..." (Inschrift griech./dt. bei Dinkler 126f.).

Es werden also Ethnien (Blemmyer/Bega und Araber) genannt, die noch bis in die Neuzeit in den weiten Ostgebieten zwischen Niltal und Rotem Meer anzutreffen waren und die der großen Familie der nomadisierenden kuschitisch-hamitischen (heute wird diese Bezeichnung mit Vorbehalt verwendet), wenn nicht sogar semitischen Völker zugerechnet werden können. O b die N(bßa ( = Novßai}), die auch erwähnt sind, zu diesen Völkern gehörten, ist umstritten. Sicher ist jedoch, daß sie seit der Spätantike das Katarakten-Niltal besiedelten und eine homogene Bevölkerungsgruppe bildeten, die bis heute dominierend geblieben ist. Sie besitzt eine eigene Sprache bzw. eigene idiome, wenn man zwischen dem Nord- (Fadijja; vgl. Khalil), dem Mittel- (Mahas/ Nobiin; vgl. Werner) und dem Südnubischen (Dongolawi; vgl. Armbruster) als selbständigen Sprachen unterscheidet. Sie werden hier und da, besonders von Frauen, noch gesprochen (vgl. Kronenberg/Kronenberg). Arabisch als Staats- und Unterrichtssprache hat das Einheimische aber mehr und mehr verdrängt, trotz neuer Versuche organisierter Nubierkreise (u.a. unterstützt von der Evangelischen Mission in Oberägypten [Wiesbaden]), es wiederzubeleben. Im Zusammenhang mit dem Exodus der Nubier infolge des Staudammbaus bei Assuan (1956-1963) sind ca. 500.000 Nubier zum Teil nördlich von Assuan bzw. in die Gegend von Kassala umgesiedelt worden.

Obwohl der Norden des Sudan besser als der Süden bekannt gewesen ist, darf man annehmen, daß schon die Verlegung des Machtzentrums des kuschitischen Reiches von Napata nach Meroë im 6. Jh. v. Chr. für eine Verlagerung der geopolitischen Interessen nach Süden zeugt. Das Reich entwickelte sich zum Vermittler zwischen Schwarzafrika, den südarabischen Reichen und Ägypten, was eine vorteilhafte ökonomische Entwicklung zur Folge hatte. Eisenmetallurgie und Schmiedekunst, die man mit Meroë zu verbinden gewöhnt ist (Amborn), weisen u.a. auf Fragen nach der religiösen Stellung der Schmiede (Eliade, Schmiede 95) und ihrer Wanderungen, aber auch nach der jüdischen Diaspora hin, die mit der Eisentechnologie in Zusammenhang gebracht wird (Rapoport; Scholz, Kusch 66). Die damals schon bestehenden Handelswege zwischen West- und Ostafrika spielten bis in die Neuzeit (z.B. Pilgerwege/Hagg; Peters) eine bedeutende Rolle. Ihre Existenz beantwortet möglicherweise die Frage nach wahrscheinlichen ägyptisierenden Einflüssen in Westafrika (Willett) und nach Völkerwanderungen (z.B. der Fulbe/Fulani ins Niltal). Forschungsmäßig ist auf diesem Gebiet noch viel zu tun, zumal archäologische Ausgrabungen in Zentralafrika (Tschad), Sahara und Nigeria inzwischen Material liefern, das noch weitgehender Auswertung und vergleichender Studien bedarf. Leider behindern die politische Lage und kriegerische Auseinandersetzungen auch die archäologischen und ethnologischen Untersuchungen im Südsudan und den angrenzenden Gebieten. 5. Das 8. bis 12. Jahrhundert Demgegenüber haben sich die Forschungen in Nubien, insbesondere zur Geschichte des Christentums, in den 90er Jahren als sehr ergiebig erwiesen. In (Alt-)Dongola, im Zentrum des nubisch-makuritischen Christentums, hat man neue Beispiele für nubische monumentale Malerei (Scholz, Wandmalerei), für Kloster- und 4 (1996) 5 0 1 - 5 0 6 . - Schuld, Strafe, Versöhnung. Ein interdisziplinäres Gespräch, hg. v. Arnold Köpcke-Duttler, Mainz 1990. - Gesine Schwan, Folgen nicht verarbeiteter Schuld f. die demokratische politische Kultur: Republik u. Dritte Welt. FS Dieter Oberndörfer, hg. v. Wolfgang Jäger u.a., Paderborn/Münchcn/Wien/ Zürich 1994 (Stud. zur Politik 27), 4 1 3 - 4 2 8 . - Dies., Politik u. Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt a.M. 1997. - Donald W. Shriver, An Ethic for Enemies. Forgiveness in Politics, New York/Oxford 1995. - Ders., Schuld u. Versöhnung in den amerik.-dt. Beziehungen v. 1945 bis 1995: Schuld u. Versöhnung in politischer Perspektive. Dietrich-Bonhoeffer-Vorl. in Berlin, hg. v. Wolfgang Huber, Gütersloh 1996, 2 1 - 4 1 . - Albert Stein, Art. Strafe. I. Theol.: EStL 2 (1987) 3525 - 3 5 2 9 . - Strafe. Tor zur Versöhnung? Eine Denkschrift der Ev. Kirche in Deutschland zum Strafvollzug, hg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der Ev. Kirche in Deutschland, Gütersloh 1990. - Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Z u m Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, hg. v. Gerd Hankel/Gerhard Stuby, H a m b u r g 1995. — Günter Stratenwerth, Was leistet die Lehre v. den Strafzwecken?, Berlin/New York 1995 (Schriftenreihe der Jur. Gesellschaft zu Berlin 139). - Ellen Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug. Hist., psychoanalytische u. theol. Ansätze zu einer Theoriebildung, Göttingen 1978. - Sühne u. Versöhnung, hg. v. Josef Blank/ Jürgen Werbick, 1986 (TzZ 1). - Täter-Opfer-Ausgleich im allg. Strafrecht. Theorie u. Praxis konstruktiver Tatverarbeitung. Grundlagen, Modelle, Resultate u. Perspektiven, hg. v. Rainer D. Hering/Dieter Rössner, Godesberg 1993. - Helmut Thielicke, Theol. Ethik. II. Entfaltung. 3. Ethik der Gesellschaft, des Rechtes, der Sexualität u. der Kunst, Tübingen 1964 J 1968. - Joachim Track, Sühne u. Versöhnung. Z u m Umgang mit Schuld u. Strafe: EK 24 (1991) 2 8 - 3 0 . - Versöhnen durch Strafen? Perspektiven f. die Straffälligenhilfe, hg. v. Waldemar Molinski, 1979 (SVH 3). - Gerhard Werle, Without Truth, N o Reconciliation. T h e South African Rechtsstaat and the Apartheid Past: Verfassung u. Recht in Ubersee, Baden-Baden, 29 (1996) 58 - 7 2 . - Ders./Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord u. bundesdt. Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-

360

Sünde I

Urteils, M ü n c h e n 1995. - W i e d e r g u t m a c h u n g in der B R D , hg. v. L u d o l f Herbst/Constantin G o s c h ler, M ü n c h e n 1989. - Eugen W i e s n e t , Die verratene Versöhnung. Z u m Verhältnis v. Christentum u. Strafe, Düsseldorf 1980. - J o a c h i m Z e h n e r , D a s F o r u m der Vergebung in der Kirche. Stud. zum Verhältnis v. Sündenvergebung u. R e c h t , G ü t e r s l o h 1998 ( ö f f e n t l i c h e T h e o l . 10) (Lit.).

Joachim Zehner

Sühnopfer -»Gottesdienst, -»Opfer Sünde I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Religionsgeschichtlich Altes Testament Judentum Neues Testament Alte Kirche Mittelalter Reformation und Neuzeit Praktisch-theologisch

S. 365 S. 372 S. 375 S.389 S. 395 S. 400 S.436

I. Religionsgeschichtlich 1. V o r b e m e r k u n g 2 . Alter O r i e n t 3 . Antike 4 . Dualistische Religionen 6 . Hinduismus 7 . Buddhismus 8. Chinesische Religionen 9. Ethnische Religionen len und Literatur S. 3 6 3 )

1.

5. Islam (Quel-

Vorbemerkung

Zu unterscheiden sind ein engeres theologisches Verständnis des Begriffes „Sünde" und ein allgemeinerer religionswissenschaftlich-systematischer Gebrauch, der „Sünde" als die negative religiöse Qualifizierung einer menschlichen Verhaltensweise versteht, die sich vor allem in Wertigkeitsmustern (Lasterkataloge, Bußregister), Ritualen (Reinigung, Beichte) und normativer Literatur (Lehre, Lehrerzählung, Gesetz) ausdrückt. „Sünde" gehört als konfrontativer Begriff zur religiösen Selbstvergewisserung (-»Frömmigkeit). Der Begriff „Sünde" wird daher in der Religionswissenschaft zumeist durch -•Schuld ersetzt oder durch andere Begriffe wie „Fehlverhalten" (deviance) umschrieben. 2. Alter

Orient

2.1. Als beispielhaft für die altägyptische Religion (-»Ägypten I) gilt das reich bezeugte 125. Kapitel des Totenbuches mit dem sog. „Negativen Sündenbekenntnis". Diese ausführliche Unschuldserklärung des Verstorbenen vor dem Totengericht hat Parallelen in autobiographischen Grabinschriften, die moralische und berufliche Integrität dokumentieren sollen, und im priesterlichen Reinigungsritual. Dagegen sind eigentliche Sündenbekenntnisse selten. Ältester Beleg ist wohl die klassische Lehre für Merikare (P 120-123). Erst individuelle Bekenntnisse aus Deir el-Medine ( 1 3 . - 1 2 . Jh. v.Chr.) verbinden dies mit der Bitte um -»Vergebung, und die Weisheitslehre des Amenope warnt schließlich davor, sich selbst für sündlos zu halten (XIX,18; XI,6f.). Sowohl Böses wie auch Unglück umfaßt isf.t, der wichtigste mit Sünde übersetzte ägyptische Begriff. Als schwere Sünden gelten der weisheitlichen Schulliteratur 'wn-jb „Habgier" (Ptahhotep, Maximen X I X und X X ) und grg „Lüge". Texte zum Thema Schöpfung und Königtum sehen in der „Rebellion" (sbj.t) gegen den Sonnen- und Königsgott Re das ursprüngliche menschliche Fehlverhalten. 2.2. In der -»Babylonisch-assyrischen Religion führt die Sünde dazu, daß sich die Schutzgottheit abwendet und -»Dämonen dann ungehindert Krankheit und Unglück

Sünde I

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bringen. Durch ein Sündenbekenntnis, durch Gebet und durch magisches Ritual kann die Entfremdung von der Gottheit wieder „gelöst", d.h. aufgehoben werden (Beschwörungsserie Surpu „Verbrennung"). Sündenbekenntnisse finden sich als wichtigstes Anliegen in den su-ila- und den i/gw-Gebeten und ebenso in er-sä-hun-ga „Herzberuhigungsklagen" und dingir-sä-dib.ba „Beschwörungen zur Versöhnung des Gottes". Der sumerische Begriff nam-tag „Eingriff (in die göttliche Ordnung)" für Sünde zeigt, daß die Tatsache der Verletzung und ihre kasuistische und rituelle Behandlung im Vordergrund stehen. Die läßliche Sünde (egttu) bedarf ebenso der „Lösung" wie arnu/annu und sertu, die sowohl Sünde wie auch -»Strafe (infolge der Sünde) bedeuten können. In diesem Sinne ist Sündlosigkeit unmöglich (Sumerischer Hiob Z. 102f.). 2.3. Mit wasta „sündigen" beschreiben hethitische Texte (-»Hethitische Religion) „einen Zustand, in dem etwas fehlt, was für ein (ideales) kosmisches Gleichgewicht bzw. die (angestrebte) Ordnung notwendig ist" (Hutter 10). Es werden „Sünden der Hand" als wohl leichtere und „Sünden des Kopfes" als wohl todeswürdige Verbrechen unterschieden. Bezeugt sind Unschuldsbeteuerungen und ein Bewußtsein der Sündhaftigkeit mit Bitte um Offenbarung der das Unglück verursachenden Sünde (Orakelanfragen). Sünde als Erblast wird vorausgesetzt (Ritual des Papanikri). Als schwere Sünden gelten die Mißachtung göttlichen Eigentums, religiöser Pflichten und Zeiten. 3.

Antike

3.1. Griechische Religiosität (—»Griechische Religion) betont die Gefahr, die vom Sünder für die Gemeinschaft ausgeht. Die gravierendste Sünde ist die Blutschuld (äyot;) des Elternmordes, deren Unreinheit (piaafta) ansteckend ist und unsühnbar die Familie des Täters erblich belastet. Nur Tempelraub (-»Religionsvergehen I) und Eidbruch können vergleichbare Folgen haben. Als Bedrohung des Gemeinwesens wurde auch die Entwertung der traditionellen Gebräuche (aoEßeia „Unfrömmigkeit") verfolgt. Ein häufiges Thema griechischer Literatur ist die ehrverletzende vßpiq gegenüber den Göttern. Schon außergewöhnlicher Erfolg oder zur Schau getragene Begabung können den Neid der Götter auslösen. Die Strafe dafür kann Verblendung (äxrj) sein, die den Frevler in den Teufelskreis von Sünde und Strafe bringt und ihn sein Ziel verfehlen läßt (äfiapzävEtv). Erst ab dem 1.Jh. n.Chr. sind im orientalisch geprägten -»Kleinasien Beichtinschriften mit Sündenbekenntnissen belegt. Auch die Vorbereitung der Mysterienweihe könnte Bekenntnisse enthalten haben: Trittsteine am Eingang des Heiligtums von Samothrake lassen dies für die Mysterien der Kabiren, die Schilderungen des Apuleius für den Isiskult (met. X I , 2 3 , 5 - 7 ) und Weihehinweise zum Löwengrad für die Mithrasmysterien vermuten. 3.2. Die -* Römische Religion versteht Sünde von der Sühnehandlung (piaculum „Sühneopfer, -»Sühne, Sünde") aus, die das durch die Abweichung gestörte Verhältnis zu den Göttern wiederherstellen muß. So ist die formalistische Haltung bei der Wiedergutmachung einer Übertretung (prodigium) zu erklären; sei es die Mißachtung der strengen Grenzen zwischen göttlichem und menschlichem Bereich (vgl. nefas) oder ein Fehler (Vitium) beim Ritual. Bereits die Abweichung selbst wird als Zeichen göttlichen Zornes gedeutet. 4. Dualistische

Religionen

4.1. Zoroastrische (-»Iranische Religionen 4.) Beichtformulare aus der Sassanidenzeit ordnen die Sünden nach Graden: Sünden gegen Ohrmazd, gegen einzeln erwähnte Amahraspanden, gegen das Feuer; Sünden durch Berührung von Leichnamen und Unreinheit; Unterlassung von Opfern; Sünden gegen Mitmenschen; Unterlassung des rechten Denkens, Sprechens und Handelns. Eine besondere Stellung nimmt die Lüge (drug) ein. Das Bekenntnis geschieht vor den Göttern und der Versammlung der Zoroastrier. -•Stellvertretung durch einen Verwandten nach dem Tod ist möglich.

362

Sünde I

4.2. Nach den mandäiscben Quellen (Masiqtä-Hymnen; -•Mandäer/Mandäismus) ist die Sündenvergebung vor allem im Rahmen der Totenzeremonien wichtig, weil allein die sündlose Seele beim Aufstieg ins Lichtreich die sieben Wachstationen der Mächte der Finsternis (Archonten) passieren kann. Diese Mächte repräsentieren die Welt mit ihrem Zwang zur Sünde, aus dem sich die Seele durch Sündenerkenntnis befreien muß. Unwissenheit führt dagegen zu Mangel und Begierde, die als Quälgeister die Seele gefangen halten. 4.3. Der östliche -»Manichäismus hat in Begegnung mit dem Buddhismus eine Beichtliteratur (mittelpersisch patit „Sühnung") entwickelt, die in verschiedenen Sprachen umfangreiche Sündenbekenntnisse für Electi und Auditores liturgisch formuliert. Als responsorische Formel dient das mittelpersische man ästär hirza „meine Sünden erlaß". Die nach Abteilungen aufgeführten Sünden (gegen Götter, Electi, Lebewesen, Gebote, Kult) gelten als Hindernisse auf dem Weg der Erlösung (-»Heil und Erlösung). Regelmäßige Sündenbekenntnisse beim zentralen Béma-Fest (wohl seit Mani), bei der montäglichen Beichtfeier und sieben tägliche Beichten streben Vollständigkeit an. Als schwerste Sünde gilt es, die manichäischen Heilswahrheiten nicht zu bedenken. 5. Islam Das Gegenteil von -*lslam (wörtlich „Hingabe") ist Sünde (hatTt) als Unglaube (kufr) und Ungehorsam (ma'siya) und somit Apostasie (Koran 4,137; 16,106f.). Die schwerste Sünde ist die „Beigesellung" ('sräk) anderer Gottheiten zu dem einen Gott (Koran 4,48 und 116). Zu den „großen Sünden" gehören u.a. die Aneignung von Waisenvermögen und Homosexualität. Die Ursünde Adams ist nur Beispiel für die Anfälligkeit der Menschen. Als sündlos gelten der Prophet Mohammed, Kinder bis zum Erwachsenenalter und bei den Schiiten die Imame. Der Maßstab für Sünde ist immer das Gesetz, das alle Handlungen fünf Gruppen zuordnet: gebotene, empfohlene, erlaubte, mißbilligte und verbotene Handlungen. Auch wer wissentlich durch sündhaftes Verhalten Erwirtschaftetes erwirbt, hat an dieser Sünde teil. Es besteht die Pflicht, ein Leben fern der Sünde anzustreben. Dazu dient auch die rituelle Waschung, die schon „innere Reinheit" erwirken kann durch Reue und Hinwendung zu Gott. Alle Sünden außer der Apostasie (Koran 2,217) können durch gewissenhafte Pflichterfüllung und Gebet (Koran 7,155f. u.ö.) getilgt werden. 6.

Hinduismus

Die Stofflichkeit der Sünde ( p ä p a ) betont die hinduistische Karma-Vorstellung (-•Hinduismus). Jede negative Tat haftet als Befleckung, als „ D u f t " , als negatives Guthaben der Seele des Täters an, kann aber „abgedient", „ver-lebt" und damit getilgt werden. Für die religiös-philosophische Tradition der Upanisaden (Vedantä, moderner Hinduismus) ist Sünde zuerst Unwissenheit (avidyä) und damit Schwäche (Bhagavadgitä 18,47). Die Bhakti-Literatur stellt dagegen die Gnade der Gottheit in Aussicht, die durch Sündenbekenntnis und Hingabe zu erlangen ist. Schon den vedischen Hymnen gelten Lust (käma), Zorn (krodha) und Habgier (lobha) als die drei Tore zur Hölle. Klassifikationen der Sünde nach Schwere, Strafe und Stand nehmen die Sastras vor. Nach den Dharma-Sästras sind die fünf „großen Sünden" (Mahäpätakas): Brahmanen-Mord, das Genießen bestimmter Rauschgetränke, Diebstahl, Umgang mit der Frau des Gurus, Umgang mit einem „großen Sünder". Mit Sünde werden auch das Kaliyuga (Zeitalter der Finsternis), Visnu als Hari („Entferner der Sünde"), Siva als Rudrä (beim Mord an Brahma) und die Göttin Gaur! als Totalä verbunden. 7.

Buddhismus

Nichtwissen (avidyä) gilt im -»Buddhismus als Wurzel allen Übels in der vom -»•Leiden geprägten Welt, daraus entstehen Lebensgier (räga) und H a ß (dvesa). Als unver-

Sünde I

363

zeihliche Sünden (änatttaryä) gelten: Elternmord, Ordensspaltung und das Blut eines Buddha zu vergießen. Die zehn „heilswidrigen Handlungsweisen" (akusala-karmapatha) nennen zuerst die Tötung eines Lebewesens, dann vor allem Sünden der Rede und des Geistes. Eine zentrale Zeremonie der buddhistischen Mönchsgemeinschaften ist die zweimal monatlich stattfindende Beichtfeier (uposatha), bei der feste Bekenntnislitaneien (prätimoksa) vorgetragen werden. Schwere Vergehen (päräjika), die zum Ausschluß führen, sind danach: Geschlechtsverkehr, etwas nicht Gegebenes zu nehmen (von nicht geringem Wert), Mord und Mordauftrag, Vorspiegelung besonderer Fähigkeiten. 8. Chinesische

Religionen

8.1. Während der philosophische Taoismus (-»Chinesische Religionen 6.) keine Trennung von Gut und Böse im moralischen Sinne zuläßt und Sünde am ehesten als Handeln gegen die Natur ( y o u w e i ) versteht, bildete sich im religiösen Taoismus ab dem 2. Jh. n. Chr. ein explizites Sündenverständnis aus. So sind für die „Meister der fünf Scheffel Korn" Sünden- und Krankheits-Behandlung identisch (Rituale: chan hui und xie zui). Die Kranken werden in spezielle Räume geführt, um dort in Ruhe über ihre Sünden nachzudenken. Das Sündenbekenntnis wird dann vom Priester notiert, mit einem Antrag an den entsprechenden himmlischen Beamten versehen und diesem durch Verbrennung des Schriftstückes übergeben. Krankheit wird als Zeichen moralischer Unvollkommenheit des Kranken oder seiner Vorfahren gedeutet. Die „vererbbare Sünde" (cheng fu\ wörtlich: „Weitergabe von Lasten") macht alle Nachfahren einer Linie für die Sünden der Vorfahren verantwortlich. Sünde (su, su hui zuigno) hat als Trennung vom Dao immer auch eine verkürzte Lebenserwartung zur Folge. 8.2. Im Konfuzianismus (-»Chinesische Religionen 8.) entwickelt sich erst in neokonfuzianischer Zeit eine autobiographische Bekenntnis-Literatur. Sie steht in Zusammenhang mit der Vorstellung von moralischer Buchhaltung (Shan-shu-Literatur). Berichte der persönlichen Geister und himmlischen Beamten über Sündentaten führen danach zum Abzug von der zugeteilten Lebensspanne. Die Begriffe tsui „Delikt" und kuo „Verfehlung" umfassen alle Aspekte von Sünde, Straftatbestand und Strafe. Als schwerwiegendster Verstoß gilt, „pietätlos" (bu xiao) zu sein. „Unmenschlichkeit" (bu ren) ist die Grundlage des —»Bösen. 9. Ethnische

Religionen

9.1. Die Sündenvorstellung der Azteken (-»Mexiko 1.) ist eng mit der Vorstellung von Schmutz, Exkrementen und Geschlechtlichkeit verbunden. Die Schöpfung gilt als vollkommen, und Verschmutzung durch Sünde kann mittels Beichte abgewaschen, „ausgefegt" werden. Für Ehebruch und Unzucht ist nur einmalige Absolution vorgesehen. Trunkenheit und Unwahrhaftigkeit gelten als besonders sündhaft. 9.2. Der Komplex der Sünde ist in afrikanischen Religionen (-»Afrika III) enthalten in den Vorstellungen von Zauberei (schwarze Magie), Hexerei und Unreinheit. Zauberei steht als schwerste Sünde für das Böse im Menschen schlechthin. Hexerei ist gemeinschaftswidriges Verhalten, auch unabsichtliches, und muß zurückgenommen werden. Dies geschieht bei den Zande durch ein öffentliches Schuldbekenntnis (Versprühen von Wasser auf einen Hühnerflügel). Unreinheit, die durch Respektlosigkeit gegenüber Verboten entsteht, wird rituell beseitigt. Als schwere Sünden gelten Mißachtung der Ahnen und Isolation von der Gemeinschaft (z. B. auch durch Kinderlosigkeit). Quellen und

Literatur

Zu 1.: Christoph v. Fürer-Haimendorf, The Sense of Sin in Cross-Cultural Perspective: M a n 74 (1974) 539-556. - Gustav Mensching, Die Idee der Sünde, Leipzig 1931. - Raffaele Pettazzoni, La confessione dei peccati, 3 Bde., Bologna 1929-1936 (Nachdr. ebd. 1968).

364

Sünde I

Zu 2.: Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit u. Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990 = "1995. - Manfred Hutter, Sündenbewußtsein als Spiegel ethischer Werte im hethitischen Kleinasien: Horst Bürkle (Hg.), Grundwerte menschlichen Verhaltens in den Religionen, Frankfurt a.M. u.a. 1993 (Religionswiss. 6) 9 - 1 7 . - Stefan M. Maul, „Herzberuhigungsklagen". Die sumerisch-akkadischen Ersahunga-Gebete, Wiesbaden 1988. - Werner Mayer, Unters, zur Formensprache der Babylonischen „Gebetsbeschwörungen", 1976 (StP.SM 5). - Karel van der Toorn, Sin and Sanction in Israel and Mesopotamia, 1985 (SSN 22). Zu 3.: Die Beichtinschriften Westkleinasiens, hg. v. Georg Petzl, Bonn 1994 (Epigraphica Anatolica 22). - Douglas L. Cairns, Aidös. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993. - Minna Skafte Jensen, The Concept of Sin in Antiquity, Particularly in Homer: Signs of Evil. The Seven Deadly Sins, Rerlin u.a. 1997 (Semiotica 117,2/4) 47 - 65. Reinhold Merkelbach, Die Unschuldserklärungen u. Beichten im äg. Totenbuch, in der röm. Elegie u. im antiken Roman, Gießen 1987. - Robert Parker, Miasma. Pollution and Purification in Early Greek Religion, Oxford 1983. Zu 4.: Jes P. Asmussen, X"ästvänlft. Studies in Manichaeism, Kopenhagen 1965 (AThD 7). Hymnen u. Gebete der Religion des Lichts. Eingel. u. aus dem Mittelpersischen, Parthischen, Sogdischen u. Uigurischen (Alttürkischen) übers, v. Hans-Joachim Klimkeit, Opladen 1989 (ARWAW 79). - Hans-Joachim Klimkeit, Manichäische u. buddhistische Beichtformeln aus Turfan: ZRGG 29 (1977) 193-228. - Kurt Rudolph, Die Mandäer, Göttingen, II 1961,236 - 254. - Geo Widengren, Die Religionen Irans, 1965 (RM 14) 265 - 269. Zu 5.: Ludwig Hagemann, Schuld u. Versöhnung im Islam: Bernhard Mensen (Hg.), Schuld u. Versöhnung in verschiedenen Religionen, St. Augustin 1986, 3 9 - 5 8 . - Ders., Art. Sünde: IslamLexikon, Freiburg i.Br. 1990 = "1991, 698-701 (Lit.). - Tilman Nagel, Der Begriff der Schuld im Islam: Konrad Thomas (Hg.), Schuld. Zusammenhänge u. Hintergründe, Frankfurt a.M. u.a. 1990, 93-108. Zu 6.: Othmar Gächter, Evil and Suffering in Hinduism: Anthr. 93 (1998) 393-403 (Lit.). Klaus Klostermaier, Hinduismus, Köln 1965, 130-158. - Wendy Doniger O'Flaherty, The Origins of Evil in Hindu Mythology, Berkeley/Los Angeles/London 1976. Zu 7.: Richard Gombrich, Theravada Buddhism, London 1988; dt.: Der Theravada-Buddhismus, Stuttgart u.a. 1997. - Kuo Li-ying, Confession et contrition dans le bouddhisme chinois du Ve au Xe siècle, Paris 1994 (PEFEO 170). - Wilhelm Kuno Müller, Schuld u. Versöhnung im Buddhismus: Bernhard Mensen (Hg.), Schuld u. Versöhnung in verschiedenen Religionen, St. Augustin 1986, 9 - 1 9 . Zu 8.: Wolfram Eberhard, Guilt and Sin in Traditional China, Berkeley/Los Angeles 1967. Michel Strickmann, Therapeutische Rituale u. das Problem des Bösen im frühen Taoismus: Religion u. Philosophie in Ostasien. FS Hans Steininger, Würzburg 1985, 185-200. - Pei-yi Wu, Self-Examination and Confession of Sins in Traditional China: HJAS 39 (1979) 5 - 3 8 . - Liu Xiaogan, Der Daoismus (engl. 1993): Arvind Sharma (Hg.), Innenansichten der großen Religionen, Frankfurt a.M. 1997, 203 - 290. Zu 9.: Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966; dt.: Reinheit u. Gefährdung. Eine Stud, zu Vorstellungen v. Verunreinigung u. Tabu, Berlin 1985. - Edward Evan Ëvans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937; dt.: Hexerei, Orakel u. Magie bei den Zande. Von Eva Gillies gekürzte u. eingel. Ausg., Frankfurt a.M. 1988. - Georg Höltker, Das Sündenbewußtsein bei den Azteken im alten Mexiko: Anthr. 31 (1936) 213 - 233. - Joshua Sempebwa, Schuld u. Umkehr in den afrikanischen Naturreligionen: Michael Sievernich/Klaus Philipp Seif (Hg.), Schuld u. Umkehr in den Weltreligionen, Mainz 1983, 121-139. Dorothea Sitzler-Osing

Sünde II

365

II. Altes Testament 1. Vorbemerkung 2. Die Begriffe und ihr Wortfeld den Texten (Literatur S. 371)

1.

3. Hamartiologische Perspektiven in

Vorbemerkung

Das Thema Sünde im Alten Testament ist bestimmt durch die große Zahl der Begriffe und ihre jeweiligen Bedeutungsvarianten, die konzeptionellen Aspekte der Texte (auch ohne einen Begriff für „Sünde") und das Verhältnis dieser Faktoren zueinander. Die folgende Darstellung ist an diesem thematischen Rahmen orientiert. 2. Die Begriffe und ihr

Wortfeld

2.1. Die Begriffe Das alttestamentliche Verständnis von Sünde äußert sich in einem Vokabular, durch welches die israelitische Gemeinschaft bestimmte menschliche Verhaltensweisen verurteilt, die sie als Verletzung von Wertmaßstäben bewertet, die Gott für die Menschheit und Israel setzt und schützt. Das Vokabular setzt die Erfahrung aller in dieser Weise disqualifizierten Verhaltensweisen voraus. Es ist deshalb sehr umfangreich und vielseitig. Alle Begriffe setzen die Vorstellung vom Zusammenhang von „sündiger" Tat und ihren Folgen in -»Schuld und üblem Geschick sowie -»Strafe voraus. Je einzeln weisen sie auf besondere Aspekte dieses Zusammenhangs hin. Zu den im folgenden aufgeführten Begriffen (Etymologie, grammatische Formen, Semantik, sprachliche Kontexte, literatur- und theologiegeschichtliche Aspekte) vgl. die jeweiligen Artikel in HAWAT, HALAT, T H A T und ThWAT. Die Begriffe werden in ihrer verbalen Grundform, gelegentlich auch als Nominalform angeführt. Sie lassen sich wie folgt gruppieren:

2.1.1. Die erste Gruppe besteht aus Begriffen für - je eine Art von - Sünde an sich. Durch sie werden bestimmte vorausgesetzte, aber nicht genannte verwerfliche Handlungsweisen insgesamt disqualifiziert. Die Gruppe besteht aus unbedingten und bedingten Disqualifikationsbegriffen. 2.1.1.1. Die unbedingt disqualifizierenden Begriffe sind am stärksten vertreten. Von ihnen ist die Mehrzahl hauptsächlich auf Gedanken, Worte und Taten bezogen, durch welche die ihnen folgenden Zustände von Schuld, Unheil und Strafe verursacht werden. Unter diesen ist vor allem der Begriff ht' bedeutsam, weil er - neben ra' -am häufigsten und im umfassendsten Sinn Sünde auf den Begriff bringt und weil er vom Ergebnis eines Tuns her eine Unterscheidung vom Tun selbst vornimmt (vgl. Jdc 20,16; auch Hi 5,24; Prov 8,36; 9,2). Er disqualifiziert das negative Ergebnis eines Tuns als Verfehlung, gleichviel, ob schon das Tun selbst als verwerflich galt oder aber als gut gemeint. Der Tun-Vorgang wird aufgrund seines eigenen Endes, von welchem der folgende Schuldzustand und dessen Folgen unterschieden sind, verurteilt. Der Begriff sgh/sgg (und Derivate) „(sich) irren" weist auf ein im Irrtum begangenes Vergehen. Er trägt der Unabsichtlichkeit Rechnung, bewertet sie aber trotzdem als Verfehlung. So bezeichnet ht', wenn durch sgh wie in Lev 4,2 u.a. näher bestimmt, eine sich aus irrtümlichem Tun ergebende Verfehlung (vgl. Milgrom, Leviticus 228f.; Rendtorff, Studien 202f.; ders., Leviticus 149f.; Hartley 226ff.). Hattat „Verfehlung" bezeichnet auch das Verfehlungsopfer („Sündopfer"; -»Opfer), vgl. Lev 4 , 8 - 2 0 . Die Doppelbedeutung des Begriffs erklärt sich daraus, daß bei diesem speziellen Opfertypus der Aspekt der Verfehlung zur Unterscheidung von anderen Opfertypen betont wird, während der Aspekt der Sühnung von Verfehlungen stillschweigend als bekannt vorausgesetzt ist (-»Sühne). Die große Mehrzahl der unbedingten Disqualifikationsbegriffe ist aber vorwiegend auf die verwerflichen Taten oder Verhaltensweisen selbst bezogen. Durch ps'/pxsa' „brechen mit, einen Bruch (ein Verbrechen) oder Abfall begehen" wird des öfteren ein konkreter Akt als illegitim verurteilt, wie Eigentumsentwendung (Ex 22,8), Abfall von einem Vertragspartner (I Reg 12,19; II Reg 1,1; 3,5.7), Bruch mit jemandem, z. B. Jahwe (Jes 1,2 u.ö.), oder als verbrecherisch geltende Taten (Am 1 - 2 ) . Solches „Wegbrechen" geschieht normalerweise beabsichtigt und hat insofern die Nebenbedeutung von Rebellion,

366

Sünde II

Auflehnung (vgl. Hos 7,13; 8,1; Jer 2,29-31; 3,13f.). Ein vollzogener Abfall ist jedoch mehr als eine, möglicherweise auch erfolglose, Auflehnung, „Revolte", „Bestreitung des Autoritätsanspruchs" (Wolff 162; ähnlich Wildberger 14). Er kann auch aus Einsichtslosigkeit geschehen (vgl. Jes 1,3). O b in tätlichem oder psychischem, absichtlichem oder unabsichtlichem Sinn, ein Bruch ist primär nicht als ein vorläufiges Verhalten, sondern als dessen geschehene, erfüllte, abgeschlossene Tatsache verstanden. In diesem Sinn bezeichnet der Begriff besonders auch strafrechtlich zu verfolgende verbrecherische Taten als vollzogenen Rechts-Bruch. Weitere Typen von konkreten Handlungen werden durch die Begriffe hms (Verb und Nomen) „gewalttätig handeln, Gewalttat" (Gen 6,11 — 13; Jer 22,3; Prov 8,36; Ps 18,49 u.ö.); sod „Gewalttätigkeit, Bedrückung" (Am 3,1; Hab 3,1; Prov 24,2 u.ö.) und ynh „gewalttätig sein, bedrücken" (Ex 22,20; Jer 46,16) charakterisiert und disqualifiziert. Der psychologische Aspekt in Begriffen für verwerfliches Verhalten, besonders gegenüber Gott, ist beträchtlich. Die folgenden ragen heraus: 'wl (und Derivate) „vom Rechten abweichen, unrecht handeln" (Lev 19,15.35; Jes 26,10; Ez 18,24.26 u.ö.), „Frevler sein" (Hi 18,21), und „Schlechtigkeit, Bosheit" (Jes 59,3; 61,8; Hos 10,13); bägad „treulos handeln" (Ex 21,8; Jdc 9,23 u.ö.); m'l „pflichtwidrig handeln, untreu sein" (Lev 5,15-21 usw.), als Nomen immer gegen Gott (Jos 22,16.22.31 u.ö.); m'sübäh „Abfall, Abtrünnigkeit" (Hos 11,7; Jer 8,5); sth „abweichen, sich abwenden" (Num 5,19f.29; Prov 4,15); g'h (und Derivate) „hochmütig sein, Hochmut" (Ps 94,12; Hi 40,11 u.ö.); gäbäh „hochfahrend sein" (Jes 3,16; Jer 13,15); mrh „widerspenstig sein" (Num 20,10; Jes 1,20; Hi 17,2); mrd „sich auflehnen, empören" (I Reg 18,17-20; Hi 24,13); s'rirüt „Verhärtung, Verstocktheit" (Dtn 29;18; Jer 3,17 u.ö.); qässch/q'st „Halsstarrigkeit" (Ex 32,9; Dtn 9,27 u.ö.); skl (und Derivate) „töricht sein, handeln" (I Sam 13,13; II Sam 24,10; Koh 2,19 u.ö.); "wil „töricht, d u m m " (Hos 9,7; 13 mal in Prov 1,7-27,22 u.a.); besonders nbl „ein Tor sein" (Prov 30,32; I Sam 25,25; II Sam 3,33; Ps 14,1; 74,22) und n'bäläh „Torheit", eine in konkreten Taten sich auswirkende geistige Haltung, wodurch die Tabusphäre mit tödlichen Folgen für den Täter verletzt wird (Gen 34,7; Dtn 22,21; Jos 7,15; Jdc 19,23f.; 20,6; I Sam 25; II Sam 13,12; Jer 29,23). Txbxl verweist auf die schändliche Tat (Lev 18,23; 20,12), zimmäh auf den bösen Plan (Jes 32,7; Prov 24,9), und tö'ebäh auf abgöttischen Greuel (Lev 18,26-30; Dtn 13,15; Ez 16,43.58 u.ö.). Dagegen weisen bws/bosxt auf den Zustand der Schande (I Sam 20,30; Jer 2,26) oder das Gefühl der Scham (Jer 2,26; Ps 14,16 u.ö.), ebenso haggä' (Jes 19,17) und qtqälön (Hab 2,16; von Mist, Kot). Folgende Begriffe verweisen besonders auf unheilvolle Bereiche: 'äwxti „Unheilismacht)", ein häufig begegnender Schlüsselbegriff, weist in verschiedenen Ausrichtungen auf schwerwiegende, unheilsträchtige Übertretungen hin (Hi 11,14; Ps 66,18; Prov 6,12), auf Trug, Nichtiges (Jes 41,29; Ps 36,4) und abgöttischen Kult (Jes 1,13; Hos 10,8). B'liyya'al bezeichnet den Bereich des Nichtigen, Nutz- und Heillosen und den Charakter betreffender Personen (Dtn 13,14; Jdc 19,22 u.ö.); vergleichbare Bedeutungsspektren haben riq/req „leer, umsonst, vergeblich sein" (Ps 2,1; 4,3; 73,13; Dtn 32,47; Prov 12,11); säw' „wertlos sein", jedoch mit besonderem Blick auf trügerische und unheilsbeladene Vorgänge wie etwa Zauber (Jes 5,18; Ez 13,6.9.23; Ps 24,4; Hos 10,4 u.ö.). Vergehen speziell kultischer Art werden durch folgende Begriffe verurteilt: ksp „Zauberei treiben" (Dtn 18,10; II Reg 9,22); siqqüs „Greuel, Scheusal", vornehmlich bezogen auf heidnische Symbole (Dtn 29,16; II Reg 23,24; Jes 66,3 u.ö.); speziell miplassxt „Schandbild", z.B. von Astarte, Baal, Kamos, Milkom, Moloch (I Reg 15,13; II Chr 15,16). Auf Fremdgötterei beziehen sich partiell die Begriffe hälal „entweihen" (Ex 20,25; 31,14; Lev 18,21; 19,8; Am 2,7; Ez 7,24; 13,19); http (und Derivate) „entweiht" (Jes 24,5), „gottentfremdet sein" (Jes 10,6; 32,6 u.ö.) und besonders die zahlreichen Aspekte des durch tm' als unrein Benannten (-»Reinheit). Auch 'wh/'äwon „ungerade, verkehrt handeln/Verkehrung" kann auf konkrete Vergehen bezogen sein (Jer 11,10 u.ö.), bedeutet jedoch vor allem Schuld (Hos 7,1; 13,12

Sünde II

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u.ö.) und schließlich auch Strafe (bes. Ez 21,30.34; 35,5; 44,10.12 u.ö.). Dieser Begriff zeigt am klarsten, besonders bei Hosea, die Vorstellung vom dynamisch einheitlichen Verlauf von schuldbeladener Verwicklung, die mit einem Vergehen beginnt und als unentrinnbares Geschick bis zu ihrem Ende verläuft. Im Unterschied zum Verlauf der Schuld weist rs' (und Derivate) „schuldig werden, sein, als schuldig befunden sein" auf den schuldigen Status oder den Zustand von Personen (-»Recht). Von lebensgefährlicher Verschuldung spricht hwb (I Sam 22,22; Dan 1,10). Den Zustand von Verkehrtheit bringen zum Ausdruck 'qs/'iqqes „verdrehen/verdreht, falsch" (Dtn 32,5; II Sam 22,27; Ps 18,27; Prov 8,8; 22,5); läzüt „Verkehrtheit" (Prov 4,24, hapaxlegomenon) und das von t'h hi. „irreführen" abgeleitete Nomen tö'äh „Verkehrtes" (Jes 32,6). Der Begriff 'äsäm „Schuld(verpflichtung)" (-•Rechtfertigung, -»Stellvertretung, -»Sühne) bedarf gesonderter Wahrnehmung, weil er auf die aus einer Schuld sich ergebende Verpflichtung hinweist (Lev 5 , 1 7 - 2 3 ; Hos 4,15; 10,2; Jer 50,7; Ps 68,22 u.ö.). Er bedeutet deshalb auch Schuldverpflichtungsopfer (Lev 5 , 6 - 2 5 u.ö.). Schließlich ist r"Ira' „schlecht (sein)" (und Derivate) der säkularste Begriff für Sünde, der gerade deshalb die gesamte Weite und Tiefe aller ihrer Erscheinungen umfaßt und - im Gegensatz zu tob „gut sein" - zentral disqualifiziert. Seine radikale Bedeutung ist in Am 5,14 f. paradigmatisch ausgedrückt. Dieses in einem einzigen Begriff konzentrierte Verständnis von Sünde übertrifft sogar das in Bündelungen von drei oder mehr Begriffen auf Totalität zielende Verständnis (vgl. Ex 34,7.9; Lev 16,16.21; Num 14,18; Jes 1,4; 59,11 ff.; Jer 14,20; Ps 3 2 , 1 - 5 ; 51,1; Prov 6 , 1 2 - 1 4 ; Dan 9,5 u.ö.). 2.1.1.2. Zu den bedingten Begriffen für Sünde gehören solche, durch die Verhaltensweisen teilweise neutral beschrieben oder berichtet oder sogar positiv bewertet, teilweise aber auch verurteilt werden. Hierzu gehören: 'bd „sich verlaufen, zugrunde gehen"; 'bh (nicht) „wollen"; 'wh (das Böse) „begehren"; 'änüs „unheilvoll"; z'tn „verwünschen, schelten, zürnen"; 'np „zürnen"; hrh „zornig werden"; Yr „verfluchen"; ksl hi. „zum Straucheln bringen"; ttt's „verabscheuen"; m'n „sich weigern"; mah'säbäh (böser) „Gedanke"; ti's, „verwerfen, verschmähen"; 'br „übertreten" (z. B. die Gebote); 'zb „verlassen" (z. B. Jahwe); qn' „eifersüchtig sein, machen"; swt „abweichen, sich verstrikken"; sn' „hassen" u.a. 2.1.2. Die zweite für das Verständnis von Sünde wichtige Gruppe besteht aus Begriffen, die nicht stillschweigend vorausgesetzte Handlungen als Vergehen verurteilen, sondern umgekehrt als Vergehen vorausgesetzte Handlungen konkret oder ihrer Typik nach benennen. Ihre Liste besteht aus allen im Alten Testament diskreditierten Verhaltensweisen (vgl. vor allem die Zusammenstellung der als verboten oder sittenlos geltenden Handlungen in Ex 2 0 , 1 - 1 7 par. Dtn 5 , 6 - 2 1 ; Ex 23,1 ff.; 34,11 ff.; Lev 18,6ff.; 19; Dtn 2 8 , 1 5 - 2 6 ; Jer 5 , 7 - 9 ; Hos 4,2; Ps 15; 24 usw.; -»Strafe).

2.2. Zum Wortfeld Die Bedeutung des Wortfeldes ist von derjenigen der einzelnen Begriffe und ihrer Gruppen unterschieden. Viele Begriffe weisen auf Ähnliches, ebensoviele auf Verschiedenes hin. Sofern sie disqualifizieren, sind alle formaler Art für speziell nicht beschriebene Handlungen. Sofern sie disqualifizierte Handlungen bezeichnen, verweisen sie entweder auf Handlungstypen oder auf spezielle Handlungsvollzüge. Weder ihr formaler noch ihr typologisierender Charakter hat etwas mit Abstraktion zu tun. Beide Eigenschaften verweisen auf die typische, jeder konkreten Handlung innewohnende Anti-Qualität. Die Begriffe haben nicht nur je einzeln ihre Bedeutungsbreite, sie überlagern und ergänzen einander unter verschiedenen Perspektiven. Sie funktionieren im Rahmen eines systemischen Vorverständnisses, zu dessen Gesamtheit sie gehören und aufgrund dessen ihr jeweiliger Sinn durch Vergleichung unterscheidbar ist. Die die Texte bestimmenden Konzeptionen zeigen schließlich, daß „Sünde", einschließlich ihrer durch das Wortfeld an-

368

Sünde II

gedeuteten unterschiedlichen Gewichte, im Gegensatz zu allem Guten verstanden ist und nicht isoliert davon. 3. Hamartiologische

Perspektiven

in den

Texten

Hamartiologisch geht es um die Interpretation des Verhältnisses der Aspekte von Sünde zueinander. Dabei ist der Satz, d a ß alle Verfehlungen Sünde gegen Gott sind, wahr, weil Gott mit allem zu tun hat. Er erklärt aber nicht, warum dies im Alten Testament so ausgesagt und vorausgesetzt ist. Eine umfassende Interpretation in dieser Hinsicht fehlt bisher. Das Folgende ist an für typische Gesichtspunkte wichtigen Texten orientiert. 3.1. Allgemeinmenschliche

Perspektiven

3.1.1. Der Satz „es gibt keinen Menschen, der sich nicht verfehlt" (I Reg 8,46) drückt eine grundsätzliche Einsicht aus, die für das Jahwevolk Israel genauso wie für die Existenz aller Menschen gilt. Das genannte Urteil wird in vielen Varianten formuliert (Gen 8,21; Hi 4,17-19; 14,4; 15,4; Ps 14,2f. par. 53,2f.; Prov 20,9; Koh 7,20; Jes 9,7; Jer 5 , 1 - 5 u.ö.), und die Ausnahmen können nur bestätigend wirken (Gen 5,24; 6,9; Hi 1,1; 2,22; 3,10; Jes 52,13-53,12). Die Einsicht ist zuerst in der gerafften Darstellung des Verlaufs der sog. -»Urgeschichte der Menschheit in Gen 3 - 1 1 (J und P) hochgradig systematisiert. 3.1.2. Die Urgeschichte versteht sich als die vor der Erwählung Israels beginnende und für immer neben ihr und durch sie hindurch verlaufende typische Geschichte der Menschheit. Beide Geschichten sind angesichts der in der Schöpfung angelegten guten Grundordnung verstanden. Dabei ist die Erwählungsgeschichte Israels und ihr Ziel im Blick auf die Geschichte der Menschheit begründet, deren sündige Natur in der Urgeschichte paradigmatisch dargestellt ist. Die Urgeschichte ist als die göttliche Bemühung konzipiert, die Geschichte der Menschheit vor ihrer Selbstzerstörung zu bewahren (vgl. von Rad, Theologie I, 168; Zimmerli, Grundriß 149; Westermann, Genesis, bes. 798ff.). Sofern sie die durch die Menschen gestaltete Geschichte darstellt, ist sie das Paradigma für die mit der Menschheit wachsende Sünde. Ihre Erzählungen verweisen darauf, daß jeder Typ von Verfehlung immer geschieht und im Fortgang der Menschheitsgeschichte lediglich durch zusätzliche Typen vermehrt wird. Die darin angedeuteten Typen begangener Sünde verdienen Beachtung. An zehn Stellen wird von Sünde gesprochen: Gen 3 , 1 - 7 ; 4 , 1 - 8 ; 4,23f.; 6 , 1 4.5.11-13; 8,21a; 9,6a.20-22; 11,1-4, sechsmal vor und viermal nach der Flut. Die Flut markiert die Ersetzung der adamitischen durch die noachitische Menschheitsgeschichte, in der jedoch die vorherigen Arten von Sünde fortbestehen. Begrifflich und sachlich erscheint „Sünde" unter verschiedenen Aspekten: (a) als verschiedenartige Übertretung der geschöpflichen Begrenztheit des Menschen gegenüber Gott (2,17; 3 , 1 - 7 ; 6 , 1 - 4 ; 11,1-4); (b) als Gewaltausübung - speziell als Brudermord (Gen 4 , 1 - 8 ) , als anstelle von Blutrache verübter vielfacher, prahlend berichteter Mord (4,23f.), als viele Arten von Taten umfassende, von allem Fleisch begangene und die Erde ruinierende Gewalt (6,11 - 1 3 ) und nach der Flut als Verbot der Ermordung des Menschen prinzipiell (9,6), (c) als Verletzung des Tabus elterlicher Nacktheit (9,20-25; vgl. 19,30-38; auch Lev 18,6-18) und (d) als Ursache von alledem die Größe der Bosheit der Menschen auf Erden (Gen 6,5) von Jugend auf (8,21). Von dieser Akkumulation der Sünde ist die Menschheit insgesamt befallen. Die Urgeschichte spiegelt jedoch noch weitere, auch sonst zu beobachtende Unterscheidungen wider. Eine davon bezieht sich auf das Verhältnis zwischen dem Psychischen, dem Wort und der Tat, zwischen Sehen und Empfinden (Gen 3,6; 4,5b; 6,2), Sehen und Sagen (Gen 9,22); im Fortschritt des Textes von Gen 6,5 (J) zu 6 , 1 1 - 1 3 (P) drückt sich die Folge vom bösen Sinnen zum verderblichen Handeln aus. Taten werden

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durch Lüge geleugnet oder entstellt (Gen 3,10; 4,9). In der Urgeschichte gibt es keinen Text, der nur von der Geisteshaltung ohne ihre Ausführung in Wort oder Tat spräche. Psychische Verfassung und ihre Äußerungen in Worten und Taten sind jedoch von verschiedenem Gewicht. Kain wird gewarnt, verflucht jedoch erst nach seinem Mord (Gen 4 , 6 - 1 2 ) . Die Taten wiegen schwerer als die Gesinnung, aus der sie entstehen. Für die Bestrafung einer bewußt begangenen sündigen Tat ist das Bewußte und Gewollte ein erschwerender Grund. Aber auch ohne ihn wird die Tat verfolgt, nicht jedoch das Motiv allein. 3.1.3. Die in der Urgeschichte differenzierten Gewichtungen sind im ganzen Alten Testament erkennbar und für die jeweilige Akzentuierung der psychologischen, wortund tatorientierten Begriffe für Sünde bedeutsam. Die oft ausgesprochene Einsicht, daß die bösen Taten den bösen Aktivitäten der Psyche entspringen, die selbst böse ist und erneuert werden muß (Ps 51,7.12; Prov 20,9; 26,23; Hos 2 , 1 4 - 2 3 ; Jer 3,17; 7,24; 11,8; 18,12; 3 1 , 3 1 - 3 4 ; Ez 11,19), bleibt davon genauso unberührt wie die überwältigende Liste von verwerflichen Taten. Dabei sind die Aussagen über die Sünde nicht ontologisch, sondern empirisch bedingt. Dies gilt auch für den Zusammenhang von Tat und Folge, sei es als Schuld-, Tat- oder Psycho-Sphäre. In keiner Form ist sie mehr als dies: Folge der bis in ihre psychischen Wurzeln zu verantwortenden menschlichen Tat. Die Grade der Schwere von Sünde sind weder durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung noch durch jenes von Geist und Akt bestimmt, sondern durch die Intensität und Ausweitung der Verheerung unter den Menschen und auf der Erde. Diesem Maßstab sind auch die Bedeutungen der Begriffe für Sünde zugeordnet. Das Alte Testament spricht deshalb auch von den unterschiedlichen Gewichten der Taten selbst. Dies spiegelt sich in den Gesetzessammlungen wider, schon aus Gründen differenzierender Strafzumessung im Gerichtswesen. Diebstahl ist kein Mord; auch Gewalttat besteht nicht nur aus Morden. Aber die Summe aller Arten von Gewalttat wiegt schwerer als der Mord an einem einzelnen. Darüber hinaus gibt es Vergehen und ihre Folgen jenseits sozialer Kontrolle, was besonders in den weisheitlichen Texten bedacht wird (z.B. in Prov 22,1; 16,8; -»Weisheit). Sündiges Verhalten ist jedoch von der Schuld-Folge nicht zu trennen. Diese Folge kann so sehr zur menschlichen Natur werden, daß sie selbst fortwährend böse Taten gebiert (vgl. Hos 5,5.13; 6,4; 7 u.ö.). Allerdings ist das Endergebnis von verwerflichem Verhalten, auf das besonders die Proverbien viel mehr blicken als auf dessen Verlauf, durchaus nicht ausschließlich als konsequente Folge des Verhaltens gesehen. Schon in vielen einzelnen Proverbien erscheint Unglück weder als die direkte Folge noch als identische Form eines Frevels. Texte wie Gen 18,22-33; 3 7 - 5 0 ; Ex 2 0 , 5 - 6 ; 3 4 , 6 - 7 ; Num 14,18.26-35; 3 2 , 6 - 1 5 ; Jos 5,6; Dtn 24,16; Jer 31,29f.; Ez 1 8 , 2 - 4 oder z.B. das Jonaund das Hiobbuch belegen, daß der Gedanke vom Zusammenhang von Tat und der ihr entsprechenden Folge zwar auch, aber nicht ausschließlich gilt (-•Vergebung der Sünden). Dabei sind viele weisheitliche Aussagen einseitig. Nicht jeder fällt in die von ihm selbst gegrabene Grube, wie Ps 7,16; Prov 26,27; Koh 10,8 behaupten. Daß Hiobs Freunde sein Unheil von seiner Schuld ableiten, trifft in diesem Fall nicht zu, was jedoch nicht bedeutet, daß Unheil nicht auch von Schuld kommt. Daß Hiob Schuld für sich ablehnt, hat sein Recht; es ist aber nicht grundsätzlich wahr, wenn er sagt: „zum Gespött wird der Gerechte, der Fromme" und „um die Zelte der Räuber steht es wohl, und sicher leben, die Gott erzürnen" (Hi 12,4b.6). Die in Ps 37,25 und Hi 2 1 , 7 - 2 6 ausgedrückten Erfahrungen schließen einander nicht aus. Sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit nebeneinander möglich. Es ist auch wahr, daß die menschliche Sterblichkeit nicht auf dem Unterschied von Guten und Bösen beruht (Koh 3,20; 9,2); dies kann aber kaum bedeuten, daß der Unterschied im Blick auf die menschliche Lebensspanne „nichtig" ist. Die Skepsis ist in Gefahr, ihre jeweiligen Erfahrungen durch Vereinseitigung im Sinne der Abstraktion

370

Sünde II

von ihrem empirischen G r u n d zu dogmatisieren. Die Beobachtungen beziehen sich auf das, was vor Augen ist, ohne genügend, wenn ü b e r h a u p t , die innere Wirklichkeit zu beachten, in der die sündige Person infolge ihrer Vergehen pervertiert lebt und stirbt. Trotz alledem ist a m wichtigsten der auch in der Skepsis nirgendwo geleugnete Sachverhalt, d a ß Sünde stets Sünde ist und die Sünder stets als Sünder bezeichnet werden. Diese Disqualifizierung wird niemals relativiert oder irrelevant. Der G r u n d für sie besteht nicht darin, d a ß Sünde im Z u s a m m e n h a n g mit ihren Folgen besteht, sondern in den Verhaltensweisen, die in der Gemeinschaft als verwerflich gelten. Die Gemeinschaft bestimmt, was gut oder schlecht und „ s ü n d i g " ist. 3.2. Sünde und

Israel

Israels Sünde besteht in der Verfehlung seiner Erwählung aus allen Völkern durch den einen Gott zum gerechten und heiligen Leben in dem ihm zum alleinigen Besitzrecht verheißenen Land. M i t Ausnahme der Bücher H i o b , Proverbien, Hoheslied, Kohelet und auch Esther durchzieht das Bewußtsein dieser Erwählung, aber auch seiner Verfehlung das Alte Testament in allen seinen Schichten. 3.2.1. Die Geschichtswerke verweisen auf diese Verfehlung besonders in ihren Erzählungen vom M u r r e n des Volkes in der Wüste (Ex 1 5 , 2 2 - 2 7 ; 1 6 , 1 - 3 5 ; 1 7 , 1 - 7 ; N u m 1 1 , 1 - 3 . 4 - 3 4 ; 13f.; 16f.; 2 0 , 1 - 1 3 ; 2 1 , 4 - 9 ; D t n 1 , 2 0 - 4 6 ; 9 , 7 - 1 0 , 1 1 ; vgl. Ps 78; 106; Ez 20; Neh 9; vgl. Coats; Olson). Die Sinaiüberlieferung (Ex 1 9 - N u m 10,10) und das Deuteronomium enthalten die Bedingungen, von deren Erfüllung oder Verfehlung die Eroberung des Landes und der Segen seines ewigen Besitzes oder der Fluch seines Verlustes abhängen (Ex 2 3 , 2 0 - 33; 3 4 , 1 0 - 2 6 ; Lev 2 6 , 1 - 1 3 . 1 4 - 3 9 u.ö.). Was Israels Sünde gegen seine Erwählung ist, ist in diesen Bedingungen enthalten und an den Warnungen für den Fall der Nichterfüllung ablesbar. Je nach den Quellen sind verschiedene Aspekte betont. Insgesamt erstrecken sie sich einerseits auf Israels Verhältnis zu den Kanaanäern und andererseits auf Recht und Ethos in Israel selbst, besonders auf die Ausschließlichkeit der Jahweverehrung und die Reinheit des Kultus. Alle Aspekte sind im Konzept von dem einen Volk des einen Gottes in dem einen Land vereinigt. Was Israels Leben im Land mit Sünde zu tun hat, ist nach der Priestererzählung vor allem der Sinaioffenbarung zu entnehmen, nach d e m Deuteronomium dem Testament des sterbenden Mose. Das D e u t e r o n o m i u m will der Gefahr der Versündigung durch E r m a h n u n g und Ermutigung begegnen, G o t t von ganzem Herzen zu lieben (Dtn 6,4f.; vgl. 7,9; 10,12; 11,1.13; 13,3; 19,9; 30,6). Zugleich gilt die ausdrückliche A n d r o h u n g des Fluches im Falle der Verletzung (Dtn 2 8 , 1 5 - 6 8 ; 3 0 , 1 7 - 1 8 ) , allerdings unter Vorordnung des Segens im Falle der Erfüllung (Dtn 2 8 , 1 - 1 4 ; 30,16.19f.). N a c h dem deuteronomistischen Geschichtswerk wird in der Rückschau das Ziel der Eroberung des Landes und seiner Verteilung unter Josua erfüllt, von der Richterzeit an aber zunehmend durch eine im Lande sich entwickelnde Geschichte des Abfalls von J a h w e , vor allem durch Synkretisierung der Jahwereligion und Polytheismus, verfehlt (vgl. II Reg 17; 24). 3.2.2. Soweit die alttestamentlichen Texte auf Israels eigenes Verhalten in seiner Geschichte zurückblicken, stellen sie dieses als eine Geschichte des sündigen Versagens gegenüber seiner Erwählung dar. Sie tun dies als M a h n u n g und Warnung, u m Israel zur Abkehr von dieser Vergangenheit zu bewegen und - zunehmend - zur Erfüllung der Tora anzuhalten. Dies gilt f ü r die Geschichtswerke, f ü r gewisse Psalmen, f ü r die Prophetenbücher der nachexilischen Zeit und auch f ü r die Redaktionen der Botschaft der vorexilischen Propheten nach dem Exil. In den Texten von Arnos, Jesaja, Hosea und Micha im 8. u n d von Jeremia, H a b a k u k und Ezechiel im ausgehenden 7. J h . spielt der Rückblick auf Israels sündige Vergangenheit jedoch eine andere Rolle. Er dient nicht zur Warnung vor ihrer Fortsetzung, sondern zur Begründung der Ankündigung ihres Z u s a m m e n b r u c h s in nationalen Katastrophen. Diese Ankündigungen finden nicht trotz der Erwählung Israels, die f ü r immer gültig bleibt, sondern ihretwegen statt, weil

Sünde II

371

die Erwählung die konkrete geschichtliche Erfüllung fordert, die nicht endlos verzögert werden darf. Diese Propheten aktualisieren das in den Mahnungen und Warnungen Angedrohte. So ist M i c h a vom Geist Jahwes erfüllt, „ J a k o b sein Verbrechen und Israel seine Verfehlung zu verkünden" (Mi 3,8; vgl. Hos 9,7f.). Israels Sünde besteht aus zwei Grundverfehlungen: seinem Abfall von J a h w e , begleitet von der Hinwendung zu Vielgötterei und zu politisch bedingtem Kalkül, und der Ungerechtigkeit in seiner Gesellschaft. Beides geht Hand in Hand. Dabei ist der Zusammenhang von innerer Verfassung und konkreten Taten überall erkennbar, aber auch weithin das besondere Gewicht der sündigen Taten selbst. Die angeklagten Zustände werden in vielen Variationen drastisch und schockierend genannt (vgl. Am 2 , 6 - 8 . 1 2 ; 3,9b.l0; 4,1.4f.; 5,4 - 6 . 7 . 1 0 - 1 2 . 2 1 - 2 5 . 2 6 ; 6 , 1 . 3 . 5 f . l 2 b - 1 3 ; 7,13; 8 , 4 - 6 . 1 4 ; 9,8.9f.; Jes l , 2 f . 5 - 9 . 1 0 - 1 7 . 2 1 - 2 7 ; 2,6f.; 3,14f.; 5 , 8 - 2 4 ; 7 , 1 - 9 . 1 0 - 1 6 ; 8,5f.; 9,16; 10,1 f.; 28,16; 29,13; 30,15; Hos 2,4.7.10.13; 4,1.9.10.12f.l5.17; 5,1.7; 6 , 1 - 4 . 7 . 1 0 ; 7,10; 8,5f. 11.13.14; 9,10b.l5; 10,2.5f.8.12; 11,2; 12,2.12; 13,2.6; Mi 1,5; 2 , l f . 8 f . ; 3 , 1 - 3 . 5 . 9 - 1 1 ; 6 , 9 - 1 2 ; 7 , 2 - 4 a ; Jer 1,16; 2 , 5 8 . 1 0 - 1 2 . 1 3 . 1 8 . 2 1 . 2 2 - 2 8 . 2 9 - 3 2 . 3 4 - 3 6 ; 3 , 1 - 1 0 ; 5 , l - 5 . 6 - 8 . 1 2 f . 2 0 - 28.30; 6 , 1 0 - 1 5 ; 7 , 1 - 5 . 1 6 19.24-28.30f.; 8 , 4 - 7 . 8 f . l 2 ; 9 , 3 - 6 . 8 . 1 3 f . ; 10,lff.; 1 1 , 1 - 3 . 8 - 1 0 . 1 3 . 1 5 . 1 7 ; 12,10; 13,10.23.25 - 27; 14,10.14; 16,11 f.; 1 7 , l f . l 5 ; 2 2 , 9 . 1 3 - 1 7 ; 2 3 , l f f . 9 - 4 0 ; 25,7; 26; 32,23; 44,10.23; Ez 3,7.9b; 5,9.11; 6,3f.6.9.11.13; 7 , 2 - 6 . 8 f . 16.19f.23.27; 8 , 6 - 1 7 ; 9,9f.; 11,6.12.21; 12,2f.9.25; 13,2-6.17ff.; 14.3ff.23; 15,8; 16,1-5.8.59; 17; 18; 2 0 , 1 - 9 . 1 0 - 2 6 . 2 7 - 29; 21,30.34; 2 2 , 2 - 9 . 1 0 - 1 2 . 2 5 - 27.29f.; 23,3.5 ff.22ff.; 3 4 , 1 - 9 ; 35,5; -»Propheten/Prophetie und die Artikel zu den einzelnen Propheten und Prophetenbüchern).

3.3. Gott/Jahwe,

die Nationen

und Israel

Israels Verfehlung seiner Erwählung in seiner bis zum Exil reichenden Geschichte ist der Grund für Jahwes Zurücknahme dieser Geschichte durch die Großmächte der Zeit. Zwar bleibt nach dem Alten Testament Israel für immer Jahwes erwähltes Volk, aber diese Erwählung ist nie abstrakt. Sie bleibt immer eine Erwählung zu geschichtlicher Existenz inmitten der Geschichte der Völker. Israels Erwählung aus den Völkern setzt voraus, daß der Gott dieser Erwählung grundsätzlich als der universale G o t t aller Völker und ihrer je eigenen Geschichte verstanden wird. J a h w e ist nicht der universalisierte Völkergott des Volksgottes Israels, er ist als der universale Gott der Völker auch der Gott des Volkes Israel. Nach alttestamentlichem Verständnis vergehen sich die Völker in ihrer Geschichte zu allen Zeiten gegen die Herrschaft des universalen Gottes J a h w e und seine Gerechtigkeit. Deshalb ist ihre Geschichtlichkeit nicht von Dauer. Der Untergang der Völker und die sich daraus ergebende Periodisierung der Geschichte sind Resultat von Gottes Wirken im Sinne seiner universalen Gerechtigkeit. Diese Sicht gilt für die Zeit vor, während und nach dem Exil (vgl. u.a. Am 1 f.; Jes 7 , 7 - 9 ; 1 0 , 5 - 1 9 . 2 3 - 2 7 ; 1 3 - 2 3 ; 2 4 - 2 7 ; 34; Jer 4 6 - 5 1 ; Ez 25 - 3 2 ; 35; 3 8 f . ; Ps 82). Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Versagen Israels gegen seine Erwählung und dem durch andere Nationen wegen dieses Versagens vollzogenen Gottesgericht. Allerdings führt die kultische und soziale Verfehlung innerhalb Israels nicht notwendig die militärische Invasion ausländischer Mächte zum Zweck der Herstellung von Ordnung und Recht in Israel herbei. Der Zusammenhang beruht auf dem Prinzip der Intervention der universalen Gerechtigkeit im geschichtlichen Prozeß angesichts immer wieder auftretender Perioden von Ungerechtigkeit - und dies unverbrüchlich verbürgt durch den universalen G o t t . Dies gilt auch und besonders für die Geschichte von Israels Erwählung. Literatur Evode Beaucamp, Art. Péché. I. Dans l'Ancien Testament: DBS 7 (1966) 4 0 7 - 4 7 1 . - Ders., Art. Le Problème du Péché dans la Bible: LTP 25 (1967) 8 8 - 1 1 4 . - George W. Coats, Rebellion in the Wilderness, Abingdon/Nashville, Tenn. 1968. - Robin C. Cover, Art. Sin, Sinners. O T : AncB Dictionary 6 (1992) 3 1 - 4 0 (Lit.). - Philippe Delhaye, Théol. du Péché, Tournai 1960. - S i m o n J . DeVries, Art. Sin, Sinners: IDB 4 (1962) 3 6 1 - 3 7 6 (Lit.). - Mary Douglas, In the Wilderness. The Doctrine of Defilement in the Book of Numbers, 1993 (JSOT.S 158). - John E. Hartley, Leviticus, 1992 (Word Biblical Comm.). - Martin A. Klopfenstein, Die Lüge nach dem AT, Zürich/

372

S ü n d e III

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III. J u d e n t u m 1. Begriff 2. Einteilung: Sünden gegen Gott und Sünden gegen den Nebenmenschen oder sich selbst 3. Klassifizierung: Leichte und schwere Sünden, Todsünden 4. Der Ursprung der Sünde und das Problem der Erbsünde 5. Sünde als einzelne Tat und ihre Folgen für die Gemeinschaft (Literatur S. 375) 1.

Begriff

T r o t z d e r V i e l z a h l a n Ä u ß e r u n g e n z u m T h e m a S ü n d e in der n a c h b i b l i s c h e n , s o w o h l k l a s s i s c h e n r a b b i n i s c h e n als a u c h s p ä t e r e n m i t t e l a l t e r l i c h e n und n e u z e i t l i c h e n , t h e o l o g i s c h e n und r e l i g i o n s p h i l o s o p h i s c h e n L i t e r a t u r fehlt es a n e i n e r a u s g e a r b e i t e t e n L e h r e und e b e n s o a n e i n e r e i g e n t l i c h e n a l l g e m e i n e n D e f i n i t i o n des P h ä n o m e n s Sünde.

Nach

r a b b i n i s c h e r A n s i c h t w a r und ist d a s T h e m a S ü n d e „ a s e c o n d a r y i s s u e " (Steinsaltz) u n d w i r d d a h e r nie für sich, s o n d e r n stets im Z u s a m m e n h a n g m i t d e m g ö t t l i c h e n G e b o t (miswäh)

g e s e h e n und e r ö r t e r t , als dessen K e h r s e i t e die S ü n d e b e t r a c h t e t w i r d . V o n

d a h e r v e r s t e h t sich a u c h d e r r a b b i n i s c h e B e g r i f f (und terminus 'aberäh,

d a s ist d a s „ U b e r t r e t e n e i n e r miswäh",

technicus)

für S ü n d e :

d e r e b e n s o für ein V e r g e h e n g e b r a u c h t

w i r d , d a s e i n e n - im j u r i s t i s c h e n S i n n e - S t r a f t a t b e s t a n d erfüllt ( - » S t r a f e III). D e f i n i t i o n und V e r s t ä n d n i s v o n S ü n d e sind a b h ä n g i g v o n D e f i n i t i o n und V e r s t ä n d n i s d e r miswöt.

S o w o h l t h e o l o g i s c h - e t h i s c h als a u c h h a l a c h i s c h w i r d S ü n d e als N e g i e r u n g

v o n miswöt

a u f g e f a ß t . Miswöt

m e i n t d a b e i : (1) G e b o t e u n d V e r b o t e , die d e s h a l b zu

b e f o l g e n sind, w e i l sie G e b o t e und V e r b o t e G o t t e s sind; (2) den v o n G o t t g e o f f e n b a r t e n „ r e c h t e n , g e r a d e n , guten W e g " , a l s o seine A n l e i t u n g zu e i n e m richtigen L e b e n und (3) den v o m M e n s c h e n zu leistenden B e i t r a g zur V e r v o l l k o m m n u n g d e r u n v o l l k o m m e n e n W e l t b z w . S c h ö p f u n g ( t i q q ü n ) . S o g e s e h e n , ist t h e o l o g i s c h - e t h i s c h S ü n d e im e r s t e n F a l l ein A k t des U n g e h o r s a m s g e g e n ü b e r G o t t , i m z w e i t e n F a l l b e d e u t e t sie A b k e h r v o m r e c h t e n W e g , u n d i m dritten F a l l d a s U n t e r l a s s e n des g e f o r d e r t e n B e i t r a g e s zur V e r v o l l k o m m n u n g der Welt bzw. Schöpfung.

Sünde III

373

Entsprechend der halachischen Zweiteilung der miswöt in solche, die etwas zu tun (miswöt 'aseh), und solche, die etwas nicht zu tun gebieten (miswöt lö' ta'aseh), kann Sünde in zweierlei bestehen: im ersten Fall in einem Nichtstun, nämlich im Unterlassen des Gebotenen, im zweiten Falle hingegen in dessen Gegenteil, nämlich im Tun des Verbotenen (mYom VIII,8; im englischen Sprachraum üblich ist dafür das „Wortspiel" sins of omission - sins of commission), wobei in der rabbinischen Literatur das Tun des Verbotenen gegenüber dem Unterlassen des Gebotenen als das Schwerwiegendere erachtet wird (bYom 85b-86a). Das Unterlassen des Gebotenen gilt jedoch dann als das gegenüber dem Tun des Verbotenen Schwerwiegendere, wenn die Erfüllung des Gebotes an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden ist, also nicht beliebig erfolgen kann (bBer 26a). 2. Einteilung: Sünden gegen Gott und Sünden gegen den Nebenmenschen selbst

oder sich

Der auch dem Dekalog zugrunde liegenden Zweiteilung der miswot entsprechend in solche, die das Verhältnis MCnsch - Gott, und solche, die das Verhältnis Mensch Mensch betreffen, werden auch bei den Sünden ('aberöt) (1) Sünden gegen Gott und (2) Sünden gegen Menschen (mYom VIII,9), die zum einen Sünden gegen Nebenmenschen und zum anderen Sünden gegen sich selbst umfassen, voneinander unterschieden. Da indessen alle miswot Gottes Gebote sind, stellt ihre Übertretung immer zugleich auch ein Vergehen gegen Gott als den Gebotgeber, eine „Entweihung des göttlichen Namens" dar und bezeugt Entfremdung und Entfernung von Gott (vgl. Bachya ben Asher s.v. gezeläh und hillül ha-Sem; Rubinstein). Kriterium der genannten Zweiteilung der Sünden ist deren Vergebbarkeit (yYom VIII,9/45c): Da Sünde ausschließlich eine begangene oder unterlassene Tat ist, kann sie auch immer nur von dem/der vergeben werden, dem/der gegenüber sie begangen oder unterlassen worden ist (-»Vergebung der Sünden). 3. Klassifizierung: Leichte und schwere Sünden,

Todsünden

Von dieser Einteilung der Sünden zu unterscheiden ist ihre Klassifizierung zum einen in Analogie zu den Straftaten nach „unabsichtlichen" und „vorsätzlichen Sünden" (bBM 33b) und zum anderen in Analogie zu den miswöt nach ihrer Schwere (Steckelmacher). Da einerseits alle miswöt grundsätzlich gleichgestellt sind, andererseits aber dennoch zwischen „leichten" und „schweren" unterschieden wird (TanB 'Eqev 1/8b), hat auch die Klassifizierung ihrer Übertretungen nach leichten und schweren eher formalen Charakter. Wie die Schwere einer miswäh, so hängt auch die Schwere ihrer Übertretung zum einen davon ab, wie oft sie in der Tora erwähnt und von daher als mehr oder weniger gewichtig angesehen wird, und zum anderen davon, welche Strafe für ihre Übertretung bestimmt ist (bSan 74a), wobei über die sachgerechte Klassifizierung durchaus Meinungsverschiedenheit besteht. Die Rabbinen tendierten im allgemeinen eher dazu, auch leichte Sünden als nur vermeintlich leichte, also letztlich auch als schwere Sünden einzustufen (vgl. Sifra be-Har 6; bAr 15b; bBM 58b). Trotz prinzipieller Gleichgewichtigkeit aller Sünden begegnen in der antiken rabbinischen und ebenso in der mittelalterlichen und neuzeitlichen jüdischen Literatur immer wieder auch Listen oder Kataloge von drei, manchmal auch sieben Haupt-Sünden (mAv IV,28; V,8-9.23; bSan 74a; Bloomfield, passim), die - aus welchen Gründen auch immer - als besonders schwere Sünde hervorgehoben werden. Ihr Vorbild haben diese Listen wohl in Prov 6,16-19 (Schimmel 23 -25). 4. Der Ursprung der Sünde und das Problem der Erbsünde Ihren Ursprung hat die Sünde im „bösen Trieb", der neben dem „guten Trieb" im Innern des Menschen wohnt und ihm schöpfungsmäßig mitgegeben ist (bSuk 52b; Bachya ben Asher s.v. zenüt ha-leb we-ha-'ayin\ Urbach 471-483). Obwohl dieser „böse Trieb" zuweilen mit dem Satan oder dem Todesengel identifiziert werden konnte (bBB 16a),

374

Sünde III

ist ihm doch nie Selbständigkeit und Eigenmächtigkeit zuerkannt worden. Weil der „böse Trieb" zudem niemals als eine unentrinnbare schicksalhafte Veranlagung, sondern immer nur als individuelle und damit beherrschbare Versuchung zur Sünde aufgefaßt worden ist, hat man in der Sünde auch niemals einen Zustand oder eine Befindlichkeit des Menschen, sondern stets eine auf individueller Entscheidung beruhende konkrete Tat gesehen (vgl. BerR IX,7; XXI,7). Zwar verstärkt jede begangene Sünde die Neigung zu ihr; dennoch bleibt sie auch dann noch immer eine einzelne Tat und wird auch durch Wiederholung oder Dauer nicht zu einem Zustand oder einer menschlichen Befindlichkeit. Von Sünde kann mithin nur gesprochen werden, wenn zuvor dem Menschen die Fähigkeit zu einer eigenen Entscheidung zugunsten oder gegen eine Sünde zugebilligt wird, was wiederum die Anerkennung eines freien -•Willens auf Seiten des Menschen voraussetzt (vgl. Dtn 30,15-20; —»Mose ben Maimon, Mishtteh Torah, Hil. Teshuvah V,lff.; VII,1 ff.). Das Insistieren auf der Individualität der sündigen Tat aufgrund bewußter Entscheidung für sie erklärt auch, weshalb „dem mainstream Judaism der Glaube an die Erbsünde fremd ist" (Schimmel 21 f.). Nicht ohne Grund hat man daher immer wieder gerade in der „Lehre von der Erbsünde" den entscheidenden Unterschied nicht nur zwischen jüdischer und christlicher Auffassung vom Menschen, sondern zwischen Judentum und Christentum überhaupt gesehen (Dienemann). Selbst wenn sich gelegentlich in zwischentestamentarischen Texten (vgl. IV Esr 3,7-23; 7,116-129; Sacchi 120-124) und später auch in der rabbinischen Literatur (die loci classici sind bShab 55b und 146a) Äußerungen finden, die an „Erbsünde" denken lassen (Urbach 421-430; Cohon), so stellen sie doch nicht nur einen Sonderfall dar, der als solcher erkannt und diskutiert worden ist, sondern gehen zugleich davon aus, daß selbst im Falle der Annahme des Gedankens an Erbsünde Israel von deren Folgen ausgenommen ist (vgl. bEr 13b) und in der Tora zudem über ein Instrument zu einer gottgemäßen Existenz verfügt, indem das Studium der Tora und die Beachtung ihrer miswöt vor der Sünde bewahren (bSot 21a). Die damit verbundene Warnung vor dem Tun der Sünde ebenso wie die darin enthaltene Ermahnung zu einem gottgefälligen Leben (mAv 11,1; 111,1; bQid 30b) dienen zugleich der Begründung der Ethik. 5. Sünde als einzelne Tat und ihre Folgen für die

Gemeinschaft

Wie als Straftat allein die vollendete Tat, nicht jedoch schon die Absicht zur Tat gilt, meint auch Sünde die vollendete „Übertretung einer miswäh", niemals bereits einen „sündigen Gedanken", d.h. die Intention oder Neigung zur Sünde, auch wenn -»Mose ben Nachman (Iggeret ha-Qödes 5) sagen konnte: „Nach begangener Sünde sind sündige Gedanken schlimmer als die Sünde selbst" (ähnlich Mose ben Maimon, Möreh Nebükim 111,5). Eine Ausnahme bildet allerdings die Intention oder Absicht zum Götzendienst (bQid 39b), weil Götzendienst die prinzipielle Leugnung des göttlichen Ursprungs der miswöt insgesamt impliziert. Obwohl jede Sünde, auch die wiederholt begangene Sünde immer eine individuelle Tat und als solche zu werten und gegebenenfalls strafrechtlich zu ahnden ist (vgl. Dtn 24,16; Ez 18,20; bYom 86b), ist sie doch stets mehr als eine Tat, die der einzelne Täter allein zu verantworten hat. Vielmehr hat sie in doppelter Hinsicht über den einzelnen Täter hinaus Bedeutung. Zum einen trifft sie, dem Grundsatz der Haftungs- und Schicksalsgemeinschaft Israels gemäß, derzufolge „alle Israeliten Bürgen sind, der eine für den anderen" (Sifra zu Lv 26,37; bSan 27b; bSheb 39a), die ganze Gemeinschaft, in der sie begangen wird, und hat zum anderen einen über alles Individuelle hinausgehenden Bezug zur Schöpfungsordnung. Wie jede miswäh immer auch ein weltbezogener Akt ist, betrifft auch die von der Sünde ausgehende Unheilswirkung nicht allein die Beziehungen zwischen einem sündigenden Individuum und seinem Schöpfer, sondern zugleich die Beziehungen zwischen Gott und seinem Volk einerseits und zwischen Gott und seiner (gesamten) Schöpfung andererseits. Deshalb beginnt das Sündenbekenntnis am Versöhnungstag mit dem Wort: „äsamnü—Wir haben gesündigt etc.". Der Konsequenzen wegen kann die Anstiftung zur Sünde daher als schlimmer noch als die begangene Sünde erscheinen (SifDev § 252;

Sünde IV

375

mAv V,18). Dies um so mehr, als die unheilstiftende W i r k u n g , die für die ganze Gemeinschaft von der in ihrer M i t t e begangenen Sünde ausgeht, sich dabei ebenso in dieser Welt erweist, wie sie für die zukünftige Welt Folgen nach sich zieht. Aus dem gleichen Grunde konnte auch jahrhundertelang das mippne hatä'enü („unserer Sünden w e g e n " ) als Deutemuster jüdischer Geschichtserfahrung und Geschichte (bShab 5 5 a ; ySot I,7/17a—b; y Y o m I , l / 3 8 c ; y T a a n I V , 5 / 6 8 c - 6 9 a ; K r a e m e r 1 0 2 - 1 4 9 ) bemüht werden. Erst die Katastrophe(n) des 2 0 . J h . haben Zweifel an einer solchen Geschichtsdeutung aufk o m m e n lassen, die vor allem heutige jüdische Theologie nach Auschwitz thematisiert. Literatur

(Auswahl)

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IV. Neues T e s t a m e n t 1. Zur Forschungsgeschichte 2. Religionsgeschichtliche Voraussetzungen 3. Jesus und Jesusüberlieferung 4. Paulinische Literatur 5. Synoptiker 6. Johanneische Literatur 7. Hebräerbrief 8. Übrige Schriften 9. Schluß (Literatur S.386) 1. Zur

Forschungsgeschichte

Die Reformation rückte für unser Thema -»Paulus und die Begriffe äßapzia und dfiäpxrifia (neben aöiKia, ävo/tia, Kaxia, ¿riXr]ßa, napäßaoiQ, napänxojßa usw.; vgl. auch Kavxma) ins Zentrum (Rom 3,25a u.ö.). Aus den Evangelien stützten namentlich M t 26,28 und Joh 1,29 ihre Chri-

376

Sünde IV

stologie der - » S ü h n e für die Sünden. R o m 5 , 1 2 verlangte zugleich andeutungsweise gegen T h e s e n einer physischen Weitergabe der Sünde G e h ö r (Luther u.a. - auch r ö m i s c h e T h e o l o g e n : s. Lyonnet/ des Places 5 2 9 - lasen den griechischen T e x t vorsichtiger als die Vulgata). H . F . T h . L . Ernesti stellte d a r a u f 1855 heraus, Paulus vertrete keine a n g e b o r e n e Schuldhaftigkeit, sondern eine real allgemeine Entstehung der Sünde in Freiheitsakten. In den 1920er J a h r e n setzte sich durch, das Ich in R o m 7 sei rhetorisch das Ich des Unerlösten (Kümmel; B u l t m a n n , R ö m e r 7 , modifizierte das zum transsubjektiven Ich). Beim J o h a n n e s e v a n g e l i u m erkannte die Forschung dualistische Z ü g e und stellte die Sühnedeutung von J o h 1,29 in Frage. Weit über die Exegese hinaus w a r damit im 2 0 . J h . die allgemeine Sündhaftigkeit neu zu formulieren und in der Rechtfertigungstheologie die Wendung gegen die Sünde zu beachten (vgl. J o e s t u.a.). Vor einem neuen Konsens differenzierte sich die Forschung. Die religionsgeschichtlichen Quellen erweiterten sich. M e h r und m e h r neutestamentliche E n t w ü r f e traten neben Paulus, das J o h a n n e s evangelium und den früh in seiner Eigenart bemerkten H e b r ä e r b r i e f . W a s Paulus betrifft, fand teils eine anthropologisch-existentiale Deutung H ö h e p u n k t e (nach B u l t m a n n ; zu Kavxrjfta als eigenm ä c h t i g e m Selbstseinwollen des M e n s c h e n zuletzt G r ä ß e r ) . A n d e r s w o verschob sich der Ansatz auf die B e o b a c h t u n g der T a t ü b e r t r e t u n g e n (Wilckens). Z u m dritten b r a c h e n überindividuelle Fragen (zuerst in Skandinavien) und nach ihnen die Diskussion a u f , wie gewichtig Paulus seine T h e m e n inklusive seinem Sündenverständnis a m Ubergang von Israel zu den V ö l k e r n und damit israeltheologisch - und insofern mit inneren Spannungen - entwickele ( D u n n ; R ä i s ä n e n ; Weima u.a.). Die Entdeckung psychologischer Fragestellungen (bes. an R o m 7 : T h e i ß e n u.a.), pharisäischen E r b e s beim Christen Paulus (zugespitzt W i n n i n g e ) , vielschichtiger M e t a p h o r i k (bei R ö h s e r um der B e t o n u n g der T a t vor dem Verhängnis der Sünde willen pointiert vor die Personifikation der Sünde gestellt) und weiterer ethischer G e s i c h t s p u n k t e (Kirchhoff; Finsterbusch u.a.) sorgen für zusätzliche Schattierungen und Divergenzen. 2 . Religionsgeschichtliche

Voraussetzungen

L a n g e g a l t d a s c h r i s t l i c h e S ü n d e n b e w u ß t s e i n a l s j ü d i s c h e s E r b e in s t r i k t e r D i s t a n z z u e i n e m g r i e c h i s c h e n V e r f e h l u n g s b e g r i f f . D a s e r s c h w e r t e in d e n 3 0 e r J a h r e n bei u n s e r e m T h e m a erfreulich einen A n t i j u d a i s m u s . I n z w i s c h e n b e r e i c h e r t e sich d a s Bild des F r ü h j u d e n t u m s und e r w i e s sich die A b g r e n z u n g z u m H e l l e n i s m u s als zu s t a r r . 2.1.

Frühjudentum

D a s J u d e n t u m orientierte sich an den oben (s.o. II.) besprochenen Schriften, vor allem an der T o r a . Es ü b e r n a h m die dortige Fülle von Worten für die Verstöße gegen G o t t e s Weisung und schrieb sie - mit Unterschieden von A u t o r zu A u t o r - fort (Reihungen von Sündenbegriffen z. B . J u b 9 , 1 5 ; 1 Q S 11,9). Gesetzlosigkeit, Ungerechtigkeit, B ö s e s , mangelnde Ehrung G o t t e s und Ubertretung seiner Weisung wurden wichtige Z u g ä n g e (ps'\ 'tun-, sqr\ rs \ m'i, ävofiia, aöiKia, dftapzia, äaißcia; napaßaiveiv usw.). Die H a l a c h a und k o n k r e t e Erfahrung von Schuld behielten den Vorrang vor jeder Systematisierung. D a r a u s ergibt sich: S ü n d e w a r p r i m ä r d e r f a ß b a r e V e r s t o ß in d e r e i n z e l n e n T a t , b e m e s s e n a n d e n R e g e l n gesellschaftlichen Z u s a m m e n l e b e n s und theologisch der Weisung Gottes. D a r a u s

er-

w u c h s e n V e r a l l g e m e i n e r u n g e n e i n s c h l i e ß l i c h s o g . L a s t e r k a t a l o g e ( ä t h H e n 9 1 , 1 8 f.; 1 Q S 4 , 9 - 1 1 u.ö.). D a s A b s t r a k t u m Sünde w u r d e g e b r a u c h t , w o generalisierend von Verfehl u n g e n o d e r d e r M ö g l i c h k e i t z u i h n e n z u s p r e c h e n w a r (z. B . 'äwon

1 Q H 9[1],27;

äfiapxia

P r o v 1 0 , 1 9 ; Sir 1 7 , 2 5 ) . N u r Spitzenformulierungen beurteilten das Verfehlen gerechten Lebens d u r c h den M e n s c h e n , d a s „ F l e i s c h " u n d „ L e h m g e b i l d e " , a l s u n i v e r s a l ( 1 Q H 1 2 [ 4 ] , 2 9 f . ; vgl. l l Q P s a 2 4 , 6 f . ; I V E s r 7 , 6 8 ; v o r b e r e i t e t in I R e g 8 , 4 6 u . ö . ) . W e i t h i n g a l t es a l s n i c h t z w i n g e n d , d e r S ü n d e z u e r l i e g e n (Sir 1 5 , 2 0 a u . ö . ) . N a m e n t l i c h d i e V ä t e r I s r a e l s , A b r a h a m , I s a a k u n d J a k o b , h a t t e n s i c h n a c h e i n e r Ü b e r z e u g u n g , d i e bis ins B u ß g e b e t a u s s t r a h l t e , n i c h t versündigt ( O r M a n 8). Besonderes G e w i c h t für die G e f ä h r d u n g zum Sündigen b e k a m die (böse) Herzensneigung (jezxr Sir 15,14; vgl. 1 Q S 5 , 4 f.), griechisch die Begierde cmOufiia; vgl. Philo, Decal 142.173; A p k M o s 19,3); rabbinisch setzt sich das in den Erwägungen eines bösen T r i e b e s fort (s.o. III.). Die G e f ä h r dung löste m a r k a n t e Bilder aus, s o in Sir 2 1 , 2 einen Vergleich neben der Schlange mit dem L ö w e n (in die W i r k u n g s g e s c h i c h t e gehört partiell I Petr 5 , 8 ) . Weitere Bilder h o b e n die Last und die Befleckung hervor, die eine Verfehlung bedeutete ( C D 3 , 1 7 usw.). Seltener rückten sie die Schuld

Sünde IV

377

in die Nähe von Schulden (vgl. Lyonnet/Sabourin 25 f. zur Septuaginta; im Targum wird das häufig). Gottes Bund vermittelte die Zuversicht, Gott werde die, die sündigen, nicht völlig ausrotten (AssMos 12,13), ohne daß man das Judentum der Zeit insgesamt durch einen Bundes-Nomismus charakterisieren sollte. Das Sündenbekenntnis (vgl. Ps 25,11.18 usw.) angesichts von Gottes Gerechtigkeit und Erbarmen wurde auch außerhalb des Tempels laut (OrMan; vgl. Sir 17,25 f.; 21,1 u.ö.); literarisch wirkt es in IV Esr 8,24- 36 nach. Im Widerspiel von Versagen, Bekenntnis und der Gewißheit der Zuwendung Gottes entstand das Bild von Gerechten (SiKaioi), die ihr Sündigen in einer Sinnesänderung überwinden (PsSal 9,7 u.ö.). Die Radikalisierung, jemand sei Sünder schlechthin, wurde griechisch mit dem Adjektiv äßapxojlöc, zur Sprache gebracht (Ps 9[10],24 LXX usw.; außerjüdisch war das Adjektiv wenig geläufig, bei Josephus und Philo fehlt es). Einzelne Formulierungen implizieren, Nichtjuden seien generell Sünder (Jub 23,231. u.ö.). Nicht gesühnte Sünde gefährdete die Gottesbeziehung des ganzen Volkes. Bis 70 n . C h r . war d a r u m der Sühnekult überaus lebendig. Er diente der Reinigung des Heiligtums, der einzelnen und des Volkes. Die O p f e r f ü r die Sünden hießen nepi oder onep äftapriac; (Ez 43,19; 40,39 LXX usw.; alleinstehendes dßapiia ist d a f ü r nicht sicher nachzuweisen). Trotz ihrer und trotz des Versöhnungstags (vgl. 4QTgLev: D J D VI, 8 6 - 8 9 ; 1 lQTempelrolle 2 5 - 27; Philo, SpecLeg 1,186ff.; 11,196) konnten aber bei einem strengen Verständnis der Schrift die unwissentlich begangenen (gelegentlich kurz äyvoia, Unwissenheit, genannten: TestSeb 1,5 u.ö.) und die vor G o t t nicht bekannten Sünden als ungesühnt, nur durch Gottes Langmut ertragen gelten (vgl. Kraus 7 1 - 9 1 . 1 1 3 - 1 4 6 ) . TestLev 3,5 skizzierte darauf einen Sühnekult durch Engel f ü r die äyvoiai der Gerechten. In weisheitlichen Texten ü b e r w o g in diesem R a h m e n ein zum H a n d e l n ermutigender Optimismus, gestützt auf Gottes Erbarmen (Sir 2,11). Liebe decke viele Sünden zu, heißt es in Prov 10,12, Wohltun sühne Sünden, in Sir 3,30 (vgl. 3,3.14f.; 32[35],5; Dan 4,24; Tob 12,9). Philo wandelt dies zu einem Weg aus Einsicht und Tugenden ab, der die Sündenfülle, von Gottes G n a d e unterstützt, wie ein krankes Lebensalter überwinde (Her 297; Praem 115f.). An anderer Stelle entstanden ein Paräneseschema mit den Gliedern Sünde, Eingreifen Gottes und Umkehr (z.B. Testlss 6 , 1 - 4 ; vgl. auch J u b 1 , 7 - 1 8 ; es beeinflußt die Sendschreiben Apk 2 , 2 - 5 usw.) und ein Geschichtsbild, das ein Anwachsen der Sünden bis zu einem Eingreifen Gottes erwartete. Ä t h H e n 98,7f. n a h m an, jede Ungerechtigkeit werde im Himmel bis zum Gericht aufgeschrieben (ein Kontext f ü r Kol 2,14). Verschiedentlich traten die ungerechten Taten ihren T ä t e r n kritisch wie Personen gegenüber (vgl. Weish 4,20; ApkEl 41,7f.). Die Sünde erhielt Z ü g e von M a c h t (Jub 21,21 f.). Aufgrund von Gen 2,16 f. galt die Übertretung A d a m s als Auslöser d a f ü r , d a ß G o t t den Tod verhängte (IV Esr 3,7). Die weitergehende Folgerung freilich, Adam sei auch das Sündigen seiner N a c h k o m m e n zuzuschreiben, kennen wir allein aus der Ablehnung (syrBar 54,15.19). Sir 24,25 formulierte erstmals, von einer Frau habe die Sünde ihren Anfang genommen (mit bedenklicher Auswirkung auf I T i m 2,14). Häufiger zeigte sich hinter dem Sündigen der Satan (TestDan 6,1 ff. u.ö.). Stellenweise gewann der Geist Gottes zentrale Bedeutung im Kampf gegen die Sünde und für das gerechte T u n . Ez 36,27a bereitete das vor. Die Qumran-Schriften bieten besonders plastische Beispiele ( 1 Q H 8 [ 1 6 ] , l l f . ; 1QS 4 , 2 0 - 2 3 nach 3 , 1 7 - 2 3 ) . Sie verweisen auf eine Gemeinschaft mit eschatologisch-dualistischen Zügen (Zwei-Wege-Denken usw.). Wer in sie eintrat, verpflichtete sich, zum Gesetz Moses umzukehren und sich in einer Zeit des Frevels (CD 15,7) von allen Frevlern zu trennen (1QS 5 , 7 10 = 4Q258 1,1,6-8), nicht zu sündigen ( 1 Q H 6[14],17f.). Gottes Güte und machtvoll zugewandte Gerechtigkeit n a h m ihm die Schuld, ermöglichte ihm die Erkenntnis des Rechts und rettete ihn, w o er strauchelte (bes. 1QS 1 1 , 2 - 1 5 ) . Schuldbekenntnisse unterstützten dies (bes. 1QS 1,24-2,1). Es entstanden Zeugnisse einer eindrücklichen Bußfrömmigkeit (11Q05 Kol. 19 usw.). Zugleich waren vorsätzliche Übertretungen ausgeschlossen, und f ü r Feinde Gottes w a r keine Nachsicht erkennbar.

378

Sünde IV

2.2. Nichtjüdische

Umwelt

Die griechische Auffassung der Sünde (neben äfiapxia auch äSiKia, Kajcia, anißt)fia u.a.) war

weniger h o m o g e n als früher a n g e n o m m e n . Sie vereinte Traditionen der beschämenden Fehlleistung (dominant bei H o m e r ) , des k o s m o g o n i s c h e n Pessimismus (bei A n a x i m a n d e r vergalt sich das Seiende sein Unrecht), juristischer R h e t o r i k (seit A n t i p h o n ) , der T r a g i k (des Verbrechens, für das keine persönliche äfiapxia zu finden w a r ; S o p h o k l e s , O e d . C o l . 9 6 7 f . ) , der verhängnisvollen Leidenschaft (Euripides, M e d . 1 0 7 8 - 1 0 8 0 ) und m a n n i g f a c h e r Sühnekulte (mit einem Ausfluß in die SchuldReinigungs-Erwägungen der O r p h i k ) . Platonische Ethik ging davon aus, n i e m a n d sei freiwillig böse (Plato, T i m . 8 6 D ) . Sünde wurde zum tathaften Verstoß gegen die mögliche Erkenntnis des R e c h t e n (Ps.-Plato, def. 4 1 6 A 12: äfiapxia

npä^n; napä xöv öpOöv loytaßöv). Die Philosophen formulierten das teils in Auseinandersetzung

mit dem Kult (vgl. Plato, pol. II 3 6 4 B - 3 6 5 A ; T h e o p h r a s t , piet. F r g m . 8). Einsicht und Wollen berücksichtigten sie verschieden. S o n a n n t e Aristoteles äftäpxrifia das Fehlverhalten o h n e Vorhersehbarkeit (Nie. eth. 1 1 3 5 B ) , Chrysipp die H a n d l u n g aus Schlechtigkeit (Frgm. m o r . 6 6 1 ) . U m die Z e i t e n w e n d e dominierte philosophisch der noetische Z u g a n g (besonders in Stoa und Epikureismus) mit offenen D e b a t t e n (z. B . über göttliche und menschliche Verantwortung: C i c e r o , nat. deor. III, 7 6 ) . Erkenntnis der Sünde v e r m o c h t e als Anfang der R e t t u n g zu dienen, da sie das Verlangen nach Besserung auslöse (Seneca, ep. 2 8 , 9 n a c h Epikur: ed. Usener, Frgm. 5 2 2 ) . D e r Satz, niemand sei o h n e Schuld, w a r wie die M i l d e der - gegebenenfalls fernen, a b s t r a k t e n - G ö t t e r plausibel (Seneca, ira 11,28,1 n a c h 2 7 ) . Für die Alltagswelt wichtig waren die Kulte (mit auch römisch streng reglementierten Sühneopfern) und die sozialen Gepflogenheiten (mit Bemühungen um einen Ausgleich durch Verzeihen). Dichtung interessierte der Konflikt zwischen Begierde und Vernunft (Ovid, met. 7 , 1 8 - 2 1 ) . D a s R e c h t unterschied absichtliche und unabsichtliche Verfehlungen (seit Plato, leg. 8 6 1 E - 8 6 2 B ) . Ethisches Vertrauen begegnete e b e n s o wie die Scheu, die M ö g l i c h k e i t zum Frevel durch ein G e s e t z zu zeigen (vgl. C i c e r o , dorn. 4 9 , 1 2 7 ; S e n e c a , clem. 1,23,1). M a n c h e fragten skeptisch, o b Gesetze in einer depravierten Gesellschaft zum G u t e n beitrugen o d e r vielmehr lediglich das B ö s e aufwiesen ( z . B . P s . - H e r a k l i t , ep. 7 ; Ps.-Diogenes, ep. 2 8 ) .

Dank der Vielgestaltigkeit antiken Denkens haben alle für das Judentum wichtigen Metaphern (Last, Schmutz, Schuld, Schuldbuch usw.) Parallelen in nichtjüdischen Zeugnissen. Dasselbe gilt für wesentliche Sprachformen von den Lasterkatalogen (in der Diatribe) bis zum (laut gesprochenen) Sündenbekenntnis. Letzteres ließ sich, der klassischen griechischen Zeit noch fremd, um die Zeitenwende an vielen Orten beobachten (vgl. Ovid, Pont. 1 , 5 1 - 5 6 ; met. X I , 1 3 2 - 1 4 1 [132: pater peccavimus]\ Plutarch, mor. 168D u.a.). Kleinasiatische Bußinschriften (Quellen bei Klauck) vereinten die Motive von wissentlichen und unwissentlichen Sünden, göttlicher Strafe, Bekenntnis und Sühne; dabei ging ein als Strafe erlebtes Leid dem Bekenntnis voraus (vgl. unter neutestamentlichen Texten den Duktus in Lk 1 5 , 1 1 - 1 8 ) . Die Vielfalt antiker Rede von Sünde und Vergehen ermöglichte, vor solchem Hintergrund gesehen, die Transposition der jüdischen Traditionen in den Hellenismus. Die alte Frage, wie Einflüsse vom Hellenismus ins Judentum und nachfolgend Christentum sowie umgekehrt verliefen, ist durch eine neue Sicht abzulösen, daß sich nämlich in einem übergreifenden Kulturraum gemeinsame mit divergenten Motiven vermischen und daraus die Wirkung des Neuen resultiert. 3. Jesus und

Jesusüberlieferung

Als Jesus sich der -»Taufe unterzog, die -»Johannes der Täufer übte, begab er sich unter einen Bußruf an Sünder und den Anspruch hoher Gerechtigkeit in Israel (eine Spannung, die die Quellen ab Mt 3,14 zugunsten der Gerechtigkeit Jesu verschoben). Denn der Täufer radikalisiertc die besprochenen Traditionen Israels. Er verlangte die strikte Abkehr von den vollzogenen Sünden (vgl. den Plural „Sünden" bei Josephus, Ant XVIII,117; Mk 1,5 par., und den Hinweis auf ein Sündenbekenntnis in Mk 1,5 par.) und gerechtes Tun (betont bei Josephus). Ob er seine Taufe zur Reinigung von den Sünden angesichts der trotz des Zorns gewissen Zuwendung Gottes vollzog oder mit ihr (etwas wahrscheinlicher) das Reinsein nach der Umkehr zur Gerechtigkeit bekundete - er wirkte jenseits des -»Tempels und relativierte somit die Reinigungs- und Schuldopfer.

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Das zeichnet Grundzüge des Auftretens Jesu vor: Obwohl er sich vom Täufer trennte und mutmaßlich nicht taufte (trotz Joh 4,1), geißelte er wie jener Fehlverhalten in Israel und rief aus konkreten Vergehen zur Umkehr (den abstrakten Singular „die Sünde" missen wir darum bei ihm wie beim Täufer). Er bekundete Gottes Mahnung, die jede Sicherheit, kein Sünder zu sein, ausschloß (Lk 13,1-5), und ließ, sooft er den Tempel besucht haben mag, keine Nähe zu Schuld- und Reinigungsopfern erkennen. Die -»Herrschaft Gottes stand für ihn Vergehen (wie auch dem Satan und den -»-Dämonen: Lk 10,18; 11,20) in unabdingbarer Härte entgegen. Gleichzeitig wandte Jesus sich, wie sich in seiner Unterstellung unter die Johannestaufe abgezeichnet hatte, den Sündern zu. Laut Mk 2,17 sah er sich geradezu gekommen, dfiaprcoXovQ, Sünder im beschriebenen Sinn gänzlich verfehlter Existenz, zu rufen und nicht Gerechte. Sein Handeln und Erzählen zeichnete sozial und ethisch fragwürdige Personen vor gerechten aus (in Lk 18,9-14 unter Einbezug des lauten Schuldbekenntnisses), wenngleich Sündermähler (nach Mk 2,15) kaum zu verallgemeinern sind. Die Überlieferung der Gemeinde, eine liebende Sünderin sei ihm näher als eine reine männliche Person aus der Mitte der Gesellschaft (Lk 7,36-50), sprengte nicht zuletzt Vorurteile gegenüber -»Frauen. Folgen wir dem -»Vaterunser, gab Jesus dabei die -»Vergebung dem Vater anheim und bettete sie in die jüdische Reflexion über Sünden ein (bis zur Metapher der Schulden M t 6,12; manche lesen dazu in 6,13 vorrabbinisch eine Bitte um Bewahrung vor dem bösen Trieb: Milton). Formgeschichtlich ungewöhnlich schloß er die weisheitliche Versicherung an, die Betenden vergäben selbst (Lk 11,4b par. M t 6,12b; vgl. Sir 28,2). Diese Einfügung bekundet den Nachdruck eines Ethos angesichts der Herrschaft Gottes: Weil Gott in Pflicht nimmt, engagiert auch die Sündenvergebung unausweichlich ethisch. Das Gleichnis vom Schalksknecht verweist auf die dazu geschenkte Zeit (Mt 18,23-35). Den Zusammenhang beschließt das schwierige Wort von der Schmähung wider den -»Geist (Mk 3,28ff.; Mt 12,31 f. par.), falls der Hinweis, diese Sünde sei unvergebbar, in der ältesten Textschicht zur Basis hat, daß der Geist - mit der jüdischen Tradition und durch die Botschaft des Täufers vom Einbrechen des Geistes noch verstärkt - eschatologisch den Sünden entgegentritt und rechtes Tun ermöglicht. Mk 2 , 1 - 1 2 zieht schließlich von 2,5 aus die Konsequenz, Jesus vertrete Gottes Sündenvergeben in Person. O b dem zugrunde liegt, daß Jesus selbst Sünden vergab (und nicht nur Gottes Vergebung zusprach), ist umstritten. Vergab er Sünden, so sprengte dies das Judentum nicht - wie früher oft angenommen wurde - , sondern setzte einen äußersten Akzent in ihm. Wegen der Differenz zu Mt 6,12a par. zerbricht ein geschlossenes Jesusbild zugunsten der von Jesus oft überraschend vermittelten Gotteserfahrung in Israel (vgl. Klauck; Scholtissek; Kellermann u.a.). Eine Hermeneutik der Botschaft Jesu hat demnach die Zuwendung Gottes zu den Sündern (mitsamt dem Ansatz zur Christologie), die Irritation scheinbar selbstverständlicher Gerechtigkeit ohne Sünden und den hohen Anspruch zu vermitteln, recht zu handeln, letzteres einschließlich tätigen Vergebens. Die Perikope von der Ehebrecherin Joh 7,53-8,11 faßt das Gefälle in einem Beispiel zusammen (ob mit historischem Kern, ist strittig). 4. Paulinische

Literatur

Paulus blickte auf untadeligen Eifer in seinem Volk sowie eine kritische Haltung gegenüber den Völkern und der neuen Gemeinde zurück (Gal l,13f.; Phil 3,5f.), als er - wie er schildert - durch eine -»Offenbarung Christi gerade zu den Völkern gesandt wurde (Gal 1,15-2,10 u.ö.). Dritterinnerung stilisierte das zur Bußbekehrung des Ersten der Sünder, in der die Zuwendung Jesu zu Sündern neue Gestalt gewönne (I Tim 1,12— 17). Paulus selber abstrahierte. Statt einer Formulierung wie I Tim 1,15 (vgl. Mk 2,17; Lk 19,10) verwies er darauf, daß er Uberlieferungen über den Tod Christi und seine Hingabe „für unsere Sünden" empfing, was ihn und die anderen Glieder der Gemeinde

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zusammenschloß (I Kor 15,3; Gal 1,4; vgl. Rom 3,25). Weniger psychologisch als theologisch ist demnach zu bedenken, wie der Kontrast zu seinen ursprünglichen Optionen ihn zwang, das Verständnis der Sünde zwischen Zuwendung Gottes in Christus (Soteriologie) und Ethos neu zu bestimmen. Er tat das allmählich, gefordert von unterschiedlichen Situationen. Noch im 1. Thessalonicherbrief kritisiert er die Sünden der Juden (2,16; eine Umkehrung seines einstigen Eifers) und fordert von Heidenchristen ein Ethos der Untadeligkeit vor dem Kommen Christi (3,13; 5,23; eine Übertragung jüdischer Untadeligkeit?) in Abstinenz von jederlei Bösem (5,22), ohne einen Sündenbegriff theologisch zu abstrahieren ( d p a p z i a begegnet nicht im Singular; aäpS, [Fleisch] und ähnliche Begriffe fehlen). Die Korrespondenz nach Galatien und Korinth verwendet den Begriff äfiapxia weiter sparsam (im Philipperbrief fehlt er nochmals ganz), schreitet indes zu wesentlichen singularischen Aussagen fort. Die Korintherbriefe durchdringen die These, die Glieder der Gemeinde stünden nicht mehr in den Sünden (vgl. I Kor 15,17 nach 15,3), mit zwei Spitzen: Die Sünde sei Stachel des -»Todes (eine Anspielung auf die Auslösung des Todes durch die Sünde; vgl. o. 2.1.) und erfahre durch das -»Gesetz ihre Kraft (I Kor 15,56; das spitzt den paganen Pessimismus über die Wirkung der Gesetze [s.o. 2.2.] beim Juden Paulus problematisch zu; manche halten den Vers für interpoliert). Gott aber machte Christus, den Nicht-Sünder, paradox zur Sünde (die Formulierung geht über die Rede von einem Sündopfer [s.o. 2.1.] hinaus) und entleerte damit deren Macht. Die von der Sünde Betroffenen werden dadurch zur „—»Gerechtigkeit Gottes" (II Kor 5,21; vielleicht unter Pointierung älterer Tradition). Der Galaterbrief erwidert Heidenchristen, die Spezifika der Tora anwenden wollen (-»Beschneidung usw.), das bleibe hinter der befreienden Kraft der Hingabe Jesu „für unsere Sünden" (1,4) zurück. Denn auch die Juden, die nicht wie die Völker von vornherein unter der Sünde stünden (ein Reflex kritischer jüdischer Sicht der Völker; s.o. 2.1.), würden nicht durch Werke des Gesetzes (die im Handeln zu vollziehenden Vorschriften der Tora) gerecht, sondern in Christus ( 2 , 1 5 - 1 7 ) . Die Schrift (vgl. die Aufnahme von Ps 143,2 in Gal 2,16) unterwerfe alles der Sünde, damit den Glaubenden die Verheißung Jesu Christi zukomme (3,22). Trotz der schmalen Stellenbasis in den Korintherbriefen und der Interpretationsprobleme beim Galaterbrief zeichnet sich eine Konsistenz ab: Den geschehenden und geschehenen Sünden liegt die Sünde wie eine Macht zugrunde, der das Gesetz nicht zu wehren vermag. Die Gemeinde, die in Christus aus ihren Tatsünden und der Sünde ausgelöst ist, darf nicht zum Sündigen zurückkehren (I Kor 6,9ff. mit einem Lasterkatalog exemplifiziert). Paulus orientiert sich im wesentlichen an jüdischer Tradition, obwohl er anzweifelt, daß das Gesetz positiv orientieren könne, und erhebt einen hohen ethischen Anspruch. Die Frage, ob dem Anspruch wirklich zu genügen sei, deutet er nur von ferne an (vgl. I Kor 4,4 neben 8,12; 15,34). Im Römerbrief (mit drei Vierteln der Belege für äfiapria) reflektiert er weiter, wie das Evangelium und die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes die Völker mit den Juden zusammenschließt. Letzteren gibt er nun ausdrücklich ein Prae (das „Zuerst" in 1,16 usw. geht über die früheren Briefe hinaus). Folgerichtig beginnt er den Schuldaufweis bei den Völkern und erinnert sie über ihre eigenen Traditionen allgemeiner Schuld (vgl. o. 2.2.) hinaus daran, daß sie im Grundsatz um das Gesetz des einen Gottes wüßten ( 1 , 1 9 - 2 , 1 6 ) . Erst danach kritisiert er, jeder Jude übertrete das Gesetz ( 2 , 1 7 - 2 9 ) . Der Vorzug der Juden wird damit nicht zum Vorteil: Paulus führt von den konkreten Vergehen, der Realität der Sünde, zur für alles Fleisch unausweichlichen Sünde (jüdisch vorbereitet; s.o. 2.1.). Das (dem Schriftzitat in 3 , 1 0 - 1 8 nach in jüdischem Horizont verstandene) Gesetz weist das nach (3,9 äfiapria-, 3,20 cräp£ usw.). Noetisch setzt Paulus auf diese Weise bei den Tatsünden ein. Entsprechend greift er in der zentralen soteriologischen Antwort 3,25 f. auf eine judenchristliche Tradition zurück, die von der Sühnung getaner Sünden (Plural) sprach, die Gott hatte dahingehen

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lassen (die Tradition dachte dabei eventuell an die unwissentlichen Sünden [vgl. o. 2.1.]; Paulus meint alle Sünden). Aber theologisch geht es ihm um die Sünde überhaupt. Dazu leitet er 4 , 1 - 8 in der kühnen Interpretation von Gen 15,6 durch Ps 32,lf. über (Rom 4,7 Plural; 4,8 Singular). -»Abraham, der vielen Zeitgenossen als sündlos galt (s.o. 2.1.), wird zum Paradigma dessen, dem der Herr die Sünde nicht anrechnet, und ohne Kavxtlfia (selbst behaupteten Ruhm) Stammvater der Unbeschnittenen und Beschnittenen (4,9-12). So groß dieser Einschnitt ist, bleibt doch das Argumentationsverfahren frühjüdisch. Eine frühjüdische Basis wählt auch 5 , 1 2 - 2 0 (vgl. o. 2.1.): Mit -»Adam kam die Sünde und durch die Sünde der Tod. Adam ist zwar nicht alle Sünde schlechthin zuzuschreiben (s. die vorsichtige Formulierung 5,12 Ende sowie den Verweis, daß Sünde vor dem Gesetz nicht angerechnet wurde, in 5,13). Doch am Gegenüber zu ihm ist die Macht der Gnade im Christusgeschehen über die Todesherrschaft der Sünde zu verdeutlichen (5,20f.). Die Taufe eignet dieses Christusgeschehen so zu, d a ß die Sünde ihre Herrschaft verliert (6,14). Darum verlangt die Gerechtigkeit den Dienst der Glaubenden (6,15-18; eine Transposition der ethischen Verpflichtung aus der Johannestaufe). Rom 7f. konfrontiert die Lebenshorizonte miteinander. Wo die Sünde herrscht, versagt ihr eigentlicher Antagonist, das Gesetz, obwohl es heilig ist (7,12), aufgewiesen an der Kraft der Begierde (7,7f.; vgl. zur Begierde o. 2.). Im Christusgeschehen, das die Sünde am Fleisch verurteilt (8,3 Ende; eventuell wieder die Zuspitzung einer Formel durch Paulus), hingegen befreit das Gesetz des Geistes den Menschen zum Leben (8,2). Die späteren Rückgriffe auf die Tora im Römerbrief (13,9 u.ö.) erklären sich am besten, wenn man das Gesetz des Geistes nicht im Gegensatz zur Tora, sondern als ihre Aktualisierung im Geist und Glauben versteht, in der sie ein neues Gesicht bekommt. Mit der Rede vom überindividuellen „Ich" und im Rückgriff auf Adamtraditionen bearbeitet Paulus in Rom 7 nach etlichen Auslegern auch seinen persönlichen Weg (vgl. o. 1.). Der überraschende Schluß 7,25b, das Ich diene mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, nach dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde, ist keine Glosse (wie oft angenommen wird), wenn man auf ein ganz geschlossenes Bild seiner Theologie verzichtet. Der Satz bereitet später der Auffassung, der Christ sei Gerechter und Sünder, Bahn. Im Römerbrief indes wirkt er sich noch nicht in dieser Richtung aus. Dessen „Ethik" läuft auf die Neudefinition zu, Sünde sei, „was nicht aus Glauben" geschehe (14,23). Im Römerbrief macht Paulus somit seinen heidenchristlichen Adressaten von den Tatsünden aus eine Kraft und Allgemeinheit der Sünde begreiflich, die dfe Ansätze einer Ethik der Einsicht und des Willens berücksichtigt und gleichzeitig jede Ethik der Verbesserung des Menschen aus seiner eigenen Kraft (ein Höhepunkt herkömmlicher Ethik; vgl. o. 2.2.) in Schranken weist. Der Mensch vor Christus kann seine Schuld in den Grenzen allgemeiner Ethik annäherungsweise sehen. In Christus erst wird er sie als Verfallenheit erkennen. Er wird dann die Sünde zugleich hinter sich lassen, um als Geretteter aus Gottes Gerechtigkeit zu handeln. Die Deuteropaulinen machen, so unterschiedlich und gelegentlich problematisch sie auch sind (s.o. 2.1. zu I Tim 2,14), die Entmachtung der Sünde(n) dementsprechend im Christusgeschehen fest und gehen davon aus, die Glieder der Gemeinde könnten sich von Sünden grundsätzlich fernhalten (Kol 1,14; 2,13ff.; Eph 1,7; 2,5; I Tim 5,22.24). Der Aktualisierung dienen mehrfach Lasterkataloge (von Kol 3,5.8 bis Tit 3,3). Der exegetische Befund fordert — wie lange erkannt ist - , dogmatisch auf den Gedanken einer physischen Weitergabe der Sünde, nicht jedoch auf den ihrer Allgemeinheit und ihrer Energie zum Tode zu verzichten (Rom 1,19-3,20 wird ebenso wichtig wie 5,12). Die Anthropologie hat den Wandel in Christus höher zu gewichten als das Zugleich von Sünder- und Gerechter-Sein in Christus. Schließlich wird sich der Blick der Heidenchristen intensiver als bisher auf Gottes Zuwendung an Israel richten. Dem Judenchristen Paulus liegt daran, daß auf dem Weg über die Rettung der Völker Israels Sünden (nach Jes 27,9 nicht zuletzt die Gefährdung Israels durch Fremdkulte) weggenommen werden (Rom 11,25ff.).

382 5.

Sünde IV Synoptiker

Die synoptische Überlieferung setzt anders als Paulus bei der Überlieferung über den irdischen Jesus und den Konflikten um ihn ein. Die Logienquelle faßt diesen Spannungsbogen in das Wort, Jesu Zuwendung zu den Sündern werde wie die Askese des Täufers verhöhnt; doch von den Kindern der Weisheit (oder durch ihre Taten) bekomme sie Recht (Lk 7,33ff. par. Mt ll,18ff.). Das „böse Geschlecht" (Lk 11,29 par. u.ä.) und die Nachfolgegruppe Jesu treten auseinander. In der Gruppe wird das Gebet mit der Vergebungsbitte gepflegt (Lk 11,4 par.). Für die Menschen um sie gilt zwar das (vergangene?) Wort gegen den Menschensohn (Jesus) als vergebbar, duldet der Geist jedoch nun keinen Widerspruch mehr (so die Fortentwicklung von M t 12,32 par. in der plausibelsten Deutung; vgl. o. 3.). Das Markusevangelium verbindet Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung und seine Zuwendung zu den Sündern mit einer partiellen Freiheit Jesu gegenüber Israels vorhandenen Normen um des Guten, Lebenrettenden willen (in 2 , 1 - 3 , 6 zum Konflikt aufgebaut). Die Forderung zur Vergebung an die Jünger (11,25), die die Vergebungsbitte des Vaterunsers vertritt, schließt Außenstehende nur begrenzt ein. Das Matthäus- und das Lukasevangelium nützen diese beiden Quellen und vertiefen die Reflexion wesentlich. Matthäus verknüpft die Begabung Jesu zur Rettung aus den Sünden mit der Charakterisierung der Gemeinde: Die rettende Aufgabe Jesu gilt seinem Volk (1,21), grundgelegt beim Täufer (3,2.6). Gleichzeitig teilt er seine Vollmacht, auf Erden Sünden zu vergeben, den Menschen um ihn mit (9,6.8, eine kühne Fortschreibung von Mk 2,1-12). Ihre Befähigung verpflichtet sie zur Vergebung (entschränkt über die eigenen Schuldiger hinaus: 6,14 nach 6,12b). In der Gemeinde wird das konkret, wo immer jemand sündigt (18,15). Einen ethischen Abstrich erlaubt das nicht (18,6ff. u.ö.; Folge ist eine beginnende Abstufung beim Nachgehen hinter dem Schuldigen: 18,16f.). Stets bleibt das menschliche Tun geforderte Antwort (vgl. 18,21-35). Es wird durch die Zuwendung Jesu gestützt, die in seinem letzten Mahl gipfelt (26,28 präzisiert das „ F ü r " der Mahlworte singulär in „zur Vergebung der Sünden"). Wie ausweglos ein Leben ohne die Entlastung vom getanen Unrecht ist, zeigt darauf das Beispiel des Judas (27,4f.). In allen Perikopen ist die Sünde faßbare Tat; die Vorstellung einer Sündenmacht beschäftigt Matthäus nicht. Lukas ordnet schon dem Täufer zu, Israel rettend die Vergebung zu weisen (Lk 1,77 vor 3,3), und gestaltet ihn darin zum Wegbereiter Jesu (was mit dem historischen Täufer nur abzustimmen ist, wenn wir seiner Botschaft einen deutlichen Heilsakzent nicht absprechen). Nachösterlich transponiert heißt das: Durch Jesu Namen ergeht die Vergebung der Sünden an einen jeden, der glaubt (Act 10,43). Für Israel steht er dazu als Erhöhter bereit (Act 3,19ff.; 5,31). Die Völker werden (über den irdischen Jesus hinaus) dank des machtvollen Wirkens des Geistes einbezogen. Erfahrbar wird dies für Juden und Heiden an der Taufe unter Anrufung von Jesu Namen (Act 2,28; 10,44-48; 22,16), zu der auch Täuferjünger gerufen sind (Act 19,3ff.). Zugleich steigert Lukas die Provokation Jesu, niemand sei seiner Gerechtigkeit sicher: In der Begegnung mit Jesus erkennt sich auch der von ihm beschenkte Mensch als Sünder (paradigmatisch eingefügt in die Berufung des Petrus Lk 5,8). Der Ausdruck „Sünder" {äftapzcoXdg) gewinnt Züge einer transethischen Kategorie. Den Erzählungen in Lk 7 , 3 6 50 und 19,1-10 sind folgerichtig nicht mehr die einzelnen Sünden wichtig (diese begegnen in 7,47 lediglich pauschal, in 19,8 indirekt). Die Gleichnisse in Lk 15 setzen bei Motiven des Verlorenen ein, die mit der Kategorie der Schuld kaum zu erfassen sind (15,3-10); die beiden Brüder in 15,11-32 verdeutlichen danach, d a ß es nicht mehr so sehr um einzelne Handlungen als um den rechten Empfang des Lebens geht (statt eines falschen, selbstmächtigen Zugriffs auf dieses). Schließlich bindet Lukas diese Weiterführung an das Ethos zurück. Die Selbsterkenntnis als Sünder und die Umkehr verflechten sich (Lk 15,17ff.; 5,32 ergänzt Mk 2,17 um

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„zur Umkehr"). Besseres Handeln folgt auf sie (Lk 19,8). Das Gesetz Israels behält, der neuen Situation anverwandelt, normativen Charakter (vgl. Act 10,9—16; 15,9f.). Vergeben werden (an Israeliten und Gottesfürchtige gerichtet) die Sünden, von denen sie innerhalb des mosaischen Gesetzes nicht wirklich loskamen (somit vor dem religionsgeschichtlichen Hintergrund primär die unwissentlichen, unabsichtlichen Sünden; eine heilsgeschichtliche Überwindung des Gesetzes visiert Act 13,38f. kaum an). Für die Völker ist analog die Zeit der Unwissenheit (eine Anspielung nun auf die noetische Ethik in der nichtjüdischen Umwelt) vorbei (Act 17,30). Blicken wir zurück, so erinnern Logienquelle und Markusevangelium daran, die Umstrittenheit von Jesu Wendung gegen die Sünden und seiner gleichzeitigen Zuwendung zu den Sündern nicht zu vergessen. Das Matthäusevangelium nimmt im Gegenzug zu Jesu ethischem Anspruch die Vergehen in der Mitte der Gemeinde wahr und erschließt, wie die Gemeinde in sich von der Vergebung der Sünden lebt. Lukas erlaubt mit seinen Bildern und Erzählungen, das transethische Moment im Sündersein zu entdecken, und die Erkenntnis des Sünders wird zur Selbsterkenntnis im Angesicht Jesu. Sobald man ihn näher mit Paulus vergleicht, fallen Glättungen auf (bleibt etwa die Verflechtung von transethischer und ethischer Kategorie in Act 13,38 f. hinter den paulinischen Rechtfertigungsaussagen zurück). Kombiniert man die Akzente der Evangelien aber wie der Kanon, der sie nebeneinander und vor die Paulinen stellt, ergänzen sie sich zu einer überzeugenden nachösterlichen Ubersetzung der Anstöße Jesu. 6. Johanneische

Literatur

6.1. Das Johannesevangelium scheint Paulus insofern näherzustehen, als die Sünde von Anfang an Macht und begrifflich Abstraktum ist (äfiapxia steht ab 1,29 häufig im Singular) und die Tat des Bösen darin eingeht (3,20; 5,29). Allerdings radikalisiert das Johannesevangelium den Gedanken, daß die Sünde die versklavt, die sie tun (8,34), und sie bis zum Tod nicht entläßt (8,21.24). Das zeitigt gewichtige Folgen: Joh 1 überspielt Jesu Taufe unter den Sündern. Statt dessen schaut der Täufer, Jesus sei „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt" (1,29b; trotz sporadischer Vermutungen schwerlich interpoliert). Jesus hebt demnach die Sünde, die die Welt beherrscht und von der Welt getan wird (beides steckt in „Sünde der Welt"), machtvoll auf und trägt sie weg. Die Folge ist eine Epiphanie von Gottes überwältigendem Verzeihen (vgl. Mi 7,18 LXX nach Ex 34,7a), die partielle Einflüsse aus dem Passa (-•Pesach), dem Tamidopfer oder der Fürbitte vor Gott einschließt. Sühne im engeren Sinn stellt die Formulierung zurück (das Verb aipeiv ist kein Kultterminus; zur Diskussion Hasitschka; Müller 51 f.; Röhser 6 1 - 6 5 ; Stuhlmacher; Trumbower 119ff.). Der johanneische Jesus sagt auch nicht, er sei gekommen, um Sünder zu rufen (eine Parallele zu Mk 2,17 fehlt). Vor dem Hintergrund der Tradition Israels, Gott erhöre keine Sünder (äfiapTCoXoi, vgl. Joh 9,31.33 nach Prov 15,8.29), fordert er von denen, an denen er handelt, zumindest, nicht mehr zu sündigen (5,14). Weitergehend spricht er den Blindgeborenen, den andere für einen Sünder halten, von jedem Sündigen frei, bevor er ihn heilt (9,2f. im Kontrast zur jüdisch und nichtjüdisch belegten Auffassung, Sünde löse eine Sphäre von Krankheit aus). Jesus selbst bleibt durch die Sünde unberührt (vgl. 8,46). Strikt vermittelt er die Erkenntnis der Wahrheit, die von der Sünde freimacht (8,34ff.). Die Abschiedsreden ziehen daraus die Konsequenz (vielleicht in jüngeren johanneischen Schichten), erst Jesu Kommen mache die Sünde unentschuldbar (15,22ff.). Durch den Parakleten (Geist), der ihn nach Ostern vergegenwärtigt, sei ein Prozeß gegen die Welt im Gang, der Sünde, Gerechtigkeit und Gericht aufdecke und in dem die an Jesus Glaubenden das Geleit in die volle Wahrheit, der Herrscher der Welt das ergangene Gericht erführen (16,7-11). Z u m Problem wird die Passion Jesu. Da jede Verfügung über Jesus „von o b e n " gegeben sein muß, mildert das Johannesevangelium die Schuld des Pilatus (19,11). Noch schwieriger wird der Umgang mit einem verfehlten Handeln derer, die glauben. Das

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Johannesevangelium vermeidet es, davon als Sünde zu sprechen (was sich bis zur Antwort auf die Verleugnung des Petrus im Nachtrag 2 1 , 1 5 - 1 9 auswirkt). Die Gabe des Geistes an die Jünger, um Sünden zu erlassen (20,23), bezieht es wahrscheinlich nicht auf Sündenvergebung in der Gemeinde, sondern auf die Menschen, denen die Jünger bei ihrer Sendung in der Welt begegnen. Die Jünger können sie aus dem Verfallensein an die Sünde lösen oder darin festhalten (Gegenstück zu 16,7—11). 6.2. Der 1. Johannesbrief variiert das Dilemma etwas. Weil Jesus erschien, um die Sünden wegzunehmen, und selbst ohne Sünde ist, bekundet, wer sündigt, wie im Johannesevangelium, daß er Jesus nicht erkannt hat (I Joh 3,4ff.). Andererseits bemerkt der 1. Johannesbrief, wie theologisch fatal es ist, ein Sündigen in der Gemeinde zu leugnen (1,8ff. u.ö.). Er wertet darum Sühnemomente beim Tod Jesu auf (2,2; 4,10), nuanciert die Fürsprache des Parakleten beim Vater statt dessen Anklage der Welt (2,1) und unterscheidet die Sünden der Geschwister, für die Gott zu bitten ist, von Sünden zum Tod (5,16f.). Eine Lösung für den Konflikt zwischen dem Konzept, Sünde bedeute Tod, und der Bewältigung konkreter Sünden wird dennoch allenfalls ertastet. Das Ziel, daß niemand sündige (2,1a), berührt Paulus (s.o. 4.). 7.

Hebräerbrief

Der Hebräerbrief arbeitet pointiert heraus, daß Jesus, grundgelegt vor aller Zeit und verwirklicht an ihrem Ende, „Reinigung von den Sünden schuf" (1,3c nach dem eschatologischen und protologischen Einsatz in l , 2 - 3 b ) . Zur Darlegung bedient er sich intensiv kultischen Denkens. Wie der Kult beginnt er bei den realen Sünden {äfiapria steht bis 8,12 immer im Plural), und kultisch formuliert er einen Leitkontrast: Während ein aaronitischer Hohepriester ohne Fehl sein solle, dies jedoch nicht einzulösen vermöge und darum für sich und die Vergehen des Volkes sühnendes Blut darbringe, ohne je die Sünden wirklich wegzunehmen (bes. 9,6f.; 10,1-4.11, eine Radikalisierung der Position, es blieben immer ungesühnte Sünden, s.o. 2.1.), ist Jesus grundsätzlich ohne Sünden und von den Sündern getrennt (4,15; 7,26; partiell vorbereitet in II Kor 5,21; vgl. jüdisch die Hohepriester-Logos-Spekulation bei Philo, Fug 108). Kein geschichtlicher Sühnekult reicht zur Deutung dessen aus. Der Hebräerbrief kritisiert die Opfer (10,3ff. u.ö.) und integriert zusätzliche Konnotate (u.a. wohl Jes 53,12: Hebr 9,28a). In seiner makellosen Hoheit bringt Jesus keine wiederholbaren Sündopfer, sondern sich selbst ein für allemal dar (7,27 u.ö.: iSozzini/Sozinianer) und Arminianer (—»Arminius/Arminianismus) vorbereitet und auf dem Boden der Metaphysik -»Spinozas und insbesondere derjenigen von Leibniz vollzogen worden. Die Sozinianer bestritten die Verderbnis der menschlichen Natur durch Adams Sünde und sahen deren Folge nur in der Notwendigkeit des natürlichen Todes für das Menschengeschlecht. Die Sünde bedeutete für sie eine Schwächung der Entscheidungsfreiheit des Willens aufgrund von Gewohnheit im Sündigen. Die Arminianer wiesen den Schuld- und Strafcharakter von Adams Sünde zurück und vertraten die Auffassung von einem Hang zum Bösen, der dem einzelnen von seinen unmittelbaren Vorfahren übererbt wird. Spinoza zufolge muß alles aus Gott hervorgehen, was überhaupt aus ihm hervorgehen kann (Ethik I: ed. Carl Gebhardt, Op., Heidelberg, II 1925, Lehrsatz 16), und ist alles aus ihm Hervorgehende an sich vollkommen und gut. Das Böse kann von daher lediglich als ontologisch uneigentlicher Schein der Sicht des Menschen auf die Welt erscheinen. Denn ein und dasselbe Ding kann zu derselben Zeit gut und schlecht und auch indifferent sein, welches Urteil abhängig ist vom Rezipienten, „der nach dem Zustand seines Gehirns über die Dinge geurteilt oder vielmehr die Affektionen seiner Vorstellung für die Dinge selbst genommen h a t " (ebd. Anhang), was aber nicht bedeutet, daß die Dinge an sich weniger vollkommen sind, ,,wcil sie die Sinne der Menschen ergötzen oder beleidigen" (ebd.). Leibniz ordnet das physische Übel und das moralische Böse ein in sein Konzept von der besten aller möglichen Welten unter der Bedingung der Endlichkeit. Dabei wird das Übel (malum physicum) als mit der Endlichkeit alles Geschaffenen und die Möglichkeit des moralisch Bösen (malum morale) als mit der ursprünglichen Unvollkommenheit der Kreatur mitgesetzt behauptet sowie unter dem Vorzeichen des Satzes vom zureichenden Grund der göttlichen Weltordnung eingeschrieben, die das Böse um der freien Verwirklichung des Guten willen zugelassen und bedingt gewollt hat (Die Theodizee I, übers, v. Artur Buchenau, Hamburg 2 1968 [PhB 71], N r n . 20ff.ll0ff.). „Was nun den Ursprung des Übels anbelangt, so ist es richtig, daß der Teufel Urheber der Sünde ist, doch reicht der Ursprung der Sünde noch weit tiefer, und sie findet ihre eigentliche Quelle in der angeborenen Unvollkommenheit der Kreaturen; dies macht sie fähig zu sündigen" (ebd. S. 217). 2.2. Pietismus Für die pietistische Frömmigkeitspraxis (vgl. bes. Ph.J. -»Spener; A.H. -»Francke) gehört der Vollzug wahrer Buße, „wie dieselbe besteht in redlicher Erkenntnis und wirklicher Ablegung der Sünden" (Spener 155), zur Vorbedingung der Wiedergeburt des einzelnen und der erfolgreiche Kampf gegen die Sünden zum sichtbaren Zeichen des bereits Wiedergeborenen in seinem täglichen Leben. Sündenernst und -pessimismus prägen den pietistischen Frommen, der auf dem Weg der Selbsterkenntnis die „aus der Weltliebe fliessenden Laster" (Francke 23) im bösen -»Gewissen gewahrt und nur auf diesem Weg auch den Gnadencharakter der Gnade erfährt. Das Verständnis der Sünde

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ist stark an den „weltlichen Lüsten", insbesondere der geschlechtlichen Sinnlichkeit ausgerichtet. Auf dem persönlichen Schuld- und Verantwortungsbewußtsein für die Sünde liegt das Gewicht, was zu einer gewissen Distanz gegenüber dem traditionellen Erbsündenverständnis führen kann. Mit der Betonung der einzelnen Tatsünden rückt ein moralistisches Verständnis der Sünde und mit derjenigen der individuellen Selbsterkenntnis ein psychologisierender Zugang zur Sündenerkenntnis in den Vordergrund. 2.3.

Jansenismus

Im Zuge der nachtridentinischen innerkatholischen Auseinandersetzung um die Gnadenlehre hat C. -»Jansen unter Rückgriff auf -» Augustin und in Anknüpfung an M. -»Bajus die Erbsündenlehre wieder radikalisiert und entsprechend die Alleinwirksamkeit der Gnade beim Heilsgeschehen insbesondere gegenüber den -»Jesuiten betont. Durch den Sündenfall ging der status naturalis gänzlich, nicht nur das donum superadditum verloren. Infolgedessen sind Vernunft und Wille in sich pervertiert, so daß dem sündigen Menschen zwar die Freiheit geblieben ist, sich einzelner sündiger Taten zu enthalten, nicht aber diejenige, nicht sündigen zu können, wobei die Willentlichkeit des tätigen Vollzugs der Sünde und nicht eine dafür vorauszusetzende Indifferenzfreiheit deren Schuld begründet. 2.4.

Puritanismus

Im -»Puritanismus wird der Stand der -»Heiligung als erfolgreicher Kampf gegen die Sünden zum sichtbaren Zeichen der Erwähltheit des einzelnen und der Gemeinde der Erwählten (-»Erwählung). Die rigorose und genaue Einhaltung des religiösen Gesetzes in allen Bereichen des Lebens bildet die oberste Maßregel für die Handhabung der -»Kirchenzucht und ist das strikte Gebot im Kampf gegen die lasterhafte Welt, von deren Sünden sich der Puritaner mit Abscheu separiert. 2.5. Neologie

und

Rationalismus

Die Entwicklung und die Eigenart der Hamartiologie in der Neologie (-»Aufklärung) und im -»Rationalismus ist dadurch geprägt, daß die Radikalität des Sünderseins des je einzelnen, wie es die Erbsündenlehre festzuhalten sucht, sowie die Behauptung der Schuld der Erbsünde zurückgenommen werden. Die Vorstellung, daß Adams Fall dem ganzen Menschengeschlecht als Schuld zugerechnet wird, gilt als unvereinbar mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes; ferner als moralisch widersprüchlich, da sittliche Schuld nur vorliegt bei eigenverantwortlichem Handeln. So zieht etwa H.S. -»Reimarus für die vernünftigen Verehrer Gottes den Schluß, daß es unmöglich sei, einen Gott zu lieben, der „uns das Elend unserer Natur als unsre Sünden-Schuld imputirte" (Reimarus, Apologie II, 467). Denn „Sünde und Gerechtigkeit sind etwas persönliches, und dem eintzelen Wesen . . . eigenes" (ebd. 490). Die Vorstellung einer Zurechnung der Sünde Adams wird von der Theologie des 18. Jh. weitgehend verworfen (J.L. von -»Mosheim; Johann Gottlieb Töllner [1724-1774]; Gottlob Christian Storr [1746-1805]; Frank Volkmar Reinhard [1753-1812]). Zudem wird die Sünde nicht mehr in einer grundlegenden Verkehrung der menschlichen Natur gesehen, sondern in dem Übergewicht der Sinnlichkeit über die Vernunft, und die Ursache dafür wird darin gesehen, daß jene sich früher als diese entwickelt und durch schlechte Erziehung, böse Beispiele und Gewöhnung verstärkt wird. Insofern ist die Sündhaftigkeit für die Entwicklung des einzelnen in gewisser Weise unvermeidbar, durch den von der vernünftigen Einsicht geleiteten Willen aber prinzipiell beherrschbar. Exemplarisch fragt -»Lessing: „Wie, wenn . . . der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sei, daß er moralischen Gesetzen folgen könne?" (Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts §§ 74.75). Die Neologie und der Rationalismus sind getragen von dem Ideal einer Entwicklung des Menschen durch sittliche Erziehung und überzeugt von der dafür voraus-

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zusetzenden unaufhebbaren Güte der menschlichen Natur. Von deren „großer Vollkommenheit" ist Friedrich Nicolai (1733-1811) begeistert; denn „wir besitzen Kräfte zum Guten", aufgrund derer „wir Tugenden und edle Taten ausüben" (F. Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, 3 Bde., Berlin/Stettin 1773 1776, II 1775, 4. Buch, 1. Abschnitt: ed. Bernd Witte, Stuttgart 1991,163). Der faktische Wirkzusammenhang zwischen der Sünde Adams und derjenigen des Menschengeschlechts kann schließlich ganz aufgelöst werden, und J.G. Töllner kommt zu dem Schluß: „Wir haben in Adam nichts verloren" (Töllner I I / l , 213). Adams Vergehen gilt lediglich als der erste Anfang in einer Reihe von Taten des Menschengeschlechts, so daß sich die Sündhaftigkeit in demselben sowie im einzelnen durch Anhäufung schlechter Sitten und Gewohnheiten erst allmählich entwickelt. Die Neologie und der Rationalismus verstehen die Sündhaftigkeit des Menschen als eine grundsätzlich durch religiös-moralische Erziehung beherrschbare Neigung zum Bösen, die allererst durch Gewöhnung Böses tut und böse wird. Dem Christentum, das vorwiegend als Moralreligion verstanden wird, kommt dabei die Aufgabe zu, den Prozeß des sittlichen Verfalls zu stoppen und das Menschengeschlecht wieder der Herrschaft des Wahren, Schönen und Guten entgegenzuführen. Weil demgegenüber das Dogma von der Erbsünde die Voraussetzungen dieses Moral- und Vernunftoptimismus untergräbt, indem es den „vorzüglichen Werth der menschlichen Natur" (J.F.W. Jerusalem) hinsichtlich der Erkenntnis und Verwirklichung des Guten grundsätzlich in Frage stellt, ist es die Erbsündenlehre, die den Hauptangriffspunkt für die sich langsam bahnbrechende Kritik an der überkommenen kirchlichen Lehre abgibt. Den Hintergrund dieser Entwicklung bildet die auf dem Boden von Leibniz ausgearbeitete Philosophie von Ch. -»Wolff, der den Begriff der Natur des Menschen grundsätzlich positiv wertete und von daher die auf der Vernunft des Menschen basierende natürliche Gotteserkenntnis und Religion sowie die im Vermögen des natürlichen Willens gründende Moral nicht allein würdigte, sondern als Maßstab für die Offenbarung, die besonders in ihrer ethischen Bestimmtheit betont wird, in Geltung brachte. Die ethisch relevante Freiheit ist dem natürlichen Menschen möglich und liegt in der Bestimmung des Willens durch die vernünftige Einsicht in das Gute. Daher konnte nicht nur Wolff die Moral des Heiden Konfuzius preisen und Verniinfftige Gedancken... von den Kräfften des menschlichen Verstandes (Halle 1712) und Verniinfftige Gedanken von der Menschen Thun und Laßen. Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (Halle 1720) unterbreiten, sondern ebenso Johann August Eberhard (1739-1809) eine Neue Apologie des Sokrates (Berlin/Stettin 1772) verfassen, in der dem Heiden eine dem Menschen als solchem natürliche und durch sittliche Bildung entwickelbare Tugend zugestanden und dementsprechend die Seligkeit der tugendhaften Heiden vertreten wird. 2.6. Johann

Georg

Hamann

Sich als einsamen Prediger in der Wüste verstehend hat J.G. -»Hamann den Vernunftund Moraloptimismus seiner Zeit prophetisch unter das Wort vom Kreuz gebracht und Krise und Gericht über die „sich vergötternde Öffentlichkeit" angesagt, indem er den Götzen schlechthin seiner Zeit, die Vernunft, unter das Signum des Sündenfalls und in ihre „überaus sündige Unwissenheit" eingestellt und ebenso eine Erneuerung der aufklärerisch verderbten Sprachnatur vom Wort Gottes her angemahnt hat. Die von Hamann für seine Zeit und Öffentlichkeit geforderte, nur durch eine grundlegende Krise heraufzuführende Umkehr bildet auch diejenige Erfahrung, die in dem einzelnen die Hingabe an die Wirklichkeit des Kreuzes Christi bewirkt. So hat es Hamann von sich selbst und seiner Bekehrung berichtet. Er wird durch die Lektüre der heiligen Schrift zur abgründigen Selbsterkenntnis gebracht, „daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war", und in dieser Höllenfahrt eigener, unvertretbarer Schuld- und Sündenerkenntnis zum Kreuz Christi als dem Ort der Erlösung geführt. Denn nichts „als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergöt-

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terung" (zit. nach Seils 386). Diese Weisung wurde von der Theologie der Erweckung beherzigt (s.u. 4.4.). 2.7. Jean-Jacques

Rousseau

Dem zeitgenössischen Fortschrittsoptimismus hat J.-J. -»Rousseau widersprochen und seinerseits die Paradiesesgeschichte für die Konzeption eines Ideals als Gegenbild zur faktischen Geschichte herangezogen. Diesem Ideal zufolge lebte der urständliche Mensch in einem paradiesischen status naturalis, welcher in gewisser Weise ein autarker, weil durch „die Unberührtheit von den Leidenschaften" und die „Unkenntnis des Lasters" (Schriften zur Kulturkritik, hg. v. Kurt Weigand, Hamburg 1955 [PhB 243] 171) sowie durch eine vom Mitleid gemilderte Selbstliebe (vgl. ebd. 169) geprägter Zustand ist. Aus diesem ist der Mensch mit dem Vollzug der Eigentumsbildung, durch welche es allererst zur begehrlichen und neidischen Selbstsucht kommt (vgl. ebd.), herausgefallen und wurde so zum Begründer der bürgerlichen Gesellschaft, die als status corruptionis verstanden, damit negativ besetzt und teleologisch auf die Wiederherstellung des Naturzustandes auf höherer Ebene bezogen wird. In dieser Konzeption ist vorgebildet, was dann insbesondere bei K. -»Marx und vermittelt über die Kritische Theorie im Begriff der strukturellen Sünde erfaßt wird und vor allem in der Befreiungstheologie und der Feministischen Theologie Aufnahme gefunden hat: das Theorem des Sündenfalls bzw. der Sünde als Interpretament zur Entlarvung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen sozialer Unterdrückung. 3. Das mythische culpa"

Verständnis

von Gen 3 und die Deutung des Sündenfalls

als

„felix

Von besonderem Einfluß auf die Entwicklung der Sündenlehre war das Aufkommen der historisch-kritischen Auslegung der Schrift. Das buchstäbliche Verständnis von Gen 3 als einer Geschichtserzählung wurde weitgehend aufgelöst, und die form- und literargeschichtliche Methode ermöglichte eine mythische Deutung der Paradiesesgeschichte, mittels derer die Erzählform des Mythos von dem darin ausgedrückten Vernunftgehalt unterschieden und im Zuge dessen Gen 3 als moralisches Lehrgedicht verstanden werden konnte, das von den Kindertagen des Menschengeschlechts bzw. denen des einzelnen Individuums in der Frühphase seiner Entwicklung erzählt. Mit der Deutung der Paradiesesgeschichte als Mythos war die Möglichkeit gegeben, die Einmaligkeit des ädamitischen Sündenfalls aufzuheben und den Wirkzusammenhang der Sünde Adams mit seinen Nachkommen weitgehend aufzulösen. Sodann eröffnete die mythische Deutung die Möglichkeit für eine „Positivierung des Sündenfalls" (Marquard) als felix culpa und deren Applikation von Adam als dem exemplarischen Menschen auf jeden Menschen in der auf den Vernunftgehalt zielenden Auslegung der Paradiesesgeschichte, wie sie durch Kant, Schiller, Hegel, Fichte und Schelling vollzogen wurde. Ihnen zufolge ist der Sündenfall jeweils individuell zu vollziehen und erhält einen grundsätzlich positiven Sinngehalt, indem er als konstitutiv für die Entwicklung von Vernunft und Freiheit sowohl menschheitsgeschichtlich als auch individualgeschichtlich behauptet wird. So versteht etwa Kant (s.u. 4.1.) ihn als den „Übergang . . . aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft: mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit" (Kant, Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte, A 13). Die Sündenfallgeschichte erzählt von einer Glückstat des Menschengeschlechts. Diese preist F. -»Schiller als den Ausgang aus „einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft . . . zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit" (Schiller, SW IV, 768), als den „Abfall von seinem Instinkte - also erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins, [der] . . . ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte" ist (ebd. 769).

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3.1. Johann Gottlieb Fichte Von daher kann wiederum J . G . -»•Fichte das Böse als „Trägheit" (Fichte, SW IV, 199) verstehen, nämlich als ein Widerstreben des Menschen, den naturhaften Zustand zu überschreiten, der ihm zu überschreiten qua Freiheit grundsätzlich möglich und als vernünftigem Subjekt geboten ist. Die Trägheit ist zwar eine der Natur des Menschen als solcher anhaftende Kraft, „die durch lange Gewohnheit sich selbst ins unendliche reproduziert" (ebd. 202). Gleichwohl ist das Verharren im Zustand der Trägheit keineswegs als naturgegeben und gleichsam notwendig zu behaupten. Vielmehr gilt, daß des Menschen faktische Verweigerung der Erhebung zum Standpunkt der Vernunft „am Nichtgebrauche seiner Freiheit" liegt, also ein Zustand der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist, mithin „seinen Grund in der Freiheit" hat und insofern faktisch und objektiv den Charakter der Schuld eben angesichts der Bestimmung des Menschen zur Vernunft hat, so daß die Frage der Schuld des Bösen als Trägheit nicht davon abhängt, „ob er gleich in seinem gegenwärtigen Zustande seiner Verschuldung sich nicht bewußt wird" (ebd. 182 f.).

3.2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Ähnlich wie Fichte hat auch G.W.F. -»Hegel von dem Gedanken der für die Bestimmung des Menschen und deren Verwirklichung konstitutiven Erhebung zum absoluten Geist her den natürlichen Zustand des Menschen als einen solchen bezeichnet, der um willen des Zusichselbstkommens des endlichen Geistes aufzuheben ist und als solcher nicht als urständlich guter Zustand behauptet werden kann. Wie der Mensch „von Natur ist, ist er, wie er nicht seyn soll, sondern was er ist, soll er durch Geist seyn, durch Wissen und Wollen dessen, was das Rechte ist" (Hegel, SW XV, 285). Daher fordert Hegel eine für das Werden des Selbstbewußtseins konstitutive „Entzweiung" von der „urständlichen", bloß an sich seienden Einheit des Geistes mit dem Absoluten, welche Entzweiung für die Entwicklung des Selbstbewußtseins notwendig und als solche nicht böse ist. Böse wird der Mensch allererst, wenn er die Erhebung zum Absoluten verweigert, indem die Entzweiung in Willkür umschlägt und die Subjektivität sich in der auf sich beziehenden Selbstfixierung und solcherart als „Selbstsucht" verschließt (ebd. 261 ff.). Die Sünde ist so der Zustand der Entfremdung zwischen endlichem und unendlichem Geist in der abstrakten Vereinseitigung beider Seiten des Verhältnisses. „Böseseyn heißt abstract, mich vereinzeln; die Vereinzelung, die sich abtrennt vom Allgemeinen" (ebd. 264). Die -»Spekulative Theologie (vgl. bes. Ph.K. -»Marheineke; W. -»Vatke; Alois Emanuel Biedermann [1819-1885]) ist Hegels Verständnis weitgehend gefolgt und hat die Vorstellung vom Sündenfall auf die individualpsychologische Entwicklung eines jeden appliziert und die Urstandslehre als teleologisch zu verwirklichende Bestimmung des Menschen interpretiert.

4. Kant und das 19. Jahrhundert 4.1. Immanuel Kant I. -»Kants Bedeutung für die Entwicklung der Sündenlehre in der Moderne liegt darin, daß er das Paradigma gelegt hat für eine am Gesetz sowie am Verantwortungsprinzip orientierte und dafür die unbedingte Freiheit des Willens voraussetzende Sündenlehre. Seine Auffassung vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur bildet im zeitgenössischen, durch eine weitgehende Relativierung der Sünde gekennzeichneten philosophischen und theologischen Kontext eine Ausnahme. Deren nachhaltige Rezeption in der protestantischen Theologie wurde insbesondere durch die - auch von Schelling beeinflußte - Hamartiologie von J . -»Müller vermittelt. In seinen Ausführungen über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (vgl. zum folgenden -»Kant/Neukantianismus 1.2.5.) setzt Kant ein mit der jedermann evidenten Erfahrung von der Faktizität des Bösen in der Welt. Nach Kant kann und

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muß aus einer einzigen bösen Maxime auf eine böse Gesinnung als Grund aller besonderen Maximen a priori geschlossen werden. Die böse Gesinnung kann wiederum nicht darin bestehen, daß das Böse als solches als Handlungsgrundsatz aufgenommen wird, sonst wäre der Mensch ein teuflisches Wesen. Vielmehr nimmt der Mensch die „Triebfedern der Sinnlichkeit . . . (nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe) . . . in seine Maxime a u f " (B 33) und ordnet das Sittengesetz dem unter. Angesichts des Faktums des unbedingte Achtung gebietenden Sittengesetzes ist der subjektive erste Grund dafür „unerforschlich" (B 46). Er muß allerdings der Schuldzurechnung wegen als eine „intelligibele T a t " der Freiheit „bloß durch Vernunft, ohn alle Zeitbedingung" (B 26) gedacht werden. Denn es muß nach Kant jede böse Handlung so beurteilt werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stand der Unschuld in sie geraten wäre qua ursprünglichem Gebrauch seiner Willkür (vgl. B 42). Die Allgemeinheit des Bösen im Menschen erfaßt Kant durch den Gedanken des als selbstverschuldet und nicht als angeerbt zu verstehenden „Hangs zum Bösen" (B 44ff.) in der freiheitlichen Verkehrung der Grundmaxime, welche alle empirischen Handlungen bestimmt. Dessen Überwindung geschieht nicht durch allmähliche sittliche Besserung, sondern durch eine „Revolution für die Denkungsart" (B 54), welche die Änderung des Grundes aller Maximen bewirkt. Indem aber der Grund aller Maximen verdorben ist, ist das Böse einerseits „durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen"; er muß aber andererseits für den Menschen als moralisches Subjekt „zu überwiegen möglich sein" (B 35). Denn er soll ein moralisch guter Mensch werden, also muß er es auch können. 4.2. Friedrich Wilhelm Joseph

Schelling

In F.W.J. -»Schellings „Freiheitsschrift" erfährt die Theorie der Sünde in gewisser Weise eine metaphysische Rückbindung. Der „Grund in G o t t " oder die „Natur in G o t t " (Schelling, SW 1/7, 357f.), welche ein in Gott durch seinen Liebeswillen dauerhaft gebändigt Unbändiges ist, bildet den kontingent schöpferisch wirkenden Grund freier Geschöpfe und in ihnen wirkend zugleich die Bedingung der Möglichkeit eines Auseinanderdriftens zwischen „Partikularwille" und „Universalwille" in der „Erhebung des Eigenwillens" über diesen (ebd. 363ff.). Die Sünde ist „Entzweiung" (ebd. 377), „positiver Gegensatz" (ebd. 367) gegen das Gute, nämlich ein Streben des Willens, „das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein" (ebd. 365). Sie ist mithin als privatio boni ebenso wie als malutn metaphysicum unterbestimmt. Denn sie gründet weder in der Endlichkeit noch in der Sinnlichkeit des Geschöpfs, sondern in der „formellen Freiheit" (ebd. 382ff.) des Willens, die ein Vermögen der „ M ö g lichkeit des Guten und des Bösen" (ebd. 364) darstellt und zur Entschiedenheit im Guten bzw. Bösen drängt, „weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben k a n n " (ebd. 374), so daß es zur gleichwohl kontingent-faktischen Entscheidung in ,,eigne[r] Wahl" (ebd. 382) kommen muß. Solcherart fällt jede „Creatur . . . durch ihre eigne Schuld" (ebd. 381). Die Universalität des Bösen erklärt Schelling mit dem Gedanken, daß jeder Mensch sich „von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen" hat und mit dem „anhängenden finsteren Prinzip des Bösen geboren" (ebd. 388) wird. Der Fall des Menschen hat zerstörende Auswirkungen für die Menschheit und die gesamte außermenschliche Kreatur, was sich in den Übeln und insbesondere am Tod zeigt (ebd. 459). Schelling kann der in Gott gründenden Möglichkeit des Bösen eine für den Vollzug der Offenbarung des Guten in der Welt notwendige Funktion zumessen: „Wäre keine Zertrennung der Prinzipien, so könnte die Einheit ihre Allmacht nicht erweisen; wäre nicht Zwietracht, so könnte die Liebe nicht wirklich werden" (ebd. 374). 4.3. Richard

Rothe

R. -»Rothe lehnt - wie Schleiermacher (s.u. 4.6.) und wie die spekulative Theologie - sowohl die Vorstellung eines historisch einmaligen als auch die eines je individuellen

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intelligiblen bzw. vorzeitlichen Sündenfalls aus einem vollkommenen Urständ als aporetisch ab, zum einen, weil wir davon keine konkrete Vorstellung haben, und zum andern, weil solcherart die Möglichkeit des Abfalls schlechterdings unerklärlich bleibt (Ethik [ 2 1870] III, § 480f.). Er setzt vielmehr bei der empirischen Entwicklung des Individuums und einer in ihr sich infolge der einzelnen Tatsünden zugleich auch steigernden Neigung zum Bösen ein. D a b e i leitet er die „ s i n n l i c h e " und die „ s e l b s t s ü c h t i g e " Sünde (§ 4 6 7 [S. 11 f.]) von der „ Ü b e r m a c h t der materiellen N a t u r " (§ 4 8 1 t . ) des M e n s c h e n her, die als eine mit der natürlichen Entwicklung des M e n s c h e n gegebene und insofern als a n g e b o r e n e Sündhaftigkeit zu verstehen ist. Von einem „ M i n i m u m an S ü n d e " (§ 4 8 0 [S. 51]) ist auch für das erste M e n s c h e n p a a r auszugehen und die traditionelle Fassung der Urstandslehre mithin aufzugeben. D e n n die materielle N a t u r des M e n s c h e n ist „ a n sich s e l b s t . . . egoistisch g e r i c h t e t [ J " (§ 4 6 7 [S. 11]). D e m M e n s c h e n ist „in seiner b l o ß e n N a t ü r l i c h k e i t . . . die Selbstsucht n a t ü r l i c h " (§ 4 6 2 [S. 2 ] ) , und die Sünde ist das „Sich (kraft eigener Selbstbestimmung) bestimmen lassen der Persönlichkeit durch die materielle N a t u r " (§ 4 6 7 [S. 12]). S o ist sie „Feindschaft wider G o t t " (§ 4 6 6 [S. 10]), denn die nicht durch die Persönlichkeit b e s t i m m t e , b l o ß e M a t e r i e ist „ein von G o t t definitiv nicht gewolltes, der reine Gegensatz G o t t e s " (ebd.).

4.4. Friedrich

August Gottreu

Tholuck

und Julius

Müller

4.4.1. EA.G. -»Tholucks klassischer und enorm breitenwirksamer Erweckungstraktat Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: die wahre Weihe des Zweiflers (1823) macht im Titel deutlich, was die sog. Erweckungstheologie (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) dem Zeitgeist entgegenzusetzen sucht: Die vertiefte Erkenntnis des Abgrunds menschlicher Sünde, von welcher her sich allererst die Bedeutung des Versöhners erschließt. Leidenschaftlich bekämpfter Kontrahent ist neben dem Rationalismus insbesondere die zeitgenössische spekulative Philosophie. Denn diese führt nach Tholuck konsequent gedacht zum Pantheismus und ineins damit zur Leugnung der Radikalität der Sünde sowie der individuellen Besonderheit des einzelnen. An die Stelle spekulativer Ableitung der Sünde aus dem absoluten Begriff, in welcher nach Tholuck die Sünde als denknotwendiges Moment in ihrer Radikalität unweigerlich nivelliert und zum bloß Negativen erklärt wird, setzt die Erweckung die Gewissenserfahrung des einzelnen: „Ja Erfahrung, und immer wieder nur Erfahrung kann Sünde Natur und Macht erkennen lehren" (Tholuck 29). Darum wird als „die Angel alles menschlichen Wissens" (ebd. 8) der Grundsatz ausgesprochen: „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntnis möglich" (ebd.). Auf dem Wege der Selbstbetrachtung läutet „laut genug die Grabesglocke Deines Gewissens" (ebd. 16) und macht die Wirklichkeit der Sünde in ihrer Radikalität offenbar. Ausgehend von der Wirklichkeit der Sünde ist sodann ihre Möglichkeit durch den Begriff der formellen Freiheit als eines Vermögens, auch anders zu können, zu entfalten. 4.4.2. J . -»Müller, Tholucks langjähriger Weggefährte in Halle, hat diese Forderung in exemplarischer Weise zur Durchführung gebracht in seinem zweibändigen Werk Die christliche Lehre von der Sünde (1844 4 1858). Den Ausgangspunkt bildet für Müller „das Vorhandensein des sittlich Bösen und dessen unwidersprechliche Selbstzurechnung im Gewissen" (J. Müller II, 208). Er bestimmt die Sünde als faktische Übertretung des göttlichen Gesetzes, die im Schuldbewußtsein dem einzelnen als Urheber zugerechnet wird (I, 260). M ü l l e r sucht d e s h a l b den G e d a n k e n unbedingter Selbstbestimmung als im Schuldspruch des Schuldbewußtseins mitgesetztes und insofern denknotwendiges Postulat der Sündenlehre zu entfalten. D a z u dient ihm der Begriff der formalen Freiheit als eines Vermögens, auch anders zu k ö n n e n ; und zwar anders zu können gegenüber dem faktischen und unbedingten Geltungsanspruch des göttlichen Gesetzes als dem absolut G u t e n . „ D e r Begriff der Schuld e n t h ä l t . . . wesentlich das M o m e n t der Verursachung durch Selbstentscheidung; er hat zu seiner G r u n d l a g e die Freiheit, die die M ö g l i c h k e i t eines andern in sich schließt, die mithin nicht b l o ß den Z w a n g , sondern auch die innere Notwendigkeit (im metaphysischen Sinne) v e r n e i n t " (II, 4 2 1 ) .

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Ein solcher Akt unbedingter Selbstbestimmung, wie ihn der Schuldspruch des Gewissens postuliert und wodurch eine Mitverursachung der Sünde durch Gott schlechthin verneint wird, ist in der Sphäre empirischer Freiheit, wo der Determinismus nicht gänzlich auszuschließen ist, nicht auszumachen. Daher behauptet Müller eine „außerzeitliche Selbstbestimmung" des je einzelnen. Infolgedessen nimmt er einen je individuellen Urständ und je individuellen Fall in die Sünde an, im Sinne eines „dem individuellen Zeitleben vorangehenden gemeinsamen und doch für alle persönlich freien Urfalles" (II, 489), der wiederum das empirische Leben des einzelnen von Anfang an bestimmt. D e r Sünde Adams k o m m t dabei nur marginale Bedeutung zu. Der G e d a n k e eines je individuellen Urfalls klärt die Allgemeinheit der Sünde sowie deren Schuld, was die h e r k ö m m l i c h e Gestalt der Erbsündenlehre nach M ü l l e r gerade nicht leistet. Die M ö g l i c h k e i t der außerzeitlichen Selbstbestimmung zur Sünde liegt in der formalen Freiheit als einem Vermögen, auch anders zu k ö n n e n . Die Faktizität solcher Selbstbestimmung ist unableitbar kontingent und unerklärbar. Inhaltlich bestimmt M ü l l e r die Sünde als Widerstreit gegen das Gesetz, gründend in der Selbstsucht des Menschen.

Müllers insbesondere an Kant und Schelling anschließende Hamartiologie kommt exemplarische Bedeutung zu für eine am Gesetz und seiner Übertretung sowie an der unbedingten Verursachung der Sünde durch die Freiheit des Subjekts orientierten Sündenlehre. Sie ist zumindest durch die folgenden Probleme belastet: zunächst durch die Bestimmung des transzendentalen Begriffs der Freiheit im Sinne eines transzendenten Vollzugs der Freiheit des einzelnen in einer außerzeitlichen, dem irdischen Leben zeitlich vorausliegenden Sphäre; sodann durch die Frage, „wie es doch psychologisch möglich war, daß das rein gute Geschöpf sich selbstsüchtig von seinem Schöpfer abwendete" (Rothe, Ethik III, § 480 [S. 54]); ferner durch die Frage, ob ein dem göttlichen Gesetz gegenüber indifferentes, zur Wahl zwischen Beachtung und Nichtbeachtung des Gesetzes bestimmtes Freiheitsvermögen als gut verstanden werden kann. Zudem setzt Müller das Paradigma des von sich selbst anfangenden Frciheitsvollzugs an der Stelle des Geschöpfs unhinterfragt für seine an Urständ und Fall ausgerichtete Konzeption voraus (vgl. insgesamt Axt-Piscalar, Kap. II). 4.5. Sören

Kierkegaard

S. -»Kierkegaards Ausführungen zur Erbsünde in Der Begriff Angst (1844) stehen in gewisser Nähe zur Hamartiologie der Erweckung. Auch für ihn ist die Sünde das antispekulative Thema schlechthin, weil die Spekulation das Böse als Negatives und mithin bloß als „die Immanenz der Bewegung, . . . das Verschwindende, . . . das Aufgehobene" (ebd. 10) bestimmt. Auch für ihn kann die Wirklichkeit der Sünde nur durch Selbsterfahrung erschlossen werden. Sünden- und Schulderfahrung ist konzentrierte Erfahrung der unvertretbaren Individualität des einzelnen, und darum heißt es: „Der Begriff Sünde und Schuld setzt eben den Einzelnen als den Einzelnen" (ebd. 100). Wegen des grundlegenden Zusammenhangs von Schuldzurechnung und Freiheitsvermögen wird die klassische Erbsündenlehre einer Kritik unterzogen, denn in ihr wird Adam „phantastisch" aus der Geschichte der Menschheit „herausgesetzt" (ebd. 22), und zwar entweder „dialektisch-phantastisch" durch die Annahme einer urständlichen und übernatürlichen Vollkommenheit Adams oder „historisch-phantastisch" in der föderaltheologischen Vorstellung von Adam als dem moralischen Haupt des gesamten Menschengeschlechts (vgl. ebd. 22). Der Begriff „erste Sünde" ist für Kierkegaard vielmehr wie von Adam, so von jedem einzelnen auszusagen und mithin ein je individueller Urständ und ein je individueller Fall zu behaupten. Das erfordert der Schuldcharakter der Sünde. „Indes allein durch Schuld geht die Unschuld verloren, ein jeder Mensch verliert die Unschuld wesentlich auf die gleiche Weise wie Adam es getan" (ebd. 34). M i t dieser O p t i o n will Kierkegaard nicht eine von A d a m beginnende und sich quantitativ ausbreitende, durch die D o m i n a n z der Sinnlichkeit spezifisch ausgeprägte Sündigkeit der M e n s c h heit leugnen. W ä h r e n d es bei dieser Sicht jedoch nur zu quantitativen Bestimmungen eines M e h r

Sünde VII

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an Sündigkeit kommt, geht es für Kierkegaard bei der Erfassung der Sünde um den „qualitativen Sprung", durch den die Sünde als grundlegende Verfaßtheit des menschlichen Selbstvollzugs ursprünglich gesetzt wird, welche Verfaßtheit dann allen einzelnen Vollzügen des Menschen diese bestimmend zugrunde liegt (vgl. ebd. 45).

Wird die Sünde durch den „qualitativen Sprung" eines jeden als das „Neue" in seiner unableitbaren Faktizität gesetzt, so ist des Schuldcharakters der Sünde wegen die reale Möglichkeit der Sünde auszuloten. Diese zunächst „psychologische" Bedeutung kommt dem Begriff Angst zu. „Angst ist der psychologische Zustand, welcher der Sünde vorausgeht, . . . ohne jedoch die Sünde zu erklären, die erst im qualitativen Sprung hervorbricht" (ebd. 94). Dabei wird die Angst von der -»Furcht, welche sich auf etwas Bestimmtes bezieht, dadurch unterschieden, daß sie nicht gegenstandsbezogen und also nicht von etwas Bestimmtem evoziert ist. Sie ist vielmehr mit dem Selbstvollzug des Menschen verbunden, und zwar so, daß in der Angst die mit dem Vollzug der Freiheit als Selbstkonstitution verbundene Ambivalenz anwest. Diese aus dem Freiheitsvollzug als solchem herrührende Bedeutung kommt dem Begriff Angst sodann und insbesondere zu (vgl. Axt-Piscalar 141-174). „Angst [ist] die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit" (ebd. 40). Sie gründet nicht in einer als abstrakt freies Wahl vermögen vorgestellten Freiheit, worin Kierkegaard ein „Gedanken-Unding" (ebd. 48) sieht. Sie entspringt vielmehr unmittelbar aus dem „sich für sich Zeigen der Freiheit in der Möglichkeit" (ebd. 114). Dies versetzt den Menschen in die existentielle, von allen konkreten Ängsten unterschiedene Grundangst. Die Frage nach dem Ursprung dieser Angst und ihrer Bedeutung für Kierkegaards Sündenkonzeption ist nur beantwortet, wenn der Zusammenhang zwischen Angst und endlichem Freiheitsvollzug einer Klärung zugeführt wird. Dafür sind zwei Momente konstitutiv. Zum einen: Die Angst kommt auf, weil Freiheit die „Bestimmung" des Menschen als Geist ist, insofern er Geist nur ist, indem er sich als Geist selbst setzt (vgl. ebd. 47). Das aber heißt, daß der Mensch seine Bestimmung, Geist zu sein, sich als Geist selbst zu setzen, nicht außerhalb seiner belassen kann. Sie west vielmehr im Menschen an. Er kann sich nicht nicht zu ihr verhalten. Zum andern: Die Angst kommt auf, weil der Selbstvollzug als Geist zum Geistsein des Menschen gehört und dieser sich darin und dadurch zugleich in bestimmter Weise verwirkt. Es ist dieses Zugleich und also die Ambivalenz des Freiheitsvollzugs in sich selber, was die Angst aufkommen läßt. Nur wenn die Angst als Ausdruck der Ambivalenz des Freiheitsvollzugs selber verstanden wird, ist sie als existentielle Angst erfaßt und damit auch geklärt, warum der Freiheitsvollzug für Kierkegaard nicht zu einem titanischen Selbstgefühl führt. Er analysiert die Angst aus dem Verständnis der in sich selbst selbstbezüglich verfaßten Realisierung der Freiheit als von sich selbst anfangender Selbstsetzung und mithin als Ausdruck der Krise der Freiheit als Selbstkonstitution (vgl. Axt-Piscalar, bes. 159ff.206ff.). Daraus entspringt die Angst, weil durch diesen Vollzug der Mensch als Geist zugleich „fällt", indem er darin seiner endlichen Bestimmtheit ipso facto widerspricht. Deshalb ist „die Freiheit in sich selbst nicht frei . . . , sondern gefesselt . . . in sich selbst" (Kierkegaard, Angst 48).

In Die Krankheit zum Tode (1849) stellt Kierkegaard den Begriff der „Verzweiflung" in den Vordergrund seiner Existenzanalyse des Menschen als eines Sünders. Er bestimmt den Menschen als ein „Selbst" (ebd. 8) und dieses wiederum als ein „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält" (ebd. 8f.), will heißen, sich immer schon in dieser Weise als Selbst vollzieht. Die Perspektive auf den kontingenten Ubergang vom Stand der träumenden Unschuld in den der Sünde, die für den Begriff Angst maßgeblich ist und hier die Konzeption eines je individuellen Sündenfalls nach sich zieht, besteht in Die Krankheit zum Tode so nicht mehr, indem Kierkegaard einsetzt bei der Faktizität des menschlichen Selbstvollzugs, in welchem der Mensch sich immer schon vorfindet (Axt-Piscalar 206ff.). Aus diesem Selbstvollzug resultieren zunächst zwei Formen der Verzweiflung, nämlich „verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen" (Kier-

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kegaard, Krankheit 8), wobei Kierkegaard die letzte Form der Verzweiflung als die G r u n d f o r m versteht, auf die alle Verzweiflung zurückgeführt werden kann. Diese wiederum entspringt aus der Bestimmtheit des Selbst, „durch ein Andres [d.h. durch Gott] gesetzt [zu] sein" (ebd. 9) und dieser Bestimmtheit im Vollzug des Selbst faktisch nicht zu entsprechen und immer schon nicht entsprochen zu haben. Ein solcher Entsprechungsvollzug wäre erreicht, wenn „sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat, [gründet]" (ebd. 10): Dies geschieht allein im Glauben. Der Glaube wiederum eröffnet allererst - retrospektiv - die Erkenntnis der Verzweiflung als das, was sie wirklich ist, nämlich Sünde: Denn „es gehör[t] eine Offenbarung von Gott her dazu, um den gefallenen Menschen zu lehren, was Sünde ist" (ebd. 96). Der Glaube erschließt die Sünde zugleich als die faktische und weithin unbewußte Negation des theonomen Gesetztseins des Selbst durch seinen Selbstvollzug (Axt-Piscalar 210ff.). Denn ,,[d]araus, d a ß ein Mensch nicht in intensiverem Sinne verzweifelt ist, daraus würde ja nicht folgen, d a ß er nicht verzweifelt w ä r e " (Kierkegaard, Krankheit 101). In beiden Konzeptionen versucht Kierkegaard, die Sünde aus der strukturellen Bestimmtheit des Freiheitsvollzugs als solchem zu analysieren und durch die Begriffe „Angst" und „Verzweiflung" als Grundbestimmungen des menschlichen Selbstvollzugs existentiell zu vermitteln. Die eigentliche Dimension der Verstrickung des Selbstvollzugs in sich selber als „Sünde" erschließt sich nach Kierkegaard indes allererst im Glauben, denn „kein Mensch vermag aus eignem Vermögen und von sich selber her auszusagen, was Sünde ist, eben deshalb, weil er in der Sünde ist" (ebd. 94). In der Verbindung beider Aussagezusammenhänge besteht die Stärke von Kierkegaards Hamartiologie. Sie erlaubt es, auf die faktische und weithin unbewußte Bestimmtheit des menschlichen Selbstvollzugs als Sünde zu reflektieren, zugleich die offenbarungstheologische Begründung der Sündenerkenntnis festzuhalten und so eine am bewußten Widerspruch zum göttlichen Gesetz ausgerichtete Sündenkonzeption sowie die damit zusammenhängenden Probleme zu überwinden. 4.6. Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher

F.D.E. -»Schleiermacher entfaltet das Verständnis der Sünde auf dem Boden seiner Subjektivitätstheorie und vollzieht dadurch eine kritische Abgrenzung zu einer am Gesetz und seiner Übertretung orientierten Sündenlehre, womit ihm die Uberwindung eines ethizistisch verengten Sündenbegriffs gelingt. Er verbindet damit zugleich die Betonung des für die Erkenntnis der Sünde als Sünde konstitutiven christologischen Bezugs. Die Bedeutung seiner Hamartiologie ist insbesondere auch darin zu sehen, daß er die Implikationen der christologischen Vermittlung des Sündenbewußtseins für die Bestimmtheit desselben im christlich frommen Subjekt entfaltet. Nur indem beide Aspekte, die Bestimmung der Sünde auf der Basis seiner Subjektivitätstheorie sowie die christologisch vermittelte Bestimmtheit des Sündenbewußtseins, zusammengenommen werden, ist die Besonderheit von Schleiermachers Sündenlehre erfaßt (vgl. Axt-Piscalar). Insofern Schleiermachers Analyse des „wirklichen Selbstbewußtseins" (Glaubenslehre 1 § 4,1: ed. Redeker I, 24) zufolge das „schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl" in dem Vollzug relativer Freiheit, in dem wir uns immer schon vorfinden, „an und für sich" mitgesetzt ist, und zwar als Ausdruck dafür, d a ß „unsere ganze Selbsttätigkeit . . . von anderwärts her ist" (§ 4,3: ebd. 28), besteht der dieser Analyse entsprechende Vollzug unseres Selbstbewußtseins in der Wechselwirkung mit der Welt darin, dieses durchgängig durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl bestimmt sein zu lassen. „Je mehr nun in jedem M o m e n t sinnlichen Selbstbewußtseins das Subjekt sich . . . zugleich schlechthin abhängig setzt, um desto frömmer ist es" (§ 5,3: ebd. 36).

Die Sünde besteht mithin in der Hemmung des Inkrafttretens des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls am sinnlichen Selbstbewußtsein aufgrund der Dominanz von letzterem. Diese Dominanz des sinnlichen Selbstbewußtseins nennt Scheiermacher auch dessen „Fürsichtätigkeit" (§ 67,2: ebd. 359), durch welche das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl zwar zurückgedrängt, nicht aber gänzlich zum Verschwinden gebracht wird.

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Denn eine absolute Nullität des religiösen Gefühls kann es nach Schleiermachers Analyse des wirklichen Selbstbewußtseins nicht geben. Vielmehr ist ein Minimum desselben zu behaupten, welches Minimum als bleibende Empfänglichkeit für die Gnade (§ 70,2: ebd. 371 f.) ausgesagt wird und in Korrespondenz steht zu Schleiermachers Auffassung von der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen und der Welt, welche die prinzipielle Bestimmbarkeit aller möglichen Lebensmomente durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl beinhaltet. Die den Zustand der Sünde kennzeichnende Hemmung des Inkrafttretens des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls bedeutet eine „vollkommne Unfähigkeit zum Guten" (§ 70: ebd. 369), nämlich das Gottesbewußtsein selbsttätig setzen zu können (vgl. § 70,2). Darauf liegt der Akzent, und das wird insbesondere von der Christologie her deutlich. Denn die Wirklichkeit einer „stetigen Obergewalt des Gottesbewußtseins" (§ 62,1: ebd. 341) erscheint uns allein in der Anschauung des Erlösers. Zum faktischen Wirklichwerden des Gottesbewußtseins in uns kommt es nur durch die Mitteilung des Erlösers. Indem wiederum das mitgeteilte Gottesbewußtsein gesetzt ist, geschieht ein „Zurücksehn auf die Sünde als das frühere" (§ 63,2: ebd. 346). Im Glauben wird so - retrospektiv - der Zustand des gehemmten Gottesbewußtseins als Sünde erkannt. Von daher gilt: „Das Gegebensein des Erlösers geht . . . dem vollen Bewußtsein der Sünde voran" (§ 68,3: ebd. 365 Anm.). Denn „nur in der völligen Unsündlichkeit und der absoluten Geisteskräftigkeit des Erlösers wird uns die vollkommne Erkenntnis der Sünde" (§ 68,3: ebd. 365). Im Glauben erschließt sich mithin allererst die Sünde als Sünde. Der Glaube aber ist immer zugleich und zuvörderst Bewußtsein der Gnade, und also ist das im Glaubensbewußtsein gesetzte Sündenbewußtsein immer zugleich bezogen auf die Erlösung. Auf der Zusammengehörigkeit von beidem insistiert Schleiermacher und lehnt daher eine Betrachtung des vom Gnadenbewußtsein isolierten Sündenbewußtseins ab, weil ein solcherart isoliertes Sündenbewußtsein und die Fixierung auf dasselbe für Schleiermacher kein eigentlicher Zustand des christlich frommen Selbstbewußtseins ist. Insofern nämlich „jeder Christ sich der Sünde und auch der Gnade bewußt [ist], aber nie abgesondert, sondern immer beides ineinander und miteinander" (§ 64,1: ebd. 348), ist das Sündenbewußtsein „nicht außerhalb des Verhältnisses zum Gottesbewußtsein" (§ 66,1: ebd. 355) zu suchen und darum immer in Beziehung zur Erlösung zu sehen. Diesen Gedanken sucht Schleiermacher in seiner Sündenlehre zu erfassen, was vielfach übersehen wurde. Hier hat Schleiermachers problematische Rede von Gott als Urheber der Sünde zumindest auch ihren Ort, insofern sie besagt, daß die Sünde als Sünde allererst qualifiziert und verneint wird im christologisch, und d.h. durch göttliche Tätigkeit vermittelten Erlösungsbewußtsein (dazu Axt-Piscalar 231 ff.). Die Frage nach einem absoluten Anfang unseres Selbstbewußtseins und damit verbunden diejenige nach einem solchen Anfang in Adam ergibt sich vom wirklichen Selbstbewußtsein her nicht, insofern dieses sich vorfindet als immer schon im Vollzug begriffen zu sein. Hierin liegt der Grund dafür, weshalb Schleiermacher die Urstandslehre ablehnt. Statt dessen spricht er von einer anfänglichen Unkräftigkeit des Gottesbewußtseins in der Entwicklung des natürlichen Menschen, welche Unkräftigkeit in einem Analogieschluß von uns auf Adam auch für diesen anzunehmen ist. Er führt diese anfängliche Unkräftigkeit des Gottesbewußtseins in der menschlichen Natur auf eine göttliche Anordnung zurück. Die Unvorgreiflichkeit des Sünderseins erfaßt er durch die Vorstellung einer „der menschlichen Natur [sc. und so auch Adam] anhaftende[n] Ursündlichkeit" (Glaubenslehre 2 § 72,6: ed. Redeker I, 397) als einer „vor aller Tat hergehende[n] Beschaffenheit des handelnden Subjektes" (§ 69: ebd. 368f.), welche eine „in ihm vorhandene und jenseits seines eignen Daseins begründete Sündhaftigkeit" (§ 70: ebd. 369) darstellt. Dies ist die „Ursünde" (§ 71,1: ebd. 375). Sie wird durch den Willen des einzelnen fortgesetzt (§ 71,1: ebd. 376), solcherart verstärkt und vermehrt und wirkt als Grund in allen einzelnen Tatsünden, was die Schuld der Sünde begründet. Die mit der Natur des Menschen gegebene Unkräftigkeit des Gottesbewußtseins findet durch so-

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ziokulturelle und familiäre Bedingungen ihre je spezifische Ausprägung im einzelnen. Daneben kennt Schleiermacher den Gedanken der „Gesamttat und Gesamtschuld des menschlichen Geschlechtes" (§ 71: ebd. 374), welches ein „Gesamtleben" bildet, dem das „Gesamtleben der Gnade" (vgl. § 72,4: ebd. 393) entgegenwirkt. 4.7. Albrecht

Ritsehl

A. -»Ritsehl bindet die Erkenntnis der Sünde an den „Standpunkt der christlichen Gemeinde" und beharrt strikt darauf, daß Sündenerkenntnis die „Vorstellung von dem vollständigen gemeinschaftlichen Guten in dem Begriff des Reiches Gottes und die Vorstellung von der persönlichen Güte im Begriff Gottes und in der Anschauung von Christus" voraussetzt. Solcherart sucht er die Einsicht zur Geltung zu bringen, daß es „unmöglich [sei], daß man die dem Christentum entsprechende Einsicht in die Sünde vor der Erkenntnis dessen gewinnt, was im Sinne des Christentums gut ist" (Unterricht § 34; vgl. Rechtfertigung III1, 310). Mit kritischem Seitenhieb auf Formen pietistischer Frömmigkeit wird eine von dem Erlösungsbewußtsein der Gemeinde isolierte Sündenerfahrung (des einzelnen) als Grund und Basis der Sehnsucht nach einer Erlösung abgelehnt (Unterricht § 34). In Korrelation zum Begriff des Reiches Gottes entfaltet Ritsehl den Gedanken eines Reiches des Bösen, um die Allgemeinheit der Sünde zu erfassen. Es geht ihm dabei um einen „Ersatz für die Annahme der Erbsünde" (Rechtfertigung III 2 ,320), denn „angeerbte Sünde und persönliche Schuld können nicht zusammengedacht werden" (ebd. 317). Daher bevorzugt er die Vorstellung eines Gesamtzusammenhangs der Sünde infolge der Wechselbeziehung des Individuums mit anderen, aufgrund derer der einzelne durch die eigene Sünde diese nicht nur in sich selbst steigert, sondern die Sünde auch in anderen hervorruft, so daß das Reich der Sünde einen „Zuwachs in jeder . . . neuen Generation" (Unterricht § 39) erfährt und so eine „ M a c h t " bildet, „welche die Freiheit der einzelnen zum Guten mindestens beschränkt" (ebd.). Das Zusammenwirken der vielen bedingt eine Verstärkung der Sünde, die sich „in gemeinsamen Gewohnheiten und Grundsätzen, in stehenden Unsitten und sogar in bösen Institutionen" (ebd.) manifestiert und den einzelnen aufgrund seiner Verflechtung in den gesellschaftlichen Zusammenhang als Macht beherrscht. Dabei betont Ritsehl die Bedeutung der Tatsünden des einzelnen, um die Verantwortlichkeit für die Sünde im einzelnen und in der Gemeinschaft zu sichern. Die Allgemeinheit der Sünde ist nach Ritschis Überzeugung als „das Sündigen aller Einzelnen" (Rechtfertigung III2, 324) zu verstehen. Sie bildet eine „Kollektiveinheit als Resultat aller einzelnen Handlungen und Neigungen" (ebd.). Der empirische Wille des einzelnen erwirbt sich durch seine Handlungen einen guten oder bösen Charakter. Der Hang zum Bösen im einzelnen wird nicht auf eine intelligible (Kant) oder außerzeitliche Selbstbestimmung (J. Müller; Schelling) zurückgeführt, sondern als Resultat der Selbstzuziehung aufgrund der Selbstbestimmung des empirischen Willens in seiner jeweiligen zeitlichen Entwicklung verstanden, weil er nur so als „etwas Erworbenes" (Ritsehl, Rechtfertigung III 2 ,324) und als durch den einzelnen verantwortbar gelten kann. Indem die einzelnen Tatsünden indes nicht nur auf den eigenen Willen zurückwirken, sondern auch einen Folge- und Wirkzusammenhang freisetzen, in welchem sie sich gleichsam verobjektivieren, sind wir bezüglich des Gesamtzusammenhangs der Sünde mitschuldig, indem wir erkennen, daß unsere Sünden „die Sünde auch in Anderen hervorrufen" (ebd. 314). Die Allgemeinheit der Sünde ist eine für die Erfahrung evidente unableitbare Tatsache. Ihre Möglichkeit liegt darin, daß der menschliche Wille eine allererst „werdende G r ö ß e " ist, dem anfänglich noch keine vollständige Erkenntnis des Guten eignet, weshalb er für die Affektion durch das Böse von außen anfällig ist, was zusammen mit dem Trieb zu schrankenlosem Gebrauch der Freiheit, mit dem jeder einzelne geboren wird (vgl. Unterricht § 37), die Instabilität des Willens ausmacht, der allererst durch Erziehung sittlich gebildet werden muß. Ein Verständnis der Sünde als absoluter Unfreiheit zum Guten wird von Ritsehl in kritischer Abgrenzung zur Auffassung der

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Reformatoren als unbiblisch (Unterricht $ 39; Rechtfertigung III 2 , 329 f.) abgelehnt. Die Sünde bewirkt und verstärkt den „Grad der Unfreiheit zum Guten" (Unterricht § 39). Ein bestimmtes M a ß an Willensfreiheit ist auch bei den Verstocktesten noch anzunehmen und zeigt sich in der Regung des Gewissens (ebd. § 40).

Ausgehend vom Gedanken des gemeinschaftlichen Guten in der Verwirklichung des Reiches Gottes als oberster Zweckbestimmung der christlichen Gemeinde (ebd. § 5), dem alle anderen Zwecke unterzuordnen sind, bestimmt Ritsehl die Sünde als Widerspruch gegen das Gute (ebd. § 38), gründend in der „Selbstsucht" des Menschen (ebd. § 37), und nimmt „Abstufungen der Sünde" vor mit Bezug auf das „ M a ß ihrer Gemeinschädlichkeit" und in Rücksicht auf die „noch vorhandene[] Fähigkeit zur Besserung und Bekehrung" (ebd. § 38). Das Böse als Widerspruch gegen die gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnungen unterliegt dem sittlichen Urteil. Durch das religiöse Werturteil wird es im eigentlichen Sinn erst als „Sünde" qualifiziert, indem es auf den ReichGottes-Gedanken bezogen wird. Dadurch kommt das Böse als Widerspruch zur Verwirklichung des Reiches Gottes und darin zugleich als Widerspruch zur Ehre Gottes ans Licht (vgl. ebd. § 36). Solcherart kann Ritsehl eine Erkenntnis des Bösen und der Sünde auch außerhalb des Christentums zugestehen und dies mit seinem Grundsatz verbinden, daß der „volle Umfang des Daseins und des Unwertes der Sünde erst aus der Vergleichung derselben mit der Aufgabe des Reiches Gottes" (ebd. § 40) erhellt. Ritsehl entfaltet die Erkenntnis der Sünde, wie sie sich im christlichen Gemeindebewußtsein einstellt. In diesem kommt es in einem dazu, daß die Sünde in ihrer Radik a l i t ä t - als Widerspruch gegen Gott - aufgedeckt und zugleich auf die Erlösung bezogen wird. Denn das christliche Gemeindebewußtsein ist ein solches, das „zugleich die Gewißheit der von Gott verliehenen Erlösung mit sich führt" (ebd. § 43). Das Bewußtsein der Erlösung wiederum ist der Glaube an „die Vergebung der Sünden oder die Verzeihung, durch welche die von Gott trennende Wirkung der Schuld der Sünde aufgehoben wird" (ebd. § 44). Ritschis Ausführungen sind von Bedeutung, weil er die Erkenntnis der Sünde in einer mit Schleiermacher und mit K. Barth vergleichbaren Weise „vom Standpunkte der Versöhnungsgemeinde" her erfaßt; daher ist „das Evangelium von der Sündenvergebung der Erkenntnisgrund unserer Sündhaftigkeit" (Rechtfertigung III 2 , 304). Er hält jedoch zugleich daran fest, daß das Böse (und die Sünde) als „Tatsache... auch außerhalb des Christentums" (ebd. 305) zumindest in vorläufiger Weise bekannt ist. Ferner ist sein Gedanke vom Reich des Bösen als Interaktionszusammenhang, durch welchen und in dem die Sünde als sich verselbständigender Wirkzusammenhang gesetzt und potenziert wird und solcherart als Macht über den einzelnen herrscht, ähnlich wie bei Kant und Schleiermacher für die Erfassung des überindividuellen Charakters der Sünde bedeutsam. Problematisch jedoch ist Ritschis an der individuellen Tatsünde orientiertes Verständnis der Sünde (vgl. Axt-Piscalar 271 ff.). 5. Religionskritische

Analyse des Sünden- und

Schuldbewußtseins

L. Feuerbach kann, Hegels Gedanken der Erhebung aufnehmend und modifizierend, die Forderung nach der Erhebung des einzelnen zum Allgemeinen auf die Verhältnisbestimmung des einzelnen zur menschlichen Gattung beziehen, indem er die Gottesprädikationen zu Eigenschaften der Gattung erklärt und von daher die Sünde nicht mehr als ein verkehrtes Verhältnis des Menschen zu Gott als ein von der Menschheit unterschiedenes Gegenüber, sondern als den Widerspruch des individuellen Menschen mit seinem Wesen, wie es im Gattungsbewußtsein repräsentiert ist, versteht. Der Mensch fühlt sich sündhaft angesichts dessen, was er soll und deshalb auch sein kann, im Verhältnis zu dem, wie er ist, nämlich eine auf sich fixierte Einzelheit. F. -»Nietzsche sieht die verheerende und menschenverachtende Funktion der religiösen Vorstellungen des Christentums in der insbesondere auch über die Sündenlehre sichergestellten Verknechtung des menschlichen Willens. Ihm ist der christliche Gottes-

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begriff „einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind" (Nietzsche, SW VI, 185). Denn der „christliche Glaube ist von Anfang an Opferung: Opferung aller Freiheit, allen Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes; zugleich Verf e c h t u n g und Selbst-Verhöhnung, Selbstverstümmelung" (SW IV, 40). Die göttlichen Vorschriften sind darum zu entlarven als das, was sie sind, Schattenbilder falscher Weltund Lebensbetrachtungen, und die mit ihnen einhergehenden Schuldgefühle zu lösen, indem die Menschen den Mut fassen, „unser Böses als unser Bestes umzutaufen" (SW V, 93). Ähnlich hat S. -»Freud das Sünden- und Schuldbewußtsein als gesellschaftliches Produkt entlarvt und als Form nach innen gewendeter, die Ichwerdung des Menschen hindernde Selbstaggression analysiert. Beide Aspekte der Religionskritik sind zu beachten: Die Frage nach der Genealogie der Moral ebenso wie der Aufweis der ruinösen Folgen von perennierenden Schuldgefühlen für die Entwicklung des einzelnen. 6. Das 20. 6.1. Karl

Jahrhundert Barth

K. -»Barth bringt den offenbarungstheologischen Ansatz seiner Theologie auch in der Lehre von der Sünde zur Geltung und lehnt infolgedessen jedwede Sündenerkenntnis des natürlichen Menschen ab, sei es aus einer von der Offenbarung in Jesus Christus losgelösten Selbsterkenntnis des Menschen, sei es aus dem als lex naturalis verstandenen göttlichen Gesetz. Vielmehr gilt: „ D a ß der Mensch der Mensch der Sünde ist, was seine Sünde ist und was sie für ihn bedeutet, das wird erkannt, indem Jesus Christus erkannt wird, nur so, so wirklich" (KD IV/1, 430). Auch die anthropologischen Vermittlungsversuche einer Plausibilisierung dessen, was theologisch als Sünde qualifiziert wird, an der Selbst- und Welterfahrung des Menschen fallen unter Barths Verdikt der natürlichen Theologie und sind ihm zufolge zum Scheitern verurteilt. Denn der „Zugang zu der Erkenntnis, daß er ein Sünder ist, fehlt ihm gerade deshalb, weil er ein Sünder ist" (ebd. 398). Aus der Einsicht in die offenbarungstheologische Vermittlung der Sündenerkenntnis folgert Barth, daß es „einen selbständigen, im leeren Raum zwischen Schöpfungs- und Versöhnungslehre zu konstruierenden Locus de peccato nicht geben kann" (ebd. 155). Dies setzt er im Aufbau der Kirchlichen Dogmatik konsequent um, indem er die Lehre von der Sünde in negativer Entsprechung zur Christologie entfaltet und sie (a) als Hochmut und Fall, (b) als Trägheit und Elend und (c) als Lüge und Verdammnis bestimmt (KD IV/3, §§ 60.65.70), was allesamt gegenläufige Bestimmungen sind zu dem in Jesus Christus vollbrachten und uns zu positiven Entsprechungsvollzügen ermächtigenden Versöhnungsgeschehen. Bildet die in Jesus Christus vollbrachte Versöhnung den Erkenntnis- und Begründungszusammenhang der Sündenlehre, dann kommt die Sünde als ein für allemal gerichtete und zugleich versöhnte in den Blick. Solcherart wird sie im Glauben und nur im Glauben erfaßt, in welchem „unsere vergebene Sünde als Sünde erkannt" wird (KD II/2, 860). Indem Barth die Sünde immer schon unter dem Vorzeichen des durch die Versöhnung in Jesus Christus bestimmten göttlichen Handelns an der Sünde versteht, schreibt er ihr keinen ontologischen Status zu. Er bestimmt sie vielmehr von der vollbrachten Versöhnung her als das vor Gott dem Versöhner und Schöpfer „Nichtige", die „unmögliche Möglichkeit", die „ontologische Unmöglichkeit" (KD I1I/3, § 50; dazu KD IV/3, 198 ff.), und erfaßt sie im Zusammenhang der Erwählungslehre als das von Gott dem Versöhner Zugelassene sowie in Jesus Christus Verworfene und zugleich Überwundene (KD II/2, 175ff.). Damit soll die Sünde in ihrer nichtenden Bedeutung für den Menschen keineswegs verharmlost, wohl aber theologisch von dem Handeln Gottes her qualifiziert und so Gott als Herr über die Sünde zur Geltung gebracht werden. Strenggenommen erscheint daher die Sünde als das, was sie eigentlich ist - die unmögliche Möglichkeit - im Lichte des göttlichen Urteils, und zwar als das, was überhaupt nur sein kann und ist als das von Gott „Verneinte" (KD IV/1, 454), „Verurteilte" und „Verworfene", das vom Kreuz Jesu Christi her zugleich als das Gott Entgegengesetzte, als „Gegensätzlichkeit zu dem in Jesus Christus wirksamen

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und offenbaren Willen Gottes" (KD IV/3, 202) erscheint. Dies steht indes unter dem Vorzeichen des Vollzugsgeschehens der Versöhnung, wodurch die Sünde immer auch schon als besiegte und mithin versöhnungstheologisch als zum Verschwinden bestimmte erfaßt wird.

Es ist diese Perspektive, die Barth gegen den ihm gegenüber erhobenen Vorwurf vom „Triumph der Gnade" (Berkouwer) verteidigt und als die spezifisch christliche, nämlich von der Geschichte Jesu Christi her bestimmte Rede von der Sünde theologisch zu bedenken und zu glauben aufgibt. Er sucht zu verhindern, daß das Böse zu einem selbständigen Thema in und neben Gott wird, und von der Wirklichkeit Gottes her zur Geltung zu bringen, daß die Sünde nicht das letzte Wort hat. In dieser Intention seiner Aussagen zur Hamartiologie steht Barth in gewisser Nähe zu Schleiermacher und auch Ritsehl (s.o. 4.6. und 4.7.). Auf die Rede von der Erbsünde will Barth verzichten (KD IV/1, 557ff.) mit Verweis auf die Unverträglichkeit der Vorstellung vom Erbe mit der Behauptung der Schuldhaftigkeit der Sünde. Der Sündenfall ist kein einmaliges Ereignis in irgendeiner Vorzeit, vielmehr ein solches, das Adam „sofort" und immerfort tut und jeder Mensch gleichwie Adam „sofort" und immerfort vollzieht (ebd. 567ff.). Die Rede von „Adam" ist gleichwohl kein Symbol für eine geschichts- und zeitlose Wirklichkeit (KD III/l, 87), sondern handelt von Adam als einem Sünder, so wie wir Sünder sind, „nur eben in der Stellung des Anfängers und insofern . . . als primus inter pares" (KD IV/1, 568). Zugleich aber ist der Name „Adam" dasjenige Prädikat, durch welches Gott von der in dem Einen Jesus Christus erschienenen Gnade für die Welt her die Menschheit als Ganze zusammenfaßt und unter die Bestimmung der Sünde bringt (ebd. 571 zu Rom 5). 6.2. Paul

Tillich

P. -»Tillich lehnt die Verwendung des Terminus „Erbsünde" ab (Systematische Theologie II, 54) und versucht eine Neuinterpretation des damit gemeinten Sachverhalts unter Zuhilfenahme existenzphilosophischer Kategorien. Er erfaßt die Sünde als Situation existentieller Entfremdung des Menschen und der Welt. Diese ist bestimmt durch den „Ubergang von der Essenz zur Existenz" (ebd. 35f.), womit Tillich das „Symbol" des Sündenfalls durch eine „halbe Entmythologisierung" (ebd. 36) zu verstehen sucht, indem die Vorstellung von der historischen Einmaligkeit des Falls aufgegeben, ein zeitliches Moment aber gleichwohl festgehalten (ebd.) und der Fall wie von Adam, so von allen Menschen und jeder Kreatur ausgesagt wird. Der Ubergang vom essentiellen zum existentiellen Sein bildet, so Tillich, ein kontingentes „Faktum" (ebd. 43) und keine „ableitbare dialektische Notwendigkeit" (ebd. 36). Als solcher ist er nicht ein erstes in der Reihe numerisch addierbarer und miteinander vergleichbarer Akte, sondern das, was „wirklich in jeder Wirklichkeit" (ebd. 43) ist. Die Möglichkeit des Übergangs wiederum ist aus der „Freiheitsstruktur des Menschen als solcher" zu erklären, insofern die „Möglichkeit der Abwendung von Gott eine Qualität" derselben ist (ebd. 39). Um die Möglichkeit des Übergangs auszuloten, muß das essentielle Sein als solches vorgestellt werden. Dieses ist mit keinem bestimmten zeitlichen Stadium des Seins identisch, sondern allem Seienden ontologisch vorgängig (ebd. 43) und „in allen Entwicklungsstadien gegenwärtig, aber stets in existentieller Verzerrung" (ebd. 40), während es der Mythos in die Vergangenheit projiziert. In Anlehnung an Kierkegaard beschreibt Tillich das essentielle Sein als „träumende Unschuld" (ebd.). Es ist ein Zustand nicht der Vollkommenheit, sondern der Unentschiedenheit (ebd. 41). Die träumende Unschuld verharrt (daher?) nicht in sich selber, sondern „treibt über sich hinaus" (ebd. 41), indem die Freiheit sich ihrer selbst bewußt wird und aktuell werden will. Tillich nennt dies den Zustand „erregter", noch nicht realisierter Freiheit, ein Zustand der Sünde, der noch nicht Sünde ist (ebd. 42). Zugleich mit dem Wunsch nach Verwirklichung wird die Freiheit sich ihrer selbst als endlicher und d.h. als einer durch das Nichtsein gefährdeten Freiheit bewußt. Das Zugleich beider Bestimmungen setzt die Angst frei, die Angst nämlich, sich zu verlieren durch Selbstverwirklichung, sowie die Angst, sich zu verlieren durch NichtVerwirklichung (ebd.). Der Mensch

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„entscheidet" sich in dieser Angst für die Aktualisierung der Freiheit in Abwendung von Gott. Darin liegt das „moralische" Element der Sünde, mit dem die persönliche Verantwortbarkeit und Schuld einhergeht (vgl. ebd. 54). Von diesem unterscheidet Tillich ein im Mythos vom transzendenten Fall der Seelen vorgestelltes „tragisches" Element: zunächst um die „Universalität der Entf r e m d u n g " auszudrücken und diese auch als ein „kosmisches Ereignis" zu erfassen, wodurch sich biologische, psychologische und soziologische Seinsmächte des Bösen bilden, welche die Welt durchdringen und den Freiheitsvollzug des einzelnen bestimmen und einschränken. Sodann aber spricht Tillich vom tragischen Element im Verständnis der Sünde, um den von aller Kreatur faktisch vollzogenen Ubergang von der Essenz zur Existenz im Sinne einer mit dem geschöpflichen Freiheitsvollzug als solchem verbundenen „Koinzidenz von Schöpfung und Fall" (ebd. 51) zu denken. Denn: „Verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz sind materialiter identisch" (ebd. 52).

Dies hat ihm den Vorwurf eingebracht, eine ontologische Notwendigkeit der Sünde (Reinhold -»Niebuhr) zu behaupten und die Aussage von der guten Schöpfung aufzuheben. Tillich hat darauf entgegnet, daß es in der Tat „keinen Moment in Raum und Zeit gibt, an dem das Potentielle der ursprünglichen Schöpfung als solches aktuell wird" (ebd. 51). Abzulehnen sei lediglich die Vorstellung einer logischen Notwendigkeit des Ubergangs und festzuhalten dessen kontingente Faktizität. O b Tillichs Überlegungen zur träumenden Unschuld, die notwendig über sich hinaustreibt, den Kontingenzcharakter des Ubergangs wirklich überzeugend festzuhalten vermögen, ist indes fraglich. Inhaltlich wiederum faßt er die Sünde als Unglaube, Hybris und Konkupiszenz (ebd. 5 5 - 6 4 ) und betont durchweg das Ineinander von tragischem und freiheitlichem Charakter der Sünde sowie den unauflöslichen Zusammenhang von individueller und kollektiver Entfremdung, in welchen der einzelne durch den Vollzug entfremdeter Selbstverwirklichung und dessen Folgewirkungen in der Gemeinschaft schuldhaft verwoben ist. 6.3. Gerhard

Ebeling

Für G. Ebeling hat die Lehre von der Sünde „von der wirklichen Situation des Menschen als Sünders auszugehen, also infralapsarisch einzusetzen" (Dogmatik I, 356), so daß der Sündenlehre die Funktion zukommt, die Selbst- und Welterfahrung des Menschen zu erschließen, indem in und mit der Sündenerkenntnis eine Erfahrung mit der Erfahrung gemacht wird. Von daher wird der radikale Glaubwürdigkeitsschwund des Redens von der Sünde in der Moderne auf eine Erfahrungsverarmung des Menschen in bezug auf seine Bedürftigkeit und Notsituation zurückgeführt und darin der Grund für das Kraftloswerden des Gottesglaubens gesehen (vgl. ebd. 367). Die Verborgenheit der Sünde trotz ihrer Allseitigkeit gehört ebenso wie ihre Manifestation in der Selbsttäuschung des Sünders zum trügerischen Charakter der Sünde. „Der Sünder will . . . die Sünde nicht wahrhaben" (ebd. 365), bedarf also einer Aufhellung über das die Selbstund Welterfahrung verstellende Wesen der Sünde. Solche Erschließung der Radikalität der Sünde geschieht zwar allein im rechtfertigenden, „den Freispruch von der Sünde empfangende[n] und bejahende[n] Glaube[n], durch den der Sünder erst im qualifizierten Sinne zum Sünder wird und sich als Sünder erkennt" (ebd.), weshalb im Glauben von der Sünde nicht geredet und gewußt wird, „ohne daß um ihre Vergebung gewußt wird, um die ihr unendlich überlegene Macht der Liebe Gottes" (ebd. 373). Solcherart gehören Gotteserkenntnis und Sündenerkenntnis zusammen. Gleichwohl weist Ebeling die Auffassung zurück, derzufolge „erst und nur die Gotteserkenntnis in Christus Sündenerkenntnis bewirkt" (ebd. 366), und anerkennt eine durch das Gesetz vermittelte Sündenerfahrung, die zwar vorläufig, unbestimmt, verworren, verkehrt ist und keine eigentliche Erkenntnis der Sünde darstellt, ihre unerläßliche Funktion aber darin hat, den befreienden Charakter des Evangeliums anthropologisch zu vermitteln. Denn „ohne solches Getroffensein, Gefordertsein und Schuldiggesprochensein würde der Mensch gar nicht das Evangelium vernehmen können, wenn dieses dann auch erst dem Gesetz seine klare und scharfe Interpretation gibt" (ebd. 366). Die Situation des Sünders ist die des faktischen „Umgetrieben- und Beun-

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ruhigtseins" als Ausdruck seiner Gottlosigkeit, „aus der heraus Gott erfahren und nach Gott gefragt wird" (ebd. 367). Die Sündenerkenntnis liefert den Menschen „an die einsam machende Wahrheit des eigenen Schuldigseins" aus (ebd. 367) und ist so schlechthinnig individualisierend. Sie geht „aufs Ganze und an die Wurzel des Menschseins. Sie betrifft deshalb sein Personsein und kann sich nur als Selbsterkenntnis vollziehen" (ebd. 367). Das Zusammensein mit Gott bildet den Inbegriff wahren Lebens, die Sünde ist von daher als die Zerstörung wahren Lebens in der Abwendung von Gott zu erfassen. Die Grundsünde ist darum der „Unglaube" als die Wurzel aller Sünden. Im Verständnis des Unglaubens als peccatum originale, personale, naturale vollzieht Ebeling eine Uminterpretation des Begriffs des peccatum originale „von einem historischen in einen sachlichen Ursprungszusammenhang" (ebd. 374), ohne die Bedeutung des „geschichtlichen Zusammenhangs der Menschheit in Hinsicht auf die Sünde" zu leugnen, in den jeder Mcnsch hineingeboren wird (vgl. ebd. 375). Die Grundsünde als Unglaube bestimmt die Person als den Grund ihrer Taten, welche unter die strukturelle Bestimmtheit der „Lieblosigkeit" gebracht werden. Die dem Zugriff des einzelnen entzogenen Folgewirkungen der eigenen Tat ebenso wie die Definitivität begangener Sünden und deren Schuld liefern den Sünder an die „Hoffnungslosigkeit" als eine Daseinsbestimmung unter der Sünde aus. 6.4. Wolfhart

Pannenberg

W. Pannenberg verbindet mit der Betonung eines mit dem Menschsein des Menschen als solchem verbundenen und unser Lebensgefühl immer schon begleitenden „unthematischen Wissens" um den absoluten Grund unseres Daseins im Sinne einer zunächst unbestimmten und im Phänomen der prinzipiellen Weltoffenheit sich manifestierenden Bezogenheit des Menschen auf Gott den Gedanken, daß der Mensch in seinem durch das „Sichselberwollen" (Systematische Theologie II, 298) und mithin durch Selbstbezüglichkeit bestimmten Selbstvollzug den immer schon mitgesetzten Gottesbezug seines Lebens faktisch negiert. Dies eröffnet ihm die Möglichkeit, von einer „impliziten" (ebd. 289; vgl. 298), „latenten" (ebd. 275), weitgehend verborgenen Sünde des Menschen zu sprechen (vgl. auch ebd. 298), die Pannenberg als eine dem Subjekt selbst unvorgreifliche „fundamentale Gebrochenheit" (Anthropologie 103) unseres Selbstvollzugs versteht. D a b e i vollzieht Pannenberg eine kritische Abgrenzung zur B e h a u p t u n g einer rein offenbarungstheologischen Vermittlung der Sündenerkenntnis, indem er geltend m a c h t , d a ß der Sachverhalt, a u f den sich die theologische Qualifizierung der Sünde bezieht, als solcher auch ausgewiesen werden müsse. D a s dafür maßgebliche Verständigungsparadigma ist unter den Bedingungen der M o d e r n e die Frage nach der Subjektivität des M e n s c h e n . Die Forderung n a c h einer Plausibilisierung der R e d e von der Sünde an der Selbst- und Welterfahrung des S u b j e k t s wird eingeholt in einer „ f u n damentaltheologischen A n t h r o p o l o g i e " (ebd. 2 1 ) , in welcher die Ergebnisse der philosophischen und humanwissenschaftlichen Forschung a u f deren h a m a r t i o l o g i s c h e Implikationen hin gesichtet werden.

Dabei sieht Pannenberg die Sünde in der Dominanz der mit den Naturbedingungen der menschlichen Organisationsform verwobenen „Zentralität", welche im Ichzentrum kulminiert, gegenüber der dem Menschen zugleich eigentümlichen „Exzentrizität" (ebd. 102) und versteht diese Dominanz als eine „Verkehrung der Subjektivität" in sich selber (ebd. 125), zu welcher der einzelne nicht im Verhältnis der Wahl steht und auch in keinem Anfangsstadium seiner Existenz gestanden hat (Systematische Theologie II, 298), die vielmehr immer schon seinen Lebensvollzug im ganzen und in allen Dimensionen der Selbst- und Welterfahrung bestimmt. D i e Frage nach einem „realen U b e r g a n g " von einem urständlichen Sein in das durch Sünde b e s t i m m t e Sein, „ s o als o b dieser Übergang ein wirklicher Schritt und ein besonderes Ereignis in der menschlichen Wirklichkeit w ä r e " (Anthropologie 102), weist P a n n e n b e r g als a b s t r a k t e Vorstellung zurück. D e r Selbst- und Weltvollzug des M e n s c h e n als Sünder ist strukturell durch Selbstbezüglichkeit b e s t i m m t , durch welche alles unter die Perspektive des Für-sich-selber-Wollens ge-

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Sünde VII

bracht wird und das Ich sich an die Stelle Gottes setzt. Das ist die Struktur der concupiscentia, die auch dem Phänomen der Angst zugrunde liegt, die Pannenberg - kritisch gegenüber Kierkegaards und Tillichs Urstandslehre - bereits als Ausdruck der Sorge des Menschen um sich selbst versteht.

Die Auffassung von der Sünde als eines bewußten, in der Wahlfreiheit des Menschen gründenden Widerspruchs zum göttlichen Gesetz wird ebenso abgelehnt wie die Konzeption der Freiheit als Indifferenz- bzw. Wahlfreiheit als Voraussetzung der Schuldzurechnung. Die Vorstellung einer Wahl gegenüber dem Guten als einer Bestimmung des urständlich guten Seins hält Pannenberg für eine künstliche Konstruktion und in sich widersprüchlich, weil ein dem Guten gegenüber sich im Zustand der Wahl befindlicher Wille nicht als guter Wille zu behaupten ist. Auch die Schuldzurechnung ist nicht über die Vorstellung unbedingter Urheberschaft im Akt freier Wahl zu lösen. Vielmehr wird der Gedanke einer durch das Gesetz und vollends durch das Kreuz Christi aufgedeckten Schuld und die von daher eröffnete und ermöglichte und vom Sünder zu vollziehende Schuldübernahme angesichts der dem Menschen zugemuteten Verantwortung für sein Leben entfaltet und die dafür vorausgesetzte Selbstbindung an eine Norm sowie die allem Handeln zugrunde liegende Identität des Handelnden betont (vgl. Anthropologie 109f.; Systematische Theologie II, 299ff.). Schuldig ist der Mensch durch das „Faktum des willentlichen Vollzuges" (Systematische Theologie II, 301). Darin ist jeder Adam gleich, welcher nur der numerisch erste in der Reihe der Sünder war (ebd.). Er ist als „Anfänger zugleich das Urbild des Sündigens in einem jeden Menschen" (ebd.), während das Urbild des gottebenbildlichen Menschen in Jesus Christus erschienen ist, in welches der Mensch im allererst eschatologisch vollendeten Bildungsprozeß seiner selbst hineingestaltet werden soll. Pannenberg hält neben dem Insistieren auf der fundamentalanthropologischen Vermittlung der Rede von der Sünde an der Uberzeugung fest, daß erst „von Gottes Selbstoffenbarung her" die Sünde vollends als „Abwendung von G o t t " deutlich wird (Anthropologie 89.130ff.). 6.5. Situierte Freiheit:

Piet Schoonenberg

und Karl

Rahner

6.5.1. In der Theologie des 20. Jh. ist verstärkt auf den Gedanken der Verflechtung der individuellen Freiheit in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang eingegangen worden, um dadurch das Interesse der traditionellen Erbsündenlehre aufzunehmen. So hat auf katholischer Seite P. Schoonenberg das grundsätzliche „Situiert-Sein der Person" (Mensch 891) betont und den Begriff der „situierten Freiheit" geprägt. Menschliche Freiheit ist immer situierte Freiheit, und zwar in zweifacher Weise. Zum einen weil sie sich gestaltend vollzieht in und auf je konkrete Umweltverhältnisse hin. Schoonenberg nennt dies das existentielle Situiertsein der Freiheit, von dem er ihr existentiales Situiertsein unterscheidet. Dieses meint ein Situiertsein der Freiheit durch eine solche Situation, „die unserem eigenen Existieren vorausgeht und es umfängt, die schon vor jeder Entscheidung unsererseits da ist und deshalb in jedem ihren Einfluß geltend macht" (Theologie 134). Es kommt „nur aus der äußeren Situation, es ist reines Situiert-Sein und Situiert-Werden, das jeder Selbstsituierung vorausgeht" (Mensch 930). Durch den Gedanken des Situiertseins der Freiheit soll das Anliegen des Erbsündendogmas aufgenommen werden. Dabei wird die Vorstellung eines einmaligen Sündenfalls Adams ebenso wie diejenige eines je individuellen Sündenfalls des je einzelnen abgelöst zugunsten der Vorstellung des einen Sündenfalls im und durch den Verlauf der Menschheitsgeschichte. Die „Sünde der Welt" (Joh 1,29) macht den Gesamtzusammenhang der existentialen Situation meiner Freiheit aus, die diese in ihr unvorgreiflicher Weise zum Bösen situiert. Die dadurch begründete „Ohnmacht des Guten" im einzelnen ist gleichwohl noch keine wirkliche „Neigung zum Bösen" (Theologie 140) und bedingt gleichsam eine nur „passive Schuld" (Erbsünde und „Sünde der Welt", ebd. 68), die zur aktiven Schuld allererst wird, indem der Wille des Menschen das Böse bejaht. Diese Ausführungen weisen auf das mit dem Konzept der situierten Freiheit verbundene Problem hin. Es ermöglicht, eine unvorgreifliche Bestimmtheit des Freiheitsvollzugs durch den gesellschaftlichen Konnex zu denken. Diese Bestimmtheit durch die Sünde der Welt kommt indes nur mehr als rein äußerliches Bestimmtsein in den Blick, was durch den Aspekt der willentlichen und darin freien

Sünde VII

427

(?) B e j a h u n g des Bösen ausgeglichen werden soll, w o m i t die Frage entsteht, wie das Vermögen des Willens zur B e j a h u n g näherhin bestimmt wird.

6.5.2. Auch K. ->Rahner hat den Gedanken der „Situationsbedingtheit der kreatürlichen Freiheit" (Theologie 234) für seine Überlegungen zur Sünde und Erbsünde geltend gemacht. Denn der Vollzug kreatürlicher Freiheit ist immer bestimmt und bedingt durch die ihm vorgegebene Situation und das ihr vorgegebene Material ihres Freiheitsraums (Grundkurs 119), welcher selber wiederum durch Objektivationen fremder Schuld konstituiert ist (Theologie 235). Solcherart ist kreatürlichc Freiheit „immer schon mitbestimmt und mitgestaltet . . . durch die Schuld vom Anfang der Geschichte" (ebd. 234), wodurch eine „existentiale Situation der Gnadenlosigkeit" (Erbsünde [1967] 1113) heraufgeführt ist, welche existential heißt, weil sie umfassend und allgemein, bleibend und unüberholbar ist (Erbsünde [1967] 1113f.; vgl. Grundkurs 116f.). Allerdings unterscheidet R a h n e r von dieser sündhaften Situationsbedingtheit der Freiheit in ihrem Freiheitsraum die Freiheit in sich selber und reklamiert für diese ein Freiheitsvermögen gegenüber dem sündhaft bestimmten Freiheitsraum, denn die F r a g e , wie der M e n s c h auf die durch Schuld bestimmte Freiheitssituation „reagiert, . . . [ist] - sosehr diese Situation bedrohend und verderblich ist - eine Frage an seine F r e i h e i t " (Grundkurs 119), die vor die Alternative zwischen Sünde und G n a d e gestellt ist. Erst indem die Situationswirklichkeit der Sünde durch die Freiheit des einzelnen bejaht wird, wird der M e n s c h „ d e r frei . . . sich in persönlicher Sünde ratifizierende E r b s ü n d e r " (Erbsünde [1967] 1114). Die Freiheit an sich selber ist damit nicht als durch Sünde qualifiziert verstanden, um den Entscheidungscharakter des Freiheitsvollzugs für die Sünde bzw. die G n a d e zu sichern.

6.6.

Befreiungstheologie

Die Theologie der Befreiung (-+Theologie 11.6.2.) hat gegenüber einem individualistisch verengten, primär an der Sündenerfahrung des einzelnen ausgerichteten und auf das verinnerlichte Verhältnis zu Gott bezogenen Sündenverständnis — ohne diese Aspekte ganz aufzugeben - die politisch-soziale Dimension der Sünde (und der Gnade) sowie deren spezifische Geprägtheit durch den geschichtlich konkreten soziokulturellen Kontext herausgestellt und dies im Begriff der strukturellen Sünde erfaßt. Die Gesellschaftstheorie des frühen Marx und diejenige der Kritischen Theorie können dabei - gleichsam als Formen säkularisierter Erbsündenlehre - Pate stehen, mehr noch aber die sozialethisch interpretierte biblische Tradition. Die Befreiungstheologie macht den grundsätzlich kontextuellen Charakter der Theologie geltend und sucht von daher die je spezifische Erfahrung von Sünde (und Gnade) in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten angesichts des Zustands unserer Welt zur Sprache zu bringen. Für die lateinamerikanische Befreiungstheologie steht insbesondere die Sünde wider die Armen im Vordergrund, die sich darin manifestiert, daß den Armen durch objektive Strukturen des Bösen in Ausbeutung, Unterdrückung und Folter ihre menschliche Würde genommen wird. Die Sündenlehre hat ihre Funktion darin, den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang aufzudecken und die Strukturen des Bösen zu benennen. Im Zuge dessen kommt es zu den konkret-geschichtlichen Identifikationen der Sünde in den „drei prophetischen Anklagen" (Boff 71 f.) gegen den Kapitalismus, die Doktrin der Nationalen Sicherheit und den Marxismus. 6.7. Feministische

Theologie

In der sich vielfältig gestaltenden Feministischen Theologie (->Theologie II/5.1.) bildet die kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen Sündenlehre einen besonderen Schwerpunkt ihres Interesses: Diese soll in ihren unterdrückenden und destruktiven Auswirkungen auf das Sein und Selbstbewußtsein der Frauen aufgedeckt und solcherart als Medium patriarchaler Herrschaftsideologie entlarvt werden. Ausgangspunkt der Kritik sowie der konstruktiven Umbestimmung der Sündenlehre bilden die besonderen und in der Geschichte von Theologie und Kirche weitgehend durch die Männerperspektive

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Sünde VII

verdrängten Leiderfahrungen von Frauen (sexuelle Gewalt, ökonomische Abhängigkeit, patriarchale Roilenzuschreibung). Sie werden von Seiten der Feministischen Theologie zur Erschließung der Dimension der Sünde herangezogen. So wird auf die mit der Verbindung von weiblicher Sexualität und Verführung zum Bösen einhergehende und im Verständnis der Sünde als coticupiscentia untermauerte Dämonisierung der Frauen, auf die dadurch bedingte gestörte Selbstwahrnehmung weiblicher Sexualität und Körpererfahrung sowie auf die mit der Schuldzuschreibung verbundene Internalisierung von Schuldgefühlen hingewiesen (Schaumberger; Daly). Der so beschriebene Unterdrückungsmechanismus wird als Wirkzusammenhang einer androzentrischen Auslegungsgeschichte von Gen 2f. und dessen frauenfeindlicher Verwertung in der Kirchen- und Theologiegeschichte durch feministische Exegese (Schüngel-Straumann; Schaumberger/Schottroff) und dogmengeschichtliche Forschung aufgedeckt. Daneben wird das Verständnis der Sünde als Hybris und eigenmächtiger Selbstverwirklichung als frauenfeindlich kritisiert, weil es auf Seiten der Frauen die diesen in der patriarchalen Gesellschaft ohnehin schon zugeschriebene Rolle der selbstlosen Selbstaufopferung religiös legitimiert und Passivisierungsverhältnisse festschreibt (bes. Saiving-Goldstein; Plaskow; Daly), solcherart aber genau dasjenige vereitelt, wozu Frauen heilsam zu ermächtigen sind, nämlich zum Vollzug selbsttätigen Selbstseins. Die Sündenlehre diente und dient nach Auffassung der Feministischen Theologie zur Durchsetzung männlicher Herrschaftsinteressen. Diesen Zusammenhang nicht aufzudecken heißt, die Sünde wiederum zu potenzieren. Vielmehr ist das Patriarchat selber unter den Begriff der strukturellen Sünde zu bringen und der Sexismus als die Erbsünde (Ruether, Sexismus 219) zu erfassen. Indem dies geschieht, kommt der Sündenlehre selber ein Wirklichkeitserschließendes und darin frauenbefreiendes Potential zu. Im Zuge dieser Kritik kann auf einer spezifisch weiblichen Sündenerfahrung (Saiving-Goldstein; Plaskow; Moltmann-Wendel) insistiert werden, die es in der Sündenlehre einzuholen gilt und die durch die Struktur des Nicht-man-selbst-sein-Wollens im körperhaften Sein und im Bewußtsein bestimmt wird. Mit der Diagnose des sexistischen und patriarchalen Wirkzusammenhangs der Sünde kann aber auch die gänzliche Ablehnung des solcherart als Projektion von Herrschaftsinteressen enttarnten Symbolsystems verbunden, ein postchristlicher Standpunkt bezogen und der Sündenfall als Fall in den Vollzug zu sich selbst kommenden Frauseins gefordert werden (Daly). 7.

Dogmatisch

Sünde ist ein theologischer Begriff und bezeichnet das verkehrte Verhältnis des Menschen zu Gott, mit dem ein verkehrtes Selbst- und Weltverhältnis einhergeht. Mit der Aussage, daß der Mensch ein Sünder ist, zielen christliche Theologie und christlicher Glaube auf die grundlegende Verkehrung und Verstrickung unseres Selbstvollzugs, aus der sich der Mensch nicht aus eigener Kraft zu befreien vermag, sondern auf das unsere Existenz erhellende und versöhnende Handeln Gottes angewiesen ist, das der Glaube in Wort und Sakrament ergreift. Die Aussagen über die Sünde des Menschen stehen mithin in einem umgekehrten Entsprechungsverhältnis zur Gnadenlehre, welche die Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil des Menschen erfaßt. Gnaden- und Sündenlehre sind Korrelativa, und der Sündenlehre kommt zunächst von daher ihr eigentümliches Gewicht in der christlichen Anthropologie zu. Dabei zielt das mit der sog. Erbsündenlehre verbundene, gnadentheologisch motivierte Anliegen auf das dem einzelnen und so jedem Menschen unvorgreifliche Sündersein. An dieser Aussageintention der Erbsündenlehre ist um der Gnadenlehre willen festzuhalten, und sie ist zu unterscheiden von der teilweise problematischen Vorstellungsweise der Tradition zur Begründung der Erbsünde in jedem einzelnen. M i t der Betonung der Unvorgreiflichkeit des Sünderseins jedes einzelnen liegt das Gewicht auf dem Sein der Person als dem Grund ihres gesamten Selbst- und Weltvollzugs und so auch der einzelnen Tatsünden, wodurch eine primär an den einzelnen Tatsünden aus-

Sünde VII

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gerichtete sowie die damit einhergehende moralistische Verengung im Verständnis der Sünde im Kern überwunden ist. Da das moralistische Mißverständnis der Sünde zu ruinösen Folgen in zahlreichen Lebensgeschichten geführt hat und die Zersetzung des Sündenthemas in der Moderne auch im Zusammenhang damit zu verstehen ist, ist die Aussageintention der Erbsündenlehre, welche die Sünde nicht von den Tatsünden, sondern von dem unvorgreiflichen Sündersein des einzelnen her erfaßt, im Interesse an einer Überwindung eines moralistischen Sündenbegriffs zu betonen. Diesbezüglich ist darauf zu achten, daß es nicht zu einem voneinander abstrahierten Verständnis von Erbsünde als Sündersein und Tatsünden kommt. Vielmehr ist an dem unauflöslichen Zusammenhang von Erbsünde und Tatsünden festzuhalten und die Erbsünde als der stets wirkende Grund im Selbst- und Weltvollzug des einzelnen und so auch in allen Tatsünden zu verstehen. Das ist dann der Fall, wenn das Sein der Person als Sein im Vollzug bestimmt wird, und zwar als ein Sein im Vollzug, in dem sich der Mensch immer schon in seiner Verkehrtheit vorfindet. Er ist in sich selbst verkehrt, indem er selbstmächtig und darin selbstbezüglich verfaßt ist, wodurch ipso facto der Gottesbezug als Grund unseres Seins im Vollzug negiert, das Ich seiner Selbstfixiertheit anheimgegeben ist und der gesamte Weltvollzug unter den Verwertungszusammenhang für das eigene Ich gebracht wird. Solange der Mensch lebt, ist und wirkt die Erbsünde. Das Sündersein des natürlichen Menschen ist mithin das in sich verkehrte Sein im Vollzug, von dem sich der Sünder nicht distanzieren kann, weil er dieses selber ist, und das der einzelne auch nicht frei-willentlich wählt, wohl aber vollzieht und immer schon vollzogen hat und darin faktisch und immer schon den Gottesbezug negiert und negiert hat, sich selbst und seine Welt verfehlt und verfehlt hat. Damit ist der faktische Schuldcharakter der Sünde gegeben. Von diesem faktischen Schuldcharakter unseres Selbstvollzugs ist die Schuldübernahme durch den einzelnen zu unterscheiden. Es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend immer Böses muß gebären, und es ist der Fluch des Böseseins und des Bösen in Gedanken, Worten und Taten, daß es das Böse unwiderruflich in die Welt bringt, es zu einem sich verselbständigenden Wirkzusammenhang des Bösen kommen läßt und solcherart den Fluch- und Machtcharakter des Bösen über den einzelnen, die Gemeinschaft und die Schöpfung heraufführt. Die Sünde ist somit nicht nur die Sünde des einzelnen und die Summe der einzelnen Sünden, sondern ein sich verobjektivierender Wirkzusammenhang, der solcherart als Fluch die Welt bedrängt. Auch dieser Aspekt der Sünde wird durch die Erbsündenlehre ihrer Intention nach erfaßt. Indem das Gottesverhältnis für das Geschöpf konstitutiv ist, ist das Wesen der Sünde der Unglaube. Er realisiert sich (a) in der Selbstmächtigkeit des auf sich selbst bauenden Selbstvollzugs, der faktisch verzweifelt ist, indem er die sündige Person durch sich selber in den zwanghaften Vollzug der Selbstmächtigkeit treibt, ohne daß sie dadurch wirklich ihrer selbst mächtig werden könnte. In entsprechender Weise realisiert sich der Unglaube (b) in der Selbstverweigerung, in der die sündige Person sich selbst als Wesen in der Relation zu Gott und ihrer Mitwelt schuldig bleibt; in einer Selbstverweigerung, die verzweifelt ist, weil sie die sündige Person immer mehr auf sich selbst zurücktreibt, ohne daß sie dadurch einen wirklichen Selbststand gewinnen könnte. Der Unglaube realisiert sich (c) in der lieblosen Verkennung des anderen und der gesamten Kreatur, die dem ichfixierten Verwertungszusammenhang unterstellt wird. Indem die Sünde die sündige Person durch sie selbst auf sich selbst zurückwirft und festschreibt, nimmt sie ihr Gott und ihre Mitwelt wie auch ihr eigentliches Selbstsein und manifestiert sich in

der

Hoffnungslosigkeit.

Die Sünde ist solcherart nicht der bewußte Widerspruch des Sünders gegen Gott, sondern der mit dem selbstmächtigen Selbstvollzug des Menschen immer schon und selbstverständlich vollzogene faktische Widerspruch, die latente Sünde, die sich in der Ungestelltheit und Umgetriebenheit der sündigen Person als Folge ihres Versuchs, sich in sich selbst zu gründen, Ausdruck verleiht (vgl. Axt-Piscalar). Die Konzeption der

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Sünde VII

Wahlfreiheit bzw. Indifferenzfreiheit als Voraussetzung zur Begründung der Schuld der Sünde ist demgegenüber abstrakt. Was die Frage nach d e m Erkenntnisgrund der Sünde angeht, so ist zunächst zu bedenken, d a ß die zerstörerische M a c h t der Sünde gerade auch in ihrem sich verstellenden C h a r a k t e r besteht und die sündige Person die Sünde übersieht und verkennt. Es vermag „kein Mensch . . . aus eigenem Vermögen und von sich selber her auszusagen, was Sünde ist, eben deshalb, weil er in der Sünde ist" (Kierkegaard, Krankheit 94). Das eigentliche Wesen und A u s m a ß der Sünde wird eröffnet in der Anschauung des Erlösers und vollends aufgedeckt in dem Verstehen des Kreuzes Jesu Christi. Mithin wird das eigentliche Wesen der Sünde im Glauben erfaßt. Allerdings ist auch eine in der Selbst- und Welterfahrung des natürlichen Menschen gewonnene, wenngleich vorläufige, unbestimmte, uneigentliche Sündenerkenntnis zuzugeben. Denn das, was im Glauben als Sünde erfaßt wird, bestimmt faktisch immer schon unser Dasein und wird daher in unserem Lebensvollzug auch erfahren (Axt-Piscalar). Insofern k o m m t der Sündenlehre eine die Existenz des natürlichen Menschen erschließende Funktion zu. Im Glauben wird das Sein der sündigen Person im Vollzug - retrospektiv - als das, was es seinem Wesen und Ausmaß nach ist, aufgedeckt. Indem die eigentliche Sündenerkenntnis im Glauben stattfindet, geschieht mit der Sünde zweierlei: Sie wird in ihrer abgründigen, selbstmächtigen Maßlosigkeit aufgedeckt, und sie wird auf die Vergebung der Sünde durch das versöhnende Handeln Gottes bezogen. Ein isoliertes, auf sich fixiertes Sünden- und Schuldbewußtsein sieht indes von dem Eigentlichen des christlichen Glaubens, dem Bewußtsein der Erlösung, a b und fällt damit der M a c h t der Sünde noch einmal anheim. Die Sünde ist um der G n a d e willen groß zu machen. Sie ist ebenso von der G n a d e her als überwunden zu verstehen, auf d a ß der in seiner Liebe allmächtige Gott als H e r r über das Böse und die Sünde erfaßt wird, weil und indem das Böse von dem versöhnenden Handeln Gottes her nicht das letzte Wort behält und nicht behalten kann. Dadurch wiederum unterscheidet sich die Sündenerkenntnis der Glaubenserfahrung unter dem Evangelium von der Sündenerfahrung unter dem Gesetz. Dadurch unterscheidet sich auch die durch das Gesetz geforderte Schuldübernahme von der durch das Evangelium her eröffneten Schuldübernahme. Denn das Gesetz klagt die Übertretung an und wirft die sündige Person auf sich selbst zurück, w ä h r e n d das Evangelium sie nicht auf sich selbst zurückwirft, u m sie bei sich selbst zu belassen, sondern sie aus sich selbst herausholt und in Jesus Christus festmacht. Das Geschöpf mutet G o t t die Sünde zu, indem es den seinem Geschöpfsein entsprechenden Selbstvollzug schuldig bleibt und dadurch seine ihm vom Schöpfer gewährte relative Selbständigkeit grundlos pervertiert. Diese Grundlosigkeit der Sünde ist in der Vermeidung jedweder Ableitungsversuche in der Hamartiologie festzuhalten. Denn darin werden die Güte und G u n s t des Schöpfers anerkannt, der dem Geschöpf das Leben und das seinem Leben Zuträgliche gönnt, wovon das Geschöpf sich lebenswidrig und d a r u m grundlos abwendet. Quellen Karl Barth, KD. — Leonardo Boíf, O caminhar da Igreja com os oprimidos. Do vale de lagrimas rumo a terra prometida, Rio de Janeiro 1980; dt.: Aus dem Tal der Tränen ins gelobte Land. Der Weg der Kirche mit den Unterdrückten. Aus dem Port, übers, v. Horst Goldstein, Düsseldorf 1982 = 3 1985. - Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung u. Fall. Theol. Auslegung v. Genesis 1 bis 3, München 1933 3 1955. - Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch. Die christl. Lehre vom wahren u. wirklichen Menschen, Zürich/Stuttgart 1937 5 1985. - BSLK. - Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis (1559): CR 30; dt.: Unterricht in der christl. Religion, übers, u. bearb. v. Otto Weber, Neukirchen 1955 2 1963. - Mary Daly, Beyond God the Father. Toward a Philosophy of Women's Liberation, Boston, Mass. 1977; dt.: Jenseits v. Gottvater, Sohn u. Co. Aufbruch zu einer Phil, der Frauenbefreiung, München 1980 5 1988. - Carl Daub, Judas Ischarioth oder das Böse im Verhältnis zum Guten. Zwei H. in einem Bd., Heidelberg, 1. H. 1816; 2. H. 1. Abt. 1818. - DH. - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, 3 Bde., Tübingen 1979 J 1987-1993.

Sünde VII

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Sünde V i l i

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VIII. Praktisch-Theologisch 1. Die unverständlich gewordene Rede von der Sünde 2. Die erfahrungsbezogene Hermeneutik der theologischen Rede von der Sünde 3. Sünde als deutungskräftiges und deutungsbedürftiges Symbol in kirchlicher Kommunikation (Literatur S. 441)

1. Die unverständlich gewordene Rede von der Sünde Der Begriff der Sünde ist in den neuzeitlich-säkularen Kontexten, aber a u c h in den kirchlichen Kommunikationszusammenhängen der G e g e n w a r t unverständlich g e w o r den. Sofern der Begriff umgangssprachlich überhaupt noch verwandt wird (was eher selten der Fall ist), wird er (zumeist mit ironisch-distanzierender Färbung) moralisch, nicht aber religiös verstanden. Die gesellschaftlich vermittelte Wirklichkeitserfahrung ist in sich hochgradig k o m plex und differenziert geworden. Das hat die christlich-religiöse K o m m u n i k a t i o n , sofern sie sich im altprotestantischen Schema der Entgegensetzung von Sünde und G n a d e bzw. Gesetz und Evangelium vollzieht, in eigentümliche Schwierigkeiten gebracht. Es m u ß jetzt gezeigt werden, wie weit die Wirklichkeitserschließende Kraft des Begriffs der Sünde

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Sünde VIII

noch reicht, ob bzw. wie die mit ihm gemeinte „Sache" erschlossen und dann auch kommuniziert werden kann, ohne von dem unverständlich gewordenen Begriff Gebrauch machen zu müssen. 1.1. Das umgangssprachliche, moralische Sündenverständnis. Welche Vorstellungen sich umgangssprachlich mit dem Wort Sünde verbinden, wird an den Zusammenhängen und Redewendungen deutlich, in denen es verwandt wird. Man spricht von „Verkehrssündern" und kennt die „Verkehrssünderkartei" in Flensburg. Im Spätprogramm eines privaten Fernsehkanals läuft die Erotik-Talk-Show „Liebe Sünde", und die Reeperbahn in Hamburg gilt als „die sündigste Meile der Welt". Man redet von „Umweltsündern" und leitet den wiederholten Verstoß gegen die Diätvorschriften augenzwinkernd mit den Worten ein: „Heute sündige ich mal wieder". Der Sprachgebrauch macht deutlich, daß mit dem Wort Sünde einerseits ein Verstoß gegen moralische Normen und eigene gute Vorsätze ausgedrückt wird, andererseits aber auch eine eigentümliche Distanzierung von der Verbindlichkeit dieser Normen und Vorsätze, ihre Bagatellisierung.

Sünde wird moralisch verstanden. Zugleich wird die moralische Verwendung des Begriffs aber auch karikiert. Man distanziert sich vom Sündenbegriff als einer moralischen Kategorie vor allem dort, wo es um die Sexualität, um den Leib, um die Sinnlichkeit geht. Sündenbegriff und das Problem seiner alltagsweltlichen Ver1.2. Der theologische ständlichkeit. Die wissenschaftliche Theologie stimmt in ihrem Reden von der Sünde insofern überein, als sie deren konventionell moralisches Verständnis zum Mißverständnis erklärt. Sünde hat in der Beziehung des Menschen zu Gott ihren Ort (Gestrich; Jüngel, Lehre). Im theologischen Verständnis der Sünde folgt dann aus dem Verlust bzw. der Störung der Gottesbeziehung auch der Verlust bzw. die Störung der Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu anderen, das Böse, das in der Welt geschieht, die Übel, unter denen Mensch und Kreatur leiden, die gänzliche Unfähigkeit des Menschen schließlich zum Tun des Guten aus ihm eigener, freier Einsicht. Die paulinisch-reformatorische Rechtfertigungslehre wird auf diesem Argumentationshintergrund so verstanden, daß Gott den einzelnen anerkennt allein aufgrund des Glaubens (weil der Glaubende nicht auf sich, sondern auf den Gekreuzigten blickt). Anerkannt kann der Glaubende sich wissen, unabhängig von seinen guten und schlechten Eigenschaften, unabhängig somit auch von dem, was im Weltverhältnis von ihm gefordert wird, wodurch er sich in seinem Leisten in Anspruch genommen und verantwortlich gemacht findet, woran er schuldig wird, das Gute und das dem menschlichen Leben Dienliche in der Beziehung zu anderen und dann auch zu sich selbst verfehlt. Von Seiten feministischer Theologie (Plaskow; Krobath/Schottroff) ist gegen dieses theologische Deutungsmuster von Sünde eingewandt worden, daß ihm einseitig männliche Sündenerfahrung zugrunde liege. Egoistisch-hybride Selbstdurchsetzung sei das Problem von Männern in patriarchalen Herrschaftsverhältnissen. Das Problem von Frauen sei demgegenüber eher der Selbstverlust, die opferbereite Selbsthingabe. Dies ist freilich kein Einwand gegen das subjektivitätstheoretische Deutungsmuster von Sünde. Die feministisch-theologische Argumentation macht von ihm selber Gebrauch und könnte zudem sich durch S. —»Kierkegaard darüber belehren lassen, daß „verzweifelt nicht man selbst sein wollen" und „verzweifelt man selbst sein wollen" zwei Aspekte eines Begriffs von Sünde sind. Dieser ist insofern ein Begriff des Gottesverhältnisses, als die doppelte Verzweiflung, in die das Ich (von Lebensangst bestimmt) im Projekt seiner Selbstwerdung gerät, allein zu überwinden ist, indem es sich selbst durchsichtig gegründet findet in Gott.

2. Die erfahrungsbezogene

Hermeneutik

der theologischen

Rede von der

Sünde

Die theologische Rede von der Sünde steht innerhalb wie erst recht außerhalb der Kirche vor gravierenden Kommunikationsproblemen. Sie darf deshalb das verbreitete, umgangssprachliche Verständnis der Rede von der Sünde nicht abstrakt negieren. Sie

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Sünde VIII

muß an das moralische Verständnis in seiner ganzen Ambivalenz kritisch-konstruktiv sich anschließen, um es religiös - auf die Auslegung des Gottesverhältnisses hin - zu transzendieren. Die theologische Rede muß des weiteren die Sünde als eine Bestimmung des Gottesverhältnisses auch in den Konsequenzen konkretisieren, die sie in den Verfehlungen des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses hat. Es gilt verständlich zu machen, daß Sünde, die Negation des Gottesverhältnisses, im Grunde einen verfehlten Umgang mit -•Schuld (Selbstverfehlung im Anerkennungsverhältnis zu anderen Menschen) zur Folge hat. Sünde meint ein Verstricktsein in zwischenmenschliche Schuldzusammenhänge, die nur ein wechselseitiges Aufrechnen von Schuld, somit kein Entrinnen aus ihr, ermöglichen. Ein Weg ins Offene kommt erst wieder in den Blick, wo Aufmerksamkeit erwächst auf Erfahrungen von zuvorkommendem Gutem, auf zwischenmenschliche Anerkennungsverhältnisse, in denen nicht „Wiedergutmachung" gefordert, sondern die Verfehlung nicht mehr vorgerechnet wird. Zwischenmenschliche Schuldzusammenhänge, die der Begriff Sünde meint, können durch die zwischenmenschliche Praxis der Sündentwgebung, also durch die Praxis des Evangeliums, heilsam durchbrochen werden. Die Konkretion der theologischen Rede von der Sünde ist schließlich daraufhin zu kommunizieren, daß sie allein im Modus der Selbstzuschreibung funktioniert und dabei so, daß das Bewußtsein von Schuld (als im eigenen Tun konkret gewordener Sünde) im Horizont ihrer Vergebung entsteht. 2.1. Die religiöse Transzendierung des moralischen Sündenverständnisses. Eine theologische Rede von der Sünde, die umgangssprachlich verständlich sein will, muß sich an den Sinn für die unheilvollen Verkettungen eigenen und fremden Fehlverhaltens kritisch-konstruktiv anschließen. Dann kann sie zu einem lcbensdicnlichen Umgang mit Schuld verhelfen. Dieser erwächst daraus, daß dem, der schuldig geworden ist und selber um die Unaufhebbarkeit, das Nichtwiedergutzumachende seiner bösen Tat weiß, eine Perspektive der Selbstunterscheidung von sich und seiner Schuld angeboten wird. Das ist die Perspektive des Evangeliums als Vergebungszusage (-»Vergebung der Sünden). 2.2. Der lebensdienliche Umgang mit Schulderfahrung. Die religiöse Rede von Sünde ist unverständlich geworden, weil das Gottesverhältnis unverständlich geworden ist, Gott jedenfalls nicht mehr die richterliche Letztinstanz ist, vor der Rechenschaft für die eigenen Taten abzulegen ist. Gleichwohl wird Schuld zugerechnet und Schuldiggewordenen die Anerkennung als Person, die Anerkennung ihrer Würde und ihrer Lebensund Menschenrechte verweigert. Gerade weil der transzendente Richterstuhl Gottes leer ist, die Menschen sich aber weiterhin für ihr Tun verantwortlich machen und gemacht werden, hat sich die Unbedingtheitsdimension des Schuldbewußtseins unentrinnbar in die Immanenz verlagert. Immer müssen - wenn ein Unglück geschehen - Schuldige gefunden und bei ihrer Schuld behaftet werden. Schuld muß eingestanden und der Schuldige muß für seine Normverletzung verurteilt und bestraft werden. Die Bestrafung dessen, der schuldig geworden ist, macht seine Tat jedoch nicht ungeschehen. Die Schuld bleibt, auch wenn Strafe sie sühnen soll. Das in die Immanenz gebannte Schuldbewußtsein findet keine Entlastung, es sei denn, es wird „die Kunst und Kritik des Vergessens" (Weinrich) neu gelernt. Die „Kunst des Vergessens" wäre dann jedoch die ins Humanum verlagerte Praxis der Vergebung, der Nicht(mehr)zurechnung von Schuld. Und die „Kritik des Vergessens" wäre die in zwischenmenschliche Anerkennungsverhältnisse verlagerte Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen der Schuld, die (weil zu ungeheuerlich) nicht „vergeben und vergessen" werden kann (z. B. Auschwitz), und den Schuldigen, denen die Anerkennung, die Achtung als Person, unabhängig von ihren (bösen) Taten doch auf unbegreifliche Weise zugute kommen soll. Wo diese „Kunst und Kritik des Vergessens" gelernt und geübt wird, da übersetzt sich das Evangelium als Sündenvergebung in die zwischenmenschliche Erfahrung eines lebensdienlichen Umgangs mit Schuld. Schuld kann dort

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SUnde VIII

eingestanden werden, wo sie nicht verharmlost, aber auch nicht „auf Gedeih und Verderb" zugerechnet werden muß. 3. Sünde als deutungskräftiges munikation

und deutungsbedürftiges

Symbol in kirchlicher

Kom-

Die Rede von der Sünde wird sich aufgrund der über Jahrhunderte aufgestauten Mißverständlichkeiten nicht einfach fortsetzen, auch nicht einfach erneuern lassen. Dennoch bleibt der theologische Sinngehalt, für den das Wort Sünde steht, für die Selbstund Weltdeutung, die der christliche Glaube anbietet und ermöglicht, schlechterdings zentral. Auch wenn das Wort in kirchlicher Kommunikation nicht vorkommt, ist diese in Gottesdienst und Predigt, Seelsorge und Kasualpraxis, Unterricht und Bildung spezifisch doch genau durch die Aufdeckung von Sünde und den Zuspruch der Vergebung qualifiziert. Kirchlich-religiöse Kommunikation deckt die Dunkelheit auf, die unserem (allerdings immer schon aktiven) Selbstverhältnis innewohnt, und spricht uns auf die Möglichkeit einer Interpretation unseres Selbst- und Weltumgangs von Jenseits unseres Selbst her an, auf den uns trotz aller Verfehlungen (in Jesus Christus) anerkennenden Gott. Sünde ist ein religiöses Symbol, das im Kontext der symbolischen Selbst- und Weltdeutung der christlichen Religion zu verstehen ist. Es ist ein Deutezeichen, das uns erkennen läßt, daß wir Menschen, sobald wir uns Gottes als des einen, schöpferischen Ursprungs von Welt und Leben, der geschöpflichen Selbst-Bestimmung auch zu seinem Ebenbild, bewußt sind, um die Trennung von ihm wissen: wir sind in Schuldzusammenhänge verstrickt, liegen mit anderen in unversöhnlichem Streit, sind verloren an ruinöse Entwicklungen in dieser Welt. Als ein solches Symbol, das - auch wenn das Wort nicht vorkommt - Erschließungskraft hat für die Deutung menschlichen Lebens im Gottesverhältnis, bleibt Sünde zentrale Kommunikationschiffre kirchlicher Praxis.

3.1. Gottesdienst und Predigt. Der liturgische Gottesdienst macht in seiner Struktur die Merkmale der christlichen Religion als einer Erlösungsreligion signifikant. Die liturgischen Stationen beschreiben von alters her einen Weg der Begegnung mit Gott, auf dem die Artikulation der sündhaft verschuldeten Trennung von ihm konstitutiv vorgesehen ist. Der Weg zu Gott, den der liturgische Gottesdienst die Christen gehen läßt, ist ein vom Gründungsmythos des Christentums gewiesener Weg. Die Deutung des Kreuzestodes Jesu als Opfertod, vollbracht zur Vergebung der Sünden, wird in ihm vergegenwärtigt. Das Abendmahl, ursprüngliches Zentrum des liturgischen Gottesdienstes der christlichen Gemeinde, vermittelt die - sakramental verstandene - Teilhabe an der von der Sünde erlösenden Kraft des mit Kreuz und Auferstehung Jesu identifizierten Heilsgeschehens. Der liturgische Gottesdienst nach der Agende I, der in seinem Eingangsteil das Sündenbekenntnis ('Confiteor) vorsieht bzw. dem Abendmahl die „ O f f e n e Schuld" vorausgehen läßt, formuliert immer noch diejenigen Elemente christlicher Schuldkultur, die heute nur auf Umwegen und in angestrengter hermeneutischer Arbeit plausibel zu machen sind. Das Bekenntnis der offenen Schuld vor Gott, die an ihn gerichtete Bitte um Vergebung, sind immer erst verständlich zu machen von den Verfehlungen her, deren wir Menschen im Umgang untereinander uns bewußt sind. Unter den Bedingungen des modernen Selbst- und Weltverhältnisses wollen die Menschen sich auf ihre Selbstverantwortlichkeit für das Tun des Guten angesprochen finden, auf ihre Fähigkeit somit auch, das Gute zu erkennen und dasjenige, was als das Gute erkannt ist, auch zu tun. Dazu gehört dann das Eingeständnis der Verdunkelungen in der Erkenntnis des Guten, der Schwäche des Willens vor allem, das als gut Erkannte zu tun. Deshalb findet der Gottesdienst ja statt, und darin hat er - nun mit der Predigt in seinem Zentrum - im Kontext des neuzeitlichen Christentums seinen Sinn. Er führt nicht in die Unterwerfung vor einem machtvollen, zornig-richterlichen Gott, der die reuigen Sünder schließlich in Gnaden annimmt. In ihm geschehen die Klärung von - moralisch strittigen - Lebenssituationen und die Verständigung von Menschen über ihre Lebensentwürfe, die sie als einsichtsfähige, in ihrer Menschenwürde anzuerkennende Wesen immer schon in Anspruch nimmt (Grab).

3.2. Seelsorge und Kasualpraxis. In der kirchlichen Seelsorge, die insbesondere an den Krisen- und Wendepunkten des Lebens weit mehr als die kerngemeindlichen Mit-

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Sünde VIII

glieder der Kirche erreicht, hat sich das liturgische Formular von Sündenbekenntnis (-•Beichte) und Gnadenzuspruch (Absolution) ebenfalls verloren. Gleichwohl bleibt Sünde auch hier eine hermeneutische Kategorie, die im seelsorgerlichen Gespräch und in der Kasualpredigt dazu anhält, Lebenseinstellungen und Lebensvorstellungen auf ihre - den Betroffenen oft verborgene oder nur schwer zugängliche - Fehlgerichtetheit hin zu erkennen. Sofern die Kategorie der Sünde in der seelsorgerlichen Beziehung nicht dazu gebraucht wird, das neuzeitliche Autonomieideal, das Zutrauen zur eigenen, vernünftigen Erkenntnis des Guten zu denunzieren, sondern dazu, unrealistische Vorstellungen von einer „gesunden", mit sich identischen Persönlichkeit abzubauen, ist sie der Vermittlung einer christlich-religiösen Lebensansicht auch heute dienlich. Die Kategorie der Sünde veranlaßt eine rekonstruktive Deutung von Lebensgeschichten, die mit tiefgreifenden Störungen im Selbst- und Weltverhältnis rechnet, mit Nicht-Identischem, Fragmentarischem, Desaströsem, oft gerade im Rücken des bewußten Lebens. Unter der Kategorie der Sünde kann zur Sprache gebracht werden, daß sich gefährliche Fehlprogrammierungen in unserem Selbst- und Weltumgang eingestellt haben, auch aufgrund der Tatsache, daß Schuld nicht bekannt, sondern delegiert wird, keine letzte Instanz mehr da ist, wo Vergebung erfahren werden kann. P. -»Tillich und E. -»Thurneysen haben je auf ihre Weise darauf hingewiesen, daß die Psychoanalyse S. -»Freuds der Theologie und der seelsorgerlichen Praxis neu die Augen für den anthropologischen Wahrheitsgehalt der Sündenlehre geöffnet hat. Die Kategorie der Sünde spricht als prinzipiellen, in die conditio humana fallenden Sachverhalt an, daß das Ich sich selbst nie vollständig in die Hand bekommt, deshalb auch in seinem Verhalten nicht allein von der an gültigen Normen kontrollierten Einsicht in das Gute gesteuert ist. Die Rede von der Sünde als einem Riß, der durch die Schöpfung geht, erlaubt, Fehlverhalten auch offenzulegen und einzugestehen. Schuld muß nicht verdrängt bzw. anderen zugeschoben werden. Die Aufmerksamkeit auf Sünde schafft so in der seelsorgerlichen Beziehung und in der kasualpraktischen Lebensbegleitung den Raum für freimütige Gelassenheit, für die Durchbrechung der unheilvollen Verkettung von Schuldzuweisungen, für die Rechtfertigung von Lebensgeschichten, nicht aus ihren vorweisbaren Werken, sondern aus den - letztlich in Gott gründenden - humanen Verhältnissen wechselseitiger, freier Anerkennung.

3.3. Unterricht und Bildung. Im Unterricht, in christlich-religiösen Bildungsprozessen am Ort von Schule und Kirche, ist Sünde kein T h e m a , wenn es von den Lehrenden nicht auf der Basis biblischer und kirchlicher Überlieferung zu einem Thema gemacht wird. Im Gespräch mit der Pädagogik wie auch in der religionspädagogischen Praxis erfahren Theologie und Kirche am stärksten die Dissonanzen, die sich zwischen dem alten christlichen Sünden- bzw. Erlösungsbewußtsein - wie es aus den reformatorischen Katechismen, die den kirchlichen Unterricht bis ins 20. Jh. hinein geprägt haben, herausspricht - und dem modernen Autonomieideal mit dem ihm zugehörigen Emanzipationsinteressen auftun. O b bei der (Kinder-)Erziehung mit der in sündhafte Verderbnis gefallenen, zur Erkenntnis und zum Tun des Guten unfähigen menschlichen Natur zu rechnen ist oder mit einem von N a t u r aus guten, als Gottes Ebenbild geschaffenen, in seiner Würde anzuerkennenden und zur Selbstbestimmung bestimmten Menschen, berührt die seit der Mitte des 18. Jh. immer wieder diskutierten Grundfragen neuzeitlicher Pädagogik. Inzwischen allerdings ist der theologische Sündenbegriff durch seine ihn umgangssprachlich moralisierenden Konnotationen neutralisiert (Brockmann/Stoodt). Sünde erscheint allenfalls noch als Relikt eines leibfeindlichen, repressiven, inzwischen (verdientermaßen) auf seine kirchlichen Binnenhorizonte reduzierten Christentums. Die religiöse Rede von Sünde (als Begriff des Gottesverhältnisses) kommt in pädagogischen, auch religionspädagogischen Zusammenhängen nicht mehr vor. Was sich auch in ihnen durchgehalten hat, ist jedoch die christliche Schuldkultur. -»Schuld ist ein Thema in Unterricht und Bildung, am Ort von Schule und Kirche. Es beschäftigt auch die Frage nach den Ursachen von Schuld, die vor allem in sozialen Strukturen, in ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht werden. Ebenso interessiert das Problem des Umgangs mit Schuld und Schuldigen. Wie die Frage nach den Ursachen von Schuld wird auch die nach dem Umgang mit Schuld vor allem auf der Ebene zwi-

Sünde V I I I

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schenmenschlichen Verhaltens ausgetragen. Im Hintergrund steht dabei die Erwartung, daß sich die „Kunst und Kritik des Vergessens" (Weinrich) müßte lernen lassen. Dazu ist auch der Beitrag der Theologie gefordert. Sie kann ihn leisten, wenn es ihr gelingt, die Rede vom menschlichen Gottesverhältnis, für dessen Negation der Begriff der Sünde ursprünglich steht, in eine Deutung von Strukturen des Verhältnisses von uns Menschen untereinander zu übersetzen. Sünde meint dann die Verletzung von Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung, das Verursachen und das Erleiden von Unversöhntheit, Lieblosigkeit und Hoffnungslosigkeit (Brandt), Dinge, die von Menschen in ihren vielen Erscheinungsformen immer dort ausgelöst und erfahren werden, wo ihre letztinstanzlich in der Gottesbeziehung gründende - Würde verletzt wird. Vergebung, von der christlich zu reden ist, s o b a l d die Sünde angesprochen wird, m e i n t d a n n , d a ß der andere auch dann n o c h als Person a n e r k a n n t w i r d , wenn er solche A n e r k e n n u n g und d a m i t die W ü r d e , das L e b e n s - und M e n s c h e n r e c h t anderer seinerseits m i t F ü ß e n getreten h a t . S ü n d e n v e r g e b u n g ist die E r f a h r u n g weltlich grundloser, a b e r weltlich vermittelter, in G o t t gründender A n e r k e n n u n g . Literatur Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Stud. zum Verhältnis v. Subjektivität u. Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard u. Friedrich Schleiermacher, 1996 (BHTh 94). - Michael Beintker, Die Schuldfrage im Erfahrungsfeld des gesellschaftlichen Umbruchs im östlichen Deutschland. Annäherungen: KZG 4 (1991) 445 - 461. - Sigrid Brandt, Sünde. 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Suizid I

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Wilhelm Grab

Sündenbekenntnis -»Buße, -»Gebet, -»Liturgie, -»Rechtfertigung, -»Vergebung der Sünden

Suizid I. Religionsgeschichtlich II. Theologisch

S.445

I. Religionsgeschichtlich 1. Befunde

2 . Widersprüchliche Bewertungen

(Literatur S. 4 4 4 )

Die Quellen vieler Kulturen wissen von Männern und Frauen, die ihrem Leben durch eigene Hand ein Ende setzten oder auf Verlangen durch andere getötet wurden. Das reiche Material harrt weitgehend systematischer Erschließung; selbst zum religiös motivierten Suizid in den Weltreligionen gibt es relativ wenig Literatur. 1.

Befunde

1.1. Stammeskulturen. Könige und Häuptlinge afrikanischer Stämme müssen, sobald Kriegsglück, Gesundheit oder Körperkraft nachlassen, sich selber töten. Alte und Kranke, die ihre Stämme im harten Existenzkampf in unwirtlichen Gegenden wie der Kalahari-Wüste nur belasten, bitten Angehörige um den Tod. Die Völkerkunde weiß von einzelnen, die spontan ihre gewohnte Welt verlassen und aus der Wildnis nie mehr zurückkehren. Um dem schändlichen „Strohtod" zu entgehen, töten sich Germanen und Kelten, kampfunfähig geworden, häufig mit den eigenen Waffen. Der Gefangenschaft und Sklaverei suchte man durch Massensuizide zu entrinnen. 1.2. Klassisches Altertum. denten überaus zahlreich.

In der griechischen und römischen Welt begegnen Suizi-

Allein unter den H e r r s c h e r n und Führern des römischen R e i c h e s sind 3 1 5 b e k a n n t . In Wendungen wie sexagenarii de ponte („die 60jährigen von der B r ü c k e " ) oder depontani senes („die Alten von der B r ü c k e " ) klingt die einst wohl weltweit verbreitete Sitte n a c h , dem aktiven Leben E n t w a c h s e n e sich selbst oder durch andere g e w a l t s a m auslöschen zu lassen. Generell w a r Suizid nur Sklaven, Soldaten und zum Z w e c k e der Strafvereitelung verboten. Bei starken S c h m e r z e n , unheilbaren Krankheiten und den von den Stoikern ( - » S t o a / S t o i z i s m u s / N e u s t o i z i s m u s I) geltend gemachten G r ü n d e n gingen a b e r auch sie straffrei aus. Verpönt w a r es, sich aus Lebensüberdruß oder „ D e p r e s s i o n " zu töten; selbst d e m Geliebten der erotischen M ä n n e r f r e u n d s c h a f t nachzusterben galt im klassischen G r i e c h e n l a n d nicht als anrüchig. Zeitweise ausgeprägten „ S e l b s t m o r d m a n i e n " durch gesetzgeberische M a ß n a h m e n b e i z u k o m m e n , war anscheinend kaum größere Breitenwirkung beschieden als den Nachweisen von Philosophen, M e n s c h e n seien in politische, kosmische oder göttliche O r d n u n g e n eingebunden, die sie nicht einfach abschütteln dürften; selbst h a r t e Strafen im Jenseits scheinen nicht sonderlich abgeschreckt zu h a b e n .

Suizid I

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1.3. Indien und Ostasien. N a c h der Verdrängung des Buddhismus w a r Selbsttötung seit dem 15. J h . in Indien weit verbreitet. Die Puränas betonen aber, sie bilde L o h n für Asketen, um die Frömmigkeit zu besiegeln, einen verdienstvollen Akt, nicht Ausweg für Gottlose. Bei Festumzügen zu Ehren von Vishnu Jaganätha lassen sich Pilger von den gewaltigen Rädern des Prozessionswagens mit dem Abbild der Gottheit überrollen, andere suchen Kasi bei Benares, den Zusammenfluß von Ganges und Jamuna, Himalaya-Heiligtümer oder andere heilige Stätten auf, um aus großer Höhe herabzuspringen, sich in den Fluten zu ertränken, sich zu verbrennen oder im Schnee einzugraben. Jainas, besonders Mönche, praktizieren das Todesfasten am Ende eines langen Übungsweges. Als Witwe dem verstorbenen Mann in den Tod zu folgen galt als verdienstvoll, konnte aber, etwa von Erben, auch brutal erzwungen werden. Nicht nur in der Bard-Sekte bildete Selbsttötung von Sädhus eine scharfe Waffe gegen jeden, der sich ihnen ernsthaft in den Weg stellte. Bis heute wird für alle Bevölkerungsschichten eine große Bereitschaft konstatiert, Probleme in Schule, Partnerschaft und Erwerbsleben durch eigenhändigen Tod mit Gift, Waffen oder herbeigeführten Unfällen zu beenden, ohne daß auf Suizidenten und Hinterbliebene ein Makel fiele. Aus ganz Ostasien ist die Witwenverbrennung belegt. In J a p a n bildet das im Westen als Harakiri bekannte seppuku, sich selbst den Bauch aufschlitzen, ein beliebtes Mittel zur Vermeidung von Unehre oder des Protestes gegen erlittene Unbill. 1.4. Buddhismus. Ahimsä, das Verbot, Leben zu schädigen, schließt Suizid zwingend aus. Dennoch wurden im Laufe der Zeit eng umschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt: unerträgliche Schmerzen oder Vermeidung von Rückfällen aus dem Z u s t a n d höchster innerer Freiheit. Buddhistische M ö n c h e , die sich etwa zur Abwendung drohender Verfolgung bis in jüngste Z e i t selber verbrannten, sehen darin ein z w a r weniger verdienstvolles, aber gerechtfertigtes Mittel der Buddhaverehrung. 1.5. Judentum und Islam. Weit schärfer als die Buddhisten lehnen jüdische und muslimische Tradition Selbsttötung ab. 1) -»Tanach und -»Talmud kennen kein ausdrückliches Verbot, doch hält ein seit alter Zeit ununterbrochener Konsens Suizid durch das göttliche Gebot zur Bewahrung des Lebens implizit für untersagt. Dennoch gibt es Ausnahmen, vor allem das Glaubenszeugnis (-»Martyrium), um der Nötigung zu Götzendienst, Unzucht oder Mord zu begegnen. Seit dem Mittelalter wurden fast nur noch Zwangsbekehrungen zum Christentum anerkannt. 2) Obwohl der Koran dem Menschen das Verfügungsrecht über Leben und Tod entzieht, sind Suizide aus Mohammeds Umgebung und der späteren Geschichte bekannt. Bei der insgesamt angeblich niedrigen Selbstmordrate in islamischen Ländern ist zu bedenken, daß die Grenzen zum Glaubenszeugnis fließend sind. 1.6. Neuere Endzeitgruppen. Obwohl Gruppen wie der „Tempel des Volkes" des Jim Jones mit über 900 toten Anhängern 1978 (in Jonestown [Guayana]), die „Dawidianer" des David Koresh (eigentlich Vernon Howell) mit über 100 Toten 1993 (im texanischen Waco), „Sonnentempler" oder „Wiederherstellung der zehn Gebote Gottes" des Joseph Kibwetere, die in Uganda Massengräber noch unbekannten Ausmaßes hinterlassen hat, biblisch inspiriert und den christlichen Randgruppen zuzurechnen sind, seien sie hier als Beispiele der Verknüpfung von Suizid und Mord wenigstens erwähnt. 2 . Widersprüchliche

Bewertungen

Suizid ist weit verbreitet, wahrscheinlich universal. Wenn er in den westeuropäischen Ländern auch bereits 1964 eine der sechs bis neun häufigsten Todesursachen bildete, stellt er keine Erscheinung der modernen Zivilisation dar. Auch wenn er aus religiösen Motiven erfolgt, d a r f man ihn nicht als (Geistes-)Krankheit oder F o r m religiösen Überschwangs neben anderen einstufen; ebenso unangemessen w ä r e es, ihn als letzte g r o ß e Freiheitstat zu idealisieren. W i e jede menschliche Verhaltensweise kann auch Selbsttötung entarten, epidemisch, theatralisch, physisch oder moralisch erzwungen sein, d o c h schon die gerafften Befunde

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unterstreichen, d a ß sie eine Möglichkeit, wegen ihrer Unwiderruflichkeit wohl die grundsätzlichste menschlicher Existenz, darstellt, die sich Religionen, Kulturen und vor allem einzelne nicht gern nehmen lassen und die im Kontext von Ehre und Selbstopfer ins Z e n t r u m menschlicher Selbstachtung und Unterwerfung führt. Anscheinend sieht sich jede religiöse Überlieferung veranlaßt, Stellung zum Suizid zu beziehen. Schematisierend lassen sich vier Grundpositionen unterscheiden: 1) Gilt Selbsttötung - dasselbe gilt von T ö t u n g auf Verlangen oder Formen, die wie Harakiri technisch nur zum Teil durch eigene H a n d erfolgen - als einziges oder bevorzugtes Mittel zur Regelung von Fragen der Subsistenzsicherung oder Ehre, werden Vorkehrungen gegen ein Ausufern getroffen. Anlässe und Personenkreis sind so eng umschrieben, d a ß Versuchungen, sich in ausweglos erscheinenden Situationen anderer Art selbst zu töten, entschärft erscheinen. T ö t u n g s f o r m e n wie das an außergewöhnliche Willensstärke und entsprechend harte Schulung gebundene seppuku dienen dem gleichen Z w e c k . M a n kann es sich k a u m anders erklären, als d a ß der realistischen Befürchtung vorgebeugt werden solle, Beispiele der Selbsttötung könnten Schule machen. Historisch nicht zu rechtfertigen ist E. Dürkheims These, solidarische Selbsttötung beruhe auf zu strenger Unterwerfung des einzelnen unter das Kollektiv und sei im N a m e n eines emanzipatorischen Gesellschaftsverständnisses prinzipiell abzulehnen. 2) Umgekehrt haben grundsätzliche Verdikte Tod durch eigene H a n d nicht auszuschließen vermocht, sondern unter N a m e n wie Glaubenszeugnis, M a r t y r i u m oder O p f e r weitreichende Ausnahmen zugelassen. Selten wird die höchste Verwerflichkeit so konsequent vertreten, d a ß auch nur theoretisch für Suizid härtere Strafen als für M o r d z. B. an Eltern gefordert würden. Letztlich beteiligten sich alle Anwälte der Ablehnung an der Rehabilitation der Tat, indem sie Argumente bereitstellten, Suizide zu beschönigen, zu vertuschen oder umzudefinieren. 3) Bildet das Suizid-Verbot nicht die N o r m , von der es verpflichtende oder zulässige Ausnahmen gibt, sondern jedem Menschen das unbedingte Recht zubilligt, H a n d an sich zu legen, verletzt die Tat keine vorgeordnete Pflicht, sie steht vielmehr im Dienst höherer Werte wie der Freiheit, umgehender Gemeinschaft mit verehrten Gottheiten und dergleichen. O b w o h l aus vielen Kulturen Lobredner des Freitodes bekannt sind, die wie Kyniker oder Stoiker in der Antike d a d u r c h nur ihre Freiheit bestätigen, aber keine Notlage beheben wollten, wird doch die Ausübung des Rechtes keineswegs generell, geschweige denn leichtfertig oder unbesehen empfohlen. 4) In religiösen Traditionen mit absolutem Selbsttötungsverbot ergeben sich zahlreiche Überlappungen zwischen dem zutiefst verabscheuten Suizid und als Gipfel der Frömmigkeit gepriesenen Akten. Massensuizide in der jüdischen Geschichte, das Drängen von christlichen M ä n n e r n und Frauen in Verfolgungszeiten zum M a r t y r i u m und „ T o d e s k o m m a n d o s " im Islam, nicht nur bei Schiiten, verwischen die Grenzen theoretisch, auf jeden Fall aber praktisch zu O p f e r und Glaubenszeugnis mit dem eigenen Blut. Die spektakulären Aktionen der „Endzeitgruppen" gestatten nur schwer, eindeutig zu entscheiden, w o die religiösen Motive wie z. B. Stärkung der Gruppensolidarität aufhören und das Verbrechen beginnt. Alle Regelungen bleiben zwiespältig und unterstreichen, d a ß Suizid wohl zu den widersprüchlichsten Phänomenen der Religions- und Geistesgeschichte gehört. Literatur Alfred Alvarez, The Savage God. A Study of Suicide, London 1971; dt.: Der grausame Gott, Hamburg 1974, bes. 6 6 - 7 0 . - Paul Bohanan (Hg.), African Homicide and Suicide, Oxford 1959. - David Chidester, Salvation and Suicide. An Interpretation of Jim Jones, the Peoples Temple, and Jonestown, Bloomington/Indianapolis, Ind. 1988. - Haim Hermann Cohn, Art. Suicide: EJ 15 (1971) 489-491. - Émile Dürkheim, Le suicide, Paris 1897; dt.: Der Selbstmord, Neuwied/Berlin 1973 (Soziologische Texte 32). - Meenhard Eilers, Kollektive Suizide. Ein vernachlässigter Aspekt der Suizidforschung, Regensburg 1992. - Anthony Giddens (Hg.), The Sociology of Suicide. A Selection of Readings, London 1971, 155-242. - Marilyn J. Harran, Art. Suicide: EncRel(E) 14

Suizid II

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Karl Hoheisel II. Theologisch 1. Zur Begrifflichkeit 2. Theologische Tradition und Ethik spektiven (Literatur S. 451)

1. Zur

3. Pastoralpsychologische Per-

Begrifflichkeit

Umgangssprachlich wird in der Regel statt von Suizid von Selbstmord und Selbstmordversuch gesprochen. Das Wort M o r d , das im Wort Selbstmord enthalten ist, umschreibt nach dem Grimmschen Wörterbuch „die heimliche vorbedachte tötung", und Mord ist im Gegensatz zu Totschlag ein „hauptfrevel" und ein „schweres verbrechen" (DWb 6 [1885] 2530.2534). Damit verbindet sich der Begriff „ M o r d " mit sozialethischer Verwerflichkeit. Man „verübt" einen Selbstmord und Straftaten. Sprachlich wird durch die Begrifflichkeit eine Straftat angedeutet; dieser Zusammenhang erhöht die Tabuisierung. Es kann also aufgrund der Verbindung zwischen den Begriffen „Selbstmord" und „ M o r d " nicht erstaunen, wenn, bis in die neueste Zeit hinein, Suizid im Sinne von Selbstmord gedeutet und geahndet wurde: Es handelt sich um einen „ M o r d " , bei dem der Täter bzw. die Täterin und das Opfer identisch sind. Gesellschaftlich wahrgenommen wurde über Jahrhunderte hinweg nicht der Mensch als Opfer, sondern ausschließlich als Täterl-in. Das Selbst, das ja diese Tat plant und durchführt und damit Opfer und Täter/-in zugleich wird, kann damit selten bewußt wahrgenommen werden. K. -•Jaspers zu dem Begriff: .„Selbst' drückt die Freiheit aus, die das Dasein dieser Freiheit vernichtet" (Jaspers 301). Der Begriff Freitod ist so etwas wie ein Gegenbegriff zu Selbstmord: Er läßt sich bei den Philosophen A. -•Schopenhauer und F. —»Nietzsche finden, speziell in der Rede „Vom freien Tode" aus Nietzsches Also sprach Zarathustra. „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der zu mir kommt, weil ich will", und weiter: „Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Neinsager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben" (Nietzsche 592f.). Dieser Begriff stellt ganz eindeutig die Möglichkeit und -»Freiheit des Menschen zu seinem eigenen -»Tode (vgl. auch -»Leben) in den Vordergrund. Auf den Begriff Freitod bezogen hieße dies, daß der Mensch aus der eigenen, ihm zugestandenen Freiheit heraus auch den Tod als Ziel wählen kann. Es ist die Möglichkeit, die der Mensch besitzt. W. Kamiah nennt dies, die alte römische Tradition aufnehmend: mors voluntaria. Im Jahre 1976, im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von J. Amérys Buch Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, wurden diese Begriffe und die Tatsache des Freitodes äußerst divergent diskutiert. Die Intention dieses vom Existenzialismus geprägten Phi-

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losophen ist es, den Suizid weder als Krankheit noch als Symptom einer Krankheit (vgl. Ringel) gelten zu lassen. Diese Annahme der Krankheit ist geprägt von der Tatsache, daß ein großer Anteil der an Suizid Verstorbenen zum Zeitpunkt ihrer Selbsttötung an einer depressiven Erkrankung (dazu speziell Pohlmeier, Depression) oder Psychose gelitten haben. Die große Mehrheit aller Selbsttötungen wird in einer subjektiv hoffnungslos erscheinenden Situation unternommen: Der Suizid wird als einzig möglicher Ausweg gesehen. Betroffene aber — so psychiatrische Fachärzte - handeln weder „frei" noch „willig" (Haenel 4). Suizid und Suizidversuch, die aus dem Lateinischen sui caedere stammen und übersetzt so viel wie das „Zu-Fall-Bringen des eigenen Ichs" (ebd. 3) bedeuten, sind die heute verwendeten Fachtermini. Im Gegensatz zum Ausdruck Selbstmord sind die Bezeichnungen Suizid, suizidal, Suizidalität und Selbsttötung Begriffe, die beabsichtigen, die Handlung nicht wertend zu erfassen. Der Begriff Suizid ist nicht die Matrix für das deutsche Wort Selbstmord: Selbstmord ist schon belegt, als die Bezeichnung Suizid noch nicht üblich war. Denn erst zu Beginn des' 18. Jh. begann das Wort Suizid in Frankreich aufzutauchen, um von da aus im englischen Sprachgebrauch, aus dem es ursprünglich kam, verwendet zu werden. Im Jahre 1652 wurde sprachlich unterschieden zwischen „selfmurder", dem verwerflichen Suizid, und „self-homocide" (Begriff von John Donne [1572-1631]), der eine nicht von vorherein verwerfliche Suizidhandlung beschreibt und später durch den Terminus Suizid (Begriff von Walter Charleton [1619-1707]) ersetzt wird (Daube; Kuitert, Urteil 23f.). Allmählich wird der Begriff Suizid zum Terminus technicus, der in wissenschaftlichen Publikationen seine Verwendung hatte. Inhaltlich soll unter Suizid eine Handlung verstanden werden, mit der eine Person sich absichtlich durch eigenes Tun den Tod gibt. Es ist dabei nicht entscheidend, ob der Tod beabsichtigt war. Dabei muß der Suizid gegenüber dem Tod auf Wunsch (direkte —»Euthanasie) unterschieden werden, denn beim Verlangen zu sterben geht es darum, daß ein meist kranker Mensch die letzte Phase eines notwendigen Sterbeprozesses verkürzen möchte. Suizidale Menschen könnten, wollen aber nicht mehr weiterleben. Diese Diskussion in der Abgrenzung zwischen suizidalem Handeln und Sterbchilfe bzw. Euthanasie (dazu Eibach; Hübner) wird vor allem in den Niederlanden ausführlich diskutiert (dazu Diekstra, Suicide) und ist Thema der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben bzw. der EXIT-Bewegung. Der Begriff Bilanzsuizid wird zum ersten Mal 1918 von Alfred Erich Hoche ( 1 8 6 5 1943) erwähnt. Das Resümee der Reflexion des eigenen Lebens führt zum selbstgewählten Tod. Der Bilanzselbstmord wird als Begriff häufig bei Suiziden älterer Menschen verwendet. Das Interesse des Umfeldes ist, die „Alleinverantwortlichkeit des Suizidalen für seine T a t " bei dem/der Betroffenen zu belassen, um damit Fragen nach einer Mitverantwortung auszuweichen oder sie zu unterbinden. Der Suizidversuch, oder Parasuizid genannt, ist ebenfalls eine gegen sich selber gerichtete Handlung; sie hat aber keinen tödlichen Ausgang. Zunächst wurde zwischen dem Suizid und dem Suizidversuch nur ein quantitativer Unterschied festgehalten, der Suizidversuch wurde als mißglückte Selbsttötung eingestuft. Diese Konstellation ist aber äußerst selten der Fall. In 92,5 % der Fälle ist die Rettung - oft unbewußt - mit einkalkuliert. Der im kirchlichen Umfeld gelegentlich im Zusammenhang von Suizidversuchen verwendete Begriff lebensmüde ist m.E. ein den Sachverhalt verharmlosender Ausdruck. Ausgeblendet werden damit in der Regel die Ernsthaftigkeit der Aggressivität in der suizidalen Handlung und der oft verzweifelte Wunsch nach Kommunikation. Unter dem Oberbegriff Suizidhandlungen oder suizidale Handlungen werden sowohl Selbsttötungsversuche als auch vollendete Selbsttötungen verstanden. Weitergehend noch ist der Begriff Suizidalität, der noch die Absicht und die mögliche Gefährdung miteinschließt.

Suizid II 2. Theologische

Tradition

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und Ethik

-•Augustin sah sich im Kontext einer Zeit, die den religiösen Suizid als spezielle Form des -»Martyriums betrachtete, und der -»Stoa, die „das Ideal des selbstbeherrschten Sterbens" (Eibach 495 f.) vertrat, genötigt, gegen Suizidhandlungen zu intervenieren. Dieses Thema handelt er im ersten Buch seines Werkes De Civitate Dei ab. Neu ist, daß er sich in der Suizidfrage zur absoluten Gültigkeit des 5. Gebotes bekennt (Droge/ Tabor 167ff.). Sein Gedankengut hat Auswirkungen bis weit über das Mittelalter hinaus. Es prägte und prägt einen großen Teil der theologischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Augustin hält fest: Nullam esse auctoritatem, quae Christianis in qualibet causa ius voluntariae necis tribuat (Für den Christen gibt es keine Lage, die ihn zum Selbstmord ermächtigt) und restat ut de homine intellegamus, quod dictum est: Non occides, nec alterum ergo nec te. Neque enim se occidit alius quam hominem occidit (so bleibt nur übrig, das Gebot „Du sollst nicht töten" ausschließlich auf den Menschen zu beziehen, und zwar sowohl auf den andern als auch auf dich selbst. Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen, civ. 1,20; dt.: Thimme). Aber auch Augustin kommt nicht umhin, z. B. anhand der Simsongeschichte (Jdc 16,26-31) Ausnahmefälle gelten zu lassen. Er überlegt, ohne jedoch von seinem Suizidverbot abzugehen, ob Gott vielleicht als „Quell der Gerechtigkeit selbst im besonderen zu töten befiehlt" (civ. 1,21). Die biblische Tradition wertet suizidales Handeln kaum: Wir finden in der Bibel im Alten und Neuen Testament vollendete Suizide - und nirgends in diesem Kontext ein direktes Verbot (vgl. Aebischer-Crettol 49-87). K. -»Barth kommentiert diesen Zusammenhang als ,,[e]ine beschwerliche Tatsache für alle, die sie [sc. die Tatsache des Suizidverbots] moralisch verstehen und anwenden wollten!" (KD III/4, 465). In den biblischen Schriften wird von den unterschiedlichsten Möglichkeiten der Selbsttötung berichtet: Simson sieht seinen Tod im Tempel als einen Wunsch: „so mag ich denn zusammen mit den Philistern sterben" (Jdc 16,30). Said und Waffenträger stürzen sich ins Schwort (I Sam 3 1 , 3 - 6 ) . Dieser Tod (nicht die Form des Todes!) wird nochmals überliefert und gedeutet: „So starb Saul um seines Treuebruchs willen, mit dem er sich an dem Herrn versündigt hatte, weil er das Wort nicht hielt, auch weil er die Wahrsagerin befragt, den Herrn aber nicht befragt hatte. Darum ließ er ihn sterben" (I Chr 10,13f.). Der H a u p t m a n n Architofel erhängt sich (II Sam 17,23f.). Er wird in seines Vaters Grab begraben (!). Simri „verbrannte sich mit dem Hause des Königs und starb" (I Reg 16,18ff.). In den Apokryphen finden wir Eleasar, der sich in einem Opfertod suizidiert, um sein Volk zu retten (1 M a k k 6,44ff.). Ptolemäus Makron wird ein Verräter genannt und gibt sich den Tod: „da er sein Amt nicht mehr mit Ehren innehaben konnte, nahm er Gift und machte seinem Leben ein E n d e " (II Makk 10,13). Rhazis, Jerusalems Ältester, der sich ins Schwert stürzt, nimmt sich anschließend durch einen dramatischen Sturz von einem Felsen das Leben (II Makk 14,37ff.). Im Neuen Testament ist es Judas, der sich erhängt (Mt 27,5).

Aber die Theologie und Ethik Augustins und die christliche Verantwortung als Staatsreligion prägen in den anschließenden Jahrhunderten den Umgang mit Suizidhandlungen. Einige Markierungspunkte zeigen die Entwicklung an: Gegenüber gelegentlichen Äußerungen in der Alten Kirche, vor allem im Zusammenhang mit dem Suizid von Märtyrinnen, um einer Vergewaltigung zu entgehen (z.B. Eusebius, h.e. VIII, 12,3—5), bezieht Augustin eine grundsätzliche Position mit ausführlicher Erörterung der anstehenden Fragen in De Civitate Dei (1,17-27). Außer in besonderen Fällen eines ausdrücklichen Gebots von Gott, z. B. bei Simson (1,26), ist für ihn das Gebot „Du sollst nicht töten" auch im Fall der Selbsttötung uneingeschränkt gültig. Im sog. II. Konzil von Arles, einer Kanonessammlung (Mitte 5. Jh.), deutet c. 53 einen Suizid als vom Teufel veranlaßt, den Sklaven verüben, um damit ihre Herren zu treffen. Beim 1. Konzil von Braga (561) bestimmt c. 15, d a ß Selbstmördern die kirchliche Bestattung und die gottesdienstliche Kommemoration versagt werden soll. Das wird über ein Jahrtausend kirchliche Praxis. Das 16. Konzil von Toledo (693) legt bei einem versuchten Selbstmord eine auf zwei Monate befristete Exkommunikation als Strafe fest. O b w o h l es auch Versuche gibt, Ausnahmebestimmungen für Geisteskranke zu entwickeln, erfolgt weitgehend eine Bestattung außerhalb des Friedhofs. Im Jahre 860 n. Chr. erklärt Papst -»Ni-

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kolaus I. den Suizid zur Todsünde. Das Konzil von Nimes (1184) folgt dieser Lehrmeinung, die auch Eingang in das kanonische Recht findet.

Damit ist der Hintergrund der für die Folgezeit vielfach maßgeblichen Lehre von -•Thomas von Aquino mit seinem „klassischen Nein" zum Suizid (S. th. 11,64,5) erkennbar. Sein Ansatz: Selbsttötung verstößt individualethisch gegen die natürliche Neigung zur Selbsterhaltung (/nclinatio naturalis), gegen die Gemeinschaft (iniuria communitati) und ist theonom eine Sünde gegen Gott. Das schöpfungstheologische Argument besagt: Gott als Schöpfer des Lebens ist der einzige, dem es zusteht, Leben zu nehmen. Diese Beweisführung begründet über Jahrhunderte die Ethik zu dieser Thematik. M. -•Luther setzt mit seiner satanologischen Erklärung von Suizid einen deutlich anderen Akzent und zeigt Verständnis für die Thematik der betroffenen Menschen. Die Not wahrnehmend, formuliert er: „quia sie thun es nit gern, sed superantur Diaboli potentia, wie einer yn eim walt von einem latrone ermordet wurdt" (M. Luther, Tischreden, Nr. 222) oder erklärt: Visibilis Satan est (WA.B 10,112). Geprägt wurde dieser Zugang zum Suizid durch Luthers gründliches Studium der Suizide in der Bibel und durch seine persönliche Auseinandersetzung mit Suizidgedanken (Krause). Auch I. -•Kant zu Beginn der Neuzeit ist mit seinem Anliegen der autonomen Pflichtethik ein Gegner des Suizids. Damit setzt er auf philosophischem Gebiet die theologische Argumentation fort. Es gehört zu den Verdiensten der Aufklärung, daß die Ächtung des suizidalen Handelns aus den Strafgesetzbüchern entfernt werden konnte (1751 in Preußen, 1790 in Frankreich, erst 1961 in Großbritannien [Kamiah 14]). Einige Ansätze, die das Denken in neuerer Zeit geprägt haben und immer noch prägen: D. -»Bonhoeffer, dessen anfängliche Haft in Tegel so qualvoll ist, daß er selber an Selbstmord denkt (Bethge 88), handelt diesen Kontext unter dem Aspekt der menschlichen Freiheit ab. Es geht ihm in seiner Ethik (Bonhoeffer 192-199) um den Umgang mit der ihm von Gott geschenkten Eigenständigkeit: Zur menschlichen Freiheit gehört für Bonhoeffer auch die Möglichkeit, das eigene Leben opfern zu können. In dieser Form der Hingabe ist Selbsttötung ein möglicher Weg. Bonhoeffer geht somit einerseits mit dem Thema Selbsttötung sehr behutsam um (ebd. 193.196), lehnt aber andererseits den Selbstmord auch eindeutig ab (ebd. 194): Er unterscheidet damit zwischen der Selbsttötung, die als ein bewußtes Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen gegeben wird, und dem Selbstmord, bei dem es nur um die eigene Person geht (ebd. 197). Das Nein zum Selbstmord ist für Bonhoeffer eine Frage des Glaubens. Die Suizidhandlung, so faßt der holländische Theologe H. Kuitert die Beurteilung Bonhoeffers pointiert zusammen, ist nicht ein „moralischer Mißgriff, sondern ein religiöser" (Kuitert, Urteil 51). K. Barth, der den Suizid im Kontext „Schutz des Lebens" (Barth 453ff.) erörtert, kommt ähnlich wie Bonhoeffer zu einem differenzierten Nein: Gott ist Schöpfer und Herr des Lebens, und es ist nicht Sache des Menschen zu beurteilen, ob das eigene Leben „gelungen oder verfehlt, tragbar oder untragbar, seine Fortsetzung für ihn möglich oder unmöglich" (ebd. 461) ist. Er erwähnt jedoch den Themenbereich der „Anfechtung" (ebd. 460) und räumt modifiziert den Beistand des gnädigen Gottes ein. „Die Möglichkeit des Grenzfalls ist hier wie sonst die besondere Möglichkeit Gottes selbst. Und niemand darf sich bloß einreden, daß er für ihn gegeben sei. ... Das kann dem Menschen gerade nur gesagt sein. Tötet er sich, ohne daß ihm das gesagt ist, dann ist sein Tun Mord - den Gott ihm vergeben kann, aber Mord, den der Mensch gerade im Glauben an den gnädigen Gott, der Sünden vergibt, nicht erhobenen Hauptes begehen wollen kann. Es wird besser sein, wenn wir nun doch diese Warnung das letzte Wort zu dieser Sache sein lassen" (ebd. 470).

Barths Ansatz nimmt das Dilemma des Menschen an der Grenze differenziert wahr: Die Empfehlung an den betroffenen suizidalen Menschen, daß er/sie leben darf, kann zwar eine Hilfe bedeuten, gleichzeitig aber eine unbewußt zynisch anmutende Wirkung haben, wie D. Lange aus der Perspektive des Ethikers anmerkt (Lange 388).

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Das Tagebuch Jochen Kleppers (1903-1942), der im Dritten Reich mit einer jüdischen Frau verheiratet war, zeigt die persönliche und theologische Auseinandersetzung mit der Frage des Suizids als unvergebbarer Sünde im Kontext der politischen Situation seiner Zeit. Die damals geltende kirchliche Verurteilung des Suizids als „Sünde wider den heiligen Geist" schränkt Klepper bereits 1926 in einem seiner unveröffentlichten Manuskripte durch die Aussage „der Selbstmord des zutiefst geängstigten Menschen ist entschuldbar" ein (dazu Thalmann 41 f.). Er entscheidet sich dafür, als ihre Lage zunehmend lähmender wird, gemeinsam mit seiner Frau und seiner Stieftochter 1942 als Glaubende in den Tod zu gehen. Kleppers Tod wurde theologisch als Sünde gewertet; mit R. Thalmann aber ist zu fragen, ob Sünde nicht vielmehr die Lehre ist, „die durch blindes Vertrauen auf Gottes Fügung und Führung" (ebd. 381) den Menschen resignierte Duldsamkeit (bis hin zur Selbsttötung) aufzwingt. P. ->Tillich, den existentiellen Fragen des Menschen große Bedeutung beimessend und von S. ->Freud und der umstrittenen Todestriebtheorie beeindruckt, schreibt unter der Uberschrift „Das Sich-Schaffen des Lebens und seine Zweideutigkeiten", d a ß der Selbstmord als „Aktualisierung eines latenten Impulses in allem Leben verstanden werd e n " (Tillich, Systematische Theologie III, 72) muß. H. -»Thielickes Antwort auf J. Amerys philosophisches Plädoyer für den Suizid ist die Ablehnung suizidalen Verhaltens. Allerdings läßt auch er wenige Ausnahmefälle (Thielicke 82f.) gelten. Weder in W. Pannenbergs Anthropologie noch in der Ethik von T. Rendtorff taucht die Suizidthematik als eigene Fragestellung auf. Zunächst symptomatisch für den Umgang mit dem Thema Suizid streift der Ethiker D. Lange das Thema im Zusammenhang mit der ethischen Relevanz der -»Sünde. Dabei geht es ihm um die anthropologischen Polaritäten von „Freiheit und Schicksal, Befestigung und Aufbruch, Selbstunterscheidung und Kommunikation", die das faktische und das eigentliche Wollen bestimmen. Den Suizid subsumiert er unter pathologischen Aspekten, und davon grenzt er seine Ethik ab. Damit nimmt er eine medizinische Vorgabe (Ringel u.a.), die bis in die 80er Jahre Konsens war, auf. Dieser Zusammenhang läßt die Suizidhandlung nicht als Sünde gelten. Aus ethischer Perspektive wird deutlich, daß das Ja Gottes zum Leben ethisch-theologisch den Suizid nicht zuläßt (Holderegger, Suizid [1977] 16f.). Leben ist Geschenk, unabhängig von gesellschaftlichen und individuellen Leidenssituationen. Es wird aber auch einsichtig, daß das Verbot, wie auch immer die Begründung dazu lauten mag, nicht allein richtungweisend sein kann, weil Betroffene selten wirklich „frei" sind (Biet 135 f.) und auch Glaube „Suizid nicht unmöglich" (Kuitert, Urteil 149) macht, wenn die Sinnzusammenhänge zerbrochen sind. Somit müssen Kritik und Bewertung einer konkreten Entscheidung die persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ethisch und pastoralpsychologisch mit berücksichtigen. 3. Pastoralpsychologische

Perspektiven

Die Praktischen Theologen in den 70er Jahren des 20. Jh., so z. B. J. Thilo, A. Reiner und K.-P. Jörns, später dann auch D. Stollberg, verknüpfen die suizidale Thematik mit der Dimension seelsorgerlicher Praxis. Dabei geht es erstmals darum, suizidales Handeln unter dem Aspekt der Prophylaxe und unter pastoralpsychologischen Fragestellungen zu erörtern. Hintergrund bilden u.a. die soziologischen Untersuchungen von E. Dürkheim und verschiedene psychologische Abhandlungen, so z. B. von S. Freud, A. Adler, die Beschreibung des „präsuizidalen Syndroms" von E. Ringel, die Darstellung von Suizidhandlungen als Äußerung einer narzißtischen Krise (Henseler), die Depressionsforschung und die Wahrnehmung des Zusammenhangs von Suizidalität und Kommunikation. Relevant in diesem Zusammenhang ist der Umgang mit dem aggressiven Aspekt von Suizidhandlungen. K.A. Menninger nahm 1938 Freuds These vom Todestrieb auf (Menninger 37ff.) und stellte fest: Der Mensch, der sich selber töten will, trägt folgende

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Wunschtendenzen in sich: den Wunsch zu töten, den Wunsch getötet zu werden, den Wunsch zu sterben. E. Ringels Untersuchungen an „745 geretteten Selbstmördern" haben ergeben, daß die Aggressionstendenzen suizidaler Menschen typische Merkmale aufweisen (Ringel 128ff.): (a) Die Aggressionen sind über Jahre gehemmt und werden im wahrsten Sinne „in sich hineingefressen", (b) O f t sind diese unklar für den betroffenen Menschen, (c) Bei suizidalen Menschen zeigt sich eine verstärkte Tendenz, unzumutbare Situationen auszuhalten und zu dulden oder Schuld auf sich zu nehmen. Damit werden H a ß und Bitterkeit verstärkt, (d) Für die Zunahme der Aggressionsgefühle wiederum muß die suizidale Person sich bestrafen: O f t sind „kleine" Auslöser die Ursache f ü r die Suizidhandlung. Diese „Auslösersituationen" haben Symbolcharakter, (e) Könnte die Aggression anders entladen werden, wäre es in der Regel möglich, eine Suizidhandlung aufzuschieben oder aufzuheben. Das heißt, die suizidale Aggression wird in den konkreten Zusammenhang mit Personen, zu denen der/die Suizidant/-in Beziehung hatte oder hat, gebracht.

H. Henseler zeigt, die verschiedenen Modelle aufnehmend, die Motivstrukturen von Suizidhandlungen auf. Dazu gehören: Aggression, Autoaggression, Fluchtwünsche bzw. Gedanken an eine Zäsur und der Appellcharakter. Jede Suizidhandlung enthält in unterschiedlicher Gewichtung diese Anteile. In allen Motivanteilen des Suizidversuchs findet sich sowohl konservatives als auch destruktives Verhalten. Das heißt, es ergibt sich eine Mischung von selbstzerstörerischen und selbsterhaltenden Motiven. Pastoralpsychologisch erfordert dies zunächst einen souveränen Umgang mit der kirchlichen Tradition: weg von der Defizitperspektive (H. Luther, Alltagssorge) hin zur Annahme und Wertschätzung der aggressiven Motivstruktur und ,,,awareness' - verstanden als ganzheitliches ... Wahrnehmen" (Kiessmann, Ärger), auch für die lebenserhaltenden und nach Veränderung suchenden Aspekte in Suizidhandlungen. Seelsorge mit Suizidanten/ Suizidantinnen in diesem Horizont bedeutet Begegnung an den Grenzen (H. Luther, Grenze), einen kritischen und differenzierten Umgang mit Normen (Winkler, Umgang) und Geduld für komplizierte Zusammenhänge trotz und angesichts der Erfahrung des Scheiterns — die Helferbeziehung mit einbezogen. Suizidhandlungen finden in einem familiären und gesellschaftlichen Kontext statt. Poimenisches Handeln ( - • Telefonseelsorge), bezogen auf die Begleitung (-»Beratung) des betroffenen Menschen, reflektiert sowohl den gesellschaftlichen Kontext (es gibt z. B. einen klaren „Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid bzw. Suizidversuch" [Bronisch 28]; dazu pastoralpsychologische Reflexionen: Bieritz; Grözinger, Krankenhaus; Karle; Schieder u.a.) als auch die persönliche Geschichte des Gegenübers. Dazu gehört auch das persönliche Umfeld der suizidalen Person, das häufig auch Adressat der Suizidhandlung ist. Suizidale Interaktionsmuster aus systemischer Sicht (Rausch, Interaktionsmuster) wahrzunehmen, läßt pastoralpsychologisch Verständnis für entstandene (auch tragisch verstrickte) Zusammenhänge wachsen (Schleiffer). Häufig ermöglicht die pastorale Arbeit in der Gemeinde den Blick für Familienzusammenhänge - manchmal über Generationen hinweg. Für die nächsten Angehörigen kann sowohl der Suizidversuch wie auch der Suizid eine Form der (letzten) Kommunikation sein. Gleichzeitig lösen Suizidhandlungen unweigerlich Schuldfragen (-»Schuld) aus: Sie sind auch Thema für Hinterbliebene nach vollendetem Suizid und das ausgesprochene oder tabuisierte Thema der Ansprache bei der Bestattung. Die Fragen „Wie hätten wir es verhindern können? Wo haben wir etwas falsch gemacht?" erschweren das Sprechen über das Thema und verlängern oftmals die Trauerarbeit. Dabei geht es in der Praktischen Theologie homiletisch, poimenisch und pastoraltheologisch um die Kommunikation der Annahme der als schuldhaft erlebten Lebenszusammenhänge. Ebenso wichtig ist es, die oft tragische Verflochtenheit von Biographien für nächste Angehörige transparenter zu machen. Respekt und Wertschätzung vor der „Ichleistung" (Christ-Friedrich, Versuch 161 ff.) und vor dem Lösungsversuch der/ des andern lassen die kirchengeschichtlich verachtete Suizidhandlung als vielschichtige Kommunikation wahrnehmen und annehmen. Und - die letzte ethische Entscheidung Betroffener bleibt dem „Forum Gottes überlassen" (Lenzen 225).

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Suizid II

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Sulpicius Severus

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2. Werke

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 456)

Leben

Die N a c h r i c h t e n über den L e b e n s g a n g v o n Sulpicius Severus sind b r u c h s t ü c k h a f t . Seine N a c h z e i c h n u n g bleibt a u f R ü c k s c h l ü s s e aus seinen Schriften s o w i e a u f 13 an ihn gerichtete Briefe von - » P a u l i n u s von N o l a aus den J a h r e n c a . 3 9 4 - 4 0 4 und eine kurze N o t i z bei - » G e n n a d i u s von Marseille angewiesen. E r w a r A q u i t a n i e r v o r n e h m e r A b k u n f t und ein jüngerer Z e i t g e n o s s e und F r e u n d des u m 3 5 5 g e b o r e n e n Paulinus v o n N o l a . E r erhielt eine gediegene Bildung, w u r d e ein erfolgreicher A n w a l t und heiratete in eine Familie des senatorischen Adels ein; d o c h ist seine F r a u offenbar s c h o n sehr früh verstorben. 3 9 3 e n t s c h l o ß sich Paulinus, der Welt zu entsagen und sich einem asketischen Leben z u z u w e n d e n , und e r m u n t e r t e seinen F r e u n d , den gleichen W e g einzuschlagen. Kurz d a r a u f suchte Sulpicius -»•Martin v o n T o u r s auf, dessen L e b e n er beschreiben wollte. Dieser d r ä n g t e ihn, d e m Beispiel des Paulinus zu folgen, und d a s t a t er 3 9 4 o d e r 3 9 5 . E r verzichtete a u f seine berufliche Stellung und seinen Besitz mit der A u s n a h m e des L a n d g u t e s P r i m u l i a c u m , a u f d e m er sich als servus

Dei niederließ. (Die g e n a u e L a g e

ist u n b e k a n n t ; w a h r s c h e i n l i c h ist es westlich v o n T o u l o u s e zu suchen.) Sein H a u s verwandelte er in eine A r t m o n a s t i s c h e r G e m e i n s c h a f t ( - » M ö n c h t u m ) unter seiner Leitung. Seine Fähigkeiten stellte er f o r t a n , v o r n e h m l i c h d u r c h sein schriftstellerisches W i r k e n , in den Dienst asketischer christlicher L e b e n s w e i s e ( - » A s k e s e ) .

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Seine eigene asketische Lebensführung glich der des Paulinus von Nola. Er errichtete zwei Kirchen mit einem dazwischenliegenden -»Baptisterium, das mit Bildern von Martin und Paulinus geschmückt war. Clarus, einen der eifrigsten Schüler Martins, ließ er unter dem Altar einer der Kirchen begraben. Damit förderte Sulpicius ebenso wie durch seine Schriften die neu aufkommende Form der Heiligenverehrung (-»Heilige/Heiligenverehrung). Nicht allenthalben stieß er damit auf Zustimmung. Vigilantius, der das Mönchtum und die Heiligenverehrung anfocht und darum von -»Hieronymus angegriffen wurde, war möglicherweise ein ehemaliger Angehöriger der Gemeinschaft von Primuliacum, der sich gegen deren Leitvorstellungen wandte. Er fand damit Anklang bei örtlichen -»Bischöfen, deren Gegnerschaft Sulpicius mit der unverhohlenen Auffassung geweckt hatte, Bischöfe sollten nach dem Beispiel Martins auf Reichtümer verzichten und sich vom Kaiserhof fernhalten. Er stand damit nicht in Einklang mit der allgemeinen Entwicklung, die das Verhältnis von -»Kirche und Staat seit dem Ubertritt -»Konstantins des Großen zum Christentum genommen hatte. Seine Vorstellungen waren wie die seines Vorbilds Martin immer noch von den Anschauungen durchdrungen, wie sie in der Märtyrerliteratur begegneten, und er erwartete das bevorstehende Ende der Welt. Die Bischöfe dagegen stießen sich nicht nur an seiner Kritik ihrer Lebensweise und ihres Machtstrebens, sondern beargwöhnten auch die asketische Bewegung als mögliches Anzeichen von Priszillianismus (-»Priszillian/Priszillianismus). Darin gründet wahrscheinlich auch das Empfinden von Isolierung und Zurückweisung, das Sulpicius in den Schlußworten seiner Chronik nachdrücklich anklingen läßt. Aus der Zeit nach etwa 405 liegen keine zeitgenössischen Nachrichten mehr über ihn vor; Gennadius zufolge ist er jedoch „in seinem hohen Alter von den Pelagianern getäuscht worden und hat in der Einsicht, durch Geschwätzigkeit schuldig geworden zu sein, bis zu seinem Tod Schweigen gewahrt" (Gennadius, vir. inl. 19; -»Pelagius/Pelagianischer Streit). Das könnte bedeuten, daß er über die Barbareneinfälle von 406/407 hinaus bis in das zweite und vermutlich auch noch das dritte Jahrzehnt des 5. Jh. hinein gelebt hat. 2. Werke Sulpicius' Meisterwerk ist die Vita Martini (vgl. TRE 12,611,21 ff.). Sie ist eine gekonnt durchgestaltete Schrift, die mit einem chronologischen Teil beginnt, mit einer thematisch geordneten Auswahl von Wundergeschichten fortfährt und mit dem Bericht von Sulpicius' Besuch bei Martin und einem Bild von der Persönlichkeit dieses großen und demütigen Mannes endet. Sulpicius ist dabei nicht nur die lebendige erzählerische Gestaltung einer Reihe oft bewegender Geschichten gelungen, er hat auch dem gesamten Werk ein von Anfang bis Ende durchgängiges Spannungsgefälle gegeben. In einer Hinsicht ist seine Martinsvita tatsächlich einzigartig: Sie ist ein Heiligenleben, das noch zu Lebzeiten seines Heiligen (396) geschrieben wurde. Ihre Darstellung Martins wurde daher nachträglich noch durch zwei Briefe abgerundet, die seinen Tod und seine Bestattung (397) beschreiben sowie seine neue Rolle als Schutzheiliger im Himmel bedenken, während ein dritter Brief Martins Wunderkraft gegen Verleumdungen verteidigte, die ein kritischer Skeptiker gegen ihn vorgebracht hatte. Später, etwa 404-406, hat Sulpicius seine ursprünglich in zwei Bücher gegliederten Dialoge verfaßt. Sie setzen mit dem Bericht eines Pilgers über heilige Männer in Ägypten und ihre Wunder ein und fahren mit einer Überfülle weiterer von Martin gewirkter Wunder fort, um dadurch dessen Überlegenheit zu erweisen. Martin wird als einer von wenigen gallischen Bischöfen gezeichnet, der im Umgang mit dem Kaiser christliche Integrität wahrt und sich zugleich von den Untugenden frei hält, die Hieronymus gallischen Asketen vorgeworfen hat. Dadurch werden die Dialoge zu einer feinsinnigen Apologia pro Martino gegenüber weltförmigen Bischöfen auf der einen und sich in der Einöde abkapselnden Asketen auf der anderen Seite. Neben diesen auf Martin von Tours ausgerichteten hagiographischen Schriften hat Sulpicius auch eine Chronik verfaßt (etwa 403—406). Sie gibt in zwei Büchern einen Abriß der gesamten Weltgeschichte von der Schöpfung bis 400 n. Chr. unter der zwei-

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fachen Zielsetzung, „die Unwissenden zu unterrichten und die Gebildeten zu überzeugen". Der meiste Stoff entstammt der Bibel, wird aber verändert und in chronologischer Ordnung und in Gestalt römischer Geschichtsschreibung dargeboten. Auch auf weltliche Geschichtsschreiber greift Sulpicius zurück und erweist sich in der Behandlung chronologischer Fragen als selbständig. Das letzte Fünftel der Chronik ist der Kirche des 4. Jh. gewidmet, insbesondere dem —» Arianismus und -»Priszillianismus im Westen, und dieser Teil ist eine wesentliche Quelle für die Geschichte des Priszillianismus. Sulpicius* Sichtweise ist insofern von Interesse, als er die Eusebsche (-»Eusebius von Caesarea) Auffassung der Beziehung von Kirche und Staat abweist und Kritik an kirchlichen Amtsträgern übt, die, wie im Fall Priszillians geschehen, den Kaiser in innerkirchlichen Angelegenheiten angerufen haben. Nach Gennadius hat Sulpicius an seine Schwester Briefe „über die Liebe zu Gott und die Verachtung der Welt" gerichtet; doch sie sind entweder nicht erhalten oder konnten noch nicht identifiziert werden. Die im Anhang der Ausgabe von C. Halm abgedruckten Texte haben sich mit stilistischen Gründen als unecht erweisen lassen. Dagegen ist es durchaus möglich, daß Sulpicius auf der Grundlage des (nach neuerer Forschungsmeinung wahrscheinlich echten) 19jährigen Zyklus des Anatolius eine 84jährige Ostertafel verfaßt hat (-»Ostern/Osterfest/Osterpredigt; -»Zeitrechnung). Der gelehrte westsächsische Abt und spätere Bischof Aldhelm hat 672 in einem Brief an den König Geraint von Dumnonia (ep. 4: ed. Ehwald 483) Sulpicius den in den britischen und irischen Kirchen (-»Keltische Kirchen) gebräuchlichen 84jährigen Zyklus zugeschrieben. Neuerlich sind einleuchtende Gründe für diese Zuschreibung geltend gemacht worden (vgl. McCarthy). 3.

Wirkung

Z u Lebzeiten blieb Sulpicius zwar in eine Randposition verwiesen, doch die Wirkung seines Werks ist kaum zu überschätzen. Die Vita Martini verbreitete sich rasch über das Netz monastischer Austauschbeziehungen und erreichte selbst Sozomenos im Osten (Sozomenos, h. e. III, 14,38 ff.). Sie gehört zu den für die Folgejahrhunderte einflußreichsten Büchern. Das war eine Folge ihrer außerordentlich gekonnten literarischen Durchgestaltung im Verbund mit einer Sachthematik, in der die Leitbilder der neuen monastischen Bewegung und der Märtyrerüberlieferung (—»Martyrium) zusammenflössen und in das Bild eines Bischofs eingebunden wurden. Das von Sulpicius gezeichnete Bild des heiligmäßigen Mönchbischofs trug zur Ausbildung des wirkungskräftigen Ideals eines Bischofs bei, der bei seiner Amtsausübung im Herzen Asket bleibt. Zugleich stellt sich im Werk des Sulpicius das Heiligenleben nicht mehr nur als Instrument des Werbens für den asketischen Gedanken dar, sondern wird zu einem Medium, das gleichermaßen Bischöfen wie Mönchen Ehrerbietung erweist und die Grundlage eines Kults legt. Sulpicius' Briefe und Dialoge haben zwar nicht die gleiche Bedeutung wie die Vita Martini, doch alle seine Martinsschriften fanden großen Anklang; sie erfuhren weite Verbreitung und bildeten die Vorlage für die Martinsepen von Paulinus von Perigueux (5. Jh.) und -»Venantius Fortunatus. Eine chiliastische Stelle in den Dialogen gab wahrscheinlich den Anlaß für ihre Ächtung durch das pseudogelasianische Dekret De libris reeipiendis et non reeipiendis. Sie und eine unfreundliche Darstellung des Nachfolgers Martins im Bischofsamt wurden in einer weit verbreiteten, bearbeiteten Fassung der Schrift ausgelassen. Die Chronik dagegen war zwar Vigilius von Thapsus (5. Jh.), -»Gregor von Tours sowie frühmittelalterlichen irischen und britischen Schriftstellern bekannt, wurde sonst aber kaum gelesen und ist nur in einer Handschrift überliefert. Zur Zeit der —»Renaissance jedoch, als sie und die Martinsschriften mehrfach im Druck erschienen, fand ihr klassischer Stil Gefallen. Die vielen Wundergeschichten in der Vita Martini veranlaßten den Calvinisten Jean le Clerc (1657-1736), diese Schrift als Schwindel anzufechten (le Clerc 351-361), während der Oratorianer Girolamo da Prato für sie eintrat (Sulpicii Severi op. I, XIII-XVI). In ähnlicher Weise rief im frühen 20. Jh. die häufig

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Sulpicius Severus

überzogene Kritik des Protestanten E . - C h . Babut eine Erwiderung durch den Bollandisten H . Delehaye a u f den Plan. Wenn Sulpicius tatsächlich der Urheber des von den Briten und Iren im frühen M i t telalter befolgten Osterzyklus gewesen ist, hätte er auch in diesem Fall eine beträchtliche W i r k u n g a u f die N a c h w e l t geübt. Quellen 1. Sulpicius Severus: Ed. princeps der Martinsschriften: Bonini Mombritii Mediolanensis ... Sanctuarium seu uitae sanctorum, Mailand [ca. 1475]; NA Paris 1910 = Hildesheim 1978. - Ed. princeps der Chronik: Sulpitii Seueri sacrae historiae a mundi exordio ad sua usque tempora deductae libri II, ed. Flacius Illyricus, Basel 1556. - Sulpicii Severi op. ad MSS. codices emendata, notisque, observationibus et dissertationibus illustrata, ed. Hieronymus de Prato, 2 Bde., Verona 1741 - 1 7 5 4 (abgedr.: PL 2 0 , 9 5 - 2 4 8 ) . - Sulpicius Severus, ed. Carolus Halm, 1866 (CSEL 1) (Nachdr. Hildesheim 1983). - La Chronique de Sulpice Sévère. 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Sumerische Religion

457

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Clare Stancliffe

Sumerische Religion 1. Grundlagen 2. Vorstellungen von den Göttern 3. Beziehungen zwischen Göttern und Menschen 4. Der religiöse Lebensvollzug 5. Sinnentwürfe menschlichen Lebens und Handelns (Quellen/Literatur S. 462)

1.

Grundlagen

1.1. Raum und Zeit. Aspekte Sumerischer Religion, einem wichtigen Teil der mesopotamischen Religion (-»Babylonisch-assyrische Religion), lassen sich aus Zeugnissen sumerischer Sprache erschließen, die aus der Stadtkultur des südlichen Mesopotamien zur Zeit des 3. und beginnenden 2. Jahrtausends v.Chr. (bis etwa 1800) stammen. Der bisherige Forschungsstand erlaubt es dabei nicht immer, klar zwischen genuin sumerischen und akkadischen Anschauungen zu trennen. 1.2. Quellen sind vor allem auf Tontafeln überlieferte Dichtungen wie Mythen, Gebete und Beschwörungen, Weihinschriften, Götterlisten, administrative Dokumente wie Opferlisten, Personennamen und Privatdokumente. In Texten ab dem ersten Drittel des 3. Jahrtausends liegen älteste Schriftquellen für menschliche Religiosität vor. Wichtige archäologische Zeugnisse bieten die Überreste von Tempeln und deren Ausstattung und religiöse Kunst, besonders Rollsiegel und Rundplastik. 1.3. Charakteristika. Das Sumerische kennt kein eigenes Wort für Religion. Doch existieren für das Heilige abgegrenzte Bereiche wie Tempelanlagen, Feste und Riten, ausgewählte Priester(innen). Die Religiosität umfaßt das gesamte Leben: die natürliche Umgebung ist durchdrungen von Göttern, Geistern, Dämonen und Monstern. Götter und Dämonen zufriedenzustellen, üble Kräfte auszutreiben, waren die Anliegen der Religion (Wiggermann 1857). Die Sumerische Religion ist eine Kultreligion. Ähnliches wird assimiliert, so daß die Hauptgottheiten denen der Völkerschaften ringsum ähnlich sind. Das Numinose wird in verschiedenen Phänomenen, in einer Vielzahl von Gottheiten erfahren (s.u.): schon Mitte des 3. Jahrtausends nennen Götterlisten Hunderte von Namen in systematischer Gliederung. Das Wort für „ G o t t " , dingir, ist nicht geschlechtsspezifisch. Es wird mit einem Schriftzeichen in Form eines Sternes geschrieben (welches auch als ,,Himmel[sgott]", an/An, gelesen werden kann). Als Deutzeichen vor einem nachfolgenden Wort bezeichnet es dessen Zugehörigkeit zum göttlichen Bereich (belegt seit Ende des 4. Jahrtausends, vgl. Selz 169). So steht es vor den meisten Götternamen, aber such vor Göttersymbolen oder Kultgegenständen, die als niedrige Gottheiten aufgefaßt wurden (Selz 179). Auch Herrschervergöttlichung ist bezeugt (-»Herrscherkult). Grammatikalisch erlaubt die Unterscheidung zwischen Person und Nichtperson zu erkennen, cb etwas Göttliches personal gedacht wurde (van Dijk 445). Götterkennzeichen in bildlxhen Darstellungen ist die sog. Hörnerkrone. Anfänge theologischer Systembildung lassen sich in den schon Mitte des 3. Jahrtausends bezeugten Götterlisten festmachen, welche Sammlungen von Götternamen in gegliederter Folge enthalten.

458 2. Vorstellungen

Sumerische Religion von den

Göttern

Die Sumerische Religion ist empirischer Erfahrung verpflichtet. Die Götter, als personifizierte Mächte in und hinter den Phänomenen, sind mächtig, aber nicht allmächtig (van Dijk 446). Jeder Kleinstaat hat seinen eigenen Hauptgott, verantwortlich für seine Stadt, der ihr Geschick mitträgt. Konflikte zwischen Kleinstaaten werden benannt als Konflikte zwischen ihren jeweiligen Göttern (Claus Wilcke, Politik im Spiegel der Literatur. Literatur als Mittel der Politik im älteren Babylonien: Kurt Raaflaub [Hg.], Anfänge politischen Denkens in der Antike, München 1993, 29-75). Metaphern für das Numinose werden analog zu menschlichen Herrschaftsstrukturen gewählt (Jacobsen, Treasures 7 8 - 8 1 ) . Der männlichen oder weiblichen Hauptgottheit ist eine Götterfamilie und ein göttlicher Hofstaat zugeordnet. Dem lokalen entspricht ein überregionales hierarchisches Gliederungsprinzip: die Götterversammlung in der Stadt Nippur, deren Entscheide über dem Willen der einzelnen Stadtgottheit stehen, tagt unter dem Vorsitz der Götter An und Enlil. Die Götter dieses Pantheons sind die Garanten der kosmischen Ordnung, die bedroht werden kann durch gesetzlose Barbaren und göttliche Mischwesen (modern „ - » D ä m o n e n " ) ; ihr Reich sind Steppe und Bergland (Glassner 1821; Wiggermann 1857). Bestandteile der Götternamen beinhalten kosmische Größen wie Gestirne und Elemente der natürlichen Umwelt wie Gewässer und Tiere. Bei etlichen Göttern wird ein Rückbezug auf Naturphänomene deutlich (periodische Rituale und Feste zeigen auch in historischer Zeit den Bezug zum Jahreslauf; vgl. Wiggermann 1862). Anhand der Götternamen läßt sich in einigen Fällen eine fortschreitende Anthropomorphisierung beobachten (Bauer 498f.; vgl. auch Wiggermann 1862), indem das mit Deutzeichen „Gottheit" geschriebene Phänomen durch Voranstellung des Titels „Herr(in)" anthropomorphisiert wird. Zuletzt kann das ursprüngliche Phänomen genitivisch untergeordnet werden: „Herr(in) über ...". Die Ikonographie historischer Zeit zeigt Götter überwiegend menschengestaltig, und man schreibt ihnen menschliche Gewohnheiten zu: sie essen, schlafen, kleiden sich, heiraten. In Personennamen aus dem 26. Jh. werden Götter als „Vater", „ M u t t e r " , „Bruder" bezeichnet, Prädikate wie „(ist) Hirte", „(ist) Richter" werden ihnen beigegeben (Selz 185f. Anm. 8). Das Verhältnis der historischen, menschengestaltigen Gottheit zu ihren Wurzeln kann feindlich beschrieben werden (z. B. kämpft ein Gott dann gegen den Gewittervogel, der wohl ursprünglich sein Gegner oder Teil seiner selbst war; so Jacobsen, Image 3 f. 17), ein älterer Wesenszug der Gottheit kann aber auch zum Emblem oder Symbol werden. Unterschiedliche Manifestationen einer Gottheit existieren nebeneinander (Beispiel Sonnengott: Gestirn Sonne, menschengestaltige Statue, tragbare Sonnenscheibe). Hochgötter werden als überdimensional beschrieben, hoch wie der Himmel, weit wie die Erde (z. B. der Gott Ningirsu im Traum Gudeas; vgl. Edzard, Gudea 72). Von Göttlichem geht furchtauslösender „gleißender Glanz", me-lirm, aus (van Dijk 444; Elena Cassin, La Splendeur divine, 1968 [CeS 8]). Machtmittel der Götter sind die ME, göttliche Kräfte, die den Kosmos durchwalten und ordnen, Abstrakta oder auch konkrete Kulturgüter, auf welche auch die Menschen zurückgreifen können, wie Bestandteile des Kultes oder Handwerkskünste (Gertrud Farber, Art. ME: RLA 7 [1987-1190] 610-613). Beispiel für einen Hochgott: N a n n a ist der Gott der bedeutenden südmesopotamischen Stadt Ur, der im dortigen Tempel mit Familien- und Hofstaatgöttern residiert (vgl. Manfred Krebernik, Art. Mondgott. A.I. In Mesopotamien: RLA 8 [1993-1997] 3 6 0 - 3 6 9 ; Dominique Collon, Art. Mondgott. B. In der Bildkunst: ebd. 371-376). Seine Naturerscheinung ist der Mond; auch zwei seiner Kinder, Hauptgötter in anderen Städten, haben astrale Erscheinungsformen: der Sonnengott Utu und die Venusgöttin Inana. Nanna selbst ist genealogisch mit dem Hauptgott Sumers verbunden, er gilt als Sohn des Enlil in Nippur. Die Filiation kann als Unterordnung gedeutet werden. Die Mondsichel wird interpretiert als Gehörn eines Stieres oder als Boot; Stier und Boot sind Symbole für den Mondgott. Mit dem sumerischen Nanna wird Suen, der akkadische Mondgott, identifiziert.

Sumerische Religion

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Die Familienbande zwischen den Hauptgöttern verschiedener Städte lassen verschiedene Götterkreise erkennen. So sind die Hauptgötter einiger südlicher Städte, die nahe am Persischen Golf liegen, Gottheiten aus dem Bereich des Wassers und werden als Kinder des Enki bezeichnet, des Gottes des unterirdischen Süßwassers, z. B. Nanse, Göttin über Fische, Vögel und die See (Wolfgang Heimpel, Art. Nanse. A. Philologisch: RLA 9 / 1 - 2 [1998] 153f.). Einem anderen Götterkreis gehören die astralen Gottheiten um Nanna an mitsamt ihren Städten. Im östlichen Bergland finden sich vor allem schlangengestaltige, chthonische Unterweltsgottheiten (Wiggermann: Sumerian Gods and Their Representations 3 3 - 5 5 ) . Diese Götter konnten in ein allgemeines System gebracht werden, indem man sie genealogisch mit dem von allen akzeptierten Gott Enlil in Nippur verband (Jacobsen, Image 21—34). 3. Beziehungen

zwischen

Göttern

und

Menschen

Von der Schöpfung der Welt (-»Schöpfer/Schöpfung II.2.2.1.) gibt es keine einheitliche Vorstellung (vgl. Pettinato). Aussagen über die Schöpfung finden sich außer in mythischen Texten im Kontext bestimmter Rituale und Beschwörungen oder von Streitgesprächen (wie zwischen Holz und Schilfrohr; T U A T III/3, 357ff.). Auch Götterlisten greifen Vorstellungen über die Weltentstehung auf, wenn sie eine Abfolge von uranfänglichen zu historischen Göttern bieten. Gemeinsam ist diesen Texten, die ab dem 26. Jh. bezeugt sind, daß die Welt aus göttlicher Materie entsteht. Vor der bekannten Welt herrscht ein „All" aus Himmel und Erde, die noch nicht getrennt sind, vielleicht auch ein großes Urwasser (Namma, vgl. den Mythos Enki und Ninmah: T U A T III/3, 3 8 6 - 4 0 1 ) . Die Welt entwickelt sich insbesondere durch die Trennung von Himmel und Erde, die häufig durch den Gott Enlil ausgeführt wird, und durch Zeugungsakte (verschiedene Götter). Menschen entstehen aus dem Boden wachsend wie Pflanzen (Preis auf die Hacke; vgl. Pettinato 8 2 - 8 5 ) oder werden von Göttern erschaffen, z.B. von Muttergöttinnen aus Ton geformt (Enki und Ninmah). Die Götter entscheiden („lassen schneiden") einzelnen Menschen und menschlichen Gruppen (Städten, Völkern) das „-»Schicksal", nam. Unterschiedliche Götter sind verantwortlich für das Land, für einen Kleinstaat, für den Herrscher, für einzelne Menschen. Für den Menschen ist es mithin wichtig, zu den Göttern eine gute Beziehung zu haben. Alle Menschen haben die Aufgabe, den Göttern zu dienen (Enki und Ninmah), was sie mit den Göttern verbindet und ihnen eine Stellung und gewisse Sicherheiten gibt (Jacobsen, Image 13; Bottero, Religion [1991] 244). Hinsichtlich dreier sozialer Gruppen - König, Priester und einzelner Mensch ohne offizielle Funktion — läßt sich der Charakter der Gottesbeziehung etwas differenzieren: Dem König kommt eine besondere Stellung als Vermittler zwischen Göttern und Menschen zu durch seine enge Verbindung zu den Göttern, als deren Kind oder auch Gemahl er gedacht wird. Wenn nach Kultliedern z. B. die Göttin Inana dem König als ihrem Gemahl langes Leben und Wohlstand verspricht, wird dadurch das ganze Land gesegnet. In einem Text aus dem 25. Jh. wird zum ersten Mal die Zeugung und Geburt des Königs durch Götter beschrieben (Geierstele des Eanatum: Steible 121-124; Claus Wilcke, Familiengründung im Alten Babylonien: Emst Wilhelm Müller [Hg.], Geschlechtsreife und Legitimation zur Zeugung, Freiburg i.Br./München 1985, 2 9 9 - 3 0 2 ; Bauer 461). Die „Gotteskindschaft" kann zum Zeitpunkt der Krönung von verschiedenen Göttern verliehen werden (für Sulgi vgl. Bauer 463). Kultische Vorgänge wie die Aufstellung von Herrscherstatuen im Tempel, ihre Vergöttlichung und der Totenkult für verstorbene Könige haben teil an der aufkommenden Vergöttlichung des Herrschers (Selz 181 f.), die sich ab Naräm-Sin von Akkade (23. Jh.) schon zu Lebzeiten auf den Herrscher erstrecken kann. Hohe Priester(innen) werden durch besondere Methoden wie die Eingeweideschau nach dem Willen der Götter ermittelt. Im Kult (s.u.) tragen sie zur Aufrechterhaltung des Kosmos und zur Zufriedenstellung der Götter bei und dienen damit auch Anliegen der Menschen.

460

Sumerische Religion

Personennamen und Privatdokumente zeigen, daß die Grundzüge der Religion der „Hochtexte" auch von den einzelnen Menschen geteilt wurden. Jeder Mensch, vom einfachen Hirten bis zum „Hirten des Landes", dem König, hat seinen persönlichen Schutzgott (die Anrede „mein Gott" meint den persönlichen Schutzgott; vgl. Jacobsen, Image 395). Diese Schutzgötter sind meist untergeordnete Gottheiten, deren Macht begrenzt ist, Fürsprecher. Auf vielen Siegeldarstellungen mit der sog. „Einführungsszene" ist dargestellt, wie der Schutzgott den Menschen vor eine höherrangige Gottheit geleitet. Verschiedene Wörter bezeichnen sumerisch „Gebet" und „beten", doch sind private sumerische Gebete als eigene Gattung für das 3. und beginnende 2. Jahrtausend nicht erhalten (Adam Falkenstein, Art. Gebet I.: RLA 3 [1957-1971] 156-160), außer in Form der sog. Gottesbriefe, Gebeten in Briefform, die zu Füßen von Gottesstatuen niedergelegt wurden (Rykle Borger, Art. Gottesbrief: RLA 3 [1957-1971] 575f.; William Hallo, Origins. The Ancient Near Eastern Background of Some Modern Western Institutions, Leiden u.a. 1996 [Studies in the History and Culture of the Ancient Near East 6] 232-235). Auch in Gebeten innerhalb von Inschriften oder Epen zeigt sich ein Reflex gelebter Praxis. Solche Hinwendung zur Gottheit zeigen auch Personennamen wie „Die Herrin liebt das Flehen" oder „Ich habe die Füße meines Gottes ergriffen" (Edzard, Mesopotamien 200). Jeder Mensch konnte durch divinatorische Praktiken wie Eingeweideschau, aber auch Sterne, Träume, Aussehen und Verhalten von Mensch oder Tier die „Schrift der Götter" zu lesen suchen und dadurch Anleitung und Rat in schwierigen Lebenslagen erhalten. Waren kritische Unternehmungen (wie z. B. eine Seereise) gut überstanden, brachte man seinen Dank gegenüber den Göttern durch Votivgaben zum Ausdruck. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch kann gestört werden: -»Sünde gilt als Verletzung der globalen Ordnung, in erster Linie durch Verstoß gegen sakrale Einrichtungen und Pflichten. Unter anderem durch Beschwörungen versucht man, das Böse aufzulösen und die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. Von der Erleichterung darüber sprechen Personennamen wie „Die Herrin löst die Übertretung/Sünde", „Meine Herrin hat mich auf den rechten Weg gebracht", „Ich bin in seine/ihre Hand zurückgekehrt" (Edzard, Mesopotamien 200f.). 4. Der religiöse Lebensvollzug Neben den kosmischen und mythischen Dimensionen der Gotteserfahrung spielte sich der religiöse Lebensvollzug der Sumerer besonders innerhalb der Kulte ab: an „heiligen Orten" (Tempel etc.), zu „heiligen Zeiten" (Feste etc.), durch „heilige Handlungen". 4.1. Ort. Großangelegte Sakralarchitektur ist schon vor 3000 bezeugt (vgl. Ernst Heinrich, Tempel und Heiligtümer im alten Mesopotamien. Typologie, Morphologie und Geschichte, Berlin 1982). Die -»Tempel sind Residenzen der Götter, Schnittpunkte zwischen Himmel und Erde. Daher sind ihre Namen oft kosmisch, und die Form der Hochtempel, der Ziqqurat, gleicht einem Himmel und Erde verbindenden Berg (z. B. Ekur „Haus Berg"; vgl. van Dijk 459; Andrew R. George, House Most High. The Temples of Ancient Mesopotamia, Winona Lake, Ind. 1993). Aufbau und Instandhaltung war Aufgabe der Herrscher (Gudea-Zylinder; vgl. Edzard, Gudea). Die Zerstörung des Tempels ist für die gesamte Stadt die schrecklichste Katastrophe, denn sie bedeutet, daß die Götter den Ort verlassen haben (Städteklagen, z.B. TUAT II/5, 700-707). 4.2. Zeit. Die Begegnung mit den Göttern geschah vor allem durch Riten und an Festen (vgl. Sallaberger), z.B. bei verschiedenen landwirtschaftlichen Festen des Jahreskreises wie Felderriten (ebd. 264-270) oder Ernteriten (vgl. Edzard, Mesopotamien 196). Periodische wie unregelmäßige Feste waren besondere Momente im Leben der Menschen: administrative Urkunden zeigen, daß hier mitunter Verpflegung für größere Menschenmengen vorhanden war (Sallaberger 143f.175-178.251f.314). Zu bestimmten

Sumerische Religion

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Festen verließ die Gottesstatue den Tempel und wurde der Bevölkerung gezeigt, z. B. bei Reisen zu ranghöheren Göttern in anderen Städten, um die Zusage eines segensreichen Schicksals für die eigene Stadt zu erhalten (Beispiele: TUAT II/2, 175—191). Frühe Siegel legen nahe, daß dies ursprünglich mit Göttersymbolen durchgeführt wurde (van Dijk 465). Besonders durch literarische Texte bezeugt ist eine rituelle Hochzeitsfeier zwischen Stadtgöttin und Stadtfürst, deren Funktion die Segnung von König und Kleinstaat war. Details, z. B. ob die Hauptakteure in Form von Statuen repräsentiert waren, sind noch nicht geklärt (Johannes Renger, Art. Heilige Hochzeit. A. Philologisch: RLA 4 [1972-1975] 251-259; Jerrold Cooper, Sacred Marriage and Populär Cult in Early Mesopotamia: Official Cult and Populär Religion in the Ancient Near East 81-96). Besondere Zeiten der Gottesbegegnung waren für den einzelnen Geburt und Tod. Geburten waren Zeiten großer Bedrohung durch Dämonen, Zeiten, in denen man besonders auf kultische Reinheit achtete und sich dem Schutz der Muttergöttinnen empfahl. Tote zu begraben war schon seit frühester Zeit üblich, entweder in Friedhöfen oder unter den Häusern, und schon für die frühe Zeit sind Begräbnisriten und Totenkult nachzuweisen (Eva Strommenger, Art. Grab. I. Irak und Iran: RLA 3 [1957-1971] 581593; Selz 170), zum Teil mit reichen Beigaben (Königsfriedhof von Ur, 25. Jh.), sonst eher einfach. Nie gab es monumentale Grabbauten wie in Ägypten. Texte wie Gilgames, Enkidu und die Unterwelt zeigen Interesse am Schicksal der Toten. Den meisten geht es in der Unterwelt, dem „Land ohne Wiederkehr", schlecht, doch bilden z. B. Menschen mit vielen Kindern Ausnahmen. So prägte der Totenkult, der jeweils den Nachfahren oblag, die Hoffnung auf ein doch nicht nur staubiges und finsteres Jenseits. 4.3. Handlung. Die Aufgabe der Menschen, die Pflege und Verehrung der Götter, wurde durch den Tempelkult erfüllt, wo für das Leben der Götter in ihrer Statue in täglichen und monatlichen Rhythmen Sorge getragen wurde (Wiggermann 1862). Verschiedene Lexeme geben Einblick in die Vielzahl der Riten, viele kultische Texte wie Hymnen, Klagelieder, Liebeslieder, in den Texten genannte und ausgegrabene Musikinstrumente lassen die Vielfalt der religiösen Kultpraxis erahnen. Voraussetzung für kultische Tätigkeiten war die kultische Reinheit, der z. B. die häufig vollzogenen „Handwasch(riten)", su-luh, dienten. Diese Aufgaben oblagen vor allem verschiedenen Priestern. Das höchste Priesteramt war das Amt des oder der en, „Herr(in)", welche man durch Eingeweideschau nach dem Willen der Götter zu bestimmen suchte. Die Wurzeln solcher Divinationstechniken waren, wenn man von den ausführlicheren akkadischen Quellen extrapolieren darf, Forschungen über wiederkehrende Ereignis-Muster, indem man beobachtete Zusammenhänge zwischen Geschehen im gesellschaftlich-politischen Bereich und im Bereich der Naturvorgänge aus der Vergangenheit tradierte, für die Zukunft verallgemeinerte sowie systematisierte (Glassner 1817; vgl. als Beispiel Gudea, Zylinder A 12:16f.: Edzard, Gudea 76); Grundlage ist die Vorstellung von der Partizipation von etymologisch Verwandtem oder für verwandt Gehaltenem. Auf demselben Prinzip kosmischer Sympathie beruhte die sowohl von Staats wegen wie vom einzelnen praktizierte Beschwörungskunst, die solchermaßen diagnostiziertes Übel, oft in Kombination mit Gebeten und rituellen Handlungen, abzuwenden suchte (vgl. Giorgio Buccellati, Ethics and Piety in the Ancient Near East: Civilizations of the Ancient Near East III, 1693). Oft wurde der göttliche Wille als fremd und unverständlich empfunden (Beispiel Städteklagen). 5. Sinnentwürfe

menschlichen Lebens und Handelns

Der Mensch ist Diener der Götter. Er ist geschaffen, um den Göttern die Arbeit abzunehmen und sie zu versorgen (Enki und Ninmah; van Dijk 489; Pettinato 21 f.). Die im südlichen Mesopotamien lebensnotwendige Arbeit von Kanalbau und -instandhaltung wurde auf diese Weise religiös untermauert und zugleich mit höherem Sinn versehen. Der Kult gab dem Leben nicht nur Pflichten, sondern auch Würde und Größe,

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Sumerische R e l i g i o n

i n s o f e r n m a n z u r E r h a l t u n g d e r k o s m i s c h e n O r d n u n g b e i t r u g ( B o t t é r o , R e l i g i o n [1991] 244): m a n w a r s t o l z d a r a u f , i m U n t e r s c h i e d zu d e n „ B a r b a r e n " T e m p e l u n d R i t u a l e z u k e n n e n (z. B. M a r t u ' s H o c h z e i t ; vgl. J a c o b K l e i n , T h e G o d M a r t u in S u m e r i a n L i t e r a t u r e : S u m e r i a n G o d s a n d T h e i r R e p r e s e n t a t i o n s 115f.). B e s o n d e r s d e n eigenen S c h u t z g o t t s o l l t e d e r e i n z e l n e r ü h m e n u n d e h r e n ( E d z a r d , M e s o p o t a m i e n 207) u n d e r h o f f t e sich d a m i t , m e h r G u t e s als S c h l e c h t e s z u e r l e b e n . S o w o h l u n e r w a r t e t G u t e s w i e S c h l e c h t e s w u r d e göttlichen M ä c h t e n zugeschrieben. Gegen Schlechtes ging m a n mit B e s c h w ö r u n gen u n d Klageliedern vor, die den Z o r n der G ö t t e r beruhigen sollten. W i e auch h e u t e w ü n s c h t e n sich d i e M e n s c h e n d a m a l s ein l a n g e s L e b e n in W o h l s t a n d u n d F r i e d e n ( H e r m a n Vanstiphout, W h y did Enki organize the World?: Sumerian G o d s and Their Rep r e s e n t a t i o n s 13 I f . ) . D i e Ethik: D i e W e i s h e i t s l i t e r a t u r zeigt viele p r a k t i s c h e L e b e n s r e g e l n f ü r j e d e r m a n n , z . B . g e r e c h t z u sein, d i e E l t e r n z u e h r e n , n i c h t h o c h m ü t i g zu sein, a n d e r e n n i c h t z u s c h a d e n , n i c h t zu l ü g e n , n i c h t b e g e h r l i c h zu sein, n i c h t d i e E h e z u b r e c h e n , n i c h t z u f l u c h e n , n i c h t zu s t r e i t e n , Z o r n z u r ü c k z u h a l t e n (vgl. T U A T III/1 ; B e n d t Alster, P r o v e r b s of A n c i e n t S u m e r , 2 B d e . , B e t h e s d a , M d . 1997). D e r K ö n i g h a t a u ß e r d e m die A u f g a b e , sozial S c h w a c h e n w i e W i t w e n , W a i s e n u n d A r m e n zu i h r e m R e c h t zu v e r h e l f e n (vgl. URU-KA-gina Inschrift: S t e i b l e 2 8 9 - 3 1 3 ; Kodex U r n a m m a : T U A T 1/1,17-23). W ä c h t e r d e r s o z i a l e n G e r e c h t i g k e i t ist d e r S o n n e n g o t t U t u (seit 26. J h . in r i c h t e n d e r F u n k t i o n b e z e u g t ; vgl. K r e b e r n i k , T e x t e 3 2 2 ) . Quellen Jean Bottéro/Samue! Noah Kramer, Lorsque les dieux faisaient l'homme, Paris 1993. - Dietz O t t o Edzard, Gudea and His Dynasty, Toronto 1997 (The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods 3/1). - Ders./Claus Wilcke, Art. Sumerische Lit.: Walter Jens (Hg.), Kindlers neues Literatur-Lexikon, München, 19 (1992) 5 7 4 - 6 0 6 . - The Harps T h a t Once ... Sumerian Poetry in Transi., ed. and transi, by Thorkild Jacobsen, New Haven, Conn. 1987. - Horst Steible, Die Altsumerischen Bau- u. Weihinschriften, 1982 (FAOS 5 / 1 - 2 ) . - Sumerische u. Akkadische Hymnen u. Gebete, eingel. u. iibertr. v. Adam Falkenstein/Wolfram v. Soden, 1953 (BAW.AO). - TUAT, hg. v. O t t o Kaiser, 3 Bde., 1982-1997. Literatur Der Alte Orient, hg. v. Barthel Hrouda, München 1991 = 1998. - Pascal Attinger/Markus Wäfler, Mesopotamien. Späturuk- u. Frühdynastische Zeit. Annäherungen 1, 1998 (OBO 160/1). - Josef Bauer, Der vorsargonische Abschnitt der mesopotamischen Gesch.: ebd. 431 - 5 8 5 . - Jeremy Black/Anthony Green, Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia. An Illustrated Dictionary, London 1992 = 1998. - Jean Bottéro, Religion: Der Alte Orient (s.o.) 217-245. - Ders., La plus vieille religion. En Mésopotamie, Paris 1998. - Civilizations of the Ancient Near East, 4 Bde., hg. v. Jack M . Sasson, New York u.a., Ill 1995. - Johannes van Dijk, Art. Sumerische Religion: H R G 1 (1971) 4 3 1 - 4 9 6 . - Dietz O t t o Edzard, Mesopotamien. Die Mythologie der Sumerer u. Akkader: W M 1 (1965) 1 9 - 1 3 9 . - D e r s . , Private Frömmigkeit in Sumer: Official Cult and Popular Religion in the Ancient Near East (s.u.) 195-208. - Jean-Jacques Glassner, Progress, Science, and the Use of Knowledge in Ancient Mesopotamia: Civilizations of the Ancient Near East III (s.o.) 1815—1823. - Thorkild Jacobsen, Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesopotamian History and Culture, hg. v. William L. M o r a n , Cambridge, Mass. 1970. - Ders., T h e Treasures of Darkness. A History of Mesopotamian Religion, New Haven, Conn. 1976. - M a n f r e d Krebernik, Die Texte aus Fâra u. Tell Abu Çalâbîb: Attinger/Wäfler (s.o.) 2 3 7 - 427. - Official Cult and Popular Religion in the Ancient Near East, hg. v. Eiko Matsushima, Heidelberg 1993. - Giovanni Pettinato, Das altorient. Menschenbild u. die sumerischen u. akkadischen Schöpfungsmythen, 1971 (AHAW.PH 1971/1). - Waither Sallaberger, Der Kultische Kalender der Ur-III-Zeit, 2 Bde., 1993 (UAVA 7 / 1 - 2 ) . - Gebhard Selz, T h e Holy Drum, the Spear, and the Harp. Towards an Understanding of the Problems of Deification in the Third Millennium Mesopotamia: Sumerian Gods and Their Representations (s.u.) 167-213. - Sumerian Gods and Their Representations, hg. v. Irving Finkel/Markham Geller, Groningen 1997. - Frans Wiggermann, Theologies, Priests, and Worship in Ancient Mesopotamia: Civilizations of the Ancient Near East III (s.o.) 1857-1870. Annette Zgoll

Superintendent

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Summepiskopat -•Kirchenregiment, Landesherrliches; -• Kirchenverfassungen Superintendent 1. Entstehung

1.

2. Entwicklung

3 . Gegenwärtige

Beschaffenheit

(Quellen/Literatur

S. 4 6 7 )

Entstehung

Indem -»Luther jedem getauften Christen denselben geistlichen Stand zuerkannte und der Gemeinde das Recht einräumte, Lehre zu beurteilen sowie Pfarrer ein- und abzusetzen, wurde die mittelalterliche Hierarchie - die sich ohnehin der Reformation versagte — entbehrlich. Nichtsdestoweniger gab es eine Reihe von Aufgaben der Kirche, die kirchliche -»Ämter über den Ortsgemeinden erforderlich machten. Für deren Installation benötigte der Aufbau evangelischer Kirchen Unterstützung von Seiten des weltlichen Regiments. Dieses bediente sich der -»Visitation und errichtete dabei mit den Superintendenten eine fortwährende Aufsicht, die sich fortschreitend zu einem flächendeckenden, durchgegliederten Kirchenregiment ausdehnte, das in die Entwicklung der Verwaltung eingebunden war. Am Beispiel Sachsen, von wo das Einsetzen von Superintendenten ausging, läßt sich der Vorgang für die lutherischen Kirchen exemplarisch darstellen. -»Johann von Sachsen beauftragte mit der Instruktion vom 16. Juni 1527 die Visitatoren, Pfarrer der vornehmsten Städte zu „Superintendenten und aufseher" einzusetzen (EKO 1,146). Die Bezeichnung „Superintendent" und ihr Gleichsetzen mit „Aufseher" stand in der seit —• Augustin erfaßbaren Tradition, der unter Berufung auf I Tim 3,2 ¿KiaKoneiv mit superintendere übersetzt und als „Aufsicht ausüben" im Sinne von „Sorgen für Anvertraute" erläutert hatte (civ. XIX,19: CChr.SL 48,686,25-28). Dadurch, daß -»Gratian von Bologna diese Textstelle in das Decretum Gratiani aufnahm (C 8, q. 1, c 11: CIC[L] I,593f.), gelangte der Begriff „Superintendent" ins Kanonische Recht. Die Instruktion von 1527 wies die Superintendenten an, Pfarrer und Prediger in bezug auf Lebenswandel, Predigen, Liturgie und Sakramentsverwaltung zu überwachen und gegebenenfalls zu verhören. Was durch brüderliches Vermahnen nicht geordnet werden könnte, sollte dem Kurfürsten gemeldet werden. Den Pfarrern wurde untersagt, weiterhin in Ehesachen zu entscheiden, die sie in Zukunft dem zuständigen Superintendenten übergeben sollten, damit dieser sie untersuche und an den Amtmann weiterleite. Dieser hatte unter Einbeziehen des Superintendenten eine Kommission zu berufen (EKO 1,146). Der Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum Sachsen vom März 1528 führte die Aufgaben des Superintendenten von 1527 näher aus. Dabei forderte er die Kontrolle, daß Gottes Wort und nicht Aufruhr gegen die Obrigkeit gepredigt werde. Für das Weiterleiten an den Kurfürsten wurde nun der Amtmann als Zwischeninstanz eingeschaltet. Außerdem hatte der Superintendent bei Neueinstellung eines Pfarrers dessen Befähigung zur Amtsführung festzustellen (EKO 1,171). 1529 wurde der Superintendent von Baruth angewiesen, mit den ihm unterstellten Pfarrern wöchentlich ein „christlich exercicium" zu halten (EKO 1,662). Damit kam die theologische Weiterbildung der Pfarrer als weitere Aufgabe eines Superintendenten in den Blick. 1555 wurden die Superintendenten zu — bisweilen unangemeldeten — Visitationen der ihnen unterstellten Pfarrer auf kurfürstliche Kosten und zum jährlichen Abhalten einer Pfarrsynode verpflichtet, um den Zustand der Gemeinden zu erkunden sowie die Pfarrer „zu einem zuchtigen wandel, zu treuem dienst" und fleißigem Studium und Bibellesen zu ermahnen. Außerdem wurde den Superintendenten die Vakanzverwaltung (EKO 1,311-313), 1557 die Amtseinweisung eines Pfarrers übertragen (EKO 1,321). Die kursächsische Kirchen- und Schulordnung von 1580 verpflichtete die Superintendenten und ihre Adjunkten detailliert zu jährlich zwei intensiven Visitationen aller Pfarrer, Kirchen- und Schuldiener. Sie sollten deren Beschäftigung mit der Bibel und auch den lutherischen Bekenntnisschriften sowie zur Bildung von loci theologici anleiten

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Superintendent

und kontrollieren sowie den Zustand der Gemeinden anhand von weit über 100 Fragen ermitteln. Das Ergebnis der Visitationen sollte schriftlich festgehalten und vom -»Konsistorium aufbewahrt werden (EKO 1,389-399). Dieser Visitationsauftrag erwies sich als undurchführbar, zeigte aber, wie der Superintendent als Beamter des landesherrlichen -•Kirchenregimentes einer totalen Kontrolle des kirchlichen Lebens dienen sollte. Zunehmende Aufgaben führten zum Ausbau der Verwaltung. 1533 entstand in Wittenberg die Generalsuperintendentur für den gesamten Kurkreis, ihm zugeordnet die für die Gemeinden links der Elbe zuständige Obersuperintendentur Kemberg (EKO 1,107). 1555 wurden alle Superintendenten des Kurkreises dem Wittenberger Generalsuperintendenten unterstellt. Dieser hatte jährlich alle Superintendenten und Sradrpfarrer zu einer Synode einzuladen, um sich über den Zustand der Gemeinden im Kurkreis unterrichten zu lassen (EKO 1,312). 1577 wurden den einzelnen Superintendenten Adjunkten beigegeben, die jeweils über eine Gruppe von Pfarrern die Aufsicht wahrnehmen sollten (EKO 1,347). 1580 war die Durchgliederung in Generalsuperintendenten, Spezialsuperintendenten und Adjunkten in Kursachsen abgeschlossen. Der Generalsuperintendent hatte die Superintendenten und Adjunkten zum Visitieren anzuhalten und deren Berichterstattung zu verwalten (EKO I,389.399f.). Mit der 1539 in Wittenberg beginnenden Errichtung von Konsistorien entstand eine weitere Verwaltungsebene - in Hessen erst 1610 ( T R E 19,150,46-48) - , welche die Selbständigkeit der Superintendenten einschränkte und sie zum untersten Organ der konsistorialen Verwaltung nach dem Generalsuperintendenten werden ließ. Viele deutsche Territorien folgten dem kursächsischen Vorbild und führten mit einer Kirchenordnung Superintendenten ein (wobei die Berufung der ersten Superintendenten entweder während einer Visitation vor der Kirchenordnung, mit der Kirchenordnung oder aufgrund der Kirchenordnung allmählich erfolgte): so 1528 Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach mit Nürnberg (EKO XI,139), 1529 Grafschaft Ostfriesland mit Adjutor (EKO VII/l,361f.), 1531 Landgrafschaft Hessen (EKO VIII,71.92-95), 1535 Herzogtum Pommern (EKO IV,308f.331), 1536 Grafschaft Nassau (Die ev. KO des sechszehnten Jh. 1,279), 1537 Herzogtum Mecklenburg (EKO V,129), 1538 Grafschaft Lippe (Die ev. KO des sechszehnten Jh. 11,499f.), 1539 Herzogtum Preußen mit dem Titel „Archipresbyter" oder „decanes synodes" (EKO IV,44), 1539 Herzogtum Sachsen (Thomas 40), 1540 Mark Brandenburg (EKO 111,38), 1542 Herzogtum Schlesien (EKO III,440.443), 1543 Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel (EKO VI/1,45-47), 1545 Fürstentum Anhalt (EKO 11,551) und Herzogtum Pfalz-Neuburg (EKO XIII,27.103-107), 1579 Grafschaft Hohenlohe (EKO XV,9.362f.) und 1585 Herzogtum Lauenburg (EKO V,415-407). In Württemberg hießen die zwei kirchenleitenden Geistlichen seit 1536 Superintendenten, bis 1551 Spezialsuperintendenten eingeführt und vier Generalsuperintendenten unterstellt wurden (Brecht/Ehmer 2 6 0 . 3 1 7 - 3 2 0 ; Die ev. KO des sechszehnten Jh. 11,206211). In den reformierten Kirchen fehlte infolge der Ämterordnung von J . -»Calvin ein dem Superintendenten entsprechendes Aufsichtsamt. Die Kurpfalz (-»Pfalz 1.2.) übernahm aber 1563 trotzdem das Amt der vorhandenen Superintendenten in die Kirchenordnung (EKO XIV,94.333.335.411f.). Allerdings wurden seit 1571 Laien in die Ephoralsynode aufgenommen, deren Vorsitzender gewählt wurde (EKO XIV,453f.). Ende des 16. Jh. erhielt hier der Superintendent den Titel „Inspektor". Von den Städten setzte Stralsund als erste 1525 einen „oversten prediker" ein (EKO IV,546). Danach folgten die Städte der kursächsischen Ordnung, indem sie einen Superintendenten mit der Kirchen- und Schulaufsicht beauftragten, dem sie oft noch einen „Adjutor" zur Seite stellten, so 1528 Braunschweig (EKO VI/l,373f.), 1529 Hamburg (EKO V,501), dem norddeutsche Hansestädte folgten, 1535 auch Stralsund (EKO IV,548f.). Unter süddeutschen Städten führte Augsburg 1537 (EKO XII,55 f.) und unter westdeutschen Osnabrück 1543 (EKO VII/l,249f.) den Superintendenten ein. In den

Superintendent

465

übrigen Reichsstädten entstand ein kollegial geistliches Ministerium mit oft wechselndem Vorsitz. Nachdem Stiftsgebiete evangelisch geworden waren, erhielten sie zum Teil einen Superintendenten, so das Stift Schwerin 1567 (EKO V,319f.). 1537 ordinierte J . —»Bugenhagen sechs Superintendenten für Dänemark und einen für Norwegen. 1539 wurde Georg Norman (gest. 1552) als Superintendent für ganz Schweden eingesetzt. Die skandinavischen Länder kehrten aber noch im 16. Jh. zum Bischofstitel zurück. In Siebenbürgen dagegen behielten die evangelischen Bischöfe die Bezeichnung „Superintendent". In Polen begann die Synode von Xions 1560, Superintendenten einzusetzen (EKO IV,271). In —»Schottland führte The First Book of Discipline 1561 in Spannung zu der nach Genfer Vorbild entstandenen Gemeindeverfassung eine Aufsicht der Stadtgemeinde als der am besten reformierten Gemeinde des Gebietes über Nachbargemeinden und damit den Superintendenten ein, um die Bildung protestantischer Gemeinden zu fördern. Der Superintendent sollte auf Visitationsreisen Leben und Fleiß der Pfarrer, die Kirchenordnung, die Lebensführung der Gemeindeglieder, die Armenfürsorge und die Jugenderziehung überprüfen. Er war vorrangig für die Evangelisation seines Gebietes verantwortlich. Noch 1561 werden fünf Superintendenten eingesetzt. Nach The Second Book of Discipline von 1578 lief das Superintendentenamt 1580 aus. 2.

Entwicklung

Nach dem Reformationsjahrhundert führten noch weitere Territorien das Amt des Superintendenten ein. Infolge des Territorialismus (-»Kirchenverfassungen 7.2.) wurde der Superintendent verstärkt zum weisungsgebundenen Kirchenbeamten unter Konsistorien, die selbst zunehmend in die allgemeine Landesverwaltung eingebunden, teilweise im Anfang des 19. Jh. in die Ministerialbürokratie (Innenministerium oder Kultusministerium) eingegliedert wurden. Seit dem 17. Jh. entstanden Kircheninspektionen unter dem Vorsitz des Superintendenten, der als Distriktinspektor auch die Schulaufsicht wahrnahm. Später wurden auf der Ebene der Ämter konsistoriale Unterbehörden gebildet, denen der Superintendent zwar angehörte, deren Vorsitz aber ein weltliches Mitglied innehatte. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 unterstellte in den §§ 1 5 0 - 1 5 5 Superintendenten, Inspektoren und Erzpriester dem Konsistorium und definierte sie als Aufseher der Kirchen und Geistlichen, die treu zu berichten, aber nichts zu entscheiden haben. Während die Verwaltung absolutistische Tendenzen zum Abschluß brachte, drängten eine liberal-demokratische Grundstimmung und Kollegialismus (-»Kirchenverfassungen 7.2.) auf Ausbau bzw. Einrichtung von Kirchenvorständen und Synoden sowie Stärkung bzw. Wiedereinrichtung selbständiger Kirchenbehörden. Die Kirchenordnung für die evangelischen Gemeinden der Provinz Westphalen und der Rheinprovinz vom 5. März 1835 begründete unter Verwendung von Elementen reformierter Kirchenverfassungen synodale Einrichtungen. Sie schrieb die Bezeichnung „Superintendent" auch für die Gebiete fest, in denen es vorher Inspektoren gegeben hatte. Diese Kirchenordnung brachte den Superintendenten in die sein Amt in Zukunft prägende Doppelfunktion: Er hat nun in seiner konsistorialen Funktion über die Presbyterien, die Geistlichen - einschließlich Kandidaten - , Kirchenbediensteten und Lehrer Aufsicht auszuüben, Visitationen durchzuführen sowie die Verordnungen der Behörden auszuführen, was einen großen Verwaltungsaufwand mit sich brachte. In seiner synodalen Funktion, als Vorsitzender der Kreissynode und deren Vorstand hat er Leitungsfunktionen wahrzunehmen, über die Synode an das Konsistorium zu berichten und für die Durchführung der Synodalbeschlüsse zu sorgen. 1908 kamen noch Repräsentationspflichten hinzu. Zugleich war er geborenes Mitglied der Provinzialsynode. Die Kreissynode wählte den Superintendenten auf sechs Jahre, Wiederwahl war möglich. Die Wahl bedurfte der Bestätigung durch den Minister für geistliche Angelegenheiten.

466

Superintendent

Die meisten evangelischen Kirchen folgten diesem Beispiel, wobei allerdings das synodale Element unterschiedlich stark ausgebildet, in den thüringischen Kirchen nicht eingeführt wurde. Am stärksten kam es in den preußischen Westprovinzen, Baden, Großherzogtum Hessen und Lippe zur Geltung, wo der Ephorus (Superintendent bzw. Dekan) von der Synode gewählt wurde. Die Neuordnung des Disziplinarrechts im ausgehenden 19. Jh. brachte dem Ephorus Teilnahme an der Untersuchung und das Recht, „bei Gefahr im Verzug" die Amtsausübung vorläufig zu untersagen. Nachdem die deutschen evangelischen Kirchen 1918 ihre Landesherren verloren hatten, gaben sie sich Verfassungen, in denen einige presbyterial-synodale Elemente verstärkten — so führte Thüringen Kirchenkreise mit Kreiskirchentag und Kreiskirchenrat ein - , woraus den Superintendenten mehr synodale Funktionen erwuchsen. Nach 1945 wirkten Erfahrungen aus dem Kirchenkampf auf die Neugestaltung der Kirchenverfassungen ein, ohne sie aber zu vereinheitlichen, so daß das Ephorenamt weiterhin vielgestaltig blieb. Im Unterschied zu vorausgehenden Verfassungen betonten einige den geistlich-bischöflichen Charakter des Ephorenamtes (Streiter 258). 3. Gegenwärtige

Beschaffenheit

Von den 24 deutschen Landeskirchen haben außer -»Bremen und der Evangelischreformierten Kirche alle ein geistliches Leitungsamt, das sich aus dem reformatorischen Superintendenten entwickelt hat. Die Träger dieses Amtes - hinfort unter „Ephorus" zusammengefaßt - heißen „Superintendenten" in elf, „ D e k a n " in sechs, „Propst" in drei (-»Braunschweig II, -»Mecklenburg und -»Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche 2.1.) sowie „Kreisoberpfarrer" (-»Anhalt) und „Kreispfarrer" (-»Oldenburg) in je einer Kirche. Sie amtieren jeweils in einem „Kirchenkreis", einem „Kirchenbezirk", einer „Propstei" (-»Braunschweig, -»Mecklenburg), einem „Dekanatsbezirk" (-»Bayern und -»Württemberg) bzw. „ D e k a n a t " (-»Hessen-Nassau), einer „Klasse" (-•Lippe) oder einer „Superintendentur" (-»Thüringen). Die Superintendenten sind in der Regel gleichzeitig Gemeindepfarrer, was zur Uberforderung führen kann (Johnsen 303). Vergleichbar mit den reformatorischen Generalsuperintendenten leitet auf einer höheren Ebene ein Bischof (Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche), Landessuperintendent, Generalsuperintendent, -»Prälat oder Propst einen Sprengel, ein Landessuperintendent (Mecklenburg), Prälat (Baden) oder Kreisdekan (Bayern) einen Kirchenkreis. Die geistliche Leitungsfunktion des Ephorus besteht in der allgemeinen „Aufsicht über das kirchliche Leben und die kirchlichen Ordnungen in den Gemeinden und Gemeindeorganen des Ephoralbereichs" (Streiter 250). Einige Kirchen verpflichten ihn ausdrücklich, das kirchliche Leben zu fördern. Diese Aufsicht erstreckt sich besonders auf die Amtsführung, den Lebenswandel und die seelsorgerliche Betreuung der Pfarrer. In den meisten Kirchen sorgt er als Vorsitzender eines Pfarrkonvents für ihre Weiterbildung. Er organisiert Vakanz- und Urlaubsvertretung und wirkt in den einzelnen Kirchen verschieden bei der Besetzung einer Pfarrstelle mit. Seine zentrale Aufgabe ist weiterhin zum Teil erneut - die Visitation der Gemeinden. Bei Fehlverhalten von Pfarrern hat er die Aufgabe, durch gütliches Mahnen und Helfen den Vorfall zu bereinigen, so daß kein Amtszuchtverfahren eröffnet werden muß, an dem er nicht oder nur teilweise beteiligt ist. In den meisten Kirchen kann er bei Einleitung eines Disziplinarverfahrens beurlauben. Bei Konflikten zwischen Gemeinde und Pfarrer soll er vermitteln. Während die Einführung eines Pfarrers ins Amt in der Regel der Ephorus vornimmt, gehört die Ordination nur in sieben Landeskirchen regelrecht zu seinen Aufgaben, während in den anderen Kirchen eine Delegation möglich ist, die vorrangig den Ephorus damit beauftragt. Einweihung von Sachen - Kirchen, Orgeln, Glocken - nimmt der Ephorus meist nur aufgrund einer Delegierung vor. Uneingeschränkt weiht der pfälzische Dekan „Kirchen", der anhaltische Kreisoberpfarrer „gottesdienstliche R ä u m e " ein.

Supranaturalismus

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Der Ephorus hat als Vertreter der Kirche ihre Repräsentation in der Öffentlichkeit u n d innerkirchliche Verbindungen zu Diensten, Werken und Verbänden in seiner Ephorie wahrzunehmen. Synodale Funktionen und Einflußnahme erwachsen dem Ephorus daraus, d a ß er in 16 Kirchen den Vorsitz in der ephoralen Synode und in 18 in deren Ausschuß, R a t bzw. Vorstand innehat. Da die Kompetenz der ephoralen Synoden in den einzelnen Kirchen von einem echten Selbstverwaltungsorgan bis zu einem nur beratenden Kollegium reicht, ist die Tätigkeit des Ephorus entsprechend mehr von presbyterial-synodalen oder mehr von konsistorialen Elementen geprägt. In die Landessynode gelangt der Ephorus in vier Kirchen als geborenes Mitglied, in fünf durch Wahl im Ephorenkonvent als Delegierter und in den anderen Kirchen durch Wahl oder Berufung. Verwaltungsfunktionen n i m m t der Ephorus teils im A u f t r a g und Interesse der Landeskirche und teils innerhalb der Ephorie w a h r . So ist er Berufungs-, Zwischen- und o f t Entscheidungsinstanz bei G e w ä h r u n g , Versagung und Entziehung kirchlichen Rechts bei Taufe, Konfirmation, Zulassung zum Patenamt, Teilnahme am Abendmahl, Trauung, Bestattung und A u f n a h m e bzw. W i e d e r a u f n a h m e in die Kirche. Die umfangreichen Aufgaben in Verwaltung und synodalen Organen bergen die G e f a h r in sich, d a ß für die geistliche Leitungstätigkeit nicht mehr die erforderliche Bewegungsfreiheit bleibt. Die Evangelische Kirche der Kirchenprovinz Sachsen hat daher in acht Propsteien - wie Kurhessen-Waldeck - Pröpste, die den Bischof regional in seinen geistlichen Leitungsfunktionen unterstützen, ohne mit Verwaltungsaufgaben der mittleren Ebene belastet zu sein. Quellen Die cv. KO des scchszehnten Jh., hg. v. Aemilius Ludwig Richter, 2 Bde., Weimar 1846 (Nachdr. Nieuwkoop 1967). - EKO. - Vgl. ferner die einzelnen Kirchenverfassungen (publiziert in den jeweiligen Amtsblättern).

Literatur Zur Lit. bis 1973 s. Axel Streiter, Superintendentenamt (s.u.). Niklot Beste, Kirchenkreis u. Propsteien in der Ev.-Luth. Landeskirche Mecklenburgs: HerChr 9 (1975/76) 93-97. - Martin Brecht/Hermann Ehmer, Südwestdt. Reformationsgesch., Stuttgart 1984. - James K. Cameron, The Office of Superintendent in the „First Book of Discipline": BRHE 72 (1987) 239-250. - Werner Hofmann, Die neue Verfassung der Ev.-Luth. Kirche in Bayern: ZEvKR 18 (1973) 1 - 2 1 . - Hartmut Johnsen, Aktuelle Struktur- u. Verfassungsprobleme der Ev. Kirche in Hessen u. Nassau: ZEvKR 31 (1986) 289-312. - Volker Knöppel, 30 Jahre Grundordnung der Ev. Kirche v. Kurhessen-Waldeck: ZEvKR 43 (1998) 355-368. - Eberhard Schwarz, Entwicklungstendenzen in Nordelbien. Entstehung, Aufbau u. Probleme einer neuen Landeskirche: ZEvKR 38 (1993) 1 - 2 6 . - Albert Stein, Art. Sup.: EKL 3 4 (1996) 577f. - Axel Streiter, Das Superintendentenamt. Ursprung, gesch. Entwicklung u. heutige Rechtsgestalt des mittleren Ephoralamtes in den dt. ev. Landeskirchen, Diss. Köln 1973 (Lit.). — Ralf Thomas, Wirkungen der Reformation auf die Kirchenverfassung der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens: HerChr 18 (1991/92) 33 - 4 7 . Peter v. Tiling, Die neue Schaumburg-Lippische Kirchenverfassung: ZEvKR 42 (1997) 393 - 4 0 3 .

Helmar Junghans

Supranaturalismus 1. Wesen und theologiegeschichtlicher Ort des Supranaturalismus turalismus 3. Nachwirkungen (Literatur S. 471)

1. Wesen und theologiegeschichtlicher

Ort des

2. Vertreter des Suprana-

Supranaturalismus

Supranaturalismus (Supernaturalismus) bedeutet theologiegeschichtlich im engeren Sinn diejenige Form protestantischer Theologie, die dem theologischen -»Rationalismus entgegentrat, welcher a m Ende des 18. Jh. die Aufklärungstheologie vollendete. Der Streit der beiden Formen von Theologie ging vor allem um die Frage, o b im Christentum

468

Supranaturalismus

eine -•Offenbarung anzuerkennen sei, deren Inhalte nicht auch auf dem Weg vernünftigen Denkens erschlossen werden können. Der Supranaturalismus bejahte diese Frage und verteidigte diejenigen Glaubensinhalte, die der Vernunft nicht einsichtig gemacht werden konnten, gegen ihre Bestreitung von Seiten des Rationalismus. Die Geschichtsschreiber des Supranaturalismus und des Rationalismus, die selbst aus dem angegebenen Zeitraum stammen, haben die zu ihrer Zeit herrschenden Strömungen nur als besondere Varianten eines immer schon in der christlichen Theologie vorhandenen Supranaturalismus bzw. Rationalismus aufgefaßt (Stäudlin, Geschichte; L.A. Kahler; F.Ch. -»Baur). Schon in der älteren Theologie, etwa in der -»Scholastik des Mittelalters, gab es eine Unterscheidung der Glaubensinhalte in rationale und supranaturale. Auch die lutherische - » O r t h o d o x i e kannte eine theologia naturalis ( - » N a türliche Theologie) und eine theologia reveíala bzw. supernaturalis: Jene stützt sich auf das natürliche Licht der Vernunft, diese auf die Offenbarung (vgl. Baier, Prolegomena cap. 1, § 2f.). Indem der theologische Rationalismus zu jeder Zeit gewisse übernatürliche Glaubensinhalte auszuscheiden bestrebt war und nur oder vorwiegend die der - je nach Zeitalter unterschiedlich bestimmten - natürlichen Vernunft zugänglichen gelten lassen wollte, rief er entgegengesetzte Strömungen hervor, in denen die supranaturalen Glaubensinhalte besonders hervorgehoben oder wenigstens wieder in Balance mit der Vernunft gebracht wurden. Der Supranaturalismus des ausgehenden 18. und beginnenden 19. J h . trat außer der rationalistischen Kritik einer Offenbarung überhaupt vor allem der Ablehnung der biblischen -»Wunder, des Versöhnungstodes Jesu (-»Sühne) und der Erbsündenlehre, der Teufelsvorstellung, der Trinitätslehre und der Zweinaturenchristologie entgegen. Wie der Rationalismus unter dem Einfluß -»Kants die Neologie vollendete, so setzte auch der Supranaturalismus ältere theologische Positionen fort, in erster Linie diejenige der auch im 18. J h . nicht völlig verdrängten altprotestantischen Orthodoxie und diejenige des -»Pietismus, der zwar nicht mehr alle orthodox-dogmatischen Lehrbestimmungen mitzutragen bereit war, der jedoch die biblischen Lehraussagen ohne kritische Abstriche vertrat. Kant lieferte nicht nur die Definitionen für Supranaturalismus und Rationalismus: „Der, weicher bloß die natürliche Religion für moralischnotwendig, d.i. für Pflicht erklärt, kann auch der Rationalist (in Glaubenssachen) genannt werden. Wenn dieser die Wirklichkeit aller übernatürlichen göttlichen Offenbarung verneint, so heißt er Naturalist; läßt er nun diese zwar zu, behauptet aber, daß sie zu kennen und für wirklich anzunehmen zur Religion nicht notwendig erfordert wird, so würde er ein reiner Rationalist genannt werden können; hält er aber den Glauben an dieselbe zur allgemeinen Religion für notwendig, so würde er der reine Supernaturalist in Glaubenssachen heißen können" (Kant 2 1 6 - 2 1 8 ) .

Kants Kritik der theologischen Metaphysik und seine Religionslehre, die sich auf den Postulaten der praktischen Vernunft erhob, bildeten vielmehr die gemeinsame Voraussetzung von Rationalismus und Supranaturalismus. Letzterer versuchte lediglich, die Grenzen, die Kant dem vernünftig verantwortbaren Glauben gesetzt hatte, unter denselben Prämissen zu erweitern. Die Aufklärung ist also die Voraussetzung beider theologischer Formen. Der Begriff Supranaturalismus im Sinne von antirationalistischer Theologie scheint zuerst 1789 gebraucht worden zu sein (Frank 379).

2. Vertreter des

Supranaturalismus

Eine Gruppe von supranaturalistischen Theologen bildete die sog. ältere -»Tübinger Schule. Gottlob Christian Storr ( 1 7 4 6 - 1 8 0 5 ) und seine Schüler Johann Friedrich Flatt ( 1 7 5 9 - 1 8 2 1 ) , Karl Christian Flatt ( 1 7 7 2 - 1 8 4 3 ) , Friedrich Gottlieb Süskind ( 1 7 6 7 - 1 8 2 9 ) und Ernst Gottlieb Bengel ( 1 7 6 9 - 1 8 2 6 ) vertraten nicht mehr die orthodoxe Dogmatik, sondern eine schlichtere, biblisch gesättigte Theologie. In zahlreichen Untersuchungen setzten sich diese Theologen mit Kants Philosophie auseinander und betonten dabei stark die Grenzen, die Kant der vernünftigen Erkenntnis gesetzt hatte, um jenseits der

Supranaturalismus

469

Vernunft Raum für die Möglichkeit und Wirklichkeit der biblischen Offenbarung zu gewinnen. Storr etwa ging davon aus, daß die theoretische Vernunft von übersinnlichen Gegenständen nichts wissen könne, sie eben deshalb aber auch nicht verneinen dürfe, und versuchte nachzuweisen, d a ß die Einwände der praktischen Vernunft, die Kant in seiner Religionsschrift gegen die Kirchenlehre machte, entweder nicht schlüssig seien oder aber die wahre biblische Lehre, deren Wahrheit historisch begründet werden könne, überhaupt nicht träfen (Storr 1 - 2 5 . 7 2 - 1 0 1 ) . Einer der prominentesten Vertreter des Supranaturalismus in Norddeutschland war der Dresdener Oberhofprediger, der frühere Wittenberger Philosophie- und Theologieprofessor Franz Volkmar Reinhard (1753-1812). Auch er wollte mit der altprotestantischen Orthodoxie so weit zusammengehen, wie sie mit der biblischen Theologie übereinstimmte, und war der Ansicht, daß jede philosophische Meinung, die der Schriftlehre widerspreche, auch in sich selbst unhaltbar sei, wenn man sie nur philosophisch genau untersuche (Reinhard 101.103). Eine echte Vermittlung zwischen Rationalismus und Supranaturalismus könne nicht stattfinden. Z w a r gebrauche der Supranaturalist die Vernunft, um den Offenbarungsanspruch der Bibel zu prüfen. Doch sobald dies geschehen sei, entscheide die Schrift über den Umfang der geltenden Glaubenswahrheiten. Die Vernunft habe zwar den Sinn der biblischen Aussagen zu erfassen, doch wenn sie dabei auf Sätze stoße, die ihr fremd seien, habe sie diese anzunehmen, „wenn sie nur nichts an sich Widersprechendes enthalten" (ebd. 96). Die grundsätzlichen Definitionen und Argumente des Supranaturalismus wurden besonders differenziert von dem Leipziger Theologieprofessor Johann August Heinrich Tittmann (1773-1831) entwickelt. In seinem Buch Ueber Supranaturalismus, Rationalismus und Atheismus legte er eine Verteidigung der „Meynung des strengsten Supranaturalismus" vor (ebd. IV). Vorausgesetzt wurde dabei die Wahrheit der natürlichen Religion mit ihren Inhalten: Existenz Gottes, Erschaffung der Welt und Vorsehung Gottes. Offenbarung sei zu denken „als eine unmittelbare, übernatürliche Wirkung der absoluten Ursache der Natur, wodurch den Menschen Wahrheiten oder Thatsachen kund geworden, welche der Gegenstand der geoffenbarten Religion sind" (ebd. 39). Das bedeute, daß Gott bei der Verursachung der Offenbarung nicht in der oder durch die Natur wirke, sondern über ihr. Diese Verursachung könne durch die Gesetze der inneren und äußeren Erscheinungen der Welt nicht erklärt werden, bleibe also unbegreiflich, genauso wie auch die Art der Verursachung der Welt bei ihrer Erschaffung (ebd. 3 9 - 4 1 ) . Wie die Erschaffung der Natur nicht unnatürlich, aber übernatürlich gewesen sei, so auch die Verursachung der Offenbarung (ebd. 45). Wie der Supranaturalist die Offenbarung nicht aus natürlichen Gesetzen ableiten könne, so auch der Rationalist nicht die Erschaffung der Welt (ebd. 56). Wollte der Rationalismus unter dieser Voraussetzung darauf bestehen, nur vernünftig ableitbare Aussagen zu machen, so müßte er auch die Wahrheiten der natürlichen Religion aufgeben und sich zum Atheismus wandeln (ebd. 243-275). Auch bei Tittmann war der Supranaturalismus kein unvernünftiger Irrationalismus: Was dem Glauben als Zeugnis einer vergangenen Offenbarung vorgestellt werde, müsse er daraufhin prüfen, ob es sich wirklich so verhalte (ebd. 61). Fest stehe, daß die wahre Offenbarung überhaupt nichts der Vernunft Widersprechendes enthalten könne, weil der Offenbarer selbst die unendliche Vernunft sei (ebd. 63). Den Weg, auf dem sich die Vernunft von der Berechtigung des Offenbarungsanspruches der Schrift überzeugen kann, hat Tittmann an anderer Stelle aufgezeigt: die Betrachtung des Lebens Jesu. Jesus habe ein einmaliges Beispiel tugendhaften Lebens geboten, er habe zuerst in der Menschheitsgeschichte die wahre Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele und der Vergeltung im Jenseits als allgemeine Ansicht durchgesetzt, und seine Auferstehung sei das durchschlagende Argument für den Glauben an ein jenseitiges Leben gewesen. Diese drei Merkmale des Lebens Jesu bewiesen, daß er wirklich von Gott gesandt sei und daß seine Lehre als Offenbarung Gottes betrachtet werden müsse (Tittmann, Opuscula 217-239). In ähnlicher Weise bewies der Göttinger Theologieprofessor

470

Supranaturalismus

Karl Friedrich Stäudlin (1761-1826) aus der Tatsache, daß die Weissagungen Jesu später alle in Erfüllung gegangen seien, die Göttlichkeit seiner Sendung und die Wahrheit seiner Lehre (Stäudlin, Jesus 5 8 - 9 1 ) . Hat Tittmann sich besonders um eine systematische Begründung des Supranaturalismus verdient gemacht, so kann man bei dem Roßlaer Superintendenten Christian Ferdinand Zöllich (1773—1856) gut die ganze Breite der antirationalistischen Argumentation beobachten. Er setzte den berühmten Briefen über den Rationalismus (1813) des Weimarer Generalsuperintendenten Johann Friedrich Röhr (1777-1848) seine Briefe über den Supernaturalismus entgegen (1821). Sie deckten fast alle Sachbereiche ab, in denen sich die beiden Formen von Theologie gegeneinander abgrenzten. Beweis für das Vorhandensein einer Offenbarung in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte war ihm der der Vernunft gemäße Monotheismus, der allein in Israel Volksreligion war (Zöllich 2 7 - 2 9 . 3 9 f . 1 6 4 - 1 6 6 ) , die vernünftige jüdische Gottesvorstellung (ebd. 166-168) und die beispiellose Moralität Israels (ebd. 177-180). Die Göttlichkeit Jesu stand ihm fest aufgrund seines einzigartigen moralischen Charakters, seiner ansonsten unerklärlichen Sicherheit im Auftreten und der Großartigkeit seines Planes, die ganze Welt mit Gott zu versöhnen. Wäre Jesus nur bloßer Mensch und kein übernatürliches Wesen, so bliebe er uns ein psychologisches Rätsel (ebd. 225 - 2 4 3 ) . Angesichts der rationalistischen Kritik an der traditionellen Versöhnungslehre, insbesondere am stellvertretenden Straftod Jesu, gab Zöllich die Anselmsche Versöhnungslehre (-*Anselm von Canterbury) preis, setzte aber an ihre Stelle eine originelle Alternative, die den biblischen Aussagen voll gerecht werden sollte. Dabei postulierte er ein ethisches Universalgesetz, aus dem er die biblische Versöhnungslehre, einschließlich des Opfertodes Jesu, a priori ableiten zu können vermeinte (ebd. 2 9 7 - 3 7 3 , bes. 363). Auch die Trinitätslehre und die Zweinaturenchristologie wollte er auf dieser Basis rekonstruieren (ebd. 3 7 8 - 3 8 5 ) . Dieses Verfahren ist typisch für die Anknüpfung des Supranaturalismus an die Orthodoxie in den Hauptlehren (vgl. ebd. 388) bei gleichzeitiger Modifikation dieser Lehren unter dem Primat der praktischen Vernunft. Dieser Primat führte bei Supranaturalismus und Rationalismus zu einer in ethischer, nicht mehr in metaphysischer Begrifflichkeit stattfindenden Entfaltung der Dogmatik, bei beiden auch zu einer pelagianisierenden Gnadenlehre (—•Pelagius/Pelagianischer Streit). Großes Aufsehen erregte eine Leipziger Disputation im Jahr 1827, bei der der aus Königsberg berufene Theologieprofessor August Hahn (1792—1863) den Ausschluß der Rationalisten aus der Kirche forderte. Dieses Ansinnen wurde seit dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts immer wieder laut, während um die Jahrhundertwende der Rationalismus tonangebend war (Tittmann, Supranaturalismus XIII.317; Hahn, Kirche 1 0 - 1 2 ; vgl. Hase; Krug; Paulus 141.224.274). Wie die Darstellung zeigt, war der Supranaturalismus nicht rein offenbarungspositivistisch bestimmt. Er versuchte vielmehr, die vom Gegner eingenommene Position der Vernunft vor dem Forum der wahren Vernunft - die mit der Offenbarung in Einklang stand und von dieser her entworfen wurde - als defizitär nachzuweisen. Es ist deshalb ratsam, nicht zu schnell echte Mischformen zwischen Rationalismus und Supranaturalismus anzunehmen („rationaler Supranaturalismus", „supranaturaler Rationalismus"), nur weil ein Theologe den supranaturalistischen Standpunkt argumentativ begründete. Stäudlin etwa bezeichnete sich als rationalen Supranaturalisten, womit jedoch keine Mittelstellung zwischen den beiden Theologieformen gemeint war, sondern eben jenes vernünftige Moment, das dem Supranaturalismus schon als Theologie eigen war (Hemsen 11.19; ähnlich Zöllich 187.296; Tittmann, Supranaturalismus 122.162.229). Bei dem gelegentlich als Vertreter einer Mischform vorgestellten Erlanger und Göttinger Theologieprofessor und sächsischen Oberhofprediger F.Ch. von -»Ammon ist eher ein zeitliches, wiederholtes Schwanken zwischen den Parteien festzustellen. K.G. -»Bretschneider gehört eher ins Lager des Rationalismus. Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778-1828) stellte beide Theologien als unvereinbar nebeneinander, sah aber „das Wesentliche des

Supranaturalismus

471

Christenthums" in beiden Systemen gewahrt (Tzschirner 90). Andere Theologen wie etwa Karl Ludwig Nitzsch (1751-1831) bemühten sich um eine eindringendere Vermittlung der beiden Standpunkte, ohne dabei durchschlagenden Erfolg zu haben. Weitere Vertreter des Supranaturalismus waren die Theologieprofessoren Georg Christian Knapp (1753-1825, Halle), Johann Friedrich Kleuker (1749-1827, Kiel) und Ernst Wilhelm Christian Sartorius (1797-1859, Marburg/Dorpat). 3.

Nachwirkungen

Der Supranaturalismus und sein Gegenspieler gingen von der gemeinsamen Voraussetzung aus, daß die Inhalte der natürlichen Religion wahr seien, weil sie sich aus der stets unveränderlichen praktischen Vernunft ableiten ließen. Diese Voraussetzung wurde hinfällig, als die historische Relativität aller Denkformen erkannt wurde - gelegentlich streiften die Supranaturalisten selbst diese Entdeckung, ohne ihre Bedeutung jedoch zu entfalten (vgl. Tittmann, Supranaturalismus 57f.306f.). Ferner waren Supranaturalismus und Rationalismus dadurch bestimmt, daß sie unter christlichem Glauben vorrangig das Uberzeugtsein von der Wahrheit theoretischer Lehrinhalte verstanden. Diese Auffassung wurde obsolet, als durch F.D.E. -»Schleiermacher einerseits und durch die Erweckungsbewegung (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen) andererseits das Gefühl als konstitutives Element des Glaubensaktes wiederentdeckt wurde. Unter dem Einfluß dieser Strömungen nahmen die beiden ungleichen theologischen Zwillinge seit dem ersten Drittel des 19. Jh. in ihrer Bedeutung immer mehr ab. G.W.F. -»Hegel, Schleiermacher und viele von ihnen beeinflußte Theologen verstanden ihre eigenen Entwürfe als Uberwindung des Gegensatzes von Rationalismus und Supranaturalismus. Dennoch wirkte dieser Gegensatz auch in jenen späteren Theologien nach. Denn auch wenn der Glaube primär auf der Ebene des Gefühls angesiedelt war, mußte er sich irgendwann in theoretischen Vorstellungen und Begriffen aussprechen; und auch die spekulative Vernunft mußte ihr Verhältnis zur Offenbarung klären, als sich die Hegeische Schule spaltete. Dabei kam es zur Entfaltung von Systemen, die wiederum entweder zum Rationalismus oder zum Supranaturalismus hinneigten. So liegt etwa der Differenz zwischen Schleiermacher und seinen konservativeren Schülern wie J. -»Müller, A. -»Neander, C.I. -•Nitzsch u.a. eben dieser Gegensatz zugrunde. Dasselbe gilt für spekulative liberale Theologen (-»Liberale Theologie) wie A.E. -»Biedermann und O. -»Pfleiderer in ihrem Verhältnis zu spekulativen Vermittlungstheologen wie R. -»Rothe und I.A. -»Dorner. Noch der Ritschlianer J.W.F. -»Kaftan und der Systematiker der -»Religionsgeschichtlichen Schule, E. -»Troeltsch, grenzten sich gegeneinander über ihr Verhältnis zum Supranaturalismus ab. Literatur Johann Wilhelm Baier, Compendium theologiae positivac, Jena 1686 J 1704. - Ferdinand Christian Baur, Primae rationalismi et supranaturalismi historiae capita potiora, pars 1 u. 2, Tübingen 1827. - Gustav Frank, Gesch. der prot. Theol., Leipzig, III 1875. - August H a h n , An die ev. Kirche zunächst in Sachsen u. Preußen. Eine offene Erklärung, Leipzig 1827. - Ders., De rationalismi qui dicitur vera indole et qua cum naturalismo contineatur ratione, Leipzig 1827. - [Karl Hase], Die Leipziger Disputation. Eine theol. Denkschr., Leipzig 1827. - Johann Tychsen Hemsen (Hg.), Z u r Erinnerung an D. Carl Friedrich Stäudlin, seine Selbstbiographie, Göttingen 1826. - Karl-Heinz Hinfurtner, Bibl. Supranaturalismus. Gottlob Christian Storr (1746-1805): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh, I 1990, 113-127. - Ludwig August Kähler, Supernaturalismus u. Rationalismus in ihrem gemeinschaftlichen Ursprünge, ihrer Zwietracht, u. höheren Einheit. Ein Wort f. alle welche nicht wissen o b sie glaubend erkennen oder erkennend glauben sollen, Leipzig 1818. - Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Königsberg 1793): ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt, IV J 1983. - Ulrich Köpf, Die theol. Tübinger Schulen: ders. (Hg.), Hist.-krit. Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur u. seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion, Sigmaringen 1994 (Contubernium. Tübinger Beitr. zur Universitäts- u. Wissenschaftsgesch. 40) 9 - 5 1 . - Wilhelm Traugott Krug, Phil. Gutachten in Sachen des Razionalismus u. des Supernaturalismus. Ein Nachtr. zur

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Swedenborg/Swedenborgianer

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Joachim Weinhardt Susanna -»Apokryphen, -»Daniel

Swedenborg, Emanuel 1. Leben

2. Schriften

(1688—1771J/Swedenborgianer 3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 476)

1. Leben Emanuel Swedenborg wurde am 29. Januar 1688 als zweiter Sohn von Jesper Svedberg und Sarah Behm geboren. Sein Vater, damals Hofgeistlicher und Pfarrer der Leibgarde König Karls XI. (1660-1697), wurde später Professor in -»Uppsala und war schließlich von 1702 bis zu seinem Tod 1735 Bischof von Skara. Die Söhne wurden 1719 geadelt und nahmen dabei den Namen Swedenborg an. 1699 schrieb Emanuel sich an der Universität Uppsala ein und arbeitete dort eifrig mit seinem Schwager, dem Universitätsbibliothekar und späteren Bischof Eric Benzelius (gest. 1743), zusammen. Dieser beflügelte sein wissenschaftliches Interesse in vielen Bereichen, nicht nur auf geistes-, sondern auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet und in der Mathematik. Nach seiner Promotion 1709 reiste er zu Studienzwecken nach Holland, England und Frankreich und hielt sich ein Jahr in -»Rostock auf. In London studierte er unter Anleitung von John Flamsteed (1646-1719) und Edmund Halley (1656-1742) Astronomie. Ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Schweden 1715 wurde er Beamter im Regierungsdepartement für das Bergwesen, erhielt aber erst 1724 Dienstbezüge. 1747 gab er das Amt auf. Dank einer Pension vom Staat und einer ihm zugefallenen größeren Erbschaft konnte er als unabhängiger Forscher leben. Dabei hielt er sich zumeist in Schweden, Deutschland, Holland und England auf. Am 29. März 1772 ist er in London verstorben. 1908 wurden seine sterblichen Überreste nach Schweden überführt und ruhen heute in einem Sarkophag im Dom von Uppsala. 2.

Schriften

Swedenborgs Schriften lassen sich ebenso wie sein Wirken in zwei Abschnitte einteilen mit dem Jahr 1745 als deutlichem zeitlichem Einschnitt. Bis dahin schrieb er wissenschaftliche Arbeiten und leistete Beiträge zur zeitgenössischen Naturwissenschaft. Ab 1745 wandte er sich fast ganz der religiösen Schriftstellerei mit zahlreichen Erklärungen biblischer Texte zu. Im folgenden werden seine wichtigeren Schriften aufgeführt; ein vollständiges Schriftenverzeichnis bieten J . Hyde und W.R. Woofenden.

Swedenborg/Swedcnborgiancr 2.1. Erste Schaffensperiode

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(bis 1745)

Daedalus Hyperboraeus (Der nordische Daedalus), Uppsala 1716-1718, die erste wissenschaftliche Zeitschrift Schwedens; erschienen sind sechs Hefte, zu deren Mitarbeitern Swedenborg zählt. Sie enthalten zumeist Beschreibungen technischer Erfindungen und Konstruktionen. Die Zeitschrift gab die Anregung zur Bildung der Kungliga Vetenskapssocietet in Uppsala als einer Begegnungsstätte neuer Forschung. Opera philosophica et mineralia (Werke zur Philosophie und Mineralogie), in drei Teilen: 1. Principia rerum naturalium, 2. De ferro und 3. De cupro et Orichalco, Leipzig/ Dresden 1734. Die mineralogischen Teile mit der Behandlung des Eisens und Kupfers machten Swedenborg zu einer Autorität auf diesem Feld. Darüber hinaus enthält das Werk eine Zusammenfassung der Theorien Swedenborgs über die Entstehung und Entwicklung der anorganischen Natur bis zur Bildung unseres Sonnensystems. Er erklärte das Licht mit Hilfe einer Wellentheorie und stellte eine Nebularhypothese auf, die älter ist als die von -»Kant und Pierre Simon Marquis de Laplace (1749-1827) entwickelte. Dabei erweist er sich als Schüler R. -»Descartes', und sein Naturverständnis bewegt sich im Rahmen einer mechanistischen Auffassung. Seine Belesenheit reicht jedoch weiter und läßt Bekanntschaft mit dem Engländer Thomas Burnet (gest. 1750) und dem Philosophen G.W. -»Leibniz sichtbar werden. Einen Widerspruch zwischen den Aussagen der Bibel und den Auffassungen der Naturwissenschaft empfand Swedenborg nicht. Wo der Schöpfungsbericht aufhört, fährt die Naturwissenschaft fort. Oeconomia regni animalis in transactiones divisa (Die Einrichtung des Tierreiches), 2 T., London/Amsterdam 1740-1741. Durch die Vorstellungen Ch. -»Wolfis läßt sich Swedenborg zu dem Versuch anregen, die -»Unsterblichkeit der -»Seele aufgrund sinnlich wahrnehmbarer Befunde nachzuweisen. Das erforderte physiologische und anatomische Studien, die er sich im Rahmen der zeitgenössischen Voraussetzungen aneignete. Große Aufmerksamkeit widmete er dem Herzen und dem Blutkreislauf mit Beschreibungen von Venen und Arterien. Vor allem die Untersuchung des Herzens und seiner Funktion verrät Originalität. Im Anschluß an Wolff entwickelte er eine Lehre von Reihen und Stufen. Alle Erscheinungen, die organischen wie die anorganischen, haben einen Platz in einer bestimmten Reihe. Es gibt sechs solcher Reihen, drei höhere und drei niedere, und jede Reihe hat ihre Stufen. Diese Systematik war darauf angelegt, die Gesamtheit des Seienden als umfassende Harmonie zu verstehen. Regnutn anímale, anatomice, physice et philosophice perlustratum (Das Tierreich, anatomisch, physikalisch und philosophisch erläutert), 3 T., Haag/London 1744-1745. Die Schrift vertieft das Studium des Gehirns und der Nerven. Das Gehirn wird als Zentrum der Seelenfunktionen angesehen, und es wird versucht, unterschiedliche Funktionen darin zu lokalisieren. Dieses Werk bildet den Abschluß der größeren auf naturwissenschaftlicher Grundlage beruhenden wissenschaftlichen Untersuchungen Swedenborgs. Swedenborgs Drömmar (Traumtagebuch). Dieses Buch hat Swedenborg selbst nicht zum Druck gebracht; die erste Ausgabe erschien auf Schwedisch 1859 in Stockholm. Es besteht aus Aufzeichnungen, die Swedenborg während einer im Juli 1743 angetretenen, bis Oktober 1744 dauernden Reise von Stockholm über Holland nach London gemacht hat. Außer allgemeinen Reisenotizen enthält es Erlebnisse und Träume, aus denen hervorgeht, daß er eine religiöse Krise durchgemacht hat. Er hat einen Ruf erhalten, mit einer religiösen Botschaft in die Öffentlichkeit zu treten. Der Wissenschaftler war zum Propheten geworden. 2.2. Zweite Schaffensperiode

(ab 1745)

De cultu et amore dei... (Über die Verehrung und Liebe Gottes), 2 T., London 1745. Das Buch bildet den Übergang zu einer anderen Behandlungsweise derselben grundlegenden Problematik, mit der sich Swedenborg zuvor in seinen wissenschaftlichen Un-

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Swedenborg/Swedenborgianer

tersuchungen befaßt hatte, der Suche nach einer Gesamtschau, einer allumfassenden Synthese. Er läßt das analytische Vorgehen der Wissenschaft hinter sich und bemüht sich in einer stärker dichterischen Sprache um religiöse Gewißheit, die in einer Auslegung der Schöpfungsgeschichte der Genesis Ausdruck findet. Darin findet sich eine Lehre von Korrespondenzen oder Entsprechungen. Alles hat eine natürliche, geistige und göttliche Bedeutung. Hier besteht eine Parallele zu den Fragen psychophysischer Wechselwirkungen, mit denen er sich zuvor befaßt hat. Swedenborg ist auf dem Weg zum Exegeten und Schriftausleger. Zugleich ist das Buch sowohl eine Zusammenfassung einer früheren Beschäftigung mit der antiken Literatur und den Entwürfen älterer und zeitgenössischer Philosophen als auch eine Schrift in der Tradition der Hexaemeronauslegung. Arcana Coelestia, quae in Scriptum Sacra, seit Verbo Domini sunt, detecta (Himmlische Geheimnisse, welche in der Heiligen Schrift oder in dem Worte des Herrn enthalten und nun enthüllt sind), 8 T., London 1749-1756. Dies ist Swedenborgs theologisches Hauptwerk, das seine ganze Lehre beinhaltet und ihn bei seinen Zeitgenossen publik gemacht hat, u.a. bei F. C. -»Oetinger und -»Kant. Es stellt eine entwickelte Korrespondenzlehre in den Dienst einer Erklärung der ersten beiden Bücher der Bibel, Genesis und Exodus. Dabei macht die dichterische Sprache einer stärker rationalen, wissenschaftlichen Platz. Jedoch werden diese Ausführungen von Berichten darüber unterbrochen, was der Verfasser selbst in der Geisterweit gesehen und gehört hat. Apocalypsis revelata, in qua deteguntur arcana quae ibi praedicta sunt, et hactenus recondita latuerunt (Enthüllte Offenbarung Johannes, in welcher die Geheimnisse, die da wahrgesagt und bisher unenthüllt sind, entdeckt werden), Amsterdam 1766. Das Buch ist eine Auslegung und Erklärung der -»Apokalypse des Johannes im spirituellen Sinn. Das jüngste Gericht hat 1757 stattgefunden, die zweite Wiederkunft des Herrn bedeutet demnach kein körperliches Erscheinen Jesu, sondern die Enthüllung des inneren Sinnes der Apokalypse. Damit beginnt die Neue Kirche, aber keine plötzliche, „apokalyptische" Änderung der weltlichen, materiellen Verhältnisse. Eine neue Zeit ist gekommen. Swedenborgs Bücher sind der Zeuge davon. Vera Christiana Religio continens universam Theologiam Novae Ecclesiae (Die Wahre christliche Religion, enthaltend die ganze Theologie der Neuen Kirche), Amsterdam 1771. Dies ist das letzte von Swedenborg herausgebrachte Buch. Es enthält eine systematische Zusammenfassung seiner religiösen Vorstellungen und ist grundlegend für seine religiöse Weltsicht. 3.

Wirkung

Wirkungsgeschichtlich lassen sich zwei Linien aufzeigen, einmal Swedenborgs Einfluß auf Philosophie und Literatur und zum anderen seine Wirkung als Urheber einer Religionsgemeinschaft, der Neuen Kirche. 3.1. Einfluß auf Philosophie

und

Literatur

Swedenborgs Vorstellungen von Entsprechungen, Korrespondenzen, zwischen dieser Welt und der himmlischen Welt, dem diesseitigen Leben und dem Leben nach dem Tod, wie auch seine aus der diesseitigen Welt aufgenommenen Beziehungen zur Geisterweit haben im Lauf der Zeit viele zur Stellungnahme herausgefordert und ihnen Anregungen vermittelt. Zu ihnen kann man u.a. Johann August Ernesti (1707-1781), Kant, Oetinger, Johann Gottlieb Mittnacht (1831-1892), J.K. -»Lavater, J.F. -»Oberlin und C.G. - • J u n g ebenso zählen wie William Blake (1757-1827), Honore de Balzac (1799-1850), Charles Baudelaire (1821-1867), J.W. von -»Goethe, F.W.J. -»Schelling, Ralph Waldo Emerson (1803-1882), William Butler Yeats (1865-1939), Jorge Luis Borges (18991986), Oscar Venceslas Milosz (1877-1939) und in Schweden Carl Jonas Love Almqvist (1793-1866) und August Strindberg (1849-1912).

Swedenborg/Swedenborgianer

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3.2. Die Neue Kirche Die Grundlage für Swedenborgs religiöse Vorstellungen ist die Bibelauslegung. In ihr geht er davon aus, daß das Wort der Schrift verschiedene Bedeutungen hat. Es besteht eine Entsprechung zwischen seiner inneren und seiner äußeren Bedeutung, zwischen externus und internus. Dazu kommen andere Bedeutungsebenen, deren innerste sich auf den Messias, die Wahrheit selbst, richtet. Nicht alle biblischen Bücher haben einen inneren Sinn. Er fehlt z. B. in den Chronikbüchern und bei Hiob, in der Apostelgeschichte und in allen Apostelbriefen. Zwar argumentiert Swedenborg in seinen Bibelauslegungen wie in seinen naturwissenschaftlichen Schriften auf ausgeprägt rationalistische Weise; doch zum Beweis führt er an, was er selbst in der Geisterwelt gesehen und gehört hat. Er argumentiert rational, doch letztendlich gilt die Maxime ex auditis et visis. Er hält an der äußeren Gestalt des Schriftwortes fest, doch sie hindert ihn nicht am Verständnis seines inneren Sinnes. Die durch Swedenborg erschlossene neue Einsicht in die rechte Bedeutung der Bibel ist das Zweite Kommen des Herrn. Die Vorstellung der -»Trinität im herkömmlichen christlichen Sinn lehnt er ab. Der Herr ist einer. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind auf gleiche Weise drei konstitutive Wesensmerkmale des einzigen Gottes, wie beim Menschen Leib, Seele und Aktivität eine Einheit bilden. Das Wesen Gottes ist Liebe und Weisheit. Inkarnation bedeutet Uberwindung der Ubermacht des Bösen. Der Mensch muß sich selbst frei zwischen gut und böse entscheiden. Es gibt keine Erbsünde (-»Sünde), die ihn in seinem Wirken hindern kann. Sein Tun in dieser Weltzeit bestimmt zwangsläufig seinen Platz in der himmlischen Welt. Dort besteht er weiter, jedoch ohne das Hemmnis des Leibes. Die Ehe spielt eine große Rolle als Zeichen der Vereinigung des Wahren und des Guten. Swedenborg hat ein optimistisches Menschenbild. Daher nahm er auch an, die Menschen würden seine religiösen Vorstellungen teilen, wenn sie darüber unterrichtet würden. Seine Botschaft würde ganz von selbst die Lehrer der Kirchen für sich gewinnen. Dafür hatte er sie in der seinerzeitigen internationalen Sprache, auf Latein, zu Papier gebracht. Einer besonderen Gemeinschaft oder einer neuen Kirche bedurfte es seiner Meinung nach nicht. Die Ubersetzung und der Druck seiner Schriften wurde zu einer wichtigen Aufgabe seiner Anhänger. Zu diesem Zweck bildeten sich Gesellschaften, deren älteste The Sivedenborg Society London von 1810 ist. Die erste Gemeindebildung erfolgte 1787 in London, und 1815 entstand mit der General Conference of the New Church eine übergreifende Organisation. In den USA schloß sich die erste Gemeinde 1792 in Baltimore zusammen, und 1817 entstand in Philadelphia die General Convention of the New Jerusalem. Um 1980 wurde dieser Name in Swedenborgian Church of North America (SCNA) geändert. Die Gemeinden haben einen kongregationalistischen Gemeindeaufbau (-»Kongregationalismus) mit einem auf Zeit gewählten Präsidenten. 1897 spaltete sich eine Gruppe ab und bildete die General Church of the New Jerusalem (GCNJ). Sie führte das Bischofsamt ein, zeigt eine stärkere Betonung des Priesteramtes. Ihr Mittelpunkt wurde Bryn Athyn in Pennsylvanien, wo eine Akademie gegründet wurde. Eine gewichtige Lehrauseinandersetzung wurde während der dreißiger Jahre des 20. Jh. ausgetragen, als eine niederländische Gruppe den Schriften Swedenborgs die gleiche Bedeutung zumessen wollte wie dem Alten und Neuen Testament. Sie sah in ihnen das dritte oder lateinische Testament. Nach ihrem Ausschluß bildete sich 1937 The Lord's New Church which is Nova Hierosolyma (LNC). In Schweden wirkten Swedenborg-Anhänger innerhalb der Schwedischen Kirche, was zu Konflikten führen konnte. Erst nach der Liberalisierung der Religionsgesetze konnte sich 1866 eine Gemeinde bilden. In Deutschland und in der Schweiz entstanden Gemeinden in der Mitte des 19. Jh. Im ausgehenden 20. Jh. gibt es auf Swedenborgs Bibelauslegung gegründete Gemeinden in Europa in Großbritannien, Schweden, den Niederlanden, Deutschland und der Schweiz. Außerhalb Europas bestehen Gemeinden in

476

Syllabus

Afrika (Lesotho und Südafrika), Asien ( J a p a n und K o r e a ) , Australien und Neuseeland sowie in Südamerika (Brasilien), K a n a d a und über 2 0 Staaten der USA. Quellen Alfred Acton, Letters and Memorials of Emanuel Swedenborg. 2 T., Bryn Athyn, Pa. 1948 - 1 9 5 5 . - Hans Heiander (Hg.), Emanuel Swedenborgs Festivus Applausus, ed. with Intr., Transl. and Comm., Uppsala 1985. - Michael Heinrichs, Emanuel Swedenborgs Camena Borea, ed. with Intr., Transl. and Comm., Uppsala 1988. - James Hyde, A Bibliography of the Works of Emanuel Swedenborg. Original and Transl., London 1906. - John Faulkner Potts, Swedenborg Concordance, London 1 8 8 8 - 1 9 0 2 . - Rudolf Ludvig Tafel, Documents concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg, 2 T., London 1875. — Samuel M . Warren, A Compendium of the Theol. Writings of Emanuel Swedenborg, New York 1979. - William Ross Woofenden, Swedenborg Researcher's Manual, Bryn Athyn, Pa. 1988. Literatur Marguerite Beck Block, The New Church in the New World. A Study of Swedenborgianism in America, New York 1932 '1968 3 1984. - Ernst Benz, Emanuel Swedenborg. Naturforscher u. Seher, München 1948 Zürich 2 1969. - Ders., Vision u. Offenbarung. Ges. Swedenborg-Aufs., Zürich 1979. - Lars Bergquist, Swedenborgs hemlighet, Stockholm 1999. - Gottlieb Florschütz, Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg u. die okkulten Phänomene aus der Sicht v. Kant u. Schopenhauer, Würzburg 1992 (Epistemata, R. Phil. 106). - Michael Heinrichs, Emanuel Swedenborg in Deutschland. Eine krit. Darst. der Rezeption des schwed. Visionärs im 18. u. 19. Jh., 1979 (EHS. 20. R. 47). - Inge Jonsson, Swedenborgs skapelselära de Cultu et Amore Dei, Diss, phil. Stockholm 1961. - Ders., Swedenborgs korrespondenslära, Stockholm 1969. - Ders., Emanuel Swedenborg, New York 1971. - Carl Theophilus Odhner, Annals of the New Church, with a Chronological Account of the Life of Emanuel Swedenborg, Bryn Athyn, Pa. 1898. - Ders./William Whitehead, Annals of the New Church. II. 1 8 5 1 - 1 8 9 0 , Bryn Athyn, Pa. 1976. - Karl-Erik Sjöden, Swedenborg en France, 1984 (AUS. Stockholm Studies in History of Literature 27). - Emanuel Swedenborg, A Continuing Vision. A Pictorial Biography and Anthology, ed. Robin Larsen/Stephen Larsen/James P. Lawrence/William Ross Woofenden, New York 1988. - Emanuel Swedenborg 1 6 8 8 - 1 7 7 2 . Naturforscher u. Kundiger der Uberwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, bearb. v. Horst Bergmann/Eduard Zwink, Stuttgart 1988. - Swedenborg and his Influence, hg. v. Erland J . Brock u.a., Bryn Athyn, PA 1988. Harry Lenhammar

Syllabus 1. Begriff 2. Autorität und Struktur der Sätze schichte (Quellen/Literatur S. 478) 1.

3. Entstehungsgeschichte

4. Wirkungsge-

Begriff

Der Syllabus (avXkaßoq, „Verzeichnis, I n d e x " ) ist eine Auflistung und Verurteilung der Irrtümer „unserer Z e i t " durch die Kurie aus d e m J a h r 1864, d.h. während des Pontifikates von - » P i u s I X . D a s Dekret des Heiligen Offiziums Lamentabili von 1 9 0 7 wurde zum Teil ebenfalls Syllabus genannt, ist aber v o m Syllabus von 1 8 6 4 zu unterscheiden. Der volle Titel dieses Verzeichnisses lautet: Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores, qui notantur in allocutionibus consistorialibus, in encyclicis aliisque apostolicis litteris Sanctissimi Domini Pii Papae IX. Die bezeichneten Irrtümer beziehen sich in erster Linie a u f die Kirche, a u f den Staat und die Gesellschaft sowie deren Verhältnis zueinander. Der Syllabus verwirft vor allem die im 18. und 19. J h . entwickelten politischen und philosophischen Positionen, welche die Vorrangstellung der Kirche gegen Regierungen, Wissenschaften und gegenüber dem Gewissen des einzelnen in F r a g e stellen. Dagegen erklärt der Syllabus die A u t o r i t ä t der Kirche u . a . in bezug auf das Eherecht, in bezug auf die innerkirchliche O r g a n i s a t i o n wie Bischofsernennungen, Besitz der Kirche, gegenüber den Wissenschaften und über die res mixtae im heutigen Sinne.

Syllabus 2. Autorität

477

und Struktur der Sätze

2.1. Die Sätze des Syllabus haben die Autorität einer Verwerfung durch das päpstliche Lehramt. Dies ergibt sich u.a. durch deren Herkunft aus früheren päpstlichen Schreiben, durch den engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit der Enzyklika Quanta cura, durch die Versendung des Syllabus an alle Bischöfe sowie durch das Begleitschreiben zum Syllabus durch Kardinal Giacomo Antonelli (1806-1876) (Wortlaut bei Goetz [dt. 64, lat. 345]). Die Sätze des Syllabus sind Reaktionen auf bestimmte geschichtliche Vorkommnisse und könnten daher als „zeitbedingt" gelten. Freilich ergibt die Sammlung dieser Reaktionen in einem Verzeichnis den Sätzen den Charakter des Grundsätzlichen. Dennoch ist der Syllabus keine Kathedralentscheidung des Papstes im kirchenrechtlichen Sinn. Er wurde auch nicht im Ganzen durch das I. -»Vatikanum wiederholt oder bestätigt, wohl aber einige seiner Negationen. Dementsprechend war unter den zeitgenössischen Theologen die Frage nach der lehramtlichen Autorität des Syllabus umstritten. Eine Aufzählung, welche zeitgenössischen Theologen den Syllabus für eine endgültige Lehrentscheidung halten und welche dies ablehnen, findet sich bei Heiner, Syllabus 15; Hoensbroech 4f.; Goetz 82f. 2.2. Die 80 Sätze sind in zehn Abschnitte untergliedert: Pantheismus, Naturalismus, Rationalismus, Indifferentismus, Sozialismus, Kommunismus, Liberalismus. Sie sind im Gegensatz zu den Canones der Konzilien thetisch, d.h. positiv formuliert. Dies führt dazu, daß das Gegenteil des Gesagten als richtig anzusehen ist. Da dieses Gegenteil jedoch nicht immer offensichtlich ist (z. B. in Satz 60 „Autorität ist nichts anders als die Summe der Zahl und der materiellen Kräfte"), kann diese Auslegung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der Rückbezug der Sätze in den ursprünglichen Kontext kann einen Verstehenszusammenhang geben. 3.

Entstehungsgeschichte

3.1. Im Jahr 1849 schlug der damalige Erzbischof von Perugia, Kardinal Vincenzo Gioacchino Pecci (der spätere Papst -»Leo XIII.), auf der Provinzialsynode von Spoleto vor, ein Verzeichnis der „gegenwärtigen Irrtümer" aufzustellen. 1851 wurde dieses Vorhaben von der civiltà cattolica aufgenommen. Ursprünglich sollte dieses Verzeichnis zusammen mit der Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis promulgiert werden. Im Frühjahr 1860 erschien dann auf der Grundlage der Arbeit einer Kommission ein Vorentwurf Syllabus errorum in Europa vigentium mit 73 Sätzen. 1860 veröffentlichte der Bischof von Perpignan, Philippe-Olympe Gerbet (1798-1864), einen Hirtenbrief mit dem Titel Instruction sur les erreurs du temps présent. An dieses Dokument war eine Liste von 85 irrigen Sätzen angehängt. Daraufhin wurde in Rom eine neue Kommission eingesetzt, die dieses Schreiben als Grundlage für ihre Beratungen nahm. Deren Ergebnis wurde durch Indiskretion vorzeitig in der Presse veröffentlicht. Eine weitere Kommission unter Vorsitz des Barnabiten Luigi Bilio (1826-1884; später Kardinal) erarbeitete nun wiederum ein neues Verzeichnis, den Syllabus in der vorliegenden Form (ausführliche Beschreibung der Genese bei Goetz 56f.). Der Syllabus wurde zusammen mit der Enzyklika Quanta cura am 8. Dezember 1864 durch Staatssekretär Antonelli den katholischen Bischöfen zugeschickt. Damit erschien er exakt zehn Jahre nach der Bulle Ineffabilis Deus (Dogmatisierung der „Unbefleckten Empfängnis"). Napoleon III. (reg. 1852-1870) und andere Herrscher versuchten vergeblich, die Verkündigung des Syllabus in ihren Staaten zu verhindern (Näheres dazu: Kath. 45 [1865] 245f.). Nennenswerten Widerstand durch die Bischöfe gab es nicht. Die Zustimmung der Bischöfe ergibt sich auch aus der Adresse an den Papst aus dem Jahr 1867 (abgedruckt: Kath. 47 [1867] 137f.), gegen welche kein Bischof sich öffentlich geäußert hat. 3.2. Die großen geistigen Veränderungen des 18. Jh. vollzogen sich im wesentlichen ohne spürbare Mitwirkung der Kurie. Seit der -»Französischen Revolution fühlte die

478

Syllabus

Kurie ihren Einfluß weniger durch konfessionelle oder dogmatische Streitigkeiten, sondern durch die Auswirkungen der - » A u f k l ä r u n g und des deren Erbe vertretenden Liberalismus (-•Liberaler Katholizismus) bedroht. Die Aufklärung, die zu Beginn des 18. Jh. nur sehr wenige Menschen erfaßt hatte, zeigte spätestens seit Friedrich dem G r o ßen (reg. 1740-1786) Auswirkungen in der Öffentlichkeit. Die militärischen Auswirkungen der Französischen Revolution hatten das Verhältnis der politischen Kräfte erheblich verändert. In Frankreich w a r der katholischen Kirche der größte Teil des Kirchengutes verlorengegangen. Auch in den deutschen Territorien wurde durch den Reichsdeputationshauptschluß der Kirche ein großer Teil des Kirchengutes entzogen. Ebenso verminderte die Entstehung konfessionell gemischter Staaten den Einfluß der Kurie auf die Regierungen und das Volk. In fast allen Ländern Europas wurde politisches Denken, insbesondere die Autorität des Staates, zunehmend rational gedeutet und legitimiert. Die Kurie n a h m die Auswirkungen der Gedankenwelt der Aufklärung und des Liberalismus nicht als geistige Herausforderung w a h r , sondern als Angriff auf die Kirche und auf die sittliche O r d n u n g der Menschen. Dementsprechend trat das Lehramt nicht in eine intellektuelle Auseinandersetzung mit diesen Gedankengebäuden (deren Vertreter die Kurie in der Enzyklika Quatita cura als „schlechtgesinnte M e n s c h e n " bezeichnete) ein, sondern sie wollte diese Ideen autoritär unterdrücken. Offensichtlich glaubte man in der Kurie, mit diesen M e t h o d e n auf der geistigen Ebene ebenso erfolgreich zu sein wie J a h r h u n d e r t e davor auf territorialer Ebene durch die Gegenreformation (-»Katholische R e f o r m und Gegenreformation). Der Syllabus war zweifellos ein H ö h e p u n k t der Abgrenzung des -»Papsttums gegen die moderne Welt und gegen alle innerkirchlichen liberalen Bestrebungen. 4.

Wirkungsgeschichte

Das Anliegen von Pius IX. w a r die Betonung der Autorität der Kirche gegen die rationalistischen und laizistischen Bestrebungen seiner Zeit. Dies ist bereits der Enzyklika Qui pluribus zu entnehmen, die er zu Beginn seiner Amtszeit am 9. November 1846 veröffentlichte. Bereits mit Leo XIII. ging die Kurie von ihrem harten Abgrenzungskurs ab. Insofern sind die Aussagen des Syllabus eher „ p a p s t b e d i n g t " als „zeitbedingt" einzuschätzen. Auch mit dem Syllabus vermochte die Kurie nicht, die Auswirkungen neuzeitlichen Denkens aufzuhalten. Manches, was im Syllabus verdammt wurde, z. B. die Glaubens- und Gewissensfreiheit, war inzwischen in vielen Verfassungen garantiert. Die nach 1918 entstandenen Verfassungen stehen in diversen Punkten wie im Schul- und Eherecht im Widerspruch zum Syllabus. Auch der Einfluß des Papsttums auf die Staaten verlor in der Folgezeit an Bedeutung. Mit dem Sieg Preußens über Österreich 1866 und der liberalen Revolution in Spanien 1868 sank deren Ausrichtung nach R o m . 1870 ging der Kirchenstaat verloren. Faktisch hat die Kurie im Laufe der Zeit, kirchenrechtlich u.a. durch das Reichskonkordat von 1933 und dogmatisch insbesondere durch Aussagen des II. -»Vatikanum (1962-1965), viele der Negationen des Syllabus stillschweigend aufgegeben. Quellen DH 2901-2980.

Literatur Roger Aubert, Der Syllabus u. seine Folgen: HKG(J) VI/1 ('1978) 750-756. - Johann Joseph Ignaz v. Döllinger, Die Speyerische Seminarfrage u. der Syllabus (1865): ders., KS, hg. v. Franz H. Reusch, Stuttgart 1890,197-228. - Jakob Frohschammer, Beleuchtung der päpstlichen Enzyclica vom 8. December 1864 u. der Verz. der modernen Irrthümer, Leipzig 1865 2 1870. - Friedrich H. Geffcken, Staat u. Kirche in ihrem Verhältnis gesch. entwickelt, Berlin 1875, 562f. - Leopold Karl Goetz, Der Ultramontanismus als Weltanschauung aufgrund des Syllabus, Bonn 1905,49f. - Franz Heiner, Der Syllabus in ultramontaner u. antiultramontaner Beleuchtung, Mainz 1905. - Ders., Die Maßregeln Pius' IX. gegen den Modernismus, Paderborn 1910. - Friedrich Heyer, Die kath. Kirche vom Westfälischen Frieden bis zum ersten Vatikanischen Konzil, 1963 (K1G N 1). - Paul

Symbol I

479

Graf v. Hoensbroech, Der Syllabus, seine Autorität u. Tragweite, München 1904. - Giacomo Martina, Pio I X , 3 Bde., Rom 1 9 7 4 - 1 9 9 0 . - Karl Rönneke, Pius' I X Enzyklika u. Syllabus vom 8. Dezember 1864, Gütersloh 1891. - Klaus Schatz, Vaticanum I. Bd. I. Vor der Eröffnung, 1992 (KonGe.D) 2 9 - 3 5 . - Clemens Schräder, Der Papst u. die modernen Ideen, Wien 1864 2 1867.

Dietrich Hub

Symbol I. II. III. IV.

Philosophisch Religionsgeschichtlich Systematisch-theologisch Praktisch-theologisch

S. 481 S. 487 S. 491

I. Philosophisch (Literatur S.481)

Ein Symbol ist in einem weit gefaßten Sprachgebrauch dasselbe wie ein Zeichen, in einem engeren eine bestimmte Art von Zeichen. Dem ursprünglichen griechischen Wortsinn nach ist es das „Zusammengeworfene". Durch das Zusammenpassen verschiedener Teile eines Ganzen, z.B. eines Ringes, sollen sich Personen gegenseitig ihrer Identität oder ihrer Rechte versichern können. Auch im späteren Wortgebrauch wird das Symbol zumeist als die Art von Zeichen verstanden, für die ein Zusammenpassen oder eine Analogie von Zeichen und Bezeichnetem vorausgesetzt ist, z. B. wenn ein Ring als Symbol der Ewigkeit verstanden wird. Damit steht das Symbol in der Mitte zwischen frei vereinbarten, konventionellen Zeichen auf der einen Seite und Symptomen oder Anzeichen (natürlichen Zeichen) auf der anderen, die über das Verständnis kausaler Zusammenhänge auf verborgene Ursachen zurückverweisen, wie z. B. Rauch auf Feuer oder körperliche Symptome auf eine bestimmte Krankheit. Der Begriff des Symbols hängt in der Philosophie jedoch von der jeweiligen philosophischen Gesamtkonzeption ab. In der neueren Philosophie wurde dem Symbol eine unverzichtbare Funktion für die Erkenntnis des Übersinnlichen zugesprochen. Nach J.H. Lambert ist die „symbolische Erkenntniß uns ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Denken" (Lambert II, 11). Das Denken, als Verbinden verschiedener Begriffe verstanden, kann sich nicht unmittelbar auf „Sachen" beziehen, die zur gleichen Zeit empfunden würden. Wir benötigen zum Denken Zeichen, die wir ihrerseits empfindend, d.h. unmittelbar oder symbolisch verstehen können, so daß eine Verständigung über ihre „Bedeutung" nicht erst noch nötig ist. Nur dann können wir voraussetzen, daß die Zeichen für die Begriffe für alle und zu jeder Zeit „dasselbe" bedeuten. Aber auch wenn wir erst noch nach einer „Bedeutung" fragen müssen, ist die Antwort nur verständlich, wenn wir sie in Zeichen darstellen können, nach deren Bedeutung nicht wiederum gefragt werden muß, weil sie ohne weiteres, d.h. symbolisch verstanden wird. Nach -»Goethe stellt sich in der wahren Symbolik das Allgemeine in einem Einzelnen unmittelbar dar, z. B. in einem einzelnen Menschen „der" Mensch bzw. das Menschliche. Solch eine unmittelbare Beziehung, vor allen konventionellen Festsetzungen, läßt sich, im Unterschied zu den symptomatischen Erscheinungen oder „Anzeichen", nicht (kausal) erklären. Über diese allgemeinen Merkmale hinaus wurde der Symbolbegriff durch I. -»Kant philosophisch genauer bestimmt. Aller Erkenntnis liegt nach Kant die Unterscheidung des in der Erkenntnis näher zu Bestimmenden nach den „Vorstellungsarten" voraus, in denen es „gegeben" ist: 1. die „charakteristische" Vörstellungsart, in der sich die Sinnlichkeit der Zeichen ganz zurücknimmt und auf eine unsinnliche Bedeutung verweist, so daß zur Erklärung der Zeichenrelation nur der Verweis auf die Konvention übrigbleibt, 2. die „schematische" Vorstellungsart als ein „Verfahren", einem allgemeinen Begriff

480

Symbol I

sein „Bild" zu verschaffen, damit man sich darunter etwas vorstellen kann, ohne daß es jedoch zu einer abschließenden oder „ a d ä q u a t e n " Vorstellung kommen könnte, und 3. die „symbolische" Vorstellungsart, die über eine Analogie mit der Beschaffenheit sinnlich gegebener Gegenstände auf Intelligibles verweist und es auf diese Weise dem Menschen als einem Sinnenwesen zugänglich macht. So ist z. B. das Schöne „das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (...) gefällt es mit einem Ansprüche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüth zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewußt ist" (Kant, Kritik der Urteilskraft: Kants Werke V, 353,13-18). Als „Zeichen vom Zeichen" (Kant, Nachlaßreflexion 3398) weist das Symbol rein ästhetisch über sich als empirischen Charakter hinaus und auf Intelligibles hin. Indem das Symbol als Zeichen „erkannt" und nicht mit der Sache verwechselt wird, verhindert es den unbedachten „Übergang" zur Vorstellung eines von ihm bezeichneten „Gegenstandes". Kant warnt vor einem „Mysticism der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum Symbol diente", nicht als Symbol versteht, sondern „zum Schema macht, d.i. wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen", die es bei Menschen nicht geben kann, „der Anwendung der moralischen Begriffe unterlegt und ins Überschwengliche hinausschweift" (Kant, Kritik der praktischen Vernunft: Kants Werke V, 70,36-71,3). Das Gute bleibt, auch wenn es dem Menschen als einem sinnlichen Wesen im schönen Gegenstand symbolisch zugänglich ist, „übersinnlich" und deshalb auch ungegenständlich. Auch G.W.F. -»Hegel erörtert das Symbol vornehmlich im Zusammenhang mit der Philosophie des Schönen und der Kunst. Nach ihm hat das „selbständig ausgebildete Symbol" „den Charakter der Erhabenheit". Die Idee überragt in ihm ihr äußeres Dasein (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik: SW XII, 408). Beide Seiten sind im Symbol so verknüpft, daß der sinnliche Ausdruck sich auf die symbolisierte Idee auswirkt. Er ermöglicht zwar erst deren Auffassung, engt sie aber auch ein. Unter diesem Aspekt ist das Symbol „wesentlich zweideutig" (ebd. 411). Es läßt zweifeln, „ o b eine Gestalt als Symbol zu nehmen ist oder nicht" und ob das Gegebene „eigentlich oder zugleich uneigentlich, oder auch etwa nur uneigentlich genommen werden soll" (ebd. 411 f.). Dieser Zweifel hört erst auf, wenn die Bedeutung hinreichend umschrieben und das Symbol dadurch befriedigend interpretiert wird. Der Geist „bedarf der Symbole in Zahlen, Linien, geometrischen Figuren nicht", weil er die Sprache hat (Hegel, Geschichte der Philosophie: SW XVII, 121). Aber „besonders der Verstand eilt schnell zum Symbol und zur Allegorie, indem er Bild und Bedeutung trennt", dem Symbol eine feste Bedeutung gegenübersetzt „und dadurch die Kunstform zerstört" (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik: SW XII, 419). In der Philosophie E. Cassirers erscheinen dagegen Sprache, Mythos und Wissenschaft, „die verschiedenen Grundformen des Verstehens" (Cassirer I, V), gleichermaßen als „symbolische Formen". Dabei erhält die Sprache die Funktion, auch die beiden anderen „ G r u n d f o r m e n " , das mythische Denken und die moderne Wissenschaft, als symbolische Formen zu reflektieren und damit jeder ihre eigene Weise der Welterschließung zuzugestehen. Mit der analytischen Philosophie (-»Philosophie, analytische) wird dem logischen Symbolismus, dessen Berechtigung Kant auf die Mathematik eingeschränkt hatte, wieder eine grundlegende Bedeutung zugesprochen. Im Interesse des logischen Kalküls wird davon ausgegangen, d a ß Symbole „ f ü r " die Sachen selbst genommen werden können. Dem entspricht die sprachtheoretische Voraussetzung, es müsse prinzipiell möglich sein, die „Bedeutung" von Symbolen sprachlich zu umschreiben. Demnach ist die Sprache als diejenige -»Semiotik verstanden, in die alle übrigen Semiotiken und damit auch alle symbolischen Formen übertragen werden können, die aber selbst in keine andere übertragen werden kann (vgl. Coseriu 6). Das Symbol erscheint in der philosophischen Verwendung dieses Begriffs durchweg als ambivalent: Es verweist „unmittelbar" oder doch in einer zur gleichen Zeit nicht

Symbol II

481

oder nicht mehr nachzuvollziehenden Weise, die „archetypisch" oder „archäologisch" nachzukonstruieren versucht wird, auf das Symbolisierte und bindet dadurch das Intelligible an die jeweilige Möglichkeit seiner sinnlichen Darstellungen. Literatur Ernst Cassirer, Phil, der symbolischen F o r m e n , 3 Bde., D a r m s t a d t 1 9 5 6 - 1 9 5 8 . - Eugenio C o seriu, Z e i c h e n , S y m b o l , Wort: Z u r Phil, des Z e i c h e n s , hg. v. T i l m a n B o r s c h e u. Werner Stegmaier, B e r l i n / N e w York 1992, 3 - 2 7 . - G e o r g W i l h e l m Friedrich Hegel, SW, hg. v. H e r m a n n G l o c k n e r , Stuttgart-Bad Cannstatt 1965. - I m m a n u e l K a n t , Kants Werke. A k a d e m i e - T e x t a u s g . , Berlin 1968. - J o h a n n Heinrich L a m b e r t , Phil. Sehr., hg. v. H a n s - W e r n e r Arndt, 2 Bde., Leipzig 1764 u . ö . ( N a c h d r . Hildesheim 1965).

Josef Simon

II. Religionsgeschichtlich 1. Das Symbol als Kategorie des Heiligen 2 . D a s S y m b o l als anthropologische Kategorie 3 . Pragmatische S y m b o l f o r s c h u n g bzw. Typologie 4 . Vergehen und B e w a h r e n / W i e d e r e n t d e c k e n von Symbolen (Literatur S. 4 8 4 )

1. Das Symbol als Kategorie

des

Heiligen

Die religionsgeschichtliche Interpretation des Symbolbegriffs nimmt insofern eine besondere Stellung ein, als der Vorgang der religiösen Erkenntnis bereits als Mysterium gedeutet werden kann. Die Mysterien von Eleusis vollzogen sich in Worten und Handlungen, doch so, daß sie dem Mysten mehrdeutig, rätselhaft blieben: Die Gottheit spricht in Rätseln, gibt das Unaussprechliche (zó äpptjrov) den Gläubigen nur in einer Geheimlehre weiter (vgl. Dörrie 3). Nur über Symbole ist die Teilhabe am Heiligen möglich; ja, „das Symbol ist ein Teilhaben des Heiligen an seiner aktuellen Gestalt" (van der Leeuw 510). Gadamer bezeichnet es sogar als „das geheimnisvolle Erkennungszeichen ...[, das] dem Unenträtselbaren der Hieroglyphen nahe steht" (Gadamer, Symbol 24). Damit wird -»Goethes berühmte Definition aus den Maximen und Reflexionen von der Religionswissenschaft aufgenommen: „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendigaugenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" (Nr. 752: Goethes Werke, Hamburg, XII '1967, 471). Bezeichnend für die religionsphänomenologische Schule ist der fast synonyme G e b r a u c h von „ s y m b o l i s c h " und „ h e i l i g " . R . - » O t t o schuf mit seiner „ n u m i n o s e n Deutungskategorie heilig" den theoretischen R a h m e n , in dem sich der Symbolbegriff entwickeln k o n n t e (Berner 17). G . van der - » L e e u w spricht von einem S y m b o l d a n n , wenn „ein Stattfinden des H e i l i g e n " geschieht (van der Leeuw 5 1 0 - 5 1 2 ) , wenn das Heilige dem Profanen gegenübersteht. F. - » H e i l e r n i m m t die Symbolvorstellung der Mysterienkulte wieder auf und formuliert: D a s G e h e i m n i s G o t t e s ist „ d e m M e n s c h e n f a ß b a r nur in u n v o l l k o m m e n e n Hüllen ..., Gleichnissen, Bildern ... und S y m b o l e n " . „ V o m G ö t t l i c h e n " k ö n n e man „ n u r mythisch, d.h. [!] symbolisch denken und r e d e n " (Heiler 2 8 8 ) . Für Gustav M e n s c h i n g ( 1 9 0 1 - 1 9 7 8 ) wird die „Religionswissenschaft des Verstehens weithin zum S y m b o l v e r s t e h e n " (Mensching, Religion 14), und „ m a c h t h a l t i g e P h ä n o m e n e ... [werden] zu Symbolen der numinosen M a c h t " (bei Berner 19). D i e S y m b o l e werden gestiftet, wenn sich die G o t t h e i t offenbart; sie repräsentieren die G o t t h e i t in W o r t und Kult. Religionsforschung wird damit zur verstehenden Symbolforschung. M i r c e a Eliade ( 1 9 0 7 - 1 9 8 6 ) trägt dem R e c h n u n g , indem er behauptet, d a ß „alle religiösen Fakten einen symbolischen C h a r a k t e r " tragen, weil sie „ a u f eine metaempirische W i r k l i c h k e i t hinzielen" (Eliade, Anmerkungen 119). In diesem Z u s a m m e n h a n g bedient sich Eliade des Begriffs „ H i e r o p h a n i e " , in der und durch die ein „ p a r a d o x a l e s Z u s a m m e n f a l l e n von heilig und p r o f a n " geschieht. E r deutet die Religionsgeschichte selbst als eine Aneinanderreihung von Hierophanien (Eliade, D a s Heilige 7 . 1 2 ; ders., Religionen 1 9 — 2 3 . 5 4 f . ) . D e m S y m b o l k o m m t bei Eliade eine soteriologische Bedeutung zu; denn es stellt d a s menschliche Bedürfnis d a r , „die H i e r o p h a n i s a t i o n der Welt ins Unendliche zu v e r l ä n g e r n " (Eliade, Religionen 5 0 7 ; ders., D a s Heilige 5 2 - 5 5 ) . Die einzelnen S y m b o l e fügen sich dabei zu einem überzeitlichen Symbolismus zusammen, den Eliade auf die Religionswissenschaft angewendet wissen will (Eliade, S y m b o l i k ) .

482

Symbol II

2. Das Symbol als anthropologische

Kategorie

Die wissenschaftstheoretische Neuorientierung der Religionswissenschaft rückte auch den Symbolbegriff innerhalb der Methodendiskussion in einen neuen Zusammenhang: Gegenüber Eliade, dem vorgeworfen wird, er benutze seine Phänomenologie zu einem normativen, wenn nicht gar „theologischen" (zumindest metaphysischen) Ansatz (vgl. Berner 22), fordert man nun für das Verständnis der Symbole eine genaue Kenntnis der kulturellen Kontexte (z.B. Jan van Baal [bei Berner 22f.] und van Baaren 520) und betont statt eines romantischen „Pansymbolismus", wie er seit -»Novalis gebräuchlich ist („Symbole sind Mystifikationen": Novalis, Logologische Fragmente 399: Briefe und Werke, hg. v. Ewald Wasmuth, Berlin, III 1943, 167; vgl. Goldammer 286), wieder die ursprüngliche Kommunikationsfunktion, welche die Symbole besitzen, d.h. die Rückkehr zu ihrer Zeichenfunktion (Goldammer 290: „Sinnzeichen"). Damit kommt es zu einer deutlichen Differenzierung des Begriffs (Waardenburg 443f.449f.: „Zeichensystem"). Schließlich hänge die Auswahl der Symbole von der Wirklichkeit des Menschen und nicht vom religiösen Objekt ab (!), sei also anthropologisch strukturiert und nicht transhistorisch oder gar theologisch, was schon an der Vergänglichkeit der Symbole deutlich werde (Biezais XXVI). 3. Pragmatische

Symbolforschung

bzw.

Typologie

3.1. Forschungsanleitungen in kontextuellen Deutungsmustern. Klassifizierungen, wie sieM. Lurker (Terminologie 103 f. [Einteilung in zwölf Symbolgruppen]), F. Vonessen (Symbolbegriff 14 [Einteilung in drei Symbolgruppen]), H. Jung („eine gemeinsame interdisziplinäre Basis": H. Jung 65 [elf Symbolgruppen]) vornehmen, überzeugen nicht (kaum berücksichtigt wird z.B. der Mehrdeutigkeitsfaktor von Symbolen). Ich schlage vor, die Gruppen nach dem Schema: „Symbolische Bezeichnung" — „Symbolische Bedeutung bzw. tertium comparationis" - „Religionsgeschichtlicher Bezug" zu ordnen, und nenne dafür nachstehend 15 Symbolbedeutungskomplexe, ohne freilich dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. 1. Kosmos/Raum und Zeit verweisen auf Mikro-Makro-Kosmos/Yin und Yang verweisen auf altorientalische Schöpfungsmythen/chinesische Kosmogonien; 2. Erde und die Natur - Matrix des Lebens/Fruchtbarkeit/Ernährerin - chthonische bzw. Muttergottheiten (Rhea; Kybele)/Dea Natura (Orphiker)/Tod und Auferstehung; 3. Mensch - Urbild - Abbild/Mann und Frau - Anthropomorphismus: Indische Religionen; 4. Sexualität - Ehe/Zeugung als das aus dem au/ißäX)xiv hervorgehende (irrationale) Dritte - Zeugungs- und Fruchtbarkeitsriten; 5. Tiere - Gefährten und Feinde des Menschen/Verwandtschaft bzw. Interdependenz zwischen Mensch und Tier (Mehrdeutigkeit von Symbolen) - Medien zwischen Göttern und Menschen/Kult- und Opfertiere/die Schlange als ein ambivalentes Kultsymbol/Theriomorphie/Totemismus; 6. Berge, Felsen, Steine - Axis Mundi - Göttersitz/Phalluskulte; 7. Pflanzen und Bäume - Beseeltheit - Paradies; 8. Metalle und Edelsteine - Talismane/heilende Wirkung - Magie und Astrologie; 9. Wasser/Brunnen/Quelle/Fluß - Leben/ Wiedergeburt (alternative Symbolik) - Urozean/Paradies/Sintflut/Taufe; 10. Feuer - Ambivalenz von Heilen und Zerstören - eschatologisches Gericht/„Weltenbrand"; 11. Licht und Finsternis Komplementarität und Mehrdeutigkeit/Leben und Tod/Gut und Böse - Lichtmetaphysik (Gnosis)/ Erleuchtung des Buddha/Gott-Engel - Satan-Dämonen; 12. Weg - Lauf der Gestirne/„Ordnung" - Nachfolge/Achtfältiger Pfad, Heilsweg: Via sacra; 13. Brücke - Verbindung von Unbewußtem und Bewußtem - Diesseits und Jenseits (Cinvat-Brücke); 14 Traum - Erscheinungsform des Unbewußten: Wünsche, Ängste, sexuelle Triebe, Tod-Symbolik - „Traumzeit" in den Mythen indigener Völker; 15. Märchen - Bildhafte Präsentation übersinnlich-magischer Geschehnisse - Nähe und Unmittelbarkeit des Numinosen (Archetypen).

3.2. Kontextuelle Einschränkungen erforderlich. Die von F. Herrmann herausgegebene Reihe Symbolik der Religionen (SyR) stellt eine Art „Religionsgeschichte auf symbolischer Grundlage" dar. Das Ergebnis ist eine verwirrende Fülle an Mythen und Riten, die es alle in irgendeiner Weise mit zum Teil mehrdeutigen Symbolen zu tun haben, aber letztlich doch keine überzeugenden Aussagen zum Thema bieten. W. Kirfel hat die Situation für die indischen Religionen auf den Punkt gebracht: „die indische Sym-

Symbol II

483

bolik" kann man „mit einem Dschungel vergleichen, durch den man sich nur langsam und mühevoll einen Pfad zu bahnen vermag, ohne das Ganze auf einmal erfassen zu können" (Kirfel, Hinduismus 11). Dieses Urteil läßt sich mehr oder weniger auf alle in dieser Reihe vorgestellten Religionen beziehen. Die Religionswissenschaft sollte darum aus der Fülle des Symbolkosmos einige wenige signifikante Symbole herausgreifen und sie in dem ihnen eigenen Kontext zu interpretieren versuchen. A n zwei Beispielen, die diese Voraussetzungen offensichtlich erfüllen, läßt sich der Sachverhalt deutlich m a c h e n : 1) D. Seckel zeigt, wie der B u d d h i s m u s a u s einer anikonischen zu einer s y m b o l f r e u n d l i c h e n „ R e l i g i o n " w u r d e , i n d e m z. B. die F u ß s p u r e n des B u d d h a , d e r B a u m d e r E r l e u c h t u n g , d a s R a d d e r Lehre, die L o t u s b l ü t e u n d d e r S t ü p a , in d e m die Reliquien des E r h a b e n e n a u f b e w a h r t w e r d e n , sehr bald von der G e m e i n d e als „ S y m b o l z e i c h e n " verstanden u n d akzeptiert w o r d e n sind. Auf einer weiteren Stufe der jetzt religionswissenschaftlich vergleichenden I n t e r p r e t a t i o n e r k e n n t m a n in ( „ h i n t e r " ) d e m B a u m der E r l e u c h t u n g den B a u m des Lebens, die Axis tnundi, hinter d e m Stüpa d e n Weltenberg, hinter d e m R a d d e r Lehre ein S o n n e n s y m b o l als Herrschaftsinsignie u s w . Altes S y m b o l u n d neues figúrales Bild ergänzen e i n a n d e r b z w . stehen n e b e n e i n a n d e r . D a d u r c h e r f ä h r t d a s Symbol eine Universalisierung: Die „ h ö c h s t e Wahrheit ist z w a r b i l d l o s " , k a n n „sich aber o h n e Bilder nicht m a n i f e s t i e r e n " (Seckel 166). D o c h auch die M a n i f e s t a t i o n ist n u r Spiegelbild, Schatten, Reflex, wie m a n noch an d e r Genese des S a m ä y a - M a n d a l a v o m „ Z e i c h e n " (spirituelle Essenz eines Heiligen) zur b l o ß e n , d . h . leeren geometrischen F o r m (Dreieck o d e r Kreis [ M a n d a l a ] ) e r k e n n e n k a n n : Die Leerheit (sünyäta), welche „alle Gegensätze dialektisch t r a n s z e n d i e r t " (ebd. 167), wird d a m i t z u m Symbol der h ö c h s t e n Wahrheit. O f t sind es m e h r e r e S y m b o l e gleichzeitig, die d e m J ü n g e r den B u d d h a w e g zeigen sollen: H a n d g e s t e n (mudra, „Siegel"), sakrales W o r t (mantram) u n d figúrales Bild ( p r a t i m ä ) z u s a m m e n bilden d e n mystischen Leib des B u d d h a , treten aber in d e m Augenblick in d e n H i n t e r g r u n d , in d e m die E r l e u c h t u n g e r f a h r e n wird u n d mit ihr die Aufh e b u n g aller Symbolik, ein Z u s t a n d , wie er in der anikonischen Phase bereits vorherrschte. In der Leerheit der Z e n - K u n s t u n d d e r Z e n - G ä r t e n w i r f t der universale B u d d h a l e i b keine Schatten m e h r . Was aber weder Bild n o c h Schatten h e r v o r r u f t , partizipiert a m N i r v a n a . 2) A. Schimmel ( 5 7 8 - 6 0 2 ) zeigt a m B u c h s t a b e n s y m b o l i s m u s der Sufi-Literatur, wie der Q u r ' ä n bereits in seinem Schrift-Bild f ü r die islamischen M y s t i k e r zum M e d i u m f ü r G o t t e s ewiges Wort w u r d e . Jeder Buchstabe preist Allah, allen v o r a n d a s alif, der erste Buchstabe des arabischen Alp h a b e t s , mit d e m Z a h l e n w e r t Eins. Er steht f ü r Allah, in ihm ist die S c h ö p f u n g e n t h a l t e n , a u s ihm geht sie h e r v o r . „ A u f d e r Tafel des H e r z e n s ist nichts als d a s alif der Gestalt meines F r e u n d e s " , dichtet Hafiz (gemeint ist dessen Schlankheit, die der Schlankheit des Buchstabens alif gleichk o m m t ) . „ M e i n Lehrer g a b mir keinen a n d e r e n Buchstaben z u m A u s w e n d i g l e r n e n " (bei Schimmel 588). N e b e n d e m alif w u r d e d a s mim als Buchstabe M u h a m m a d s mit d e m Z a h l w o r t vierzig z u m T r ä g e r des G o t t e s wortes: „Lege ein mim in deine Seele u n d ein alif d a v o r " , sagt Shah Abdul Latif (ebd. 592). D e r zweite Buchstabe des A l p h a b e t s b, bä, symbolisiert den ersten S c h ö p f u n g s a k t u n d steht a m A n f a n g der Basmala, der Formel „ I m N a m e n G o t t e s " , mit der der Q u r ' ä n u n d alle Suren beginnen. „Als G o t t die Buchstaben schuf, warf sich d a s ba (anbetend) n i e d e r " , heißt es in der islamischen B u c h s t a b e n s y m b o l i k (ebd. 594). Die K r e a t u r , bä, betet den Schöpfer, alif, a n . Der P u n k t u n t e r d e m Buchstaben b w u r d e von den M y s t i k e r n als d e r A u s g a n g s p u n k t betrachtet, von d e m a u s die Bewegung des geschaffenen Universums ihren Lauf n i m m t : W ä h r e n d d a s alif die v o l l k o m m e n e Einheit Allahs symbolisiert, d r ü c k t d a s bä die Vielfalt der göttlichen K r ä f t e aus. W i r sehen an diesem Beispiel, wie auch im islamischen Kontext d a s ursprünglich figúrale Buchs t a b e n s y m b o l auf ein anikonisches „ Z e i c h e n " z u s a m m e n s c h m i l z t , d a s n u r der M y s t i k e r f ü r sich zu d e u t e n v e r m a g , ein P h ä n o m e n , welches f ü r die S y m b o l s p r a c h e des bilderlosen Islam typisch zu sein scheint. Beiden Beispielen ist schließlich die Gegenstandslosigkeit g e m e i n s a m . Was bleibt, u m die letzte Realität, d a s A b s o l u t e schlechthin, a u s z u d r ü c k e n , ist d a s „ N i c h t - m e h r - S y m b o l " , dargestellt in einem leeren Kreis o d e r d e m P u n k t u n t e r einem Buchstaben, der - p a r a d o x e r w e i s e - alles verneint u n d d a m i t alles b e j a h t . Ibn M a n s u r al-Halläg (gest. 921) bringt es in einem Gedicht an Ibn ' A t a „ a u f d e n P u n k t " : „Ich schrieb dir, doch ich schreib' dir nicht,/ s o n d e r n schreibe an meine eigene Seele o h n e B u c h s t a b e n " (bei Schimmel 600).

4. Vergehen und Bewahren/Wiederentdecken

von

Symbolen

Daß Symbole „keine zeitlose Gültigkeit" haben und „geschichtlichen Wandlungen" unterliegen (H. Jung 65), zeigt die Theoriediskussion. Aber Symbole können auch erlöschen oder untergehen. Wenn Mythen nicht mehr durch Riten reproduziert und revitalisiert werden, sterben die im Mythos enthaltenen Symbole teilweise oder ganz.

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Das läßt sich an vielen hier genannten Beispielen aus dem Symbolkanon verifizieren: Wenn der Glaube an die Kraft der Steine und Felsen aufhört, sterben die Symbole für Standhaftigkeit und Fruchtbarkeit. Wenn die Natur nicht mehr als nährende Göttin, sondern nur noch als Objekt verstanden wird, verliert sie ihre Symbolkraft. Wenn der Glaube an den Tod und die Auferstehung Jesu Christi nicht mehr vorhanden ist, wird das Symbol des Kreuzes überflüssig usw. Zumal wenn das Symbol mehrdeutig oder vieldeutig ist, kann ein Teil davon absterben, während der andere überlebt. Durch die Destruktion der Symbole kann die religionswissenschaftliche Forschung zu einem „Spaziergang auf dem Friedhof der toten religiösen Symbole" werden (Biezais XXVI). Andererseits können sich Symbole aber auch regenerieren, indem sie bewußt oder auch gezwungenermaßen wiederbelebt werden. So gewinnt z. B. das alte Symbol des Wassers angesichts der Tatsache, daß seine Ressourcen knapper werden und sich die Wüsten auf der Erde ausdehnen, neu an Symbolkraft (Leben, Wiedergeburt, Paradies). So erhalten kosmogonische Mythen, aber auch die Sternsymbolik durch die Wiederbelebung der Astrologie ihre symbolische Bedeutung zurück (Mikro-/Makrokosmos-Spekulation). Und so wird vor allem der ->Traum von der Tiefenpsychologie als ein Phänomen des Unbewußten neu entdeckt, und damit werden „Symbole der Traumzeit", mit denen die indigenen Völker leben, wiedergefunden. Schließlich können Symbole ( „ W a h r - Z e i c h e n " ) neu auftauchen und unter Umständen auf Dauer Bestand haben. In diese Richtung gehen Bemühungen um eine Revitalisierung der Symbolkultur, wie sie H . T i m m z. B. anhand der säkularen und religiösen Festzyklen unternimmt. Sie bezeichnet er als „Schaubühnen der Spielkultur", die je ihre eigene „Signifikanz" besitzen und „für die Symbolisierung der conditio humana in ihrer konstitutiven Endlichkeit zuständig" sind ( T i m m 150.152). Literatur 1. Jahrbücher

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Peter Gerlitz III. Systematisch-theologisch 1. Zur Grundstruktur der Rede von „Symbol" 2. Begriffsgeschichtliche Hinweise Symbolbegriff in der zeitgenössischen Dogmatik (Literatur S. 490)

1. Zur Grundstruktur

der Rede von

3. Der

„Symbol"

Die Begriffsgeschichte von „Symbol" zeigt, daß sich in der Verwendung dieses Begriffs ein Grundproblem des theologischen (und metaphysischen) Denkens und seiner Geschichte bzw. dessen Anliegen in grundsätzlicher Weise meldet: Wie ist es der menschlichen Zeichen- und Sprachfähigkeit möglich, Anteil am Allgemeinen, Ersten, Absoluten zu erhalten? Aus theologischer Perspektive muß entsprechend formuliert werden: Wie und mit welchen Dingen kann die in Jesus Christus geschehene Offenbarung göttlichen Heils so vermittelt werden, daß Menschen daran Anteil bekommen können und die Freiheit göttlichen (und menschlichen) Handelns dennoch gewahrt bleibt? Kann dies mit Dingen und Zeichen oder (rituellen) Handlungen erreicht werden, bzw. können Worte, Zeichen oder Dinge eine Vermittlungsfunktion ausüben und (unmittelbare) Teilhabe zwischen Menschlichem und Göttlichem, zwischen einem Teil und der Idee eines Ganzen bzw. Wahren gewähren oder herstellen? Die Grundstruktur von „Symbol" - seien es nun Dinge, Worte, Zeichen oder (symbolische) Handlungen - ist gekennzeichnet durch die Erfahrung von Differenz sowie durch den Wunsch nach Identität und Wahrheit; theologisch gesprochen: Es geht um den sachgemäßen Ausdruck der Korrelatton von Menschlichem und Göttlichem mittels einer spezifischen Zuweisung von Bedeutsamkeit. Es ist nur zu verständlich, daß ein solch fundamentales Thema mit anderen korrespondiert. Versteht man den Lebensund Erkenntnisprozeß mehr von der aktiven Seite her, so werden Symbole zum Versuch, Identität oder Sinn herzustellen; versteht man ihn mehr von der passiven Seite aus, dann repräsentieren Dinge „symbolisch" etwas von Sinn, von einem Ganzen bzw. von der heilvollen Offenbarung Gottes; stets geht es um Teilhabe, die man durch Zuweisungen (oder Zugewiesenes) eines Teils fürs Ganze erreichen oder vermitteln will. Verständlich ist es deshalb auch, daß gerade religiöse Menschen den Begriff „Symbol" aufgegriffen haben, um damit - sei es eher im aktiven oder im passiven Sinne - ihre Erfahrungen mit Göttlichem oder ihre Bedürfnisse in dieser Hinsicht zum Ausdruck zu bringen. Die christliche Theologie hat deshalb bestimmte Zeichen/Dinge oder Handlungen (-»Ritus) als Symbole verstanden, weil sie von einem heilvollen Anderen oder Ergänzenden zeugen oder weil sie dazu dienlich sein sollen, das (unsichtbar) Andere „symbolisch" (vielfach dann bedeutungsgleich mit sakramental) mittels Dinglichem „anwe-

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Symbol III

send" sein zu lassen (z.B. Brot und Wein anstelle von Leib und Blut Christi). Der Symbolbegriff wird deshalb hauptsächlich in christologischen und in solchen Zusammenhängen verwendet, in denen es um das umstrittene Verständnis von Teilhabe und Stellvertretung, speziell um das Verhältnis von „Wort und Sakrament" (-»Sakramente) geht. Hilfreich ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen „Symbol" und „metaphorischer Rede". „Metaphorische Rede" kann als das kalkulierte Sprachspiel von Ähnlichem mit Unähnlichem bezeichnet werden (Strub), während der Ausdruck „symbolische Rede" bzw. ein „Symbol" in religiösen Zusammenhängen meint, daß etwas Konkretes mit Bedeutsamkeit bewußt „aufgeladen" werden soll oder als „aufgeladen" erfahren wird; Symbole bedürfen der metaphorischen Auslegung, um in ihrer Bedeutsamkeit verstanden zu werden, wobei diese Auskunft keine historische oder ontologische Rangordnung von „Symbol" und „Metapher" impliziert. 2. Begriffsgeschichtliche

Hinweise

2.1. Das griechische Verb avßßäkkeiv kann so divergierende Bedeutung haben bzw. in solch verschiedener Hinsicht verwendet werden, wie es die folgenden deutschen Verben zum Ausdruck bringen: „zusammenwerfen, verbinden, sammeln, vergleichen, erschließen, sich vereinbaren". Das Substantiv aojißokov kann dementsprechend bedeuten: „Vertrag, Losung, Zeichen, Glaubensbekenntnis, Erkennungszeichen, Sinnbild, Merkmal". Grundsätzlich kann deshalb schon im klassisch-griechischen Denken unterschieden werden zwischen der Verwendung von aöfißokov als „etwas ist Symbol für etwas" im Sinne von: „Etwas wird als Teil eines anderen gedeutet, und zusammen bilden sie ein Ganzes"; der Gedanke der Komplementarität ist dabei vorherrschend (so z. B. bei Plato, smp. 191d; Aristoteles, gen. anim. 7 2 2 b l l ) , und der Verwendung von „etwas ist Symbol von etwas Anderem", nämlich im Sinne von „Paßwort, Erkennungszeichen, Repräsentation" - etwas, das ein Anderes, Unsichtbares repräsentiert (vgl. Müri 37ff.). Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Bedeutungen als ursprünglich gelten kann. 2.2. In den Mysterienkulten wurde „Symbol" vielfach als heilige Formel gebraucht, was zu einem allegorischen Symbolverständnis führte. Vermutlich ist die Bedeutung von „Symbol" als -»Glaubensbekenntnis (symbolum fidei) in diesem Kontext zu suchen (ein erster Beleg bei Cyprian, ep. 69,7). In späteren, mittelalterlichen Erklärungen dessen, warum die Glaubensbekenntnisse als symbola bezeichnet wurden, wird dieser Zusammenhang mit den Mysterienkulten kaum mehr wahrgenommen, und der Begriff wird eher in Anlehnung an -»Rufinus (symbolum ... Graece et indicium dici potest et collatio, PL 21,337a) verwendet. Bei -»Augustin wird der Begriff - vielleicht noch im Wissen um seine kultische Bedeutung - im Sinne eines Treueverhältnisses gebraucht (vgl. serm. 212: PL 38,1058). Die schillernde Verwendung von „Symbol" als Merkmal für und/oder Repräsentation von etwas Anderem - und damit die von den Mysterienkulten (s.o. 2.1.) angeregte Traditionslinie wird einerseits durch die allegorisierendc Mytheninterpretation der Stoiker und andererseits durch die mystisch-theologischen Spekulationen (insbesondere durch Pseudo- -»Dionysius Areopagita) verstärkt bzw. erhält dadurch (vgl. Müri 26) eine folgenreiche Hintergründigkeit, die eine Abgrenzung zur Allegorese schwierig macht. So kann -»Clemens von Alexandrien in seinen Stromata sagen, daß die Wahrheit verhüllt überliefert werde in „Rätseln, Symbolen, Allegorien und Gleichnissen" (str. V,21,4). Da es in der pseudo-dionysischen Tradition um eine anagogische Erkenntnisbewegung von der Mannigfaltigkeit der äußeren Dinge zu ihrer verborgenen Einheit geht, haben „Symbole" (gemeint sind irdische, sinnliche Dinge) Anteil an der Interdependenz von Einheit und Vielheit bzw. an der Repräsentation der verborgenen (metaphysischen) Einheit, die „hinter" der Vielfalt der sinnlichen Erscheinungen gedacht bzw. geglaubt wird. Der mittelalterliche Streit um das angemessene Sakramentsverständnis (-»Sakramente) speziell des Abendmahls ist hierfür paradigmatisch; allerdings werden diese theologischen Auseinandersetzungen nicht mit dem griechischen Begriff des o6(tßo?.ov, sondern mit den lateinischen Begriffen Signum und sigtiificatio geführt. Die semantische Spannung von „verbergen und manifestieren" in der Bedeutung von „Symbol" korrespondiert in jener Zeit auch mit dem Problem des Verständnisses von analogia und similitudo

489

Symbol III

im Blick auf die R e d e von G o t t . S y m b o l i s c h e Erkenntnis wird mit derjenigen der „unähnlichen

Ähnlichkeiten" gleichgesetzt (vgl. bei -»Hugo von St. Viktor: Symbolum est collatio formarum insibilium ad invisibilium demonstrationem [PL 1 7 5 . 9 4 1 B ] ) ; damit scheint die Bedeutung von „ S y m b o l " auf die Darstellung von U n s i c h t b a r e m , Geistigem festgelegt zu sein. T h e o l o g i s c h e Sachverhalte — d.h. vor allem s a k r a m e n t a l e Z u s a m m e n h ä n g e - symbolisch darzustellen, heißt in der pseudodionysischen Traditionslinie: sinnliche G e g e n s t ä n d e mit geistiger Bedeutung aufzuladen bzw. sie Geistiges bzw. Göttliches repräsentieren zu lassen.

2.3. Neben diesen wirkungsgeschichtlich wichtigen Verwendungen von „Symbol" hat -»Aristoteles eine weitreichende andere Verwendung von „Symbol" eingeführt: ,.Symbol" erhält bei ihm auch die Bedeutung von (Sprach-)Zeichen (int. I,16a); dadurch wird „Symbol" zum terminus technicus für ein willkürlich eingesetztes Sprachzeichen bzw. zum Wechselbegriff von orjfiETov; hier wird also der Begriff „Symbol" eher im aktiven Sinne (s.o. 1.) verwendet. Von Cicero wird dieser aristotelische Gebrauch mit nota übersetzt (top. VIII,35) und parallel zu Signum für das Mittelalter (genauer: dessen logisch-semantische Terminologie) verbindlich; der griechische Ausdruck avfißoÄov wird erst im 15. Jh. wieder häufiger verwendet. Es ist verständlich, daß -»Thomas von Aquino von seiner aristotelischen Tradition aus über die Verwendung von „Symbol" im Sinne der pseudo-dionysischen Tradition urteilt: theologia symbolica non est argumentativa (Thomas, Sent. Libri de sensu et sensato: ders., Op. omnia. Iussu Leonis XIII P.M. ed., Rom, XLI1970, C 51a). Symbolische Redeweise (figura) wird infolge solcher Beurteilung im 17. Jh. dann vielfach mit dem Begriff des „-»Emblems" gleichgesetzt; die Folge davon ist dann wiederum, daß „Symbol" zum Sammelbegriff für spielerische, figúrale Repräsentation (Sinnbilder) von allgemeinen Sentenzen wird. werden beide Traditionslinien miteinander verschränkt, 2.4. In der Reformationszeit bzw. beide Traditionen stehen in der theologischen Intention -»Luthers zur Debatte. Faßt man die reformatorische Theologie Luthers - ausgehend vom Ablaßstreit und damit als eine fundamentale Kritik am mittelalterlichen Bußverständnis - als eine neue theologische Konstitution des Verhältnisses von „Wort und Sakrament", dann wird deutlich, daß Luther sowohl gegen beide Traditionen des Symbolbegriffs angehen mußte als auch Elemente von beiden benutzen konnte, um das extra nos des allen Menschen gegebenen Heils in und durch Jesus Christus zu betonen. Diese christologische Zentrierung (Christus ist sacramentwn und exemplum) soll sowohl die mittelalterliche, traditionelle und sakramentale Objektivierung des Heils als auch seine Reduzierung auf ein Symbolverständnis, das es als sprachlich produzierte Erkenntnisleistung individualisieren könnte (-•Zwingli), abwehren. Daher blieb für eine reformatorische Theologie, die sich an diejenige des frühen Luther hielt, der Symbolbegriff theologisch immer verdächtig bzw. wurde kaum in dezidierter Weise verwendet. 3. Der Symbolbegriff

in der zeitgenössischen

Dogmatik

3.1. Angesichts der fundamentalen Problematik des Symbolbegriffs verwundert es auf den ersten Blick nicht, daß die evangelische Dogmatik des 20. Jh. kaum auf den Symbolbegriff eingegangen ist. Der kurze Blick auf die Theologie Luthers hat gezeigt, wie erheblich die Gefahren bei der Verwendung des Symbolbegriffs sind bzw. welche Abgrenzungen zu beachten sind, wenn das Anliegen Luthers gewahrt bleiben soll. Es ist deshalb nur allzu verständlich, daß auch im Gefolge und im Umfeld der Theologie K. -»Barths von „Symbol" kaum geredet wurde, nachdem Barth frühzeitig allen Anklängen an eine „analogia-entis-Lehre" (vgl. Barth, KD I, VIII) vehement eine Absage erteilte. Daß aber jede theologische Verwendung des Symbolbegriffs Anleihen bei einer Analogielehre (-»Analogie) machen muß, wird anhand von P. Tillichs theologischem Denken durchgehend deutlich. 3.2. P. -»Tillich situiert im Rahmen seiner für seine Theologie fundamentalen Methode der Korrelation konsequent Bedeutung, Funktion und Gebrauch des religiösen

490

Symbol III

Symbols. Weil danach alles Endliche am Sein des Unendlichen partizipiert, muß die Sprache des Glaubens symbolisch sein; weil aber andererseits der Mensch an die Kategorien der Endlichkeit gebunden ist, ist alles symbolische Reden (z. B. das Symbol „Reich Gottes") zweischneidig. Allerdings versucht Tillich diese Ambivalenz an einem entscheidenden Punkte zu überbieten, wenn er sagt, daß „ G o t t das Sein-Selbst ist"; an anderer Stelle formuliert er: „Alles, was über G o t t gesagt werden kann, ist symbolisch. Diese Behauptung ist eine Aussage über Gott, die selbst nicht symbolisch ist" (Syst. Theol. II, 15f.). Dieser Versuch Tillichs, Gottes Gottheit in ganz anderer Weise, als es Barth versuchte, zu schützen und Gottes Freiheit zugleich zu wahren, gelingt deshalb nicht, weil mit diesem „univoken Symbolismus" (Wenz) jegliche Differenz hinsichtlich der Rede von Gott aufgehoben ist. Tillich verfällt damit einem metaphysisch-mystischen Denken, das in der Tradition des Pseudo-Areopagiten (s.o. 2.2.) gepflegt wurde. Wie ebenfalls im Anschluß an den mittelalterlichen Sakramentenstreit ausgeführt wurde: Wenn alles symbolisch zu verstehen ist, verlieren sowohl die Sprache wie die damit angesprochenen Referenten ihre Konturen bzw. ihre epistemische Kraft. 3.3. Obwohl G . Ebeling ausdrücklich an einer Sprachlehre des christlichen Glaubens interessiert war, lag ihm an einer Präzisierung des Symbolbegriffs anscheinend wenig. Symbole - und damit kann Ebeling so Verschiedenes wie das Kreuz Christi oder die Trinität (vgl. Ebeling, Dogmatik III, 529) bezeichnen - haben für ihn die Funktion, „einen komplexen und interpretatorisch unausschöpfbaren Sachverhalt in dem Konzentrat eines Leitbildes zu vergegenwärtigen" (ebd. II, 405). Vermutlich in Anlehnung an Tillichs Symbolverständnis nimmt W. Pannenberg vor allem im Zusammenhang seiner Abhandlung zum Sakramentsverständnis und hinsichtlich der Darlegungen eschatologischer Themen den Symbolbegriff verstärkt auf. Die Symbolik beider Themenbereiche sieht Pannenberg in der „Gewähr der künftigen Teilhabe an dem Heil des neuen Lebens ..., das an Jesus schon Realität geworden ist" (Pannenberg, Syst. Theol. III, 593). Durch die eschatologische Akzentuierung der theologischen Aussagen und Urteile bei Pannenberg werden „symbolisch" und „zeichenhaft" vielfach synonym verwendet. Die Ausdrücke „ S y m b o l " und „Zeichenhandlung" werden funktional im Blick auf die Erfahrung von Evidenz der Verheißungen des Glaubens verstanden. Pannenberg knüpft damit vorsichtig an die areopagitische Tradition von „ S y m b o l " an und will damit zum Ausdruck bringen: Der christliche Glaube ist auf Evidenz und Unmittelbarkeit der Erfahrung von Heil mittels der Symbole angewiesen (vgl. ebd. III, 142ff.), bzw. von „ S y m b o l " ist dann theologisch zu sprechen, wenn es um die wirkmächtige Gegenwart des inkarnierten Logos „für u n s " geht. 3.4. Der spärliche, vorsichtige — um nicht zu sagen undifferenzierte - Sprachgebrauch von „Symbol, symbolisch" in der protestantischen Theologie der Gegenwart und die Tendenz, Sachverhalte des Glaubens - berechtigterweise - immer mehr „metaphorisch" (s.o.) zu verstehen, können dahingehend verstanden werden, daß die Rede von Gottes Handeln weniger im Sinne einer symbolisch verstandenen Unmittelbarkeit als vielmehr im Sinne kognitiven Verstehens bzw. dessen Paraphrasierung (vgl. Dalferth 274ff.) interpretiert wird. Gleichwohl — eine verstärkte Aufarbeitung der gegenwärtigen sprachphilosophischen Diskussion könnte zeigen, ob mit dem in der Tradition so stark strapazierten Begriff „ S y m b o l " vermutlich immer schon der Versuch unternommen wurde, die „ G r a m m a t i k " des christlichen Glaubens im Sinne einer bestimmten Sprachlogik und damit auch eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise bliebe theologische Rede der eingangs genannten Grundproblematik auf der Spur. Literatur Gustaf Aulen, Das Drama u. die Symbole. Die Problematik des heutigen Gottesbildes, Göttingen 1968. - Hans-Dieter Bastian, Auge u. Ohr, Sehen u. Hören: Prakt.-theol. Hermeneutik. Ansätze

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Symbol IV

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Werner Brändle

IV. Praktisch-theologisch 1. D a s S y m b o l als fundamentale praktisch-theologische Kategorie 2 . Vollzugsformen symbolischer K o m m u n i k a t i o n 3 . Auswirkungen auf die F ä c h e r Praktischer T h e o l o g i e 4 . Aufgaben historischer W ü r d i g u n g 5 . Aufgaben der Orientierung im Blick a u f die Z u k u n f t (Literatur S. 495)

1. Das Symbol als fundamentale

praktisch-theologische

Kategorie

Zunehmend wird auch praktisch-theologisch in protestantischer Sicht die zentrale Bedeutung des Symbols erkannt. Auf katholischer Seite bestand immer schon eine grö-

492

Symbol IV

ßere Affinität zu dem Symbol als Ausdruck liturgisch meditativ verankerter -»Frömmigkeit und -»Spiritualität. Die Sonderstellung des Symbols als heiliges Zeichen (Guardini; Kaspar), als „ B r ü c k e des Verstehens" (vgl. den Sammelband Das Symbol - Brücke des Verstehens) zwischen Denken und Sein, -»Technik und -»Magie, Begriff und —»Bildern, Erkenntnis und -»Bekenntnis, -»Wort bzw. -»Predigt und -»Sakrament, -»Natur und -»Geist (Morris; Sperber; Lincke), Konstruktion und Dekonstruktion (Beuscher/ Zilleßen 1 1 4 - 1 1 7 ) , Darstellung und Mitteilung (vgl. -»Schleiermacher) ermöglicht den Vorrang des Symbols als tragender Kategorie für -»Religion und -»Kunst und kulturelle -»Kommunikation überhaupt. Hier haben sich besonders die Erkenntnisse von P. -»Tillich und S.K. Langer weitgehend auch praktisch-theologisch durchgesetzt, daß Symbole als repräsentative Zeichen gegen technisch funktionale Bezeichnungs-Zeichen dadurch abzugrenzen sind, daß sie mit ihrer Darstellung Teilhabe ermöglichen. Im Unterschied zu technischer (digitaler) Eindeutigkeit entsteht analoge bzw. paradoxe Deutbarkeit, die nicht auf Beliebigkeit, sondern auf Deutlichkeit mit dem Spielraum der Freiheit verweist. Deshalb sind Symbole zugleich interpretationsbedürftig wie -fähig (Ricceur). In dieser Schlüsselfunktion entspricht das Symbol in der Welt der -»Sprache(n) der Metapher bzw. insbesondere in biblischer Tradition dem Gleichnis, ist aber von Allegorie deutlich abzugrenzen. Zwischen technischer Kausalität und Magie ergibt sich der Zwischenraum „unspezifischer Genauigkeit", den H. Domin als die Pointe lyrischer Kommunikation aufgewiesen hat (Domin 59). Tillich hat mit Recht sich dafür eingesetzt, symbolische Äußerungen nicht mit der Wertung „nur ein Symbol" zu quittieren, sondern mit der Erkenntnis „nicht weniger als ein Symbol" zu würdigen, womit die für Kunst und Religion, wenn nicht sogar für -»Kultur im Sinne geselliger Freiheit einzig zutreffende Ausdrucksform wahrgenommen wird. Allerdings ist die Welt der Symbole samt ihrer Logik geschichtlichem Wandel und kultureller Pluralität unterworfen und darf auch nicht von dem Realitätsprinzip des Wissens samt dessen Machbarkeit wie von der Wahrheit des abgründigen Grundes aller Symbolik, theologisch gesprochen: von Gott, getrennt, wohl aber unterschieden werden. Anschaulich treffend ist das Symbol mit der Himmelsleiter (Gen 28,12), nicht dem Himmel, verglichen worden (Jetter 24 Anm. 1). Damit ergibt sich die Aufgabe einer kritischen Symboltheorie, was die Frage einschließt, wieweit die —»Kritische Theorie dem Wahrheitsanspruch symbolischer Wahrnehmung gerecht wird, da sie mit Recht zwar die Gefahren, Symbole als Klischee oder Idol zu mißbrauchen, entschlossen bedenkt, aber möglicherweise die Bildungschance der Bilder in ihrem symbolischen Charakter verkennt. Hier zeigt sich das Recht einer symbolischen Pragmatik (Fellmann), die die Fragen der -»Ethik nicht ohne Rückgriff auf die -»Ästhetik zu lösen versucht. So ergeben sich Affinitäten zu Praktischer Theologie, die Epiphanie und -»Phänomenologie lebensweltlich zu reflektieren hat. Damit ist sie den Erfahrungen von Heiligkeit und Geheiligtwerden bzw. Heiligung auf der Spur (vgl. o. II.). „Essen ist nicht ein Stattfinden des Heiligen, das Sakrament aber ist es. Jedes Geschehen kann ein Stattfinden des Heiligen sein. Wenn es ein solches ist, reden wir von , S y m b o l ' " (van der Leeuw, Phänomenologie 510).

Es gilt also, am Symbol sowohl die Integrationsfunktion als auch den fragmentarischen Charakter samt seiner Grenzen wahrzunehmen, was die theologische Nähe des Symbols zur Paradoxie (-»Paradox) deutlich macht. Daß Symbole gerade die Möglichkeit auch des Götzendienstes eröffnen, zeigt biblisch paradigmatisch die Verehrung des durch Opfer ermöglichten, selbstgestalteten „goldenen Kalbs" (Ex 32,4). Wahrscheinlich läßt sich die These halten, daß Wort bzw. Sakrament sich zum Symbol christlich-theologisch verhalten wie Glaube zu Religion.

493

Symbol IV 2. Vollzugsformen

symbolischer

Kommunikation

Das Symbol kommt in die Praxis durch Vollzugsformen wie vor allem Ritual (-»Ritus) bzw. -»Liturgie, -»Meditation, -»Erzählung, Bibliodrama, Kunst. Die Bedeutung für die Rituale, die durch ihre Symbolik in Interpretation lebendig bleiben, ist gerade gegenüber einseitig kognitiven Liturgiereformen (vgl. Lorenzer) und gottesdienstlicher, wie man heute gern sagt, „Verkopfung" - so schon die Intentionen der Berneuchener Bewegung (TRE 14,72) - , oft zur Geltung zu bringen, darf allerdings nicht zu einer ontologischen Unmittelbarkeits-Ideologie führen, die die Teilhabe als Frömmigkeits-Besitz statt Grenzerfahrung reklamiert. Ebenso ist die Meditation nicht von der Reflexion zu lösen, aber in ihren Zugängen zu den archetypischen, energieorientierten Bildwelten voll einzubringen („Arbeit der Bilder"; vgl. Weder). So sind auch Symbole, wie sie z. B. im -»Traum sich zeigen, als Realität zu akzeptieren und auf Deutung hin zu bearbeiten (C.G. -»Jung). C.E von Weizsäcker hat anthropologisch die personale Koexistenz von wissenschaftlich präziser Erkenntnis und Meditation gefordert. Die Erzählung bietet mit ihren Bildszenen von der Geschichte eine Austragung von Konflikten, die in Symbolen integriert sind und damit die Krisen der Identität zu Sprache und Leben bringen. Da Leben, vom Tod in vielen Formen bis zur Langeweile bedroht, erst in seiner Dramatik tief und entscheidungshaltig erfahren wird, sind Arbeitsformen wie Bibliodrama elementarer Zugang und Umgang mit Symbolik. Schließlich hat alle Kunst Symbolcharakter (Volp). In der Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung und geistiger Kreativität eröffnet sich symbolischer -»Sinn, besonders pointiert in nicht-gegenständlicher Kunst (vgl. Farbensymbolik), der figuralen Musik und der „konkreten Poesie", was gerade die Verweigerung der direkten Übersetzung in alltägliche Brauchbarkeit in sich schließt und gegen —»Kitsch in der Kirche Qualität setzen kann. Dabei darf nicht verkannt werden, daß Symbole einen unmittelbaren Eindruck von allerdings eben nicht eindimensionaler Einheit hervorrufen, weil die Bilder wie die Namen integrale performante Kraft der Gleichzeitigkeit haben.

3. Auswirkungen

auf die Fächer Praktischer

Theologie

In neuerer Zeit ist die Chance kreativer Wahrnehmung durch Symbole in der —»Religionspädagogik konzeptionell explizit geworden, weil Symboldidaktik, insbesondere durch die Arbeiten von P. Biehl, der auch die Beziehungen zur Metapher und der ästhetischen Erziehung grundlegend erschlossen hat, seit etwa 20 Jahren einen wenn auch umstrittenen Nenner für notwendige Reformen darstellt. Auf katholischer Seite haben die Arbeiten von H. Halbfas, in gewisser Weise auch von G. Baudler, in ähnlicher Weise zu einem Paradigmenwechsel geführt. Freilich sind die Unterschiede nicht zu übersehen, die in der Debatte über die kritische Funktion der Symboldidaktik angesichts ontologischer Implikationen, dekonstruktiver Ideologiekritik (Zilleßen, Erfahrungen) und der Forderung nach semiotischer Präzision („Vom Symbol zum Zeichen" [vgl. MeyerBlank]) bzw. Orientierung am biblischen Gleichnis- und Zeichenverständnis (Schröer) zutage treten, aber doch wohl darin eine gemeinsame Front haben, daß Symbole gegen Klischees und Idole gelungene Kommunikation ermöglichen, die die Bemühungen um Glauben als ß/W««gsbewegung bedeutsam erkennbar werden lassen. Die Bedeutsamkeit für die -»Seelsorge bzw. Pastoralpsychologie hat vor allem J. Scharfenberg aufgewiesen, der damit die Wahrheit der Deutung der Symbole durch S. -»Freud als Symptome der Konflikte des Es und Überich mit dem Realitätsprinzip des Ich in kreative Deutung als konstruktive Auseinandersetzung von Konflikten überführte und damit auch Anschlüsse an die Konzeptionen ermöglichte, die das reiche Angebot der Würdigung des kollektiven Unbewußten durch C.G. Jung gerade auch in theologischer Hinsicht praktisch wahrnehmen. Dazu wäre der Bogen zur Gestalttherapie zu schlagen, zumal Symbolik immer auch szenische Körpererfahrung einschließt.

494

Symbol IV

Die Nähe zur Liturgik (vgl. auch Gutmann) bis zu Ausdruckformen wie sakralem -•Tanz ist offenkundig, und manche Angst protestantischer Liturgen vor Kryptokatholizismus erscheint inzwischen abgetan, z. B. im Umgang mit Taufkerzen. W. Jetters Untersuchung von Symbol und Ritual als „anthropologischen Elementen des Gottesdienstes" war hier bahnbrechend. Die Relevanz für die -»Homiletik ist noch näher auszuarbeiten. H. Albrecht hat schon die Bedeutung für eine soziale Homiletik aufgezeigt. Ganz neu sind die Erkenntnisse für —•Öffentlichkeitsarbeit und -»Werbung, eindrucksvoll dokumentiert in dem Katalog Das Paradies im Angebot. Die Beschäftigung mit dem Image von Institutionen erschließt ebenfalls die Wirksamkeit von Symbolen. Hier sind die soziologischen Erkenntnisse zur politischen Symbolik (Pross) auf die eben auch mental existierende Ekklesiologie, u.a. im Zusammenhang mit den derzeitigen „Leitbild-Prozessen" von Gemeinden und Kirchenkreisen (Jäger 238 Anm. 34), durchzuarbeiten. 4. Aufgaben

historischer

Würdigung

Schon der Blick in die Geschichte der -»Schriftauslegung zeigt, daß die Fragen der symbolischen Kommunikation und der Mehrdimensionalität des Schriftsinns immer wieder lebendig wurden. Das hat auch Auswirkungen auf den alten Sinn von Symbolik als Konfessionskunde, weil die Unterscheidungslehren sich immer auch an Symbolen orientieren, die in Glaubensfragen keine Adiaphora (TRE 16,234f.) sind. Hier ist eine ökumenische Psychologie zu entwickeln, für die die Geschichte reiches Anschauungsmaterial, nicht zuletzt im Umgang mit dem -»Kreuz als Symbol, bietet. Eine Formgeschichte religiöser Symbolik in der Kirche, angefangen vom Kirchenraum und -»Kirchenbau bis zur Analyse der —»Sakramentalien sowie der Segenshandlungen (—»Segen/ Segen und Fluch), wäre ergiebig. Besondere Aufmerksamkeit ist in der Theoriebildung auf Schleiermachers Theorie des symbolisierenden Handelns in dem Zusammenhang von Darstellung und Mitteilung zu richten. Wichtige Erkenntnisse dazu bietet die Studie von M. Kumlehn. Auf katholischer Seite hat W. Fürst in Anlehnung an I. -»Kants Kritik der Urteilskraft theologisch weiterführend eine symbolisch-kritische Methodologie skizziert, die als Grundlage einer Pastoralästhetik in die Zukunft weist. 5. Aufgaben

der Orientierung

im Blick auf die

Zukunft

Entgegen der These, die Symboldidaktik habe bereits ihr Ende erreicht, scheint viel mehr dafür zu sprechen, daß ihre Tragweite, gerade auch in praktischen Vollzügen hinreichend zu erkennen, als Lernprozeß erst in den ersten Schritten vorangekommen ist und weitere Zukunft hat. Notwendig ist die fächerüberschreitende Reflexion in Korrespondenz mit den -»Sozialwissenschaften, die den kategorialen Rang der Symbole würdigt. Hier liegen auch ökumenische Chancen und Einsichten in die Erfahrungen von Medienreligion (-»Medien 6.). Die im Protestantismus sich vollziehende Erneuerung der Wahrnehmung des Verhältnisses von Kirche und Kultur, deutlich erkennbar in dem seit Februar 1999 auf zwei Jahre angelegten Konsultationsprozeß „Kritik und Gestaltung", zeigt die kulturtheologische Bedeutung der Symbole. In diese Richtung weisen auch H. Timms Bemühungen um Erneuerung der Symbolkultur. Es geht um das lebenswichtige Interesse an einer Kultur der Begegnung und Versöhnung in einer gegenwärtig technologisch formierten Wissensgesellschaft. Die Bildung von Symbolen und die Bildung durch Symbole hat, gerade im Anknüpfen an den tiefen Sinn des Symbols als der antiken „Erinnerungsscherbe" der Gastfreundschaft (Gadamer 41), als Einheit von (Wieder-)Erkenntnis und Bekenntnis, praktisch eschatologischen Sinn, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und in Gleichnissen von dem Jawort Gottes zu seiner Welt aufgeschlossen für Glauben, Hoffnung und Liebe leibhaftig zu leben. J . Kleppers eindrückliche Verse weisen in diese Richtung: „Durch Stern und Krippe,/ Kreuz und Taube,/ durch Fels und Wolke/ Brot und Wein/ dringt unaufhörlich unser Glaube/ nur tiefer in Dein Wort hinein" (zitiert nach Lipffert 7).

Symbol IV

495

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496

Symeon der neue Theologe

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Henning Schröer

Symbolik -»Konfessionskunde Symeon von Mesopotamien -»Makarius (Symeon von Mesopotamien) Symeon der neue Theologe 1. Leben

1.

2. Werk

(949-1022)

(Quellen/Literatur S. 4 9 8 )

Leben

Hauptquelle ist die um 1054 entstandene Vita Symeons aus der Hand seines Schülers und Bewunderers -»Nicetas Stethatos, deren Verherrlichungstendenz durch autobiographische Angaben in Symeons eigenen Werken eine Korrektur findet. Symeon wurde 949 in Galatai im kleinasiatischen Paphlagonien geboren. Er hat seine Ausbildung in -»Konstantinopel erhalten und soll bereits mit 14 (!) Jahren Senator geworden sein (Kazdan 4 - 1 0 rät zur Vorsicht bei der Rezeption der Daten der Vita). Jedenfalls versuchte sein Onkel, der ihn aufzog, ihn in den Palast einzuführen, doch fühlte sich Symeon schon früh nicht recht wohl in dieser Laufbahn (Hymne 20, 101-122). Erst nach einer ersten Vision 970 (Katechese 22, 8 8 - 1 0 4 ) und aufgrund seiner letztendlichen Verweigerung gegenüber einer höfischen Karriere wurde er 977 Mönch im Kloster der Studiten (-•Mönchtum) bei seinem geistlichen Vater Symeon Eulabes (gest. 986/87). Schon vor Ablauf eines Jahres wechselte er wegen diverser Meinungsverschiedenheiten mit den Studiten in das Kloster des Hl. Mamas über, wo er 979 Priester und ab 980 Abt wurde. Nach Protesten wegen der Verehrung als -»Heiligen, die er Symeon Eulabes erwies, und wegen seiner strengen Klosterführung, die zur Anklage bei Patriarch Sisinnios II. (996— 998) führten, mußte er auf Betreiben des Synkellos Stephanos um 1005 abdanken und sich 1009 ins Exil bei Chrysopolis zurückziehen. Teilweise rehabilitiert, wurde er 1011 nach Konstantinopel gerufen, doch blieb er an seinem Verbannungsort und baute ein Kloster der Hl. Marina auf. Er starb dort nach langer Krankheit am 12. März 1022. Dementsprechend wird das Fest dieses zunächst umstrittenen Heiligen der -»orthodoxen Kirche am 12. März gefeiert (entgegen Biedermann 106 und Uthemann 342 ist er in allen griechischen Büchern, und auch in russischen, unter diesem und keinem anderen Datum verzeichnet). Die kontroverse Diskussion um die Bedeutung seines Beinamens hat keine allgemein anerkannte Erklärung gefunden, doch spricht vieles dafür, daß er als neuer Theologe dem alten Theologen Johannes dem Evangelisten (-»Johannesevangelium) gegenübergestellt werden sollte (vgl. Ubersicht bei Uthemann 330f.). 2. Werk Symeon ist ein sehr bedeutender Vertreter der mystischen Theologie (-»Mystik) der orthodoxen Kirche. Seine Schriften wurden 1035 von dem Studiten Nicetas Stethatos redigiert, was ihre Verbreitung sicherte, aber auch zu nicht mehr genau bestimmbaren Eingriffen in die Texte führte. Ein kleiner Teil von ihnen wurde 1782 von Nikodemos Hagioreites in die Philokalia (-»Mönchtum) aufgenommen. Ein Abschnitt aus seinen -»Hymnen (Hymnen 17, 4 8 - 7 0 und 73 - 7 7 ) wurde für ein Symeon zugeschriebenes Kommunionvorbereitungsgebet verwendet (TipoXöyiov tö filya, Athen 1986, 5 1 4 - 5 1 6 ) ,

Symeon der neue Theologe

497

dessen Zusammenhang mit dem Werk Symeons noch zu untersuchen ist. Er schrieb 34 Katechesen, meist Vorträge aus seiner Zeit als Abt; zwei Eucharistiai an Gott für die empfangene -»Gnade; drei theologische und 15 ethische Reden; zwei Gruppen von 33 und 24 Reden, die teilweise identisch sind und die B. Krivochéine als Bearbeitungen der Katechesen für ein breiteres Publikum erkannt hat; 58 Hymnen der Gottesliebe, mit denen Symeon dem Fünfzehnsilber in -»Byzanz zur Verbreitung verhalf und in denen er seine Visionen beschreibt; praktische und theologische Kapitel in der Form von Centurien (998-1009 entstanden); einen früher -»Johannes von Damaskus zugeschriebenen Brief über die -»Beichte, der Brisanz gewinnt wegen der darin ausgesprochenen Ansicht, d a ß die Vollmacht zum Binden und Lösen vom persönlichen Gnadenstand abhängig ist und nicht von irgendeiner Weihe; drei kleine, in der Vita des Nicetas enthaltene Briefe; einen Dialog mit einem Scholastikos, den der Herausgeber É. des Places gegen Krivochéine -»Diadochus von Photice zuspricht; schließlich eine allerdings verlorene Vita seines geistlichen Vaters Symeon Eulabes. Unecht sind die Schrift über das Gebet und die Reden über die Leidenschaften. Aus diesem umfangreichen Werk ist seine Lehre gut zugänglich, jedoch erst seit den Ersteditionen (!) der Hauptwerke ab den 50er Jahren des 20. Jh. Mit deren Vorliegen setzte ein stärkeres Interesse für Symeons Theologie ein (wesentlich: Krivochéine in Sources Chrétiennes), die 1974 eine vorläufige Gesamtdarstellung durch W. Völker erhielt. Seit den 80er Jahren ist ein regelrechter Boom in der Symeon-Erforschung zu beobachten, der durch das rasche Voranschreiten der Editionstätigkeit Nahrung findet. Detaillierte Einzeluntersuchungen fehlen dennoch, auch die Edition der 33 und 24 Reden und die Übersetzung seiner Werke ins Deutsche.

Symeon steht mit seiner Theologie in der Tradition der zu seiner Zeit bereits viel gelesenen Werke von Isaak dem Syrer, Johannes Klimakus und -»Maximus Confessor, dazu der Viten der Wüstenväter und -mütter u.a. W. Völker charakterisiert ihn als Persönlichkeit, „die auf dem Boden strengster Askese und ernstesten sittlichen Strebens ganz der Schau des göttlichen Lichtes hingegeben war. Sie lebte nicht für sich allein, sondern stand als Abt und Priester in kirchlichen Diensten, beseelt von glühender Liebe und Sorge für das Seelenheil der ihr anvertrauten Mönche, leidenschaftlich bekämpft gerade wegen ihres verzehrenden Eifers" (Völker V). Doch hat Symeon seinerseits seine Gegner barsch und ungerecht angegriffen, eben auch hier leidenschaftlich und weit entfernt von der von ihm angestrebten Leidenschaftslosigkeit. Als Kind nicht einmal von seinen Eltern geliebt (Hymne 20, 98-100), war die liebende Annahme durch Gott für ihn die entscheidende Erfahrung. Seine unangenehmen Züge erklären sich teilweise durch das Nichtertragenkönnen der Abwesenheit der göttlichen Gnade außerhalb der Visionen, die Mystiker in Krisen stürzen kann. Entsprechend den so weit auseinanderliegenden Charaktereigenschaften ist auch die Würdigung seiner Theologie widersprüchlich. Nach T. Ware ist er auf eine ausgewogene Zusammenführung der mystischen Theologie des -»Makarius/Symeon und Isaak von Ninive einerseits und der koinobitischen Anbindung des Mönchtums des -»Basilius von Caesarea und -»Theodor Studites bedacht. A. Kazhdan urteilt pointiert, daß Symeon einen individualistischen Heilsweg propagiert habe, bei dem -»Sakramente und tätige Nächstenliebe eine geringere Rolle spielten. Hierarchie sei für ihn nur im Gehorsam unter den unmittelbaren geistlichen Vater bedeutsam. Doch greift diese Charakteristik Symeons zu kurz. Dies wird deutlich bei der ausführlichen Untersuchung von A. Hatzopoulos zu dem Verdacht, daß Symeon messalianisches (-»Messalianer) Gedankengut aufgegriffen habe. Symeon habe den Wert der Sakramente wie der -»Taufe, der Eucharistie (-»Abendmahl) und der Priesterweihe in kirchlicher Weise gesehen. Kritik an der Hierarchie beziehe sich nicht auf das Sakrament der Weihe, sondern auf das lasterhafte Leben von Bischöfen, Priestern und Mönchen. Auch die große Bedeutung des geistlichen Vaters in der Lehre Symeons sei gänzlich unmessalianisch, ebenso der Ort des Gebetes in der Kirche und nicht in einer Elite. Das göttliche -»Licht werde vom Wesen Gottes unterschieden (Symeon weiß um die Grenzen der Gotteserkenntnis) und ist nur eine von vielen möglichen Gnadengaben.

498

Symeon der neue Theologe

T a t s ä c h l i c h hat er keine systematische L e h r e hinterlassen, sondern beschreibt letztlich i m m e r w i e d e r s e i n e p e r s ö n l i c h e E r f a h r u n g ( w ö r t l i c h : aïaOtjmç,

W a h r n e h m u n g ) , die er

z u m M a ß s t a b e r h e b t g e g e n alle t h e o l o g i s c h e G e l e h r s a m k e i t . V i e l l e i c h t v e r d a n k t er d i e s e r in B y z a n z s e l t e n e n U n m i t t e l b a r k e i t d e r M i t t e i l u n g d e r G o t t e s e r f a h r u n g d e n B e i n a m e n „ n e u e r T h e o l o g e " . B e i d e r E i n s c h ä t z u n g s e i n e s S a k r a m e n t e n v e r s t ä n d n i s s e s ist z u b e a c h t e n , d a ß S y m e o n die T a u f e e b e n s o w i e die E u c h a r i s t i e als W e g d e r E i n i g u n g

mit

G o t t , genauer mit Christus, sieht. D a ß S y m e o n für sich selbst die mystische S c h a u des göttlichen Lichtes als körperlich fühlbare G e g e n w a r t G o t t e s beschreibt und diese S c h a u im Z e n t r u m seiner F r ö m m i g k e i t s t e h t , ist z w a r m i t d e r B e t o n u n g d e r k ö r p e r l i c h e n E r f a h r b a r k e i t n e u f ü r d i e b y z a n t i n i s c h e Mystik, widerspricht aber nicht dem Sakramentenverständnis. Die unmittelbare Wahrn e h m b a r k e i t G o t t e s und die K o n s e q u e n z e n für die asketische ( - » A s k e s e ) L e b e n s f ü h r u n g v e r t e i d i g t e r g e g e n d i e v o n s e i n e n Z e i t g e n o s s e n g e ä u ß e r t e M e i n u n g , e s sei f ü r e i n e n C h r i s t e n des 10. J h . u n m ö g l i c h , w i e d i e H e i l i g e n der V e r g a n g e n h e i t zu l e b e n , ja d i e s o g a r die H e i l s m ö g l i c h k e i t bestreiten. E b e n darin sieht S y m e o n die - » H ä r e s i e

seiner

Zeit (Katechese 29). Quellen G A : Zvfiecòv ó Néoç GeoXôyoç, Eioayioryrj, Kcípevov, fizxáifipaaiç, a/ókia, hg. v. Panagiotes K . C h r e s t o u , 6 Bde., T h e s s a l o n i k i 1 9 8 3 - 1 9 9 0 (Reconstructionism), der den Begriff des „Synagogenzentrums" prägte. Eine solche Einrichtung sollte das kulturelle, schulische, soziale wie auch religiöse Zentrum der Gemeinde werden, damit Juden in einer offenen Gesellschaft eine sinnvolle jüdische Identität fänden. Ein solcher allumfassender Rahmen würde, wie Kaplan meinte, wesentlich dazu beitragen, den sozialen Zusammenhalt zu sichern, der das jüdische Überleben garantieren könnte. Literatur Helmut Eschwege, Die Synagoge in der dt. Gesch., Dresden 1980 = 2 1982. - Steven Fine (Hg.), Sacred Realm. The Emergence of the Synagogue in the Ancient World, New York 1996. - Ders., This Holy Place. On the Sanctity of Synagogues during the Greco-Roman Period, Notre Dame, Ind. 1998. - Pierre Genee, Synagogen in Österreich, Wien 1992. - Gregorii Magni Registrum Epistolarum, hg. v. Dag Norberg, II 1982 (CChr.SL 140A). - Rachel Hachlili, Ancient Jewish Art and Archaeology in the Land of Israel, 1988 (HO 7/1,2B,4). - Dies., Ancient Jewish Art and Archaeology in the Diaspora, 1998 (HO 1/35). - Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Gesch. einer Baugattung im 19. u. 20. Jh. (1780-1933), 2 Bde., 1981 (HBGDJ 8). - Carol Herselle Krinsky, Synagogues of Europe. Architecture, History, Meaning, Cambridge, Mass. 1985; dt.: Europas Synagogen. Architektur, Gesch. u. Bedeutung, Stuttgart 1988 = Wiesbaden 1997. Hannelore Künzl, Islamische Stilelemente im Synagogenbau des 19. u. frühen 20. Jh., 1984 (JudU 9). - Lee I. Levine (Hg.), Ancient Synagogues Revealed, Jerusalem 1981. - Ders. (Hg.), The Synagogue in Late Antiquity, Philadelphia, Pa. 1987. - Ders., The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven, Conn. 1999. - Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die Architektur der Synagoge, Frankfurt a.M. 1988. - Dan Urman/Paul V. M . Flesher (Hg.), Ancient Synagogues. Hist. Analysis and Archaeological Discovery, 2 Bde., 1995 (StPB 47).

Lee I. Levine

Synergismus I. Reformationszeit und Orthodoxie II. Neuzeit

S.518

I. Reformationszeit und Orthodoxie 1. Begriffs-und problemgeschichtliche Einleitung 2. Der synergistische Streit kordistisches Luthertum (17. Jahrhundert) (Quellen/Literatur S.516)

1. Begriffs- und problemgeschichtliche

3. Nachkon-

Einleitung

Der Begriff „Synergismus" (griechisch aovepyeïv) erhielt im Rahmen innerprotestantischer Auseinandersetzungen über das Verhältnis von göttlichem Gnadenhandeln und menschlicher cooperatio im Akt der -»Rechtfertigung bzw. beim Prozeß der Erlösung

Synergismus I

509

(-»Heil und Erlösung) eine Schlüsselbedeutung (Synergistischer Streit; s.u. 2.). Eine ursprünglich polemische, mit dem Parteinamen „Synergisten" für seine Gegner verbundene, von M. -»Flacius Illyricus (Disputatio 98) inaugurierte Verwendung war am Maßstab des an —»Luther orientierten Verständnisses der allein im Handeln -»Gottes am —•Menschen (Monergismus) gründenden Rechtfertigung gewonnen. Flacius sah in den von -»Melanchthon und einigen seiner Schüler gelehrten drei causae Wort, Geist und Wille (s.u. 2.) bei der Bekehrung ein cooperari von Gott und Mensch (ebd. 102). In einem allgemeinen Sinne bezeichnet Synergismus diejenigen Konzeptionen, die in einem geistlichen oder ethischen Mitwirken des Menschen bzw. im Zusammenwirken von Gott und Mensch den Grund bzw. die Ursache des Heilsempfangs sehen. Synergismus wird in der frühneuzeitlichen lutherischen Theologie in der Regel polemisch und häufig promiscue mit (Semi-)Pelagianismus (-»Pelagius/Pelagianischer Streit) verwendet. Von der monergistischen Wertungsperspektive her sind zahlreiche rechtfertigungstheologische und ethische Konzeptionen der altkirchlichen, mittelalterlichen und (früh-)neuzeitlichen Kirchen- und Theologiegeschichte als synergistisch zu bezeichnen. Die Einschätzung des -»Erasmus, daß es von den Zeiten der Apostel bis zu seiner Gegenwart keinen theologischen Schriftsteller außer Mani (—»Manichäismus), J . -»Wyclif und L. —»Valla gegeben habe, der — wie Luther — die Kraft des freien —»Willens in geistlichen Dingen vollkommen aufgehoben habe (De lib. arb. I b 1: ed. Welzig IV, 24), wurde — freilich mit gegenteiliger Wertung — auch von dem schärfsten Kritiker einer innerhalb der lutherischen Reformation auftretenden synergistischen Lehrposition, Flacius Illyricus, im wesentlichen geteilt (vgl. Weimarer Konfutationsbuch VI/1; Flacius, Disputatio 254ff.). Das Zusammenwirken von Gott und Mensch war für führende Theologen der Ostkirche wie -»Origenes, -»Basilius, Johannes —»Chrysostomus, -»Cyrillus von Alexandrien, -»Johannes von Damaskus oder -»Theophylakt von Achrida weithin selbstverständlich; in der lateinischen Tradition spielten kooperative Verhältnisbestimmungen zwischen göttlichem Gnadenhandeln und /nenschlicher Willenstätigkeit in der Heilsaneignung etwa bei —»Tertullian, —»Cyprian, Arnobius (um 300), -»Hilarius von Poitiers und -»Ambrosius sowie in der mittelalterlichen -»Scholastik in den durch die antipelagianischen Grundentscheidungen der westlichen Kirche gezogenen Grenzen eine Rolle. -»Augustins Gnaden- und Willenslehre wurde seit dem 5. Jh. zum Anlaß vielfältiger, zum Teil gegensätzlicher Inanspruchnahmen (Synoden von Arles/Lyon 470/471; Orange 529), insbesondere im 16. Jh. Seine in der Auseinandersetzung mit Pelagius erreichte Position einer in bezug auf den Menschen voraussetzungslosen, allein in Gott begründeten und von ihm bewirkten bona voluntas hinsichtlich der Zustimmung zum Heilsangebot Gottes (s. T R E 4,673,21 f.) wirkte in der abendländischen Theologiegeschichte nicht dauerhaft prägend nach. Die im Rechtfertigungsdekret des -»Tridentinum dogmatisierte Lehre einer von eigenen Werken unabhängigen, anfänglich von der zuvorkommenden -»Gnade Gottes (praeveniente gratia, DH 1525) ausgehenden, in freier Zustimmung zu dieser „weckenden" und „helfenden" Gnade und in freier Mitwirkung mit ihr (ebd.) prozeßhaft vollzogenen Rechtfertigung schloß — in weithin bruchloser Übereinstimmung mit der Tradition (-»Petrus Lombardus, Sent. II dist. 25f.; -»Thomas von Aquino, S.th. 1/11,109-111) die völlige Passivität des Menschen bei der Vorbereitung seines Heils, insbesondere die menschliche Freiheit, die Gnade abzulehnen, aus, verwarf aber zugleich die pelagianische Auffassung, der Mensch vermöge kraft seines freien Willens und ohne die Gnade die Gerechtigkeit vor Gott zu erwerben (DH 1525). Im Kontext der Willenslehre und der Deutung des Rechtfertigungsgeschehens spielte der Begriff Synergismus weniger in den interkonfessionellen als in den innerlutherischen Lehrkontroversen des 16. und 17. Jh. eine überwiegend polemische Rolle.

2. Der synergistische

Streit

Nach der distinkten Definition des Synergismus, die der einem „gnesiolutherischen" Milieu (—»Gnesiolutheraner) zuzuweisende Konrad Schlüsselburg (1543-1619) als erster „Historiker" des synergistischen Streites bot, werden als „Synergisten" diejenigen Theologen bezeichnet, die dem Willen des noch nicht wiedergeborenen Menschen eine bestimmte Fähigkeit, Handlungskraft oder Brauchbarkeit in geistlichen Dingen zuschreiben (Schlüsselburg V, 13). In der Deutung Schlüsseiburgs war Erasmus von Rotterdam der eigentliche geistige Vater des Synergismus im 16. Jh., dessen in der literarischen

510

Synergismus I

Kontroverse mit Luther {De servo arbitrio, 1525: WA 18,600-787) entfaltete „semipelagianische" (BSLK 778,40) Willenslehre insbesondere auf die letzte Ausgabe der Loci theologici Melanchthons eingewirkt habe. Diese sei in Schriften seiner Schüler G. - » M a jor, Paul Eber (1511-1569), J. Pfeifinger (s.u.), V. -»Strigel, Paul Crell (1531-1579) und Christoph Lasius (1504-1572) lehrmäßig ausgeformt, ihr sei dann von Flacius und anderen im sog. synergistischen Streit widersprochen worden. Dieser D e u t u n g ist insofern eine particula veri nicht a b z u s p r e c h e n , als die von M e l a n c h t h o n u n t e r B e r u f u n g auf die Väter in späteren D r u c k e n der tertia aetas seiner Loci verwendete Definition des freien Willens (liberum arbitrium in homine facultatem esse applicandi se ad gratiam, C R 21,659; StA I I / l , 2 4 5 , 3 0 f . m i t A n m . ) der Sache n a c h einerseits in einem breiten theologiegeschichtlichen T r a d i t i o n s s t r o m bezeugt ist (vgl. BSLK 904 A n m . 3; E r a s m u s , De lib. a r b . I b 2), andererseits der von E r a s m u s in seiner A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit L u t h e r b e n u t z t e n Formel (liberum arbitrium ... sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perdueunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere, e b d . I b 10: ed. Welzig IV, 36) n a h e k a m . Die s t a r k e B e d e u t u n g der I m p u t a t i o n s t h e o r i e in der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e des späten M e l a n c h t h o n d ü r f t e die A b l ö s u n g der nova oboedientia als eines eigenen, d u r c h den Geist begründeten, von der Willensz u s t i m m u n g des schon v e r s ö h n t e n M e n s c h e n begleiteten Aktes begünstigt haben. Unbeschadet dessen, d a ß die f ü r M e l a n c h t h o n in der spezifischen Geschöpflichkeit des Menschen angelegte (StA 11/1,245,33-35) Befähigung zur cooperatio nicht im Sinne einer meritorischen Verdienstlichkeit gedacht w a r u n d in ein „ m o n e r g i s t i s c h - p r ä d e s t i n a t i a n i s c h e s " (s. T R E 22,392,42-393,1) G e s a m t verständnis der Bekehrung e i n z u o r d n e n ist, e r f u h r die u n t e r reformatorisch-theologischen Voraussetzungen mißverständliche F o r m e l facultas applicandi se ad gratiam (dazu Schlüsselburg V, 183 ff.) in d e r - » K o n k o r d i e n f o r m e l eine eindeutige Z u r ü c k w e i s u n g (SD 11,78: BSLK 904,19 - 25; vgl. 779,10ff.; 874,5ff.; 876f.). Die F o r m u l i e r u n g der Willenslehre in der Confessio Augustana ( - • Augsb u r g e r Bekenntnis) (Art. 18: BSLK 7 3 , 5 - 8 ; A p o l C A 18; CA invariata: non habet [der M e n s c h ) vim sine spiritu saneto efficiendae iustitiae) ließ I n t e r p r e t a t i o n s s p i e l r ä u m e offen, die die Kontroverse begünstigten. Die Fassung der Willenslehre in der CA variata ( E f f i c i t u r autem spiritualis iusticia in nobis, cum adiuvamur a Spiritu saneto: M e l a n c h t h o n , StA V I , 2 3 , 3 7 - 2 4 , 2 ) spiegelt M e l a n c h t h o n s theologische Weiterentwicklung in dieser zentralen Frage wider.

Ein weiterer, mit synergistischen Heilskonzeptionen verbundener Problemzusammenhang war in der Reformations- und Frühneuzeit durch die Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus gegeben. Luthers Kritik an einer etwa von A. -»KarlStadt, Th. —»Müntzer oder K. -»Schwenckfeld vertretenen, auch in der -*Devotia moderna geläufigen Leidenstheologie, die in der willigen Übernahme der Krcuzesnachfolge eine dispositionelle Voraussetzung des Gnadenempfanges oder in der auf „Entgröberung" oder „Gelassenheit" abzielenden Koordination von göttlichem und menschlichem Willen, und nicht im Handeln Gottes in Wort und Sakrament, die Begründung der Glaubensgerechtigkeit des Menschen sah, galt einer „synergistischen" Position. Die Rezeption der mittelalterlichen Mystik in Frömmigkeit und Theologie des Luthertums vor allem im 17. Jh. war von Versuchen begleitet, synergistische Konsequenzen einzugrenzen oder auszuschließen. Die Debatte um die adäquate Deutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre verbindet den synergistischen thematisch ebenso mit dem sog. majoristischen (-»Major 3.) wie mit dem osiandrischen Streit (-»Osiander 1.). In den majoristischen und den synergistischen Streit waren vornehmlich dieselben Theologen involviert; das strittige Problem war überdies - auch nach Einschätzung der Melanchthonkritiker - seit dem interimistischen Streit virulent (Flacius, Disputatio 371). Flacius bezeichnet seine Gegner im synergistischen Streit deshalb auch bevorzugt als Adiaphoristae (z. B. ebd. 380; ders., Bericht). Im sog. Leipziger -»Interim war zu der Frage, „wie der Mensch vor Gott gerecht werde" - in beinahe wörtlicher Übereinstimmung mit dem Augsburger Interim (Art. 6: ed. Mehlhausen 48) - , ausgeführt worden, daß dies zwar „aus barmhertzigkeit umbsonst, ane unser vordienst" um Christi willen geschehe, gleichwohl aber nicht so, daß Gott „mit dem Menschen" „wircket" „wie mit einem block sondern zeucht jn also, das sein wille auch mit wircket, so er in vorstendigen Jaren ist" (Politische Korrespondenz IV, 116 in Verbindung mit 254).

Synergismus I

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Flacius und Nikolaus Gallus (ca. 1516-1570) waren bereits der Willens- und Gnadenlehre des Interim scharf entgegengetreten und hatten betont, daß die Blockmetapher nicht wegen der darin zum Ausdruck gebrachten völligen Passivität falsch sei, sondern allein deshalb, weil „ein Block ... Gott weder lieben noch hassen" könne. „Aber ein Mensch von Natur hasset und spottet Gott. Rom. 8,1; 1. Kor. 2. Darum handelt Gott als mit dem, des Wille und Herz gar wider Gott ist" (Gallus/Flacius, Der Theologen Bedencken, E l / 2 : zit. nach Preger II, 191 f.). Die im Interim enthaltene Lehrauffassung, daß „der Mensch allein auff das blosse eusserliche ruffen Gottes / durchs wort / aus eignen natürlichen krefften und freyem willen folgen kan [homo potest sua quadam vi sequi vocantem spiritum Sanctum, Confessio et Apologia ... Magdeburgensis, C2 V ] / ehe denn er new widergeborn / odder inwendig durch den heiligen Geist angereitzet und getrieben wird" (Bekentnis Unterricht u. vermanung ... der Christlichen Kirchen zu Magdeburgk, E3'), führte nach Auffassung der Magdeburger Interimsgegner mit Notwendigkeit dazu, daß der Mensch „auch einen rhum zur Seligkeit für G o t t " (ebd.) vorzubringen den Anspruch erhebe. „Als wenn ich in einer zech sässe bey einem reichen mann / und er gebe einen thaler / ich ein heller / und ich rhümete mich hernach / Ich hette dannocht mit dem gezecht / und auch bezalet. talis est synergia" (Flacius, Disputatio 104).

Die aus der Sicht der „gnesiolutherischen" Kritiker des Interim identischen Lehrpositionen zwischen Melanchthon und dem Interim fielen unter das Verdikt, „ein papistisch meritum de congruo und Stücklein vom freien Willen" (Gallus/Flacius, Der Theologen Bedencken, El/2: zit. nach Preger II, 192) einzuführen und die reformatorische Rechtfertigungslehre an einem entscheidenden Punkt auszuhöhlen und damit preiszugeben. Die Schärfe des seit der Mitte der 1550er Jahre eskalierenden synergistischen Streites dürfte nur vor dem sachlichen und religionspolitischen Hintergrund der in bezug auf den lutherischen Protestantismus der Jahrhundertmitte traumatisch wirkenden Interimsproblematik und der ungeklärt gebliebenen theologischen Spannung zwischen den beiden führenden Wittenbergern Luther und Melanchthon in dieser Frage verständlich sein. Zum Ausbruch eines Lehrstreites kam es, als der Leipziger Theologieprofessor und Superintendent Johannes Pfeffinger (1493-1573) im Anschluß an und in Weiterführung von (Schmidt 90f.) Melanchthons Unterscheidung dreier causae, die bei der Bekehrung zusammenwirkten (concurrent, CR 21,658; StA II/l,243,14f.), -»Wort, heiliger -»Geist und menschlicher Wille (verbtim Dei, Spiritus sanctus et humatia voluntas assentiens nec repugnans verbo Dei, CR 21,658; StA H/1,243,15-17), und seiner Betonung eines produktiven Involviertseins des menschlichen Willens (ebd.; StA II/l,243,21) in diesen Prozeß eine zusammenfassende Willenslehre entwickelte, 1555 in zwei Disputationen vortrug (Schlüsselburg V, 14) und 1558 in Wittenberg erneut veröffentlichte (ebd. 180.184.192; Pfeffinger, Antwort B3'f.; ders., De libertate). Als zusammenwirkende causae agentes wurden der durch das Wort wirkende Heilige Geist, der denkende Verstand und der nicht widerstrebende, dem Heiligen Geist willfahrende Wille (Schlüsselburg V, 184) unterschieden. Daß die Initiative für die menschliche Kooperation bei Gott liege, „des Menschen wille zu keinem geistlichen guten werck sich selbs erwecken noch anregen kan / sondern mus vom heiligen Geist darzu erweckt unn angereget werden" (Pfeffinger, Antwort D l ' ; Schlüsselburg V, 185), war für Pfeffinger um der Rechtfertigungslehre willen unaufgebbar; daß freilich der Mensch „von solchen deß H. Geistes Werken nicht außgeschlossen ... und daß seine ... auch darbey thun müsse" (ebd.), galt ihm aber um der menschlichen Verantwortung willen als erforderlich. Zugleich schien die Vorstellung, der menschliche Wille verhalte sich bei der Bekehrung pure passive, die identifizierende Unterscheidung von Frommen und Gottlosen, Erwählten und Verworfenen, Judas und Petrus unmöglich zu machen (Disputatio Pfeffinger, Th. 17: zit. nach Schlüsselburg V, 192; bzw. Flacius, Disputatio 385]). Damit waren die in den synergistischen Streit implizit einbezogenen Fragen der Prädestinationslehre explizit angesprochen.

Nach einer Verwerfung der Lehre Pfeifingers durch einen Thüringer Theologenkonvent (12. Januar 1556, Weimar; N. von -»Amsdorff; E. -»Schnepf; V. -»Strigel) trat zunächst der ernestinische Hofprediger Johannes Stoltz (ca. 1514-1556) diesem in 140 Thesen entgegen (Veröffentlichung Oktober 1558 durch Johannes Aurifaber [ 1 5 1 9 -

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Synergismus I

1575]; abgedr.: Musaeus, Disputatio 354-366; Vorrede Aurifaber: ebd. 351-354). 1558 folgte Amsdorff ( Ö f f e n t l i c h e Bekentnis der reinen Lehre), der Pfeffingers Position mit der Lehrmeinung der Scholastiker („Sophisten / T h o m a s Scotus", D4V; zit. bei Pfeffinger, Antwort B2 r ), der Mensch vermöge sich aufgrund seiner natürlichen Willenskräfte zum Empfang der Gnade zu disponieren, identifizierte. Pfeffinger wies dies mit Grund zurück (Antwort. Auffdie Öffentliche Bekentnis..., 1558), indem er betonte, daß der „eusserliche gehorsam den Menschen ... nicht bereiftet ... zur gnaden" (ebd. C4V) und also der vom heiligen Geist „durchs w o r t " gerührte, angeregte und bewegte Wille sich nicht wie „ein todter stein oder klotz" (ebd. D l v - 2 r ) verhalte, sondern zu „gehorchen und [zu] folgen" (ebd. D2 r ) habe. Flacius eröffnete seine Auseinandersetzung mit Pfeffinger (Refutatio propositionum Pfeffingen de libero arbitrio: Stoltz/Aurifaber, D4 v ff.; Flacius, Disputatio 367-397) mit einer weitläufigen Ubersicht über die Geschichte der Willenslehre, wies die Abhängigkeit der griechischen Kirchenväter - auf die sich etwa Melanchthon (CR 21,658; StA 11/1, 244,2ff.) berufen hatte - von der heidnischen Philosophie nach (ebd. 369f.), um dann über die Darstellung des pelagianischen Streites und die doktrinale Fehlentwicklung der Scholastik auf den Willensstreit zwischen Luther und Erasmus (ebd. 370) und die Veränderungen der Willenslehre in der tertia aetas von Melanchthons Loci einzugehen. Diese Vergegenwärtigung der Problemgeschichte zielte d a r a u f a b , die zentrale Bedeutung des Streitgegenstandes h e r v o r z u h e b e n und die Rolle M e l a n c h t h o n s zu problematisieren. D a s Ziel des Flacius, die Rechtfertigungslehre Luthers i n s b e s o n d e r e von ihren hamartiologischen Voraussetzungen her gegen ein v o n d e n „Synergisten" p r o p o n i e r t e s s c h w a c h e s R e s t v e r m ö g e n des d e m heiligen Geist assistierenden freien Willens festzuhalten, b e d e u t e t e in bezug auf die Willenslehre, d e m „in d a s scheusliche Bild des T e u f e l s " (Flacius, Bericht Cl") v e r w a n d e l t e n natürlichen M e n s c h e n vor der als N e u s c h ö p f u n g des Willens verstandenen W i e d e r g e b u r t allein aktive Feindschaft u n d H a ß gegen G o t t (ebd.) zuzuschreiben. Im Prozeß d e r conversio b z w . rcgeneratio verhalte sich der M e n s c h nicht allein mere passive (Disputatio 382) wie ein Block o d e r ein Stein, s o n d e r n adversative vel repugnative seu hostiliter erga Dei Operationent wie verwachsenes u n d der Bearbeitung d u r c h den göttlichen Bildhauer w i d e r s t r e b e n d e s H o l z . D e r im sog. flacianischen Streit über die E r b s ü n d e z u m A u s t r a g g e k o m m e n e Lehrdiskurs stellt eine u n m i t t e l b a r e Konsequenz der im synergistischen Streit a u f g e w o r f e n e n P r o b l e m a t i k d a r . Die E r b s ü n d e n l e h r e w u r d e f ü r Flacius zugleich zum A n l a ß , die G r e n z e n philosophischer E r k e n n t n i s der natürlichen V e r n u n f t grundsätzlich zu bedenken (De Materiis metisque Scientiarum: ebd. 5 0 9 - 5 4 8 ) .

Neben einer weiteren Schrift gegen Pfeffinger und den stets mitgemeinten Melanchthon (Disputatio de originali peccato et libero arbitrio: ebd. 398-429), die aus einer Verhandlung der Frage im Rahmen einer Jenenser Disputation (10./11. November 1559; abgedr.: ebd. 429-508) hervorging, leitete Flacius die Transformation des theologischen Lehr- in einen religionspolitischen Bekenntniskonflikt ein, indem e r - gegen die Absichten seiner Jenenser Kollegen Schnepf und Strigel, aber mit Unterstützung Herzog Johann Friedrichs II. des Mittleren (1529-1595) - im Nachgang zu dem im Gefolge des Wormser -•Religionsgesprächs von 1557 und des Frankfurter Rezesses gesteigerten innerlutherischen Konflikt die Verurteilung des „Synergismus" Melanchthonischer Spielart im Weimarer Konfutationsbuch (Kap. VI/2; s. TRE 11,208,23 f.) betrieb. Entgegen der Vorstellung, Vernunft und Wille des natürlichen Menschen vermögen bei der Bekehrung und Wiedergeburt mitzuwirken (aovepyeTv), schärfte das Weimarer Konfutationsbuch ein, d a ß der Mensch ganz tot für Gott sei und alles, was den Willen für Gott öffne, vom heiligen Geist geschenkt werden müsse. Außer nachhaltigen Verteidigungen Melanchthons gegenüber Herzog August von Sachsen (MBW 8765; 8802; CR 12,651 ff.) führte dieses Verfahren die Gegnerschaft von Flacius' Jenenser Kollegen V. Strigel herauf. Nachdem Strigel zunächst auf einer Weimarer Synode Flacius entgegengetreten war und seine Weigerung, das Konfutationsbuch anzunehmen, scharfe Repressionen des Landesherrn zur Folge gehabt hatte, kam es zwischen dem 2. und 8. August 1560 in Weimar zu einer Disputation, bei der sich Strigel und Flacius als Hauptgegner gegenüberstanden (Dokumentation des Verlaufs in der von Musaeus 1562/63

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herausgegebenen Disputatio). Dieser D i s p u t a t i o n k o m m t v o r n e h m l i c h d e s h a l b eine w i c h t i g e theologiegeschichtliche Bedeutung zu, weil in ihrem Verlauf ungeklärte D e u tungsalternativen der r e f o r m a t o r i s c h e n A n t h r o p o l o g i e e r s t m a l s umfassend a u f g e w o r f e n w u r d e n , die dann in der K o n k o r d i e n f o r m e l einer gewissen L ö s u n g zugeführt werden konnten. Strigel vertrat die Auffassung, daß durch die Erbsünde die Substanz des Menschen, d.h. die wesentlichen Eigenschaften des Verstandes, des Willens und des Herzens (Musaeus, Disputatio 53), zwar nachhaltig geschwächt und pervertiert, aber nicht aufgelöst sei. Da der freie Wille eine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Substanz sei, könne die Erbsünde ebenso wie die verlorene iustitia originalis nur etwas zu der Substanz Hinzugetretenes, ein Akzidens, sein (utrumque esse accidens, iustitiam originalem, & peccatum originis, ebd.). Die Erbsünde ist für Strigel deshalb ein böses Akzidens an einer ihrem Wesen nach guten substantia. Flacius vertrat in einseitig zuspitzendem Anschluß an Luther, insbesondere seine Auslegung der Genesis (WA 42; 24,153f.), die Gegenthese einer grundsätzlichen Veränderung der menschlichen Substanz infolge der Erbsünde. Der Verlust der mit der iustitia originalis verbundenen imago Dei läßt es für Flacius angemessen erscheinen, von der Erbsünde als der substantia des zu einer imago diaboli entstellten Menschen zu sprechen, wobei er die zum Träger des Bösen gewordene forma substantialis von der noch als Subsistenz von etwas Gutem wirksamen substantia materialis unterschied (Quid manet? [sc. nach dem Fall] manet externum miserum cadaver, et aliquid de anima: sed preciosissima substantia est amissa, videlicet amissa imago Dei, Musaeus, Disputatio 54). Setzte Strigel voraus, d a ß die Erneuerung des M e n s c h e n nicht o h n e kognitive und voluntative Beteiligung des natürlichen M e n s c h e n zustande k o m m e n k ö n n e (ebd. 6 2 . 7 1 ) , s o sah Flacius die auf G o t t e s Z u s a g e ausgerichtete W i l l e n s t ä t i g k e i t des M e n s c h e n als G a b e der göttlichen N e u s c h ö p f u n g an (ebd. 7 4 ) . Beiden Positionen lagen nicht nur unterschiedliche philosophische Prämissen im Verständnis des Akzidens ( F r a n k 6 8 - 7 3 ) zugrunde, sondern auch Differenzen hinsichtlich des Begriffs der conversio: Flacius verstand darunter einen zeitlich eng begrenzten, lebenswendenden A k t der N e u s c h ö p f u n g (so auch S c h n e p f ; Schlüsselburg V, 4 7 1 ) , bei d e m durch das G e s e t z B u ß e und durch das E v a n g e l i u m G l a u b e g e w e c k t werde, w ä h r e n d Strigel B e k e h r u n g als einen das ganze L e b e n umspannenden E n t w i c k l u n g s - und W i e d e r b e l e b u n g s p r o z e ß verstand, der d u r c h M i t w i r k u n g des natürlichen W i l l e n s und k r a f t der k o o p e r i e r e n d e n G n a d e in eine von ständiger B u ß e geprägte E x i s t e n z einmündet (Dens convertit nos per verbum, & inchoat in ttobis conversionem, M u s a e u s , D i s p u t a t i o 19), und sich d a f ü r - nicht o h n e R e c h t a u f Luther berufen k o n n t e (ebd. 2 0 ) . Für Flacius ist die B e k e h r u n g ein wider des M e n schen Willen vollzogener g e w a l t s a m e r Akt G o t t e s , bei d e m der M e n s c h sich pure passive (ebd. 134) verhält. Dies hat ihm - erstmals von Melanchthon (CR 9,603) - den Vorwurf einer manichäischen Ketzerei eingetragen. Denn mit dieser Position schien jede Verantwortung des Menschen für die Abweisung des Heilsangcbots ausgeschlossen zu sein. Strigel hingegen setzte eine aktive Beteiligung der natürlichen Willenskraft des Menschen voraus, bedrohte damit aber die allein in Gottes Gnade begründete reformatorische Rechtfertigungslehre in ihrem Kern. D i e W e i m a r e r D i s p u t a t i o n w u r d e durch H e r z o g J o h a n n Friedrich IL den M i t t l e r e n o h n e Ergebnis a b g e b r o c h e n ; zu der von Flacius und seinen A n h ä n g e r n erhofften Verurteilung Strigels und seiner Lehren k a m es nicht. V i e l m e h r forderte der H e r z o g von beiden O p p o n e n t e n die Vorlage eines L e h r b e k e n n t n i s s e s . Die Versuche der Flacianer, gegen eine sich abzeichnende Trendwende am ernestinischen Hof durch Mobilisierung verschiedener kirchlicher und gesellschaftlicher Kräfte doch noch eine eindeutige Lehrentscheidung zu ihren Gunsten zu erreichen, führten zunächst zur Anwendung der Zensur, sodann zum - von Flacius übertretenen - Verbot ihrer Publikationen (Scholien zu der von P. Eber verfaßten Confessio der Wittenberger über den freien Willen, 1561; Schlüsselburg V, 525 ff.), schließlich zur Vertreibung von Flacius, Johannes Wigand (1523-1587), Simon Musaeus ( 1 5 2 1 1576) und Matthäus Judex (1528-1564) (10. Dezember 1562; Von Enturloubung; Bekentnis von der Enturlaubung) aus Jena. Strigel, der in seinem Bekenntnis (3. März 1562; Musaeus, Disputatio 5 9 1 - 5 9 7 ) und in einer Declaratio (6. Mai 1562: ebd. 597f.) in explizitem Anschluß an -»Bernhard von Clairvaux darlegte,

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daß dem Menschen nach dem Fall die efficacia, nicht jedoch quadam aptitudo et capacitas (Schlüsselburg V, 491), das göttliche Wort aufzunehmen und ihm zuzustimmen (capere, accipere, consentiré, Musaeus, Disputatio 596), verlorenging, wurde rehabilitiert, wechselte aber bald nach Leipzig. Amsdorff (Schlüsselburg V, 546ff.), Heshusius (ebd. 316ff.509ff.), Wigand (ebd. 208ff.), die Mansfelder Pfarrerschaft (ebd. 473 ff.; vgl. Sententia ministrorum verbi, 1562) und - vielleicht schon früher - die Rostocker Theologen (Musaeus, Disputatio 3 3 7 - 3 5 0 ; Keller 134-137) hatten gegen Strigel und zum Teil gegen den später (Stössel, Apología) dessen Position zuneigenden Johannes Stössel (Schlüsselburg V, 490ff., gegen ihn auch J . -»Westphal, ebd. 493ff., und Melchior Wedmann [1529-1597], ebd. 551ff.) Stellung genommen. Die Darlegung seiner Willenslehre im Kontext von Strigels Auslegung des Psalters (zu Ps 95; 119) fand den Widerspruch der Wittenberger Fakultät (Schlüsselburg V, 4 5 2 - 4 6 6 ) und stieß auch - im Rahmen einer Disputation der Tübinger Fakultät - auf Kritik Schnepfs (ebd. 4 6 9 - 4 7 2 ) , so daß Strigel von einer württembergischen Theologendelegation zur Rechenschaft über seine Willenslehre aufgefordert wurde. Die aus diesem Anlaß entstandene Declaratio (6. Mai 1562) wurde von dem vertriebenen Flacius einer scharfen Analyse unterzogen und abermals als synergistisch zurückgewiesen (Musaeus, Disputatio 5 7 3 - 5 8 4 ; Flacius, Erzelung D4" - E4'). Die Veröffentlichung eines wohl etwas früher (ca. 1564) entstandenen, die anthropologischen Konsequenzen des synergistischen Streites systematisierenden Erbsündentraktates in seiner Clavis Scripturae Sacrae (1567) brachte Flacius nach und nach den Widerspruch führender lutherischer Theologen (M. -»Chemnitz; J ->Mörlin; T. Heshusius; s. Mahlmann, Nr. 20) ein und begründete seine Isolation im Luthertum der späteren 1560er und 1570er Jahre. N a c h d e m H e r r s c h a f t s w e c h s e l (1567) im ernestinischen Sachsen lenkte H e r z o g J o hann W i l h e l m ( 1 5 3 0 - 1 5 7 5 ) auf die mit dem K o n f u t a t i o n s b u c h bezeichnete d o k t r i n a l e Linie zurück. Verständigungen zwischen den W i t t e n b e r g e r und den J e n e n s e r T h e o l o g e n (Altenburger K o l l o q u i u m 1 5 6 8 / M ä r z 1569) scheiterten. In dem vornehmlich unter d e m G e s i c h t s p u n k t einer R e p u g n a n z des M e n s c h e n gegen die G n a d e geführten sog. G ö t t i n g e r Bekehrungsstreit ( 1 5 6 6 - 1 5 7 0 ) setzte sich der synergistische Streit auf lokaler E b e n e fort. Auseinandersetzungen mit flacianischen Lehrpositionen im Z u s a m m e n h a n g der Willens- und der E r b s ü n d e n l e h r e bewegten das Lut h e r t u m , zum Teil auch über die R e z e p t i o n der K o n k o r d i e n f o r m e l hinaus. Die im Anschluß an das Altenburger Kolloquium von den Jenenser Theologen im Bekenntnis vom freien Willen (1570; ähnlich: Bekenntnis von fünf streitigen Religionsartikeln, 1570, C 3 l - D 4 ' ) in Anknüpfung an Luthers De servo arbitrio veröffentlichte Lehrposition nahm in der Absage an jedes „mitwircken" (C3 r ) des nach dem Fall in böser Gottfeindschaft lebenden adamitischen Menschen (CT) und in der Betonung seiner völligen Passivität (Klotz/ eifii Kpövov 0vyäzr\p Jipeaßvräxri (Ich bin des K r o n o s älteste T o c h t e r , N r . 1 § 5 : ed. Totti 2). Die Titulierung

Synkretismus V

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Christi als „ A r z t " , die Anreicherung der C h r i s t o l o g i e mit medizinischer M e t a p h o r i k und die Interpretation von Sünde und B u ß e mit T e r m i n i aus diesem Bereich (reiche Belege bei H a r n a c k , M i s s i o n 1 3 8 - 1 4 6 ; Dölger) sind n o c h einmal zu unterscheiden von einer schlichten D a r s t e l l u n g Christi mit den M i t t e l n der A s k l e p i o s - I k o n o g r a p h i e (Beispiele bei D i n k l e r 1 9 - 2 8 mit T a f e l n II/III u. X 1 I / X I I I ) b z w . als S o l / H e l i u s ( B r e n n e c k e , A s p e k t e 138) und der Ersetzung des Natalis Solis Invicti durch das Weihnachtsfest (zuletzt F ö r s t e r 9 7 - 2 1 0 ; die Fragestellung k a n n a u f den ganzen Festkalender ausgeweitet werden: Klauser 3 8 0 - 3 8 7 ) .

3.

Mittelalter

3.1. Die Bedeutung des Begriffs

„Synkretismus"

Der Begriff „Synkretismus" selbst scheint im lateinischen Mittelalter überhaupt nicht verwendet worden zu sein (vgl. z. B. Glossarium mediae et infimae Latinitatis, conditum a C . du Fresne et D. du Cange [ . . . ] , Paris, V I I J 1 8 8 6 , 6 8 9 - 6 9 1 ; so auch Colpe, Phenomenon 37 Anm. 9); im byzantinischen Mittelalter war er aber offenbar bekannter, vgl. den Hinweis auf ein Sprichwort ovyKptjxicrfidv SXEIQ (Du machst Synkretismus) in der einschlägigen Sammlung des Michael Apostolios ( 1 4 2 2 - 1 4 8 0 ) : ovyKprjTiofidv ex^K Eipr/zai ¿ni « ö v öl' äväyKtjv oupßäxajv yivopevcüv ä).Xr]).oiq (XV,80: ed. Leutsch/Schneidewin 6 4 7 , 1 3 - 1 7 ; erwähnt auch bei Erasmus, Adag., chil. I, cent. 1, Nr. 11: ed. van Poll-van de Lisdonk u.a. 126,545f.).

3.2. „Synkretistische

Phänomene"

im

Mittelalter

Im Unterschied zum antiken Christentum ist von denjenigen Forschern, die seit dem 19. J h . die Kategorie „Synkretismus" in einem spezifischen Sinne verwenden, dem M i t telalter bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden: Eine gewisse Beachtung fand das Problem einer angeblichen „Germanisierung des Christentums", die gelegentlich analog zur „Hellenisierung des Christentums" als synkretistischer Prozeß angesehen wird (etwa bei Prien 51 f. oder bei Helm; Ström 2 4 4 - 2 6 2 ; zum T h e m a s. Schäferdiek, Germanisierung [1996]; anders noch Dörries). Die Forschungsdiskussion verrät hier allerdings zugleich auch deutliche ideologische Konnotate bei der Verwendung der Synkretismuskonzeption (Brennecke, Aspekte 1 4 0 - 1 4 2 ) . K. Schäferdiek hat gezeigt, d a ß die Frage nach der „ G e r m a n i s i e r u n g " wegen eines „ g r u n d sätzlichen U n v e r m ö g e n s , den leitenden Begriff des G e r m a n i s c h e n eindeutig zu b e s t i m m e n " , nicht b e a n t w o r t b a r ist ( T R E 1 2 , 5 2 2 , 2 f . ) , und d a m i t a u f das grundsätzliche P r o b l e m des „ S y n k r e t i s m u s " Begriffs a u f m e r k s a m g e m a c h t , der, wie gezeigt w u r d e , i m m e r ein Vorverständnis v o m Wesen des P h ä n o m e n s voraussetzt, in dessen E n t w i c k l u n g „ S y n k r e t i s m u s " konstatiert werden soll. „ M a n k ö n n t e die häufigen synkretistischen Verschleifungen der M i s s i o n s - und Ubergangszeit ... wohl als M o m e n t e einer akuten G e r m a n i s i e r u n g a n s p r e c h e n , o h n e d a ß damit allerdings ein wesentlicher G e w i n n an geschichtlicher Einsicht erreicht w i r d " ( T R E 1 2 , 5 2 2 , 1 6 - 1 9 ) .

Als Belege für das Phänomen „Synkretismus" sind neben der stets ergiebigen „Volksreligiosität" (Fichtenau 403 - 4 3 6 ; Kortüm 3 1 0 - 3 2 6 [zur Magie; Kortüm 3 1 0 spricht von „vielfachen Synkretismen"]; Le Goff; Schreiner 3 2 9 - 3 7 3 ; Kawerau 1 9 8 - 2 0 0 ; kritisch zum T h e m a „Volksreligiosität" Angenendt, Heilige 3 3 1 - 3 3 4 bzw. ders., Geschichte 26) auch die Schriften von einzelnen mittelalterlichen Theologen wie Raymundus - » L u l lus und -> Agrippa von Nettesheim genannt worden (so jedenfalls Colpe, Art. Syncretism 226; vgl. auch S p a m , Religionsmengerei 2 7 4 Anm. 32); ebenso das durch die nestorianische Mission im 8. J h . begründete zentralasiatische Christentum in Ostturkistan (Oase Turfan: Klimkeit, Begegnung 1 5 - 2 0 ; Menges 8 2 - 8 9 ) bzw. das zu Anfang des 11. J h . entstandene und knapp tausend Kilometer weiter nordöstlich im Bereich der TurkoTataren bezeugte Christentum ( Q a r a q o r u m : Hage, Toleranz 9 9 - 1 1 2 ; allgemein: ders., Weg 3 6 0 - 3 9 3 ) . Hier ist gezeigt worden, daß die entsprechende Christenheit „durch ihre weit überwiegend nichtchristliche Umwelt durchgreifend synkretistisch geprägt ist und zugleich jeglichen missionarischen Eifer vermissen l ä ß t " (ders., Toleranz 9 9 f . ) .

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Synkretismus V

4. Europäische Neuzeit 4.1. Die Bedeutung des Begriffs „Synkretismus" In der frühen Neuzeit bürgert sich der antike Begriff avyKprjTiOfiÖQ unter den humanistisch gebildeten Autoren und somit auch in theologischen Z u s a m m e n h ä n g e n als „geläufige Bezeichnung" für „das Z u s a m m e n h a l t e n Dissentierender trotz ihres Dissens e s " ein, der mit positiver oder negativer Konnotation verwendet werden kann (Tschakkert 2 4 1 ) . Erasmus popularisierte offenbar das Wort durch seine Verwendung in den Adapen (chil. I, cent. 1, Nr. 11, p. 125f.); an -»Melanchthon schrieb er am 22. April 1519, man müsse angesichts gemeinsamer Gegner zusammenstehen: vides, quantis odiis conspirent quidam adversus bonas literas; aequum est nos quoque aoyKpt]xi^eiv, ingens praesidium est concordia (Du siehst, mit welchem Haß gewisse Leute sich gegen die Wissenschaft verschwören. Da ist es nicht mehr als billig, daß auch wir uns zusammenschließen. Eintracht ist ein großer Schutz; Brief Nr. 947/40: ed. Percy Stafford Allen u.a., Opus epistolarum Des. Erasmi Roterdami, 12 Bde., Oxford, III 1913, 539 = CR 1,78). Auch -»Zwingli plädierte in einem Brief (Nr. 367) an J . -»Oekolampad und die Basier Prediger vom 5. April 1525 angesichts der Abendmahlsstreitigkeiten dafür und verstand darunter „Eintracht nach außen bei innerem Zwist": Quae res plane non tantos tumultus dabit, quantos quidatn sperant, si modo auyKprjxiaßov fecerimus, hoc est in dimicatione consensum (Diese Sache wird gewiß keinen so großen Aufruhr verursachen, wie manche hoffen, wenn wir nur einen Synkretismus, d.h. einen Konsens innerhalb der Auseinandersetzung, schließen": CR 95,317,8-10; vgl. auch den Brief 390 vom 11. Oktober 1525 an J. ->Vadian: ebd. 381,12), ebenso -»Bucer in einem Brief an Zwingli vom 6. Februar 1531: da das dissidium nun in opinione potius quam re ipsa consistat, et suspicionibus magis vanis quam certis rationibus foveatur, ... cuperem vel quavis ratione, quae modo Christi gloriam non obscuret, si nondum solidam concordiam, saltem syncretismum inter nos obtinere (die Uneinigkeit . . . eher in der Betrachtungsweise als in der Sache selbst besteht und mehr durch haltlosen Verdacht als durch eindeutige Beweise genährt wird . . . , wünschte ich mir, gleichgültig auf welche Art und Weise, sofern sie nur nicht den Ruhm Christi verdunkle, wenigstens einen Synkretismus zwischen uns zu erreichen, falls eine dauerhafte Übereinkunft noch nicht möglich sein sollte; Brief 1166: CR 98,332,2.6-8). Melanchthon wertete diese Vermittlungstätigkeiten kritisch (Brief Nr. 965/1134 an Joachim Camerarius vom 7. März 1531: de concordantia Taurica etiam arbitror istic sermones parum commodos seri. Integra nobis res est, et tllum fucatum et ementitum avyKp/jTHJfiov sie enim videbatur, scias nos non aeeepisse [... bin ich der Ansicht, daß dort wenig passende Aussagen aneinandergereiht werden: Wir haben in der Sache noch freie Hand, und du sollst wissen, daß wir jenen verlogenen und täuschenden Synkretismus nicht angenommen haben]; CR 2,486 = M B W 2,25), klagte aber auf der anderen Seite auch über Streitigkeiten (Brief Nr. 486/634 an J . -»Jonas über die antinomistischen Streitigkeiten vom 20. Dezember 1527: Huc accedit, quod in tot dissensionibus magis conveniebat nos avyKptjxiliuv [Dazu kommt noch, daß es in so zahlreichen Meinungsverschiedenheiten besser gewesen wäre, wenn wir einen Synkretismus durchgeführt hätten; CR 1,917 = M B W 1,283); weitere Belege bei Tschackert 240,53-241,5 und Ritsehl 245 Anm. 2a). Die theologische Entwicklung im R a h m e n der allgemeinen Konfessionalisierung führte dazu, daß der Begriff „Synkretismus" zunehmend negativ verwendet wurde (ausführliche D o k u m e n t a t i o n in G V U L 4 1 , 7 9 0 - 9 6 8 ) : Gegen den Ratschlag des Heidelberger reformierten Theologen David Pareus (1548-1622), daß die evangelischen Konfessionen gegen den römischen Gegner „synkretistisch" in einer amicabilis conventio adversus papatum (Pareus VI) bzw. adversus communem hostem Antichristum zusammenstehen sollten (ebd. 65f.; Ritsehl 256f.; nach Pareus 66 eine Reaktion auf Windeck 412), polemisierte der Wittenberger Lutheraner Leonhard Hutterus (1563-1616) in seiner Gegenschrift (Hutterus 5 7 - 1 5 7 ) ; ebenso der Jesuit Adam Contzen ( 1 5 7 1 - 1 6 3 5 ; Zitate bei Tschackert 2 4 1 , 3 0 41). Anläßlich des „synkretistischen Streites" (Walch, Einleitung I, 2 1 9 - 5 2 4 ; Ergänzungen: ebd. IV, 6 6 6 - 7 0 2 bzw. Ritsehl 2 4 5 - 2 8 9 . 4 2 0 - 4 2 9 . 4 3 4 - 4 4 0 . 4 4 4 - 4 7 2 ; M a g e r 6 0 7 f . ; vgl. T R E 7 , 5 6 4 - 5 6 7 ) verbreitete sich der Begriff mit der negativen Konnotation „ R e ligionsvermischung" seit den vierziger J a h r e n des 17. J h . weiter und bis in die homiletische Literatur:

Synkretismus V

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Der Straßburger Lutheraner Johann Konrad Dannhauer (1603-1666; vgl. TRE 25,471) erwähnt beispielsweise in seiner Predigtsammlung Catechismus-Milch (Straßburg, VIII 1657, 44*) die theologische Richtung G. -»Calixts und nennt ihre Anhänger „die Syncretisten und Religions mischer / deren Meinung dahin gehet / es seyen allein diejenige Artickel / so im Apostolischen Glauben verfasset / zu wissen / zu glauben / und zu bekennen zur Seligkeit nöthig" (ebd., IV 1653, 170; vgl. auch VIII, 165.511). Die Wertungen sind entsprechend negativ: „unsere Syncretisten und unzeitige Friedensschmidt, die unter dem Schein des Religionsfrieden, anders nicht als libertinismum, und abscheuliches Chaos aller Religionen mit vollen Seglen einführen" (ebd., I 1657, 125). Dannhauer schreibt ein Mysterium syncretismi detecti, proscripti et symphonismo compensati (Straßburg [1648] 1664) und entwickelt darin eine Geschichte der widergöttlichen Vermischungen von Eva bis auf Calixt (Inhaltsreferat bei Tschackert 242,29-42). Auch sein Schüler -»Spener will keinen „schädlichen Syncretismum", d.h. lutherische und reformierte Gottesdienstgemeinschaft (Spener, Bedencken 423 [29. Juli 1687]; vgl. auch ebd. 438 [7. Oktober 1696]), bzw. keinen Synkretismus, „welcher in einer geistlichen Vermischung ungleicher religionen bestehet" (ebd. 328 [31. Oktober 1687]). Im Zusammenhang mit dem „synkretistischen Streit" stehen verschiedene Kolloquien zwischen lutherischen und reformierten Theologen, die zu diversen Gutachten der jeweiligen Fakultäten und Einzelstellungnahmen führen, vgl. z. B. das Kasseler Kolloquium 1661 (vgl. TRE 28,667,27ff.). Das damit in Zusammenhang stehende Votum der theologischen Fakultät der hessischen lutherischen Landesuniversität -»Rinteln (Der Theologischen Fakultät ... Sendschreiben, Rinteln 1666, a 3a; vgl. Walch, Einleitung I, 301; GVUL 41,828f.; Zeller 276 - 279) nennt die Helmstedter Irenik „eine Religionsmengerey, ein verdammlicher und zu großem Unglück ausgebrüteter Syncretismus" (weitere Belege: DWb 20 = 10/4 [1942 = 1984] 1424f. [s.v.]; GVUL 41,793 - 9 6 8 ; Ritsehl 231-472). J.H. Zedlers Universal-Lexicon entwickelt eine kurze Geschichte des Synkretismus von der christlichen Antike bis zum Syncretismus Melanchthonicus (GVUL 41,789), stellt dann nach einem periodisierenden Kurzüberblick (ebd. 790-793; vgl. Walch, Einleitung I, 226f.) die synkretistischen Streitigkeiten in aller Ausführlichkeit und zum Teil in deutlicher Abhängigkeit von Walch (ebd. I, 219-418) dar (GVUL 41, 793-906) und schließt mit zwei systematischen Zusammenfassungen (ebd. 906-967) und Literaturhinweisen (ebd. 967£.); Zedier referiert auch schon zwei Unterscheidungen von „Graden" des Synkretismus (ebd. 787f.), zum einen: Vereinigung verschiedener Religionen (Syncretismus universalissimus), Einigungsbestrebungen zwischen Juden und Christen CSyncretismus in universaliorem), und vollständige Religionstoleranz (Syncretismus in universalem), zum anderen: Einigungsbestrebungen zwischen allen Religionen bzw. allen christlichen Religionen (Syncretismus in universalem) und katholisch-evangelische bzw. innerprotestantische Einigung (Syncretismus particularis). Der Begriff „Synkretismus" wurde im 17. und 18. Jh. zwar hauptsächlich von Theologen verwendet, aber auch in der Schulphilosophie seit dem 17. Jh. (z. B. bei dem Leipziger Philosophen Jakob Thomasius [1622-1684]: Sparn, Religionsmengerei 258 Anm. 5) zur Bezeichnung der Vermischung von unzusammengehörigen Lehrmeinungen. Er dient aber etwa noch dem Jenaer Theologen Johann Georg Walch (1693-1775; Walch, Lexicon' 2509-2513 [s.v.]) einerseits dazu, die antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Versuche, die Vereinbarkeit von aristotelischer und platonischer bzw. stoischer und platonischer Philosophie sowie der thomistischen und skotistischen Theologie und schließlich der cartesianischen und aristotelischen Philosophie nachzuweisen, als „philosophischen Synkretismus" zu charakterisieren (unter Angabe von Titeln: Walch, Lexicon* 2510f.; vgl. auch etwas knapper GVUL 41,780-787 [s.v. Syncretismus (Philosophischer) Philosophische Syncretisterey]). Davon unterscheidet Walch andererseits einen „philosophisch-theologischen Synkretismus": „Eine andere Art des philosophischen Synkretismi ist, wenn man die Lehrsätzen [sie!] der Philosophen mit der Schrift vereiniget" (Walch, Lexicon 1 2511). Walch wertet solche Verbindungen kritisch: „ M a n lasse voneinander, was nicht zusammen gehört, und wenn es nöthig ist, davon zu reden, so nehme man ein iedes ins besondere d a f ü r " (ebd. 2512). Da „Synkretismus" nun in negativer Wertung als „Religionsmischerei" gilt, wird er (historisch falsch) von den entsprechenden Vokabeln aoyKepävvofU und ovyicpaoit; abgeleitet (Colpe, Vereinbarkeit 162f.; Brennecke, Aspekte 128f.). Seit der zweiten H ä l f t e des 19. Jh. entwickelt sich der bis heute verwendete wissenschaftliche „Synkretismus"-Begriff und wird zunächst in der religionswissenschaftlichen Betrachtung der griechisch-römischen Antike angewendet (vgl. die knappe Forschungsgeschichte s.o. 2.). Er findet sich aber auch bei systematischen T h e o l o g e n w i e E. -•Troeltsch: „ D i e Religionswissenschaft des H e i d e n t u m s kann nur pantheistischer Synkretismus der autochthonen Einzelreligionen sein" (ders., D i e Selbständigkeit der Religion: Z T h K 5 [1895] 3 6 1 - 4 3 6 , hier 365; vgl. auch ders., Religionsphilosophie und principielle Theologie: T h j b e r 17 [1898] 5 3 1 - 6 0 3 , hier 601) und ist schließlich von

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Synkretismus V

Gegnern des Kulturprotestantismus auch in die innertheologische Polemik der heftigen Auseinandersetzungen zwischen evangelischen Systematikern seit 1920 übernommen worden. Eine umfassende Begriffsgeschichte, die vor allem auch diese jüngste Vergangenheit umfaßt, bleibt Desiderat. 4.2. „Synkretistische

Phänomene"

in der europäischen

Neuzeit

Wie für das Mittelalter werden auch für die europäische Neuzeit deutlich seltener als für die Antike Phänomene der Christentumsgeschichte mit dem Begriff „Synkretismus" bezeichnet, was angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung des Christentums wieder ein Zeichen für die mangelnde Differenzierungsleistung des Begriffs „Synkretismus" sein könnte. Die gewöhnlich deutliche Zurückhaltung gegenüber einer Anwendung des „Synkretismus"-Begriffs mag auch daran liegen, daß seit dem 16. Jh. vor allem in der deutschsprachigen Theologie der Begriff „Synkretismus" populär wird, was ja auch die Voraussetzung seiner Entwicklung zu einem Forschungskonzept seit dem Ende des 19. Jh. darstellt (vgl. aber den Katalog bei Sparn, Religionsmengerei 273 f.) Außerdem schlägt Sparn vor, sämtliche Sozialgestalten des neuzeitlichen Christentums als „sozialen Synkretismus" zu interpretieren, weil sie „jeweils neue Kompromisse zwischen herkömmlichen, bereits institutionell stabilisierten und neuen, individuell bzw. kongregationalistisch auftretenden Anforderungen der religiösen Praxis darstellen" (ebd. 276; vgl. auch u. VI.). 5. Außereuropäische

Neuzeit

5.1. Die Bedeutung

des Begriffs

„Synkretismus"

In außereuropäischen Sprachen wird der Begriff erst in jüngster Zeit als Lehnwort verwendet. 5.2. „Synkretistische

Phänomene"

in der außereuropäischen

Neuzeit

Die Interaktionen zwischen dem Christentum und seiner antiken Umwelt haben die Gestalt des europäischen Christentums bis in die Neuzeit tief geprägt; erst in jüngster Zeit wird nicht nur in der außereuropäischen, sondern auch in der europäischen Theologie verstärkt z.B. unter Stichworten wie „Paradigmenwechsel" (Küng 208-221) oder „Enthellenisierung" (vgl. die gänzlich unterschiedlichen Stellungnahmen von Westermann 18 f. und Chong 35) eine radikale Abkehr von dieser Gestalt des Christentums gefordert. Im Unterschied dazu hat sich das außereuropäische Christentum von vornherein in ganz anderen Umwelten entwickelt; auch diese Zusammenhänge werden von einzelnen Forschern als „Synkretismusphänomene" angesprochen. Gern wird hier die unterschiedliche Praxis der lateinamerikanischen und asiatischen -•Mission des 16. bis 18. Jh. (von Collani 933-954; Debergh 875-884.886-898; Milhou 830-855; Nebel 132-134; für die Jesuitenmission s.a. T R E 16,662) genannt. Da sich die lateinamerikanische Mission weitgehend „synkretistischer Anpassung" verweigerte (Prien 58), entstand aufgrund des Festhaltens der Einheimischen an Ansichten und Praktiken der traditionellen Religion (Nebel 214f.), als die äußere Überwachung nachließ, z.B. in Mexiko eine „christlich-altmexikanische Mischreligion" (Scannone 110f.; Nebel 221-225; Rüger 3 8 - 4 6 ; zur Religionsphänomenologiedes heutigen mexikanischen Christentums Scannone 112—116; Nebel 229—305). Sie wird auch gern als lateinamerikanischer „synkretistischer Volkskatholizismus" bezeichnet und von einem „Volkskatholizismus" unterschieden (Scannone 106-116 [mit wichtigen kulturanthropologischen Differenzierungen: ebd. 107]; Marzal [zur Definition von „Synkretismus" in Abgrenzung gegenüber Leonardo Boff (1919-1989): ebd. 136-139]; Morande 2 7 - 3 2 und Steger). Die jesuitische Mission in Asien hat sich jedenfalls in China dagegen so lange um „Akk o m m o d a t i o n " von Theologie, Kultus und Organisationsgestalt (von Collani 946-950; Koschorke, Konzepte 399—403) an lokale und regionale Gegebenheiten bemüht, bis nach

Synkretismus V

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längeren Auseinandersetzungen unter den Missionaren (von Collani 948 f.; nach Prien 55 führte das zu einem „christlichen Identitätsverlust") Papst -»Benedikt XIV. den dadurch ausgelösten „Ritenstreit" (Minamiki 2 5 - 7 6 ) beendete und s o w o h l die Verwend u n g chinesischer Gottesbezeichnungen als auch zahlreiche einheimische Bräuche untersagte (Bullen Ex quo singulari von 1742 und Omnium sollicitudinem von 1744). Weiter wäre vor allem für das 20. Jh. auf die „Indigenisierungsbewegung Asiens" (Koschorke, Christentumsgeschichte75-80; ders., Konzepte 403-407) hinzuweisen, d.h. die durch massive missionarische Aktivitäten in Asien (Korea, Japan, China, Ceylon, Indien und Indonesien) vorbereitete und durch das Aufkommen eines auch politisch artikulierten Nationalismus um die Jahrhundertwende ausgelöste Bewegung, die nach „einheimischen Ausdrucksformen" und einer nicht westlich geprägten, „nationalen Gestalt" des Christentums suchte und vor allem kulturelle Ausdrucksformen (Liturgie, Kirchenmusik und Kirchenbau) betrifft, aber auch die Organisationsgestalt der Kirchen (Selbstregierung; Antidenominationalismus). Eine Fülle von weiteren Inkulturation- und Indigenisierungsphänomenen findet sich in den Sammelbänden Syncretism (14-40: „Synkretismus" bei Indianern in Wyoming), Suchbewegungen (65-74.87-92: „Synkretismus" in Melanesien), Dialogue and Syncretism (114-121: „Synkretismus" in heilenden Aktivitäten afrikanischer Christen) und Syncretism, Anti-Syncretism (45-68: „Synkretismus" als Ergebnis der Aktivitäten der Norddeutschen Missions-Gesellschaft in Afrika). 6.

Zeitgeschichte

6.1. „Synkretistische

Phänomene"

in der

Gegenwart

6.1.1. Das gegenwärtige Christentum als „synkretistisches Phänomen". Einzelne neuere theologische Entwürfe der Nachkriegszeit versuchen nicht nur, den SynkretismusBegriff positiv zu füllen, sondern ihn auch in christliche theologische Konzepte zu integrieren: Den Anfang machte 1967 W. Pannenberg, der Synkretismus als „Weise der Selbstbehauptung und Ausbreitung einer Religion" verstand, das Christentum als „das größte Beispiel synkretistischer Assimilationskraft" (Pannenberg 269f.; vgl. auch Thomas 393-397: „Towards a rehabilitation of syncretism"; Morande 4 2 - 5 9 ; Hollenweger 1028: „Not only must the Church be syncretistic, it must produce different syncretisms in different cultures"). Für Sparn ist das Christentum „auch phänomenal [sie, gemeint ist: phänomenologisch] eine synkretistische Religion" (Sparn, Religionsmengerei 282); weitere Belege bei Silier 10f.; Küng 285 votiert dagegen für eine „Synthese gegenüber allen konfessionellen und religiösen Antagonismen" anstelle „eines Synkretismus, wo alles mögliche und unmögliche .zusammengemischt', verschmolzen wird" (vgl. auch Beer 44f.93f.). 6.1.2. Einzelne „synkretistische Phänomene". Vor allem im 20. Jh. ist auf bestimmte Entwicklungen innerhalb v o n T h e o l o g i e , Kirche und Christentum die Kategorie „Synkretismus" angewendet worden, in der Regel v o n den jeweiligen Gegnern; nur vereinzelt wird der Begriff in anderen Disziplinen (z. B. der Literaturwissenschaft zur Bezeichnung eines stilistischen und inhaltlichen Eklektizismus: Paczesny 25 - 2 7 ) verwendet. Zuerst ist hier die Liberalismus-Kritik der —»Dialektischen Theologie zu nennen (Theologen wie Troeltsch verwendeten freilich den Begriff „Synkretismus" ebenfalls im negativen Sinne: ders., Religionsphilosophie und principielle Theologie: T h j b e r 17 [1897] 531-603, hier 601: „ein fürchterliches Gebilde des wildesten Synkretismus"), weiter einschlägig sind die sog. „ - • Deutschgläubigen Bewegungen" (hier entstand auch das Stichwort von der „Germanisierung des Christentums": Brennecke, Aspekte 140), dann auch die „deutschchristliche Bewegung" (-»Deutsche Christen) und ihre Theologie (wichtige Differenzierungen bei Slenczka 265 - 274), die im Umfeld der Auseinandersetzungen zwischen 1933 und 1945 von ihren Gegnern (freilich sehr selten) „synkretistisch" genannt wurde. Das von solchen Gruppen entwickelte Programm einer „Verdeutschung des Christentums" als Weiterführung der Reformation mit seinen Folgen etwa für das Lutherbild ist ebenfalls als „Synkretismus" bezeichnet worden (Prien 5 2 - 5 4 ; eine sorgfältige historische Analyse bei Maron). Weiter wird heute das Stichwort „Alltagssynkretismus" verwendet, um den -»Pluralismus religiöser Kultur zu beschreiben (Daiber). Schließlich wird gegenwärtig auch mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert, o b neuere theologische Bewegungen und Richtungen als „Synkretismusphänomene" angesprochen werden können, z. B. die

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Synkretismus V

„feministische T h e o l o g i e " (positiv: Beyerhaus; Hauschildt/Padberg; kritisch: Brandt; J a n o w s k i 1 4 8 - 1 6 8 ) bzw. die zeitgenössische Jugendreligiosität (Drehsen [Lit.]) oder schließlich die „ökumenische T h e o l o g i e " ( S p a m , Religionsmengerei 2 7 7 : der „ i m Z u g e der neuzeitlichen Pluralisierung des Christentums möglich und notwendig gewordene ökumenische Synkretismus"). In aller Regel wird bei solchen Diagnosen der Synkretismus-Begriff nicht auf dem Niveau angewendet, das durch die begrifflichen Dissoziationen der beiden „Synkretismus"-Projekte in Göttingen (Colpe/Berner/Wiessner) und Bayreuth (Berner/Drehsen/Sparn) entwickelt worden ist; auch die Spannbreite der Bewegungen, die als „ S y n k r e t i s m u s p h ä n o m e n e " angesprochen werden sollen, widersetzt sich gewöhnlich einer einlinigen Kategorisierung (Janowski 1 5 8 f . l 6 4 f . ) . Theologische Richtungen der Gegenwart, die von den einen als „synkretistisch" wahrgenommen werden, verstehen sich selbst als „synkretismuskritisch", so z. B. die koreanische Theologin Hyongyong Chong mit einem vieldiskutierten Vortrag auf der siebten Vollversammlung des ökumenischen Rates in Canberra 1991 (Chong 1 4 - 3 0 ; Chong wandte sich gegen einen „doppelten Synkretismus" von Christentum, „Patriarchalismus" und „Kolonialismus" bzw. „Imperialismus" [ebd. 2 8 . 3 4 - 3 7 ] und votierte für einen „survival-liberation centered syncretism" [ebd. 204]; vgl. auch Sundermeier, Inkulturation 204f.) oder Friedrich-Wilhelm Marquardt (Falk Wagner bezeichnet in einer Rezension dessen Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik [München 1988] als „sektiererischen christlich-jüdischen Synkretismus": ZEE 36 [1992] 3 0 9 - 3 1 1 , hier 311). Quellen

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Synkretismus V

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VI. Dogmatisch 1. Der Zweck eines Synkretismusbegriffs 3. Orientierungs- und Gestaltungsaufgaben 1. Der Zweck

eines

2. Das Christentum als „synkretistische Religion" (Literatur S. 555)

Synkretismusbegriffs

Die wechselhafte Geschichte des theologischen Wortgebrauchs und die Uneinheitlichkeit der religionswissenschaftlichen Unterscheidungen („organischer/bewußter", „uneigentlicher/prinzipieller", „symbiotischer/synthetischer" Synkretismus, „Element-/ System-Synkretismus"), zumal wenn sie auf die Unterscheidung „primäre/sekundäre Religion" rekurrieren, lassen zweifelhaft erscheinen, o b „Synkretismus" zum dogmatischen, d.h. nicht nur heuristischen und beschreibenden, sondern auch deutenden und christlich orientierenden Begriff taugt. Es gibt neuerdings jedoch Phänomene eines spezifischen Religionswandels, die einen solchen Begriff erfordern, vergleichbar den ebenfalls neuen und noch unfertigen Begriffen des -»Fundamentalismus oder der -»Säkularisierung. Solche religiösen und dogmatischen Herausforderungen stellen vor allem die weithin interreligiöse Situation des Christentums und die religiöse Individualisierung in der modernen Kultur dar. Zwischen heterogenen religiösen Systemen oder Institutionen, die hinreichend eng in kulturellen Kontakt kommen, finden stets auch Kommunikationsprozesse statt, die religiöse Veränderung zur Folge haben, die man als Verbindung oder Verschmelzung bislang fremder religiöser Elemente beschreiben muß. Es fragt sich im Falle der Beteiligung des Christentums, ob solche Prozesse eigentümliche, nach Umfang und Gehalten von Austausch und Abgrenzung gleiche oder ähnliche Verlaufsformen haben: Gibt es synkretistische Prozesse, die sich bestimmt als asymmetrischer, hier: christlicher Synkretismus identifizieren lassen? Diese Frage kompliziert sich noch im Falle von religiösen Neubildungen, die eigene rituelle und soziale Kontexte ausbilden, wie die nativistischen „unabhängigen Kirchen" in -»Afrika. In modernen Gesellschaften bilden sich weltanschauliche Einstellung und religiöse Praxis von Individuen (auch) durch selbstverantwortete -»Rezeption, Koordination und Transformation überlieferter oder neu angebotener Religiosität. Die Frage nach ihrer Christlichkeit stellt sich hier anders, da Individuen oder freie Assoziationen die Subjekte der fraglichen Austauschprozesse sind. Sollte es in diesem Kontext auch christlichen Synkretismus geben, so fragt es sich, wie er sich zu den Erfordernissen der Pflege und Weitergabe des rituell und dogmatisch dichten, durch kanonische Bestände und institutionalisierte Praktiken identifizierten Christentums verhält: Gibt es kirchlich akzeptablen oder sogar wünschbaren Synkretismus? Beide Fragen hängen zusammen, insofern sie Erhalt oder Verlust christlicher Identität meinen. Doch im Blick auf ihren „Sitz im L e b e n " müssen sie unterschieden werden, wenn die begriffliche Unklarheit von „Synkretismus" und seine Instrumentalisierung

Synkretismus VI

553

als „Kampfbegriff" (Kraemer; Visser't Hooft) überwunden werden soll. Denn religiöse Pluralität und christliche Identität stehen je nach Zeit und Ort in unterschiedlicher Beziehung, sowohl wegen der jeweiligen Gestalten und Ansprüche der begegnenden Religiosität als auch angesichts der jeweils entwickelten Ausprägung des Christentums. N u r ein Fundamentalismus, der religiöse Identität als statisches Datum behauptet, könnte von der vielfältigen, oft strittigen inneren Kommunikation des Christentums und von seinen unterschiedlichen kulturellen Gestalten absehen. Nimmt man den Tatbestand ernst, daß von christlicher Identität immer nur im Kontext religiöser und kultureller Interaktion gesprochen werden konnte, so wird ein dogmatischer Synkretismusbegriff sinnvoll. Ein solcher Begriff trennt freilich von der Idealisierung eines „reinen" Ursprungs und vom Konzept einer zeitlosen „Orthodoxie"; doch muß er seinerseits je nach religiöskulturellen Kontexten differenziert werden. Möglicherweise ist diese Differenziertheit so erheblich, daß sie mit unterschiedlichen Termini kenntlich gcmacht und z. B. von „Evolution" einerseits, „Synthese" andererseits unterschieden werden sollte. 2. Das Christentum

als „synkretistische

Religion"

Auch für einen dogmatischen Synkretismusbegriff, der in concreto orientieren soll, müssen vier Perspektiven veranschlagt werden: Religionsbetrachtung, Religionsausübung, religiöse Biographie und religiös-kulturelle Selektion (Feldtkeller 230ff.). Es genügt keineswegs, seinen Gehalt etwa aus dem christlichen Offenbarungsverständnis zu deduzieren. Ein enges Verständnis setzt dann einen engen, nur die Phänomene von Theokrasie oder individuellem Synkretismus (negativ) meinenden Synkretismusbegriff aus sich heraus, ein weites, nichtchristliche Religionen und jedwede Religiosität einschließendes Verständnis einen weiten, alle religiöse Veränderung (positiv) bezeichnenden Synkretismusbegriff. Die Frage der konkreten Grenzziehung zwischen Innen und Außen wird so nur verschleiert (und dann meist autoritär gelöst). Eine authentisch christliche Antwort ist nur möglich, wenn der gebrauchte Synkretismusbegriff auch normativ, d . h . in der Binnenperspektive des christlichen Glaubensbekenntnisses gerechtfertigt werden kann. Dies hat im Anschluß an C.H. Ratschow bislang am klarsten die gemeinsame Studie der Arnoldshainer Konferenz (AKf) und der -»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) von 1991 durchgeführt. Diese Studie korreliert die Außenperspektiven und deren Wahrnehmungsraster (Ähnlichkeit/ Verschiedenheit, Arrangement/Konflikt, Kontinuität/Diskontinuität, Übernahme/Abstoßung) und die Binnenperspektive des christlich geglaubten Handelns Gottes, eines - als Erschaffung und Erhaltung der Welt, als Menschwerdung in Jesus Christus und als glaubenschaffender Heiliger Geist - trinitarisch differenzierten Handelns. In diesem zeitlich sich erstreckenden und mit der religiösen Praxis mitgehenden Horizont braucht die anfechtende Unausweichlichkeit und Zweideutigkeit der Inkulturationen des Christentums nicht verdrängt zu werden; nicht ein Prinzip, sondern die Buße ist der christliche Standort in der religiösen Interaktion (Religionen 108ff.). So ist ein differenzierter, weder auf Beliebigkeit ausweichender noch auf Imperialismus zurückfallender Umgang mit religiösem Anderssein eröffnet: Dem Geist Gottes entspricht das missionarische Zeugnis, dem menschgewordenen Wort Gottes der lernbereite Dialog, der welterhaltenden Gegenwart Gottes die gewaltfreie Konvivenz (ebd. 117ff.). Diese Lösung ist darin vorbildlich, daß der Umgang mit Synkretismus nicht, wie noch meist, an einem kognitiven „ Z e n t r u m " des Christentums, gar an einer „Absolutheit" des Christentums orientiert wird, sondern am praktischen Vollzug, z. B. am tatsächlichen Gebrauch der Gottesnamen. Die normative Frage lautet nicht, ob ein Synkretismus überlieferte christliche Sätze bewahrt, sondern o b er eine „Achsenverschiebung" (Hummel 159ff.) der religiösen Praxis in ihren Sprachhandlungen, Riten und Verhaltensformen bedeutet.

Überspielt man diese pragmatische Situierung nicht, so kann man für einen dogmatischen Synkretismusbegriff sagen: 1.) Synkretistische Veränderungen der kulturellen Gestalten und religiösen Vollzüge des Christentums bleiben insoweit legitim, als sie dem hermeneutischen Imperativ folgen, den die spezifisch christliche Form religiöser Identität enthält. Diese resultiert aus der

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Synkretismus VI

Kanonisierung einer Heiligen Schrift mit den Maßgaben ihrer Aneignung durch Verstehen jetzt und hier, der Akzeptanz mehrerer Instanzen dieser Auslegung und ihrer (reformatisch pointierten) Verpflichtung, das religiöse Verstehen als Selbstauslegung der Heiligen Schrift als von Jesus Christus zeugend aufzufassen. Der Verstehensprozeß wird dann gehandhabt als im Glaubensbekenntnis sich materiell jeweils abschließend, methodisch aber als unabschließbar fortgehender Prozeß. Der hermeneutische Imperativ ist von innen her gesehen eher eine Lizenz, die in der Menschwerdung Gottes gründet: eine kulturelle Dynamik, in der das Christentum mit den Potentialen seiner religiösen Umwelten konkret, d.h. übernehmend, umwandelnd oder abstoßend, also zugleich „synkretistisch" und „antisynkretistisch" (Wiedenhofer 150ff.; Syncretism, Antisyncretism) umgehen kann und soll. 2.) Synkretistischc Entwicklungen und Aktivitäten bleiben insoweit legitim, als sie dem sozialen und kultischen Imperativ folgen, den die Identität des Christentums als zeitlich-hermeneutischer Prozeß hinsichtlich seiner Existenz in Gegenwartsräumen einschließt. Dieser Imperativ (ebenfalls eine Lizenz) besagt die Teilhabe an einer christlichen Uberlieferungs- und Auslegungsgemeinschaft und die Mitfeier eines christlichen Gottesdienstes. Im normativen Sinn „christlich" wird ein solcher Gottesdienst durch die Realpräsenz Gottes im gottesdienstlich gebrauchten Raum hier und jetzt; eine Realpräsenz, die den prädikativen Gebrauch von Gottesnamen durch menschliche Subjekte von Religion in die namentliche Selbstbenennung Gottes verwandelt, die also die kultische Inszenierung zum wahren Gottesdienst macht. In diesem, das Erste Gebot erfüllenden Gottesbekenntnis werden die synkretistisch generierten Elemente der ästhetischen, moralischen und kognitiven Gottesprädikationen zu Momenten christlicher Identität. Synkretismus ist folglich dann keine Gefährdung, sondern vielmehr ein Moment der Erneuerung christlicher Identität, wenn er nicht durch Theokrasie die Eigennamen Gottes absorbiert, sondern sich in die Erwartung der Selbstbenennung Gottes in Jesus Christus schickt, wenn er mithin die gottesdienstliche Bitte um die Realpräsenz des wahren Gottes mitspricht. 3. Orientierungs-

und Gestaltungsauf

gaben

Die kulturelle Koexistenz der unterschiedlichsten Formen von Religion und Christentum einerseits, das Verblassen formaler und institutioneller religiöser Autorität in den westlichen Gesellschaften und christlichen Kirchen andererseits macht die Einschätzung von synkretistischen Phänomenen religiösen Wandels schwierig. Um so notwendiger ist sie für eine Wahrnehmungs- und Handlungsanleitung, die christliche Gewißheit und -»Toleranz gegenüber religiösem Anderssein bzw. eigene religiös-synkretistische Produktivität christlich verknüpft, die daher auch die Eigendynamik religiöser Entwicklungen nach außen und nach innen nicht von vornherein dogmatistisch oder klerikal stillzulegen versucht. In der gegenwärtigen Situation religiöser Interaktion stellen sich dem synkretistischen Charisma, das im Christentum allerdings auf das prophetische Charisma hören muß, vor allem drei Aufgaben. 3.1. Synkretismus als Inkulturation (Prien 45ff.; Sundermeier), somit auch die Ausbildung verschiedener Synkretismen in den verschiedenen Kulturen, hat die gesamte Geschichte des Christentums begleitet, tritt aber nach dem Auslaufen der „konstantinischen" Ära anders in Erscheinung. Die Umstände von „Assimilation", „Indigenisierung", „Kontextualisierung" usw. haben sich verändert, vor allem infolge der Entkoppelung des religiösen Anspruchs von politischer Macht und infolge der „westlichen" Überformung nichtchristlicher Kulturen bzw. der christlichen Herkunftsprägung der säkularen Moderne. Das Programm eines „christuszentrierten" Synkretismus (Thomas) oder eines Synkretismus der „Einschmelzung", welche die Gestalten der Gottesverehrung als diese würdigt und gemäß den Kriterien christlicher Identität oder nach biblischem Vorbild assimiliert (Pannenberg; Boff 164ff.; Hollenweger), ist nicht zu tadeln (zu Recht

Synkretismus VI

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aber tadeln Theologen der Dritten Welt den „westlichen Synkretismus" der Anpassung der Kirchen an die „moderne Zivilisation"). Für die Einschätzung n a z i s t i s c h e r Synkretismen in - » L a t e i n a m e r i k a , - » M e l a n e s i e n , Indien oder Afrika (—»Umbanda, Cargo-Kult usw.), w o kolonial beherrschte und missionarisch beeinflußte religiöse Traditionen wichtig werden für die Erneuerung kultureller Identität, gelten die genannten christlichen Kriterien. D o c h sollte deren angemessener Gebrauch den Kirchen vor O r t zugebilligt werden, die ihre Reaktion wiederum den alten Kirchen zur Diskussion stellen sollten, wie das in den verschiedenen „Befreiungstheologien" (Boff; Chong) ja auch geschieht. Für die westlichen Kirchen wird die Grenze eines assimilierenden Synkretismus vor allem in der institutionellen Praxis deutlich, z. B. in der kirchlichen Übernahme östlicher Meditationsformen, noch mehr in der Praxis interreligiöser Rituale. M a n kann als Grenzregel formulieren: Ein Synkretismus, der die Möglichkeit religiöser Konversion vergessen machen oder ausschließen will, ist kein christlicher Synkretismus mehr.

3.2. Eine der „nachkonstantinischen" Situation des Christentums eigentümliche Orientierungsaufgabe stellt der eklektische und variable individuelle Synkretismus dar. Ob „devotio postmoderna" (Kunstmann 86ff.) oder bloß „Alltags-Synkretismus" (Daiber 101 ff.) genannt, ist es unbestreitbar, daß bis weit in die kirchliche Mitgliedschaft hinein die individuelle religiöse „Option" sehr heterogene Traditionen, Motive und Praktiken verknüpft. Problematisch an einer solchen „Patchwork-Religiosität" ist nicht schon ihr Individualismus, der vielmehr ein hohes Gut evangelischer Freiheit sein sollte, auch nicht schon ihr marktförmiges Verhalten, das allemal einem an kirchlicher oder gar politischer Herrschaft orientierten religiösen Verhalten vorzuziehen ist. Es ist vielmehr die konsumistische Verweigerung gegenüber den christlichen Imperativen religiöser Produktivität, die diesen Synkretismus unchristlich macht. Eine völlig „unsichtbare Religion" (Luckmann) des Wohlfühlens oder Erlebens, das sich gar nicht mehr der Bildungszumutung des Christentums aussetzt, wird gegenüber der (auch zu erleidenden!) Selbstdistanz der Buße immun; auch bei christlicher Dekoration kann von christlichem Synkretismus nicht mehr die Rede sein. Schwieriger ist die Einschätzung der „ B i - R e l i g i o s i t ä t " oder des „ S y n o i k i s m u s " ( L a n c z k o w s k i ) , der (zum Teil konvertierte) „interreligiöse E x i s t e n z e n " (Religionen 7 2 f f . ) auszeichnet. Er mischt weniger synkretistisch z u s a m m e n , als d a ß er, je nach den Bedürfnissen des Kopfes, des Herzens usw. (Chong) funktional zuordnet. Auch die „pluralistische R e l i g i o n s t h e o l o g i e " will nicht bläßlicher Synkretismus sein, sondern zielt auf „ p o s t k o n v e n t i o n e l l e I d e n t i t ä t " des religiösen Weltbürgers (Knitter 3 5 ff.); die Grenze des Christlichen wäre hier durch religiöse Selbstüberschätzung überschritten. O b feministische T h e o l o g i e n unchristlichen Synkretismus bewirken (Hauschildt/Padberg 179ff.), kann ebenfalls nur im Einzelfall behauptet werden.

3.3. Der (post-)moderne Synkretismus tritt nicht nur als individuelle Leichtgläubigkeit, sondern seit dem Aufkommen von -»Spiritismus, -*Theosophie und -»Anthroposophie bis zu New-Age-Gruppen (-»New Age) auch institutionalisiert auf. Dieser neureligiöse Synkretismus (-»Neue Religionen) stellt eine besondere Herausforderung dar, weil er zwar viele christliche Elemente einschließlich der Christusfigur aufnimmt, diese mit heterogenen religiösen Elementen jedoch in einem eigenen weltanschaulichen System verbindet, das unter Umständen einen hohen Grad an innerer Logik erreicht und eigenständige Synkretismusmodelle zugrunde legt. Diese Logik läßt die christlichreligiöse Erfahrung als unwesentlich oder sogar hinderlich erscheinen für die Initiation in die zentralperspektivische Schau des Kosmos und seiner göttlich potenten Ganzheit. „Gnosis" in diesem Sinn ist auch der Synkretismus der Welteinheitsreligionen (-»Baha'ismus; Ramakrishna; Mun; Tenri-kyo usw.), die eine Synthese aller Religionen in ihrer „Mitte" (Figl) sein, ihre esoterische Interpretation des Christentums in spiritueller Praxis plausibel machen und dieses selbst überbieten wollen. Hier ist die Sendung dieses Christentums in seiner historischen Kontingenz und religiösen Partikularität um so deutlicher zu benennen: die Torheit des Kreuzes zu bezeugen. Literatur Peter L . Berger, T h e Heretical Imperative, G a r d e n C i t y , N . Y . 1979; dt.: D e r Z w a n g zur Häresie, Frankfurt a . M . 1980. - D e r s . , A F a r G l o r y . T h e Q u e s t o f Faith in an Age o f Credulity, N e w York

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Synkretismus VII

1992; dt.: Sehnsucht nach Sinn, Frankfurt a.M. 1994. - Christoph Bochinger, New Age u. moderne Religion, Gütersloh 1994. - Leonardo Boff, Igreja. Carisma e poder, Petröpolis 1981; dt.: Kirche. Charisma u. Macht, Düsseldorf 1985. - Hermann Brandt, Kontextuelle Theol. als Synkretismus?: Ö R 35 (1986) 1 4 4 - 1 5 9 . - Hyon-gyong Chong, Schamanin im Bauch, Christin im Kopf, Stuttgart 1992. — Karl-Fritz Daiber, Alltagssynkretismus u. dogm. Tradition. Zur rel. Kultur unserer Gesellschaft u. einiger Defizite im prot. Glauben: Neu glauben? (s.u.) 1 0 1 - 1 1 3 . - Dialogue and Syncretism, hg. v. Jerald Gort/Hendrik Vroom/Rein Fernhout/Anton Wessels, Grand Rapids, Mich./ Amsterdam 1989. - Kristian Fechtner/Michael Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart 1998. - Andreas Feldtkeller, Der Synkretismus-Begriff im Rahmen einer Theorie v. Verhältnisbestimmungen zw. Religionen: EvTh 52 (1992) 2 2 4 - 245. - Johannes Figl, Die Mitte der Religionen. Idee u. Praxis universalrel. Bewegungen, Darmstadt 1993. - Ingeborg Hauschildt/ Lutz E. v. Padberg, Das synkretistische Gefälle feministischer Theol.: Eine Welt? - eine Religion? Die synkretistische Bedrohung unseres Glaubens im Zeichen v. New Age. Eine Veröff. des Theol. Konvents der Konferenz Bekennender Gemeinschaften, hg. v. Peter Beyerhaus/Lutz E. v. Padberg, Asslar 1988, 1 7 9 - 1 8 7 . - Walter Hollenweger, Charismatisch-pfingstlerisches Christentum, Göttingen 1992. - Reinhart Hummel, Rel. Pluralismus oder christl. Abendland?, Darmstadt 1994. Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, hg. v. Volker Drehsen/ Walter Sparn, Gütersloh 1996. - Paul F. Knitter, No other Name?, London 1985; dt.: Ein Gott viele Religionen, München 1988. - Hendrik Kraemer, Die christl. Botschaft in einer nichtchristl. Welt, Zürich 1940. - Joachim Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft, Weinheim 1997. - Gerhard Lanczkowski, Begegnung u. Wandel der Religionen, Düsseldorf/Köln 1971. - Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991. - Neu glauben? Religionsvielfalt u. neue rel. Strömungen, hg. v. Wolfgang Greive/Raul Niemann, Gütersloh 1990. - Wolfhart Pannenberg, Erwägungen zu einer Theol. der Religionsgesch.: ders., Grundfragen syst. Theol., Göttingen 1967, 252 - 2 9 5 . - Hans-Jürgen Prien, Von der alten Kirche bis zur Kirche in Lateinamerika heute. Synkretismus als kirchengesch. Problem: Neu glauben? (s.o.) 4 5 - 6 3 . - Carl Heinz Ratschow, Die Religionen, 1979 (HST16).-Religionen, Religiosität u. christl. Glaube, hg. v. der Arnoldshainer Konferenz u. der VELKD, Gütersloh 1991. - Walter Sparn, „Der Synkretismus ist die Zukunft der Religion": Informationes Theologiae Europae 9 (2000) 2 8 5 - 300. - Suchbewegungen. Synkretismus - Kulturelle Identität u. kirchl. Bekenntnis, im Auftrag v. „Theol. Interkulturell" hg. v. Hermann Pius Silier, Darmstadt 1991 (Lit.). - Theo Sundermeier, Inkulturation u. Synkretismus: EvTh 52 (1992) 1 9 2 - 2 0 9 . - Syncretism, Anti-Syncretism. The Politics of Religious Synthesis, hg. v. Charles Stewart/Rosalind Shaw, London/New York 1994. - Madathilparampil M . Thomas, The Absoluteness of Jesus Christ and Christ-centered Syncretism: ER 37 (1985) 3 8 7 - 397. - Willem A. Visser't Hooft, No other Name, London 1963, dt.: Kein anderer Name. Synkretismus oder christl. Universalismus?, Basel 1965. - Siegfried Wiedenhofer, Vorüberlegungen zur theol. Synkretismusrede: Suchbewegungen (s.o.) 1 5 0 - 1 7 3 . Walter Sparn

VII. Praktisch-theologisch 1. Definition 2. Phänomenologie von gelebtem Synkretismus 3. Strukturen von Synkretismus 4. „Synkretismus" als praktisch-theologische Aufgabe (Literatur S. 558) 1.

Definition

S y n k r e t i s m u s läßt sich unter p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h e m A s p e k t verstehen als die lebensweltliche Verbindung verschiedener, zum Teil h e t e r o g e n e r T r a d i t i o n s e l e m e n t e welta n s c h a u l i c h e r und religiöser Provenienz. S y n k r e t i s m u s wird d a m i t zu e i n e m P h ä n o m e n k o n k r e t e r L e b e n s g e s c h i c h t e und der „gelebten R e l i g i o n " ( G r ö z i n g e r / L o t t ) . 2. Phänomenologie

von gelebtem

Synkretismus

E s entspricht der Vielfalt von L e b e n s g e s c h i c h t e n und L e b e n s e n t w ü r f e n im K o n t e x t einer pluralistischen Gesellschaft ( - » P l u r a l i s m u s ) , d a ß sich lebensgeschichtlicher Synk r e t i s m u s seinerseits a u f plurale Weise konstituiert. S o k ö n n e n wir einen lebensweltlic h e n , einen lebensgeschichtlichen und einen religiösen Synkretismus unterscheiden, w o bei die Ü b e r g ä n g e fließend sind und sich die drei Arten von Synkretismus vielfältig überschneiden.

Synkretismus VII

557

2.1. Von lebensweltlichem Synkretismus kann dort gesprochen werden, wo wir im Alltag auf den Einfluß verschiedener Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Lebensstile treffen. Diesem lebensgeschichtlichen Synkretismus kann sich niemand entziehen, er ist konstitutiver Bestandteil einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft. Die Wirkungen dieses Synkretismus sind in ihrer Intensität graduell abgestuft. So mag im gastronomischen Bereich (Leberknödel-Sushi!) der Synkretismus als Marotte begegnen, einschneidender für das Lebensgefühl der Menschen ist sicher die Wahrnehmung der neu entstehenden Moscheen in den Städten Mitteleuropas und die Begegnung mit Riten und Bräuchen fremder Kulturen in der unmittelbaren Nachbarschaft, wie etwa die Erfahrung, daß der Jahreswechsel von den jüdischen, islamischen und chinesischen Mitbewohnerinnen und -bewohnern an je verschiedenen Terminen gefeiert wird. 2.2. Der Ubergang vom lebensweltlichen Synkretismus hin zum lebensgeschichtlichen Synkretismus nimmt dort seinen Anfang, wo die Erfahrung des lebensweltlichen Synkretismus für den Aufbau der eigenen Lebensgeschichte bedeutsam wird. Über die Wahrnehmung hinausgehend werden einzelne Elemente der kulturellen und religiösen Vielfalt in das eigene Leben integriert, wobei auch hier die Bedeutsamkeit dieser integrierten Elemente graduell verschieden ist: von der Beachtung des Mondzyklus bei der Bepflanzung des eigenen Gartens über das private Morgenritual des Schattenboxens bis hin zur Beachtung der chinesischen Feng-Shui-Regeln bei der Einrichtung der eigenen Wohnung. 2.3. Wo der Synkretismus lebensgeschichtlich bedeutsam ist, sind in der Regel auch religiöse Elemente mit im Spiel. Von religiösem Synkretismus zu sprechen macht dort Sinn, wo das eigene Leben als Ganzes im Zusammenhang von Traditionselementen verschiedener Religionen thematisch wird. In der Gegenwart ist dieser religiöse Synkretismus vor allem hinsichtlich der Nach-Todes-Vorstellungen der Menschen verbreitet (vgl. dazu Sachau). So hat eine empirische Studie im schweizerischen Kanton Basel-Stadt gezeigt, daß ungefähr ein Viertel der baselstädtischen Bevölkerung östlichen Reinkarnationsvorstellungen zuneigt, sich aber gleichwohl als christlich orientiert im weitesten Sinne versteht (vgl. Bruhn/Grözinger; vgl. für den Berliner Raum dazu auch Jörns). Dies dürfte das entscheidende Kennzeichen des religiösen Synkretismus der Gegenwart sein: Vor dem Hintergrund traditioneller Orientierungen, die ihre Bedeutsamkeit behalten, werden zunehmend Vorstellungen aus anderen Religionen und Weltanschauungen rezipiert, ohne daß dieser Vorgang als spektakulär oder prekär erfahren würde. Religiöser Synkretismus gehört zum Alltag der Menschen bis weit in die kirchlichen Milieus hinein. 3. Strukturen

von

Synkretismus

Wie sich Synkretismus phänomenologisch differenzieren läßt, so lassen sich auch verschiedene Strukturen synkretistischer Identitätsbildung bestimmen und unterscheiden. 3.1. Von einem additiven Synkretismus kann mit einem gewissen Recht dort gesprochen werden, wo eine Integration verschiedener Traditionselemente in eher äußerlicher, lockerer Art und Weise vollzogen wird. Die (post-)modernen Individualisierungsprozesse und der Verdacht gegen die „großen Erzählungen" (Lyotard) lassen viele Menschen vor lebenslanger und exklusiver Identifikation mit einem bestimmten Traditionsbestand weltanschaulicher und religiöser Provenienz eher zurückschrecken. Gleichwohl müssen auch diese Menschen ihre Lebensgeschichte entziffern, begreifen und darstellen. Dies geschieht dann ästhetisch gebrochen, quasi unter existentiellem „Vorbehalt". Die lebensgeschichtliche Bricolage, die „Bastlerexistenz", gehört als Ausdrucksform eines additiven Synkretismus unverkennbar zur Signatur der -»Postmoderne. 3.2. Zugleich drängen die sich forcierenden Individualisierungsprozesse und die damit verbundenen höheren lebensgeschichtlichen Risiken (vgl. dazu Baumann) andere

558

Synkretismus VII

Menschen wiederum zur Ausbildung einer stabileren biographischen Vergewisserung, als dies im Modus einer „Bastlerexistenz" möglich ist. Angesichts des „Zwanges zur Erfindung des eigenen Lebens" (Grözinger 3 0 - 3 3 ) und des Wunsches nach existentieller Beheimatung können wir gegenwärtig Identitätsbildungsprozesse erkennen, mittels derer im Kontext von kleineren Gruppen, in Nachbarschaftsverhältnissen sowie in regionalen Zusammenschlüssen, homogene und stabile Bindungen eingegangen werden, wie dies die Theorie des Kommunitarismus zu beschreiben versucht (vgl. dazu Walzer). Gleichwohl verfahren auch diese Gruppen angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus synkretistisch, was für Kirchengemeinden, ökologische Basisgruppen oder Stadtteilvereine gleichermaßen gilt. M a n könnte diese Art und Weise lebensgeschichtlichen Engagements als kommunitaristischen Synkretismus bezeichnen. 3.3. Wie immer der Synkretismus in den einzelnen Biographien der Menschen auch verankert sein mag, so stoßen wir doch immer wieder auf Grenzen des Synkretismus. Diese Begrenzung synkretistischer Möglichkeiten ist zum einen in der Endlichkeit der menschlichen Existenz begründet, zum anderen in der Heterogenität der in unserer Gegenwart vorliegenden weltanschaulichen und religiösen Traditionsbestände. Für das Leben des einzelnen Menschen gilt, daß er nicht unbegrenzt Traditionen wahrnehmen, aufnehmen und verarbeiten kann. Die synkretistischen Möglichkeiten der Menschen sind biologisch und psychologisch begrenzt. Z u m anderen setzt die Sachlogik einzelner Traditionsbestände dem Synkretismus eine Grenze. M a n wird nicht der westlichen Frauenbewegung angehören und zugleich die Klitorisbeschneidung gutheißen. Ebensowenig wird man in einem Tierschutzverein aktiv und zugleich ein Anhänger der spanischen Stierkampfkultur sein. Auf der anderen Seite zeigt die Integration östlicher Reinkarnationsvorstellungen in ein gelebtes westliches Christentum, daß die Grenzen des Synkretismus auch nicht allzu eng gezogen werden dürfen. 4. „Synkretismus"

als praktisch-theologische

Aufgabe

Die Differenziertheit und Fragilität des lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Synkretismus läßt diesen zugleich zu einer Herausforderung werden, der sich die kirchliche Praxis und die Praktische Theologie zu stellen haben. Zwar entsteht im Kontext einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft Synkretismus quasi stets von selbst. Gleichwohl bedarf ein verantwortlicher Synkretismus der Reflexion und praktischen Versiertheit im Umgang mit Traditionsbeständen religiöser und weltanschaulicher Art. Auf der einen Seite ist hier sicher vor theologischer Besserwisserei zu warnen. Die Menschen leben ihren je individuellen Synkretismus, ohne sich eine autoritative Bevormundung gefallen zu lassen. Gleichwohl werden gerade auch von Theologie und Kirche Informationen und konkrete Hilfestellungen bei der Orientierung in der „neuen Unübersichtlichkeit" erwartet, die der (post-) moderne Synkretismus bedeutet. So sind etwa die landeskirchlichen Sektenbeauftragten, wo sie Bestimmtheit mit Toleranz zu verbinden vermögen, hochgeachtete und vielgefragte Gesprächspartner/-innen. Insgesamt läßt sich sagen, daß der (post-)moderne Synkretismus nach einer praktisch-theologisch reflektierten Differenzwahrnehmung und der Kompetenz, mit dieser Differenzwahrnehmung lebenspraktisch umzugehen, geradezu ruft. Dazu bedarf es dringend einer eigenen Kriteriologie, die aber gegenwärtig noch ein unerfülltes praktisch-theologisches Desiderat darstellt. Literatur Zygmunt Baumann, Unbehagen in der Postmoderne, H a m b u r g 1999. - Manfred Bruhn/Albrecht Grözinger (Hg.), Kirche u. Marktorientierung, 2000 (PTD 20). - Albrecht Grözinger, Die Kirche - ist sie noch zu retten? Anstiftungen f. das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998 3 2000. - Ders./Jürgen Lott (Hg.), Gelebte Religion. FS Gert Otto, Rheinbach 1997. - Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, hg. v. Volker Drehsen/Walter Sparn, Gütersloh 1996. - Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute

Synode I

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wirklich glauben, München 1997. - Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979; dt.: Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986. - Rüdiger Sachau, Individueller Synkretismus als Lebensform moderner Religiosität: Kristian Fechtner/Michael Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart 1998, 6 7 - 8 7 . - Wolfgang Steck, Prakt. Theol. Horizonte der Religion, Konturen des neuzeitlichen Christentums, Strukturen der rel. Lebenswelt, I 2000 (ThW 15/1). - Suchbewegungen. Synkretismus - Kulturelle Identität u. kirchl. Bekenntnis, im Auftrag v. „Theol. Interkulturell" hg. v. Hermann Pius Silier, Darmstadt 1991 (Lit.). - Hans-Joachim Thilo, Das Mysterium erleben: EK 32 (1999) H. 3, 42f. - Michael Walzer, Vernunft, Politik u. Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie, Frankfurt a.M. 1999.

Albrecht Grözinger Synkretistischer Streit -»Calixt, Georg; —»Calov, Abraham; -»Orthodoxie Synode I. Alte Kirche II. Mittelalter III. Reformation bis zur Gegenwart

S. 566 S.571

I. Alte Kirche 1. Arten von Synoden 2. Anlaß und Aufgaben von Synoden 3. Synode und ökumenisches Konzil 4. Die Kaiser und Könige und die Synoden 5. Die Synoden und die Päpste 6. Kompetenzen der Metropoliten und Bischöfe 7. Regelungen der Synodaltätigkeit (Quellen/Literatur S. 569)

In der Alten Kirche wurden die Begriffe Synode und Konzil nicht immer deutlich voneinander geschieden. Konzilstheorien der Alten Kirche und des Mittelalters machen die Zusammenhänge deutlich, in denen die Synoden mit anderen wichtigen Entscheidungsträgern standen: Papst (—»Papsttum), Kaiser, König, ökumenisches Konzil, aber auch zu den Glaubensquellen (Heilige -»Schrift, Kirchenväter). Synoden und Konzilien sind in den -»Kirchenverfassungen verankerte Organe und daher auch Quellen des -•Kirchenrechts sowie der Kirchenordnung. H.J. Sieben (Konzilsidee [1979] 466-510) hat bestimmte Einflüsse aus staatlichen und kirchlichen Institutionen auf die Gestaltung der einzelnen Konzilstypen nachgewiesen. Daraus ergeben sich folgende weiterführende Fragen: 1. Welche Arten von Synoden gibt es? 2. Warum finden Synoden statt, und was ist ihre Aufgabe? 3. Wie verhalten sich Synode und ökumenisches Konzil zueinander? 4. Wie ist das Verhältnis zwischen Synode, Kaisern und Königen? 5. Welche Stellung nimmt der Papst gegenüber den Synoden ein? 6. Welche Kompetenzen besitzen Metropoliten und Bischöfe? 7. Welche Gesetzestexte regeln die Tätigkeit der Bischöfe und Synoden? 1. Arten von

Synoden

Da can. 5 der I. ökumenischen Synode von -»Nicäa (Joannou 1/1, 27; Rhalles/Potles II, 124) von Bischöfen einer Eparchie spricht und in can. 4 (Joannou 1/1, 26; Rhalles/ Potles II, 122) gesagt ist, daß ein -»Bischof von den Bischöfen der Eparchie eingesetzt werden soll, handelt es sich bei der Eparchialsynode um die Metropolitan- oder Provinzialsynode. In Gallien (-»Frankreich) wurden auch Diözesansynoden abgehalten. Erstes Beispiel dafür ist die Synode von Auxerre (nach 585) mit gesetzgebendem Charakter. Uber die Provinzialsynode hinaus gibt es die überprovinziale Synode (vgl. Leo d.Gr., ep. 13,2: PL 54,665A). -»Leo I. der Große spricht in ep. 15,17 vom concilium synodi generalis, das in Spanien gegen den Priszillianismus (-»Priszillian/Priszillianismus) einschreiten soll. Zu diesem kamen Bischöfe aus Tarragona, Cartagena, Lusitanien und Gallizien. Das Plenarkonzil ist nach -»Augustin die oberste Instanz (ep. 43,7,19: CSEL 34,101,17- 20). Deren Autorität kommt von der Gesamtkirche. Die Donatisten (—»Afrika

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1.3.4.) können nicht an ein Plenarkonzil appellieren. Im Merowingerreich gilt die Generalsynode als Versammlung der Bischöfe aller Teilreiche. Eine solche war z. B. die Synode von Orleans (533). Die Generalsynoden lösten allmählich die Provinzialsynoden ab. Die höchste Bedeutung kommt schließlich der synodus universalis ecclesiae (Leo d.Gr., ep. 157,3: A C O II/4,109,39-110,2), d.h. dem ökumenischen Konzil zu. Dessen Beschlüsse gelten als unwiderruflich (ep. 106,2: ebd. 60,11-21). Im Zusammenhang mit dem Ikonoklasmus kommt das ökumenische Konzil zum Tragen, auf dem alle fünf -»Patriarchate (Pentarchie) vertreten waren. Dies gilt insbesondere vom II. Konzil von -»Nicäa (787). Weil auf der bilderfeindlichen Synode von Hiereia (754) die Pentarchie nicht vertreten war, kann die Synode von Hiereia nach Ansicht des Mönchs Johannes von Jerusalem (8. Jh.) nicht als ökumenisches Konzil gelten (adv. Constantinum Caballinum 16: PG 95.332CD; vgl. Gahbauer 97-103). In -» Konstantinopel sind drei weitere Arten von Synoden entstanden: (a) Die Synodos Endemousa hat sich „aus der Bischofsversammlung um den Kaiser zur Zeit der arianischen Wirren im 4. Jh. entwickelt" (Potz 22). Sie wird vom Kaiser am Hof zusammengerufen. An ihr nehmen die Bischöfe teil, die sich gerade in der Kaiserstadt aufhalten, um wichtige Fragen zu regeln (ebd. 2 1 - 2 4 ) . (b) Zur ständigen Synode gehören die Bischöfe, die sich dauernd am Patriarchalsitz aufhalten. In Antiochien war die Synode „bereits von frühester Zeit an eine ständige Synode" (ebd. 22). (c) Die außerordentliche Patriarchalsynode, entstanden zur Zeit des politischen Niedergangs von Byzanz, trat nur selten zusammen und befaßte sich mit panorthodoxen Fragen (ebd. 76). Sie füllte die Lücke, die durch das Aufhören der Synodos Endemousa entstanden war. Can. 17 des Konzils von Konstantinopel (869/70) unterstreicht den Vorrang der Patriarchalsynode vor der des Metropoliten. 2. Anlaß und Aufgaben

von

Synoden

Aus der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns entsteht im 2. Jh. die Institution der Synode (TRE 18,219,5f.), d.h. der Regionalsynode. Die Synoden beriefen sich auf die Heilige Schrift und die Kirchenväter. Synoden und Konzilien war hauptsächlich die Aufgabe gestellt, gegen Irrlehrer zu entscheiden. So mußten Synoden in -» Kleinasien (wahrscheinlich Ikonium und Synnada um 200) gegen den - • M o n t a n i s m u s vorgehen (vgl. T R E 23,275,23f.; Eusebius, h.e. V,16,10; VII,7,5). Prozesse wurden auf Synoden geführt gegen Häretiker wie z. B. Noetus. Er wurde um 190 in Smyrna verurteilt (Hippolytus, Noet. 1,7). Die Synoden von -»Antiochien (264 und 268) bemühten sich um die Absetzung des —»Paulus von Samosata, und letztere exkommunizierte ihn (TRE 26,160,18f.). -»Cyprian von Karthago berichtet in seinen Briefen (ep. 55,6) von Synoden in Afrika über die von den in der Verfolgung Abgefallenen zu leistende Buße (TRE 8,248,24-37). In diesem Zusammenhang steht die Appellation der beiden spanischen Bischöfe Basilides und Martialis an Papst -»Stephan I. In der Verfolgung durch Decius (250) hatten sie sich Opferscheine (libelli) beschafft und waren daher von ihren Gemeinden vertrieben worden. Sie wandten sich mit Bitte um Wiederanerkennung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erfolgreich an Stephan. Cyprian protestiert in einer Synode (ep. 67) gegen die Entscheidung Stephans (Schatz 35). Synoden von Ikonium und Synnada sowie drei weitere nordafrikanische Plenarkonzilien (255 und 256) gaben in der Frage der Gültigkeit der von Ketzern gespendeten -»Taufe Cyprian (ep. 70 und 72) im Streit mit Papst Stephan recht. Die Frage, ob -»Ostern am 14. Nisan (Quartodezimaner) oder am Sonntag zu feiern sei, beschäftigte bereits im 2. Jh. die Synoden in Kleinasien, -»Palästina und - » R o m unter Papst -»Viktor I. (Eusebius, h.e. V,23,1 f.). Synoden hatten den Glauben der Kirche zu formulieren, Disziplinarvorschriften und Reformgesetze (canones) zu erlassen (s.a. T R E 18,718). Ein wichtiges Beispiel für Disziplinarvorschriften ist die Synode von Elvira (306/309). Umstritten ist, ob die überlieferten Akten zu dieser Synode gehören oder zu

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einer kanonischen Sammlung spanischer Synoden. Weitere Disziplinvorschriften wurden z.B. erlassen in Neocaesarea (314-319; Joannou 1/1, 75-82); Gangra (ca. 340; ebd. 83-99). Synoden verhängten nötigenfalls Strafen (Exkommunikation, körperliche Züchtigung; -»Strafen, Kirchliche) wegen -»Häresie, Verletzung der -»Kirchenzucht u.a. und setzten gegebenenfalls Bischöfe ab. Synoden wurden auch als Appellationsinstanz in schwebenden Verfahren angerufen. Synodalentscheidungen besaßen insofern Breitenwirkung, als Beschlüsse übergeordneter Synoden von Provinzial- und Diözesansynoden übernommen wurden (vgl. Hartmann 30f.). Synoden bekräftigten die Wahrheit der kirchlichen Lehre. Mitunter jedoch widersprachen sich die theologischen Standpunkte der einzelnen Synoden und Konzilien (z. B. 4. und 5. ökumenisches Konzil im sog. Dreikapitelstreit). Synoden dienten auch der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Bischöfen. Kleriker, die sich von ihrem Bischof ungerecht behandelt fühlten, konnten an die Synode appellieren (can. 23 der Synode von Orléans [538]). Synoden befaßten sich auch mit der Seelsorge und der Organisation der Pfarreien. Könige haben die Synoden (Reichssynoden, Nationalkonzilien) auch zur Stützung ihrer Politik benutzt. Vom 4. bis 8. Jh. waren die Canones der Synoden die bedeutendsten Quellen der kirchlichen Gesetzgebung. Die Bedeutung der Synoden ergibt sich auch noch aus folgenden Theorien und Fakten: Vor dem Konzil von Nicäa fand die Synode von Arles (314) statt. Sie entschied gegen die Donatisten und traf Verfügungen über die Mitarbeit der Christen im Staatsdienst, den Ostertermin, die Häretikertaufe und den Klerus (über weitere Synoden von Arles s. LThK 4 1 [1993] 993). Für -»Athanasius erhält das Konzil von Nicäa (325) seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Traditionsbegriff (ep. fest. 2,5 und 2,6: PG 26,1369f.; decr. 27: ed. Opitz H/1,24,4-15; vgl. Sieben, Konzilsidee [1979] 31.38). Aufgrund der Tradition haben die Väter den Glauben von Nicäa formuliert. Im Unterschied dazu besitzen die vielen Synoden der Arianer keinen Nutzen (syn. Arimini 6: ed. Opitz II/1,234,14-22; vgl. Sieben, Konzilsidee [1979] 48). Uber die Glaubensformel von Nicäa hinaus darf nach Athanasius keine weitere mehr aufgestellt werden (tom. ad Ant. 5: PG 26,800C). Daher verwarf er das Credo der Kirchweihsynode von Antiochien (341) und sogar das der Synode von Serdika (342/343) (Kelly, Glaubensbekenntnisse 262.270.273). Übrigens hatten sich die Synodalen der Kirchweihsynode vom Vorwurf, Arianer zu sein, distanziert. Nach Ansicht des Bischofs Augustin von Hippo besteht die Funktion der Konzilien in der Stärkung der begrenzten menschlichen Erkenntnis, der Bekräftigung der Wahrheit und in der Bestätigung von Bräuchen (bapt. 11,4,5: CSEL 51,179,13-17; 11,7,12: ebd. 187,10; V,17,23: ebd. 282,23). Deshalb eignet den Konzilien analog zur Heiligen Schrift auetoritas (ep. 54,1,1: CSEL 34,159,17f.). Papst Leo I. sieht die Aufgabe der Partikularsynoden in der Lösung der Fragen der Kirchendisziplin, der Vermeidung von Versagen bei Priestern und Bischöfen sowie der Stärkung der mitbrüderlichen Liebe (ep. 6,5: PL 54,619B). Die Merowingerkönige haben Synoden zum Teil zu Tribunalen gemacht, in denen Urteile in Strafsachen gegen Bischöfe gefällt und Streitigkeiten geschlichtet wurden (z. B. die Konzilien von Paris 573 und von Poitiers 590). Die Könige Guntram (561—592) und Childerich II. (662-675) beanspruchten Konzilien zur Lösung politischer Fragen und als Organ für die staatliche Gesetzgebung (Paris 573; Lyon 581; St. Pierre-de-Granon 673/675). Die Synoden im Merowingerreich haben auch Regelungen in Disziplinarfragen und zum Schutz der Kirchengüter getroffen (Macon 581 und 585), die von den Königen bestätigt wurden. Synoden besaßen auch Entscheidungskompetenz bei Prozessen zwischen Bischöfen bzw. Anklagen gegen einen Bischof und beanspruchten das -* Asylrecht als kirchliches Privileg. Dieses war jedoch bereits auf der ökumenischen Synode von -»Ephesus (431) (ACO 1/1/4, 61-65; TRE 4,320f.) aus dem Codex Theodosianus übernommen worden. In der Provence befaßten sich die Synoden unter -•Caesarius von Arles mit Fragen der Glaubens- und Sittenlehre (Orange 529). Ansonsten blieben dog-

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Synode I

matische Fragen im Hintergrund mangels dogmatischer Kontroversen. Im Vordergrund standen dagegen Fragen der Seelsorge und der Organisation der -»Pfarreien und Bistümer. Die Wahl der Konzilsorte (insbesondere Arles, Tours, Orleans, Lyon, Mäcon, Paris) ergab sich aus dem Kräftespiel der politischen Faktoren (Pontal 275). 3. Synode und ökumenisches

Konzil

Papst Julius I. (337-352) und Athanasius verwarfen die Beschlüsse der arianischen Synode von Tyrus (335), weil ein kaiserlicher Beamter den Vorsitz führte und weil sie das ökumenische Konzil von Nicäa abgelehnt hatte (Athanasius, apol. sec. 8,3: ed. Opitz 11/1,94,11-16; 2 3 , 2 - 4 : ebd. 104,30-105,4). Julius und Athanasius geht es, freilich nicht ohne Eigeninteresse, um eine staatsfreie Synode und um die Gültigkeit der Verurteilung der Arianer durch ein ökumenisches Konzil. Athanasius sagt, daß das Ganze, nämlich das ökumenische Konzil, mehr ist als der Teil (Kard fxepot;), d.h. mehr als die Lokalsynode (ep. 2: PG 26,1032C). Jedoch gebührt dem ökumenischen Konzil nicht in jedem Fall der Vorrang. Athanasius schätzt die Synode von Antiochien gegen Paulus von Samosata (268), welche das öfioovaiOQ abgelehnt hatte, ebenso hoch ein wie das Konzil von Nicäa, welches sich zum ofioovaioi; bekennt, da beide Synoden ihren vernünftigen Grund für ihre je eigenen Formulierungen haben (syn. 45: PG 26,772f.; ed. Opitz 11/1,270,18). Nach der Uberzeugung von Julius wurden die Arianer von der gesamten Ökumene verworfen. Deshalb dürfen die Beschlüsse der „heiligen und großen Synode", wie sich das Konzil von Nicäa (325) in can. 8 (Joannou 1/1, 30) selbst bezeichnet, nicht revidiert werden. Die Beschlüsse einer Mehrheit können nämlich nicht von einer Minderheit außer Kraft gesetzt werden (Athanasius, apol. sec. 22,2: PG 25,285D; ed. Opitz II/ 1,103,23-30). Und doch gilt, daß die „arianischen" Synoden auf der anderen Seite auch als Instrumente für die Verteidigung des eigenen Glaubens und der eigenen Ordnung gesehen wurden. So hat die Synode von Antiochien (341) vier Bekenntnisformeln entworfen und dabei in der zweiten Formel sowohl die radikal arianische Position als auch -•Marcell von Ancyra und das nicänische öfiooöaioq verworfen. Die Synoden von Sirmium (351, 357 und 359), aussschließlich von östlichen Bischöfen besucht, entwarfen ein Glaubensbekenntnis, die sog. erste, zweite und vierte Sirmische Formel. Die Doppelsynode von Seleukia-Rimini (359) sanktionierte das vom Kaiser für das gesamte Reich gewünschte homöische Bekenntnis. Dennoch konnte die Doppelsynode nicht als ökumenisch gelten, weil von der I. ökumenischen Synode von -»Konstantinopel (381) der -»Arianismus verworfen wurde (-»Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis). Streng genommen war auch besagtes Konzil nicht ökumenisch, da nur von östlichen Bischöfen beschickt. Es erhielt aber ökumenischen Status bereits durch die Synode von Konstantinopel (382) zuerkannt, weil die durch can. 3 des Konzils geschaffene Rangerhöhung der Kirche von —»Byzanz gegenüber dem Westen gerechtfertigt wurde (LThK* 6 [1997] 313). Ein weiterer Grund für die Ökumenizität ist die Anerkennung der in Konstantinopel erfolgten Erweiterung des Symbols von Nicäa. Eine anonyme Konzilssynopse zählt als maßgebliche Personen für Verlauf und Datierung des Konzils von Konstantinopel Kaiser, Papst und Patriarch auf (Rhalles-Potles 1,373; Sieben, Konzilsidee [1979] 363). Die Synode von Ephesus (449) konnte auch nicht als ökumenisch gelten, weil ihre Beschlüsse vom Konzil von -»Chalkedon (451) aufgehoben wurden. Für Diakon Ferrandus von Karthago (gest. 546/547) besitzen die Beschlüsse der ökumenischen Konzilien (universalia conciliä) eine Autorität, die nur noch durch die Heilige Schrift übertroffen wird. Deshalb sind ihre Beschlüsse nicht revidierbar (ep. 6,7: PL 67,926AB). Anonyme Konzilssynopsen aus dem 6. Jh. unterscheiden zwischen Teilsynoden (fiEpiKtj) und ökumenischen Konzilien, zu denen die Bischöfe der Oikumene herbeigerufen wurden. Jedoch wurden die Beschlüsse der Synoden ohne Unterschied von der Kirche als apostolische Gesetze rezipiert.

Synode I 4. Die Kaiser und Könige und die

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Synoden

Die Synoden wurden durch die jeweiligen Oberbischöfe (Nordafrika, Mailand, Rom), die sieben ökumenischen Konzilien jedoch durch den byzantinischen Kaiser einberufen, der aber auf den Konzilsversammlungen selbst nicht immer in Erscheinung trat. Leo I. mußte den Kaiser um die Einberufung des Konzils von Chalkedon bitten. Ohne die Zustimmung des Kaisers konnten keine Synoden stattfinden. Kaiser Licinius (308-324) verbot Synoden, um die Kirche zu behindern (Eusebius, v.C. 1,50-54; h.e. X,8,14). -•Konstantin der Große berief eine Synode im Lateran (313) unter Leitung von Papst Miltiades (310-314) und eine nach Arles (314) zur Schlichtung der Streitigkeiten mit den Donatisten. Er hielt die Eröffnungsrede auf dem von ihm einberufenen Konzil von Nicäa (325). Die Einberufung erfolgte mit dem Ziel der Wiederherstellung der Eintracht im Glauben zum Wohle des Staates. Konstantin intervenierte gelegentlich und favorisierte das ÓHOOWIOQ (ed. Opitz III/l,44,4f. [Urkunde 22,7]; Eusebius, v.C. 111,13; Frank 246; s.a. Sieben, Konzilsidee [1979] 4 5 2 - 4 6 1 mit Belegen, bes. Eusebius, v.C. 11,61-111,24). Für -»Eusebius von Caesarea bedeutet Nicäa den Sieg des Kaisers Konstantin über den „unsichtbaren Feind der Kirche" (Sieben, Konzilsidee [1979] 445). Eine solche Einschätzung steht im Zusammenhang mit der spätantiken Kaiserideologie des Eusebius. Die Nachfolger Konstantins bemühten sich einerseits, die Beschlüsse des Konzils von Nicäa außer Kraft zu setzen, andererseits ging es ihnen um die Formulierung eines für die gesamte Reichskirche verbindlichen Glaubens. Unter den Kaisern -»Theodosius I. und Gratian (375-383) hatte jedoch der Glaube von Nicäa den Sieg errungen. Am Ende der 6. Sitzung des Konzils von Chalkedon (451) erhielt das neue Kaiserpaar Markian (396-457) und Pulcheria (399—453) Akklamationen. Kaiser —»Justinian zwang Papst Vigilius (537-555) auf dem 5. ökumenischen Konzil von Konstantinopel (553) zur Unterschrift unter die Verurteilung der Drei Kapitel. Kaiser Konstantin IV. (668-685) führte auf dem 6. ökumenischen Konzil von Konstantinopel (680/681) den Vorsitz. Das 7. ökumenische Konzil von Nicäa (787), von Kaiserin Irene (ca. 752-803) einberufen, stellte unter Leitung von Patriarch Tarasios (gest. 806) zunächst die Ikonenverehrung wieder her. Im Merowingerreich (-»Frankreich II) hatten nicht selten die Könige Synoden als Nationalkonzilien oder Reichssynoden einberufen (z.B. die Synode von Orléans 511) und ihnen die Tagesordnung vorgegeben. Solche Synoden dienten dem König als Beratungsorgan in politischen Angelegenheiten (Pontal 26.28.121). Seit —»Chlodwig durfte kein Konzil ohne Ermächtigung des Königs einberufen werden. Königliche Dekrete verliehen den Synodalbeschlüssen Gesetzeskraft. Nur an Konzilien, die einen Schiedsspruch fällten, nahm der König selbst teil (Saint Pierre de Granon 673/675; Malay 677). Als die Hausmeier die Könige verdrängt hatten und den Episkopat beherrschten, verfiel das Synodalwesen im 7. Jh. im Frankenreich allmählich (Pontal 233). 5. Die Synoden und die Päpste Bereits im 3. und 4. Jh. haben einzelne Synoden (Antiochien 268; Arles 314) ihre Beschlüsse dem römischen Bischof mitgeteilt, nicht damit dieser die Beschlüsse bestätige, sondern bekannt mache (vgl. T R E 25,650,12ff.). Der römische Bischof war der Erstgenannte unter den Bischöfen, welche über die Synodalentscheidungen informiert wurden. Erst allmählich begannen die Päpste, autoritativ in das Synodalwesen einzugreifen. Die östlichen Bischöfe hatten auf ihren Synoden Athanasius verurteilt. Ihre Beschlüsse hielten sie für unabänderlich. Dadurch wurde einer Regionalisierung der Synoden und der Autokephalie der Ortskirchen Vorschub geleistet. Papst Julius I. vertrat dagegen die Ansicht, daß Fehlurteile von Synoden durch größere Synoden revidiert werden können. Daher sprach er Athanasius von den Vorwürfen seiner Gegner frei. Im Zusammenhang mit dem Einsatz des Papstes Julius zugunsten des Athanasius stehen die Kanones der Synode von Serdika (342/343). Sie gab eine Antwort auf die Frage nach den notwendigen Schrit-

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Synode I

ten, wenn ein von einer Regionalsynode verurteilter Bischof das gegen ihn ergangene Urteil nicht annehmen konnte. Daher sprachen die westlichen Bischöfe in Serdika - die östlichen waren abgereist und hatten ihr Ziel, die Verurteilung des Athanasius und Marcells, verfehlt - einem abgesetzten Bischof das Recht (can. III—V: E O M J A 1 / 2 , 4 5 6 - 4 6 0 ) zu, sich an den Papst mit der Bitte zu wenden, mit seinem Fall eine weitere Synode zu betrauen. Wenn der Papst nach sorgfältiger Prüfung der Sachlage zur Überzeugung kam, daß der Urteilsspruch der Regionalsynode gegen den abgesetzten Bischof rechtens war, konnte er diesen bestätigen oder eine neue Untersuchung veranlassen. Man sprach häufig vom römischen Bischof als einer Appellationsinstanz. Demgegenüber bevorzugt K. Schatz (40) die Bezeichnung „Revisionsinstanz". Besagte Kanones stärkten darüber hinaus sowohl die Stellung des Papstes als ad hoc auch die Stellung der westlichen Synoden gegenüber den östlichen, da eine westliche Synode nach Einberufung durch den Papst auch gegen Entscheidungen einer östlichen Synode tätig sein konnte. Die Beschlüsse von Serdika sind nur vom Westen, nicht vom Osten anerkannt worden. Nachdem -»Johannes Chrysostomus von Kaiser Arkadios (395-408) als Bischof von Konstantinopel abgesetzt worden war, verlangte Papst Innocenz I. (402-417) die Einberufung einer Synode aller Bischöfe des Imperium Romanum, die diesen Fall prüfen sollte. Dadurch geriet der Papst mit dem Kaiser in Konflikt. Im 5. Jh. haben sich die Päpste (so besonders Zosimus [417-418], Bonifatius I. [418-422] und Leo I.) der Sache nach auf die Kanones von Serdika berufen, auch wenn sie diese Kanones dem Konzil von Nicäa zugeschrieben haben (Sieben, Sanctissimi Petri 506ff.). Zosimus versuchte, das römische Appellationsrecht gegenüber der afrikanischen Synode durchzusetzen, und Leo I. wollte eine Synode in Italien einberufen, nachdem der in Ephesus abgesetzte Bischof Flavian von Konstantinopel (gest. 449/450) an ihn appelliert hatte. Als Papst schärfte Leo I. den Bischöfen gemäß can. 5 von Nicäa die Teilnahme an den Synoden ein, so im Brief an die illyrischen Metropoliten vom 6. Januar 446 (ep. 13,2: PL 54,665A), in ep. 14,7 an Anastasius von Thessaloniki (ca. 4 3 2 - 4 5 2 ) vom selben Jahr sowie im Brief an die Bischöfe Siziliens (ep. 16,7). Unter Berufung auf die Väter schrieb Leo unter Androhung von Strafen vor, daß jährlich zwei überprovinzielle Synoden stattfinden, wozu jede Provinz je zwei oder drei Bischöfe entsenden soll. Leo versammelte in seinem Bistum Rom die alljährlichen Provinzialsynoden und zwei Bischofsversammlungen, „damit keine Irrtümer auftreten, wenn in Anwesenheit des seligen Petrus gemeinsam beraten wird" (ep. 16,7; Sieben, Konzilsidee [1979] 108). Weiter heißt es (ep. 14,10 und 14,11), Streitfälle der Bischöfe seien an Anastasius und in letzter Instanz an Leo selbst zu verweisen. Leo folgt also dem Subsidiaritätsprinzip, d.h. was die Synoden nicht selbst entscheiden können, leiten sie zunächst an die Generalsynoden, dann von diesen an den römischen Stuhl (ep. 14,11: PL 54,676A). Leo stellte das Prinzip auf, daß Metropoliten nur in ihrem je eigenen Sprengel Synoden ansetzen dürfen (Sieben, Konzilsidee [1979] 108; Jalland 1 1 3 - 1 2 8 ) . Er beanspruchte die Vollmacht, Konzilsbeschlüsse zu bestätigen (ep. 12,13: PL 54,656A). Trotz der regulierenden Maßnahmen, die der Römische Stuhl gegenüber den Synoden ergriffen hatte, fühlte er sich doch nicht als ihr absoluter Herrscher. So sah sich Coelestin I. (422-432) durch das Recht gebunden (ep. 3: PL 50.428B). Konzil und Papst sind nach der Konzeption Leos aufeinander bezogen. Leo erblickt seine Aufgabe in der Verkündigung des Evangeliums, die des Konzils in der definitio (Sieben, Konzilsidee [1979] 142f.). Im Unterschied zu H.J. Sieben sieht S.O. Horn (140) die Aufgabe des Konzils darin, „die vertikale Erstreckung des Glaubens in der Kirche zu prüfen und so zusammen mit dem Papst das endgültige Urteil (definitio) zu fällen". Und doch scheint es, als sei das Konzil von Chalkedon nur ein Akzidens zur päpstlichen Verkündigung (ep. 118,1: ACO 11/4,71,28-72,5; Sieben, Konzilsidee [1979] 141 f.). Ganz im Sinne Leos hatte dessen Nachfolger Hilarus (461-468) auf der Abhaltung von Provinzialsynoden und der Berichterstattung an den apostolischen Stuhl bestanden (ep. 19: MGH.Ep 3,28,18-29,2; ep. 20: ebd. 29f.).

Synode I

565

Für Papst - » G e l a s i u s I. ist R o m entsprechend den Kanones von Serdika oberste Apellationsinstanz. „ E i n e Appellation von R o m an ein Konzil ist v e r b o t e n " (Gelasius, ep. 10: ed. Thiel I, 3 4 4 ; Sieben, Konzilsidee [1984] 6 8 ) . Z u r Abstellung von M i ß b r ä u c h e n drang Papst - » G r e g o r I. der G r o ß e auf die Einberufung von Synoden. In der Folgezeit gingen Synoden vor allem gegen die - » S i m o n i e vor (Pontal 2 1 9 - 2 2 4 ) .

6. Kompetenzen

der Metropoliten

und

Bischöfe

Die Synoden in Nordafrika, Gallien, Spanien und im Nahen Osten waren weitgehend in der Hand der Oberbischöfe, die sie einberufen hatten, dienten aber auch den teilnehmenden Bischöfen als Sprachrohr. Die Synoden von Karthago 4 1 9 und 4 2 4 hatten im Zusammenhang mit dem Streit um den Priester Apiarius jegliche Appellation nach R o m verboten, da es undenkbar sei, daß G o t t einem einzelnen, d.h. dem Papst, mehr Einsicht verliehen habe als dem Konzil der Bischöfe (Schatz 5 1 ; C C h r . S L 149,171,65ff.). Hatten im Merowingerreich nicht selten Könige Synoden zusammengerufen, so gab es auch zahlreiche Synoden, die von den Metropoliten einberufen wurden, um theologische und disziplinare Fragen zu behandeln (z. B. Synode von O r a n g e 5 2 9 , Konzil von Marseille 533, Synode von Orleans 549). Auf dem Konzil von Clermont (535) versuchten die Bischöfe, die Unabhängigkeit der Bischofswahlen und des Klerus gegenüber dem König und den Fürsten herzustellen. Die Bischöfe strebten auch danach, sich aus der Botmäßigkeit des Königs zu befreien (Synode von Paris 5 6 1 / 5 6 2 ; Saintes 5 6 1 / 5 6 7 ; Tours 567) und die Freiheit vom Willen des Königs bei der Besetzung von Bischofssitzen zu erlangen. Den Vorsitz bei den Synoden führten die Metropoliten, insbesondere Caesarius von Arles bzw. der Metropolit (Patriarch) von Lyon. Gegen die Unsitte, daß Bischöfe unter Berufung auf eine Anweisung des Königs den vom Metropoliten alljährlich einberufenen Synoden fernblieben, schritten die Konzilien von Orleans (538, can. 1) und von Tours (567, can. 1) ein.

7. Regelungen

der

Synodaltätigkeit

Die Anordnungen über die Z a h l der Synoden im J a h r differieren. C a n . 51 der Synode von Karthago (424/425; C C h r . S L 149,188f. [Rhalles/Potles III, 429]) verlangte nur eine Synode jährlich. Die Diözesansynode von Auxerre (nach 585) legte u.a. fest, daß die Priester sich jährlich im Mai,- die Äbte im November mit ihrem Bischof versammeln sollten (Pontal 237). C a n . 5 von Nicäa (325; J o a n n o u 1/1, 27 [Rhalles/Potles II, 124]) schrieb in jeder Eparchie die Abhaltung von jährlich zwei Synoden vor. C a n . 2 0 der Synode von Antiochien (341) (Joannou 1/2, 120 [Rhalles/Potles III, 162]) und can. 19 des Konzils von Chalkedon (451) (Joannou 1/1, 8 4 f . [Rhalles/Potles II, 265]) folgten dieser Anordnung. Die Synode in Trullo (691/692) schreibt in can. 8 (Joannou 1/2, 135 [Rhalles/Potles II, 324]) nur eine Synode im J a h r vor. Die Statuta Ecclesiae antiqua ( - » Kirchenrechtsquellen), wahrscheinlich zwischen 4 7 5 und 485 entstanden, statten die Synoden so aus, daß die M a c h t der monarchischen Bischöfe begrenzt wird. Ihre Teilnahme an den Synoden wird eingeschärft. Miteinander streitende Bischöfe sollen auf den Synoden versöhnt und Verurteilten R e c h t geschaffen werden. C a n . 3 5 der Synode von Agde (506) und Synoden im Merowingerreich, wie z. B. can. 2 der Synode von Orleans (533), bestehen auf der Abhaltung einer jährlichen Provinzialsynode (Pontal 4 . 7 3 . 8 2 . 8 9 ) . C a n . 2 0 des Konzils von M ä c o n (585) verlangte, daß alle drei J a h r e ein Konzil abzuhalten sei. Die Collectio Dionysiana (-»Dionysius Exiguus) regelt in elf Kanones die Tätigkeit der Synoden und verstärkt das R e c h t der Berufung an den Apostolischen Stuhl (Sieben, Konzilsidee [1984] 194f.). Sie bildet den Grundstock für spätere kleinere und größere Kirchenrechtssammlungen. Die bedeutendste im ersten Jahrtausend ist die Hispana (offiziell gültig seit 633; vgl. Plöchl I, 2 8 0 ) . Von dieser wurden Auszüge ( E x c e r p t a ) gefertigt zwischen 6 5 7 und 675. Buch III dieser Excerpta regelt unter der Überschrift De conciliis celebrandis (Sieben, Konzilsidee [1984]

566

Synode II

199) Einberufung der Synoden, Teilnahmepflicht, Vertretung im Krankheitsfall, Häufigkeit. Die Synode erscheint hier noch als „autonome, selbständige Größe" (ebd. 203) gegenüber dem Papst. Vor Papst Gregor d.Gr. war die gallisch-fränkische Kirche im 6. Jh. vor allem im Norden weniger mit dem Papst, jedoch mehr mit dem König verbunden. Im Süden dagegen verlief die Entwicklung umgekehrt. Insgesamt war die fränkische Kirche keine „Nationalkirche" unter einem König als Oberhaupt. Gregor d.Gr. war bestrebt, wieder stärker als seine Vorgänger ins Leben der fränkischen Kirche einzugreifen. Durch Einberufung von Synoden versuchte er, Mißstände zu beseitigen. Im 7. Jh. fanden im Frankenreich nur noch wenige Synoden statt. Jedoch entstanden um diese Zeit die ersten Kanonessammlungen. Diese bilden eine wichtige Quelle für die Kanonessammlungen des Mittelalters (Pontal 2 1 9 - 2 2 5 ) . (Quellen/Literatur s.u. S. 569) Ferdinand Reinhard Gahbauer

II. Mittelalter 1. Regelungen der Synodaltätigkeit 2. Die Könige und die Synoden die Bischöfe 4. Die Synoden und die Päpste (Quellen/Literatur S. 569)

1. Regelungen

der

3. Die Synoden und

Synodaltätigkeit

Erstmals nahmen im Frankenreich Laien an der Synode von Soissons (744) teil. Die Synode von Nantes (um 900) verbot die Teilnahme von Frauen - auch Nonnen und Witwen - an Synoden und Reichstagen. Auf den Synoden von Aachen (802) und Mainz (813) tagten Bischöfe, Äbte und Mönche sowie Grafen und Richter getrennt. Gemäß dem Beschluß der Reichsversammlung von Aachen (813) fanden im Frankenreich gleichzeitig an fünf Orten Reformsynoden statt. Die Einteilung der Synodalorte ergab sich aus ihrer Zugehörigkeit zu Provinzen und civitates entsprechend der Notitia Galliarum (Hartmann 130). Die fränkischen Synoden regelten die Synodaltätigkeit. Einmal im Jahr sollten Synoden zusammentreten (Concilium Germanicum des -»Bonifatius [742], can. 1; can. 2 von Soissons [744]). Can. 3 derselben Synode bestimmt, „daß Priester und Kleriker vom Archidiakon und vom Grafen zum synodus geladen werden sollen ... Im Unterschied zu den Vorschriften des Bonifatius, der im Concilium Germanicum jährlich eine Synode vorgesehen hatte, bestimmt c. 4 von Ver (755) nach dem Vorbild des Konzils von Nicäa zwei Synoden im J a h r " (Hartmann 68f.; s.a. can. 6 der Synode von Reisbach-FreisingSalzburg [799/800]). „Zwei Provinzialsynoden im Jahr fordert im Anschluß an die Bestimmungen von Antiochia (c. 20) und Chalkedon (c. 19) die Admonitio generalis von 789 (c. 13)" (ebd. 410). Das Konzil von Meaux (845/846, can. 32) überließ dem Metropoliten die Einberufung einer Provinzialsynode einmal oder zweimal im Jahr. Fernbleiben war mit Exkommunikation bedroht. Die Provinzialsynode steht im Zusammenhang mit der Metropolitanverfassung, die erst gegen Ende des 8. Jh. verwirklicht war (ebd. 414). Es geht aus dem Begriff synodus (can. 2 von Soissons [744]) nicht hervor, ob es sich um eine Diözesan- oder Provinzialsynode oder um eine synodus magna handelt. Eine solche fand in Frankfurt (794) statt, wo Bischöfe aus Gallien, Germanien, Italien und Bayern teilnahmen. Bischofsversammlungen wurden dort parallel zum Reichstag abgehalten. Can. 1 (MGH.Conc 2/II, 594) des Concilium in Francia habitum (818/819829) verlangt unter Berufung auf die canonica auetoritas die alljährliche Provinzialsynode, an der neben dem Metropoliten und den Bischöfen auch Äbte, Kanoniker und Mönche teilnehmen müssen.

Synode II 2. Die Könige und die

567

Synoden

Neu gegenüber den merowingischen Synoden ist der Brauch, die Synodalbeschlüsse in den sog. Kapitularien der Frankenkönige (-»Pippin, -»Karl der Große usw.) zu veröffentlichen. Dahinter standen Macht und Prestige der Hausmeier und Könige (Hartmann 12-16.53). Die Entscheidungen und Texte der Synoden sind jedoch größtenteils außerhalb der Kapitularien überliefert. Karl der Große mischte sich auch in dogmatische Angelegenheiten auf den Synoden ein. Neben geistlichen Fragen standen auch politische und wirtschaftliche an. Die Herrscher, vor allem Karl der Große, Ludwig I. der Fromme (813/814-840) und Karl der Kahle (840/843-877), versuchten, Synoden in ihrem Sinn zu beeinflussen, Orte und Themen vorzuschreiben. Teilweise führten sie selbst den Vorsitz. Die Konzilien sollten nach dem Willen von Ludwig dem Frommen Wege aus der durch militärische Niederlagen entstandenen Reichskrise suchen. Der conventus generalis von Diedenhofen (835), an dem alle Bischöfe und Äbte teilnahmen, setzte Ludwig wieder in seine Rechte als Kaiser ein. Unter dem Vorsitz des Metropoliten -»-Hrabanus Maurus traten 847 auf Befehl Ludwigs des Frommen die Bischöfe der Mainzer Kirchenprovinz zusammen. König Lothar II. (855-869) benutzte die Synoden im Mittelreich zwischen 860 und 865 zur Lösung seiner Eheproblcme (Hartmann 404). Die Verzahnung von Königtum und Kirche zeigte sich neben den genannten Aktivitäten der Synoden auch darin, daß die Mißachtung des Königs und der kirchlichen Gerichtsbarkeit mit dem Anathem bedroht war (can. 1 4 - 1 5 von Meaux-Paris 845/846). Jedoch gelang einzelnen Synoden auch die Wahrung ihrer Unabhängigkeit vom Königtum. So übte die Synode von Quierzy (858) Kritik an Ludwig dem Deutschen (833-837 und 840/843-876), weil er ins Reich Karls des Kahlen eingefallen war. 3. Die Synoden

und die

Bischöfe

Die Synode von Fismes (881) unterstrich den Vorrang der bischöflichen Gewalt vor der weltlichen und erließ in can. 8 Leitsätze für die Amtsführung des Königs (Hartmann 341). Auch andere Synoden (Yütz 844; Mainz 888, can. 1 - 3 ; Trosly 909, can. 2) haben dies getan (Hartmann 405). Metropolit -»Hinkmar von Reims unterstrich unter Berufung auf altkirchliche Quellen die Überlegenheit des konziliaren über das päpstliche Rccht und das Recht der Metropoliten auf Einberufung einer Provinzialsynode ohne päpstliche Erlaubnis kraft eigener Schlüsselgewalt. Die Einberufung der synodi generales bzw. universales, d.h. der ökumenischen Konzilien und großen Bischofssynoden, sowie Bestätigung und Aufhebung der kleineren Synoden gestand er den Päpsten zu. Die von Päpsten, Königen und Metropoliten einberufenen Synoden sind nach Hinkmar concilium perfectum (Sieben, Konzilsidee [1984] 9 1 - 1 0 0 ; Hinkmar, Opusculam LV capitulorum; ders., De divortio Lotharii regis [PL 125 und 126]). „Indem Hinkmar das Verhältnis Konzil/Papst auf die Rechtsbasis von Serdika, Kanon 3 und 7 zu stellen sucht, macht er sich nicht nur zum Anwalt der Autonomie der Synode, sondern tritt auch zwangsläufig für eine innere Begrenzung der päpstlichen Macht ein" (Sieben, Konzilsidec [1984] 101; s.a. ebd. 1 0 0 112). Er stellte konziliares Recht über das dekretale Recht der Päpste, weil die Kirche für ihn wesenhaft communio ist. 4. Die Synoden

und die

Päpste

Unter den Päpsten, welche im 8. und 9. Jh. Synoden einberufen haben, ragen besonders Zacharias (741-752), Leo IV. (847-855), Nikolaus I. (858-867), Hadrian II. (867-872) und Johannes VIII. (872-882) hervor. Fränkische und römische Synodalgesetzgebung haben sich gegenseitig beeinflußt (Hartmann 408). Nur selten haben päpstliche Legaten an fränkischen Synoden teilgenommen oder gar den Vorsitz geführt. Die

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Synode II

Synode von Rom (743, can. 4) „schrieb vor, daß die Bischöfe der römischen Kirchenprovinz jedes Jahr am 7. Mai nach Rom kommen sollten, um sich dort mit dem Papst zur Provinzialsynode zu versammeln" (Hartmann 410). Da Nikolaus I. seine Primatsund Appellationsrechte über die gesamte Kirche beanspruchte, strebte er danach, sich die Synoden im fränkischen Reich unterzuordnen. Er beanspruchte das Recht auf Einberufung eines conciliutn generale, d.h. eines Nationalkonzils (vgl. Pseudo-Isidor). Wenn er die Einberufung von Landessynoden von seiner Zustimmung abhängig machte, verlor der fränkische König dadurch seinen Einfluß auf die Synoden. Alle Konzilien erhalten durch die päpstliche Bestätigung Rechtskraft (Nikolaus I., ep. 29: MGH.Ep 6,296,28-31; Johannes VIII., ep. 207: MGH.Ep 7,170,42-171,12]; Sieben, Konzilsidee [1984] 35.55). Can. 17 des Konzils von Konstantinopel (869/870) bestätigt das Recht des römischen Patriarchen, alle abendländischen Metropoliten zur Patriarchalsynode zu versammeln. Weltliche Mächte dürfen diese nicht behindern. Can. 21 verbietet es den weltlichen Machthabern, gegen den Papst und die Patriarchen in frecher Weise vorzugehen. Uber die Anordnungen der Synode von Serdika hinausgehend zog Nikolaus alle Appellationsfälle direkt an sich. Johannes VIII. dienten die Synoden von Rom (875) und Pavia (876) zur Festigung des Primates. „Der Papst steht dem Konzil gegenüber in voller Souveränität. Die Rolle des Konzils besteht wesentlich in Beratung und Zustimmung zum Urteil, das der Papst gefällt hat" (Sieben, Konzilsidee [1984] 31). Die Synoden erfahren durch den päpstlichen Primat eine Einschränkung ihrer Autonomie. Dadurch entstand jedoch der neue Typus der abendländischen Generalsynode, zu welcher der Papst (erstmals Nikolaus I. im Jahre 864, 865 und 867 ohne Erfolg) die Bischöfe nach Rom einlud. Die Stellung der Könige in den Landeskirchen war noch zu stark. Erst 1123 kam unter Calixtus II. (1119-1124) ein päpstliches Generalkonzil (Lateran I [-•Lateransynoden]) zustande. Im 9. Jh. wird die Frage der Superiorität von Papst oder Konzil unter der Rücksicht der Erlaubtheit oder Nichterlaubtheit von Appellationen von der einen an die andere Instanz diskutiert. Anastasius Bibliothecarius (Gegenpapst bis 855, gest. 878/879) löst den Konflikt dadurch, daß er die Gültigkeit des Konzils von der Bestätigung durch den Papst abhängig macht. Bereits im 8. und 9. Jh. waren lateinische (Walahfried Strabo [808/809-849], aber weder -»Agobard von Lyon noch Hinkmar von Reims) und byzantinische Theologen (Mönch Anastasius [gest. kurz vor 700], Diakon Stephan [gest. 764], Patriarch Nikephoros von Konstantinopel [ca. 7 5 0 - 8 2 8 ] ) von der Notwendigkeit der römischen Zustimmung zu einer Synode überzeugt (vgl. Sieben, Konzilsidee [1984] 69ff.). Papst Nikolaus I. unterstrich gegenüber dem byzantinischen Kaiser Michael III. ( 8 3 8 867), daß der römische Stuhl nicht von einem ökumenischen Konzil gerichtet werden könne, da er den Primat von Christus, nicht vom Konzil erhalten habe (Sieben, Konzilsidee [1984] 3 9 . 4 6 - 5 3 ) . Im 10. Jh. haben die Päpste nur wenige Synoden veranstaltet. -•Leo IX. und -+Gregor VII. beriefen wieder mehr Synoden ein. Vor allem sollten diese als Reformsynoden dem Vorhaben der Kirchenreform und der Auseinandersetzung mit Irrlehrern dienen. Als Beispiele dafür seien genannt: Synode von Rom (1059), Lateransynode (1060), Synode von Rom (1079), Synode von Duastalle (1106), Synode im Lateran (1110). Mit dem ersten Laterankonzil (1123; -•Lateransynoden), das als 9. ökumenisches Konzil bezeichnet wird, kamen die seit dem 8. Jh. unterbrochenen ökumenischen Konzilien wieder auf. Sie dienen ihrer Intention nach der Reform, der Verurteilung von Mißbräuchen und von Irrlehren, der Festlegung der katholischen Lehre und zum Teil auch der Wiedergewinnung der Kircheneinheit mit den orthodoxen Ostkirchen (-»Lyon II; Konzil von Florenz [—•Basel-Ferrara-Florenz]). Die orthodoxen Ostkirchen bestreiten die Okumenizität dieser Konzilien. Weiterhin kennt das Mittelalter auch in dieser Zeit Diözesansynoden, an denen bis zum 13. Jh. auch Laien teilnehmen. Ihre Aufgabe liegt im Bereich der Verwaltung, der Gerichtsbarkeit und der Beratung des Bischofs. Nach can. 6 des IV. Laterankonzils (1215)

Synode II

569

sollen sie einmal im J a h r zusammentreten. Gelegentlich leitete der Papst auch Synoden außerhalb R o m s ( z . B . Synode von Verona 1184). N i c h t nur in Westeuropa, auch auf d e m Balkan (Dalmatien, Kroatien, Ungarn) wurden im Mittelalter Diözesan- und P r o vinzialsynoden häufig unter der Führung eines Legaten abgehalten (vgl. Waldmüller). Vor allem vom 12. bis zum 14. J h . sind zahlreiche, sehr unterschiedliche Konzilstheorien aufgekommen, die das Verhältnis zwischen Konzil und Papsttum untersuchen (-»Konziliarismus; s.a. Sieben, Konzilsidee [ 1 9 8 4 ] ) . Das v o m Konzil von - » K o n s t a n z a m 6. April 1 4 1 5 verabschiedete Dekret Haec Sancta ( Q G P R K 7 6 7 ) leitet die G e w a l t der Synode unmittelbar von Christus her und verpflichtet den Papst zum G e h o r s a m gegen die Synode. D a s Dekret Frequens v o m 9. O k t o b e r 1 4 1 7 ( Q G P R K 7 6 8 ) schreibt die häufige Einberufung von Konzilien zur Durchführung der Kirchenreform und der Beseitigung von Irrlehren und Schismen vor. Die 18. Sitzung des Konzils von - » B a s e l (26. Juni 1434) erneuert die Forderungen von Konstanz. Quellen ACO. - Anselm v. Havelberg, Dialogi: PL 188,1139-1248. - Athanasius v. Alexandrien, Apologia contra Arianos: ders., Werke I I / l , hg. v. Hans-Georg Opitz, Berlin 1 9 3 5 - 1 9 4 1 , 8 7 - 1 6 8 . Ders., De decretis Nicaenae synodi: ebd. 1 - 4 5 . - Ders., De synodis Arimini in Italia et Seleucia in Isauria celebratis: ebd. 2 3 1 - 2 7 8 . - Ders., Ep. episcoporum Aegypti et Libyae nonaginta: PG 26,1029-1048. - Ders., Ep. festales: PG 2 6 , 1 3 6 7 - 1 4 4 4 . - Ders., Tomus ad Antiochenos: PG 2 6 , 7 9 6 809. - Augustinus, Contra ep. 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Ferdinand Reinhard Gahbauer

III. Reformation bis zur Gegenwart III/l. Reformation bis Schleiermacher III/2. Neuzeit seit Schleiermacher . . . III/3. Konfessionskundlich

S. 576 S. 580

III/l. Reformation bis Schleiertnacher 1. Der Kampf um das Konzil 2. Tridentinum 3. Lutherische Kirchen 4. Reformierte Kirchen 5. Die synodale Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Quellen/Literatur S.575)

1. Der Kampf um das Konzil Die -»Reformation in Deutschland knüpfte an eine zentrale Forderung des —»Konziliarismus an und verlangte nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Zu diesem Zweck sollte ein freies, allgemeines, christliches Konzil einberufen werden. Der auslösende Impuls für die Konzilsforderung war M. -»Luthers Appellation vom Papst an ein Konzil am 28. November 1518 nach seinem Verhör durch J. -»Cajetan de Vio. Erhoffte Luther zu diesem Zeitpunkt von einem Konzil noch Schutz vor dem Papst, so vertrat er schon im Sommer 1519 bei der Leipziger Disputation mit J. -»Eck die These, daß nicht nur der Papst, sondern auch Konzilien irren könnten. So habe das Konstanzer Konzil J. -»Hus und seine Lehren zu Unrecht verurteilt. Einer größeren Öffentlichkeit wurde Luthers Konzilsforderung durch seine Schrift An den christlichen Adel (WA 6,404-469) vom August 1520 bekannt. Nach dem Vorbild von —»Nicäa, so forderte Luther, sollte das angestrebte Konzil nicht vom Papst, sondern vom Kaiser einberufen werden. 1523 verlangten auch die deutschen Fürsten und Stände auf dem Nürnberger Reichstag ein Konzil in einer deutschen Stadt, um die religiösen Probleme im Reich zu lösen und die unbefriedigende Stellung der deutschen Nation gegenüber dem Papst zu korrigieren (-»Gravamina nationis germanicae). Die Verschleppungspolitik der Päpste, insbesondere von Papst -»Clemens VII., und widrige politische Umstände verzögerten die Einberufung eines Konzils jedoch immer wieder. Erst im Dezember 1545 wurde das Konzil in Trient (-»Tridentinum) eröffnet. Die Reformatoren hatten zu diesem Zeitpunkt längst alle Hoffnungen auf eine angemessene Behandlung ihrer Anliegen aufgegeben. Für Luther stand fest, daß das Trienter Konzil weder frei noch allgemein noch christlich werden würde, da es vom Papst einberufen war, den Laien kein Stimmrecht zustand und die Schrift nicht als alleiniger Maßstab anerkannt war. In seiner Schrift Von den Konziliis und Kirchen (WA 50,509-653) aus dem Jahr 1539 hatte Luther zehn Kriterien eines rechten Konzils benannt (WA 50,606,7-614,27), die für das Synodenverständnis lutherischer Kirchen bis heute maßgeblich sind. Zentral ist dabei Luthers These, daß Konzilien keine neuen Glaubensartikel aufstellen dürften, sondern vielmehr schriftwidrige Neuerungen abwehren müßten. Konzilien hätten die Autonomie des weltlichen Regiments zu respektieren und zu verteidigen. Sie hätten das Recht und die Aufgabe, solche Zeremonien und Übereinkünfte zu beschließen, die um der kirchlichen Ordnung willen erforderlich sind (vgl. CA XIV). Gemessen an diesen Kriterien werden von Luther die altkirchlichen Synoden besonders geschätzt, weil sie keine neuen Lehren aufstellten, sondern sich auf die Auslegung des göttlichen Wortes und die Abwehr schriftwidriger Neuerungen beschränkten.

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2. Tridentinum Nach einem vergeblichen Versuch, ein Konzil im Mai 1537 in Mantua zu eröffnen, berief Papst - • P a u l III. das Konzil für den 15. März 1545 nach Trient als der südlichsten Stadt des Reiches ein. Eröffnet werden konnte es jedoch erst am 13. Dezember 1545, als genügend Delegierte erschienen waren. Das Konzil dauerte mit erheblichen Unterbrechungen in drei Phasen bis zum 4. Dezember 1563. Die Leitung hatten päpstliche Legaten inne. In den Generalkongregationen waren ausschließlich Prälaten (Bischöfe, Ordensgeneräle und Äbte von Klosterverbänden) stimmberechtigt. Doch fanden zur Vorbereitung informelle Theologenkongregationen statt, zu denen von verschiedenen Seiten Experten eingeladen werden konnten, die das Konzil berieten. Kaiser -»Karl V. hatte auf einer Stadt im deutschen Reich als Konzilsort bestanden, um die Teilnahme der Protestanten nicht völlig auszuschließen. Nach der Niederlage des -»Schmalkaldischen Bundes waren in der mittleren Konzilsphase tatsächlich auch protestantische Vertreter für kurze Zeit in Trient anwesend. Doch alle Versuche, die Kirchentrennung zu verhindern, scheiterten. Das Konzil kam zu spät. Die Konfessionalisierung der westlichen Kirche war nicht mehr aufzuhalten. Die Kirchen definierten sich fortan in gegenseitiger Abgrenzung voneinander. Für die römisch-katholische Kirche bedeutete das Konzil einen erheblichen Reformimpuls, auch wenn sich viele der Reformansätze erst langfristig auswirkten. Der Ämterkauf und die Pfründenhäufung wurden eingedämmt. Die Priesterausbildung wurde erheblich verbessert. Besonders durch den aufstrebenden Jesuitenorden (-»Jesuiten) wurden Schulen und Universitäten gegründet. Die Bischöfe wurden zur Präsenz in ihrer Diözese und zur Visitation verpflichtet. Künftig sollten jährlich Diözesansynoden und alle drei Jahre Provinzialsynoden stattfinden. Obwohl diese Synoden in der Folgezeit faktisch seltener einberufen wurden, waren sie wichtige Instrumente, um die Kirchenreform (-»Katholische Reform und Gegenreformation) durchzusetzen. Im Gefolge des Konzils konnte die römisch-katholische Kirche ihr im Zeitalter der Renaissancepäpste bedrohtes geistliches Profil zurückgewinnen. 3. Lutherische

Kirchen

Ansätze für eine synodale Kirchenstruktur finden sich bei Luther vor allem in seiner Schrift Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift (WA 11,408-416) aus dem Jahr 1523. Luther entfaltet darin die schon in der Adelsschrift vorgestellte These vom allgemeinen Priestertum (—»Priester/Priestertum II) dahingehend, daß Christus allen Getauften gleichermaßen das Recht übertragen habe, Gottes Wort zu lehren und die Lehre anderer zu beurteilen. Da allen Christen dasselbe Recht zu lehren zustehe, bedürfe es der Berufung einzelner, die das Amt der Verkündigung stellvertretend wahrnehmen. Die für das Predigtamt Delegierten sollen sich dabei durch Geschick und Verstand auszeichnen. Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum legte eine unmittelbare Gemeindebeteiligung bei der Wahl der Geistlichen und bei der Gestaltung der kirchlichen Ordnung nahe. Doch sah man in den lutherischen Kirchen vornehmlich die weltliche Obrigkeit, die Fürsten und Stadträte, als legitime Repräsentanten der Öffentlichkeit an, so daß sich die Beteiligung der Gemeinde an der Kirchenleitung zumeist auf ein Widerspruchsrecht der Gemeinde gegen die Berufung eines Pfarrers auf ihre Pfarrstelle beschränkte, sofern die Berufung nicht dem Kirchenpatron allein zustand. Als Verfassungsform hat sich in den lutherischen Kirchen seit der kursächsischen Kirchenvisitation von 1528 (-•Visitation) deshalb nicht eine synodale Kirchenstruktur, sondern das landesherrliche -•Kirchenregiment durchgesetzt. Allerdings sah die hessische Reformationsordnung von 1526 Synoden auf der Ebene der Gemeinde, der Provinz und der Landeskirche vor. Die Ordnung wurde in dieser Form zwar nicht umgesetzt, doch hatte die evangelische Kirche in Hessen von 1531 an eine synodale Leitungsstruktur in der Form von Superintendentensynoden (vgl. T R E 15,266-269).

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Die von der lutherischen Orthodoxie (A. ->CaIov; David Hollaz [1648-1713]; Johann Andreas Quenstedt [1617-1688]) entwickelten Synodenmodelle blieben ohne größere Wirkung. Wurden im Luthertum überhaupt Synoden gebildet, fanden sie in der Form von Pfarrsynoden statt. Die Laienbeteiligung beschränkte sich auf die Repräsentanten der weltlichen Obrigkeit, die in der Regel auch für die Einberufung der Synode zuständig waren. Die Funktion dieser Synoden lag vor allem in der Beratung der Geistlichkeit untereinander, in der Weiterleitung der Beschlüsse des Konsistoriums und in der Visitation der Geistlichen. Nach der Kirchenrechtstheorie des Episkopalismus (-»Kirchenverfassungen 7.2.) leitete der Landesherr als vornehmstes Kirchenglied die Kirche als ein in seinen Rechten durchaus begrenzter Notbischof. Die territorialistische Theorie des absolutistischen Zeitalters räumte dem Landesherrn dagegen umfassende Leitungsbefugnisse ein. Als Inhaber der Territorialgewalt stand dem Landesherrn auch die oberste Kirchengewalt zu. Wichtige Grundbestimmungen des kirchlichen Rechts wurden, wie im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, zu einem Anhang der staatlichen Gesetzgebung (vgl. T R E 27,368f.). Einzig der kollegialistische Denkansatz der Aufklärungszeit konnte die Selbständigkeit und das Eigenrecht der Kirche formulieren: Die Kirche wurde als eine gegenüber dem Staat eigenständige Korporation verstanden, die auf dem Willen ihrer Mitglieder gründet und der eigene Kollegialrechte zukommen. Nur durch den stillschweigenden Konsens der Kirchenmitglieder wurden die Kollegialrechte auf den Landesherrn übertragen, die jedoch jederzeit wieder zurückgefordert werden konnten. Diese kollegialistische Kirchenverfassungstheorie bot den Ausgangspunkt für die Entwicklung synodaler Formen der Kirchenleitung zu Beginn des 19. Jh. im Bereich der lutherischen Kirchen. 4. Reformierte

Kirchen

Die Anfänge der synodalen Struktur der reformierten Kirche lassen sich bis auf die Züricher Disputationen des Jahres 1523 zurückführen. U. —»Zwingli selbst hat die vom Stadtrat organisierten Disputationen in Analogie zu den Provinzialkonzilien der alten Kirche verstanden (vgl. Moeller I, 317). Die Reformation im Südwesten des deutschen Sprachraums vollzog sich als eine Bewegung des selbstbewußten und gebildeten Bürgertums der Städte. Weltliche und geistliche Macht fielen zusammen, städtisches und kirchliches Recht wurden nicht unterschieden. Die Disputationen wirkten faktisch als Gründungsversammlungen der evangelischen Kirche in den jeweiligen Städten (vgl. ebd. 319). Sie boten die Grundlage für die Entwicklung neuen kirchlichen Rechts, das vom genossenschaftlichen Geist der Stadtkultur geprägt war und synodale Strukturen annahm. Prägendes Vorbild für die reformierten Gemeindeordnungen wurde J. -»Calvins Genfer Kirchenordnung von 1561. Im Unterschied zu Luthers und Ph. -»Melanchthons Lehre vom einen Predigtamt (vgl. T R E 2,559-567) unterschied Calvin vier einander gleichrangige kirchliche Ämter: Pastoren, Doktoren, Älteste und Diakone. Zusammen bildeten sie die Presbyterien der Gemeinde und wählten die Vertreter zu den Synoden. Eine demokratische Urwahl durch die Gemeinde war nicht vorgesehen. Die reformierten Presbyterien und Synoden waren insofern nicht primär als Vertretungen des Kirchenvolkes, sondern als Versammlungen von Amtsträgern konzipiert. Maßgeblich für die Entwicklung und Struktur der reformierten Kirche war die Pariser Nationalsynode im Jahr 1559, auf der sich die französischen Protestanten ein gemeinsames Bekenntnis (Confessio Gallicana) und eine eigene Kirchenordnung (Discipline ecclésiastique) gaben, die beide von Calvin entworfen worden waren. Oberhalb der presbyterialen Gemeindeebene wurde ein dreistufiges System von Kreis- und Provinzsynoden sowie einer Generalsynode etabliert, wobei die Vertreter der höheren Ebene von der jeweils niedereren Ebene bestimmt wurden. Damit war die Basis für die rein synodale Leitungsstruktur der reformierten Kirche geschaffen. Diese Struktur ermög-

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lichte eine hohe Autonomie gegenüber der weltlichen Obrigkeit, die sich in den Zeiten der Verfolgung der -»Hugenotten bewährte. Seitdem bilden Synoden - und zwischen den Tagungen der Synoden deren Präsidien oder Moderatoren - die Kirchenleitung in den meisten reformierten Kirchen. In Anlehnung an das französische Modell gründete sich die reformierte Kirche in den Niederlanden auf der Synode von Antwerpen 1566 mit der Annahme der Confessio Belgica. Im eng mit den Niederlanden verbundenen Nordwestdeutschland etablierten sich auf dem Konvent von Wesel 1568 und bei der Emdener Synode 1571 ebenfalls synodale Leitungsformen. In der Kurpfalz, in Nassau und in Anhalt hingegen wurde der Calvinismus durch den Landesherrn eingeführt und geriet unter den Einfluß des landesherrlichen Kirchenregiments. Auf dem Umweg über die schottische reformierte Kirche ( C o n f e s s i o Scotica 1560) beeinflußte Calvins Kirchenordnung die presbyterialen Kirchen Nordamerikas. Bedeutend für die dogmatische Entwicklung des reformierten Bekenntnisses war die -»Dordrechter Synode (1618-1619), die gegen den Arminianismus (-»Arminius, Jacobus/Arminianismus) die calvinische Prädestinationslehre bestätigte. Im Gefolge der Aufhebung des Edikts von Nantes (1598) durch die Revokationsakte Ludwig XIV. (1638-1715) im Jahr 1685 (-»Frankreich) kam eine große Zahl hugenottischer Glaubensflüchtlinge in die deutschen Länder, insbesondere nach Preußen, wo das hohenzollerische Herrscherhaus schon seit 1613 reformierten Bekenntnisses war. Um 1700 waren etwa ein Drittel der Einwohner Berlins Franzosen. Die Flüchtlinge konnten die synodale Struktur ihrer Kirche in ihrer neuen Heimat bewahren. Dies erwies sich als wirksames Ferment für die Durchsetzung synodaler Strukturen auch in den lutherischen Kirchen. 5. Die synodale

Bewegung

zu Beginn des 19.

Jahrhunderts

Vorbereitet durch kollegialistische Kirchenverfassungstheorien, inspiriert durch die demokratischen Impulse der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der —»Französischen Revolution und befördert durch die Annäherung zwischen lutherischen und reformierten Kirchen wurde an der Wende zum 19. Jh. in Deutschland der Ruf nach Unabhängigkeit der Kirche vom Staat und nach demokratischen Kirchenstrukturen laut. Die Entwicklung wird im folgenden am Beispiel -»Preußens dargestellt. 1799 forderte F.D.E. -»Schleiermacher in der vierten seiner Reden Über die Religion nachdrücklich: „Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat!" (Schleiermacher, Krit. GA, Berlin/New York, 1/2 1984, 287). Schleiermacher verlangte eine Kirche, in der jeder Unterschied zwischen Priestern und Laien aufgehoben ist. Im Zuge der vom Freiherrn vom und zum -»Stein nach der Niederlage gegen Napoleon (-»Napoleonische Epoche) 1806 initiierten preußischen Reformen entwarf Schleiermacher 1808 einen Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate. Schleiermacher erkannte, daß sich kirchliche Autonomie und demokratische Leitungsstrukturen in der Kirche nur durch eine Kirchenverfassung verwirklichen ließen (-•Konstitutionalismus). In kirchenpolitischen Schriften (vgl. Geck) und praktisch-theologischen Vorlesungen widmete Schleiermacher ausführliche Passagen der Frage, wie eine dem Wesen der evangelischen Kirche gemäße Kirchenverfassung auszusehen habe. Die in der Lehre vom allgemeinen Priestertum angelegte „demokratische Tendenz" (Schleiermacher, Die Christliche Sitte: ders., SW, Berlin, 1/12 2 1884, 25 Beil. A § 77) der Kirche sah er am ehesten in einer -»Presbyterial-synodalen Kirchenverfassung realisiert: „Als aus dem Wesen der evangelischen Kirche hervorgehend und sie selbst aussprechend können wir nur die Presbyterialverfassung ansehen" (Schleiermacher, Die Praktische Theologie: ders., SW, 1/13 1850 [Nachdr. 1983] 564; vgl. Dinkel 171-177). Dabei schwang bei Schleiermacher wie bei anderen liberalen Reformern die Hoffnung mit, auf dem Umweg über eine demokratische Kirchenverfassung auch eine demokratische Staatsverfassung durchzusetzen. 1816 wurden in Preußen Presbyterien sowie Kreis- und

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Provinzsynoden eingerichtet, eine Generalsynode w u r d e in Aussicht gestellt. Erster Synodalpräsident der Berliner Synode wurde Schleiermacher (vgl. Trauisen). D o c h die bescheidenen Ansätze zu einer presbyterial-synodalen Kirchenordnung wurden bald zurückgenommen. Die Generalsynode kam nicht zustande. Im G e f o l g e der Karlsbader Beschlüsse erstarkte die Reaktion der Fürsten. Im Agendenstreit (—• Agende 18.1.) setzte der preußische König Friedrich Wilhelm III. (reg. 1 7 9 7 - 1 8 4 0 ) das landesherrliche Summepiskopat gegen den heftigen, von Schleiermacher angeführten Widerstand weitgehend durch. Konnte die synodal-presbyteriale Bewegung in den preußischen Zentralprovinzen noch einmal aufgehalten werden, s o setzte sich in den nahe zu den reformierten Niederlanden gelegenen rheinischen Provinzen Preußens mit der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung (-»-Kirchenverfassungen 7.6.) im Jahr 1835 z u m ersten M a l eine Kirchenstruktur mit profiliert synodalen Elementen durch. D i e rheinisch-westfälische Kirchenordnung sah aus Pfarrern und gewählten Ältesten zusammengesetzte Presbyterien auf der Gemeindeebene s o w i e Kreis- und Provinzialsynoden neben d e m Konsistorium und den bischofsähnlich gestellten Superintendenten als Leitungsorgane vor. Dabei bestanden die übergeordneten Synoden aus Deputierten der jeweils untergeordneten Ebene. Geistliche und Laien waren paritätisch vertreten. D e n Vorsitz hatte ein gewählter Geistlicher inne, in der Kreissynode der Superintendent, in der Provinzialsynode der Präses. Diese M i s c h u n g von synodalen, konsistorialen und episkopalen Verfassungselementen der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung wirkte für die weitere Entwicklung der Kirchenverfassungen und der Synoden im deutschen Protestantismus formgebend. Quellen BSKORK. - E K O . - Friedrich Schleiermacher, Vorschlag zu einer neuen Verfassung der prot. Kirche im preussischen Staate (1808): ders., KS u. Predigten, hg. v. H a y o Gerdes/Emanucl Hirsch, Berlin, II 1 9 6 9 , 1 1 7 - 1 3 6 . - Ders., Ueber die f. die prot. Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung, Berlin 1817 = ders., SW 1/5, 217 - 294.

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Christoph Dinkel

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III/2. Neuzeit seit Schleiermacher 1. Synodalentwicklung in Deutschland bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 2. Synodalentwicklung in Deutschland von 1918 bis zur Gegenwart 3. Die Synode als kirchenleitendes Organ (Literatur S. 579)

1. Synodalentwicklung regiments

in Deutschland

bis zum Ende des landesherrlichen

Kirchen-

Die Entwicklung, an deren Ende überall presbyterial-synodale Leitungsorgane (-»Presbyterial-synodale Kirchenverfassung) als Ergänzung und zugleich als Einschränkung des landesherrlichen -»Kirchenregiments standen, verlief in den einzelnen Landeskirchen auf recht unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Tempo. Während sich, reformierte Impulse aufnehmend, die westlichen Provinzen -»Preußens mit der rheinisch-westfälischen -» Kirchenordnung von 1835 schon früh eine stark presbyterialsynodal geprägte Ordnung gaben, die dann für zahlreiche Landeskirchen orientierende Bedeutung erlangte, verlief die Entwicklung z. B. im Königreich -»Sachsen außerordentlich langwierig. Motor der Entwicklung war überall das Streben nach größerer Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat; erwartet wurde, daß das landesherrliche Kirchenregiment seine territorialistischen Vorstellungen aufgeben möge. Von diesem allgemeinen Motiv sind die verschiedenen Einflußfaktoren zu unterscheiden, die den Verlauf der Entwicklung und ihr Ergebnis im einzelnen bestimmten. Diese lassen sich als eine Reihe von polaren Spannungsverhältnissen identifizieren. Dazu gehört der Gegensatz zwischen dem lutherischer Tradition entsprechenden Konsistorialsystem - -»Konsistorien waren dem Landesherrn unterstehende Kollegialorgane, die u.a. für die Ehegerichtsbarkeit, die -»Kirchenzucht und die kirchliche Vermögensverwaltung zuständig waren - und der auf reformierter Seite von Anfang an in der VierÄmter-Lehre -»Calvins gegründeten Konzeption einer presbyterial-genossenschaftlichen Leitung der Gemeinden und Gemeindeverbände; das reformierte Amt des Ältesten gab dem Laienelement ein starkes Gewicht, besonders auf der Ebene der Ortsgemeinden. Aus der Kombination beider Elemente resultierten die dem kirchlichen - • Konstitutionalismus eigenen Mischverfassungen. Weiter spielten die Übernahme demokratischen Freiheitsstrebens und entsprechender liberaler ordnungspolitischer Konzepte aus dem politisch-gesellschaftlichen in den kirchlichen Bereich und die diesen Bestrebungen entgegenwirkenden restaurativen Reaktionen (-»Restauration) eine Rolle. Daher wurden nicht nur die dem Landesherrn zugeordneten Konsistorien bzw. Oberkirchenräte nicht aufgehoben, vielmehr mußte dem landesherrlichen Kircheninteresse auch innerhalb der Synoden durch vom Landesherrn ernannte Abgeordnete Raum gegeben werden. Da es - teilweise gegen den Widerstand der lutherischen -»Orthodoxie - keine reinen Geistlichkeitssynoden mehr geben sollte, war ferner das Verhältnis von „Geistlichen" und „Weltlichen" in den Synoden zu bestimmen. So erhielten 1848 die bayerischen Diözesansynoden, zunächst reine Geistlichkeitssynoden, eine paritätische Besetzung. Auch mußte jeweils festgelegt werden, welche Bedingungen die „Weltlichen" erfüllen mußten, um in Provinzial- oder Generalsynoden bzw. Landessynoden gewählt oder entsandt werden zu können. Nach einer häufig befolgten Regel galt die - wiederum an bestimmte Voraussetzungen (Unbescholtenheit, Teilnahme am Gottesdienst, wirtschaftliche Unabhängigkeit, männliches Geschlecht, Vollendung des 30. Lebensjahres etc.) geknüpfte Wählbarkeit in den gemeindlichen Kirchenvorstand als Bedingung der Wählbarkeit in die übergeordneten Organe. Und schließlich bestand keine Einheitlichkeit in der Frage, ob die Synodenmitglieder eher das Kirchenvolk in seiner Gesamtheit oder die aktiven Einzelgemeinden (-»Gemeinde), aus denen sie stammten, repräsentieren sollten und wie entsprechend dieser Differenz das Wahlrecht zu gestalten wäre. Sollten gar kirchliche Richtungen oder Parteien durch das Wahlverfahren Berücksichtigung finden? Die historischen Faktoren, die bei der Entstehung presbyterial-synodaler Kirchenverfassungen wirksam waren, sind von deren theologischer Begründung zu unterschei-

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den. So ist die wichtigste historische Voraussetzung für die Entwicklung des Synodalwesens und seine Ausgestaltung im 19. Jh. „nicht die Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen, sondern die reformierte] Ämterlehre und das entsprechende Verständnis von Kirchenzucht" (Mehlhausen 610); gleichwohl konnte jene lutherische Lehre doch zur theologischen Legitimation herangezogen werden. Reine Geistlichkeitssynoden widersprechen der Lehre vom Allgemeinen Priestertum (-»Pries ter/Priestertum II), aber aus ihr ergeben sich noch keine weitergehenden Gesichtspunkte über Struktur, Zusammensetzung, Befugnisse und Aufgaben der Synode. Das Resultat der Entwicklung waren überall Landes- oder Generalsynoden, die sich in der Regel zuammensetzten aus gewählten geistlichen und weltlichen Mitgliedern, geborenen Mitgliedern (etwa -»Superintendenten oder, in Preußen, der Präsident des Oberkirchenrates), vom landesherrlichen Kirchenregiment ernannten Abgeordneten und meist einem von der theologischen Fakultät der Landesuniversität entsandten Vertreter, dem gelegentlich auch ein Vertreter der juristischen Fakultät beigesellt wurde. Dazu kamen teilweise Mitglieder mit nur beratender Stimme. Diese Mitgliederstruktur, insbesondere die Präsenz des Landesherrn durch eigene Abgeordnete, wurde gelegentlich mit der lutherischen Dreiständelehre (-»Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum) begründet. Die Amtsdauer der Synoden schwankte, wie noch heute, zwischen 3 und 6 Jahren. Die gewählten Mitglieder gelangten überall durch indirekte Wahlen, häufig nach dem reinen „Siebsystem", in die Landessynode; unmittelbare Wahlen gab es nur auf der untersten Ebene, bei den Kirchenvorständen. Das „Siebsystem" ist mit der Gefahr verbunden, daß die innerkirchliche Meinungsvielfalt auf den höheren Ebenen nicht mehr angemessen repräsentiert wird. 2. Synodalentwicklung

in Deutschland von 1918 bis zur Gegenwart

Mit dem Ende des Kaiserreiches und der Bestimmung, daß „keine Staatskirche" (-»Staatskirche/Staatsreligion) bestehe (Art. 137 WRV [Weimarer Reichsverfassung]), erlosch auch in allen Teilstaaten das landesherrliche Kirchenregiment. Nur die neue preußische Regierung vertrat bis zum Zusammentritt der verfassunggebenden Kirchenversammlung von 1921 die Auffassung, daß die alten Befugnisse an die neuen Staatsorgane übergingen. Das für die lutherischen und unierten Kirchen bisher kennzeichnende Nebeneinander von Synodal- und Konsistorialsystem entfiel. Das konsistoriale Element fand jedoch seine innerkirchliche Fortführung in Gestalt der Kirchenämter und Kirchenräte. Die nun überall neu- bzw. umgestalteten Synoden erhielten weit größere Befugnisse, indem ihnen die ganze kirchliche Gesetzgebung sowie die Wahl des Bischofs bzw. Kirchenpräsidenten und der Kirchenleitung zukamen. Das Verhältnis von Geistlichen und Weltlichen wurde weiter zugunsten des Laienelementes verschoben. Zugleich wurden die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts ermäßigt; das Wahlalter wurde gesenkt, und auch Frauen konnten fortan Synodale werden. An die Stelle der vom Landesherrn ernannten traten häufig von der Kirchenleitung berufene Mitglieder. Obwohl stets der Unterschied der Kirche und des kirchlichen Rechts (-» Kirchenrecht) zum Staat und seinem auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhenden Institutionengefüge betont wurde, blieb die Einrichtung der parlamentarischen Staatsverfassung nicht ohne Auswirkungen bei der Neugestaltung der -» Kirchenverfassungen. Eine Reihe von Landeskirchen (in der von Närger [125] ermittelten Abfolge: -»Württemberg, -»Schleswig-Holstein, -»Thüringen, -»Baden, Hessen-Kassel [-»Hessen], -»Pfalz, -»Braunschweig, -»Nassau, -»Anhalt, -»Oldenburg, Mecklenburg-Strelitz [-»Mecklenburg], -•Hannover) entschied sich für das System der unmittelbaren Wahl. Dieses System relativiert den Einfluß der Presbyterien und Kirchengemeinden und bringt in Verbindung mit der Bildung von kirchlichen Parteien die Gefahr des Einbruchs unevangelischen Geistes und der Politisierung der Kirche mit sich. Aufgrund einschlägiger Erfahrungen im Kirchenkampf (-»Nationalsozialismus und Kirchen) führten nach 1945 alle Kirchen mit Ausnahme Württembergs die mittelbare Wahl wieder ein. Auch die in den 60er

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Jahren des 20. Jh. geführte Debatte über Demokratisierung in der Kirche hat das Urwahlsystem nicht wieder etablieren können. Synoden sind daher auch in der Gegenwart nicht in strikter Analogie zu politischen Parlamenten zu verstehen, während die Verhandlungen und Entscheidungen der Synoden sehr wohl an demokratische Verfahrensregeln gebunden sind (-»Demokratie). Für das System der mittelbaren Wahl spricht, daß die Gottesdienstgemeinde nach wie vor als die soziale Grundform der -»Kirche (VII) zu gelten hat. „Die Synode verkörpert Einheit und Mannigfaltigkeit der Kirchengemeinden, der Kirchenkreise und der Dienste und Werke" (so Art. 66 der Verfassung der -»Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche) und dient „der gemeinsamen Willensbildung" (ebd.) in der Landeskirche. 3. Die Synode als kirchenleitendes

Organ

Das Synodalwesen, in dem Sinne, daß auch die sog. -»Laien am Kirchenregiment beteiligt werden, ist eine spezifisch protestantische, natürlich auch die anglo-amerikanischen Kirchentümer (-»Kirche von England; -»Methodistische Kirchen; -»Presbyterianer; -»Baptisten; -»Freikirche; s.u. III/3.3.-6.) einschließende Errungenschaft. Es kann sich nur voll entfalten, wo die Existenz der Kirche nicht als von einer vorab erfolgten Stiftung eines mit besonderer geistlicher Vollmacht ausgestatteten Amtes (-»Amt/Ämter/ Amtsverständnis; -»Bischof; -»Papsttum) abhängig gedacht wird, positiv: wo sie sich als Geschöpf des Wortes Gottes (creatura verbi) und als Dienst am Worte Gottes versteht, und zwar eines Dienstes, der prinzipiell allen Glaubenden aufgetragen ist. Das ordinierte Amt ist dann als diejenige spezielle Form des Allgemeinen Priestertums zu verstehen, der mit Zustimmung der Gemeinde und zu ihrem Wohl die öffentliche Verkündigung und Verwaltung der Sakramente (CA 14) obliegt. Außerhalb dieses Kirchenverständnisses (-»Römisch-katholische Kirche; —»Orthodoxe Kirchen; s.u. III/3.1.-2.) können Synoden kaum mehr sein als Kollegialorgane zur Unterstützung und Beratung der geistlichen Autorität oder Versammlungen der geistlichen Würdenträger zum Zwecke gemeinsamer Willensbildung; „im Raum der Catholica" haben Synoden „für die Kirchenverfassung nicht so sehr konstitutive Bedeutung, sondern eher ergänzenden Charakter" (Kessler 56; zu den kirchenrechtlichen Bedingungen vgl. can. 440-468 CIC/1983). Der Fortbestand von Staatskirchen, wie er in unterschiedlicher Weise im Vereinigten Königreich sowie in -»Dänemark und -»Norwegen anzutreffen ist, muß demgegenüber keine Beeinträchtigung des Synodalwesens nach sich ziehen. Die Synode ist das wichtigste der kirchenleitenden Organe, da sie nicht nur über Ordnungen des kirchlichen Lebens, kirchliche Einrichtungen, Kirchengesetze, den Haushalt, den Kirchensteuerhebesatz, Verträge mit dem Staat und anderen Kirchen beschließt, sondern auch durch die Wahl des Bischofs bzw. Kirchenpräsidenten oder Präses und in der Regel auch der Kirchenleitung weitreichende Personalentscheidungen trifft. Auch wählt die Landessynode aus ihrer Mitte Abgeordnete in die Synoden der Kirchenbünde (-»Evangelische Kirche in Deutschland; -»Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands; -»Evangelische Kirche der Union), denen freilich trotz Übertragung einzelner Regelungskompetenzen (etwa zum Pfarrerdienstrecht) keine eigentliche kirchenregimentliche Gewalt zukommt. Bei all ihren kybernetischen Entscheidungen nach innen und bezüglich der Außenbeziehungen der Kirche (-»Kybernetik) sind Synoden an die Lehrgrundlagen ihrer Kirche gebunden: an das in der Heiligen Schrift gegebene Evangelium von Jesus Christus, wie es in den jeweiligen Bekenntnisschriften bezeugt ist. Die evangelische Kirche wird allein durch die situationsadäquate Auslegung ihrer Lehre gesteuert. Dieser kybernetische Grundsatz entspricht einem Verständnis von Kirche als einer „Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft" (Schwöbel 42f.), die aus vielen prinzipiell gleichberechtigten - wenn auch nicht gleich einflußreichen — Interpreten besteht.

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Daher folgt aus dem Grundsatz: 1. Die Sachgemäßheit synodaler Entscheidungen hängt von der theologischen Urteilsfähigkeit und dem kybernetischen Sachverstand der Synodalen ab. Dabei muß in Rechnung gestellt werden, daß die Vermittlung und die systematische Pflege der hier benötigten Kompetenzen nicht der Synode selbst, sondern den verschiedenen theologischen Bildungsinstitutionen, insbesondere den Theologischen Fakultäten, obliegt. Daher ist der Konsultationsprozeß mit diesen Institutionen zu intensivieren. 2. Auch wenn Synoden sich mit eigenen Stellungnahmen an die Öffentlichkeit wenden können und in bestimmten Situationen auch müssen, ist es nicht ihre Aufgabe, theologische Lehre im Sinne einer für alle Kirchenmitglieder verbindlichen „theological correctness" zu formulieren. Es ist auch fraglich, o b sie dazu berufen sind, das ethische Bewußtsein der Kirchenmitglieder zu prägen. Entscheidungen, die nur der einzelne in der Bindung seines Gewissens an die Grundlinien des christlichen Wirklichkeitsverständnisses treffen kann, sind nicht an irgendein Gremium delegierbar. Schließlich ist es auch nicht erforderlich, d a ß jede Landessynode zu jeder wesentlichen, die Gesellschaft als ganze betreffenden Frage ein eigenes Votum erarbeitet. 3. Vor allen durch Mehrheit zu treffenden Entscheidungen sind die Synodalen gehalten, den Konsens zu suchen und sichtbar zu machen. Dauerhafte Fraktionsbildungen auf Synoden sind daher höchst problematisch. 4. Auch wenn die Synodalen durch mittelbare Wahl aus den Gemeinden, Kirchenkreisen, Diensten und Werken in die Synode gelangt sind, bleiben sie doch in ihren Beratungen und Beschlüssen einem reformatorischen und volkskirchlichen Kirchenverständnis verpflichtet, das alle Kirchenmitglieder, auch die kerngemeindlich nicht in Erscheinung tretenden, einbezieht.

Alle von einer Synode getroffenen Regelungen dürfen die vor Ort in den Gemeinden wahrgenommene Verantwortung für die Verkündigung und für das kirchliche Leben nicht durch ein Netzwerk kasuistischer Bestimmungen einschränken oder gar auf vorgeordnete Instanzen verlagern. Sie haben vielmehr den Sinn, anerkannte Rahmenbedingungen zu schaffen, unter deren Voraussetzung die Kompetenzen der Pfarrerschaft und der Kirchengemeinderäte, der Mitarbeiter und engagierten Laien zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. Literatur Winfried Aymans, Das synodale Element in der Kirchenverfassung, 1970 (MThS.K 30). - Erich Dalhoff, Synode u. Kirchenleitung in der Ev. Kirche im Rheinland: ZEvKR 11 (1964/65) 8 9 - 1 1 0 . - Karl Dienst, Synode - Konsistorium - Demokratie. Zu Problemen des „demokratischen" Charakters der neuen Kirchenverfassung der Weimarer Zeit: Richard Ziegert (Hg.), Die Kirchen u. die Weimarer Republik, Neukirchen-Vluyn 1994, 105-128. - Herbert Frost, Strukturprobleme ev. Kirchenverfassung, Göttingen 1972. - Walter Göbell, Die Entwicklung der Ev. Kirchenverfassung vom 18. bis zum 20. Jh., 1966 (KGQ 17). - Gerhard Grethlein, Thcol. der Synode. Z u Selbstverständnis u. rel. Anspruch des prot. Synodalsystems: Richard Ziegert (Hg.), Vielfalt in der Einheit. Theol. Studienbuch zum 175jährigen Jubiläum der Pfälzischen Kirchenunion, Speyer 1993, 2 2 9 252. - Wilfried Härle, Allg. Priestertum u. Kirchenleitung nach ev. Verständnis: M J T h 8 (1996) 6 1 - 8 1 . - Albert Hauck, Art. Synoden: RE 3 19 (1907) 262-277. - Eilert Herms, Erfahrbare Kirche. Beitr. zur Ekklesiologie, Tübingen 1990. - Lucian Hölscher, Kirchl. Demokratie u. Synodalbewegung: Freiheit gestalten. Z u m Demokratieverständnis des dt. Protestantismus. FS Günter Brakelmann, hg. v. Dirk Bockermann u.a., Göttingen 1996, 107-129. - Michael Kessler, Das synodale Prinzip. Bemerkungen zu seiner Entwicklung u. Bedeutung: T h Q 168 (1988) 4 3 - 6 0 . - Karl Lehmann, Synoden nach kath. Kirchenverständnis: Gemeinsame Synode der Bistümer in der BRD. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle GA I, hg. v. Ludwig Bertsch u.a., Freiburg/Basel/Wien '' 2 1976, 23 - 2 8 . - Christoph Link, Die Grundlagen der Kirchenverfassung im luth. Konfessionalismas des 19. Jh. insbesondere bei Theodosius Harnack, 1966 (JusEcc 3). - Wilhelm Maurer, Typen u. Formen aus der Gesch. der Synode: ders., Die Kirche u. ihr Recht, hg. v. Gerhard Müller/Gottfried Seebaß, Tübingen 1976 (JusEcc 23) 7 6 - 98. - Joachim Mehlhausen, Art. Synode: EKL 3 4 (1996) 609-615. - Nikolaus Närger, Das Synodalwahlsystem in den dt. ev. Landeskirchen im 19. u. 20. Jh., Tübingen 1988 (JusEcc 36) (Lit.). - Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt u. Funktionen der Ev. Kirche, Berlin/New York 1997. - Christoph Schwöbel, Kirche als Communio: M J T h 8 (1996) 1 1 - 4 6 . Rudolf Smend, Z u r neueren Bedeutungsgesch. der ev. Synode: ZEvKR 10 (1963/64) 248 - 264. Günther Wendt, Kirchenleitung u. Synode: ZEvKR 11 (1964/65) 6 5 - 8 8 .

Reiner Preul

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III/3. Konfessionskundlich 1. Römisch-katholische Kirche 2. Orthodoxe Kirchen 3. Freikirchliche Tradition 4. Anglikanische Kirchen 5. Reformierte/Presbyterianische Kirchen 6. Lutherische Kirchen (Quellen/Literatur S.584)

1. Römisch-katholische

Kirche

Wenngleich der synodale Gedanke durch das -»Tridentinum neue Impulse erhielt, gingen diese Anstöße in den folgenden Jahrhunderten wieder verloren, so daß im 19. und beginnenden 20. Jh. kaum mehr Synoden abgehalten wurden. Um so bedeutsamer ist die energische Wiederbelebung synodaler Perspektiven und Strukturen durch das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum II), vor allem durch dessen Erneuerung der Ekklesiologie und neuen Würdigung der -»Laien. Unter dem Leitbegriff der Kirche als Volk Gottes wurde - bei Beibehaltung der hierarchischen Struktur - die Mitbeteiligung aller Glieder der Kirche an der Gestaltung des Lebens der Kirche und ihrer Sendung herausgestellt. Formal fand dies seinen Ausdruck in der Neukonstituierung der Diözesansynoden (Christus Dominus 36), in denen neben den Priestern auch Laien erstmalig an einer synodalen Versammlung beteiligt sind, die dem Wohl der ganzen Diözese und der Unterstützung des Diözesanbischofs dienen sollen (CIC 1983, can. 460). Wenngleich diese Synoden strikt an den Bischof gebunden sind (can. 4 6 1 - 4 6 8 ) , haben sie in der Praxis eine bemerkenswerte Aktivität in pastoralen und ethischen Fragen entwickelt. Von diesen Erfahrungen sind wiederum Anstöße auf Pastoralsynoden und gemeinsame Synoden der Bistümer in verschiedenen Ländern ausgegangen. Die neue Institution der Bischofssynode (Christus Dominus 5; Ad gentes 29) ist aus der Erfahrung der gemeinsamen Beratungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erwachsen und wurde 1965 von -»Paul VI. als ständige Einrichtung eingesetzt (CIC can. 3 4 2 - 3 4 8 ) . Die Synode, die sich aus ca. 200 geborenen und (von den Bischofskonferenzen) gewählten Mitgliedern zusammensetzt und zu der auch Theologen und Laien als Berater (und in jüngster Zeit auch ökumenische Beobachter) eingeladen werden, kann zu ordentlichen, außerordentlichen und besonderen, meist regionalen, Sitzungen vom Papst einberufen werden. Sie hat strikt beratenden Charakter und untersteht der Autorität des Papstes, der über die Verwendung ihres Schlußdokuments entscheidet. Ein Generalsekretariat bereitet in Beratung mit den Bischofskonferenzen durch ein Arbeitsdokument (instrumentum laboris) die Sitzungen vor. Die bisherigen im Abstand von etwa drei Jahren stattgefundenen Synoden haben sich mit Grundfragen des inneren Lebens der Kirche und ihres öffentlichen Auftrags beschäftigt und zum Teil große Beachtung gefunden. Auch die neugeschaffenen nationalen und regionalen Bischofskonferenzen (Christus Dominus 3 7 - 3 8 ) sind Ausdruck dieses synodalen Neubeginns. Somit besitzt die römisch-katholische Kirche heute Formen synodaler Beratung, die von der Ortsebene (Pfarrgemeinderäte) bis zur weltweiten Ebene der Gesamtkirche reichen.

2. Orthodoxe

Kirchen

Für die -»orthodoxen Kirchen gehört die Grundstruktur der Synodalität zum Wesen der Kirche. Sie hat ihre Grundlage in einer eucharistischen Ekklesiologie, nach der die um die Bischöfe versammelten Ortskirchen ihre innere Gemeinschaft (Koinonia) in synodalen Formen der Beratung und Entscheidungsfindung zum Ausdruck bringen. Solche Formen bestehen in den Ortskirchen (lokale Synoden) und vor allem in den diese zusammenfassenden autokephalen Kirchen ( - • Autokephalie). Hier versammeln sich Synoden aller Bischöfe (Heilige Synode), denen zumeist auch andere Vertreter des Klerus, des monastischen Standes und Laien angehören. Diesen Provinzial- oder Plenarsynoden sind u.a. Wahlen und Grundsatzentscheidungen vorbehalten, während für die ständige Leitung einer autokephalen Kirche ein begrenzteres Gremium von Bischöfen mit dem Vorsteher der Kirche (Patriarch, Erzbischof oder Metropolit) in einer Ständigen Synode (russisch-orthodox: „Heiliger Synod") verantwortlich ist. Grundle-

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gende Entscheidungen für die Gesamtkirche können nur in geistlicher Einmütigkeit auf einer ökumenischen Synode (Konzil) getroffen werden. Nach orthodoxem Verständnis hat seit 787 keine solche Synode mehr stattgefunden. Gelegentlich wurden -»Panorthodoxe Konferenzen oder Synoden abgehalten, und eine Heilige und Große Synode (Konzil) wird seit 1976 durch Vorkonziliare Panorthodoxe Konferenzen vorbereitet. Wesentliche Merkmale dieses hierarchisch-kollegialen-synodalen Systems sind dessen vornehmlich pastoraler und nicht institutioneller und juridischer Charakter; die Gleichheit aller Bischöfe einschließlich der Leiter der autokephalen Kirchen, die nicht über der Synode stehen und Primatsrechte innehaben; die Vielfalt und Offenheit in der praktischen Ausgestaltung und Ordnung der Synoden; die Abhängigkeit synodaler Beschlüsse von der -»Rezeption durch die Kirche. In der Synodalität kommt unter der Leitung des Heiligen Geistes die Gemeinschaft innerhalb jeder Ortskirche und die Gemeinschaft der Ortskirchen untereinander bis hin zur Gemeinschaft der gesamten Orthodoxie zum Ausdruck. Allerdings wird heute von orthodoxen Theologen eine angemessenere Realisierung dieses großartigen Konzepts einer „konziliaren Ontologie der Kirche" (Schmemann) in der Praxis der orthodoxen Kirchen angemahnt. 3. Freikirchliche

Tradition

Die freikirchliche Tradition (-»Freikirche) hat ihre eigenen Zugänge zu synodalen Strukturen entwickelt. Diese werden bei einigen Freikirchen wie z.B. den -»Baptisten, Mennoniten (-»Menno Simons/Mennoniten) und Kongregationalisten (-»Kongregationalismus) von einer für sie charakteristischen Konzentration auf die Selbständigkeit der Ortsgemeinde bestimmt. Diese kann sich aber freiwillig mit anderen Gemeinden zusammentun in Distrikt-, Provinz- und Nationalvereinigungen (Bünden), die jedoch nur von geringer ekklesiologischer und administrativer Bedeutung sind, insofern sie lediglich der Zusammenarbeit dienen und Ausdruck der Glaubensverbundenheit sind. Allerdings haben manche dieser Gemeinschaften in den letzten Jahrzehnten gesamtkirchliche synodale Strukturen entwickelt; diese sind allerdings nicht so sehr auf die innere Organisation und schon gar nicht Leitung dieser Kirchen, sondern auf die Ermöglichung gemeinsamer Arbeit ausgerichtet: z.B. im Falle der American Baptist Churches in the USA auf den Gebieten der Mission, der christlichen Erziehung, der Evangelisation, der Zurüstung der Laien, der Jugendarbeit und der Beziehungen zu anderen Kirchen. Eine große Zahl von ständigen Ausschüssen (Boards) ist für die Ausführung der synodal geplanten und beschlossenen Aufgaben verantwortlich. Eine andere große Freikirche, die -»Methodistische Kirche, unterscheidet sich in der Frage synodaler Strukturen dagegen tiefgreifend von den anderen Freikirchen. Das Beispiel der United Methodist Church (UMC) in den USA und in anderen Teilen der Welt kann dies verdeutlichen. Diese Kirche wird durch ein sehr differenziertes synodales System strukturiert, das sowohl vom connectional principle bestimmt wird, durch das alle Gemeinden in einem Netz konziliarer und rechtlicher Beziehungen verbunden (connected) sind, als auch vom appointive system, der Ernennungsvollmacht der Bischöfe. Die über 2.600 Paragraphen der Kirchenverfassung der UMC beschreiben ein Netzwerk von verbundenen synodalen Conferences, die von der Gemeindekonferenz über die Distriktkonferenz zur Jahreskonferenz (Annual Conference) einer Konferenz ( = Diözese) reichen, welche als das zentrale administrative Gremium in der Kirche betrachtet wird und von der es dann weitergeht zur Jurisdiktionskonferenz für eine größere Kirchenregion in den USA oder zur Zentralkonferenz als dem höchsten Gremium einer mit der UMC verbundenen Kirche außerhalb der USA und dann schließlich zur Generalkonferenz, dem höchsten legislativen Gremium der gesamten Kirche. Diese tritt alle vier Jahre zusammen; ihre ca. 1.000 Mitglieder, zu gleichen Teilen Ordinierte und Laien, werden von den Jahreskonferenzen gewählt. Damit verbunden ist der Bischofsrat (Council of Bishops), dem alle Bischöfe der Kirche angehören und dem die pastorale Aufsicht über die Kirche und die Verantwortung für die Ausführung der Beschlüsse der Generalkonferenz sowie die Ernennung und Leitung mehrerer der vielen ständigen Ausschüsse und Kommissionen der Kirche anvertraut ist. Zu den bemerkenswerten Vollmachten der Bischöfe innerhalb des synodalen Systems gehören auch die Ernennung der Distriktsuperintendenten und der Vorsitz bei den Tagungen der Jahres-, Jurisdiktions- oder Zentral- und Generalkonferenz.

582 4. Anglikanische

Synode III/3 Kirchen

Bis in die Mitte des 19. Jh. hinein waren, mit Ausnahme der Episkopalkirche in den USA, die sich allmählich über Großbritannien und Irland hinaus konstituierenden anglikanischen Diözesen Teil des synodalen Systems der -»Kirche von England, das auf eine lange Geschichte zurückblickt. Seit dem Synodical Government Measure (Gesetz) von 1969 wurde die bis dahin in England bestehende synodale Struktur wesentlich verändert, um ein System zu schaffen, das effizienter als das bisherige ist und in dem die Laien eine stärkere Mitwirkung erhalten. Die Basis dieses Systems sind die wahlberechtigten Glieder jeder Gemeinde, die die Mitglieder des Gemeindekirchenrats und der Dekanatssynode wählen. Letztere besteht aus zwei Houses, dem Haus der Geistlichen und dem der Laien. Die beiden Houses wiederum wählen aus ihren Reihen die ordinierten und nicht-ordinierten Mitglieder der Diözesansynode, die aus den Houses der Laien und Geistlichen und, seit 1980, auch dem der Bischöfe besteht, wenn in einer Diözese mehrere Weih- und Assistenzbischöfe arbeiten. An der Spitze des Systems steht seit 1970 die Generalsynode der Kirche von England, welche die seit 1919 bestehende Kirchenversammlung (Church Assembly) ablöst. Daneben gibt es weiterhin, als eine Art Parallelstruktur, die seit dem 14. Jh. bestehenden beiden Convocations der Kirchenprovinzen von -»Canterbury und York mit ihrem Oberhaus der Bischöfe und Unterhaus der Geistlichen. Wesentliche Vollmachten der Convocations, besonders der Erlaß von Kirchengesetzen (Canons), wie auch die Vollmachten der Church Assembly sind auf die neugeschaffene Generalsynode übergegangen. Die Synode gliedert sich in drei Houses: Die Mitglieder des Oberhauses der beiden Convocations bilden das Haus der Bischöfe, die Mitglieder des Unterhauses der Convocations von Canterbury und York bilden das Haus der Geistlichen, und etwa 250 Laien werden von den Dekanatssynoden in das Haus der Laien gewählt. Die Generalsynode tagt mindestens zweimal im Jahr. Entscheidungen der Generalsynode in Fragen der Lehre, der gottesdienstlichen und anderen Ordnungen der Kirche und der -» Sakramente können nur in der vom Haus der Bischöfe vorgeschlagenen Form verabschiedet werden. Dies ist auf dem Hintergrund der besonderen Verantwortung der Bischöfe für Kontinuität und Einheit in Lehre und Leben der Kirche zu sehen. Als anglikanische Kirchen (-»Anglikanische (Kirchen-JGemeinschaft) außerhalb Englands selbständig wurden, übernahmen sie weitgehend die synodale Struktur der englischen Mutterkirche und haben diese dann, auch unter dem Eindruck der gegenüber England sehr viel anderen kulturellen und politischen Kontexte, modifiziert. Die älteste dieser Kirchen, die Episkopalkirche (Episcopal Church) in den USA, trat erstmalig 1789 zu einer General Convention (Generalsynode) zusammen. Sie hat das System der Houses von England übernommen, es aber — in Anlehnung an das amerikanische parlamentarische System - von drei auf zwei reduziert: das House of Bishops und das House of Clerical and Lay Deputies. Beide Häuser sind auf wechselseitige Verständigung und Ubereinstimmung angewiesen (Methode der checks and balances). 5. Reformierte/Presbyterianische

Kirchen

Gemäß einem bestimmten (protestantischen!) Verständnis von Synode und Synodalität ist in den Reformierten/Presbyterianischen Kirchen (-»Reformierte Kirchen) das synodale System am deutlichsten ausgeprägt. Dessen Ursprünge und erste Verwirklichungen sind oben in III/1.4. beschrieben worden. Die -»presbyterial-synodale Form der -»Kirchenverfassung (vgl. T R E 27,331-340; Lit.) wurde, da mit einer biblisch vorgegebenen Ämter- und Gemeindeordnung begründet, ein wesentlicher Bestandteil reformierten Verständnisses der Kirche und erhielt somit eine ähnliche Dignität wie die episkopale Kirchenverfassung im Anglikanismus (daher die Härte der puritanisch/reformierten-anglikanischen Kontroversen in -»England und -»Schottland im 16. und 17. Jh.). Von diesen Voraussetzungen her ist zu verstehen, daß die reformierten/pres-

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byterianischen -»Kirchenordnungen in den Jahrhunderten nach der - » R e f o r m a t i o n bis hin zu den O r d n u n g e n der seit den sechziger Jahren des 20. Jh. selbständig gewordenen Kirchen in Afrika und Asien der presbyterial-synodalen G r u n d s t r u k t u r - mit Modifikationen — treu geblieben sind. So wurde unter dem Einfluß demokratisch-parlamentarischer Vorbilder im 19. Jh. der Gedanke der Repräsentation und Gewaltenteilung in das System integriert; im habsburgisch-ungarischen Bereich ordnete die Carolina Resolutio II (1734) die Einsetzung von -»Superintendenten oder Bischöfen als leitende Amtsträger auch in den reformierten Kirchen an - wo doch das presbyterialsynodale System gerade als Gegensatz zum episkopalen konzipiert worden war; auch in der Gegenwart haben mehrere Kirchen in Afrika und Polynesien das Amt leitender Geistlicher (Präsidenten) eingeführt (das es auch in der Reformierten Kirche Frankreichs gibt); in letzter Zeit ist z. B. in der Kirche von Schottland die Rolle der regionalen Synoden stark zugunsten der Presbyterien in den Distrikten zurückgetreten, während in der Presbyterianischen Kirche in den USA die Rolle der Regionalsynoden stärker geworden ist, und in kleineren Kirchen fehlt diese mittlere Ebene der Regionalsynoden ganz. Trotz solcher und anderer Veränderungen kennzeichnen doch weiterhin bestimmte Grundzüge des presbyterial-synodalen Systems die reformierten Kirchen. Dazu gehören 1. dessen direkte Verankerung im biblischen Zeugnis, 2. der kollegiale C h a r a k t e r kirchlicher Autorität, die nicht durch Einzelpersonen, sondern durch gewählte synodale Gremien ausgeübt wird, 3. die repräsentative Form der Kirchenleitung im gleichberechtigten Z u s a m m e n w i r k e n von Ordinierten und Laien, 4. die Betonung der Ortsgemeinde als Kirche im vollen Sinne und die Betonung der G r u p p e von Gemeinden im Presbyterialdistrikt, als Basis des synodalen Systems, 5. das Geflecht wechselseitig miteinander verbundener synodaler Versammlungen auf der Ebene der Ortsgemeinden, Presbyterien/ Distrikte, Regionalsynoden und Generalsynoden oder Generalversammlungen, und 6. die Verschränkung dieser vier (manchmal drei) Ebenen presbyterial-synodaler Beratung und Leitung, bei der (idealerweise) keine Ebene über die anderen herrschen kann, weil Wahlen und Delegationen von unten nach oben erfolgen und Entscheidungsprozesse sowohl von unten nach oben als auch von oben nach unten verlaufen. 6. Lutherische

Kirchen

Da in der lutherischen reformatorischen Bewegung keine bestimmte Form der Kirchenverfassung Bekenntnisrang oder auch nur Modellcharakter erhielt, haben sich Formen der Kirchenleitung in den -»lutherischen Kirchen außerhalb Deutschlands unterschiedlich entwickelt. Erste Formen synodaler Beratung und Entscheidung finden sich bereits im 16. Jh., als z. B. die Synoden von Uppsala 1536 und besonders 1593 wesentlich dazu beitrugen, das Luthertum in Schweden als offizielle Religion des Reichs zu etablieren. Auch unter den Bedingungen des Staatskirchenwesens haben die skandinavischen lutherischen Kirchen zunehmend und besonders im 20. Jh. synodale Strukturen auf den Ebenen der Gemeinden, Propsteien/Dekanate, Bistümer und der Gesamtkirche entwickelt und mit den Leitungsämtern der Bischöfe und den Bischofskonferenzen sowie ständigen Leitungs- und Exekutivgremien wie Domkapitel oder Diözesanrat verbunden. Die lutherischen Kirchen in Ost- und Südosteuropa konnten zwar auf bedeutsame Synodalversammlungen im 16. und 17. Jh. zurückblicken, vor allem im damaligen Polen und Ungarn, auf denen der Bekenntnisstand geklärt und Kirchenordnungen angenommen wurden. N a c h Verfolgung und Illegalität mußten sich diese Kirchen im ausgehenden 18. J h . neu konstituieren und führten ähnliche Kirchenordnungen ein. Deren H a u p t merkmale sind synodale Formen auf der Ebene der Gemeinden und Gesamtkirche, weniger auf der mittleren Ebene der Kirchendistrikte, geistliche Leitung durch Bischöfe auf der Ebene der Gesamtkirche und Distrikte/Diözesen, starke Beteiligung der Laien, besonders durch die den Bischöfen zugeordneten (General-)Inspektoren auf Distriktund Landesebene, u n d unter dem Vorsitz des (leitenden) Bischofs stehende Konsistorien. Gänzlich anders verlief die Entwicklung in N o r d a m e r i k a . Hier entstanden lutherische Kirchen von unten, durch den Z u s a m m e n s c h l u ß von Gemeinden zu regionalen und

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S y n o d e III/3

a u c h ethnischen „ S y n o d e n " , die ersten z w i s c h e n 1787 und 1793 in South und N o r t h Carolina, N e w York, Virginia und Pennsylvania (Reorganisation des bereits seit 1748 bestehenden geistlichen Ministeriums). D i e mit dieser E n t w i c k l u n g verbundene k o n g r e gationalistische Einstellung ist bis heute lebendig und steht in S p a n n u n g zu den g e s a m t kirchlichen s y n o d a l e n und e p i s k o p a l e n Strukturen, die im 20. Jh. eingeführt w u r d e n . D i e B e z e i c h n u n g „ S y n o d e " für eine Kirche wird weiterhin für die Lutherische Kirche - Missouri Synode (und die Wisconsin Synode) w i e auch für die 6 5 „ S y n o d e n " ( = D i özesen) der Evangelical Lutheran Church in America (ELCA) verwendet. In dieser größten lutherischen Kirche in den USA ist der Anteil der Laien in den S y n o d e n auf den verschiedenen Ebenen auf 6 0 Prozent erhöht w o r d e n , w ä h r e n d d e m Leitenden Bischof der Kirche und der Kirchenleitung ( C h u r c h Council) weitreichende Vollmachten z u k o m m e n . Ähnliche e p i s k o p a l - s y n o d a l e Kirchenverfassungen, v e r b u n d e n mit konsistorialen G r e m i e n mit Leitungs- und V e r w a l t u n g s v o l l m a c h t e n und zumeist unter d e m Vorsitz des leitenden Geistlichen (Erzbischof, B i s c h o f , Präsident, Pastor Presidente, usw.), finden sich a u c h in d e n meisten lutherischen Kirchen in Afrika, Asien u n d Lateinamerika. Synodale Formen der Beratung und Entscheidung haben sich auch im Rahmen der ökumenischen Bewegung und der weltweiten christlichen Gemeinschaften (konfessionellen Weltbünde) herausgebildet. Die Vollversammlungen dieser Organisationen werden aber nicht durch Wahl, sondern Delegation gebildet (oder sie haben geborene Mitglieder - Bischöfe - wie bei den anglikanischen -»Lambethkonferenzen). Die Beschlüsse dieser Versammlungen sind nur für die eigene Organisation verbindlich oder, wie z. B. im -»Lutherischen Weltbund, in solchen Fällen, in denen Mitgliedskirchen ihrer Organisation bestimmte Aufgaben übertragen. Quellen Codex des kanonischen Rechtes, hg. im Auftrag der Dt. u. Berliner Bischofskonferenz, dt.-lat. Ausg., Kevelaer 1983 2 1984. - Luth. Kirchenverfassungen. Mitgliedskirchen des LWB, hg. v. Hermann Brandt, bearb. v. Martin Lindow, Hannover, I 1999. - O r d o Synodi celebrandi (1969): AAS 61 (1969) 5 2 5 - 5 3 9 . - Paul VI., Motu proprio „Apostolica sollicitudo" (1965): AAS 57 (1965) 775 - 7 8 0 . - Verfassungen der verschiedenen Kirchen. Literatur E. Theodore Bachmann/Mercia Brenne Bachmann, Lutheran Churches in the World. A H b . , Minneapolis, Minn. 1989. - Mauricio Claudio Bravi, II Synodo dei vescovi. Istitutione, fini e natura. Indagine teologico-giuridica, Rom 1995. - N o r m a n Doe, Canon Law in the Anglican Communion. A Worldwide Perspective, Oxford 1998. - Hans Dombois, Kanonisches Recht (der Orth. Kirchen): Friedrich Heyer (Hg.), Konfessionskunde, 1977 (GLB) 8 1 - 9 4 . - Herbert Frost, Art. Kirchenverfassungen: EKL J 2 (1989) 1192-1202 (Lit.). - Anne Jensen, Die Z u k u n f t der Orthodoxie. Konzilspläne u. Kirchenstrukturen, 1986 (ÖTh 4). - Konziliarität u. Kollegialität als Strukturprinzipien der Kirche, 1975 (ProOr 1). - Hermann Lutz, Das Canon Law der Kirche v. England, 1975 (ARWG 20). - Joachim Mehlhausen, Art. Presbyterial-synodale Kirchenverfassung: EKL 3 3 (1992) 1 3 1 7 1319 (Lit.). - Ders., Art. Synode: ebd. 4 (1996) 6 0 9 - 615 (Lit.). - John Meyendorff, What is an Ecumenical Council?: ders., Living Tradition. O r t h o d o x Witness in the Contemporary World, Crestwood, N.Y. 1978, 45 - 62. - Ders., Contemporary Problems of Orthodox Canon Law: ebd. 9 9 - 1 1 4 . - Bernard Reymond, Entre la grace et la loi. Introduction au droit ecclesial Protestant, Genf 1992. - Alexander Schmemann, Towards a Theology of Councils: ders., Church, World, Mission, Crestwood, N.Y. 1979, 159-178. - Glenn S. Sunshine/David P. Daniel, Art. Synods in Western Europe/Eastern Europe: The Oxford Encyclopedia of the Reformation, ed. by H a n s J. Hillerbrand, New York, 4 (1996) 135-139. - Synodical Government in the Church of England. A Review. T h e Report of the Review Group Appointed by the Standing Committee of the General Synod, London 1997. Günther G a ß m a n n S y n o d e n —» Basel-Ferrara-Florenz, Konzil v o n ; - » C h a l k e d o n , ö k u m e n i s c h e S y n o d e ; - • D o r d r e c h t e r S y n o d e ; - » E p h e s u s , ö k u m e n i s c h e Synode; - » K o n s t a n t i n o p e l , ö k u m e n i sche S y n o d e n ; - » K o n s t a n z , Konzil v o n ; - » L a t e r a n s y n o d e n ; - » L y o n , Konzile v o n ; - » N i cäa, ö k u m e n i s c h e S y n o d e n ; - » P i s a , Konzil v o n ; - » T r i d e n t i n u m ; -»• Vatikanum; - » V i e n ne, Konzil v o n

Syrien I

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Synoptiker -»Evangelien, Synoptische Synteresis -» Gewissen Syrien I. Zeit des Alten Testaments II. Zeit des Neues Testaments III. Von der Spätantike bis zur Gegenwart

S. 587 S.589

I. Zeit des Alten Testaments 1. Region und Name, Naturschätze, Handelsprodukte 2. Geschichte vom 3. bis 1. Jahrtausend v. Chr. 3. Syrien und das Alte Testament (Literatur S. 587)

1. Region und Name, Naturschätze,

Handelsprodukte

Das Gebiet des antiken Syrien (erstmals bei Herodot belegt, von „Assyrien" abgeleitet) deckt sich im wesentlichen mit der persischen Provinz Aram-Naharajim (vgl. Strabo XVI,2,1; Herodot III,91f.), ist aber geographisch nicht genau abgegrenzt. Im folgenden wird (im Gegensatz zum heutigen Staatsgebiet) unter Syrien das Icvantinische Gebiet südlich des Eufrat (Teile der heutigen Staaten Syrien und Libanon), aber ohne das Gebiet Palästinas (heutige Staaten Israel, Jordanien, Palästina) verstanden. Zu den verschiedenen Namen im Altertum vgl. O L B I, 2 0 6 - 2 8 8 . Die Bindefunktion Syriens zwischen den Machtzentren -»Ägypten, -»Kleinasien und Mesopotamien führte dazu, daß sich Einflüsse dieser Regionen, später auch aus Persien und der westlichen Mittelmeerwelt, mit der einheimischen Kultur verbanden. Für die Landwirtschaft nützte man die winterlichen Niederschläge (bis 1000 mm) entlang den parallel zur Küstenlinie verlaufenden tektonischen Verwerfungen (von Süd nach Nord: Libanon- und Antilibanongebirge, Gebet Nusairtye [antiker Name: Bargylos] und Amanusgebirge). Flußbewässerung findet sich nur am Orontes, Euphrat und Habür. Unmittelbar östlich der Gebirgszüge und in der Beqä'-Ebene zwischen Libanon und Antilibanon liegen auch die landwirtschaftlich gut zu nutzenden Böden; dort gab es im Altertum die höchste Siedlungsdichte, während nach Osten hin die Landschaft zunehmend in Steppe und Wüste übergeht. Die Region ist arm an Bodenschätzen. Wichtige Exportprodukte (vgl. z. B. T G I 3 , Nr. 17; T U A T III, 663; Ez 27,5.18) waren Olivenöl, Wein, Gewürze und Datteln, Elfenbein (vgl. den zu Beginn des 1. Jahrtausends ausgestorbenen syrischen Elefanten), Purpur (hergestellt aus der an der phönizischen Küste beheimateten Schnecke murex brandaris), Wolle von den am Rande des Kulturlandes von Nomaden gehaltenen Schafen und Ziegen sowie Holz aus dem früher dicht bewaldeten Hochgebirge (Zedern, Zypressen, Pinien, Kilikische Tanne; überwiegend als Bauholz für die baumarmen Gebiete Mesopotamiens und Ägyptens). Mit der wichtigen Straßenverbindung von Ägypten nach Mesopotamien bzw. Anatolien und durch die zahlreichen Häfen (von Süd nach Nord vor allem Tyrus, Sidon, Beirut, Byblos, Ambi, Ullaza/Tripolis, Arwad, Ugarit, Seleukia, Alexandrien) profitierte Syrien als Transitland vom internationalen Handel.

2. Geschichte vom 3. bis 1. Jahrtausend

v.Chr.

Nach ersten Siedlungen im 7./6. Jahrtausend v. Chr. (sog. neolithische Revolution) entstanden im späten 4. und 3. Jahrtausend voneinander unabhängige Stadtstaaten in Syrien. Die Inschriftenfunde aus dem ca. 70 km südlich von Aleppo gelegenen Ebla/Teil MardTh (insgesamt ca. 18.000 Texte mit eigener, bis dahin unbekannter, zur semitischen Sprachfamilie gehörender Sprache), aber auch die materielle Hinterlassenschaft dieser Zeit zeigen für Nordsyrien eine starke wirtschaftliche und kulturelle Beziehung zum Zweistromland auf; daneben gab es auch intensive Kontakte nach Anatolien, weniger nach Südsyrien und Palästina. Das wirtschaftliche Interesse Ägyptens richtete sich vor allem auf die südsyrische und libanesische Küste mit den reichen Holzvorkommen im

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Hinterland; aber auch aus Ebla stammen einige ägyptische Funde. Im 18./17. Jh. v.Chr. erstarkten die aus dem Kaukasus stammenden Hurriter im Norden Syriens und stellten in vielen Orten die lokale Führungsschicht; aber auch die ursprünglich nomadisierenden Amoriter scheinen in den Städten allmählich leitende Positionen eingenommen zu haben. Die Ächtungstexte (18./17. Jh. v.Chr.) belegen einen zunehmenden ägyptischen Einfluß in küstennahen (Arqä nordöstlich von Tripolis, Byblos, Ullaza, Tyrus, Irqata) und im Landesinneren gelegenen Orten und Regionen (Bosra, Lebo-Hamat, Qarqar, libanesische Beqä'-Ebene, Umgebung von Damaskus). Die Maritexte (mit über 16.000 Tontafeln die wichtigste Textquelle für das 18. Jh. v.Chr.) belegen neben intensiven Kontakten nach Mesopotamien auch einen Zinnhandel zwischen Hazor und Mari. Um 1550 bildete sich aus einer Konföderation hurritischer Staaten im Norden Syriens und in Nordmesopotamien das Reich Mitanni (größte Ausdehnung: von Alalah bis Nuzi); im Bereich des heutigen syrisch-libanesischen Grenzgebietes entstand wenig später ein amoritischer Kleinstaat. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends entwickelte sich vor allem die Hafenstadt Ugarit (Räs Samra) zum zentralen Umschlagplatz des Handels zwischen der Levante, Mesopotamien und der Mittelmeerwelt. Die umfangreichen Archive aus Ugarit (14. bis frühes 12. Jh., mit religiösen und wirtschaftlichen Texten) weisen ein eigenes Schriftsystem mit einer in Keilen geschriebenen Buchstabenschrift auf (-•Schrift und Schreiber). Nach der Vertreibung der Hyksos begann eine Epoche zunehmender ägyptischer Oberherrschaft über Syrien; Thutmosis I. (1493-1482 v.Chr.) und Thutmosis III. (14791426 v. Chr.) gelangten bis zum Eufrat. Das von ägyptischen Kommissaren verwaltete Gebiet reichte zwischen ca. 1400 und 1350 bis Ugarit, im Binnenland bis Qatna. Nördlich davon lag zunächst das Reich Mitanni, das schließlich von dem Hethiterkönig Suppiluliuma (1343-1322 v.Chr.) zerschlagen wurde, der seine eigenen Söhne als Könige in Aleppo und Karkemisch einsetzte. Nach der Schlacht bei -»Kadesch am Orontes (1274 v.Chr.) wurde Syrien in einem Friedensvertrag zwischen Ägypten und den Hethitern aufgeteilt; die Grenze verlief nördlich von Byblos. Der Zusammenbruch des Hethiterreichs um 1200 v.Chr. beendete den hethitischen Einfluß in Syrien. Die entlang der Küste ziehenden Seevölkergruppen zerstörten zahlreiche Städte. Neue Machtfaktoren wurden nun im Norden die neuhethitischen Staaten sowie vor allem die Aramäerstaaten (-•Aramäer und Israel) und an der Küste die Phönizier (-»Phönizien und Israel). 3. Syrien und das Alte

Testament

Die Bedeutung der Eblatexte für das Alte Testament wird heute - nach einer Phase enthusiastischer Überbewertung — realistischer eingeschätzt. Der geographische Horizont Eblas reichte wohl nie bis Palästina. Die religiösen Texte aus Ugarit stellen eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion der kanaanäischen Religion des 2. Jahrtausends dar. Zu den Texten (Auswahl in: T U A T II, 299-357; III, 1091-1317) gehören Epen und Götterlisten (insgesamt rund 200 Gottheiten syrischer, mesopotamischer, hurritischer, hethitischer, ägyptischer und mediterraner Herkunft). Einer noch immer verbreiteten Überschätzung der Bedeutung ugaritischer Texte für die Interpretation biblischer Texte ist der große räumliche und zeitliche Abstand, aber auch der kosmopolitische Charakter Ugarits im Gegensatz zur bäuerlichen Lebenswelt in Israel entgegenzuhalten. Trotzdem erhellen die Texte manche religiöse Vorstellung, die bislang aus dem Alten Testament nur in Polemik bekannt war. Das Pantheon Ugarits, zu dem als wichtigste Gottheiten El, Baal, Jam, Mot, Anat, Aschera und Astarte gehören, dachte man sich auf dem Gebet el- 'AqralZaphon nördlich von Ugarit versammelt. Zahlreiche Ausgrabungen, bei denen eindrückliche Tempel gefunden wurden (z. B. Teil Kämid el-Löz in der Beqä'-Ebene im Libanon; Ebla; 'Ain Därä; Teil Ta'ymät [die beiden letzten mit interessanten Parallelen zum Jerusalemer -»'Tempel]), geben Aufschlüsse über die Entwicklung der Sakralarchitektur. Wichtige Quellen für die syrische Religion des 1. Jahrtausends v.Chr. bieten die aramäischen und phönizischen Texte (vgl. KAI).

Syrien II

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Literatur Jacques Cauvin/Rudolph H. Dornemann, Art. Syria: AncB Dictionary 6 (1992) 2 7 1 - 2 8 1 . Manfried Dietrich u.a., Die keilalphabetischen Texte aus Ugarit, Kevelaer 1976; u.d.T.: T h e Cuneiform Alphabetic Texts from Ugarit, Ras Ibn Hani and Other Places, Münster 2 1995. - René Dussaud, Topographie hist. de la Syrie antique et médiévale, 1927 (BAH 4). - Peter W. Haider u.a. (Hg.), Religionsgesch. Syriens. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart u.a. 1996,13-136. - Manfred Hutter, Religionen in der Umwelt des AT, Stuttgart u.a., I 1996. - Horst Klengel, Gesch. u. Kultur Altsyriens, Leipzig 1967 »1979 = Wien/München 1980. - Ders., Syria 3000 to 300 B.C. A Handbook of Politicai History, Berlin 1992. - Land des Baal. Syrien - Forum der Völker u. Kulturen. Ausstellungskat., Mainz 1982. - Oswald Loretz, Ugarit u. die Bibel, Darmstadt 1990. - Paolo Matthiae, Ebla. An Empire Rediscovered, London u.a. 1980. - Herbert Niehr, Religionen in Israels Umwelt, 1998 (NEB.AT ErgBd. 5). - Eugen Wirth, Syrien. Eine geographische Landeskunde, Darmstadt 1971.

Wolfgang Zwickel

II. Zeit des Neuen Testaments 1. Abgrenzung und politische Situation 2. Religiöse Situation tums in Syrien 4. Entstehung von Schriften (Literatur S. 589)

1. Abgrenzung

und politische

3. Geschichte des Urchristen-

Situation

Der Sprachgebrauch zur Zeit des Neuen Testaments meint mit Syrien ein weit größeres Gebiet als das des heutigen Staates Syrien. Der Geograph Strabo (geb. 64/63 v. Chr.) läßt Syrien im Norden die Kommagene mit umfassen (die 72 n. Chr. endgültig Teil der römischen Provinz Syrien wurde) sowie im Süden und Westen Judäa und Phönikien mit einschließen (geogr. XVI,2,2). Als politische Größe ist Syrien in diesem Sinne auf die Teilung der Diadochenreiche nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) zurückzuführen: Syrien wurde durch die neu gegründete Hauptstadt -»Antiochien am Orontes zum Kernland des Seleukidenreiches. Autoren wie -»Josephus können „Syrer" gleichbedeutend mit „Seleukiden" verwenden. Mit der Liquidierung ihres Reiches durch Pompeius 64 v. Chr. wurde das Kerngebiet Syriens zur römischen Provinz, während eine Reihe von kleineren Territorien mit mehr oder weniger abhängigem politischem Status eine Pufferzone gegenüber dem Partherreich bildeten: so die Kommagene, die Osroene, Palmyra, das Nabatäerreich, der Städtebund der Dekapolis und die herodianischen Reiche. Unter diesen Bedingungen war Syrien ein Grenzland, das im Westen stark von der Präsenz römischer Legionen geprägt war, in anderen Gebieten vom Taktieren der lokalen Obrigkeiten zwischen den Großmächten. 2. Religiöse

Situation

In den einheimischen Kulten hat sich zu dieser Zeit noch eine sehr kleinräumige Struktur erhalten: viele Städte oder sogar Stämme innerhalb einer Stadt (z. B. Palmyra) haben ihren eigenen Kanon von Gottheiten, wobei sowohl männliche (z. B. Baalschamin) als auch weibliche Hochgottheiten (vor allem die „Syrische Göttin" in Hierapolis) an der Spitze stehen können, an anderen Orten Paare, Triaden oder eine Kombination von Mutter- und Sohnesgottheit. Durch die Übersetzung semitischer Götternamen in griechische und lateinische entsteht auch innerhalb Syriens eine Tendenz, die Gottheiten verschiedener Städte miteinander zu identifizieren, doch dies wird vor allem in der Volksfrömmigkeit dadurch unterlaufen, daß Gottheiten mit gleichem griechischem Namen durch Toponyme wieder voneinander unterschieden werden. Daneben gibt es vor allem in gebildeten Kreisen eine Neigung zum -»Monotheismus, indem ein Hochgott stark von anderen, zu Dämonen reduzierten Gottheiten abgesetzt wird. Im Kontext dieses Denkens wird auch der jüdische Monotheismus attraktiv; die Möglichkeit wird erwogen, hellenistischen und jüdischen Hochgottglauben in eins zu setzen.

Syrien II

588 3. Geschichte des Urchristentums

in Syrien

Der syrische Kulturraum nach damaligem geographischem Verständnis bildet von Anfang an den Rahmen für die Ereignisse des Neuen Testaments, insofern Judäa und Galiläa (s.a. TRE 25,591,17ff.; 592,32ff.) dazugerechnet wurden. Darauf macht bereits die Angabe Lk 2,2 aufmerksam, daß Quirinius während Jesu Geburt über Syrien herrschte. Jesus trat in einem Gebiet auf, in dem jüdische und nichtjüdische Bevölkerung geographisch eng miteinander verflochten waren. Nach der Darstellung des Markusevangeliums betrat er auch nichtjüdische Gebiete, die als syrische bezeichnet werden konnten, so das Gebiet von Gerasa (Mk 5,1) und von Tyrus (Mk 7,24). Mt 4,24 läßt die Nachricht von Jesu Wirken sogar durch „ganz Syrien" dringen. Beide Angaben lassen sich interpretieren als Hinweise auf den geographischen Ort des jeweiligen Evangelisten, aber dennoch ist damit richtig festgestellt, daß die Botschaft Jesu nicht erst in der nachösterlichen Mission in den syrischen Kulturraum eindrang. Von dieser Mission berichtet vor allem die -»Apostelgeschichte: Jesusjünger in Damaskus sind Act 9,10.19 erwähnt ohne eine Notiz darüber, wie die Botschaft dorthin gelangte; die Bekehrung und Taufe des —»Paulus finden in Damaskus bzw. seiner Umgebung statt. Paulus selbst gibt an, danach noch mindestens einmal in Damaskus gewesen zu sein (Gal 1,17; vgl. II Kor ll,32f.). Die Gründung der Gemeinde in Antiochien und der Übergang von der Predigt unter Juden zur Verkündigung an die Griechen wird Act ll,19ff. berichtet ebenso wie das Aufkommen der Bezeichnung „Christen" (Xpioxiavoi), d.h. die erstmalige Wahrnehmung der neuen Gemeinschaft als einer eigenständigen Größe gegenüber dem Judentum. Als Ausgangspunkt der Missionsreisen von Barnabas und Paulus wird die Gemeinde von Antiochien zur Mutterkirche des Christentums unter den Nichtjuden, insbesondere in -»Kleinasien und -»Griechenland. Der Streit um die -»Beschneidung von Heidenchristen bricht dort aus (Act 15,1 f.; Gal 2,1 ff.) und ein Streit um die Tischgemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen, d.h. um die Frage, ob Judenchristen um der Gemeinschaft mit Heidenchristen willen von Vorschriften der Tora (-»Gesetz) entbunden werden können (Gal 2,11 ff.). 4. Entstehung

von

Schriften

Für eine Reihe von Schriften des Neuen Testaments und der christlichen Literatur neben dem Neuen Testament wird eine Entstehung in Syrien mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit diskutiert. Ziemlich allgemein wird in der Forschung die Herkunft des Matthäusevangeliums aus Syrien angenommen (-»Evangelien, Synoptische 5.3.). Dafür sprechen u.a. die Gemeinsamkeiten zwischen dem Sondergut des Matthäus und den Briefen des -»Ignatius von Antiochien. Ähnlich hoch wird die Wahrscheinlichkeit für eine Entstehung der -»Didache in Syrien angesetzt, die durch eine noch lebendige Bewegung der Nachfolge Jesu Nähe zu -»Palästina erkennen läßt und die aus einer Gegend stammen muß, in der mit einem Mangel an fließendem Wasser für die -»Taufe gerechnet werden mußte (Did 7,2). Auch für das Thomasevangelium (-•Thomas, Apostel) wird gewöhnlich eine Entstehung in Syrien angenommen, da es mit seiner Neigung zum Enkratismus und mit seiner Terminologie (u.a. dem Apostelnamen „Judas Thomas") einen Zusammenhang mit der späteren syrischen Thomastradition bildet. Deutlich geringer ist die Zustimmung zu einer Lokalisierung des Markusevangeliums (vgl. TRE 10,623,18ff.) in den syrischen Raum, wofür seine Kenntnis palästinischer Jesustraditionen sprechen könnte bei gleichzeitig fehlender Vertrautheit mit den geographischen Gegebenheiten. Ebenfalls umstritten sind Vorschläge geblieben, eine Entstehung des -»Johannesevangeliums oder von Teilen daraus in Syrien anzunehmen. Weitere außerkanonische Schriften, für die eine Herkunft aus dem syrischen Raum diskutiert wird, sind das Protevangelium Jacobi, der 2. -»Clemensbrief, das Ebionäerevangelium, das Nazaräerevangelium, die Kerygmata Petrou, die Johannesakten, das

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Philippusevangelium und die 1. Apokalypse des Jalcobus („Rolle Addais"; vgl. -»Apokryphen H.6.9.7.). Paulus hat keinen seiner Briefe in Syrien oder nach Syrien geschrieben, aber er gibt an, bis zu 14 Jahre in Syrien und Kilikien verbracht zu haben (Gal 1,21; 2,1), d.h. mehr als die Hälfte seines Wirkens als christlicher Apostel. Entsprechend hoch darf seine theologische Prägung durch die Christen in Damaskus und Antiochien angesetzt werden. In noch höherem M a ß gilt dasselbe für die Schriften des Ignatius von Antiochien, der zum Tierkampf in Rom verurteilt war und seine Briefe an verschiedene Gemeinden Kleinasiens auf dem Weg dorthin schrieb — d.h. weder in Syrien noch nach Syrien, aber theologisch von der syrischen Hauptstadtgemeinde geprägt. Literatur Klaus Berger, Theologiegesch. des Urchristentums, Tübingen/Basel 1994 '1995. - Anton Dauer, Paulus u. die christl. Gemeinde im syr. Antiochia, 1996 (BBB 106). - Klaas Dijkstra, Life and Loyalty. A Study in the Socio-Religious Culture of Syria and Mesopotamia in the Graeco-Roman Period based on Epigraphical Evidence, Leiden 1995 (Religions in the Graeco-Roman World 128). - Andreas Feldtkeller, Identitätssuche des syr. Urchristentums. Mission, Inkulturation u. Pluralität im ältesten Heidenchristentum, 1993 (NTOA 25). - Ders., Im Reich der Syr. Göttin. Eine rel. plurale Kultur als Umwelt des frühen Christentums, Gütersloh 1994 (Stud. zum Verstehen fremder Religionen 8). - Martin Hengel/Anna Maria Schwemer, Paulus zw. Damaskus u. Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, 1998 (WUNT 108). - Religionsgesch. Syriens. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, hg. v. Peter W. Haider/Manfred Hutter/Siegfried Kreuzer, Stuttgart u.a. 1996.

Andreas Feldtkeller

III. Von der Spätantike bis zur Gegenwart 1. Vor dem Konzil von Chalkedon 2. Ausdifferenzierung als Folge christologischer Schismen 3. Folgen der islamischen Eroberung 4. Christliche Interimsherrschaften 5. Von 1400 bis heute (Literatur S. 594)

1. Vor dem Konzil von

Chalkedon

Die nachneutestamentliche Geschichte der Kirche Syriens bleibt zunächst geprägt von der geographischen Lage an der Grenze zwischen der parthischen und der römischen Machtsphäre bzw. später der sassanidischen und der byzantinischen. Diese Grenze ist nicht als eine starre kulturelle Schranke zu betrachten (quer zu ihr verliefen die westlichen Enden der Seidenstraße), aber unter verschiedenen sprachlichen und politischen Bedingungen nahm das Christentum unterschiedliche Entwicklungen. Bedingt dadurch ist zu unterscheiden zwischen der Kirche Syriens im geographischen Sinn, die besonders in den ersten Jahrhunderten griechisch dominiert war, und den Kirchen syrischer Sprache, die über lange Phasen ihrer Geschichte ihr Hauptverbreitungsgebiet in Mesopotamien hatten. Die Kirche der römischen Provinz Syrien war führend an den Gesamtentwicklungen der Kirche im Römischen Reich beteiligt, z. B. durch die frühe Ausbildung eines monarchischen Episkopats, der bereits bei -»Ignatius von Antiochien zu Beginn des 2. Jh. deutlich erkennbar wird. —»Antiochien als Zentrum dieser Kirche blieb bis zur islamischen Eroberung einer der Hauptorte des Christentums im Römischen bzw. Byzantinischen Reich sowohl in hierarchischer Hinsicht (eines der drei ersten -»Patriarchate) als auch bei der Ausbildung theologischer Lehre („antiochenische Schule"). Darüber hinaus spielte Antiochien für die Entwicklung der orthodoxen -»Liturgien eine herausragende Rolle. Im Osten Syriens entstand dagegen ein Christentum syrischer Sprache mit Zentrum in -»Edessa, dem die Maßstäbe westlicher Orthodoxie und Kirchenorganisation vorerst fremd blieben. Eine offizielle Verbindung zwischen beiden entstand erstmals, als Bischof Serapion von Antiochien (gest. 211) Palut zum Bischof von Edessa weihte, doch die an

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Syrien III

ihm orientierte Gemeinde scheint nur eine Minderheit geblieben zu sein gegenüber einem Christentum, das von Antiochien aus als heterodox beurteilt wurde. Auch in sich war dieses Christentum nicht einheitlich. So vertrat -»Bardesanes, der sein Christentum stark mit astrologischen Elementen verband, eine positive Sicht der -»Ehe, während andere, vom Enkratismus geprägte Gruppen der Auffassung waren, daß alle Christen bei ihrer Taufe die Ehelosigkeit zu geloben hätten. Diese Haltung wird u.a. sichtbar bei dem aus Syrien stammenden -»Tatian (2. Jh.) und in den Thomasakten (3. Jh.), die von der Mission des Apostels - » T h o m a s in Indien berichten und die Konflikte hervortreten lassen, die das Christentum dort durch seine Absage an die Ehe hervorruft. In der Diskussion um christliche -»Gnosis haben Gestalten und Texte aus Syrien ein großes Gewicht. Satornil lehrte in Antiochien, und -»Basilides stammte aus Syrien. Während die antiochenische Großkirche solchen Lehren früh ablehnend gegenüberstand, wirkten weite Teile des frühen ostsyrischen Christentums durchdrungen von zumindest einzelnen Elementen, die als gnostisch diskutiert werden. Quellen dafür sind u.a. das Perlenlied aus den Thomasakten und die Oden Salomos (-»Salomo/Salomoschriften III.3.). Archäologische Funde aus Dura Europos am Euphrat werfen ein Licht auf fließende Übergänge zwischen dem syrischen Christentum innerhalb und außerhalb des Römischen Reiches durch ständige Grenzverschiebungen. Die Stadt gehörte nur für wenige Jahrzehnte zum Römischen Reich und wurde als Grenzfestung benutzt (zerstört 256). Während dieser Zeit entstand dort das älteste bisher sicher identifizierte Kirchengebäude, ein von der christlichen Gemeinde um 240 erworbenes und umgebautes Wohnhaus mit Versammlungsraum und Innenhof. Im nördlichen Flügel befand sich ein mit Fresken geschmücktes -»Baptisterium. Ein Nachthimmel an der Decke symbolisiert vermutlich die -»Taufe als Auferweckung aus dem Schlaf der Toten. Eine Darstellung von fünf Frauen am Grab mit Fackeln und Salbgefäßen erinnert an Lk 24,1—4.10; dabei sind es Sterne statt Engel, deren Licht die Fackeln verdunkelt. Dies läßt den Einfluß von Bardesanes erkennen sowie des Diatessaron (der von Tatian verfaßten, enkratitisch geprägten Evangelienharmonie). Auch ein Textfragment des Diatessaron belegt, daß dieses bei den Christen von Dura Europos in Gebrauch war. Im 4. Jh. erfolgte eine deutliche Annäherung der Kirchenstrukturen im Osten an die von Antiochien, nachdem der Norden Mesopotamiens Teil des Römischen Reiches geworden war und sich folglich die Entwicklung zur Reichskirche auch auf das Gebiet um Edessa erstreckte. Bischof Kune (gest. 313) legte zeitgleich mit dem Toleranzedikt die Fundamente für die Thomaskirche von Edessa, die zum Mittelpunkt des vom Westen aus als orthodox beurteilten syrischsprachigen Christentums werden sollte. Eine entscheidende Rolle als Lehrer dieser Kirche spielte -»Ephraem Syrus, der zunächst in -•Nisibis und nach der Abtretung dieser Stadt an die Sassaniden 363 in Edessa tätig war. Doch das syrischsprachige Christentum behielt weiter seine eigene Prägung. Aus der Tradition des ehelosen Christentums entwickelte sich eine innerkirchliche ehelose Elite, genannt die „Söhne" bzw. „Töchter des Bundes". Zu ihnen gehörte -»Afrahat. Die Nonne Aetheria sah in der Thomaskirche von Edessa gegen Ende des 4. Jh. die Thomasakten aufliegen, was die bleibende Wertschätzung dieses Buches bezeugt. Aus der Tatsache, daß Ephraem das Leben Jesu nach dem Diatessaron auslegt, ist dieses noch um 370 als offizieller Evangelientext in Edessa bezeugt. Erst Bischof Rabbula (411-435) soll es aus dem Gottesdienst entfernt haben. Das Syneisaktentum (eheähnliches Zusammenleben von M a n n und Frau ohne geschlechtliche Beziehung) hielt sich im ostsyrischen Raum bis ins 6. Jh., während die westliche Großkirche es bereits im 3. Jh. zu unterdrücken suchte. Nach A. Vööbus entstand im syrischsprachigen Mesopotamien bereits um 280 ein christliches - » M ö n c h t u m , das vermittelt über den —»Manichäismus Ähnlichkeiten zum indischen Asketismus aufwies bis hin zum Ideal der Lebenshingabe an wilde Tiere oder an Feuer als Krönung asketischer Existenz. Durch die im 4. Jh. entstandene Bewegung

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der —•Messalianer wirkten Impulse des syrischen Asketismus in westlichere Kirchengebiete, vor allem -» Kleinasien, hinein. Symeon d.Ä. (um 390—459) wurde im Nordwesten Syriens zum Begründer des Stylitentums, indem er die letzten 30 Jahre seines Lebens auf einer 20 Meter hohen Säule stehend verbrachte. In der syrischen Hagiographie wurde die Säule zum Sinnbild für den Berg als O r t des Offenbarungsempfangs. Vom 5. bis 19. Jh. sind 119 Fälle des Stylitentums bekannt geworden. Um die Säule des Symeon wurde 4 6 0 - 4 9 0 ein Oktogonalbau errichtet mit vier kreuzförmig aneinander angrenzenden drcischiffigen Basiliken. Diese Pilgerstätte wurde zu einer Art Nationalheiligtum der syrischen Kirche. Der Weg von Antiochien dorthin wurde als Pilgerstraße ausgerüstet. Aus dem syrischen Raum stammen bedeutende Hymnendichtungen (-»Hymnen) sowohl in griechischer als auch in syrischer Sprache. Der syrische Kirchengesang wurde bereits von Bardesanes initiiert, Ephraem ersetzte dessen Hymnen durch eine ganze Reihe von eigenen Hymnensammlungen. Größter Dichter nach Ephraem ist - » J a k o b von Sarug. 2. Ausdifferenzierung

als Folge christologischer

Schismen

Die christologischen Formulierungen des Konzils von —»Chalkedon 451 boten den Anlaß dafür, daß die kulturell bedingten Spannungen zwischen griechisch- und syrischsprachigem Christentum in den Rang von dogmatischen Lehrstreitigkeiten erhoben wurden und damit zu dauerhaften Kirchenspaltungen führten. Während die griechischsprachige Bevölkerung Syriens sich an der byzantinischen Orthodoxie ausrichtete, sammelte sich die Mehrheit der Christen syrischer Sprache um die als Monophysitismus (-»Monophysiten) bezeichnete Position. Einer ihrer frühen hierarchischen Vertreter war -»Philoxenus von Mabbug. Als der Monophysitismus zeitweise durch die byzantinischen Kaiser begünstigt wurde, erhielt Antiochien 512 mit -»Severus einen monophysitischen Patriarchen. Unter Justin I. (518-527) gewann jedoch die chalkedonensische Position wieder die Oberhand; Severus wurde mit vielen anderen kirchlichen Oberhäuptern vertrieben, und eine neue chalkedonensische Hierarchie wurde eingesetzt, die von der Bevölkerung als eine „kaiserliche" empfunden wurde, weshalb sich für die von ihr geleiteten Christen die Bezeichnung Melchiten ausbildete. Nachdem Versuche des Ausgleichs unter -»Justinian scheiterten, entwickelte sich der Monophysitismus als selbständige Kirche gegen den byzantinischen Staat. Als der monophysitisch orientierte Ghassanidenfürst Aretas angesichts der persischen Einfälle 542 mit Justinian gemeinsame militärische Interessen hatte, konnte er bei ihm die Weihe von zwei monophysitischen Bischöfen erwirken: Theodor (gest. 571/572) für Bostra und Jakob Baradaios („der in Lumpen Gehüllte", ca. 490-578) für Syrien, -»Armenien, Kleinasien und die Inseln. Von Seiten der chalkedonensischen Kirche wurde ein Kopfpreis auf Jakob Baradaios ausgesetzt; dennoch gelang es ihm, die monophysitische Kirche zu stärken und neu zu organisieren. Seit dem 8. Jh. wurde diese nach ihm als -»Jakobitische Kirche bezeichnet (vgl. dazu auch - » O r t h o d o x e Kirchen 4.2.I.A.). Ihre eigenen Patriarchen in Konkurrenz zu den melchitischen Patriarchen von Antiochien erhielt diese Kirche beginnend mit Sergios von Telia 557/58, doch hatten diese ihren Sitz immer abseits von Antiochien in wechselnden Klöstern (heute in Damaskus). Während die von der jakobitischen Kirche aufgenommene dogmatische Position im vorangegangenen Streit zwischen den großen Theologenschulen des Ostens nicht der antiochenischen Schule entsprach, sondern der alexandrinischen, fand auch die Theologie der antiochenischen Schule weiter ihren Niederschlag im syrischsprachigen Christentum. Für sie entschied sich auf einer Synode in Seleukia-Ktesiphon 486 die Hierarchie des Teils der syrischsprachigen Kirche, die sich auf dem Boden des sassanidischen Reiches befand - wohl auch unter dem Druck des Großkönigs, der an einer hierarchischen und dogmatischen Unabhängigkeit seiner christlichen Untertanen von den Kirchen des Byzantinischen Reiches interessiert war. Von außen her wurde die dogmatische Position

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dieser Kirche mit dem 431 auf dem Konzil von -»Ephesus verurteilten -»Nestorius identifiziert, weshalb sie als -»Nestorianische Kirche bezeichnet wird (Selbstbezeichnung: Apostolische Kirche des Ostens; vgl. auch -»Orthodoxe Kirchen 4.1.I.A.). Diese Kirche spielte während der folgenden Jahrhunderte eine weitaus größere Rolle für die Verbreitung des Christentums als die jakobitische. Ihre Mission erreichte im 7. Jh. China, wo die Nestorianische Kirche als die „syrische Religion" bezeichnet wurde. Auch die indische Kirche, die für das ostsyrische Christentum durch die Gestalt des in Edessa verehrten legendären Indienmissionars Thomas immer eine wichtige Rolle gespielt hatte, war spätestens im 6. J h . hierarchisch abhängig von Seleukia-Ktesiphon. Erst im 17. J h . unterstellte sie sich dem jakobitischen Patriarchen von Antiochien, um sich der Eingliederung in die römisch-katholische Kolonialkirche zu entziehen. Die kirchliche Spaltung innerhalb des syrischsprachigen Christentums führte langfristig zu einer Ausdifferenzierung der Schriftsprache in das Ostsyrische der Nestorianer, das auch in deren Missionsgebieten verbreitet war, und in das Westsyrische der Jakobiten.

3. Folgen der islamischen

Eroberung

Kaiser Herakleios versuchte 638, die Jakobiten über das als Kompromißformel gemeinte monotheletische Bekenntnis (—» Monenergetisch-monotheletischer Streit) zur Union mit der Reichskirche zu bewegen. Als dies scheiterte, rächte er sich durch die Konfiskation von Kirchen und Klöstern. Im Moment der Verbitterung über diese Maßnahmen gelang den muslimischen Armeen die Eroberung Syriens und seiner Nachbarländer. Sie wurden von vielen syrischen Christen als Befreier von der Herrschaft des byzantinischen Kaisers empfunden. Unter den Umayyaden ( 6 6 1 - 7 5 0 ) wurde Damaskus zum Sitz der islamischen Khalifen und damit Syrien zum Kernland des islamischen Reiches. Die arabische Geographie versteht bis heute unter dem „Land von Damaskus" ein Gebiet, das etwa der römischen Provinz Syrien entspricht, d.h. im Osten bis zum Euphrat reicht, im Süden -»-Palästina und das Ostjordanland, im Westen den Libanon mit einschließt. In der frühislamischen Zeit war die christliche Bevölkerungsmehrheit noch so dominierend, daß der erst im Werden befindliche -»Islam weit stärker durch das Christentum und die von ihm vertretene Kultur beeinflußt wurde als umgekehrt. Regeln und Personal der Verwaltung wurden weitgehend aus der byzantinischen Zeit übernommen, Verwaltungssprache blieb zunächst noch griechisch. Die islamischen Herrscher verstanden den Islam anfangs als Religion nur der Araber, weshalb die Griechen und Syrer in ihrem Christentum unbehelligt blieben, die zur jakobitischen Kirche gehörigen christlichen Araberstämme in den Grenzregionen Syriens (vor allem Ghassaniden und Taghlibiten) jedoch zur Übernahme des Islam gedrängt und zum Teil blutig verfolgt wurden. Erste Änderungen brachte die Regierungszeit von Omar II. (717—720), der durch eine Reihe von Gesetzen den Einfluß des Christentums aus dem öffentlichen Leben zurückdrängte und durch die Steuerbefreiung für muslimische Nichtaraber einen Anreiz zum Religionswechsel auch für Syrer schuf. Damit begann ein Mitgliederschwund der Kirchen durch Übertritte zum Islam, der jedoch in Syrien die Mehrheitsverhältnisse erst nach mehreren Jahrhunderten umkehrte. Zu den berühmtesten syrisch-christlichen Gelehrten der frühislamischen Zeit gehört - » J a k o b von Edessa. Neben die christliche Gelehrsamkeit in griechischer und syrischer Sprache trat in abbasidischer Zeit ein arabisch-christliches Schrifttum, dessen erster hervorragender Vertreter in Syrien -»Theodor Abu Qurra war. Der Prozeß der Arabisierung vollzog sich unter den griechischsprachigen Melchiten schneller als unter den syrischen Jakobiten und Nestorianern, vor allem dadurch bedingt, daß eine Bewahrung byzantinischer Identität als feindliche Einstellung gegenüber dem islamischen Reich ausgelegt werden konnte. Die Spaltungen unter den Christen Syriens wurden durch die islamische Eroberung festgeschrieben, da nun keine Staatsmacht mehr an einer kirchlichen Einigung interessiert

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war. Die Verlegung des Khalifensitzes 7 6 2 nach Bagdad verstärkte die Bedeutung der ehemals sassanidischen Gebiete auch für die jakobitische Kirche, w o diese nur eine kleine Minderheit war. Das Amt eines „ M e t r o p o l i t e n des O s t e n s " bekam innerhalb der jakobitischen Hierarchie großes Gewicht. Im 11. J h . nahmen die Inhaber dieses Amtes den Titel „ M a p h r i a n " an. Aus den Unionsbemühungen des Herakleios von 638 gingen langfristig die - » M a roniten hervor (was von diesen selbst allerdings bestritten wird): das monotheletische Bekenntnis wurde auf dem Konzil von Konstantinopcl 680/681 verworfen, aber von den M ö n c h e n eines Klosters bei Apameia festgehalten, das nach dem Asketen M a r o n (5. J h . ) benannt war. Dieses Kloster wurde zum Zentrum einer eigenen Gemeinschaft, deren O b e r h a u p t ebenfalls den T i t e l des Patriarchen von Antiochien für sich beanspruchte.

4. Christliche

Interimsherrschaften

Durch militärische Erfolge des Byzantinischen Reiches wurde Antiochien von 9 6 9 bis 1084 noch einmal byzantinisch, kurzfristig auch mit einem weiten Hinterland in Syrien. Dies gab dem melchitischen Patriarchen die Gelegenheit, mit kaiserlicher Unterstützung seinen Einfluß auf Kosten der J a k o b i t e n zu stärken. Gleichzeitig aber brachte es ihn in größere Abhängigkeit von -»Konstantinopel. Das Vordringen der Seldschuken drängte das Byzantinische Reich wieder ganz aus Syrien zurück und wurde zum Auslöser für die - • Kreuzzüge. Nach nur 14 J a h r e n islamischer Herrschaft wurde Antiochien 1098 von den Kreuzfahrern eingenommen und war bis 1268 Sitz eines lateinischen Fürstentums. Ein Großfürstentum Edessa reichte daneben weit nach Osten, ging aber bereits 1144 (letzte Reste 1159) wieder verloren. Ansonsten beschränkte sich die Kreuzfahrerherrschaft weitgehend auf die Küstenregionen am Mittelmeer; das Landesinnere Syriens blieb muslimisch. In Antiochien ersetzten die Kreuzfahrer den melchitischen Patriarchen durch einen lateinischen. Sie bemühten sich darum, zu den nichtchalkedonensischen Kirchen Beziehungen aufzubauen, die zu Unionen 1215 mit den Maroniten und 1282 mit den Armeniern führten. M i t der mongolischen Eroberung von Bagdad 1258 wurde Syrien zum Gegenstand erbitterter Schlachten zwischen M o n g o l e n und M a m l u k e n . Im mongolischen M a c h t bereich verbesserte sich die Lage der Christen, da viele Angehörige der mongolischen Heere nestorianische Christen waren. Die verschiedenen christlichen Kirchen waren im mongolischen Reich prinzipiell gleichgestellt, so d a ß auch die J a k o b i t e n von den Veränderungen profitierten. Nach dem Übertritt der mongolischen Herrscher zum sunnitischen Islam gingen diese Vorteile dem Christentum wieder verloren. In diese politisch unruhige Epoche fiel die letzte Blütezeit der jakobitischen T h e o l o g i e mit -»Dionysius bar Salibi, - » M i c h a e l dem Syrer und - » G r e g o r Barhebräus.

5. VOM 1400 bis heute Einen schweren Schlag für das syrische Christentum bedeutete die Verwüstung Syriens durch T i m u r Lenk 1400 mit planmäßigen Massakern an der Zivilbevölkerung. Seit dieser Zeit verloren sowohl die nestorianische als auch die jakobitische Kirche rasch an Bedeutung. Unter der 1516 beginnenden osmanischen Herrschaft wurden die Christen in zwei Millets zusammengefaßt, die in zivilrechtlichen Angelegenheiten weitgehend autonom waren und deren Vertretung gegenüber der muslimischen Gesellschaft in Konstantinopel zentralisiert wurde. Dies hatte zur Folge, daß die melchitischen Christen Syriens politisch vom orthodoxen Patriarchen in Konstantinopel abhängig wurden, die übrigen Christen im R a h m e n des „armenischen M i l l e t " vom armenischen Patriarchen. In den großen Städten konzentrierten sich die Christen in eigenen christlich geprägten Vierteln; in vielen ländlichen Gegenden wurde die christliche Präsenz stark ausgedünnt. Kirchenunionen mit R o m ( - » U n i o n e n , Kirchliche II) wurden für die Christen des Osmanischen Reiches u.a. deswegen interessant, weil sie damit faktisch dem Milletsy-

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stem entnommen und dem französischen Schutz für katholische Untertanen der Hohen Pforte unterstellt waren. Hinzu k a m , daß die Unierten Kirchen am frühesten der arabischen Prägung ihres Kirchenvolkes auch in ihrer Hierarchie Rechnung trugen, während das griechisch-orthodoxe Patriarchat Antiochien bis 1899 unter griechischer Leitung blieb. Eine griechisch-katholische Kirche entstand durch die Tätigkeit von Euthymius Sayfi ab 1683 und etablierte sich durch einen eigenen Patriarchen von Antiochien ab 1724. Die Syrisch-Katholische Kirche entstand aus einer Union zunächst lokal in Aleppo a b 1659, endgültig a b 1783. Im J a h r 1830 wurden die Unierten offiziell als eigene Millet anerkannt. Die J a k o b i t e n erhielten den Status einer eigenen Millet erst 1882. Protestantische Missionsgesellschaftcn begannen im syrischen R a u m seit den 20er J a h r e n des 19. J h . zu arbeiten. In der Hoffnung auf politische Veränderungen, die eine Mission unter Muslimen zu einem späteren Zeitpunkt erleichtern würden, setzten sie zunächst auf eine R e f o r m a t i o n der vorhandenen orthodoxen Kirchen; faktisch lösten sie damit die Gründung eigener protestantischer Kirchen auf Kosten der orthodoxen aus. Unter dem Druck der europäischen M ä c h t e kam es 1839 und 1856 zu R e f o r m e n , in denen die öffentliche Präsenz des Christentums erleichtert und die Christen im bürgerrechtlichen Status den Muslimen gleichgestellt wurden. Aus Protest gegen diesen Wandel der traditionellen Gesellschaftsordnung k a m es zu blutigen Ausschreitungen gegen Christen u.a. in Aleppo 1850 und Damaskus 1860. Der Erste Weltkrieg führte zu einer M a s senflucht von Christen verschiedener Denominationen aus der T ü r k e i in das französische Mandatsgebiet Syrien/Libanon. Insbesondere armenische Christen sind seitdem im syrischen R a u m wesentlich zahlreicher vertreten als zuvor. In den heute zur T ü r k e i gehörenden ursprünglichen Kerngebieten des syrischen Christentums mit Antiochien, Edessa, Nisibis und den Dörfern des Tur Abdin ist das Christentum stark dezimiert. Die christlich geprägten Gebiete im Westen wurden auf Betreiben Frankreichs im Rahmen des Staates - » L i b a n o n von Syrien abgetrennt. Für die heutige Bevölkerung der Syrischen Arabischen Republik sind zuverlässige Religionsstatistiken nicht verfügbar. Sunnitische Muslime bilden die große Mehrheit, mindestens 7 % sind Alawiten, daneben gibt es andere schiitische Gruppen, 2 - 3 % sind Drusen. Der Anteil der Christen wird mit bis zu 1 0 % angegeben, realistischer dürfte eine Schätzung von 5 - 6 % sein (knapp 1 Million Glaubige). G r ö ß t e Kirchen sind die griechisch-orthodoxe (über 3 0 0 . 0 0 0 Mitglieder), die syrisch-orthodoxe und die armenisch-orthodoxe (je um 150.000). Die römisch-katholische Kirche ist vor allem durch verschiedene Unionskirchen präsent. R ö m i s c h e Katholiken, Protestanten und Nestorianer bilden Gruppen zwischen 5 . 0 0 0 und 2 0 . 0 0 0 Gläubigen. Literatur Vgl. ausführliche Literaturangaben zu Syrien bei - > E d e s s a und - » J a k o b i t i s c h e Kirche. Ergänzend dazu: Archéologie et histoire de la Syrie. II. L a Syrie de l'époque a c h é m é n i d e à l'avènement de l'Islam, hg. v. J e a n - M a r i e Dentzer u.a., Saarbrücken 1 9 8 9 . - Seely Beggiani, Intr. t o Eastern Christian Spirituality. T h e Syriac T r a d i t i o n , L o n d o n 1991. - Annabelle B ö t t c h e r , Syr. Religionspolitik unter Asad, Freiburg 1998 (Freiburger Beitr. zur E n t w i c k l u n g u. Politik 25). - Sebastian B r o c k , Studies in Syriac Christianity, 1992 (CStS 3 S 7 ) . - J o s e p h Chalassery, T h e H o l y Spirit and Christian Initiation in the East Syrian T r a d i t i o n , R o m 1995. - Christen zw. W ü s t e n u. O a s e n . J o r d a n i e n , Syrien, hg. v. der Ev. M i t t e l o s t - K o m m i s s i o n R e d . Reinhilde Freise, Stuttgart 1994. - H a n J . W . Drijvers, East o f A n t i o c h . Studies in Early Syriac Christianity, 1 9 8 4 (CStS 198). - D e r s . , History and Religion in L a t e Antique Syria, 1 9 9 4 (CStS 4 6 4 ) . - J e a n - M a u r i c e Fiey, P o u r un O r i e n s Christianus novus. R é p e r t o i r e des diocèses Syriaques orientaux et o c c i d e n t a u x , Stuttgart 1993 (Beiruter T e x t e u. Stud. 4 9 ) . - Ders., Saints syriaques, N e w York 1998. - T h o m a s M . Finn, Early Christian Baptism and the C a t e c h u m e n a t e . West and East Syria, 1992 ( M F C 5 ) . - M a u r i c e G a u d e f r o y - D e m o m b y n e s , L a Syrie à l'époque des M a m e l o u k s d'après les auteurs a r a b e s , Paris 1923 = F r a n k f u r t a . M . 1993. H o r s t Klengel, Syrien zw. Alexander u. 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Tabor

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Dt. Interessen in Syrien u. Palästina 1841-1898. Aktivitäten rel. Institutionen, wirtschaftliche u. politische Einflüsse, Berlin 1982 (Stud, zum modernen islamischen Orient 3). - La Syrie de Byzance à l'Islam. Vile - Ville siècles, hg. v. Pierre Canivet, Damaskus 1992. - Syrien. Von den Aposteln zu den Khalifen [Ausstellung Stadtmuseum Linz-Nordico], wiss. Leitung u. Red. Erwin M . Ruprechtsberger, Mainz 1993 (Linzer Archäologische Forschungen 21). - Syr. Christentum weltweit. Stud, zur syr. KG. FS Wolfgang Hage, hg. v. Martin Tamcke, Münster 1995 (Stud, zur orient. KG 1). - Texts and Studies on the Hist. Geography and Topography of Syria, hg. v. Fuat Sezgin, Frankfurt a.M. 1993. - Baby Varghese, Les onctions baptismales dans la tradition syrienne, 1989 (CSCO.Sub 82). - Arthur Vööbus, History of Asceticism in the Syrian Orient. A Contribution to the History of Culture in the Near East, 3 Bde., I 1958 II 1960 III 1988 (CSCO 184.197.500).

Andreas Feldtkeller Syrisch-orthodoxe Kirche -»Jakobitische Kirche Syro-phönizische Religion -» Westsemitische Religion Systematische Theologie —»Dogmatik, -»Ethik, —•Fundamentaltheologie Szeged -»-Ungarn

Tabor (Literatur S.596)

Tabor ist ein kegelförmiger Berg von 588 m Höhe, der sich markant an der nordöstlichen Ecke aus der Ebene Jesreel erhebt. Im Arabischen wird der Tabor, wie auch der —»Sinai, der ö l b e r g und der -»Garizim, einfach Gebel et-Tör, „der Berg", genannt. Den Gipfel bildet ein Hochplateau von etwa 1200 m Länge und 400 m Breite. Der Berg ist Jos 19,22 im Zusammenhang mit der Grenzziehung für den Stamm Issachar erwähnt; am Tabor stießen die Gebiete der drei Stämme Sebulon, Issachar und Naftali zusammen (Jos 19,10-23.32-39; vgl. dazu V. Fritz, Das Buch Josua, 1994 [HAT 1/7] z.St.). Die beiden Orte Kislot-Tabor (Iksäl?) in Jos 19,12 und Asnot-Tabor in Jos 19,34 führen den Tabor in ihrem Namen, wohl weil sie an seinem Fuße oder in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Berg gelegen haben. Der deuteronomistische Historiker hat das Geschehen der Schlacht der israelitischen Stämme gegen eine kanaanitische Koalition unter der Führung des Barak in Jdc 4,6.12.14 an den Tabor verlegt, während nach dem Lied das Geschehen „bei Taanach oberhalb der Wasser Megiddos" (Jdc 5,19) stattgefunden hat. Nur im Zusammenhang mit der sog. Liste der levitischen Städte erscheint Tabor in I Chr 6,62 als Ortsname, was aber in der Parallelüberlieferung von Jos 21 keine Entsprechung hat und auf ein Mißverständnis des Chronisten zurückgehen dürfte. Außerdem wird der Tabor noch in Jdc 8,18; Ps 89,13; Jes 46,18 und Hos 5,1 genannt. Hinweise auf den Tabor als Kultort finden sich in den biblischen Schriften nicht, denn der in den Stammessprüchen Dtn 33,19 genannte Berg ist ungeachtet der vorangehenden Nennung von Sebulon und Issachar nicht zwingend auf den Tabor zu beziehen. Die Rückführung des auf Rhodos bezeugten Gottes Zeus Atabyrios auf eine ursprünglich auf dem Tabor verehrte vorisraelitische Gottheit durch O. Eißfeldt ist nicht haltbar. Selbst wenn der Name des Gebirges Araßopiog auf Rhodos aus dem semitischen Bereich der Levante stammen sollte, so kann aus dieser Namensübertragung kaum auf die Übernahme eines ursprünglich auf dem Tabor beheimateten Gottes geschlossen werden, wenngleich der Berg im Griechischen in der Namensform 'Iraßöpiov belegt ist (vgl. auch Lewy). Die Annahme, der Berg Tabor sei der Wohnsitz einer Gottheit gewesen, ist als unbewiesen und unbeweisbar endgültig aufzugeben, zumal sich für eine Kultaus-

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Tabor

Übung w ä h r e n d der Bronzezeit bisher weder auf d e m Plateau noch an den Abhängen auch nur der geringste Hinweis ergeben hat. Trotz aller Versuche ist der N a m e Tabor etymologisch bisher nicht erklärt (vgl. die Versuche bei Boehmer). Am O s t r a n d des Plateaus des Tabor w u r d e inzwischen die Besiedlung in der Eisenzeit II und III nachgewiesen, die jedoch wegen der Ü b e r b a u u n g in hellenistischer, römischer und byzantinischer Zeit weitgehend verschwunden ist. Am Fuße des Tabor wurden im Westen in Dabürye die Besiedlung in der Eisenzeit I und II sowie in Hirbet D a b ü r a , nordöstlich von Dabürye, die Besiedlung in der Eisenzeit I nachgewiesen; im Osten hat die Hirbet M u g l r w ä h r e n d der Eisenzeit I und II bestanden (vgl. Gal, Galilee 13f.). In der Auseinandersetzung mit den Ptolemäern w u r d e der Tabor im Jahre 218 v. Chr. von Antiochus III. eingenommen (Polybius, hist. V,70). Im Krieg gegen die Seleukiden hat Alexander Jannai den Berg ebenfalls besetzt (Josephus, Ant XIII,15,4). Die d o r t stationierte Garnison w u r d e unter Alexander, dem Sohn Aristobuls, durch Gabinius im Jahre 55 v. Chr. aufgerieben (Josephus, Bell 1,18,7; Ant XIV,6,3). Z u Beginn des 1. jüdischen Aufstandes gegen die R ö m e r hat -»Josephus das Plateau mit einer M a u e r umgeben und so zu einer Verteidigungsstellung ausgebaut, doch wurde die Besatzung im Jahre 67 durch Placidius vernichtend geschlagen (Josephus, Bell 11,20,6 und VI,1,8). In frühchristlicher Tradition w u r d e die Verklärung Jesu auf d e m Tabor lokalisiert, o b w o h l die Erzählung M k 9 , 2 - 1 0 par. M t 1 7 , 1 - 9 und Lk 9 , 2 8 - 3 6 keine Ortsangabe macht (Belege bei Kopp). N a c h dem Zeugnis der Pilgerberichte haben in byzantinischer Zeit in Analogie zu den drei H ü t t e n auf d e m Plateau Kirchen gestanden. In der Kreuzfahrerzeit (-»Kreuzzüge) haben deutsche -»Benediktiner auf dem T a b o r ein Kloster gegründet, das aber nach der Schlacht von Hattin (1187) nicht zu halten war und aufgegeben werden mußte. Erst 1631 haben sich wieder -»Franziskaner auf dem Berg angesiedelt; ihre heutige Kirche im Osten des Plateaus w u r d e in den Jahren 1921-1924 nach dem Vorbild des syrischen Kirchenbaus in byzantinischer Zeit errichtet. Die Franziskaner verwalten heute wie zur Zeit der Kreuzzüge die südliche Seite des Plateaus, während der Nordteil von der auf älteren Resten erbauten Elias-Kirche und einem Kloster der griechisch-orthodoxen Kirche eingenommen wird. In einer Grotte am N o r d r a n d des Berges, die mit -»Melchisedek in Verbindung gebracht wurde, hat der Tabor eine weitere biblische Tradition angezogen. Dabei handelt es sich um eine christliche Überlieferungsbildung, die erst seit d e m Mittelalter bezeugt ist (vgl. H a n s Wilhelm Hertzberg, Die Melkisedeq-Traditionen: J P O S 8 [1928] 1 6 9 - 1 7 9 ) . Auch im J u d e n t u m w u r d e der Tabor mit biblischen Überlieferungen in Verbindung gebracht, doch ist es nicht zu einer lokalen Verhaftung g e k o m m e n (Belege bei Dalman). Erst a b byzantinischer Zeit ist somit auf dem T a b o r eine durch das Christentum bedingte Kultausübung nachweisbar, die mit Unterbrechungen bis heute fortgeführt worden ist (zur Bewegung der Taboriten im 15. Jh. vgl. T R E 7,735,44-736,48; 15,723,16-729,30). Literatur Julius Boehmer, Der Berg Tabor: ZS 7 (1929) 161-169. - Gustaf Dalman, Orte u. Wege Jesu, Gütersloh 3 1924 = Darmstadt 4 1967,202. - O t t o Eißfeldt, Der Gott des Tabor u. seine Verbreitung: ARW 31 (1934) 1 4 - 4 1 = ders., KS, Tübingen, II 1963, 2 9 - 5 4 . - Zvi Gal, Lower Galilee during the Iron Age, Winona Lake, Ind. 1992 (American Schools of Oriental Research. Diss. Ser. 8). Clemens Kopp, Die hl. Stätten der Evangelien, Regensburg 1959 = 2 1964, 301-304. - Julius Lewy, Tabor, Tibar u. Atabyros: HUCA 23 (1950/51) 357 - 386.

Volkmar Fritz

Taboriten -»Chiliasmus, - » H u s / H u s s i t e n Tabu - » M a n a und T a b u

Täufer/Täuferische Gemeinschaften I

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften I. Täufer II. Täuferische Gemeinschaften (17. bis 20. Jahrhundert)

S.618

I. Täufer 1. Einführung 2. Schweizerisch-oberdeutsches Täufertum 3. Niederländisch-norddeutsches Täufertum 4. Sozialgeschichtlicher Ort und Religiosität des Täufertums (Bibliogaphien/ Quellen/Literatur S. 615)

1. 1.1.

Einführung Begriff

Der Begriff „ T ä u f e r " hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg als deutsche Bezeichnung für die Gruppen der -»Reformation durchgesetzt, die mit der Kindertaufe brachen und statt dessen die -»Taufe auf ein persönliches Bekenntnis des Glaubens als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde forderten. Dieser Begriff ist an die Stelle der früheren Bezeichnung „Wiedertäufer" getreten, einer Lehnübersetzung von lateinisch „anabaptista". Er wurde aufgegeben, weil er, wie auch seine lateinische Vorlage, polemisch gefüllt war und weil man dem Selbstverständnis der Täufer folgte, die die Säuglingstaufe nicht als Taufe anerkannten. Im englischen Sprachgebrauch aber wurde die Bezeichnung „Anabaptist" beibehalten, weil sich die direkte englische Entsprechung für „ T ä u f e r " , „Baptist", auf die separatistische, nonkonformistische Gemeinschaft der -»Baptisten bezieht, die sich im elisabethanischen England gebildet hat und sich von den festländischen Täufern unterscheidet. Es charakterisiert den neueren deutschen Sprachgebrauch, daß er weder auf einer Selbstbezeichnung der Gruppen beruht, die sich „Brüder in Christo" nannten, noch auf einer Fremdbezeichnung durch ihre Gegner, die eben von „Wiedertäufern" sprachen; er entspringt vielmehr dem Bestreben der Geschichtsschreibung des 20. J h . , parteilich geprägte Etikettierungen zu vermeiden. Seine Problematik liegt aber darin, daß die Kirchen der täuferischmennonitischen Tradition stets Wert darauf gelegt haben, ihr zentrales Anliegen nicht in der (üblicherweise, doch nicht immer durch Ubergießen [Infusionstaufe] vollzogenen) Taufe zu sehen, sondern in der Gemeinde derer, die mit Emst Christen sein wollten, sich von der Welt absonderten und gemeindlicher Zucht (-»Kirchenzucht) unterstellten.

1.2. Täuferische

Heiligung

und die Nachfolge

Christi

Angesichts der Vielfalt täuferischer Gruppen und im Hinblick darauf, daß es keine von allen anerkannte Autorität bei ihnen gab, sind allgemeine Charakterisierungen des Täufertums schon seit dem 16. Jh. umstritten. Die Hervorhebung der „Nachfolge" als ihres Hauptmerkmals bei H. S. Bender (Anabaptist Vision) beruhte auf dem früheren mennonitischen Leitbild der Heiligung. Diese Charakterisierung bleibt weiterhin sinnvoll, da sie dem Interesse der Täufer an einem Leben in der Heiligung, einer Art von Laienaskese, im Gegensatz zu einer an der Lehre ausgerichteten Verkündigung gerecht wird. Für den einfachen Täufer des 16. Jh. boten das -»Vaterunser und das -»Apostolische Glaubensbekenntnis eine hinreichende Grundlage des Glaubensinhalts und dienten häufig auch dem Aufriß täuferischer -»Erbauungsliteratur. Das Interesse der Täufer galt den „Früchten des Glaubens", einer Besserung des Lebens, die sie von der reformatorischen Predigt erwartet hatten. Als überzeugte und eifrige Anhänger der Reformation waren die ersten Täufer enttäuscht, daß der reformatorischen Predigt keine sittliche Erneuerung nach urchristlichem Vorbild folgte. Wie die Reformatoren verwarfen die Täufer die vom Priester verwalteten Gnadenmittel und die „guten Werke", die dem einzelnen den Weg durch das Fegfeuer zur Seligkeit bahnen sollten, und forderten statt dessen ein Leben in Selbstverleugnung und Liebe. Das bescheidene Wesen der Täufer, ihre schlichte Lebensführung und die Tatsache, daß sie Böses nicht mit Bösem vergalten, machten immer wieder Eindruck. Das brachte noch am Ende des 17. Jh. die Vertreter der reformierten Kirchen in der Schweiz in Verlegenheit. 1.3. Verhältnis der Täufer zu den Reformierten

Kirchen

und

Spiritualisten

Die ethisch ausgerichtete Frömmigkeit rückte die Täufer in die Nähe der -»Reformierten Kirchen. Wie diese gebrauchten sie die Zürcher Bibel (TRE 6,243,7ff.). Doch

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften I

gab es bei ihnen kaum professionell gebildete Geistliche, und ebenso fehlte ihnen jede Unterstützung von Seiten der Obrigkeit. Einige hochgebildete Täufer der ersten Generation vertraten zwar, in der Regel in Verbindung mit der Vorstellung von der zuvorkommenden -»Gnade, die Lehre vom freien Willen (-»Wille/Willensfreiheit); die breite Masse der Täufer aber ließ im allgemeinen die reformierte (und lutherische) Lehre von der -»Prädestination stillschweigend beiseite, weil darüber Aussagen zu machen dem Menschen nicht zukomme. So wie die Grenze zu den Reformierten umstritten und keineswegs eindeutig war, gab es auch eine Art feindlicher Bruderschaft zwischen Täufern und Spiritualisten. Während des gesamten 16. Jh. fanden sich in den Täufergemeinden immer wieder mit der Reformation sympathisierende Nonkonformisten, die besonderen Nachdruck auf das freie Wirken des Heiligen Geistes legten. Doch sie beklagten immer wieder, die Täufer machten die Bibel zum „papierenen Papst", führten ohne göttlichen Auftrag Zeremonien der christlichen Frühzeit wieder ein und ließen sich insgesamt vom „toten Buchstaben" in die Irre führen. Diesen Spiritualisten traten Vertreter des Täufertums mit ähnlichen Argumenten entgegen, wie sie -»Calvin in seiner Polemik gegen die Nikodemiten verwandte: Wer sich von den Bräuchen der äußeren Kirche dispensiert, stellt sich damit einen Freibrief für jede Art von Täuschung und Verführung aus. 1.4. Sächsischer

Radikalismus

Der gemeinsame Nenner der radikalen Reformatoren lag darin, daß sie mit der Art, wie einzelne Anhänger der führenden Reformatoren die Kirchenreform im Zusammengehen mit der weltlichen Obrigkeit durchzuführen versuchten, nicht einverstanden waren. Die Radikalen sahen darin einen Verrat der Kirche an die Reichen und Mächtigen. Die Reformatoren wiederum warfen den Kritikern falsche Lehre, Fanatismus und Gefährdung der öffentlichen Ordnung vor. Eine solche Frontbildung entwickelte sich in Kursachsen seit -»Luthers Rückkehr nach Wittenberg von der Wartburg im März 1522 bis zum Ausbruch des -»Bauernkrieges in der ersten Hälfte des Jahres 1525. Luther und seine Mitarbeiter an der Universität -»Wittenberg wollten die Reformation im Zusammengehen mit dem kurfürstlich-sächsischen Hof weiterführen, sahen sich dabei aber einer in sich nicht einheitlichen radikalen Opposition gegenüber, deren bedeutendste Wortführer A. -»Karlstadt und Th. -»Müntzer waren. Wie Karlstadt in Orlamünde, so wurde Müntzer in Allstedt zum Leiter einer Gemeinde, die sich dem Autoritätsanspruch Luthers und der Wittenberger Theologen widersetzte, so daß die kursächsische Regierung Karlstadt schließlich auswies und Müntzer einem entsprechenden Befehl durch die Flucht zuvorkam. Beide übten Kritik an der Kindertaufe, die Karlstadt dann auch nicht mehr vollzog, doch keiner von beiden verlangte die ausschließliche Bekenntnistaufe Erwachsener. Zur theologischen Auseinandersetzung mit Luther kam es, weil Karlstadt die leibhafte Gegenwart Christi im Abendmahl bestritt und Müntzer auf dem Vorrang des Heiligen Geistes vor dem äußeren Buchstaben der Bibel bestand, den die „Schriftgelehrten" an der Wittenberger Universität angeblich so hoch hielten. 2. Schweizerisch-oberdeutsches

Täufertum

2.1. Die Anfänge

Reformation

in der Zürcher

und im

Bauernkrieg

Die Täuferbewegung begann nicht mit dem Sonderweg der kursächsischen Radikalen, sondern mit einem ähnlichen Ausscheren aus der Hauptrichtung der Reformation in der Schweiz. In Zürich, dem Ausgangsort der Schweizer Reformation, hatte -»Zwingli mit großem Erfolg die politische Führungsschicht für sich gewinnen können, traf dabei aber auf die Gegnerschaft von humanistisch gebildeten Laien wie Konrad Grebel (ca. 1498-1526) und Felix Mantz (ca. 1498-1527) sowie von Landpfarrern wie Simon Stumpf, Wilhelm Reublin (ca. 1484 - nach 1559) und Johannes Brötli (gest. 1528), die ein tiefer Argwohn gegenüber dem herrschenden Rat verband. 1523 traten sie für die Abschaffung des überkommenen Pfründenwesens (-»Beneficium) und des damit verbun-

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denen Zehnten (-»Abgaben, Kirchliche) sowie für die Schaffung politisch autonomer Ortsgemeinden ein, die das Recht haben sollten, ihre Pfarrer selbst zu wählen, zu unterhalten und zu entlassen. Damit fand die religiöse Opposition gegen Zwingli und den Zürcher Rat Anschluß an eine Bewegung, deren Ziel es war, die Herrschaft der Stadt über ihr weitläufiges ländliches Territorium zu lockern. 1525 floß die radikale Reformation mit der politischen und wirtschaftlichen Unruhe der Bevölkerung in der Zürcher Landschaft zusammen, insbesondere im Grüninger Amt, in dem eine starke Tradition örtlicher Autonomie bestand. In Grüningen und in Zürich benachbarten Schweizer Gebieten wie dem ländlichen Schaffhausen und St. Gallen fielen die Täuferbewegung und der Bauernkrieg faktisch zusammen. Bereits 1524 traten Meinungsverschiedenheiten über die Taufe in den Mittelpunkt des Konfliktes zwischen Zwingli und der Opposition. Eine Reihe von Dorfbewohnern wurde inhaftiert, weil sie sich geweigert hatte, ihre neugeborenen Kinder zur Taufe zu bringen. Die um Grebel und Mantz sich sammelnde Gruppe bemühte sich um Kontakte zu Karlstadt und Müntzer, in denen man Verbündete gegen Luther und Zwingli auch im Hinblick auf die Kindertaufe sah. Im Januar 1525 lud der Zürcher Rat die Gegner der Kindertaufe zu einer Disputation mit Zwingli. Der Magistrat erklärte ihn zum Sieger und wies seine Gegner an, ihre Agitation einzustellen. Männer wie Reublin und Brötli, die keine eingesessenen Zürcher waren, wurden ausgewiesen. Grebel, Mantz und ihre Gesinnungsgenossen antworteten - vermutlich am Abend des 21. Januar 1525 im Haus von Mantz in Zürich - damit, daß sie sich gegenseitig aus einem Wasserkübel tauften. Eine führende Rolle spielte dabei Jörg Blaurock, ein Priester aus Graubünden, der in der Folgezeit als täuferischer Missionar in der Schweiz hervortrat und die Bewegung anschließend ins habsburgische Tirol trug. Dort fand er 1529 den Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen. Auf die Nachricht von der Taufe der als Kinder bereits getauften Erwachsenen erklärte Zwingli, die daran beteiligten früheren Anhänger der Reformation hätten sich von der Zürcher Kirche getrennt. Die aber verstanden ihr Vorgehen ganz anders. Sie sahen sich eher als Verfechter einer wahren Reformation gegenüber Zwingli und dem Zürcher Rat, mit dem Zwingli zunehmend enger kooperierte. Das reformatorische Leitbild der Täufer war die Restitution einer Kirche, wie sie in der -»Apostelgeschichte beschrieben wurde. Die Taufe schloß eine Bekehrung ein — eine Absage an das frühere sündhafte Leben - sowie die Verpflichtung, nach Act 2 das Eigentum mit bedürftigen Glaubensgenossen zu teilen. Grebel trug Schriftstellen zusammen, um leseunkundigen Anhängern Schriftbelege dafür an die Hand zu geben, daß die Taufe nur Erwachsenen zu spenden sei, die den Ruf des Evangeliums glaubend erwiderten. Er versuchte auch, prominente Unterstützung für seine Auffassung zu finden. Um seinen Schwager J. -»Vadian, einen humanistisch gebildeten Arzt, der politisch wie religiös eine führende Rolle in St. Gallen spielte, bemühte er sich vergebens; doch gelang es ihm, B. -»Hubmaier, den Reformator von Waldshut, für sich zu gewinnen. Hubmaier war gebildeter Theologe und wurde beim folgenden Wechsel von Streitschriften mit Zwingli der bedeutendste Wortführer täuferischen Taufverständnisses. Grebel und Mantz wollten die von ihnen gewünschte Reformation nicht gewaltsam vorantreiben. In ihrem Brief an Müntzer vom September 1524, in dem sie ihn und Karlstadt um eine gemeinsame Erklärung zur Taufe baten, kritisierten sie ausdrücklich, daß er, wie man berichte, gegen die Fürsten zu den Waffen greifen wolle. Von Mantz stammt eine der deutlichsten frühen täuferischen Absagen an das Schwert, auch an die rechtmäßige Schwertgewalt der weltlichen Obrigkeit, daß nämlich „dhein crist ein oberer sin und nit mit dem schwert richten noch jemans todenn noch straffen soit" (QGTS I, 216). Doch war die Haltung der Täufer 1524 und 1525 in diesem Punkt noch keineswegs einheitlich. Die Zürcher Abweichler unterstützten nachdrücklich Hubmaiers Einführung der Reformation in Waldshut auch gegen die vorderösterreichische Oberherrschaft. Einige von ihnen beteiligten sich im Herbst 1524 mittelbar oder unmittelbar an der Bildung

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften I

einer Gruppe von Zürcher „Freiwilligen", die als Hilfstruppe zur Verteidigung des Evangeliums in Waldshut Quartier nahm. In den Monaten nach der Einführung der Glaubenstaufe in Waldshut durch Reublin und Hubmaier - von April bis Dezember 1525 verteidigten die Waldshuter Täufer sich im Bündnis mit dem Schwarzwälder Bauernhaufen. Zu einer Verbindung von Täufern und bäuerlicher Widerstandsbewegung kam es auch in dem Dorf Hallau, wo man Brötli und Reublin gegen Versuche einer Verhaftung durch Schaffhausener Fronboten schützte, und ebenso im Amt Grüningen, wo dieselben Personen sich der Zürcher Herrschaft zuerst als aufständische Bauern und dann als Täufer widersetzten. Bis zur Unterdrückung des Bauernkrieges in der nordöstlichen Schweiz und dem angrenzenden Schwarzwald war von Gewaltverzicht bei den Täufern kaum die Rede, sie leisteten Widerstand. Das Stadtregiment in Zürich und anderen Schweizer Orten, die sich 1528 und 1529 nach und nach der Zwinglischen Reformation anschlössen — Bern, Basel, Schaffhausen und St. Gallen - , unterdrückte die Täufer nach nur kurzem Zögern gewaltsam, um die religiöse Einheit zu wahren und durchzusetzen. Bereits im März 1526 bedrohte der Zürcher Rat jeden, der die Wiedertaufe übte, mit dem Tod durch Ertränken. Das führte dazu, daß innerhalb kurzer Zeit die Angehörigen der frühen Führungsgruppe der Täuferbewegung entweder tot oder im süddeutschen Exil zerstreut waren. Grebel starb im Sommer 1526 an der Pest; Mantz wurde, weil er trotz Ausweisung nach Zürich zurückkehrte, im Januar 1527 als erster täuferischer Märtyrer hingerichtet; Hubmaier, der nach dem Fall von Waldshut nach Zürich floh, wurde gefangengesetzt, gefoltert, zum Widerruf gezwungen und anschließend ausgewiesen. Mit den Ausgewiesenen gelangte die Botschaft des Täufertums nach Straßburg, Esslingen, Augsburg und schließlich auch nach Mähren. Allerdings kam es dabei, da eine überragende Führergestalt fehlte, von Ort zu Ort zu unterschiedlichen Ausprägungen. 2.2. Müntzers

Erbe im Täufertum:

Hut, Dertck, Rinck und

Römer

Mancher, der unter dem Einfluß der sächsischen Radikalen, Karlstadt und Müntzer, stand und/oder enttäuschter Teilnehmer am Bauernkrieg war, begann jetzt in den Täufern die Nachfolger des Müntzerschen Bundes der Erwählten zu sehen. Die bedeutendsten dieser neuen Täufer aus dem Umkreis Müntzers waren H. —»Denck, H. —»Hut und M. -•Rinck. Denck war wahrscheinlich zur Zeit des Bauernkrieges für kurze Zeit Schulmeister in Mühlhausen, hatte den fürstlichen Truppen entkommen können und war nach Basel geflüchtet. Später verband er sich mit Rinck und Hut, den er Pfingsten 1526 in Augsburg taufte. Denck, Rinck und H u t hatten als Täuferführer ihr je eigenes Profil. Denck war irenischer Spiritualist, der vor seinem Tod 1527 an der Notwendigkeit der Glaubenstaufe irre wurde, weil ihr ein göttlicher Auftrag fehle. Hut, ein Buchführer, der 1524 für die Veröffentlichung der bedeutendsten Flugschrift Müntzers, der Ausgedrückten Entblößung, gesorgt hatte, wurde 1526/27 zum erfolgreichsten täuferischen Missionar in Süddeutschland und Österreich. Er führte manche Themen und Andeutungen Müntzerscher Predigt weiter und erklärte, das Ende der Welt werde 1528, dreieinhalb Jahre nach dem Bauernkrieg, hereinbrechen. Mit dem Eintritt dieses apokalyptischen Ereignisses, so gab er zu verstehen, sei für die Erwählten Gottes die Zeit gekommen, das rächende Schwert, das bis dahin in der Scheide zu bleiben habe, zu ziehen. Andere Anhänger Müntzers wie Hans Römer planten ganz konkret, sich am Neujahrstag 1528 der Stadt Erfurt zu bemächtigen. Hinter dem Mandat des Reichstags zu Speyer 1529 (-»Reichstage der Reformationszeit), das für Täufer die Todesstrafe verfügte, stand daher nicht zuletzt auch die Furcht, es könne zu einem neuen Aufstand des „gemeinen Mannes" kommen.

2.3. Die Schleitheimer tums

Artikel - eine Antwort

auf die Uneinheitlichkeit

des

Täufer-

In ihren Anfängen wurde die Täuferbewegung zum Sammelbecken für durchaus unterschiedliche Abweichungen von der deutschen Reformation. Die sächsischen Radika-

Täufer/Täuferische Gemeinschaften I

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len neigten zum mystischen Spiritualismus -»Taulers und der -*Theologia deutsch sowie zu einer legal istischen Hochschätzung des Alten Testaments. Die Schweizer Täufer teilten den milden Spiritualismus Zwingiis wie auch eine erasmische (-»Erasmus von Rotterdam) Ausrichtung am Neuen Testament. Zur Zeit des Bruchs mit Zwingli lag allein das Neue Testament vollständig in der Schweizerdeutschen Übersetzung der Zürcher Bibel vor. Zu eher chaotischen Erscheinungen kam es an den Rändern der Schweizer Täuferbewegung, so 1526 in St. Gallen unter der charismatisch-prophetischen Führung von Margaret Hottinger (gest. 1530), die den mystischen Anspruch erhob, „in Gott eingetaucht" zu sein. Manchen Täufern schien im Blick auf derartige Erscheinungen vor allem eine einheitliche Ausrichtung der Bewegung geboten. Die von M . -»Sattler im Februar 1527 in Schieitheim nordwestlich von Schaffhausen vorgelegte Brüderliche Vereinigung etlicher Kinder Gottes war ein Versuch, der Täuferbewegung eine einheitliche Grundlage und Ausrichtung zu geben. In dem vorangestellten Einleitungsschreiben heißt es: „Es ist von etlichen falschen brüdern under uns vast große ergernuß ingefürt worden, das sich etliche von dem glauben abgewendt haben, in dem sie vermeynt haben die freiheyt deß geystes und Ghristi sich üben und brauchen" ( Q G T S II, 28). Es läßt sich nicht eindeutig bestimmen, wer diese „falschen Brüder" waren; doch das hervorstechendste Moment in der Täuferbewegung von 1526 war sicherlich die Anziehungskraft, die sie auf Spiritualisten ausübte. Die sieben in Schieitheim beschlossenen Artikel schrieben die Glaubenstaufe und die Feier des Abendmahls vor, die von der Gemeinde zum Gedächtnis des Leidens Christi begangen werden sollte. Die Gemeinden sollten Leiter, „Hirten", haben und unterhalten. Die gemeindliche Zucht sollte durch den Bann nach den Regeln von M t 1 8 , 1 5 - 1 8 aufrechterhalten und von den „Hirten" ausgeübt werden. Die größte Beachtung verdienen sicher Art. 4 über die Absonderung und Art. 6 und 7 über den Gewaltverzicht und die Eidverweigerung (-•Eid). Der Artikel über die Absonderung gibt den Ton an: „Nun ist ye nutt anders in der weit und aller creatur dan gütz und bös, glöubig und unglöubig, finsternus und liecht, weit und die uss der weit sind, tempel gottes und die götzen, Christus und Belial, und keins mag mitt dem andren kein teil han." Darum sind „alle bäpstlich und widerbäpstich werck und gottesdienst, Versammlung, kilchgang, winhuser, burgschaften und verpflichten des ungloubens" ( Q G T S II, 30) zu meidende Greuel. Im Sinne dieser Absonderung von der Welt und ihrer Gottlosigkeit war den Täufern jeder Eid, jeder Waffengebrauch und jede Übernahme von obrigkeitlichen Ämtern untersagt. Die Sammlung der Anhänger der Täuferbewegung zu Gemeinden, die sich von der „Welt" absonderten und die Gottesdienste der anderen Kirchen ebenso wie obrigkeitliche Ämter mieden, war allerdings längst vor dem Erscheinen der Schleitheimer Artikel im Gang, doch deren Fixierung gab der Bewegung das klare inhaltliche Profil. Eine Gemeindeordnung, die wahrscheinlich zusammen mit den Artikeln verbreitet wurde, enthielt Bestimmungen für ein weiteres Merkmal täuferischer Lebensführung, die Übung der Gütergemeinschaft nach dem Beispiel von Act 2 und 4: „Alle bruder und schwester diser gemein soll keiner nütt eigens haben sunder wie die Christen zur zit der apostel alle ding gemein heiltend, und in sunderheit ein gmein guot hinderlegten, da von den armen, nach dem einem yecklichen nott syn wirt, darvon handreiche gescheche und wie zu der zit der apostel keinen bruoder lassen mangel h a n " (Staatsarchiv Bern, UP, Bd. 80, 5).

2.4. Die späten zwanziger Jahre - schrittweise Durchsetzung des Schweizer

Modells

Die Bemühungen um die Einheit der Täuferbewegung waren nicht sogleich erfolgreich. Hut erklärte während seines Prozesses im Herbst des Jahres 1527: „Ettlich hetten ... vermaint, die Christen solten kain wör tragen, wie sy dann derhalben in Schweitz ain Ordnung gemacht. Solhs [habe er] auch abgestelt und angezaigt, das solhs nit wider got, auch nit verpoten were" (zit. nach Stayer, Doctrine 137). Sein eigentliches Anliegen war offenbar die „Versiegelung" der 144.000 Erwählten der Johannesoffenbarung vor

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dem bevorstehenden Ende der Welt. Doch gab er an diesem zentralen Punkt seiner Verkündigung der Opposition innerhalb der Augsburger Gemeinde nach und fand sich dazu bereit, seine apokalyptischen Überzeugungen nur mit Gesprächspartnern zu erörtern, die das ausdrücklich wünschten. Die Augsburger Täufergemeinde von 1527/28 war zeitweilig das am kräftigsten wachsende Zentrum der Bewegung im Reich. In ihr scheinen auch Huts Anhänger die Schleitheimer Artikel anerkannt zu haben. Eine ganz wesentliche Rolle spielten für die Bewegung die Frauen. Sie dienten als Botinnen, beherbergten nicht ortsansässige Täufer und richteten Versammlungen aus. Als die Augsburger Gemeinde entdeckt und zerstreut wurde, gingen viele ihrer Mitglieder nach Esslingen und Straßburg, wo sie weithin unangefochten leben konnten. In Esslingen konnte die Bewegung allerdings nur mit Aufgabe der in den Schleitheimer Artikeln festgeschriebenen Ordnung von den „Hirten" als den Gemeindeleitern überdauern, um sie nicht der Verfolgung preiszugeben. Ende 1527 war Hut in Augsburg im Gefängnis gestorben und Denck in Basel der Pest zum Opfer gefallen (nicht ohne zuvor mit den reformierten Prädikanten Frieden geschlossen zu haben). Dencks Gefährte M. Rinck aber kehrte 1528 in seine Heimat im Grenzgebiet von Hessen und Sachsen im Raum Hersfeld zurück und sammelte - unterbrochen von wiederholten Inhaftierungen - Anhänger für das Täufertum. 1531 wurde er zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Seine Anhängerschaft lebte in bemerkenswerter Nähe zum Schweizer Täufertum, wenn sie von einer grundlegenden Scheidung zwischen wahren Christen und weltlicher Obrigkeit ausging. Aktive Anhänger des gegen Luther gerichteten Radikalismus, der den Zürcher Taufen vorausgegangen war, hatten in beträchtlicher Zahl den Weg in die Täuferbewegung gefunden, und Männer wie Hut, Denck und Rinck konnten in ihr eine führende Rolle spielen. Dennoch hatte sich Ende der zwanziger Jahre im wesentlichen die Linie der Schleitheimer Artikel gegenüber dem Erbe Müntzers durchgesetzt. Huts Anhänger wurden rigoros verfolgt, und eine apokalyptische Hochstimmung, wie Müntzer sie geschürt hatte, verschwand, nachdem Huts Prophezeiungen 1528 nicht eingetreten waren. Lediglich eine kleine Gruppe von Außenseitern, die sich um Augustin Bader (gest. 1530) sammelten, hielt noch einige Jahre an solchen apokalyptischen Erwartungen fest. Nur die aus Esslingen ausgewiesene Straßburger Prophetin Barbara Rebstock bildet ein schmales Bindeglied zwischen Huts Apokalyptik und der nächsten, von M. ->Hoffman ausgelösten Welle täuferisch-apokalyptischer Erregung. Der zeitweilig in das Täufertum eingegangene mystische Spiritualismus Müntzers kristallisierte sich wieder aus, als die Spiritualisten Anfang der dreißiger Jahre ihre Kritik an täuferischen Uberzeugungen offen äußerten. Zwar wies Lehre und Praxis im Täufertum der zwanziger Jahre eine beträchtliche Bandbreite auf; doch führte das nicht zur Ausbildung sich gegenseitig mit dem Bann bekämpfender Gruppierungen. Obwohl die schweizerisch-oberdeutsche Täuferbewegung keinen einheitlichen Ursprung hatte, war sie doch gegen Ende der zwanziger Jahre zu einer einzigen, allerdings für innere Auseinandersetzungen anfälligen Bruderschaft geworden. Das wird nirgends so deutlich wie dort, wo sie sich am kräftigsten entfaltete, in Tirol und Mähren. 2.5. Täufertum

in Tirol und Mähren - Verfolgung

und

Auswanderung

Tirol erlebte 1525/26 einen von Michael Gaismair (gest. 1532) ausgelösten spektakulären Aufstand, der allerdings eher breite Sympathie als wirkliche Beteiligung fand. Die Tiroler Bevölkerung empfand die Herrschaft der Habsburger und der mit ihnen verbundenen Fürstbischöfe von Salzburg und Brixen als ein fremdes, ausbeuterisches Joch. Die frühe obrigkeitliche Unterdrückung der lutherischen Reformation hatte sich als wirksam erwiesen, und daher war die unterschwellige Ausbreitung des Täufertums für die meisten Tiroler die erste Begegnung mit der Reformation. Die im Tiroler Bauernkrieg offenkundig gewordene Unzufriedenheit gewann mit dem Auftreten der Täuferbewegung eine breitere Basis. Sie wurde 1527 von zwei engen Gefährten Huts, Lenhart Schiemer (gest. 1528) und Hans Schlaffer (gest. 1528), in das Nordtiroler Inntal getragen

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und fand noch in demselben Jahr durch die Missionsreisen des schon an den täuferischen Anfängen von 1525 beteiligten Jörg Blaurock von der Schweiz aus Eingang in Südtirol. Alle drei wurden von den Tiroler Behörden ergriffen und hingerichtet. C.-P. Clasen hat 845 Hinrichtungen von Täufern im schweizerisch-oberdeutschen Raum belegen können (den norddeutsch-niederländischen Raum hat er nicht untersucht). Das ist eine gegenüber den übertriebenen Behauptungen der älteren Täufergeschichtsschreibung oder im Vergleich zu den 30.000 bis 50.000 Opfern (davon drei Viertel Frauen), die während der Hexenverfolgungen (-• Hexen) des 16. und 17. Jh. den Tod fanden, verhältnismäßig kleine Zahl. Doch sie ist ein eindrucksvoller Beweis religiöser Uberzeugungstreue von Männern und Frauen, von denen viele ihr Leben durch Widerruf hätten retten können. Sie läßt die Zahl der 300 Märtyrer unter der Herrschaft von Maria Tudor (1553—1558), an die man sich in England stets erinnerte und die daher eine so ausschlaggebende Rolle für dessen Umwandlung in eine protestantische Nation gespielt hat (vgl. T R E 9,638,28ff.), als klein erscheinen. Die Verfolgung war während der späten zwanziger Jahre am intensivsten, wobei die altgläubigen Obrigkeiten am härtesten vorgingen. 8 0 % der Hinrichtungen fanden 1525 bis 1533 in den Anfangsjahren der Täuferbewegung statt, und 85 % wurden von altgläubigen Herrschaften, insbesondere den österreichischen Habsburgern, dem schwäbischen Bund und den bayerischen Herzögen veranlaßt. 352 Hinrichtungen von Täufern lassen sich allein für 1528/29 belegen. Hinter dem Mandat des Reichstags von Speyer 1529 gegen die Täufer stand das Bemühen Habsburgs, die protestantischen Reichsstände zum Einsatz der Todesstrafe gegen die Täufer zu nötigen. Im wesentlichen allerdings blieb dieses Bemühen erfolglos. Obwohl sich das Täufertum als eine Sonderbildung von der reformatorischen Bewegung getrennt hatte, zögerten die meisten protestantischen Obrigkeiten, über seine Anhänger nach herkömmlichem Ketzerrecht die Todesstrafe zu verhängen. Das trifft im wesentlichen für die protestantischen Reichsstädte zu, insbesondere für Straßburg und Nürnberg, und ebenso für Hessen und Württemberg. Nur altgläubige Obrigkeiten vollzogen die grausame Feuerstrafe, und nur sie richteten auch Täufer hin, die widerrufen hatten. Trotz der unterschiedlichen Härte im Vorgehen läßt sich feststellen, daß die schweizerisch-oberdeutsche Täuferbewegung in den späten zwanziger Jahren erheblich unter Druck und verunsichert war. Die meisten überlebenden Täuferführer und ihre Anhänger suchten dort Zuflucht, wo sich ihnen noch Sicherheit bot - donauabwärts in Mähren. Das trifft für W. Reublin, J. Brötli, M . Hottinger (s.o. 2.1.) und P. -»Marpeck ebenso zu wie für diejenigen, die Tirol verließen und im mährischen Täufertum führend wurden. Zwar fiel Mähren 1526 an die österreichischen Habsburger, doch der mehrheitlich nichtkatholische mährische Adel konnte seine starke, bis auf das Ende der Hussitenkriege des 15. Jh. (-»Hussiten; Böhmen und Mähren) zurückgehende Autonomie wahren und gewährte den Täufern - ungeachtet der Mißbilligung durch die habsburgische Regierung in Wien - Aufnahme auf seinen Besitzungen. 2.6. Spaltungen

unter den Täufern

in Mähren

1527-1533

Einer der ersten Täufer, die in Mähren Zuflucht suchten, war der bedeutendste Theologe des frühen Täufertums, B. Hubmaier. Er kam im späten Frühjahr oder im Sommer 1526 nach Nikolsburg (Mikulov). Hier trat er in Verbindung zu einer humanistischen Reformgruppe um Martin Göschl (vor 1480 - nach 1533), den Koadjutor des Bischofs von Olmütz. Er gewann diese humanistisch gebildeten Geistlichen ebenso wie den weltlichen Herrn von Nikolsburg, den Grafen Leonhart von Liechtenstein (1482-1534), und einen großen Teil der einheimischen Bevölkerung für die Erwachsenentaufe. Er suchte bewußt den Schutz und die Förderung des mährischen Adels und rief so eine volkskirchliche Täuferreformation ins Leben. Die Täufergemeinde von Nikolsburg besaß daher für die verfolgten Täufer in der Schweiz und in den Territorien Deutschlands eine große Anziehungskraft. Differenzen zwischen diesen Flüchtlingen und der einhei-

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mischen mährischen Bevölkerung lösten die ersten Spaltungen innerhalb der Täuferbewegung aus - zumindest die ersten belegbaren. Etwa ein Jahr nach Hubmaier erschien in Nikolsburg der täuferische Wanderapostel Hut. Hier fand er mancherlei zu mißbilligen: Massentaufen ohne Zeichen einer Wiedergeburt, das Fehlen der Gütergemeinschaft, die anstandslose Zusammenarbeit Hubmaiers mit kirchlichen und weltlichen Amtsträgern. Der Landesherr verlangte eine Disputation zwischen Hubmaier und Hut, die sich offenbar auf Huts Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltendes und Hubmaiers Bedenken gegen Huts apokalyptische Schriftdeutung konzentrierte. Am Ende mußte H u t Nikolsburg fluchtartig verlassen, und Hubmaier erklärte, die Kluft zwischen der von ihm und der von Hut verkündeten Taufe sei so groß wie der Gegensatz von Himmel und Hölle, Orient und Okzident, Christus und Belial. Trotz seiner dem schweizerisch-oberdeutschen Täufertum fremden, von Müntzer stammenden Eschatologie fand H u t bei den täuferischen Flüchtlingen in Nikolsburg größeren Anklang als Hubmaier. Das Leitbild von Act 2 und 4 besaß im frühen Täufertum großes Gewicht, auch wenn es von Gläubigen, die weiterhin in der Hausgemeinschaft ihrer Familien blieben und arbeiteten, gelebt wurde. Für H u t und seine Anhänger war Gütergemeinschaft Kennzeichen der Überwindung der Ursünde des Begehrens (gegen die nach der traditionellen Deutung die beiden letzten der 10 Gebote gerichtet waren) und Zeichen eschatologischer Hoffnung; außerdem verband sie sich mit einer von Gelassenheit und der Abkehr von der Bindung an materielle Güter bestimmten mystischspiritualistischen Frömmigkeit. Die Flüchtlinge, die nach Mähren kamen, waren der Auffassung, die einheimische Bevölkerung müsse ihre Häuser in einem Akt christlicher Liebe für die notleidenden Ankömmlinge öffnen und ihren Besitz mit ihnen teilen. Außerdem erklärten sie Hubmaier und Liechtenstein zu „Schwertlern", Menschen, die sich gegen die Vorschriften der Schleitheimer Artikel mit dem Schwert verteidigten. Tatsächlich wurde der Widerstand des Grafen gegen Vertreter der habsburgischen Herrschaft, die täuferischen Flüchtlingen nachstellten und sie hinrichteten, zu einem Streitpunkt, der die Nikolsburger Täufer spaltete. Im März 1528 befahl Leonhart von Liechtenstein die Ausweisung der schismatischen Täufer aus Nikolsburg. Die Vertriebenen ließen sich im nahen Austerlitz nieder. Eine ihrer ersten Maßnahmen stellte unübersehbar das Leitbild der Gütergemeinschaft heraus: Sie wählten zwei „Diener in der zeitlichen N o t d u r f t " , die „einen Mantel vor dem Volk niedergebreitet [haben], und jedermann hat sein Vermögen dargelegt mit willigem Gemüt, ungezwungen, zu Unterhaltung der Notdürftigen nach der Lehre der Propheten und Apostel, Esa. 23, Act. 2,4" (Älteste Chronik 87). Auch wenn die Gemeinschaft von Austerlitz anfangs nur 200 Personen umfaßte, erreichte sie schnell ein höheres Ansehen als die Nikolsburger Gemeinde. Hubmaier war zu Beginn des Jahres 1528 festgenommen, nach Wien überstellt und - auch wegen des von ihm zwischen 1523 und 1525 in Waldshut organisierten Widerstandes gegen die Habsburger - hingerichtet worden. Nach ihm wurde der Sabbatarier (s. T R E 29,530,27ff.) Andreas Fischer (ca. 1480-ca. 1540) zur tonangebenden Persönlichkeit unter den Nikolsburger Täufern. Die von Jakob Wiedemann (gest. 1535 oder 1536) geleitete Austerlitzer Gemeinschaft gewann Anhänger, die in ihrem Namen in den deutschen Territorien tauften, so Pilgram Marpeck und Leopold Scharnschlager (ca. 1490-1563) im Gebiet von Straßburg und Speyer. Sie bezeichneten die Austerlitzer Gemeinde als „die Kirche im Lande M ä h r e n " . Eine Zeitlang galt Mähren den meisten Täufern als Mittelpunkt ihrer Bewegung und der einzige Ort, an dem sie im wahren Christentum mit Gütergemeinschaft leben konnten. Viele Täuferführer führten ihre „ H e r d e " ins gelobte Land nach Mähren, so Philipp Plener aus dem Rheinland, Gabriel Ascherham (gest. 1545) aus Schlesien und vor allem der berühmte Täuferführer Jakob Hutter (gest. 1536) aus Südtirol (-»Hutterische Brüder). Die Gütergemeinschaft erwies sich unter den Täufern in Mähren als ein Spaltpilz. Vorsteher und Gemeinden gerieten in Streit darüber, wer dem apostolischen Vorbild

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der Jerusalemer Gemeinde wirklich nachfolge, und warfen ihren jeweiligen Kontrahenten vor, sie hielten die Ordnung nicht genau ein und seien - nach Act 5 - „falsche Ananiasse". Erschwerend kam hinzu, daß keine Gemeinde die völlige Gleichstellung von Gemeindeleitern und -gliedern oder von Männern und Frauen verwirklichte. Das Schisma von 1533, in dem Hutter die Leitung der Austerlitzer Gemeinde übernahm und die Gabrieliten - die Anhänger Gabriel Ascherhams - und Philipper - die Anhänger Philipp Pleners - aus der Gemeinschaft ausschloß, bedeutete für das mährische Täufertum eine entscheidende Weichenstellung. Sie ereignete sich kurz vor der härtesten Verfolgung von 1535/36, mit der König -»Ferdinand die Täufer endgültig aus Mähren zu vertreiben suchte. Damals hatte der türkische Druck auf die Südostgrenze nachgelassen, so d a ß die Wiener Regierung nicht unbedingt auf die finanzielle Unterstützung der mährischen Landstände angewiesen war. Gleichzeitig dürften die Ereignisse von Münster einige adelige Grundherren zu der Überzeugung gebracht haben, daß die Täufer letztlich doch eine Gefahr darstellten. Hutter selbst ging der Verfolgung wegen nach Tirol zurück, wurde dort aber gefangengesetzt und grausam hingerichtet. Die alte Austerlitzer Gemeinde wurde aufgerieben; zu ihren Märtyrern zählte Jakob Wiedemann. Die Gabrieliten und Philipper zwang man zur Rückkehr in ihre Heimat. Nur der Gruppe der Hutterischen Brüder gelang es, sich in Mähren zu behaupten, und so blieb sie dort die einzig überdauernde Täufergemeinschaft, in der auch weiterhin die Gütergemeinschaft geübt wurde. Die anderen Gruppen kamen aufgrund einer erneuten Prüfung des Neuen Testaments zu der Überzeugung, daß die Gütergemeinschaft nach Gottes Willen nur eine kurze Zeit lang von der Jerusalemer Urgemeinde geübt worden sei. Sie identifizierten sich nunmehr mit den neutestamentlichen Christen, die nach der Zerstörung Jerusalems verstreut wurden und Privateigentum besaßen. 2.7. Hutterische

Gütergemeinschaft

Es gab während des ganzen 16. Jh. in Mähren zahlreiche nichthutterische Täufer, die in ihren Familien lebten und privates Eigentum besaßen. Für die Hutterer aber war es seit den späten dreißiger Jahren sicher ein deutlicher Vorteil, die einzige Täufergruppe mit Gütergemeinschaft zu sein. Sie sandten Missionare nach Süddeutschland und in die Schweiz, um andere Täufer für ihre strengere täuferische Lebensordnung zu gewinnen. Schließlich gaben sie auch das Leben in Einzelfamilien auf. Sie gründeten Siedlungen von bis zu 500 Angehörigen in 40 Wohneinheiten für eine größere Zahl von Familien, die auch Arbeitsstätten und kleine Räume für Ehepaare umfaßten. In allen Lebensbereichen, Erziehung, Arbeit und geistlichem Leben, erweiterte die Gemeindeleitung ihre Zuständigkeit auf Kosten der Familie. Die Hutterer spezialisierten sich auf handwerkliches Gewerbe und deckten mit Hilfe des Überschusses einen Teil ihres Lebensbedarfs. Für den mährischen Landadel, von dem sie ihre Ländereien pachteten, machten sie sich unentbehrlich. O f t waren sie außerhalb ihrer Siedlungen als Gutsaufseher, spezialisierte Handwerker oder Arzte tätig. Nach dem Sieg der Habsburger im -»Schmalkaldischen Krieg kam es 1547 zu einer zweiten großen Verfolgung der mährischen Täufer. Doch danach lebten die Hutterischen Gemeinden, von gelegentlichen türkischen Einfällen abgesehen, unangefochten unter dem Schutz des mährischen Adels und wurden, nachdem -»Maximilian II. die Herrschaft angetreten hatte, auch von der habsburgischen Herrschaft stillschweigend geduldet. Noch am Ende des Jahrhunderts entrüsteten sich die Jesuiten in ihren Veröffentlichungen über diese begünstigte Stellung. Die Jahre von 1565 bis 1595 bezeichneten die Hutterer deswegen als die „goldenen Jahre der Bruderschaft", und sie bildeten den Höhepunkt der schweizerisch-oberdeutschen Täuferbewegung. Die Zahl der Hutterischen Siedlungen wuchs auf etwa 70, und sie fanden sich auch jenseits der mährischen Grenze im benachbarten Ungarn (den heute zur Slowakei gehörenden Gebieten). G a b es zur Zeit der ersten großen Verfolgung von 1535/36 nur etwa 5.000 Täufer in Mähren, so zählte die Hutterische Bruderschaft jetzt zwischen 20.000 und - nach der höchsten vertretbaren Annahme - 60.000 Mitglieder.

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Die Zunahme erklärt sich aus dem natürlichen Zuwachs sowie der ständigen Zuwanderung aus der Schweiz und Deutschland. So herrschte etwa in Schwaben in den siebziger Jahren des 16. Jh. so große Armut, daß die Berichte über den Wohlstand der Hutterer damals mehr Täufer als je zuvor oder später zur Auswanderung veranlaßten. Von der Hauptsiedlung Neumühl aus leitete eine Reihe herausragender und von den Führungsgruppen der einzelnen Siedlungen gewählter Vorsteher die Bruderschaft. Die Hutterer hielten ihre Geschichte in Chroniken fest, darunter die Große Chronik (Geschicht-Buch der Hutterischen Brüder) als offizielle Geschichte der Bruderschaft, und sie haben in ihren handgeschriebenen Kodizes den Bericht von den ersten Zürcher Taufen und den Text der Schleitheimer Artikel ebenso bewahrt wie Abschriften der theologisch durchaus unterschiedlichen Schriften der frühen Täuferführer Hubmaier, Hut und Denck. Ihre Frömmigkeit vereinte die von den Schweizer Täufern betonte Verbindlichkeit neutestamentlicher Lebensordnungen mit dem mystischen Motiv der Gelassenheit, das die Schriften Müntzers und Huts kennzeichnete. Das Gedächtnis Müntzers wahrten sie mit Hochachtung und entlasteten ihn im Rückblick vom gewaltsamen Aufstand des Bauernkrieges. Sie besaßen auch eigene Bekenntnisschriften, deren wichtigste die von dem Vorsteher Peter Riedemann (1506-1556) verfaßte Rechenschaft unserer Religion, Leer und Glaubens ist. Da sie keinerlei Waffengebrauch erlaubten, waren sie auf den vom mährischen Adel gewährten Schutz angewiesen und davon abhängig. Das ging gut, bis die Habsburger sich in den Dienst der Gegenreformation stellten und zu Beginn des -»Dreißigjährigen Krieges die Autonomie des mährischen Adels beseitigten. 2.8. Schweizer

Brüder und

Marpeckgemeinden

In den vierziger Jahren des 16. Jh. begannen die Hutterer jene Täufer, die keine Gütergemeinschaft übten, als „Schweizer Brüder" zu bezeichnen. Den gleichen Begriff verwendeten Pilgram Marpeck und seine Anhänger für Gruppen, die ohne jede Rücksicht und legalistisch den Bann anwendeten. Marpecks mährischer Gesinnungsfreund Cornelius Veh nannte 1543 als Vertreter abweichender Lehren innerhalb der Täuferbewegung „die zwo schedliche und verderbliche sectenn, schweitzerisch und huterisch genannt" (QGTS II, 228). Demnach hatte sich das schweizerisch-oberdeutsche Täufertum in drei Gruppen gespalten, die Hutterer, die Schweizer Brüder und die Bruderschaft Marpecks. Täufer, die man als Schweizer Brüder bezeichnete, fanden sich allenthalben in der protestantischen Schweiz, in Süddeutschland und in Mähren. Der Name bezieht sich also nicht nur auf Täufer in der Schweiz. Vielmehr handelte es sich um die Reste der ursprünglichen Täuferbewegung, die kein besonderes Unterscheidungsmerkmal auszeichnete. So galten die Lieder der während der Verfolgung von 1535/36 in Passau inhaftierten Philipper als Lieder der Schweizer Brüder und wurden zum Kernstück ihres ersten Gesangbuchs Etliche Geseng (1564) und seiner bekannteren Nachfolgesammlung Ausbund (1583). Das Verhältnis Marpecks und seiner Gemeinde zu den Schweizer Brüdern ist immer noch ein Problem der Täuferforschung. Marpeck, ein Beamter im Tiroler Bergbau, der Erzherzog Ferdinand Geld zur Unterdrückung des Bauernkrieges geliehen hatte, wurde 1528 Täufer. Von 1528 bis 1532 arbeitete er als Ingenieur im Dienst der Stadt Straßburg und nahm von 1544 bis 1556 noch einmal eine ähnliche Stellung in Augsburg ein. Wie bereits erwähnt, hat er zeitweise die geistliche Führung der Austerlitzer Bruderschaft anerkannt, nie aber die der Hutterer. In der Hutterischen Chronik wird er in abschätziger Weise erwähnt. Er gehörte zu den Täufern, die nach der Verfolgung von 1535/36 die Gütergemeinschaft aufgaben. Bekannt ist er als Verfechter der klaren Unterscheidung von Täufertum und Spiritualismus. Schon 1531 veröffentlichte er in Straßburg Streitschriften gegen Johannes Bünderlin (1499-1533), einen führenden mystisch-spiritualistischen Täufer aus Mähren, und gegen Christian Entfelder (gest. nach 1547), einen mit Hubmaiers Schwertlern sympathisierenden Vertreter der radikalen Reformation. Beide hatten im Jahr zuvor in Straßburg Flugschriften herausgebracht, die nicht nur

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Kritik an der engen Gesetzlichkeit der meisten Täufer übten, sondern auch die Wiederherstellung der Ordnungen der Urgemeinde in Frage stellten. Im Jahr 1530 lag es für Spiritualisten nahe, sich klarer von anderen abzuheben. Seit dem Reichstagsmandat von 1529 wurden nämlich die Täufer und alle, die die Kindertaufe in Frage stellten, mit der Todesstrafe bedroht. Die Spiritualisten lehnten zwar jede Verfolgung um des Glaubens willen ab, hielten auch von den Täufern mehr als von den obrigkeitlich anerkannten Kirchen. Aber sie wollten sich doch klar von den Täufern absetzen, um der gegen sie erhobenen Anklage auf ein Kapitalverbrechen zu entgehen. Spätere, bedeutendere Spiritualisten wie K. -»Schwenckfeld und S. ->Franck distanzierten sich sogar noch entschiedener als Bünderlin und Entfelder von den Täufern. Marpeck verteidigte gegen die Spiritualisten die Notwendigkeit einer äußeren Kirche, äußerer Sakramente und die Autorität des Wortes der Heiligen Schrift gegen deren Konzeption einer innerlichen, unsichtbaren Kirche des heiligen Geistes. Als wohlhabender Mann, der über eine eigene Druckerpresse verfügte, trat er publizistisch für seine Täufergruppe ein. Doch war er wohl eher ein fruchtbarer Herausgeber als ein theologischer Autor. Er übernahm und überarbeitete Gedanken und Schriften von Schwenckfeld, Bernhard Rothmann (ca. 1495-1535[?]) und sogar Luther, soweit sie den kontroverstheologischen Interessen seiner Täufergemeinschaft dienten. An den Schweizer Brüdern kritisierte er, daß diese sich nicht scheuten, auch gegen ihre Vorsteher den Bann zu gebrauchen: „Das ist jee wider die arth Christi, das die herd den hirten straffen, sonder der hirt soll die schaf waiden" (QGTS II, 226). Gleichwohl anerkannte auch die Gemeinde Marpecks die Schleitheimer Artikel und entsprach im wesentlichen dem Modell des friedlichen schweizerisch-oberdeutschen Täufertums. 3. Niederländisch-norddeutsches

Täufertum

3.1. Melchior Hoffman und seine Lehre Die Geschichte des niederländisch-norddeutschen Täufertums begann 1530 in Straßburg und Emden, als sich der Kürschner und Laienprädikant M. Hoffman dem Täufertum anschloß und selbst missionarisch tätig wurde. Hoffman hatte von 1522 bis 1529 im Baltikum und in Skandinavien für die Reformation gewirkt, geriet aber vor allem wegen seiner Aufnahme von Karlstadts Abendmahlslehre in Gegensatz zu den lutherischen Geistlichen. Schon in einer 1526 veröffentlichten Schrift hatte er behauptet, daß in sieben Jahren das Ende der Welt kommen werde. Aus lutherischen Gebieten vertrieben, wandte er sich nach Straßburg, wo ihn die reformatorischen Prediger zunächst als einen der Ihren begrüßten. Hoffman aber nahm Beziehungen zu den Straßburger Spiritualisten und Täufern auf, entfaltete in Anlehnung an Schwenckfeld eigene christologische Überzeugungen und schloß sich einer Gruppe von Täufern (Lienhard Jost [gest. nach 1549], Ursula Jost [gest. vor 1539] und Barbara Rebstock) an, die prophetische Vollmacht beanspruchten. Er veröffentlichte eine Schrift über die Träume der Ursula Jost, von denen er behauptete, sie seien vom heiligen Geist eingegeben und besäßen dieselbe Autorität wie Jesaja oder Jeremia. Von Schwenckfelds Betonung der göttlichen Natur Christi angeregt, entwickelte er eine Christologie, nach der Christi Fleisch unmittelbar aus dem Himmel stamme und sich nicht von der Jungfrau Maria herleite. Die schweizerischoberdeutschen Täufer waren bis dahin in keinerlei christologische Auseinandersetzungen verwickelt worden. Doch bis auf den kleinen Kreis der Anhänger Hoffmans in Straßburg lehnten alle seine heterodoxe Christologie ab. Hingegen wurde seine Vorstellung vom himmlischen Fleisch Christi bis weit in das 17. Jh. hinein zur Unterscheidungslehre aller Täufergruppen in Norddeutschland und den Niederlanden. In diesem Sinn war die norddeutsch-niederländische Täuferbewegung ungeachtet aller sonstigen Differenzen klar „melchioritisch". Auf Hoffman geht auch die entschiedene Ablehnung der Prädestinationslehre zurück, die sich bei seinen Anhängern von Bernhard Rothmann bis zu Menno Simons (s.u. 3.5.) findet. „Melchioritische" Täufer glaubten, daß Gottes Gnade universal

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angeboten werde und der Mensch sich für oder gegen sie entscheiden müsse. Fragen der Lehre hatten daher für das Täufertum in Norddeutschland und den Niederlanden ein deutlich größeres Gewicht als für die Täufer in Süddeutschland und der Schweiz. Der Kreis der Straßburger Propheten um Lienhard Jost brachte Hoffman zu der Uberzeugung, er selbst sei der in Apk 11 angekündigte wiederkehrende —»Elia, einer der beiden Zeugen der Johannesoffenbarung, und Straßburg sei das neue Jerusalem, von dem 144.000 apostolische Sendboten ausgehen würden, um die Welt zu bekehren. Zwar bekannte sich Hoffman in seiner Abhandlung Die Ordonnantie Godts (1530) zur Glaubenstaufe, doch spielte sie in seiner Verkündigung keine zentrale Rolle. 1530 begann er in Emden - damals wie später das Einfallstor für heterodoxe Lehre und Frömmigkeit in die habsburgischen Niederlande - zu taufen. Ob Hoffman selbst in den Niederlanden predigte und wirkte, ist unsicher, doch wurde 1531 in Amsterdam eine Gruppe seiner Anhänger um ihres Glaubens willen hingerichtet. Davon tief betroffen setzte Hoffman die Übung der Taufe für zwei Jahre - bis zu dem von ihm erwarteten Ende der Welt - aus, ordnete also seine Tauflehre seiner Apokalyptik unter. In den späteren melchioritischen Gruppierungen lagen spiritualistische und täuferische Grundsätze miteinander in Widerstreit. Die Täufer in Münster und die Mennoniten übten die Taufe, die Anhänger von D. -»Joris und Jan van Barenburg (1495-1538) setzten sie aus. 3.2. Die Täuferherrschaft

in

Münster

Im Jahr 1533, auf das er so große Hoffnungen gesetzt hatte, wurde Hoffman vom Straßburger Rat gefangengesetzt. So wurde er zum ohnmächtigen Zuschauer der dramatischen Ereignisse, die sich bei seinen Anhängern in Westfalen und den Niederlanden abspielten. Im Februar eben des Jahres 1533 bestätigte der Vertrag von Dülmen die Einführung der Reformation in der westfälischen Bischofsstadt Münster. -»Philipp von Hessen war Garant des Vertrages, und man erwartete, daß Münster sehr schnell Mitglied im -»Schmalkaldischen Bund werden würde. Doch band man die S t a d t - a u s lutherischer Sicht ein Grundfehler - nicht an das -»Augsburger Bekenntnis, sondern an das des städtischen Reformators Bernhard Rothmann, der sich bald als ein theologisch unberechenbarer Faktor erwies. Im August 1533 trat er in einer öffentlichen Disputation gegen die Kindertaufe auf und siegte dabei - so war der allgemeine Eindruck - über seine Gegner. Eine Mehrheit im Rat widersetzte sich dem damit eingeschlagenen gefährlichen Kurs, der die Stadt mit den Sanktionen des Speyerer Reichstagsmandats von 1529 bedrohte. Doch setzte sich die Gesamtgilde, in der die Befürworter Rothmanns eine sehr viel stärkere Stellung hatten, über die Autorität des Rates hinweg. Jan Beukelsz (1509-1536), der zukünftige Herrscher des Täuferreichs von Münster, besuchte die Stadt im Sommer 1533 für einige Wochen, weil er, wie er später sagte, gehört habe, daß „dat wort Götz dair selfs am heifsten und beisten gepredigt worde" (zit. nach Cornelius 370). Münster war im Grunde schon eine melchioritische Stadt, bevor es zur ersten Erwachsenentaufe kam. Der Rat versuchte noch, theologisch auf lutherischer Linie liegende Prediger aus Hessen zu berufen, war aber nicht stark genug, Rothmann und die auf seiner Seite stehenden Prediger aus der Stadt zu verweisen. Im November 1533 veröffentlichten Rothmann und seine Gesinnungsgenossen ein Bekenntnisse van beyden Sacramenten, Doepe vnd Nachtmaele und brachten es in den Niederlanden in Umlauf. Das war offenbar der Hintergrund einer kurz vor Weihnachten in Amsterdam stattfindenden Versammlung, auf der der Haarlemer Bäcker Jan Matthijs (gest. 1534) die von Hoffman ausgesetzte Übung der Erwachsenentaufe wieder aufnahm. Gleichzeitig entsandte er Apostel, die überall in Holland tauften, und erklärte, er sei der neue -»Henoch, der zweite Zeuge der Apokalypse, und nicht Straßburg, sondern Münster sei das neue Jerusalem. Die dem Ende der Welt vorangehende Gnadenzeit sollte nach ihm im Unterschied zu dem von Hoffman genannten Termin (Weihnachten 1533) bis Ostern 1534 dauern. Anfang Januar 1534 tauften Matthijs' Sendboten auch Rothmann, dessen Anhänger sich nun offen zum Täufertum bekannten.

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Die Ereignisse, die schließlich zur Herrschaft der Täufer in Münster führten, vollzogen sich in wenigen Tagen vom 9. bis 11. Februar 1534. Der Bischof von Münster versuchte, den Dissens zwischen den Lutherischen und der von Rothmann geführten Täuferpartei zu nutzen, um die Kontrolle über die Stadt zurückzugewinnen. In dieser Situation bewaffneten sich die von den holländischen Propheten ermutigten Täufer. Da schon Hoffman die Vorschrift der Schleitheimer Artikel, nach der kein Christ politische Herrschaftsgewalt ausüben durfte, nicht anerkannt hatte, war die melchioritische Bindung an den Grundsatz des Gewaltverzichts von vornherein schwächer als bei den schweizerisch-oberdeutschen Täufern. Bei den Februarunruhen war die in der Gesamtgilde zusammengeschlossene städtische Führungsschicht bereit, lieber gemeinsame Sache mit den Täufern zu machen, als Münster dem Bischof zu übergeben. Etwa 2.000 Einwohner verließen damals die Stadt, und etwa 2.500 Täufer aus Westfalen und den Niederlanden, unter ihnen Jan Matthijs und Jan Beukelsz, kamen in die Stadt. Ein neuer, aus Täufern und sie unterstützenden Bürgern gebildeter Rat übernahm am 23. Februar die Macht. Zugleich begann der Bischof von Münster, die Stadt militärisch abzuriegeln. Den Ereignissen, die in Münster zur Täuferherrschaft führten, stand der Zug von Tausenden von Niederländern, der sich im März 1534 zu Fuß und zu Schiff nach Münster in Bewegung setzte, in seiner Bedeutung kaum nach. Die täuferischen Propheten und Prediger in der Stadt hatten die Ereignisse vom Februar, die sie an die Macht brachten, als wunderbare, von himmlischen Zeichen begleitete befreiende Gottestat gedeutet. Nun riefen sie ihre Anhänger auf, nach Münster zu eilen, weil sie hier vor dem Zorn Gottes am Ende der Welt zu Ostern 1534 sicher sein würden. Viele von denen, die sich auf den Weg machten, wurden von den Behörden aufgegriffen und nach Hause geschickt, denn gegen fehlgeleitete enthusiastische Apokalyptiker wollte man nicht mit Massenhinrichtungen vorgehen. Nach Hause zurückgekehrt, bildeten sie, zumindest während der dreißiger Jahre, ein Reservoir für Anhänger zukünftiger melchioritischer Gruppierungen. Im Februar und März 1534 fanden die Täufer in Münster breite Zustimmung. Daß sie als Angehörige einer verachteten und verfolgten Gruppe eine bedeutende Stadt in Besitz genommen hatten, schien ein Wunder. Doch am Tag des erwarteten Weltendes, dem Ostersonntag (5. April) 1534, fand der Prophet Jan Matthijs bei einem selbstmörderischen Ausfall gegen die Belagerer den Tod. Sein Nachfolger im Amt des Propheten, der 25jährige Jan Beukelsz, wurde damit zum Anführer von 8.000 Menschen, von denen 7 0 % Frauen waren. Z u m Glück für die Täufer operierte das Belagerungsheer so ungeschickt, daß Angriffe auf die Stadtmauern im Mai und dann erneut im August unter größeren Verlusten abgeschlagen werden konnten. Im Inneren konnte sich das Täuferregiment in Münster bis zur Erstürmung der Stadt im Juni 1535 sechzehn Monate lang entfalten. Das Ergebnis war für das Reich und die Täuferbewegung gleichermaßen schockierend. Rothmann und Jan Matthijs teilten offenbar die Bindung des frühen Täufertums an die Gütergemeinschaft. Der Rat zog Geld und Edelmetalle ein und baute ein System der Zuteilung auf. Eine Neuverteilung von Haus- und Grundbesitz hingegen konnten die Patrizier, die den Täufern zur Macht verholfen hatten, verhindern. Von April bis September 1534 trat an die Stelle des Rates das Regiment der Zwölf Ältesten Israels. Danach wurde im September Jan Beukelsz zum davidischen König erhoben. Betrachtet man die daran beteiligten Personen genauer, so zeigt sich, daß es sich dabei um eine gut ausgewogene Machtverteilung zwischen den Bürgern der Stadt und den aus den Niederlanden zugezogenen Täufern handelte. Der münstersche Bürgermeister des Jahres 1534, Bernhard Knipperdolling (hingerichtet 1536), war während der Zeit der Täuferherrschaft die nach dem König wichtigste Persönlichkeit. Z w a r haben voreingenommene Zeitgenossen behauptet, das Täuferreich sei von heruntergekommenem Pöbel durchgesetzt worden; Untersuchungen der städtischen Einwohnerschaft lassen jedoch für die Täufer einen sehr typischen sozialen Querschnitt einer zeitgenössischen norddeutschen Stadt erkennen (Kirchhoff). Wahrscheinlich

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kamen auch die niederländischen Meichioriten aus ähnlichen sozialen Schichten; auf zeitgenössischen Darstellungen ist zu sehen, wie einige vor ihrem Aufbruch nach Münster Schmuck und Häuser verkaufen. Der hervorstechendste Zug der Täuferherrschaft in Münster war sicherlich die Einführung der Polygamie im Juli 1534. Sie war zu einem guten Teil ein persönliches Vorhaben von Beukelsz, von dem er die Prediger nur mit M ü h e überzeugen konnte und das einen Aufruhr auslöste, der die Täuferherrschaft fast zu einem jähen Ende gebracht hätte. Doch hatte das Vorhaben auch eine innere Folgerichtigkeit; denn es verteilte den zahlenstärkeren weiblichen Bevölkerungsanteil auf von Männern geführte Haushalte. Obwohl hinter diesem Schritt eine mit Eph 5,22f. begründete frauenfeindliche Einstellung stand und zu manchen Ubergriffen gegen Frauen führte, blieben die Frauen während der Zeit der Täuferherrschaft doch eine Hauptstütze im langen Verteidigungskampf der Stadt.

3.3. Revolutionäre

Täufer in den

Niederlanden

Trotz seiner beachtlichen Führungsrolle während der langen Verteidigung der Täufer in Münster verlor Beukelsz unter den melchioritischen Gruppierungen in den Niederlanden zunehmend sein prophetisches Ansehen. Seine Ankündigung, daß Münster zu Ostern 1535 entsetzt werde, blieb unerfüllt. Seine Aufrufe an die niederländischen T ä u fer, sich gegen die habsburgische Herrschaft zu erheben und zur Unterstützung des Täuferreichs nach Münster zu kommen, stießen bei den meisten auf taube Ohren. Lediglich im M ä r z und April 1535 kam es zu einem kleineren Aufstand in Oldeklooster in Friesland und einen M o n a t später zu einem Putschversuch im Amsterdamer Rathaus, der jedoch so gut wie keine Unterstützung fand. Selbst die revolutionären Meichioriten verloren ihre Sympathie für den König in Münster; in ihren Augen war er ein falscher Prophet. Im April 1535 wandte sich eine Gruppe von ihnen an den unehelichen Adelssproß J a n van Batenburg und trug ihm die Führung an. Die Batenburger verkündeten, daß die Zeit der Gnade Gottes vorüber und jetzt die Zeit seines Zorns gekommen sei. Taufen sollten nicht mehr vollzogen werden. Aufgabe des Gottesvolkes sei es, Widerstand zu leisten und sich nötigenfalls auch durch Kirchenraub, Brandschatzung und Mord zu behaupten. Batenburg selbst wurde 1538 festgenommen und hingerichtet, aber die Verbindung von Religion und Terrorismus, die von Neuauflagen der Münsteraner Agitationsschriften Rothmanns unterstützt wurde, setzte sich noch lange fort. Ihr letzter Vertreter, der in Vielehe lebende Jan Willems von Roermond, wurde 1580 auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

3.4. David Joris und melchioritischer

Spiritualismus

Die bestimmende Entwicklungslinie des melchioritischen Täufertums nach dem Fall von Münster lief aber nicht in Richtung des erwähnten Terrorismus, sondern auf Abschwächung oder auch Auflösung. Im August 1536 versammelten sich Vertreter verschiedener melchioritischer Gruppen in Bocholt in Westfalen, um die umstrittenen Punkte der Polygamie und der gewaltsamen Errichtung des Reiches Gottes auf Erden zu erörtern. Die Versammlung drohte in heftigem Streit auseinanderzugehen, als D. -»Joris aus Delft als Vermittler auftrat und vorschlug, sich auf die unstrittigen Punkte zu konzentrieren, Hoffmans Christologie, die Erwachsenentaufe und die Gewaltlosigkeit, wenigstens in der dem Weltende vorhergehenden Zeit. Joris gelang es, die strittigen Fragen im niederländischen Täufertum spiritualistisch zu entschärfen. Im Dezember 1536 erlebte er eine mit Visionen verbundene Ekstase, die er als göttliche Berufung betrachtete. W i e Beukelsz verstand er sich als einen in den letzten Zeiten entsandten neuen David, erklärte allerdings, daß dieser dritte in ihm Gestalt gewinnende David geringer sei als der erste König David und Jesus Christus. In den späten dreißiger Jahren wurde er zum angesehensten melchioritischen Führer in Holland und bemühte sich auch um Anerkennung durch die unterschiedlichen melchioritischen Gruppen.

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Im Juni 1538 reiste David Joris nach Straßburg und suchte dort die Anerkennung des prophetischen Kreises zu gewinnen, der ursprünglich Melchior Hoffman unterstützt hatte. Doch gelang es ihm nicht, die Prophetin Barbara Rebstock zu beeindrucken. Außerdem traf er bei den Straßburger Melchioriten in Johannes Eisenberg und Peter Tasch (gest. nach 1560) auf eine neue, lateinisch gebildete Führungsspitze. Diese Männer bestanden darauf, daß er die Gültigkeit seiner Berufung aus der Schrift belege, wozu er nicht in der Lage war. Tasch war es dann auch, der den Weg zur Aussöhnung der Melchioriten in Straßburg und Hessen mit den dortigen reformatorischen Kirchen ebnete. Im Gegenzug sagte M . -»Bucer zu, in Straßburg und Hessen eine Kirchenzuchtordnung einzuführen und auf eine sittliche Besserung unter den Kirchenmitgliedern hinzuarbeiten. Zeitgleich mit diesen Ereignissen des Jahres 1539 zog sich Joris zurück. Von den Jahren der Verfolgung zermürbt, verließ er Holland und suchte bei wohlhabenden Anhängern in Antwerpen Zuflucht. Gleichwohl wirkte er dort (1539-1543) und auch später in Basel (1544-1556) als Führer einer eigenen Gruppe, doch waren diese Daviditen mehr spiritualistisch als täuferisch geprägt. Joris konzentrierte sich auf eine umfangreiche Publikationstätigkeit; sie umfaßt über 200 Titel, darunter am bedeutendsten die beiden umfangreichen Ausgaben seiner eigentlichen Programmschrift, des Woenderboeck (1543 und 1551). Er gab die Glaubenstaufe auf, erlaubte seinen Anhängern, sich äußerlich am Gottesdienst in den jeweils öffentlich anerkannten Kirchen zu beteiligen, und entwickelte geistliche Deutungen des Weltgerichts und seiner Berufung zum dritten David. 3.5. Menno Simons und die Anfänge der

Mennoniten

-•Menno Simons sah in David Joris und den Batenburgern „verderbte Sekten" und Nachfolger der gotteslästerlichen Anführer der Täuferherrschaft von Münster. Doch überstieg die Zahl seiner eigenen Anhänger die von Joris erst seit den vierziger Jahren. Menno war einer der zahlreichen katholischen Priester in den Niederlanden, die der Reformation gegenüber generell aufgeschlossen waren. Insbesondere hatte er Zweifel an der überkommenen Meß- und Tauflehre. Pieter Simons (gest. 1535), einer der Zwölf Ältesten von Münster, der beim Aufruhr von Oldeklooster ganz in der Nähe der friesischen Pfarrei Mennos ums Leben kam, dürfte sein Bruder gewesen sein. In jedem Fall war Menno über die Vorgänge des Jahres 1535 in Münster sehr genau unterrichtet. Ein Jahr später verließ er seine Gemeinde und empfing von Obbe Philips (ca. 1500-1568), dem Leiter der wichtigsten friedlichen Gruppierung unter den niederländischen Melchioriten, die Taufe. Zum Ältesten berufen, wirkte er zunächst in Friesland und Holland, wich aber 1542, nachdem man eine Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt hatte, in weniger gefährliche Gebiete wie Ostfriesland, das Erzbistum Köln und in seinen späteren Jahren nach Holstein und in die Küstengebiete der Ostsee aus. Mennos Einfluß beruht teilweise auf den von ihm veröffentlichten Schriften, als deren erste 1539/40 Dat fundament des christelycken leers erschien. Dabei ging es ihm mehr um die Erbauung der Gläubigen und das Zeugnis vor der Welt als um die Entfaltung theologischer Argumentationen; doch bezog er in einer Reihe von Punkten sehr klare eigene Positionen. Menno war ein antispiritualistischer Täuferführer, und zwar sowohl in seiner Betonung der äußeren Kirche und äußerer Zeremonien wie in der Vorordnung des Schriftwortes vor dem Geist. In der Christologie war er ein echter Melchiorit. Die Kirche umfaßte für ihn die lebensprägend Wiedergeborenen, die sich der Gemeindezucht unterwarfen. Doch übernahm er die von seinen Mitältesten Dirk Philips (1504-1559) und Leenert Bouwens (1515-1582) verfochtene strenge Disziplin, die auch die Trennung von ungläubigen Ehepartnern forderte, nur widerwillig. Die rigorose Übung des Banns führte zu Mennos Lebzeiten zu inneren Spaltungen, zum Ausschluß der rheinischen Täufer und zur Abspaltung einiger Gemeinden, der Waterländer, in Holland. Kurz nach seinem Tod legte die verhängnisvolle Spaltung zwischen friesischen Mennoniten und

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den Gemeinden flämischer Flüchtlinge den Grund für eine Aufsplitterung der mennonitischen Bewegung in ein halbes Dutzend unterschiedlicher Gruppen. Daß M e n n o nicht in der Lage war, die extreme Bannausübung mit all ihren negativen Folgen zu verhindern, hat sein Ansehen belastet. Auf der anderen Seite aber hat er weit erfolgreicher als David Joris die Melchioriten wieder auf den Boden eines geachteten Nonkonformismus zurückgeführt und dafür gesorgt, daß sie das späte 16. Jh. überdauern konnten. Münster hatte die Konzeption der Gütergemeinschaft in Norddeutschland und den Niederlanden gründlich in Verruf gebracht; die Mennoniten konzentrierten sich auf ein praktisches Christentum in gegenseitiger Hilfeleistung. Krieg und Gewalt verwarf Menno für seine Anhänger unbedingt; doch blieb er ein guter Melchiorit, wenn er die Möglichkeit einer Ausübung politischer Herrschaft durch Christen offenhielt. Während der späten vierziger Jahre waren fast alle Täufer, die in den Niederlanden den Märtyrertod erlitten, Mennoniten. Menno selbst entging diesem Schicksal; er starb 1561 auf dem Gut eines adligen Anhängers in Oldesloe in Holstein. 3.6. Mennonitisches Märtyrertum Republik der Niederlande

und die Entstehung

einer religiös

pluralistischen

Bis in die sechziger Jahre des 16. Jh. gab es in den nördlichen Niederlanden nur wenige Calvinisten. Eine größere Zahl von Anhängern gewannen sie zunächst in Flandern, also in unmittelbarer Nähe ihrer hugenottischen Glaubensverwandten in Frankreich (-»Hugenotten). In Holland und Friesland waren es während der vierziger und fünfziger Jahre vorwiegend Mennoniten, die sich offen als Protestanten bekannten. Etwa tausend von ihnen dürften damals in den Niederlanden den Märtyrertod erlitten haben. Dabei befanden sich die örtlichen Behörden im Zwiespalt zwischen dem Verfolgungseifer der habsburgischen Regierung in Brüssel auf der einen und einer die Jagd auf die anständig und fromm lebenden Täufer ablehnenden Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Die wachsende Feindschaft gegen die Brüsseler Herrschaft, die den Weg zur Erhebung der Niederlande bahnte, kam den Mennoniten zugute. 1553 stellte der Rat von Amsterdam aufgrund entsprechenden Drucks aus der Bevölkerung die Hinrichtung von Mennoniten ein. In Rotterdam befreite 1558 eine Volksmenge vier verurteilte Mennoniten und trieb den Scharfrichter und die Bürgermeister aus der Stadt. Die letzten Hinrichtungen fanden 1559 in Friesland statt. Bereits 1562 erschien die erste Ausgabe des mennonitischen Martyrologs, Het offer des Heeren. Es enthielt nur 25 Märtyrerberichte. Doch wurde die Überlieferung über die Märtyrer des 16. Jh. zu einem besonderen Kennzeichen späterer mennonitischer Frömmigkeit. Beim Erscheinen des im späten 17. Jh. von Thieleman van Braght (1625-1664) herausgebrachten großen Märtyrerspiegels Het Bloedig Tooneel of martelaers Spiegel lagen 832 Martyriumsberichte vor, davon 221 über Frauen. Im Vergleich zu den Martyrologien der niederländischen Reformierten konnten die Mennoniten nicht nur mehr Berichte überliefern, auch der Anteil an Märtyrerinnen war größer und das Zeugnis, das sie für ihren Glauben ablegten, besonders eindrücklich. In dieser Hinsicht spielen Frauen unter den Täufern eine gewichtigere Rolle als in den sonstigen Kirchen. Auf diesem Hintergrund war es undenkbar, daß die Mennoniten, selbst wenn sie dem Frieden und der Gewaltlosigkeit verpflichtet waren, beim Ausbruch des niederländischen Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien in den siebziger Jahren des 16. Jh. hätten abseits stehen können. Und ebensowenig konnte Wilhelm von Oranien (1544-1584) an die Stelle einer verfolgenden katholischen dann eine verfolgende calvinistische Staatskirche setzen. Die Waterlander, die am wenigsten strenge Gruppe unter den Täufern, unterstützte den Unabhängigkeitskrieg finanziell. Seit den siebziger Jahren erhielten die Mennoniten wie die Lutheraner die Stellung einer geduldeten nichtcalvinistischen Kirche. Die calvinistische Kirche erfreute sich zwar als die Kirche der herrschenden Schicht in den nördlichen Niederlanden des 16. Jh. eines Vorrangs, hatte aber keine beherrschende Stellung. Da sie sich als eine Gemeinde bekennender Christen verstand, dürfte sie um

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1600 nicht mehr als 1 0 % der Bevölkerung umfaßt haben. Bei den mennonitischen Gemeinden rechnet der umsichtigste moderne Geschichtsschreiber der niederländischen Mennoniten, S. Zijlstra, für die Jahre zwischen 1560 und 1580 mit einem beträchtlichen zahlenmäßigen Zuwachs. Das war die Zeit, in die das Ende der Verfolgung und der Beginn der Duldung fiel. Auch die herkömmliche Annahme, daß um 1600 ein Viertel der Bevölkerung Frieslands mennonitisch war, hält er für durchaus realistisch.

4. Sozialgeschichtlicher

Ort und Religiosität des Täufertums

4.1. Größe und Sozialstruktur der

Täuferbewegung

In einer sehr sorgfältigen Erhebung hat C.-P. Clasen für die Zeit von 1525 bis 1618 in der Schweiz, in Süd- und Mitteldeutschland und in Österreich 12.522 Täufer identifiziert, räumt aber ein, daß die Gesamtzahl bei 30.000 gelegen haben könnte. Aus diesen Zahlen hat er gefolgert, daß die Täufer eine „kleine separatistische Bewegung" gewesen seien (vgl. Clasen, Anabaptism 29), deren Bedeutung überschätzt worden sei. Tatsächlich hätte vor seiner Untersuchung niemand vermutet, daß die Zahl der Täufer in diesen Gebieten so niedrig war. Auf der anderen Seite aber hat Clasen gerade die beiden Regionen nicht in seine Untersuchung einbezogen, in denen die Täufer am zahlreichsten vertreten waren: Mähren und die Niederländische Republik. Um 1600 lebten in Mähren mindestens 20.000 (nach dem höchsten modernen Ansatz sogar bis zu 60.000) Täufer; nach der Schätzung W. O.Packulls stellten sie 1 0 % der Bevölkerung Südostmährens. Die Mennoniten in der Niederländischen Republik waren am Ende des 16. Jh. sicher zahlreicher als die Hutterer in Mähren; Zijlstras Ansatz mit einem Viertel der Bevölkerung Frieslands wurde bereits erwähnt. (Der ältere niederländische Historiker Karel Vos hatte für die Zeit um 1600 von 100.000 Getauften in den Niederlanden gesprochen.) Solche Schätzungen der Gesamtzahl der Täufer sind freilich deutlich weniger zuverlässig als die Zahl der Hinrichtungen, denn die beruht auf Aufzeichnungen über die Gefangensetzung von Täufern. Allerdings waren die Behörden bei dem Versuch, die Täufer gefangenzunehmen, nicht immer erfolgreich, verfolgten aber auch nicht immer das Ziel, sie gefangenzusetzen. Früher nahm man an, die Täufer hätten als Gegner der öffentlich anerkannten Kirchen und der weltlichen Obrigkeiten, die sie stützten, ihre Basis in den unteren Bevölkerungsschichten gehabt. Bis zu den überraschenden Ergebnissen K.-H. Kirchhoffs vertraten lediglich Mennoniten wie W. J . Kühler die Auffassung, daß die Täufer einen repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung darstellten. Neuerdings hat S. Zijlstra die soziologische Ortsbestimmung der niederländischen Täufer durch A.F. Mellink dahingehend revidiert, daß sie ein mehr oder weniger typisches Abbild der Gesamtgesellschaft darstellten. Aufgrund einer Berufsbestimmung von etwas mehr als der Hälfte der niederländischen Täufer kommt er auf etwa 6 % Intellektuelle, 1 % öffentliche Amtsträger und 75 % Handwerker. Dieses Ergebnis unterscheidet sich kaum von dem Ciasens für das schweizerisch-oberdeutsche Täufertum: „Mehr als 9 8 % aller Täufer gehörten zum Stand des gemeinen Mannes; sie bestritten ihren Lebensunterhalt aus Bauernwirtschaften, Werkstätten und anderen Formen der Handarbeit. Weniger als 2 % waren Intellektuelle oder Adelige. Bauern stellten mit 56 bis 6 8 % die größte Gruppe innerhalb der Sekte, und Handwerker machten zwischen 28 und 41 % aus" (vgl. Clasen, Anabaptism 323). Die Unterschiede in der Zusammensetzung zwischen dem schweizerisch-oberdeutschen und dem niederländischen Täufertum gehen größtenteils darauf zurück, daß fast die Hälfte der niederländischen Bevölkerung Stadtbewohner waren, während in Deutschland die Städte damals nicht mehr als 1 0 % der Bevölkerung umfaßten. Doch auch unabhängig davon waren nach Zijlstra die Handwerker unter den Täufern stärker vertreten als in der niederländischen Gesamtbevölkerung. Man kann von einer „führenden Rolle der Handwerkerschaft" in der Täuferbewegung sprechen, ohne sie deswegen zu

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einer Handwerkerbewegung stempeln zu müssen. Nach dem gewaltsamen Tod der Randgruppe der Intellektuellen in der Führungsschicht des frühen Täufertums wurden in der Regel Handwerker zu den leitenden Persönlichkeiten. In Mähren wurden auch bäuerliche Zuwanderer von den Hutterern häufig handwerklich ausgebildet, und von Jakob Hutter bis zum Dreißigjährigen Krieg gab es nur einen Vorsteher der Bruderschaft, der nicht Handwerker war. Handwerker besaßen häufiger als Bauern Lese- und Schreibfähigkeit in der Volkssprache, ein Vorteil für den Umgang mit der Bibel und täuferischem Schrifttum. Das Täufertum war eine Bewegung abseits von Besitz- und Bildungsprivilegien - bestritten sie doch grundsätzlich den Vorrang von kirchlicher Hierarchie und universitär gebildeter Elite - und hatte seinen Schwerpunkt eher in den mittleren als in den unteren Schichten des zeitgenössisch als „gemeiner M a n n " bezeichneten Bürger- und Bauernstandes. Zwar lebten etwa 6 0 % der Täufer in den Dörfern und kleinen Marktstädten, die die soziale Basis des Bauernkrieges stellten; doch wenn auch nur 3 0 % von ihnen in den von Handel und gewerblicher Produktion bestimmten Zentren und in den vom mittleren Gewerbe getragenen Gemeinden lebten, die sich von der Erhebung von 1525 fernhielten, bedeutet das, daß sich die Täufer stärker auf die Städte konzentrierten als die deutsche Gesamtbevölkerung des 16. Jh. Die Täuferbewegung fand ihre Basis weder in der gesellschaftlichen Elite noch in der Masse der Unterdrückten, auch wenn einzelne Täufer zu diesen Gruppen gehörten. Ihre größte Anhängerschaft besaß sie in den mittleren Schichten des Bürger- und Bauernstandes, die stärker als der Bevölkerungsdurchschnitt im deutschen Sprachraum Stadtbewohner waren und über Lese- und Schreibfähigkeit in der Volkssprache verfügten. 4.2. Die Rolle der Geschlechter

in der

Täuferbewegung

Von den schweizerisch-oberdeutschen Täufern, deren Geschlecht Clasen ermitteln konnte, waren 6 8 % Männer und 3 2 % Frauen. Er vermutete, Frauen seien weniger geneigt gewesen, „ihr natürliches Empfinden den Forderungen einer Ideologie unterzuordnen" (vgl. Clasen, Anabaptism 336). Da diese Zahlen zumeist auf Angaben über Täufer beruhen, die von den Obrigkeiten gefangengesetzt wurden, könnten andere Erklärungen näherliegen. Möglicherweise waren die Obrigkeiten weniger bereit, Frauen gefangenzusetzen, weil sie ihnen eine geringere Verantwortlichkeit für ihr Tun zuschrieben. Vielleicht war aber die Zahl der gefangengesetzten Frauen auch deswegen geringer, weil die Täufergemeinschaften ihnen weniger Gelegenheit boten, sich hervorzutun, als den Männern. Die straffer organisierten Täufergemeinschaften wie die Hutterer und Mennoniten beschränkten Leitungsaufgaben auf Männer. Es gibt keine Nachrichten über Frauen, die getauft oder das Abendmahl ausgeteilt hätten. Allerdings hatten Frauen in der Täuferbewegung Möglichkeiten, die ihnen in den öffentlich anerkannten protestantischen Kirchen nicht geboten wurden. Erwähnt wurde bereits ihre unentbehrliche Rolle für die Versammlungen der Augsburger Untergrundgemeinde der Jahre 1527/28, ihr Wirken als Prophetinnen in St. Gallen und bei den Straßburger Melchioriten sowie ihre zahlenmäßige Stärke unter den Täufern in Münster 1534/35; ebenso ist darauf hingewiesen worden, um wie viel deutlicher die Stimme der Frauen im Märtyrerspiegel als in vergleichbaren reformierten Martyrologien zu vernehmen ist. Doch hat sich auch die Täuferbewegung nicht von der im frühneuzeitlichen Europa vorherrschenden frauenfeindlichen Einstellung freigemacht, selbst wenn sie Frauen größere Möglichkeiten als die offizielle Reformation bot. 4.3. Täuferische

Religiosität:

Vorrang der Praxis vor der

Lehre

Im Hinblick auf den Wettstreit zwischen den beiden je eine Minderheit bildenden Gläubigenkirchen der Niederländischen Republik des späten 16. Jh. vermerkt Zijlstra, daß die Kirchenzucht der Mennoniten strenger war als die der Reformierten. Das ruft die Vorstellung der auf Heiligung dringenden „Nachfolge" wach, von der H.S. Bender

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in den vierziger J a h r e n des 2 0 . J h . g e s p r o c h e n h a t . J e d e n f a l l s h a t t e die L e b e n s f ü h r u n g f ü r die T ä u f e r des 16. J h . g r ö ß e r e s G e w i c h t als die L e h r e . D i e T ä u f e r b e w e g u n g entstand in protestantisch eingestellten K r e i s e n , die a b e r zugleich den neuen G e l t u n g s a n s p r u c h der offiziellen R e f o r m a t i o n z u r ü c k w i e s e n . Sie v e r w a r f e n mit der O r t h o d o x i e der Altgläubigen a u c h den Versuch zur Schaffung einer neuen O r t h o d o x i e , die Ersetzung des G e l t u n g s a n s p r u c h s der altgläubigen K i r c h e durch den einer Bildungselite, der evangelischen „ S c h r i f t g e l e h r t e n " . D e n einzigen Schritt zur A u s f o r m u n g eines neuen, von den F r a g e n der L e b e n s f ü h r u n g zu unterscheidenden L e h r e l e m e n t s bildete H o f f m a n s C h r i stologie. Alle anderen im Verlauf des 16. J h . a u f t a u c h e n d e n k e n n z e i c h n e n d e n Lehren G l ä u b i g e n t a u f e , G ü t e r g e m e i n s c h a f t , Wehrlosigkeit, A b s o n d e r u n g , B a n n , P o l y g a m i e , Verweigerung des Eides - w a r e n L e b e n s o r d n u n g e n und erst in zweiter Linie L e h r p u n k t e . E i n i g e dieser O r d n u n g e n wurden früher o d e r später a u c h wieder aufgegeben - die Polygamie von fast allen T ä u f e r n und die G ü t e r g e m e i n s c h a f t von allen a u ß e r den H u t t e r e r n . E s g a b eine allgemeine A b n e i g u n g gegenüber t h e o l o g i s c h e n S p e k u l a t i o n e n . D a s trennte die T ä u f e r von den - • A n t i t r i n i t a r i e r n und ließ sie t h e o l o g i s c h e N e u e r u n g e n ü b e r h a u p t meiden. Sie blieben bei der Verwendung des A p o s t o l i s c h e n G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e s und verfaßten gelegentlich auch E r k l ä r u n g e n ihrer L e h r e , u m d a m i t p r o t e s t a n t i s c h e O b r i g keiten und K i r c h e n davon zu überzeugen, d a ß sie weder verwerfliche n o c h gefährliche Irrlehrer seien. Allmählich erhielten solche E r k l ä r u n g e n wie R i e d e m a n n s Rechenschaft o d e r das D o r d r e c h t e r B e k e n n t n i s von 1 6 3 2 für b e s t i m m t e T ä u f e r g e m e i n s c h a f t e n auch verbindliche G e l t u n g . D o c h lag d a r a u f nicht der T o n ; er lag a u f der L e b e n s f ü h r u n g , n i c h t a u f den L e h r e n t w ü r f e n . D e n T ä u f e r n ging es in erster Linie u m „ d i e F r ü c h t e des G l a u b e n s " ; und sie wollten in dieser Beziehung eine G e m e i n d e o h n e F l e c k e n und R u n z e l n sein. Bibliographien QGT. X . Bibliogr. des Täufertums, 1 5 2 0 - 1 6 3 0 , hg. v. 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James M. Stayer

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften II

II. Täuferische Gemeinschaften (17. bis 20. Jahrhundert) 1. Forschungslage und Begründung der Auswahl 2 . Die Schweizer Traditionslinie spiele täuferischer G e m e i n s c h a f t e n (Literatur S. 6 2 3 )

3 . Bei-

Die Bewegungen der Täufer sind in der zweiten Hälfte des 16. J h . allmählich erloschen oder in Gemeinschaften bzw. Gemeinden übergegangen, die festere Formen des Gottesdienstes und des Zusammenlebens ausgebildet haben als vorher. Paradoxerweise hat das Zeitalter der Konfessionalisierung, das mit einer strengen Reglementierung des kirchlichen Lebens einherging, nonkonformistischen Gruppen einen größeren Spielraum zur Entfaltung ihrer besonderen Glaubens- und Lebenspraxis gelassen als die Zeit der -•Reformation, in der auf turbulent-ungeordnete Weise eine Vielfalt von religiösen und sozialen Bewegungen aufgebrochen war, die die Aufmerksamkeit der geistlichen und weltlichen Behörden auf sich zogen. Kaum war diese Vielfalt, ja Heterogenität der Bewegungen entstanden, wurden ihre Anhänger verfolgt und teilweise im Martyrium aufgerieben. Die ober- und mitteldeutschen Täufer haben das 16. J h . nicht überlebt, die Bruderhöfe der hutterischen Täufer sind in den Verfolgungen der Gegenreformation in Mähren und der Slowakei zerstört worden. Nur mühsam haben sie sich in die Walachei und die Ukraine retten und schließlich in Nordamerika wieder Fuß fassen können. In den katholischen Territorien war der Blutzoll besonders hoch, in protestantischen Territorien und Reichsstädten waren auch mildere Formen der Verfolgung noch ziemlich effizient. Retten konnten sich schweizerische Täufer, z.B. im Berner und Basler Herrschaftsgebiet, ebenso Hutterer und Täufer in den Niederlanden bzw. in Ostfriesland, am Niederrhein und in kleinen Gruppen auch in Holstein (Mennoniten).

1. Forschungslage und Begründung der Auswahl Die Forschung hat sich im vergangenen Jahrhundert besonders auf den reformatorischen Aufbruch konzentriert. Erst in neuerer Zeit sind Untersuchungen entstanden, die den Weg der Täufer in die Neuzeit verfolgen: das Basler Täufertum (Jecker), das Berner Täufertum (Furner), die Mennoniten in Hamburg und Altona (Driedger), in Sammelbänden dargestellt: die Krefelder Mennoniten (Froese) und die Amischen (Hege/ Wiebe). Diese Untersuchungen stehen in engem Zusammenhang mit der Erforschung des frühen Täufertums und versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, o b das Täufertum in der Lage war, sich den aggressiven Nonkonformismus des Anfangs so sorgfältig wie nur möglich zu bewahren oder ob es sich nur um den Preis erhielt, daß es seinen radikalen, zuweilen auch revolutionären Charakter den obrigkeitlichen Erwartungen an bürgerliches Wohlverhalten opferte und von der Ursprungsidee einer täuferischen Alternative zur lutherischen und reformierten Reformation abfiel. Nonkonformität blieb das Merkmal der täuferischen Gemeinschaften im 17. und 18. J h . Daran besteht kein Zweifel. Wohl aber ist zu überlegen, o b der Begriff „conforming nonconformity" (Driedger 63) die Situation nicht genauer trifft, in der die Täufer sich nach der Reformation wiederfanden. Im Basler Herrschaftsgebiet war die Tendenz zur „conformity" um 1700 noch nicht voll ausgebildet, so daß die Nonkonformität stark blieb, während die Konformität in Hamburg und Altona zu einem hervorstechenden Merkmal wurde - innerhalb der Paradoxalität der vorgeschlagenen Formel von der „conforming nonconformity". Diese Formel erlaubt es, je nach historischem Befund einmal diesen und ein anderes M a l jenen Akzent schärfer zu setzen. Der Aspekt des Nonkonformismus ist übrigens auch verantwortlich dafür, daß in der Geschichtsschreibung von „Gemeinschaften" und nicht von „ K i r c h e n " gesprochen wird. Gegenüber dem Begriff der „ S e k t e " , mit dem die täuferischen Nachfolgegemeinden jahrhundertelang belegt wurden, ist das bereits ein Fortschritt. „Gemeinschaft" signalisiert aber immer noch ein angebliches Defizit, das an der Ekklesiologie dieser Gruppen wahrgenommen wird: Sie sind nicht Kirchen im Vollsinn. Die Mitglieder der täuferischen Gemeinschaften selbst verstehen ihre Gemeinden jedoch als zeitgemäßen Ausdruck der

Täufer/Täuferische Gemeinschaften II

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ecclesia Christi, als Kirche mit einem ausgeprägten Freiheits- und Gemeinschaftscharakter. Die Akzente werden unterschiedlich gesetzt: In Nordamerika wird die „believers" church" betont, in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden wird von der -•Freikirche gesprochen. Hier wird auf die Unabhängigkeit gegenüber staatlicher Reglementierung hingewiesen und eine Alternative zur -• Volkskirche angeboten, dort wird die Entscheidung des einzelnen Gemeindeglieds unterstrichen, aus eigenem Antrieb die -•Taufe zu begehren und sich der Disziplin einer Gemeinschaft aus freien Stücken zu unterstellen. Mit beiden Akzenten können die Gemeinden sich auf das frühe Täufertum berufen und ein starkes Solidaritätsbewußtsein ausbilden, von alters her einer „weltweiten Bruderschaft" anzugehören. Die täuferischen Gemeinschaften, die hier dargestellt werden, sind nur die Gemeinschaften, die sich in der Traditionslinie des schweizerischen Täufertums entwickelt haben (zu den Gemeinschaften, die der niederländisch-niederdeutschen Linie folgen, vgl. -•Menno Simons/Mennoniten, zu den Bruderhöfen der Hutterer vgl. -•Hutterische Brüder). Hier wird nur die schweizerische Entwicklung und ihre Weiterungen in der Pfalz, im Elsaß und Nordamerika skizziert. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß beide Traditionen im Laufe der Zeit zusammengewachsen sind. Die Mennoniten berufen sich auf die Anfänge des Täufertums in der Schweiz, während die Taufgesinnten schweizerischen Ursprungs dazu übergegangen sind, sich Mennoniten zu nennen. Die niederländischen Gemeinden haben die personenorientierte Bezeichnung „Mennoniten" (die Anhänger des Menno Simons) vermieden und nennen sich immer noch „Doopsgezinde" (Taufgesinnte). Die nordamerikanischen Gemeinden, auch wenn sie schweizerisch-pfälzischer Herkunft sind, ordnen sich mit großer Selbstverständlichkeit der „Mennonite Church" zu. Nur die Amischen haben keine Veranlassung gesehen, sich den Namen der Mennoniten zuzulegen, auch die hutterischen Gütergemeinschaften nicht. Ansonsten macht es die enge Verknüpfung beider Traditionslinien schwer, den Gestaltungsimpuls der schweizerischen Besonderheiten genau zu bestimmen. Schließlich ist noch zu erwähnen, daß sich inzwischen Gemeinschaften gebildet haben, die in keiner genetischen Verbindung zu den Täufern stehen, aber dennoch täuferische Anliegen für sich „erfunden" bzw. sich nachträglich in täuferische Traditionen gestellt haben: z. B. die -»Baptisten, die -•Brüder (Church of the Brethren), die Plymouth Brethren, die Neutäufer in der Schweiz, die Neuhutterer unter Eberhard Arnold (18831935) oder große pfingstlerisch-milleniaristische, pazifistische Gemeinschaften (-•Pfingstkirchen) im Kongo bzw. Zaire. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. 2. Die Schweizer

Traditionslinie

Die Gemeinden der Schweizer Brüder haben im 17. und 18. Jh. in den Herrschaftsgebieten Zürichs, Berns und Basels unter ähnlichen Bedingungen obrigkeitlicher Sozialdisziplinierung und Verfolgungsmaßnahmen gelebt. Aus den Städten waren sie gegen Ende des Reformationsjahrhunderts verdrängt worden, auf den Landschaften konnten sie sich dagegen ausbreiten. Hier waren die Chancen für das Überleben religiöser Nonkonformisten günstiger. Da sie sich weitgehend nur noch aus bäuerlichen Kreisen rekrutierten, konnten sie ihren Protest gegen obrigkeitliche Kirchenpolitik im Protestverhalten der Bevölkerung allgemein kaschieren, vor allem in den politischen und sozialen Unruhen, die zu einem erneuten Bauernkrieg in der Mitte des 17. Jh. führten. Zum Ärger der Obrigkeiten konnten sie teilweise mit der Solidarität der Bevölkerung rechnen. Sie wurden gewarnt und beschützt, wenn die obrigkeitlichen Büttel bzw. „Täuferjäger" nach ihnen suchten oder Geistliche sie zu sehr bedrängten. Sie wurden beherbergt, versorgt und bei der Flucht unterstützt. Das Mandat gegen die Täufer von 1585, das von Zürich und Bern erlassen wurde, sah eine differenzierte Bestrafungspraxis vor. Als äußerste Maßnahmen drohten die Landesverweisung und die Todesstrafe. Mit einem Ratsbeschluß hat Bern 1671 die Galeerenstrafe auf venezianischen und französischen Schiffen offiziell eingeführt und in einer Wiedertäuferordnung 1695 das feinmaschige Netz der

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften II

Strafmaßnahmen noch enger geknüpft, da die Stadt meinte, die Verbreitung der Täufer anders kaum noch eindämmen zu können. 1699 wurde außerdem eine „Täuferkammer" eingerichtet, die sich vor allem um die Güterkonfiskation der ausgewiesenen Täufer zu kümmern und weitere Verfolgungsmaßnahmen zu organisieren hatte. Der letzte Schweizer Täufer, der 1614 in Zürich enthauptet wurde, war Hans Landis: „Einer der Hauptführer der Sekte sei wegen seiner Widersetzlichkeit, nicht aber des Glaubens wegen, hingerichtet worden", heißt es in einem Bericht (zit. nach Correll 65). Vorgeworfen wurde den Täufern, daß sie sich über die obrigkeitlichen Mandate und die Ordnungen der Kirche hinweggesetzt, sich selber kirchenamtliche Kompetenz angemaßt und mit ihrem Prinzip der Wehrlosigkeit die Verteidigungsbereitschaft des Volkes „wider feindliche Gewalten" geschwächt hätten. Um den Untertanenverband zu festigen, griffen die Obrigkeiten gelegentlich hart durch, während die Geistlichen zunächst versuchten, die Täufer für die Kirche zurückzugewinnen und den Sittenverfall in der eigenen Kirche zu beheben, um den Unzufriedenen die Rechtfertigung ihrer Sonderexistenz zu erschweren. Auf der Zürcher Landschaft verloren sich die Spuren der Täufer nach 1650 allmählich, im Baselbiet nach 1700. Nur auf der Berner Landschaft, im Emmental und im Berner Oberland, konnten ihre Gemeinden überleben, ebenso im Berner Jura, das dem toleranteren Fürstbistum Basel unterstand. Neuere Forschungen zu Basel haben gezeigt, daß die täuferische Minderheit auf der Landschaft keine homogene Gemeinschaft war, sondern eine Variationsbreite von Anpassungswilligen über Anhänger eines gemäßigten Nonkonformismus bis zu Vertretern eines aggressiven separatistischen Protestverhaltens aufwies (Jecker). Dies trifft mutatis mutandis auch für Zürich und Bern zu, wenngleich die rigidere obrigkeitliche Täuferpolitik in diesen Territorien, besonders auf der Berner Landschaft, die nonkonformistischen Gemeinden stärker zusammenschweißte. Die Schweizer Täufer haben sich nicht sogleich zu einer Gemeinschaft verhärteter Grundsätze entwickelt, aus denen die Bekenntniskraft früherer Zeiten längst gewichen war. Sie haben vielmehr auf flexible Weise nach Ausdrucksformen freikirchlicher Identität im Zeitalter der Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung gesucht und nicht nur fortgesetzt, was in den Schleitheimer Artikeln (1527) festgeschrieben worden war. Hier und da regte sich noch die ursprüngliche täuferische Vitalität: eine Frömmigkeitspraxis unter den Bedingungen von Nachstellung, Verfolgung und Martyrium. Insgesamt gilt jedoch: „Compromise, survival, and pragmatism rather than martyrdom and eschatological idealism became the norm" (Furner 429). Zahlreiche Täufer wanderten nach dem Westfälischen Frieden und während einer großen Verfolgungswelle im Bernbiet um 1671 in die Pfalz und ins Elsaß aus. Gleichzeitig begannen sich Glaubensgenossen in den Niederlanden und in der Pfalz um die Verfolgten zu kümmern. Den Niederländern war es schon 1660 gelungen, ihre Regierung zu veranlassen, sich in Zürich und Bern offiziell für die Verfolgten zu verwenden. Niederländische Mennoniten hatten den Berner Täufern erstmals schon vor der großen Verfolgung den Weg ins tolerantere Elsaß geebnet. Gegen Ende des 17. Jh. kam es zu Spannungen in den Gemeinden selbst. Jakob Ammann (um 1644 - vor 1730), der aus dem Bernbiet ins Elsaß gekommen war, zog bald wieder durch die Heimatgemeinden und setzte sich für eine rigorosere Meidungs- und Bannpraxis ein. Auf gesetzlich-biblizistische Weise sollte auch der Abendmahlsgottesdienst (Fußwaschung) geregelt werden. Ebenso trat er für eine schlichte Kleiderordnung ein: Die Knöpfe wurden durch Haken und Ösen ersetzt (heute noch das Erkennungszeichen der Amischen) und die Frauen aufgefordert, auf jeglichen Schmuck zu verzichten und ein Häubchen zu tragen. Diese konservativen Neuerungen führten zur Abspaltung der Amischen von den übrigen Gemeinden. Möglicherweise läßt sich die Amische Spaltung eher auf soziale als auf theologische Differenzen zwischen früheren und späteren Emigranten im elsässischen Sainte-Marie-aux-Mines bzw. Markirch zurückführen: Die einen hatten sich mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung arrangiert und einen gewissen

Täufer/Täuferische Gemeinschaften II

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Wohlstand erreicht, sich kulturell geöffnet und auch gute Beziehungen zur reformierten Kirche aufgenommen, während die anderen, noch von der Flucht gezeichnet, jeden Kompromiß mit der „Welt" ablehnten. Nur in strikter Absonderung meinten sie, wie die konservativsten Niederländer auch, sich ihre täuferische Identität bewahren zu können (Baecher). Diese traditionalistisch-gesetzliche Gemeinschaft der Amischen, die 1693 entstand, konnte sich bald als bedeutende Täufergemeinschaft im Elsaß etablieren. Splittergruppen, vor allem Pächter adliger Güter, wichen auch nach Hessen und Bayern aus. Um die Mitte des 18. Jh. wanderten viele Amische, wie andere Täufer aus dem Bernbiet, dem Berner Jura und der Pfalz, nach Nordamerika (zunächst nach Pennsylvania) aus, wo sie sich nach anfänglichen internen Streitigkeiten bis heute erhalten haben. Besonders traditionalistisch, technikfeindlich eingestellt sind die Old Order Amish, aufgeschlossener sind die Amish Mennonites, die Beachy Amish und die New Order Amish. Sie haben sich zu einer festgefügten religiösen Lebensgemeinschaft bzw. zu einer schnell wachsenden „Amish society" entwickelt, in der die Zeit stillsteht. Vielen erscheinen die Amischen als Vertreter einer realisierten Utopie inmitten der modernen Gesellschaft. Für andere sind die Amischen ein folkloristisches Ereignis. Viele Amische haben ihrer Gemeinschaft allerdings auch den Rücken gekehrt und sich, besonders um 1925, den Mennoniten-Gemeinden angeschlossen. Bessere Zeiten zogen für die Schweizer Täufer mit der Auflösung der Berner Täuferkammer 1743 herauf. In den vollen Genuß freier Religionsausübung kamen sie trotz des helvetischen Gesetzes, das 1799 im Zuge der Französischen Revolution erlassen wurde, vorerst nicht. Sie mußten noch um ihre Rechte kämpfen, konnten der Berner Regierung aber die Gewährung der Wehrfreiheit abtrotzen. Erst das Kirchengesetz der Bundesverfassung von 1874 brachte ihnen die ersehnte Religionsfreiheit. Ein schwerer Schlag war für sie dagegen die ebenfalls mit dieser Verfassung eingeführte Allgemeine Wehrpflicht, die sie mit dem Sanitätsdienst ableisten konnten. Totalverweigerung, hier und in Frankreich ein Problem, wurde mit Gefängnisstrafe geahndet. Immer noch ist den schweizerischen Täufergemeinden in Frömmigkeitspraxis und Lebensführung anzusehen, daß sie leidvolle Jahrhunderte durchlebt haben. Das erklärt ihren Glaubensernst und ihre vorbildliche Lebenspraxis, gelegentlich ist das auch die Ursache für eine Erschlaffung bzw. Erstarrung des Gemeindelebens gewesen (Geiser 484). Ein bedeutender Teil ihres Erbes hat Eingang in die nordamerikanischen Mennonitengemeinden gefunden und dort die Tradition historischer Friedenskirchen begründet, zu denen auch die -»Quäker und die Kirche der Brüder zählen. In der Frage des Pazifismus waren die Impulse der schweizerischen Taufgesinnten stärker als diejenigen des niederländischen bzw. rußland-deutschen Mennonitentums. Starke Impulse schweizerischer Tradition gingen auch in die diakonische Arbeit ein, die vom Mennonite Central Committee weltweit organisiert wird und besonders Notleidenden in politischen Krisengebieten zugute kommt: als Angebot der Versöhnung „im Namen Jesu Christi". 3. Beispiele täuferischer

Gemeinschaften

Abschließend werden zwei Gemeinschaften skizziert (zur Auswahl s.o. 1.), die dem Täufertum nahestehen bzw. sich von ihm getrennt haben: die Brethren in Christ Churches und die Neutäufer bzw. Evangelische Täufergemeinde. 3.1. Brethren in Christ

Churches

Gelegentlich ist es zur Abspaltung oder Gründung neuer Gemeinden, die dem Täuferbzw. Mennonitentum ähnlich sind, im Zuge des Pietismus oder der Erweckungsbewegungen gekommen. Ein besonders augenfälliges Beispiel sind die Brethren in Christ Churches. Sie entstanden im Milieu pietistischer Erweckungsbewegungen um 1780 im Lancaster County (Pennsylvania). In manchem ähnlich ist ihnen die schon in Deutschland entstandene Kirche der Brüder. Sie war aus lutherischen und reformierten Kirchen hervorgewachsen. Die Brethren in Christ Churches wurden von täuferischen bzw. men-

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Täufer/Täuferische Gemeinschaften II

nonitischen Gemeindegliedern gegründet, die sich von der Notwendigkeit eines erwecklichen Bekehrungserlebnisses überzeugen ließen und zunächst in Hauskreisen (wie die Pietisten einst) über solche Erlebnisse mit Gleichgesinnten berieten und in der Heiligen Schrift gemeinsam nach Wegen einer geistlichen Erneuerung der Gemeinden suchten. Sie verbanden pietistisch-erwecklichen Frömmigkeitsindividualismus mit täuferischem Gemeinschaftsleben und fanden den Kristallisationspunkt ihrer Forderungen in der Untertauchtaufe. Das brachte ihnen die Fremdbezeichnung „River Brethren" oder „Tunkers" (in Kanada) ein und führte nach einer gegenseitig aneinander vollzogenen Immersionstaufe im Convoy River (Pennsylvania) zur Gründung einer eigenen Gemeindekirche. Den Namen Brethren in Christ legte diese Gemeinschaft sich zu, um das Zeugnis der Wehrlosigkeit im Amerikanischen Bürgerkrieg deutlich zu vertreten. Pennsylvania, Kanada und der Mittelwesten Nordamerikas sind bis heute die regionalen Zentren dieser Kirche. Mit den Ursprungsgemeinden verbinden sie die Bruderschaftsethik, Merkmale einer „visible church", die Wehrlosigkeit und die Weigerung, sich in die Belange des Staates einzumischen. An das frühe Täufertum erinnert der Bewegungscharakter ihrer Frömmigkeit, der im Provisorium ihrer Versammlungsräume einen Ausdruck fand. Als sich erste Regungen zeigten, eigene Gotteshäuser zu bauen, kam es zu Spaltungen. Im späten 19. Jh. nahmen die Brethren in Christ neuere Evangelisationsmethoden anderer Kirchen auf und organisierten missionarische Dienste in einigen Gebieten Afrikas (heute Zimbabwe und Zambia). Im 20. Jh. hat diese Kirche sich den Einflüssen geöffnet, die von der Verstädterung ihrer Gemeinden ausgingen, und sie haben sich in Evangelisationsvereinigungen mit nordamerikanischen Kirchen zusammengetan und sich erfolgreich im Mennonite Central Committee engagiert. Ihre Organisation wurde gestrafft und modernisiert. Vieles von den ursprünglichen informellen Bewegungsimpulsen ging dabei verloren, ihre Missionstätigkeit wurde dagegen ausgebaut (Indien, Japan, Nicaragua, Kolumbien). Dennoch blieb diese Kirche relativ klein: ca. 35.000 bis 40.000 Gemeindemitglieder um 1986 (MennEnc 5 [1990] 98). 3.2. Die Evangelische

Täufergemeinde

(Neutäufer)

1832 hat der reformierte Predigtamtskandidat Samuel Heinrich Fröhlich (1803-1857) in zahlreichen Erbauungsstunden Unruhe in die reformierten und täuferischen Gemeinden des Emmentals hineingetragen und einige Taufgesinnte auf seine Seite gezogen. Er strebte die Erneuerung der Kirchen an und versuchte, diejenigen zu einer eigenständigen Gemeinschaft zu versammeln, die sich für eine strikte Glaubenspraxis nach biblischem Vorbild entschieden. Mit der Forderung nach Buße, Bekehrung und Wiedergeburt und einer disziplinierten Abendmahlsgemeinschaft wurde pietistisch-erweckliche Frömmigkeit mit täuferischem Gemeindeverständnis verbunden. Die Mehrheit der Taufgesinnten war jedoch nicht bereit, Fröhlich zu folgen, so daß neben der alten bald eine neue Täufergemeinde entstand: die Neutäufer in Leutwil (Aargau). Diese Gemeinschaft hat inzwischen ein besonderes missionarisches Sendungsbewußtsein entwickelt (Ott) und ein Netz gleichgesinnter Gemeinden in der Schweiz, Deutschland, Frankreich (Elsaß), vor allem auch in Ungarn, Nord- und Südamerika aufgebaut. Auch diese Gemeinschaft kam über den Status einer radikalen Minderheit nicht hinaus. 3.3. Das freikirchlich-pazifistische

Erbe

Inzwischen haben sich die Kirchen oder Gemeinden, die in der Tradition der Täufer stehen, aus ihr hervorgingen oder ihre Nähe suchten (wie die Neuhutterer), glaubensverwandten Kirchen oder kirchlichen Organisationen zugewandt. In der Regel fiel es den Gemeinden oder Kirchenkonferenzen (Denominationen), die in der Tradition der niederländischen Mennoniten stehen, leichter, sich interkonfessioneller oder ökumenischer Mitarbeit zu öffnen als denjenigen Gemeinden, die der Schweizer Tradition entstammen. Hier hat die langwährende Verfolgungssituation offenbar tiefe Spuren hinterlassen. Das gilt besonders für die Amischen. Die Mennoniten sind dagegen schon

623

Taizé

im Reformationsjahrhundert selbst in das gesamtgesellschaftliche Leben integriert worden und konnten sich freier entfalten. Allerdings haben auch sie mit dem Vorwurf kirchlicher Sektiererei fertig werden müssen, der ihr Gemeindeleben und ihre Theologie gef o r m t hat. Unter diesem Vorwurf haben auch die täuferischen Gemeinden Schweizer H e r k u n f t versucht, sich ihre konfessionellen Besonderheiten zu erhalten, sie zu erneuern oder in erstarrter Form über die Zeiten zu retten; sie haben auch versucht, der Idee der Freikirche eine Schneise zu schlagen, sie mit Leben zu füllen und an ihrem pazifistischen Erbe zu arbeiten. Literatur Robert Baecher, Raisons et déroulement du schisme amish. Une perspective nouvelle: Lydie Hege/Christoph Wiebe (s.u.) 55 - 7 0 . - Ernst H. Correll, Das schweizerische Täufermennonitentum. Ein soziologischer Ber., Tübingen 1925. - Michael D. Driedger, Conflict and Adaption in an Exile Community. Flemish Mennonites in Altona and Hamburg 1649-1711, masch. Kingston, Ontario 1993. - Wolfgang Froese (Hg.), Sie kamen als Fremde. Die Mennoniten in Krefeld v. den Anfängen bis zur Gegenwart, Krefeld 1995. - Mark Fumer, The Repression and Survival of Anabaptism in the Emmental, Switzerland 1659-1743, Diss. Cambridge 1998. - Samuel H. Geiser, Die Taufgesinnten Gemeinden. Eine kurzgefaßte Darst. der wichtigsten Ereignisse des Täufertums, hg. im Auftrag der Altev. Taufgesinnten-Gemeinden (Mennoniten) der Schweiz, Karlsruhe o.J. [1931]. Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Die Mennoniten, 1971 (KW Reihe A, 8). - Ders., Kleruskritik, Kirchenzucht u. Sozialdisziplinierung: Heinz Schilling (Hg.), Kirchenzucht u. Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994 (Zs. f. hist. Forschung, Beih. 16) 383-398. - Lydie Hege/ Christoph Wiebe (Hg.), Les Amish. Origine et particularismes 1693-1993, Ingersheim 1996. Hanspeter Jecker, Ketzer - Rebellen - Heilige. Das Basier Täufertum v. 1580-1700, Liestal 1998. - Ernst Müller, Gesch. der Bernischen Täufer, Frauenfeld 1895. - Bernhard Ott, Missionarische Gemeinde werden. Der Weg der Ev. Täufergemeinden, Uster 1996. - E. Morris Sider, Art. Brethren in Christ Churches: MennEnc 5 (1990) 97 f. - Vierhundertfünfzig Jahre Berner Reformation. Beitr. zur Gesch. der Berner Reformation u. zu Nikiaus Manuel, Bern 1980.

Hans-Jürgen Goertz Taizé 1. Gründung teratur S. 625)

1.

2. Geschichte der Communauté

3. Die internationalen Jugendtreffen

(Li-

Gründung

In dem Bauerndorf Taizé in Burgund (Frankreich), 10 Kilometer nördlich von -»Cluny, kaufte der am 12. M a i 1915 in der N ä h e von Neuchâtel geborene Schweizer reformierte Theologe Roger Schutz-Marsauche 1940 ein Bauernhaus mit d e m Ziel, d o r t ein Z e n t r u m für geistliche Retraite mit Tagen der Stille, des Gebetes und der Meditation aufzubauen. Es entstand die Communauté de Taizé, eine ökumenische Ordensgemeinschaft (vgl. T R E 23,186,12-36), der heute 100 Brüder aus ca. 30 Nationen angehören. Die Brüder k o m m e n aus den unterschiedlichen Kirchen der Reformation wie auch der anglikanischen und der römisch-katholischen Kirche. Das gemeinsame Leben findet seine Mitte im Gebet, in der Arbeit und im Einsatz f ü r die Versöhnung der Kirche und der Menschheit. Sie halten das Stundengebet dreimal am Tag, zu dem sie ein schlichtes weißes G e w a n d anziehen. Ansonsten tragen die Brüder keinen H a b i t . Die C o m m u n a u t é lebt ausschließlich von den Erträgen der eigenen Arbeit (eigene Druckerei, Töpferei und andere Werkstätten). Ein Teil der Brüder lebt in kleinen G r u p p e n , sog. „Fraternit ä t e n " , in enger Gemeinschaft mit sozial und wirtschaftlich benachteiligten Menschen auf der ganzen Welt zur Zeit in N e w York, Bangladesh, Südkorea, Senegal und Brasilien. Einmal im J a h r trifft sich die Gemeinschaft in Taizé zum Bruderrat. 2. Geschichte

der

Communauté

Roger Schutz-Marsauche (heute Frère Roger, Prior von Taizé) entschied sich 1940 f ü r das H a u s in Taizé, weil eine alte Bäuerin ihn in dem fast völlig verlassenen Dorf

624

Taizé

bewirtete und bat: „Bleiben Sie bei uns, wir sind so einsam". Bis 1942 lebte er allein in Taizé und nahm Flüchtlinge auf, da die Demarkationslinie des zu Kriegszeiten zweigeteilten Frankreich unweit des Dorfes verlief. Anfang 1944 mußte er wieder in die Schweiz fliehen, da die Gestapo auf das Haus aufmerksam gemacht wurde. Ende 1944 kehrte er mit den ersten vier Brüdern nach Taizé zurück. Sie kümmerten sich um deutsche Kriegsgefangene aus den Lagern in der Umgebung und gaben Kriegswaisen ein neues Zuhause und eine Ausbildung. Von Beginn an trafen sich die Brüder zum regelmäßigen Gebet, zuerst im Haus, dann nach der Genehmigung durch den Bischof von Autun 1948 in der romanischen Dorfkirche. Ostern 1949 legten die ersten sieben Brüder ihre Profeß ab, in der sie sich zu einem Leben für Gott und den Nächsten nach den evangelischen Räten (-»Consilia Evangelica), Ehelosigkeit (-» Zölibat), Gütergemeinschaft (-» Armut) und Anerkennung des Dienstes des Priors (-»Gehorsam) verpflichteten. 1952 entstand die erste Fraternität mit zwei Brüdern in der benachbarten Bergbauregion Montceau-les-Mines. Im gleichen Jahr schrieb Frère Roger die später in Die Quellen von Taizé umbenannte Regel von Taizé, um dem gemeinsamen Leben eine verbindliche Grundlage zu geben. Diese Regel „enthält das Wesentliche, das für das Leben in der Gemeinschaft der Brüder von Taizé nötig ist" (Schutz, Quellen [1998] 61). Die -»Gelübde werden im Hinblick auf die bessere Verfügbarkeit für Gott und den Nächsten und nicht als Leistung definiert. Als Basis der gemeinschaftlichen Lebensform gilt die evangelische Freiheit. Innerhalb der reformatorischen Kirchen entzündete sich an den Gelübden und dem Leben nach einer Regel ein anfänglich scharfer Widerstand gegen das Modell Taizé. Die Parochie (-»Gemeinde) bildete seit -»Luthers Kritik am -»Mönchtum in seiner Schrift De Votis monasticis iudicium von 1521 die einzige Sozialform evangelischer Gemeinschaft. Erst im 20. Jh. versuchten evangelische Christen, die Lebensform einer zönobitischen Gemeinschaft auch in den protestantischen Kirchen neu zu beleben (-»Bruderschaften/Schwesterschaften/Kommunitäten). Taizé suchte als „sichtbares Zeichen der Gemeinschaft" die engen konfessionellen Grenzen zu überwinden. Die Kontakte zur römisch-katholischen Kirche verstärkten sich unter Papst -»Johannes XXIII. entscheidend. Er sprach von Taizé als dem „kleinen Frühling der Kirche" und lud Frère Roger und Frère M a x 1962 als Gäste zum II. -»Vatikanum ein. Auch zum ökumenischen Rat der Kirchen (-»Ökumene) in Genf entwickelten sich gute Kontakte, über Jahre arbeitete Frère Max in der Session Glaube und Kirchenverfassung mit. Mit Ehrengästen aus den verschiedenen Kirchen wurde 1962 die von Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen gebaute „Église de la réconciliation" (Versöhnungskirche) eingeweiht. 1969 trat der erste katholische Bruder in die Gemeinschaft ein. 3. Die internationalen

Jugendtreffen

Der Zustrom Jugendlicher aus ganz Europa nahm in diesen Jahren stetig zu. Ende August 1974 fand nach vierjähriger Vorbereitung unter dem Namen „Konzil der Jugend" ein Treffen mit 40.000 Jugendlichen statt, die das kleine Dorf in eine große Zeltstadt verwandelten. In der Folgezeit wurden die Treffen mehr und mehr als „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde" bezeichnet. Zu den großen Feiertagen und im Sommer kommen bis heute pro Woche Tausende nach Taizé, in den übrigen Wochen des Jahres sind es nur einige Hundert. Die Gemeinschaft der Brüder stellt sich dieser Aufgabe nach anfänglichem Zögern bis heute. „Heute sind Jugendliche in weiten Teilen der Erde auf Distanz zum Glauben gegangen. Der Rückzug vom Vertrauen auf Gott hat uns Brüder erkennen lassen, wie gut es w a r und ist, daß Jugendliche mit einfachen Mitteln in Taizé zusammenkommen können, um zu versuchen, sich gegenseitig zu verstehen und miteinander zu beten", schreibt Frère Roger (Ansprache beim Europäischen Jugendtreffen in Mailand, 28.12.1998). Die Brüder laden die Besucher ein, in Bibeleinführungen und den Gebeten nach den Quellen des Glaubens zu suchen. Die letzten drei Tage der Woche vergegenwärtigen im Gebet vor dem Kreuz, der Auferstehungsfeier und der Eucharistie das Ostergeschehen.

Taizé

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Seit 1966 unterstützt ein belgischer Frauenorden, die Sœurs de St. André, die im Nachbardorf Ameugny leben und das Gästehaus „El A b i o d h " bewirtschaften, die Brüder beim Empfang. Kampfund Kontemplation bilden die Pole des Lebens der Gemeinschaft und der Treffen. Das Leben der Schwächsten zu teilen, sich für die Entrechteten einzusetzen und in den Konflikten dieser Welt und in der Kirche für Versöhnung einzusetzen, heißt für die Brüder, „dem auferstandenen Christus nachzufolgen". Auf der anderen Seite suchen sie die Stille und das Gebet. Grundprinzipien bei der Gestaltung der Treffen, der Gebete, seit einigen Jahren eines Landschaftsparks „Source St. Etienne", bilden Einfachheit und die „Dynamik des Vorläufigen". Seit 1978 organisieren die Briider in europäischen Großstädten über den Jahreswechsel sog. Europäische Treffen, zu denen zwischen 60.000 und 100.000 überwiegend junge Menschen kommen, zuletzt in Mailand, München, Stuttgart, Budapest, Paris etc. Diese Treffen liefern starke Impulse für die kirchliche Jugendarbeit und die Begegnung zwischen den Kirchengemeinden in den jeweiligen Städten. Die Gesänge, z. B. Laudate omnes gentes, Ubi Caritas, Jubilate deo u.a., und die einfache Gebetsform (-»Liturgie) von Taizé haben den Weg in die Kirchengemeinden gefunden (vgl. EG 178,12; 181,6; einige Landeskirchen haben im Regionalteil ein Gebet in der Art von Taizé aufgenommen). Den Brüdern selbst geht es nicht darum, eine eigene neue Bewegung zu gründen, sondern die Besucher und Besucherinnen an den Ort zurückzuschicken, von dem sie gekommen sind, die eigene Ortsgemeinde. Nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs" 1989 kommen viele Jugendliche aus Mittel- und Osteuropa, um an den Treffen teilzunehmen. Bereits seit 1962 waren ohne Aufsehen ständig Brüder bei Christen in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu Gast. Sowohl die Communauté als auch die wöchentlichen Treffen bilden ein „Zeichen der Gemeinschaft", einer gemeinsamen Kirche und einer vereinten Menschheitsfamilie. Dafür haben Frère Roger und die Communauté unterschiedliche Preise erhalten (1974 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; 1988 Unesco Preis; 1989 Karlspreis der Stadt Aachen und 1992 Robert-Schumann-Preis in Straßburg). Literatur Franz Baumann, Taizé, Basel 1968. - Rex Brico, Taizé. Brother Roger and his Community, London 1978; dt.: Taizé. Frère Roger u. die Gemeinschaft, Freiburg i.Br. 1979. - George Carey, Spiritual Journey, London 1994. - Olivier Clément, Taizé. Un sens de la vie, Paris 1997; dt.: Taizé. Einen Sinn fürs Leben finden, Freiburg i.Br. 1999. - Le concile des jeunes, pourquoi?, Taizé 1975; dt.: Taizé u. das Konzil der Jugend. Ereignis u. Erwartung. Dokumente - Reportagen - Dialoge, 1975 (HerBü 543). - Frère John, The Pilgrim God, Washington, D.C. 1985; dt.: Mit Gott unterwegs. Eine Reise durch das AT, München 1987 = M991. - Ders., Le chemin du Christ, Taizé 1987; dt.: Ich bin der Weg. Eine Reise durch das NT, München 1990 = 2 1994. - Ders., Praying the Our Father Today, Washington, D.C. 1992; dt.: Das Vaterunser beten, Leipzig 1993. - Ders., La nouveauté et l'esprit, Taizé 1994; dt.: Ein Gott der Überraschungen. Der Hl. Geist u. Gottes erneuerndes Wirken, München 1996. - Siegfried v. Kortzfleisch, Mitten im Herzen der Massen. Ev. Orden u. Klienten der Kirche, Stuttgart 1963. - Günter Krüger, Lebensformen christl. Gemeinschaften, 1969 (BPTh 7). - Margerite Lena, The Mission of Taizé: The Month 2/1993, 4 6 - 5 2 . - La louange des jours. Nouvel office de Taizé, Taizé 3 1971. - Sylvia Mallinkrodt-Neidhardt, Gottes letzte Abenteurer. Anders leben in christl. Gemeinschaften u. Kommunitäten, Gütersloh 1998. - Michael Mildenberger, Die rei. Revolte, Frankfurt a.M. 1979,46 - 54.-Hans Albert Pflasterer, Die Communauté de Taizé u. das Konzil der Jugend: Ingrid Reimer (Hg.), Alternativ leben in verbindlicher Gemeinschaft, Stuttgart 1979 3 1986, 7 1 - 8 0 . - Préparer le concile des jeunes - audacieuse aventure, Taizé 1973; dt.: Suchen, warten, wagen, Graz u.a. 1973; 2., aktualisierte Fassung u.d.T.: Leben wagen. Über den Weg zum Konzil der Jugend. Taizé, ebd. 1974. - Ingrid Reimer, Zeichen des Miteinanderteilens: DtPfrBl 78 (1978) 5 - 8 . - Frère Richard, Gottes Herz ist aufgetan, Taizé 1983 2 1993. Gerhard Ruhbach, Art. Taizé: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde, hg. v. Helmut Burckhardt, Wuppertal, 3 (1994) 1954f. - Roger Schutz (Frère Roger), Vivre l'aujourd'hui de Dieu, Taizé 1959; dt.: Das Heute Gottes, Gütersloh 1961 Freiburg i.Br. 2 1964; u.d.T.: Im Heute Gottes leben, Freiburg i.Br. 1976. - Ders., L'unité, l'espérance de vie, Taizé 1962; dt.: Einheit u. Zukunft, Gütersloh 1962; 1965 (HerBü 219). - Ders., La règle de Taizé, Taizé 1962; wiederabgedr.: Les sources de Taizé, Taizé 1984; dt.: Die Quellen v. Taizé, Freiburg i.Br. 1987 NA 1998; Neufassung: Liebe aller Liebe.

626

Talmud

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der Communauté

de

Taizé:

Aujourd'hui (März 1963-Januar 1970); Der Brief aus Taizé (erscheint monatlich seit 1970); Communion (seit 1970); Verbum Caro (1947-1970). Liederhefte: Chants de Taizé. Gesänge aus Taizé (mehrsprachig, seit 1976 in verschiedenen Heften). Andreas Engelschalk

T a l a r - » G e w ä n d e r , Liturgische Talmud 1. Allgemeines 2. Der palästinische Talmud (Jeruschalmi) (Bavli) 4. Wirkungsgeschichte (Literatur S. 635) 1.

3. Der babylonische Talmud

Allgemeines

1.1. Name und Herkunft. Der Begriff „ T a l m u d " leitet sich von der hebräischen Wurzel Imd „ l e r n e n " her. E r bezeichnet die überlieferte rabbinische Lehre und das Buch, das sie enthält. M i t „ d e m T a l m u d " schlechthin ist in der Regel der babylonische T a l m u d (hebräisch Talmud Bavli) gemeint, im Unterschied z u m „ T a l m u d des Landes Israel", heute zumeist als „ p a l ä s t i n i s c h e r " oder „ J e r u s a l e m e r " T a l m u d (hebräisch Talmud Jeruschalmi) bezeichnet. Z w i s c h e n beiden T a l m u d i m besteht eine enge literarische Verwandtschaft. Dennoch handelt es sich nicht um zwei Versionen eines einzigen Werkes, sondern um zwei verschiedene Werke der rabbinischen Literatur. Der Jerusalemer T a l m u d sammelt schriftgelehrte Traditionen, die in den palästinischen Akademien des 3. und 4. J h . n . C h r . gelehrt worden sind. Die bedeutendsten Schulen befanden sich in den galiläischen Städten Tiberias und Sepphoris; weitere Z e n t r e n w a r e n die Hafenstadt Caesarea und wahrscheinlich L o d . Die Ansiedlung in Jerusalem dagegen w a r den Juden seit dem Bar Kochba-Aufstand ( 1 3 2 - 1 3 5 n . C h r . ; - » S i m o n ben

Talmud

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Kosiba) verboten. Erst nach der arabischen Eroberung der Stadt im Jahre 638 n. Chr. entstand dort eine rabbinische Akademie, deren Lehrgrundlage der palästinische Talmud gewesen sein dürfte. Vermutlich ist dies der Grund dafür, daß sich die Bezeichnung dieses Talmud als Jeruschalmi im Sprachgebrauch der jüdischen Gelehrten Europas seit dem Mittelalter durchsetzen konnte. Der babylonische Talmud geht auf die rabbinischen Gelehrten der babylonischen Diaspora zurück, die etwa zur selben Zeit wie die palästinischen Akademien begannen, ihre Traditionen zu sammeln. Die bedeutendsten Zentren waren die Städte Sura, Nehardea und Pumbedita. Die entscheidende Phase des über mehrere Jahrhunderte andauernden Kompilations- und Redaktionsprozesses des Bavli fällt in das 7 . - 8 . Jh., im Falle des Talmud Jeruschalmi in das 5. Jh. Als das weit umfangreichere und umfassendere Kompendium jüdischer Gelehrsamkeit hat der Bavli seit dem frühen Mittelalter das Studium des Jeruschalmi mehr und mehr verdrängt und ist zunächst in den neu entstandenen jüdischen Zentren Nordafrikas und Europas, schließlich aber sogar in Palästina selbst zur maßgeblichen Autorität in allen Fragen der Lehre geworden. 1.2. Aufbau und Mischnaversiotten. Die beiden Talmudim sind vor allem dadurch formal verbunden, daß sich ihr Aufbau an dem der -»Mischna orientiert. Als Grundtext der jeweils anschließenden Diskussionen der Gemara (von gmr „vervollständigen" oder „lernen") ist die Mischna in den Druckausgaben der Talmudim abschnittweise enthalten. Der Mischnatext des babylonischen Talmud stimmt allerdings nicht immer mit dem des Jeruschalmi überein: die beiden Fassungen gehören verschiedenen Texttypen der Mischna an. Die ältesten handschriftlichen Zeugnisse legen den Schluß nahe, daß die Mischna des sog. palästinischen Texttypus (der aber ebenfalls nicht einheitlich ist!) zunächst außerhalb des Talmud und unabhängig von ihm überliefert wurde. Obgleich die palästinische Gemara den Mischnatext voraussetzt, wurde er den Handschriften des Jeruschalmi erst in einer fortgeschrittenen Phase der Textüberlieferung kapitelweise beigegeben. Dagegen findet sich der babylonische Texttypus der Mischna von Anfang an in den Handschriften des babylonischen Talmud; es gibt keine Bavlihandschrift, die nicht auch diesen Mischnatext enthielte, allerdings mit zum Teil nicht unerheblichen Varianten. 1.3. Verhältnis der Gemara zur Mischna. Die in der jeweiligen Gemara gesammelten, über den Mischnatext hinausgehenden Materialien der Talmudim übertreffen diesen im Umfang bei weitem. Große Teile der Gemara orientieren sich nicht nur sachlich an der Mischna, sondern nehmen auch unmittelbar auf ihren Wortlaut Bezug, so daß die Gemara formal als Mischnakommentar erscheint. Inhaltlich sprengt sie aber sehr oft die Gattung des Kommentars. Sie entfernt sich zum Teil so weit von der zugrunde gelegten Mischna, daß gar kein Zusammenhang mehr erkennbar ist. Der Grund dafür ist zum einen die starke Eigendynamik der in der Gemara enthaltenen Diskussionen, die oft so weit über die Entscheidungen und Themen der Mischna hinausführen, daß eine abschließende Rückbindung an deren Wortlaut nicht mehr vorgenommen wird. Z u m anderen wurden zum Teil sehr umfangreiche Textsammlungen in die Gemara aufgenommen, die unabhängig von der Mischna entstanden waren und deren sachlicher Bezug zu ihr von Anfang an gering war. Die Bezeichnung der Gemara als Mischnakommentar trifft daher nur beschränkt zu. Eher ist sie eine Art Anthologie zur Mischna, die Texte unterschiedlicher Gattungen einschließt. 1.4. Quellen. Neben der Mischna setzt die Gemara beider Talmudim eine größere Zahl weiterer Quellen aus tannaitischer Zeit ( 1 . - 2 . Jh. n.Chr.) voraus. Die meisten Zitate aus diesen Quellen, üblicherweise als Baraitot „außerhalb (der Mischna) befindliche" bezeichnet, sind anonym überliefert; ein (geringerer) Teil wird auf Baraita-Sammlungen aus den Schulen einzelner Tannaiten zurückgeführt. Nicht in allen Fällen ist gesichert, daß diese Zitate tatsächlich aus tannaitischen Quellen stammen, insbesondere

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Talmud

dann nicht, wenn sie an anderen Stellen im Namen amoräischer Tradenten (nach 200) mitgeteilt werden. Die tatsächliche Herkunft der Baraitot ist daher im Einzelfall schwer zu bestimmen, zumal die verarbeiteten Quellen in den meisten Fällen nur noch innerhalb der Talmudim fragmentarisch erhalten sind — sie wurden nicht separat weitertradiert und sind als eigene Schriftwerke verlorengegangen. Neben den Rechtskompilationen verschiedener rabbinischer Schulen handelte es sich vor allem um exegetische oder homiletische Kommentare zur Schrift im Stil des Midrasch und um Sammlungen von Legenden, Sentenzen und Gleichnissen, die nach unterschiedlichen sachlichen, formalen oder mnemotechnischen Prinzipien zusammengestellt worden waren. Die offene, im Prinzip unbegrenzt erweiterungsfähige Form eines „Kommentars" zur Mischna hat es ermöglicht, d a ß solche Quellen von der Gemara in großem Umfang rezipiert werden konnten. Durch ihre Zusammenstellung mit Sätzen der Mischna, manchmal unter Verwendung spezifischer Einleitungsformeln (tanja „es ist gelehrt w o r d e n " oder tanu rabbanan „unsere Meister lehrten"), wird den Baraitot in der Gemara eine der Mischna vergleichbare Autorität zugemessen. Die palästinische und die babylonische Gemara bieten u.a. tannaitische und amoräische Materialien, die sich auch in den midraschischen Sammelwerken Palästinas und in der -»Tosefta finden. Die zum Teil erheblichen textlichen Abweichungen der Parallelen erklären sich aus der starken Fluktuation der Textüberlieferung dieser Werke, deren Redaktionsprozesse zum Teil parallel zu denen der Talmudim verliefen. Die im Vergleich zum Jeruschalmi wesentlich umfangreichere Rezeption midraschischer Quellen in der babylonischen Gemara erklärt sich daraus, daß der Midrasch in Babylonien von Anfang an in die Gemara integriert wurde; eigene Midraschwerke sind dort, im Unterschied zu Palästina, erst viel später entstanden. In jeweils unterschiedlichem Maße haben die Talmudredaktionen in Palästina und in Babylonien bestimmten häretisch erscheinenden Traditionen ihre Anerkennung als autoritative Quellen dadurch verweigert, daß sie sie nicht in die Gemara aufnahmen. Die fortschreitende Erforschung der zeitlich wahrscheinlich parallel zur Gemara entstandenen, jedoch nicht in die Talmudim integrierten Literaturen läßt vermuten, daß es sich dabei u.a. um jüdisch-gnostische und magische Texte gehandelt hat. Eine selbstverständliche Quelle der talmudischen Überlieferung ist die hebräische Bibel. Die Diskussionen der Gemara sind darum bemüht, den inneren Zusammenhang der Schrift sowie die Verbindung der Mischna mit der Schrift herauszustellen. So finden sich zu vielen Sätzen der Mischna begründende Schriftzitate. Zugleich wird die Schrift als grundlegender Bestandteil der rabbinischen Tradition aufgefaßt, in deren Rahmen sich ihre Bedeutungsfülle erst aktuell erschließt. Indem die Talmudim innerhalb sachlich übergreifender Zusammenhänge Schriftverse zur Unterstützung rabbinischer Lehrmeinungen heranziehen, interpretieren sie auch die Schrift jeweils von diesen Zusammenhängen her. Hierzu haben die Rabbinen eine eigene Hermeneutik entwickelt. Insbesondere dienen Schriftzitate dazu, theoretisch zwar möglichen, jedoch nicht für richtig gehaltenen halachischen Argumentationen (jachol... „man könnte meinen") begründet entgegenzutreten. Die Bedeutung des Schriftzitats, eingeleitet durch die charakteristische Formel talmud lomar (sinngemäß: „folgender Wortlaut der Schrift ist in diesem Fall maßgeblich..."), erschließt sich dabei wiederum aus dem Kontext der talmudischen Diskussion. 1.5. Sprache. Die Sprache des Jeruschalmi schwankt, entsprechend dem Alter und der Herkunft der in ihm verarbeiteten Traditionen, zwischen Mischna-Hebräisch und galiläischem Aramäisch, wobei letzteres in den meisten Handschriften dem Aramäischen des babylonischen Talmud leicht angeglichen wurde. Zahlreiche griechische Fremd- und Lehnwörter in den verschiedenen Sprachschichten zeugen von dem überragenden kulturellen Einfluß des Hellenismus auf die rabbinische Tradition in Palästina. Vereinzelt finden sich auch persische und lateinische Entlehnungen. Die in babylonischem Ära-

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maisch verfaßte Gemara des Bavli weist sehr viel weniger griechische und statt dessen eine größere Zahl persischer Fremd- und Lehnwörter auf. 2. Der palästinische Talmud

(jeruschalmi)

2.1. Handschriften und Editionen. Die ältesten handschriftlichen Textzeugen finden sich unter den (zum Teil noch nicht edierten) Handschriftenfragmenten aus der Kairoer Genisa. Die Fragmente unterscheiden sich vom Text der meisten anderen Handschriften dadurch, daß sie weniger stark von der Sprache des babylonischen Talmud beeinflußt sind. Ihre Datierung schwankt von Fall zu Fall (grober Zeitrahmen: 9.-12. Jh.). Die älteste zusammenhängende, aber unvollständige Handschrift von Teilen des Jeruschalmi ist Ms. Vatikan Ebr. 133 aus dem 13. oder ausgehenden 12. Jh. Eine Reihe von Handschriftenfragmenten, die in Darmstadt, München und Trier aus Einbandverstärkungen lateinischer Codices abgelöst wurden, scheinen zu den verlorengegangenen Teilen der Vatikanhandschrift zu gehören. Weitere Einbandfragmente des Jeruschalmi wurden in den letzten Jahren in verschiedenen italienischen Bibliotheken entdeckt. Zum Traktat Scheqalim, der im Talmud Bavli fehlt, wird die palästinische Gemara (mit zum Teil starken Abweichungen) auch in der Bavli-Handschrift München 95 und in der BombergEdition des Bavli (s.u. 3.1.) überliefert. Im übrigen sind zu Scheqalim, zur Ordnung Sera'im und zu den Bavot-Traktaten des Jeruschalmi einige textgeschichtlich bedeutsame Handschriften aus dem 15. und 16. Jh. bekannt. Die umfassendste Jeruschalmi-Handschrift ist aber das aus Italien stammende, im Jahre 1289 geschriebene Mi. Leiden Or. 4720. Nach einer Bearbeitung durch mehrere Glossatoren diente diese Handschrift als Druckvorlage des Jeruschalmi-Erstdrucks Venedig (Bömberg) 1523, auf dem wiederum der Druck Krakau 1609 basiert. Bisher konnte kein Textzeuge gefunden werden, der über die in Ms. Leiden gebotenen Traktate hinaus weitere enthielte - Ms. Leiden ist also die vollständigste, wenngleich nicht vollständige Jeruschalmi-Handschrift. Sie und mit ihr die Drucke umfassen neben den ersten drei Kapiteln des Traktats Nidda aus der Ordnung Toharot alle Traktate der ersten vier Ordnungen der Mischna mit Ausnahme von Avot und Edujot. Es fehlen Kap. 11-14 des Traktats Schabbat und Kap. 3 des Traktats Makkot. Die fünfte Ordnung, Qodaschim, ist gar nicht vertreten. Verschiedentlich wurde der Versuch unternommen, aufgrund von vermuteten Parallelüberlieferungen innerhalb und außerhalb des Jeruschalmi fehlende Teile der palästinischen Gemara zu rekonstruieren. Solange allerdings kein einziges Handschriftenfragment gefunden wird, das tatsächlich Text aus einem der fehlenden Traktate bezeugt, muß es als unwahrscheinlich gelten, daß sie jemals existiert haben. Weniger spekulativ erscheint ein späterer Textverlust im Falle der fehlenden Kapitel innerhalb der Traktate Schabbat und Nidda, nachdem eine von S. Lieberman vorgelegte Rekonstruktion von Makkot 3 aufgrund mittelalterlicher Zitate und vorhandener Jeruschalmi-Parallelen durch den Fund eines Einbandfragments zu diesem Kapitel weitgehend bestätigt wurde. Die heute vorwiegend genutzte Ausgabe des Jerusalemer Talmud ist Editio Krotoschin aus dem Jahre 1866. Ihre Folio-Paginierung und Halacha-Zählung hat sich in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur durchgesetzt. Die Ausgabe basiert auf Editio Krakau 1609, weist aber ihr gegenüber einige Veränderungen (auch zusätzliche Fehler) auf. Weiterhin sind die Ausgaben Schitomir 1860-1867 (5 Bde. mit Kommentaren) und Wilna {Romm) 1922 (7 Bde. mit Kommentaren) in Gebrauch. Seit 1991 erscheint in Tübingen eine synoptische Edition der wichtigsten Handschriften und Drucke des Jeruschalmi, mit deren Abschluß in Kürze erstmals eine zuverlässige Arbeitsgrundlage für die wissenschaftliche Erforschung dieses Talmud zur Verfügung stehen wird. 2.2. Kommentare und Übersetzungen. Die ersten zusammenhängenden Kommentare zu einem Jeruschalmi-Traktat (Scheqalim) stammen aus dem 13. Jh. und werden R. Meschullam (Provence) und einem Schüler des R. Schmu'el ben R. Schne'ur (Evreux)

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Talmud

zugeschrieben. Schlomo Sirillo (Spanien, Mitte 16. Jh.) hat als erster die gesamte Ordnung Sera'im und den Traktat Scheqalim kommentiert. Unter den weiteren Kommentatoren von Teilen des Jeruschalmi sind vor allem Schmuel Jaffe Aschkenasi und Jehoschua Benveniste (16. bzw. 17. Jh., beide aus Konstantinopel) sowie Elijahu ben Low aus Fulda (gest. um 1720) zu nennen. Die meistbenutzten, in der Wilna-Edition abgedruckten Kommentare zum gesamten Talmud sind Qorbart ha-Eda von David Frankel (Berlin, gest. 1762) und Pne Mosche von Mosche Margolies (Litauen, gest. 1780). Die erste Teilübersetzung des Jeruschalmi (20 Traktate; Latein) stammt von Biagio Ugolini (Venedig 1755-1765). Eine (nicht immer zuverlässige) Übersetzung des gesamten Talmud ins Französische hat Moise Schwab vorgelegt (Paris 1871-1889). August Wünsche hat die haggadischen Stücke des Jeruschalmi ins Deutsche übertragen (Zürich 1880). Die einzige vollständige Übersetzung ins Englische stammt von Jacob Neusner und seinen Schülern (Chicago 1982-1994). Sie ist schon im Titel (The Talmud of the Land of Israel. A Preliminary Translation and Explanation) als vorläufig bezeichnet und entspricht nur in einzelnen Bänden der Ordnungen Sera'im und Mo'ed wissenschaftlichen Maßstäben. Die zuverlässigste Übersetzung in eine europäische Sprache ist die noch unvollendete, von Martin Hengel, Peter Schäfer u.a. herausgegebene Reihe Übersetzung des Talmud Jeruschalmi (bisher 24 Traktate, Tübingen 1983 ff.). 2.3. Inhalt. Die überlieferten Teile der palästinischen Gemara setzen sich aus tannaitischem und amoräischem Material zusammen, dem Lehrstoff zahlreicher Schulen und Gelehrter aus vier Jahrhunderten, Texten verschiedenster literarischer Gattungen. Sie enthalten viele Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche, die nur zum Teil harmonisiert bzw. gelöst werden. Inhaltlich handelt es sich weit überwiegend um ->Halacha; der Anteil der -»Haggada ist wesentlich geringer als im babylonischen Talmud. War es das Hauptanliegen der Rabbinen in tannaitischer Zeit, die Lehre der schriftgelehrten Kreise der Zeit vor 70 n. Chr. zu sammeln und zu ordnen und auf ihrer Grundlage ein neues Selbstverständnis nach dem Verlust des Tempels zu begründen, so tritt nun, in der Gemara, die Aufgabe in den Vordergrund, die Halacha in Anknüpfung an diese Traditionen und an die hebräische Bibel weiterzuentwickeln. Dieses Bemühen geht zum Teil auf aktuelle Erfordernisse der Rechtsprechung und des religiösen Lebens zurück. So ist es kein Zufall, daß der Jeruschalmi die mit dem Land Israel verbundenen halachischen Fragen (vor allem die in der Ordnung Sera'im behandelten agrarischen Abgaben) ausführlich diskutiert, während der babylonische Talmud zu den entsprechenden Traktaten keine Gemara bietet. Immer wieder geht aber die Diskussion über das aktuell Anwendbare hinaus und befaßt sich mit der Überlieferung um ihrer selbst willen, d.h. - in rabbinischer Redeweise - um der „Beschäftigung mit der T o r a " willen, der ein erheblicher Eigenwert beigemessen wird. Nicht nur in der Art und Weise oder dem Inhalt der einzelnen halachischen Erörterung, sondern gerade auch darin zeigt sich die religiöse Dimension der Lehre, der sich die palästinischen Rabbinen verpflichtet sahen. 2.4. Redaktionskritik und Datierung. Im vorhandenen Textbestand des Jerusalemer Talmud gibt es zahlreiche Wiederholungen teils langer Textpassagen in verschiedenen Traktaten („Parallelversionen"). Außerdem fallen viele inhaltliche Widersprüche auf, oft auch innerhalb ein- und desselben Traktats oder sogar Abschnitts. Darüber hinaus unterscheidet sich die Gemara zu den drei Bavot-Traktaten durch ihren geringen Umfang, ihren besonderen Stil und die in ihnen vorkommenden Rabbinen erheblich vom übrigen Talmud. Diese Beobachtungen lassen darauf schließen, daß eine planvolle, alle Teile umfassende Endredaktion des palästinischen Talmud nicht stattgefunden hat. Vielmehr ist es angemessener, von einem langen, sich über viele Generationen erstreckenden Redaktionsprozeß zu sprechen, der sich bis in die mittelalterlichen Handschriften hinein verfolgen läßt. Der Vorgang der fortschreitenden Redaktion der Gemara ist in der Forschung mit dem Begriff der „ M o n t a g e " treffend beschrieben worden (Gerd A. Wewers). Jedem

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Mischnaabschnitt wurde eine Reihe bereits geformt vorgefundener Traditionseinheiten zugeordnet, die zum Teil bereits nach eigenen, nicht am Text der Mischna orientierten Kriterien zusammengestellt worden waren. Widersprüche innerhalb der Gemara gehen zum größten Teil auf die übergangslose Aneinanderreihung solcher Texte verschiedener Herkunft zurück. Viele primär zu einer bestimmten Mischnastelle „montierten" Traditionsblöcke wurden im Verlauf der Gemara-Kompilation als ganze auch anderen Abschnitten zugeordnet. Im Verlauf der handschriftlichen Tradierung hat man die so entstandenen Doppelüberlieferungen zum Teil am primären Ort durch Querverweise ersetzt, die betreffenden Texte aber im sekundären Kontext verändert. Später wurden solche Stücke in nunmehr redaktionell bearbeiteter Form an ihren primären Ort zurückkopiert, allerdings nicht unbedingt an die richtige Stelle. Auf diese Weise entstanden Verständnisschwierigkeiten, die spätere Redaktoren und Kopisten wiederum durch Textbearbeitung ausräumen wollten. Solche Eingriffe in den Text haben den ursprünglichen Sinn mancher Perikopen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Sonderfall der Bavot-Traktate weist auf eine „andere", von der des übrigen Jeruschalmi abweichenden Art der Redaktion. Die hierzu von S. Lieberman aufgestellte These, diese Traktate seien früher als die anderen und an einem anderen Ort, nämlich in Caesarea statt in Tiberias, redigiert worden, wird heute fast nur noch in ihrem ersten Teil vertreten: Caesarea als Ort der Bavot-Redaktion ist nicht nachweisbar. Andererseits kann als gesichert gelten, daß die Akademie in Tiberias bei der Redaktion des übrigen Jeruschalmi eine wesentliche Rolle gespielt hat. Häufig bezieht sich die Gemara mit dem Wort „hier" auf Tiberias, zumeist im Gegenüber zu Caesarea oder zu den Rabbinen „aus dem Süden" (Lod?). Auch die Rabbinennamen der jüngeren Textschichten verweisen auf Tiberias und auf eine Zeit, zu der die dortige Akademie in Blüte stand, nämlich um 400 n.Chr. Dieses ungefähre Datum scheint demnach eine besonders intensive Phase der Kompilations- und Redaktionsarbeit am palästinischen Talmud zu bezeichnen. Der Redaktionsprozeß ging aber weiter, auch wenn er kaum noch zu neuen Schichten der halachischen Diskussion führte, sondern vorrangig die Art der Textorganisation, Texterweiterungen aus anderen Quellen und weitergehende Bearbeitung des vorhandenen Textmaterials betraf. 3. Der babylonische

Talmud

(Bavli)

3.1. Handschriften und Editionen. Vom babylonischen Talmud gibt es, wie vom Jeruschalmi, nur eine einzige (fast) vollständige Handschrift, Ms. München 95 (geschrieben 1342 in Paris), darüber hinaus aber zahlreiche Manuskripte, die nur fragmentarisch erhalten sind oder von Anfang an nur einzelne Traktate umfaßten. Auch zum Bavli bietet die Kairoer Genisa die ältesten Fragmente; sie sind noch längst nicht alle ediert und textkritisch ausgewertet worden. Die ersten umfangreicheren Handschriften stammen aus dem 12. Jh. Unter den sicher datierten sind besonders Ms. Oxford 2673 (aus dem Jahre 1123), Ms. Florenz III 7-9 (1177) und Ms. Hamburg 165 (1184) zu nennen. Weitere Handschriften aus dem 12.-16. Jh. befinden sich im Vatikan, in St. Petersburg, New York, Göttingen, Karlsruhe und London. Die babylonische Gemara, wie sie durch die Handschriften bezeugt wird, umfaßt die Ordnungen Mo'ed (außer Scheqalim), Naschim (vollständig), Nesiqin (außer Eduyot und Avot) und Qodaschim (außer Middot, Qinnim und Kap. 3; 5—7 von Tamid); aus der Ordnung Sera'im nur den Traktat Berachot, aus Toharot nur Nidda. Die für die Diasporasituation irrelevanten Traktate, insbesondere die an das Land Israel gebundenen Halachot der Ordnung Sera'im und die auf den Tempelkult bezogenen Reinheitsvorschriften der Ordnung Toharot, sind wohl in Babylonien nie so konsequent wie die übrigen Traktate studiert und kommentiert worden. Die Ordnung Qodaschim mit ihren Bestimmungen zu den Tempelopfern hingegen wurde bearbeitet - vielleicht, weil man der Auffassung war, daß ihr Studium den Opferdienst selbst ersetzen konnte (bMen 110a). Der erste vollständige Druck der vorhandenen Teile des Bavli wurde 1520-1523

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von Daniel Bomberg in Venedig besorgt. Zuvor waren bereits zahlreiche Traktate in Spanien (um 1480), Marokko (1516-1521) und Italien (Soncino, 1484-1519) gedruckt worden. Maßgeblich für alle kommenden Editionen war aber der Text der BombergAusgabe, und zwar bis hin zur Textanordnung von Mischna und Gemara, Raschi-Kommentar und Tosafot (s.u. 3.2.). Die in Venedig vorgenommene Seitenaufteilung und die mit ihr verbundene Foliozählung blieben für alle späteren traditionellen Drucke verbindlich. Das gilt auch für die heute meist verwendete, in zahlreichen Nachdrucken immer wieder ergänzte Edition Wilna (Komm) 1880-1886. Diese Ausgabe enthielt neben einer Reihe zumeist mittelalterlicher Kommentare erstmals auch die sog. „außerkanonischen" Traktate. Zu Unrecht erscheinen sie seither als Teil des Bavli; in Wirklichkeit handelt es sich um eigenständige, von der Mischna unabhängige Werke, die in ihrem Grundbestand zumeist palästinisch-tannaitischer Herkunft sind. Die wichtigsten modernen Bavli-Editionen haben sich vom Schriftbild des BömbergDrucks zugunsten zusätzlicher Kommentare bzw. eines kritischen Apparats gelöst. A. Steinsaltz gibt seit 1967 einen vokalisierten Bavli-Text mit neuhebräischem Kurzkommentar und weiteren Hilfen (Varianten, Parallelen, Realia) heraus. Bisher sind 35 Traktate erschienen. 1972 wurde vom Institute for the Complete Israeli Talmud in Jerusalem eine kritische Edition mit umfangreichen Apparaten begonnen. Traditionalistisch wirkt hier die Entscheidung, nicht die Münchner Handschrift, sondern den Text der Ausgabe Wilna als Basistext zugrunde zu legen. Bisher sind viereinhalb Traktate (in elf Bänden) erschienen. 3.2. Kommentare und Übersetzungen. Der einflußreichste Kommentar zum Bavli sind die knappen Erläuterungen schwieriger Stellen und Begriffe durch Raschi (R. -»Salomo ben Isaak aus Troyes, Anfang 12. Jh.; von seinen Schülern vollendet). Es waren vor allem drei Enkel und ein Neffe Raschis, die seinen Kommentar durch Exkurse zu einzelnen Problemkreisen ergänzten und so den Grundbestand der Tosafot („Zusätze") schufen, die ebenfalls (jeweils am äußeren Rand) in der Bomberg-Edition erscheinen. Raschi und den Tosafot gingen Kommentare der babylonischen Schulhäupter zu einzelnen Teilen des Bavli schon im 10. Jh. voran (sie sind heute nur noch in mittelalterlichen Zitaten erhalten). Zu Beginn des 11. Jh. entstanden in dem zu dieser Zeit bedeutenden jüdischen Zentrum Kairouan in Nordafrika die Kommentare von Chanan'el ben Chuschi'el (zu großen Teilen des Bavli) und Nissim ben Ja'aqov (zu drei Traktaten), die zum Teil den Jeruschalmi zur Erklärung heranziehen. Die Schüler des Gerschom ben Jehuda aus Mainz gaben zur selben Zeit die Erklärungen ihres Meisters zu neun BavliTraktaten heraus. Diesen ältesten Kommentaren, die in der Wilna-Ausgabe des Bavli abgedruckt sind, folgten zahlreiche weitere, meist unter dem Titel Chidduschim („Neuerungen") zusammengefaßte Erklärungen zu einzelnen Perikopen und Problemen des Talmud, Kompendien älterer Auslegungen und weitere Kommentare, die zum Teil ebenfalls bereits in der Ausgabe Wilna erscheinen oder deren Nachdrucken und Neuauflagen beigegeben sind. Ein umfassender moderner Kommentar zum Bavli steht noch aus, wenn man von der Kommentierung zahlreicher einzelner Stellen durch R. Rabbinovicz und den quellenkritischen Analysen D. Halivnis einmal absieht. Vollständig übersetzt wurde der babylonische Talmud bisher nur ins Deutsche (von Lazarus Goldschmidt, Haag 1897-1935) und Englische (ed. Isidor Epstein, London 1935-1952; Jacob Neusner, Atlanta, Ga. 1994-1996). Darüber hinaus sind seit dem 18. Jh. zahlreiche Einzeltraktate u.a. ins Lateinische, Italienische, Spanische, Arabische und Neuhebräische übersetzt worden. Im allgemeinen steigt die Nützlichkeit der Übersetzungen mit dem Umfang ihrer Annotierung. Besonders hilfreich für Nicht-Spezialisten ist die in einen Kurzkommentar integrierte neuhebräische Übersetzung der aramäischen Teile des Bavli in der Talmudausgabe von A. Steinsaltz. 3.3. Inhalt. Der Talmud Bavli ist treffend als eine Enzyklopädie, eine im Aufbau an der Mischna orientierte „Nationalbibliothek des babylonischen Judentums" (Günter

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Stemberger) bezeichnet worden. Er bietet nicht nur eingehende halachische Diskussionen, anknüpfend an den Wortlaut der Mischna (die hier viel vorsichtiger als im Jeruschalmi, als unantastbarer, „kanonischer" Text behandelt wird), sondern auch weit über die Mischna hinausgehende Darlegungen des gesamten Wissens der Gelehrten auf verschiedensten Gebieten, darunter Astronomie, Medizin und Mathematik. Darüber hinaus enthält der Bavli eine große Zahl volkstümlicher Erzählungen, Legenden und Anekdoten. Da außerdem die ganze verfügbare Midrasch-Tradition in diesen Talmud integriert wurde (z. B. ein umfangreicher Midrasch zum Estherbuch im Traktat Megilla 10b-17a), ist der Bavli nicht nur sehr viel umfangreicher als der Jeruschalmi, sondern weist auch einen wesentlich größeren Anteil der Haggada am Gesamtstoff auf (etwa zwei Drittel; im Jeruschalmi nur etwa ein Sechstel). Die babylonische Gemara erscheint im Vergleich zur palästinischen insgesamt sehr viel stärker durchdacht und redigiert. Wo die Uberlieferung unverständlich erscheint, wird sie zumeist noch im Rahmen der Gemara problematisiert und diskutiert. Mögliche Widersprüche zwischen Traditionen verschiedener Herkunft werden als solche aufgedeckt, wenn nicht harmonisiert. Der Bavli kommentiert sich in großem Maße selbst. 3.4. Redaktionskritik und Datierung. Uber die Frage, ob der Bavli ein in seiner Gesamtheit geplantes und komponiertes und in diesem Sinne einheitliches Werk ist oder ob er über einen längeren Zeitraum ohne planvolle Redaktion kompiliert wurde, besteht Dissens. Unübersehbar ist die Vielschichtigkeit der verarbeiteten Überlieferung: In der babylonischen Gemara wurden unterschiedlichste Materialien aus verschiedenen Quellen und Zeiten zusammengefaßt. Unausgewogene Proportionen, divergierende Parallelperikopen, inhaltliche Differenzen zwischen einzelnen Traktaten oder sogar innerhalb eines Traktats sind oft beobachtet worden. Die Traktate Nedarim, Nasir, Me'ila, Keritot und Tamid fallen durch ausgeprägte terminologische und grammatikalische Besonderheiten aus dem Rahmen, so daß angenommen wurde, sie seien in Pumbedita redigiert worden, während die übrigen Traktate nach traditioneller (aber unzureichend begründeter!) Auffassung im 5. Jh. von Rav Aschi in Sura herausgegeben wurden. Heute geht man meist von einer relativ früheren Entstehung dieser Traktate aus. Ihre Überlieferung in Handschriften und Drucken zeigt, daß sie später immer mehr an den Stil des übrigen Bavli angepaßt wurden. Hierin zeigt sich eine Tendenz des gesamten redaktionellen Prozesses dieses Talmud: die einer zunehmenden, wenn auch nicht konsequent durchgeführten Angleichung und Vereinheitlichung. Setzte sich der Bavli zunächst aus unabhängig voneinander entstandenen Traditionselementen, Vorstufen und Einzeltraktaten zusammen, so ist er doch im Verlauf eines langen Redaktionsprozesses schließlich zu einem relativ geschlossenen Werk geworden. Der Bavli ist also ein redigiertes Sammelwerk, wobei jedoch sachgemäß von verschiedenen Stadien der Redaktion, nicht von einer einheitlichen Endredaktion gesprochen werden muß. Eine entscheidend wichtige Phase des Redaktionsprozesses war die Arbeit der Saboräer (von sbr „überlegen, meinen"), d.h. jener anonymen babylonischen Gelehrten, die im 6. und 7. Jh. auf die in der Gemara zitierten Amoräer folgten. Ihr Beitrag wird in der neueren Forschung immer stärker gewichtet. Zum Teil läßt noch der Vergleich verschiedener Handschriften erkennen, wie die Saboräer durch wichtige Änderungen und Ergänzungen (besonders zu Beginn der Traktate und Kapitel) entscheidend zu einer größeren formalen Einheitlichkeit des Bavli beigetragen haben. Weitere Zusätze gehen auf die den Saboräern im 8. Jh. folgenden Ge'onim, Schulhäupter der Akademien in Sura und Pumbedita, zurück. Noch auf der Grundlage von Raschis Kommentar wurde die Gemara um erklärende Glossen erweitert. So setzte sich die Redaktion des Bavli in den verschiedenen jüdischen Zentren fort, bis die weite Verbreitung des Bömberg-Drucks für eine relative Textfixierung sorgte (die allerdings weitere Veränderungen in den nachfolgenden Drucken nicht ausschloß!). Da von einem Urtext oder einer Endredaktion des babylonischen Talmud aufgrund der dargestellten Entwicklung nicht die Rede sein

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kann, ist die Text- und Literarkritik vor die Frage gestellt, welches Stadium des Textes sie rekonstruieren will. Angemessener erscheinen, wie auch im Falle des Jeruschalmi, quellen- und redaktionskritische Untersuchungen, die nicht einen bestimmten Zustand des Textes wiederherstellen, sondern den Prozeß seiner Entstehung beschreiben wollen. 4.

Wirkungsgeschicbte

Im 8. Jh. gelang es den babylonischen Rabbinen, ihre Position in der Auseinandersetzung mit den —»Karäern, die die talmudische Uberlieferung nicht anerkannten, zu festigen. Zugleich trugen sie ihre Gemara nach Palästina, Ägypten und Nordafrika. Dabei diente das Argument, die Redaktoren des Bavli hätten den Jeruschalmi gekannt, dazu, die letztgültige Autorität des Bavli zu unterstreichen. In Wirklichkeit hat zwar der Bavli eine große Zahl palästinischer Traditionen aufgenommen, den Jeruschalmi aber nicht als geschlossenes Werk verwendet. Die gegenseitigen Einflüsse der beiden rabbinischen Zentren erklären sich vielmehr auf dem Hintergrund der regen wechselseitigen Beziehungen in amoräischer Zeit. Insbesondere trugen die Reisen babylonischer Gelehrter zum Austausch bei - von einigen wissen wir, daß sie sich längere Zeit zum Studium in Palästina aufgehalten haben. Entscheidend für den Sieg des Bavli über die bis dahin im Westen verbreitete palästinische Tradition war, daß er sich in den einflußreichen Akademien des nordafrikanischen Kairouan durchsetzte. Der dort ausgebildete Jizchaq ben Ja'aqov Alfasi, Autor des ersten auf dem Bavli basierenden Gesetzeskodex [Sefer ha-Halachot), verbreitete im 11. Jh. die babylonische Lehre in Spanien. Von dort gelangte sie nach Frankreich und Deutschland, wo ihre Autorität im Gegenüber zum Jeruschalmi nie in Frage stand. Der Bavli wurde zum Inbegriff der rabbinischen Lehre in der gesamten jüdischen Welt und zur maßgeblichen Entscheidungsgrundlage in allen Fragen der Halacha. Der Jeruschalmi dagegen wurde zum Spezialgebiet besonders gelehrter Rabbiner, die ihn dort heranzogen, wo der Bavli schwieg. Die Wirkungsgeschichte des babylonischen Talmud stand in der Folge mit dem Fortgang der jüdischen Geschichte in engstem Zusammenhang. Zum einen prägte er das Leben und die Organisationsformen der mittelalterlichen jüdischen Gemeinden, zum anderen richteten sich die Angriffe auf das Judentum vor allem gegen den Talmud. Im Abendland wurde er seit dem 13. Jh. als neben der Bibel stehende „Geheimlehre" der Juden für ihre „Hartnäckigkeit" gegenüber der christlichen Verkündigung verantwortlich gemacht. Dies führte zu Schmähungen, Zwangsdisputationen (1240 Paris; 1263 Barcelona; 1413-1414 Tortosa; Religionsgespräche III), Konfiszierungen hebräischer Handschriften und Talmudverbrennungen zunächst in Frankreich, dann auch in Spanien und Rom. Einen Höhepunkt erreichten die gegen den Talmud gerichteten Maßnahmen im Italien des 16. Jh. Ein Verbot des Talmuddrucks konnte nur durch den Verzicht auf den Titel „Talmud" und die Beseitigung angeblich gegen das Christentum gerichteter Stellen verhindert werden. Ein Beispiel für die auferlegte jüdische Selbstzensur ist die verstümmelte Basler Talmudausgabe (1578-1580), die neben zahlreichen Einzelpassagen den gesamten Traktat Avoda Sara („Götzendienst") ausläßt, den man als antichristliche Polemik wertete. Nach der Zerstörung der jüdischen Zentren Frankreichs und Deutschlands im Gefolge der ->• Kreuzzüge und der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal verlagerte sich der Schwerpunkt jüdischen Lebens und talmudischer Gelehrsamkeit langsam nach Osteuropa. Besonders in Polen-Litauen entstanden im 16. Jh. blühende Talmudschulen (u.a. Krakau, Lublin und Lemberg). Im 17. und vor allem im 18. Jh. entwickelte sich Wilna zu einem weit ausstrahlenden Zentrum der Talmudgelehrsamkeit. Seit dem 18. Jh. sahen sich die traditionellen Akademien mit den konkurrierenden innerjüdischen Bewegungen des Sabbatianismus (->Sabbatai Zwi/Sabbatianer), des —•Chasidismus und der beginnenden jüdischen Aufklärung konfrontiert, die, jede auf ihre Weise, die Autorität des Talmud in Frage stellten. Der Versuch, diese Bewegungen zu unterdrücken,

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führte letztlich nicht zum Erfolg. Während jedoch der Chasidismus im Laufe seiner Entwicklung dem Talmud, neben den kabbalistischen Schriften ( - » K a b b a l a ) , wieder einen recht hohen Stellenwert zuerkannte, führte die jüdische Aufklärung zu einer Relativierung seiner religiösen Bedeutung und, im Rahmen der Ende des 19. J h . entstandenen „Wissenschaft des Judentums", zu einer geschichtlichen Betrachtungsweise. Heute ist der babylonische Talmud in je verschiedenen Kreisen des Judentums als Gegenstand religiösen Lernens und als wichtiger Teil des kulturellen Erbes lebendig. Der Jerusalemer Talmud hat durch die Einwanderung nach Palästina im 20. J h . wieder an Bedeutung gewonnen. Beide Talmudim sind Gegenstand intensiver historischer und literaturkritischer Forschungsarbeit jüdischer und nicht-jüdischer Wissenschaftler. Literatur (Auswahl) Übergreifendes: Baruch M. Bokser, Talmudic Studies: Shaye J.D. Cohen/Edward L. 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636

Tanach

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Hans-Jürgen Becker

Tanach 1. Begriff 2. Entstehung 3. Unterschiedlicher Rang Einheit der Schrift (Literatur S. 638)

4. Propheten und Ketuvim

5. Die

1. Begriff Das Akrostichon T N " K ist relativ jung; es ist aus den Anfangsbuchstaben der drei Teile der hebräischen Bibel gebildet: Tora — Neviim — Ketuvim. Es bezeichnet zusammenfassend die Gesamtheit der Heiligen -»Schrift (der Tora im umfassenderen Wortsinn). Heute dient der Begriff vielfach auch zur klaren Unterscheidung von der christlichen (zweigeteilten) „Bibel", vom „Alten Testament", aber auch vom umfangreicheren Kanon der Septuaginta. Die in der Abkürzung enthaltene Gliederung weicht von jener der Septuaginta ab, deren drei Gruppen (a) gesetzliche und geschichtliche Bücher, (b) poetische und weisheitliche Bücher, (c) prophetische Bücher nach literarischen Kriterien geordnet sind und auch die späteren Anordnungen christlicher Bibelausgaben bestimmt haben. Gliederungen einer Schrift sind selten rein praktische Maßnahmen, sondern sagen meist auch etwas zum Verständnis der Schrift aus, wie auch hier deutlich ist - besonders in der Abgrenzung der Einheit „Propheten", aber auch im Eintrag des Begriffs „Geschichte" mit seinen Auswirkungen auf das „kritische" Verständnis der Bibel. 2.

Entstehung

Die im Begriff Tanach vorausgesetzte Gliederung spiegelt das historische Wachsen des „Kanons" heiliger Schriften im Judentum Palästinas. Die fünf Bücher der Tora, der Kern der göttlichen Offenbarung, waren als solche schon sehr früh unbestritten, wie auch ihre Anerkennung bei den -»Samaritanern und ihre frühe Ubersetzung ins Griechische zeigt. Meist nimmt man an, daß noch vor der Makkabäerzeit die Gruppe der Propheten hinzukam, was die Nichtaufnahme Daniels in diese Abteilung erkläre. Doch Texte wie 4Q174 1,4 und M t 24,15 zeigen, daß auch Daniel manchmal als Prophet gezählt wurde; auch sonst (Psalmen!) war diese Gruppe noch länger umfassender als in der späteren Abgrenzung. Im einzelnen noch in frührabbinischer Zeit umstritten, wenn auch im ganzen schon im 1. Jh. feststehend, sind als letzte Gruppe Texte hinzugekommen, die mit dem Sammelbegriff „ S c h r i f t e n " zusammengefaßt werden. Die frühere Zweiteilung der Schrift in Gesetz und Propheten ist z. B. in 1QS 1,3 und CD 7,15—17, aber auch noch in M t 7,12 belegt; eine Dreiteilung findet sich etwa im Prolog des Jesus -»•Sirach (Gesetz, Propheten und die übrigen Schriften), bei -»Philo über die Therapeuten (VitCont 25: Gesetz, Propheten und Hymnen), in Qumran ( 4 Q M M T C 10: „das Buch Mose, die Bücher der Propheten und David") und noch in Lk 24,44. Die Belege zeigen, wie langsam und eingeschränkt sich die Dreiteilung durchsetzt. Sogar Josephus (Ap 1,39-41), dessen 22 biblische Bücher wohl den 24 der hebräischen Bibel entsprechen, hat mit 13 prophetischen Büchern und vier übrigen Büchern mit Hymnen und Lebensweisheiten eindeutig noch nicht die Einteilung, die bei den Rabbinen üblich wurde. Er muß eine ganze Reihe von Büchern, die die Rabbinen zu den „Schriften" rechneten, dem Prophetenkanon zugerechnet haben. Fraglich bleibt,

Tanach

637

wieweit hier Josephus palästinische Traditionen verwendet, Diaspora-Vorstellungen wiedergibt oder beides vermengt. Eine eindeutige Gliederung des Tanach findet man erst in bBQ 14b, wo man sich für die korrekte Reihenfolge von Propheten und Schriften auf tannaitische Tradition beruft (die Tora wird als selbstverständlich nicht besprochen). Die Reihe der Propheten ist demnach: Josua, Richter, Samuelbücher, Königsbücher, Jeremia, Ezechiel, Jesaja, die Zwölf; die Reihe der Schriften ist: Ruth, Psalmen, Hiob, Proverbia, Kohelet, Canticum, Threni, Daniel, Esther, Esra, Chronik. Einzelheiten der Anordnung innerhalb der Gruppen werden zwar weiterhin diskutiert; nicht überall setzt sich die Ordnung von bBaba Qamma durch (etwa in der Stellung von Jesaja), doch die Einordnung in die zweite oder dritte Gruppe steht außer Frage (s. die Tabellen bei Beckwith), auch wenn man zuweilen Daniel prophetische Qualitäten zuschreibt oder auch einzelne Psalmen als Prophetic ansieht (vor 70 n. Chr. scheint man vielfach die Psalmen insgesamt als prophetisch oder zumindest den Propheten verwandt betrachtet zu haben, wie etwa die Existenz eines Pescher zu den Psalmen, sonst nur zu Propheten in Qumran, nahelegt). Das ändert nichts an der Einordnung im Tanach. 3. Unterschiedlicher

Rang

Die Gliederung der Bibel in drei Textgruppen ist nicht allein historisch bedingt und behält auch später, als die Bibel in ihrem Umfang schon völlig unbestritten war, nicht einen rein praktischen, buchtechnischen Zweck. Zwar gehören alle drei Gruppen zur Bibel, doch haben sie unterschiedlichen Rang. Die Tora steht über den Propheten, deren Bücher wieder heiliger sind als die Ketuvim (-+ Schrift, Heilige). Sobald es technisch möglich wurde, so umfangreiche Handschriften herzustellen, stellte sich die Frage der Erlaubtheit einer Handschrift der ganzen Bibel, in der man ja notgedrungen Ketuvim auf Propheten, Propheten auf die Tora legt und damit Stufen der Heiligkeit vermischt. In yMeg 3,l,73d-74a wird diskutiert, ob man Tora und Propheten in einer Rolle zusammenschreiben darf - R. Meir ist dafür, die Mehrheit dagegen; doch erlaubt man, Propheten und Hagiographen in einer Rolle zu schreiben. In bBB 13b wird dann Meir schon so zitiert, daß man Tora, Propheten und Hagiographen in einer Rolle schreiben darf, während die Rabbinen darauf beharren, daß jede Gruppe getrennt sein muß. Die anonyme Entscheidung erlaubt schließlich eine vollständige Bibel. Das gilt natürlich nicht für eine liturgisch verwendbare Handschrift: Sie darf nie die Tora mit anderen Texten verbinden. Diese abgestufte Heiligkeit der einzelnen Teile des Tanach drückt auch ihre unterschiedliche Offenbarungsqualität aus. Wort Gottes im strengen Sinn ist nur die Tora allein zu Mose hat Gott direkt und unmittelbar gesprochen; die anderen Propheten dagegen haben die Botschaft Gottes in Traum, Vision und Audition erhalten. Noch vermittelter ist der Offenbarungscharakter der Hagiographen. Damit hängt zusammen, daß die Anwendung moderner Bibelkritik für orthodoxe Kreise am allerwenigsten bei der Tora in Frage kommt. Zwar hat rabbinische Theologie die Auffassung entwickelt, daß Mose am Sinai nicht nur das Fünfbuch, sondern Tora im umfassenden Sinn einschließlich der mündlichen Tora empfangen hat (s. bShab 88a: Gott gab durch einen Drittgeborenen, d.h. Mose, eine dreifache Tora; für einen noch umfassenderen Sinn von Tora vom Sinai siehe z. B. mAv 1,1); doch ist dies in eher impliziter Form gedacht, die erst später zu entfalten war. Eine Konsequenz der historischen Entwicklung der dreigeteilten Bibel und ihres unterschiedlichen Rangs ist schließlich auch die Ordnung der —•Schriftlesung: In ihr ist die Tora von einem unvergleichlichen Zeremoniell umgeben und wird als einziger Teil der Bibel ganz vorgetragen, während Prophetentexte nur in Zuordnung zur Tora gelesen werden und die meisten Hagiographen gar nicht, ja in früher Zeit am Sabbat(morgen) nicht einmal privat gelesen werden durften, um nicht von der Tora abzulenken. Natürlich wirkt sich das auch sonst aus: Die Schriftauslegung wendet sich immer bevorzugt

Tanach

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den im Gottesdienst gebrauchten Texten zu, also wieder primär der Tora, der auch eine Vielzahl von Targumim und -»Pijjutim gewidmet werden. 4. Propheten

und

Ketuvim

Die Einreihung innerhalb der zweiten und dritten Kategorie wirkt sich auch auf das Verständnis dieser Werke aus. Dies gilt besonders f ü r die G r u p p e der -»Propheten. Z w a r wurden diese lange in je eigenen Rollen geschrieben (nur die Zwölf als gemeinsame Rolle) - bBB 13b e r w ä h n t als Besonderheit den Fall, d a ß ein Rabbi alle acht Prophetenschriften in einer einzigen Rolle hatte - , doch bestimmt ihre gemeinsame Verwendbarkeit als zweite Lesung das Bewußtsein ihrer Einheit. D a m i t gibt es auch keine Trennung zwischen Geschichte und Prophetie (nach christlichem Verständnis), wird also das Phänomen der Prophetie breiter verstanden, aber auch Geschichte nicht als eigene Kategorie gesehen (auch d a d u r c h , d a ß Esra [ + Nehemia] und Chronik von Samuel und Könige getrennt waren); andererseits w u r d e Daniel durch die Einordnung unter die Schriften gleichsam neutralisiert. 5. Die Einheit der

Schrift

Sosehr der Begriff des Tanach die drei Teile der Schrift in ihrem jeweiligen Wert bestehen läßt, betont die Z u s a m m e n f a s s u n g der drei Initialen doch auch ihre Z u s a m mengehörigkeit. Ben Azzai, den beim Studium Feuer umgibt, so d a ß man meint, er befasse sich mit der M e r k a b a , erklärt: „ N e i n , ich reihe Worte der Tora an die Propheten und Worte der Propheten an die Schriften, und die Worte der Tora freuen sich wie a m Tag, da sie vom Sinai gegeben w u r d e n " (WaR 16,4). Die Einheit der Schrift zu erkunden ist wie eine mystische Erfahrung, läßt das Geschehen a m Sinai nacherleben. Diese Einheit betont die rabbinische Tradition vor allem im dreifachen Schriftbeweis sowie im Aufbau der Predigt. Wendungen wie „ W i r haben in der Tora, in den Propheten und in den Schriften g e f u n d e n " (WaR 16,4; ShemR 25,12) oder „Diese Sache ist geschrieben in der Tora, wiederholt in den Propheten und wird ein drittes M a l in den Schriften gebracht" (z.B. b M e g 31a; b A Z 19) betonen, d a ß m a n eine Wahrheit in allen drei Teilen der Schrift finden kann; aber auch o h n e feste Formel findet man diese Art von Nachweis immer wieder. Der Midrasch Aggadat Bereschit betont diese Einheit, indem jede seiner Predigten je einen Abschnitt zu Tora, Propheten und Psalmen enthält. Aber auch jede klassische rabbinische -»Predigt impliziert die Einheit der Schrift, wenn ihre Einleitung (Peticha) meist von einem Vers aus den Hagiographen ausgehend zum Anfang der Toralesung überleitet und die Predigt regelmäßig mit einem Bezug auf den Prophetentext des Tages endet. A n o r d n u n g und Gewichtung machen dabei aber auch ganz deutlich, welche Rango r d n u n g innerhalb des Tanach gilt. Dies bedeutet auch, d a ß auch ohne die Vorgabe des Neuen Testaments Juden und Christen Verschiedenes meinen, w e n n sie die hebräische Bibel als Wort Gottes bezeichnen und sich zur Einheit der Schrift bekennen. Die je verschiedene Gewichtung von Gesetz und Prophetie beruht auf einem verschiedenen Offenbarungsverständnis, das der Begriff Tanach für die jüdische Seite andeutet. Literatur Wilhelm Bacher, Die Proömien der alten jüd. Homilie, 1913 (BWAT 12) (Nachdr. Farnborough 1970). - Roger Beckwith, The O T Canon of the N T Church and its Background in Early Judaism, London 1985. - John J. Collins, Before the Canon. Scriptures in Second Temple Judaism: ders., Seers, Sybils and Sages in Hell. Roman Judaism, 1997 (JSJ 54 Suppl.) 3 - 2 1 . - Arnold Goldberg, Petiha u. Hariza. Zur Korrektur eines Mißverständnisses: JSJ 10 (1979) 213-218 = ders., Rabbinische Texte als Gegenstand der Auslegung. GSt II, hg. v. Margarete Schlüter/Peter Schäfer, 1999 (TSAJ 73) 297-302. - Klaus Koch, Is Daniel also among the Prophets?: Interp. 39 (1985) 117-130. - Sid Zalman Leiman, The Canonization of Hebrew Scripture - The Talmudic and Midrashic Evidence, Hamden, Conn. 1976. - Johann Maier, Zur Frage des bibl. Kanons im Frühjudentum

Tannaiten

639

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Günter Stemberger

Tannaiten (Literatur S.641)

Als „Tannaiten" (von aramäisch tanna, „wiederholen, lehren") werden diejenigen —•Rabbinen bezeichnet, deren Lehren in den sog. tannaitischen Schriften, d.h. -»Mischna, —»Tosefta und halachischen -»Midraschim, sowie als sog. baraitot (tannaitische Traditionen) in den beiden —»Talmuden überliefert werden, im Unterschied zu den als „Amoräer" bezeichneten Rabbinen des Palästinischen und Babylonischen Talmuds und der haggadischen Midraschim. Die Tannaiten lebten im römischen Palästina von der Zeit nach der Zerstörung des -»Tempels im Jahre 70 n.Chr. bis zur Zeit Rabbi Judah ha-Nasis um 200 n.Chr., d.h. in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeit. Die Hauptquelle für die Geschichte und Lehre der Tannaiten ist die rabbinische Literatur, und zwar in erster Linie die bereits genannten tannaitischen Schriften und baraitot. Amoräische Traditionen über Tannaiten können spätere Zeitumstände und, wenn sie im Babylonischen Talmud tradiert werden, babylonische Verhältnisse widerspiegeln. In griechisch-römischen Texten ist von Rabbinen nie die Rede. Apologeten und Kirchenväter wie -»Justin, -»Origenes und -»Hieronymus erwähnen zwar jüdische Lehrer und Weise, aber es ist ungewiß, ob diese mit den Tannaiten der rabbinischen Literatur zu identifizieren sind; eindeutig ist allein der Bezug auf -»Akiba bei Epiphanius (haer. XXXIII,9). Auch die Identifizierung einiger in Inschriften genannter Rabbinen mit bestimmten Tannaiten ist problematisch und sollte mangels überzeugender Beweise unterlassen werden. In der tannaitischen Literatur werden halachische Lehrsätze (-»Halacha) im Namen bestimmter Tannaiten überliefert und Geschichten über sie tradiert (-»Haggada). Diese Traditionen sind nicht als historisch glaubwürdige Lehren und Erzählungen anzusehen. Sie haben eine Reihe von Bearbeitungen erfahren, bis sie in die ein oder mehrere Jahrhunderte später redigierten Uberlieferungskomplexe der Mischna und Tosefta und der Midraschim aufgenommen worden sind. Die Attributionen sind also nicht als verläßlich anzusehen, und Biographien einzelner Tannaiten können nicht hergestellt werden. Die Lehren der Tannaiten betreffen rituelle -»Reinheit und Unreinheit, Familienangelegenheiten wie Ehe und Ehescheidung, landwirtschaftliche Regeln, Richtlinien für Sabbat und Feiertage, Eide und Götzendienst. Es gibt auch den Tempel und Opferkult betreffende Regeln, die die Tatsache der Tempelzerstörung nicht berücksichtigen, sondern in anachronistischer Art und Weise davon ausgehen, daß der Tempel existiert. Alle diese Lehren erscheinen in Form von Fallgeschichten oder Lehrsätzen, die von den Redaktoren der Mischna und Tosefta oft zu Disputationen verarbeitet worden sind. Die Überlieferung unterschiedlicher Meinungen zu ein und demselben Thema läßt erkennen, daß die Tannaiten kein einheitliches systematisches Lehrgebäude geschaffen haben, sondern verschiedene und zum Teil widersprüchliche Lehren vertraten. Die manchmal am Ende eines Abschnitts erscheinende Meinung der „Weisen" (chachamim omrim) ist nicht als Mehrheitsmeinung, sondern als Meinung der Redaktoren der Mischna anzusehen. Nach einer in verschiedenen Versionen überlieferten Erzählung (ARNA 4; ARNB 6 und 13; bGit 56b; EkhaR 1,31), die als Gründungslegende der rabbinischen Bewegung

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Tannaitcn

gelten k a n n (s. d a z u S c h ä f e r , F l u c h t ; S a l d a r i n i , J o c h a n a n ; N e u s n e r , L i f e 1 5 7 - 1 6 6 ; d e r s . , D e v e l o p m e n t 2 2 8 - 2 3 7 ) , h a t R a b b a n - » J o c h a n a n b e n Z a k k a i w ä h r e n d des e r s t e n J ü d i s c h e n K r i e g s gegen R o m V e s p a s i a n s H e r r s c h a f t v o r a u s g e s a g t und ist, als sich seine P r o p h e t i e e r f ü l l t h a t t e , v o m K a i s e r m i t d e r E r l a u b n i s , sich in J a v n e a n z u s i e d e l n und d o r t seine S c h ü l e r u n t e r r i c h t e n zu d ü r f e n , b e l o h n t w o r d e n . D i e G e s c h i c h t e s c h e i n t v o m b i b l i s c h e n M o d e l l des P r o p h e t e n J e r e m i a , d e r die E r o b e r u n g J e r u s a l e m s d u r c h den b a b y l o n i s c h e n K ö n i g a n k ü n d i g t e u n d s p ä t e r v o n d i e s e m v e r s c h o n t w u r d e , b e e i n f l u ß t zu sein und ist n i c h t als h i s t o r i s c h g l a u b w ü r d i g e Q u e l l e a n z u s e h e n . E s ist s t a t t dessen zu v e r m u t e n , d a ß J o c h a n a n b e n Z a k k a i und seine S c h ü l e r z u s a m m e n mit a n d e r e n ihrer j ü d i s c h e n Z e i t g e n o s s e n z w a n g s w e i s e in J a v n e , d a s als A u f f a n g l a g e r für r ö m e r f r e u n d l i c h e J u d e n d i e n t e , a n g e s i e d e l t w o r d e n sind (s. S c h ä f e r , F l u c h t 8 9 ; A l o n , J e w s [ 1 9 7 7 ] 2 9 4 ) . D e r t r a d i t i o n e l l e n M e i n u n g z u f o l g e g r ü n d e t e J o c h a n a n b e n Z a k k a i in J a v n e eine A k a d e m i e , die e i n e F o r t s e t z u n g des v o r 7 0 n. C h r . in J e r u s a l e m e x i s t i e r e n d e n

-»San-

h é d r i n s w a r , u n d e r o d e r sein N a c h f o l g e r - » G a m l i e l II. f u n g i e r t e als e r s t e r P a t r i a r c h (s. A v i - Y o n a h 13; A l o n , J e w s [ 3 1 9 8 9 ] , K a p . 1 0 f . ; S a f r a i , S e l f - G o v e r n m e n t 4 0 5 f . ; Z u c k e r 1 2 6 ; M a n t e l 1 4 0 ) . K r i t i s c h e U n t e r s u c h u n g e n d e r r a b b i n i s c h e n Q u e l l e n h a b e n j e d o c h die E x i s t e n z eines S a n h é d r i n s o d e r h ö c h s t e n r a b b i n i s c h e n G e r i c h t s h o f s , z u m i n d e s t w a s die Z e i t n a c h 7 0 betrifft, in F r a g e g e s t e l l t (s. L e v i n e , C l a s s 77 f.; G o o d b l a t t 2 3 2 - 2 7 6 ; J a c o b s 9 3 - 9 9 ) , und n i c h t J o c h a n a n b e n Z a k k a i o d e r G a m l i e l II., s o n d e r n erst R a b b i J u d a h h a - N a s i ist als e r s t e r P a t r i a r c h a n z u s e h e n (s. J a c o b s 3 4 9 ) . Z u r Z e i t d e r T a n n a i t e n s c h e i n t es a l s o w e d e r einen S a n h é d r i n n o c h einen P a t r i a r c h e n g e g e b e n zu h a b e n . A u c h die F r a g e , o b es in t a n n a i t i s c h e r Z e i t eine o d e r m e h r e r e A k a d e m i e n im S i n n e von h i e r a r c h i s c h o r g a n i s i e r t e n I n s t i t u t i o n e n m i t f e s t e m L e h r p l a n und L e h r k ö r p e r geg e b e n h a t , die n a c h d e m T o d e i n z e l n e r R a b b i n e n w e i t e r b e s t a n d e n , ist u m s t r i t t e n . D e r t r a d i t i o n e l l e n A u f f a s s u n g z u f o l g e w a r die A k a d e m i e b i s z u r Z e i t R . J u d a h h a - N a s i s m i t d e m S a n h é d r i n v e r b u n d e n und w i e dieser v o m P a t r i a r c h e n geleitet. D a n e b e n g a b es z w a r an m a n c h e n O r t e n k l e i n e r e , von e i n z e l n e n R a b b i n e n geleitete A k a d e m i e n , a b e r diese w a r e n d e r z e n t r a l e n A k a d e m i e , die m i t d e m P a t r i a r c h e n von J a v n e n a c h U s h a und s p ä t e r n a c h B e t h S h e a r i m z o g , u n t e r g e o r d n e t und b e u g t e n sich d e r e n E n t s c h e i d u n g e n (s. A l o n , J e w s [ J 1 9 8 9 ] 3 2 f . 4 8 0 . 6 7 9 f . ; S a f r a i , E d u c a t i o n 9 6 1 - 9 6 3 ) . D i e s e T h e o r i e w i r d h e u t e z u n e h m e n d a b g e l e h n t , d a ihr d a s z u r V e r f ü g u n g s t e h e n d e Q u e l l e n m a t e r i a l zu w i d e r s p r e c h e n s c h e i n t . U n t e r d e r A n n a h m e , d a ß es in t a n n a i t i s c h e r Z e i t einen P a t r i a r c h e n g e g e b e n h a t , ist a r g u m e n t i e r t w o r d e n , d a ß die p a t r i a r c h a l e A k a d e m i e die einzige f o r t b e s t e h e n d e r a b b i n i s c h e L e h r a n s t a l t w a r und d a ß sie den P h i l o s o p h e n s c h u l e n ä h n e l t e ( S . J . D . C o h e n , P a t r i a r c h s ) . D i e j e n i g e n , die n i c h t m i t d e r E x i s t e n z eines P a t r i a r c h e n zu j e n e r Z e i t r e c h n e n , n e h m e n a n , d a ß es in t a n n a i t i s c h e r Z e i t k e i n e festen A k a d e m i e n , s o n d e r n lediglich v e r s c h i e d e n e , u m e i n z e l n e R a b b i n e n v e r s a m m e l t e S c h ü l e r k r e i s e gegeb e n h a t , die sich n a c h d e m T o d dieser R a b b i n e n n o t w e n d i g e r w e i s e auflösen m u ß t e n (Levine, C l a s s 2 8 f . ; H e z s e r 1 9 5 - 2 1 4 ) . W e n n in d e r n e u e r e n F o r s c h u n g a n d e r E x i s t e n z z e n t r a l e r r a b b i n i s c h e r I n s t i t u t i o n e n in t a n n a i t i s c h e r Z e i t g e z w e i f e l t w i r d , d a n n w i r d d a m i t a u c h die g e s a m t e f r ü h e r e S i c h t d e r r a b b i n i s c h e n B e w e g u n g a l s von A n f a n g an h i e r a r c h i s c h o r g a n i s i e r t e r , i n s t i t u t i o n a lisierter und z e n t r a l i s i e r t e r G r u p p e a b g e l e h n t . E s w i r d a n g e n o m m e n , d a ß diese E n t w i c k lung erst m i t R . J u d a h h a - N a s i a m A n f a n g des 3 . J h . (Levine) o d e r erst in d e r n a c h t a l m u d i s c h e n g a o n i s c h e n Z e i t ( H e z s e r ) b e g a n n . D i e T a n n a i t e n sind n i c h t als fest instit u t i o n a l i s i e r t e G r u p p e o d e r K l a s s e , s o n d e r n als ein ü b e r g a n z P a l ä s t i n a verteiltes, b e s o n d e r s in D ö r f e r n , a b e r a u c h in S t ä d t e n a n s ä s s i g e s N e t z w e r k v o n T o r a l e h r e r n , die j e w e i l s individuelle S c h ü l e r - u n d S y m p a t h i s a n t e n k r e i s e h a t t e n , a n z u s e h e n (s. H e z s e r 228-239). D i e T a n n a i t e n w a r e n n i c h t die d i r e k t e n N a c h f o l g e r d e r - » P h a r i s ä e r , s o n d e r n a u c h a n d e r e v o r 7 0 n. C h r . in P a l ä s t i n a e x i s t i e r e n d e G r u p p e n , die sich m i t d e r A u s l e g u n g d e r T o r a b e s c h ä f t i g t e n , s c h e i n e n a u f die r a b b i n i s c h e B e w e g u n g e i n g e w i r k t zu h a b e n (s. Schäfer, Pharisäismus; S . J . D . C o h e n , Significance; Hezser 6 9 - 7 7 ) . M a n wurde R a b b i ,

Tannaiten

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indem man sich einem rabbinischen Lehrer anschloß, ihm eine Zeitlang diente und ihn begleitete, ihm zuhörte und ihn beobachtete. Diejenigen Schüler, die eine bestimmte Reife erlangt hatten, wurden von diesem Zeitpunkt an von ihrem Lehrer, ihren K o m militonen und anderen J u d e n , die ihre Torakenntnis anerkannten und sie u m R a t fragten, „ R a b b i " genannt. Der Titel „ R a b b i " w a r kein offizieller, ihnen von ihren Lehrern in einer Z e r e m o n i e zuerkannter Titel, sondern die informelle W ü r d i g u n g eines schriftkundigen Weisen durch seine Sympathisanten und Freunde (s. Hezser 7 8 - 1 1 0 ) . W ä h r e n d früher angenommen wurde, d a ß die Rabbinen die neue Führungsschicht Palästinas nach der Tempelzerstörung waren (s. U r b a c h ) , wird die Rolle der Tannaiten innerhalb der jüdischen Gesellschaft der ersten beiden J a h r h u n d e r t e heutzutage als sehr viel geringer eingeschätzt (s. G o o d m a n ; S . J . D . C o h e n , Place). Z u jener Z e i t waren die Rabbinen, vielleicht von einigen Ausnahmen abgesehen, keine Gemeindeleiter und scheinen auch oft kein Interesse an Gemeindearbeit gehabt zu haben. Die Rabbinen vor R . J u d a h h a - N a s i waren E x p e r t e n in Fragen der Reinheit und Unreinheit und der Einhaltung der Feiertage, aber sie beschäftigten sich selten mit zivilrechtlichen Streitfällen (s. S . J . D . C o h e n , Place). Auch öffentliche Predigten a m Sabbat scheinen erst v o m 3. J h . an üblich gewesen zu sein, und erst seit dieser Z e i t scheinen sich Rabbinen zunehmend für Synagogenangelegenheiten interessiert zu haben (s. Hezser 2 1 4 - 2 2 4 ) . W ä h r e n d tannaitische Traditionen selten über die Einsetzung von Rabbinen in öffentliche Ä m t e r berichten, vermehren sich derartige Hinweise in a m o r ä i s c h e r Z e i t (ebd. 7 9 - 93). Die Tannaiten scheinen also in erster Linie Toralehrer gewesen zu sein, die sich auf das Unterrichten ihrer Schüler konzentrierten, gelegentlich R a t in halachischen Angelegenheiten erteilten und bestimmte, von ihrer eigenen M e i n u n g abweichende Praktiken kritisierten. O b ihre Ratschläge befolgt wurden, hing von ihrer Persönlichkeit und ihrer Überzeugungskraft ab. Mittel, ihre Zeitgenossen zur Befolgung bestimmter halachischer Regelungen zu zwingen, hatten sie nicht. Auch scheinen nichtrabbinische Richter, Schriftkundige und Priester, die oft ähnliche Funktionen erfüllten, mit ihnen konkurriert zu haben. Literatur Gedalyahu Alon, Jews, Judaism, and the Classical World, Jerusalem 1977. - Ders., The Jews in Their Land in the Talmudic Age (70 - 640 C.E.), Cambridge, Mass./London J 1989. - Michael Avi-Yonah, Gesch. der Juden im Zeitalter des Talmuds, Berlin 1962. - Wilhelm Bacher, Die Agada der Tannaiten, 2 Bde., Straßburg 1 8 8 4 - 1 8 9 0 . - Baruch M . 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Tanz I

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Tanz I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h II. P r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h

S. 6 4 7

I. R e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h 1. Z u r Definition

1. Zur

2. Typologie des sakralen Tanzes

(Literatur S. 646)

Definition

„ D a n c i n g is r e l e v a n t t o b o u n d a r y s i t u a t i o n s " . R S p e n c e r s p r o g r a m m a t i s c h e r (38) e r w e i s t sich n u r d a n n als richtig, w e n n m a n d a s P h ä n o m e n des s a k r a l e n

Satz

Tanzes

n i c h t i s o l i e r t , s o n d e r n i m Z u s a m m e n h a n g m i t a n d e r e n s i n n s t i f t e n d e n R i t u a l e n (—»Ritus) sieht. I m übrigen bildet d e r jeweilige kulturelle K o n t e x t die Basis für jede I n t e r p r e t a t i o n ( „ i t is t o s o c i e t y t h a t w e m u s t t u r n t o u n d e r s t a n d i t " [ e b d . ] ) u n d h a t d e r r e l i g i o n s p h ä n o m e n o l o g i s c h e n F o r s c h u n g a l s O r i e n t i e r u n g s h i l f e z u d i e n e n . D a s ist w i c h t i g , w e i l T a n z und Religion häufig miteinander verschmelzen und eine g e m e i n s a m e Struktur

haben:

M a n tanzt, u m seine Religion n o n - v e r b a l darzustellen, u m das N u m e n zu verehren, für h i m m l i s c h e n - » S e g e n ( R e g e n ) zu d a n k e n u n d Unheil ( D ü r r e ) a b z u w e n d e n

(Nürnberger

132), w o m ö g l i c h soziale Veränderungen herbeizuführen, das Heilige d u r c h eine innere o d e r ä u ß e r e V e r w a n d l u n g ( M a s k i e r u n g ) s i c h t b a r z u m a c h e n , s i c h v o n d e r G o t t h e i t in B e s i t z n e h m e n z u l a s s e n ( B e s e s s e n h e i t , E r l e u c h t u n g ) b z w . sie d u r c h d e n T a n z z u o f f e n b a r e n , kurz: d e m sakralen T a n z k o m m t innerhalb des jeweiligen

kulturell-religiösen

K o n t e x t s eine entscheidende B e d e u t u n g zu: „ T h e lore o f sacred a n d p r o f a n e o f t e n i n t e r t w i n e d , is t o l d a n d r e t o l d in d a n c e " ( H a n n a 2 0 3 ) .

belief,

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Die strukturellen Besonderheiten des sakralen Tanzes lassen sich als Metaphern deuten (hier tritt der Tanz an die Stelle ähnlicher religiöser Ausdrucksformen) oder als Symbole, die der jenseitigen Welt der Ahnen, Geister und Götter zugeordnet sind, als Metonyme, die auf ein größeres Ganzes verweisen, als Konkretisierungen in der mimischen Darstellung, Stilisierungen in Gesten und Bewegungen, und schließlich als Transformationen des Tänzers in die betreffende Gottheit mit deren typischen Charaktereigenschaften, so daß der Darsteller mit dem Dargestellten identisch wird, usw. In diesem Sinne wird z. B. Siva - der „Herr des Tanzes", der nach hinduistischer Vorstellung die Welt „ertanzte", so daß sie existent werden konnte, der sie zerstörte und dann wieder ins Leben rief - von seinen Gläubigen im Kult tanzend nachgeahmt. Das Natya Sästra bezeichnet daher den Tanz als ein Zeichen der Gottesliebe, der Reinigung von Sünden, als einen Heilspfad, eine Teilhabe an der kosmischen Kontrolle der Welt, wie sie Gott Siva beispielhaft ausübt (vgl. das Ramayäna-Epos und das javanische Schatten-Puppenspiel Wayang).

Andererseits sollen Tänze Götter und Ahnen beeindrucken, umstimmen und geneigt machen: Folgte auf einen Stammestanz Regen, eine gute Ernte oder die Geburt vieler Kinder (Söhne), dann konnte man diese Segnungen auf den Tanz zurückführen und ihm eine ursächliche Wirkung zuschreiben. Der Tanz ist darum „heilig", weil er es unmittelbar mit „dem Heiligen" zu tun hat. Als Medium wirkt entscheidend die Musik mit (-»Musik und Religion). Das spirituelle supranaturale und erotische Fluidum, nicht zuletzt durch die Musik hervorgerufen, stimuliert und ekstasiert Tänzer wie Publikum. 2. Typologie des sakralen

Tanzes

Mindestens neun Kategorien lassen sich in der Religionsforschung unterscheiden (vgl. Hanna 205): 1) Der sakrale Tanz ist Teil der rituellen Deutung von Wirklichkeit, damit die Menschen ihre Welt verstehen und handhaben können. In diesem Sinne verwenden z. B. die christliche und islamische Mission in Afrika Tänze, die bisher der Stammesinitiation dienten, als Medium für die Bekehrung und integrieren sie in die Gottesdienste. Es findet also eine Wiederverwendung von „paganen" Riten unter christlichem bzw. islamischem Vorzeichen statt (zum synkretistischen Ritualdrama der Yumbo-Tänze in Ecuador vgl. Schultz 170-172).

2) Die periodische Erschaffung bzw. die mimische Darstellung der sozialen Rollen innerhalb der Stammesgemeinschaft: Die Tänzer übernehmen dabei sowohl männliche wie weibliche Rollen (Kleidertausch). In diesem Sinne sind die Fruchtbarkeitstänze zu verstehen, deren sexuelle Imaginationen die Fruchtbarkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen beschwören sollen (vgl. den ida-Tanz der Papua, der der Sagopalme gilt, die Erntetänze in Birma zu Ehren der 37 Nats [Ridgeway 229f.]), die Formationstänze zu Ehren der Reisgöttin bei den Naga in Nordostindien oder die nach Geschlechtern getrennten Fruchtbarkeitstänze, die die alten Mexikaner vor ihren Pyramiden aufführten, um die Götter geneigt zu machen. In gewissem Sinne gehören hierher auch die japanischen Tänze anläßlich der Reisernte (ta-mai und odori), die ein wichtiger Bestandteil des matsuri-Festes sind und dort als kagura die jeweiligen shintoistischen Lokalgottheiten ehren. Ridgeway (326) bezeichnet den dramatischen kagura als „the chief element in Shinto worship", aus dem auch das No-Drama hervorgegangen ist.

3) Damit ist die Anbetung und Verehrung der Numina verbunden: In periodischen Abständen und bei kritischen Anlässen werden Tänze zum Ausdruck des Dankes für Wohltaten sowie zur Bitte um Erbarmen und Verschonung. Die Götter werden mimisch verehrt, um Gefahren abzuwenden: Der aus einem Regenritual hervorgegangene cidwanga der Gogo in Tansania sowie die periodischen Tänze der Kalabari, Yoruba und Fon dienen den Göttern zur Freude und sollen ihnen Macht verleihen.

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Zu Ehren der Götter und Großen Geister geschieht auch der berühmte Sonnentanz (vgl. T R E 2,431,4-49), der von mindestens 30 tribalen Gruppen der nordamerikanischen Plains and Prairie getanzt und von einem spirituellen Anführer geleitet wird (Brown 143). Der Tanz heißt bei den Dakota wiwanyag wachipi („Tanz, bei dem man in die Sonne starrt") und wird Ende Juni/Anfang Juli gehalten, „wenn der Salbei lang gewachsen ist ... und der Mond rund wird" (ebd. 144). Im Mittelpunkt der Zeremonie steht der rituelle Bau einer Stiftshütte als Abbild des Universums und seiner Erschaffung sowie das Fällen einer Balsampappel, welche im Heiligtum als axis mundi aufgerichtet und als numinose Person behandelt wird. Der heilige Baum symbolisiert die Verbindung von Himmel und Erde, Leben und Tod, Feuchtigkeit und Trockenheit. Man schmückt ihn und bringt ihm Opfer dar. Um die Stiftshütte liegen in konzentrischen Kreisen die Zelte der Großfamilien. Die Tänzer, denen zuvor strenge Askesen (Fasten) auferlegt wurden, bewegen sich, begleitet von Trommeln und anderen Musikinstrumenten, im Kreis, indem sie den Lauf der Sonne nachahmen und unverwandt in die Sonne starren. Dabei geißeln sie sich mit Riemen und fügen sich schwere Verletzungen zu, die einer Selbstaufopferung gleichkommen. Unter dem Motto „Welterneuerung" ist es seit 1934 (Indian Reorganization Act) bei den Arapaho, Cheyenne und Sioux zu regelrechten Bewegungen gekommen, die sich für die Wiederbelebung des Sonnentanzes einsetzen (Brown 146). Beim Sonnentanz der Shoshoni und Crow verhalten sich die Tänzer wie Adler und tanzen zu Pfeifen aus Adlerknochen; denn der Adler stellt die unmittelbare Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits her. Die Tänzer erfahren deshalb auch Visionen und Auditionen, die sie mit der Geisterwelt verbinden: Der Tanz wird damit zum Medium von Religion. 4) T ä n z e vermitteln übersinnliche F ä h i g k e i t e n . In zahlreichen a f r i k a n i s c h e n S t ä m m e n (z. B . bei den Gancia und S a n d a w e ) wird durch erotische T ä n z e die B e g a t t u n g nachgea h m t und d u r c h diesen symbolischen A k t die n u m i n o s e Potenz von G ö t t e r n und A h n e n a u f die M e n s c h e n und deren N a c h k o m m e n h e r a b g e r u f e n . 5) S a k r a l e T ä n z e wollen soziale Veränderungen b e w i r k e n , zumal da, w o es gilt, eine Situation zu verändern, die durch ü b e r n a t ü r l i c h e Ereignisse zustande g e k o m m e n ist und der tribalen G e m e i n s c h a f t schaden k ö n n t e . S a k r a l e T ä n z e werden dann zu rites de passage, wie sie a m A n f a n g von neuen L e b e n s a b s c h n i t t e n stehen und G e f a h r e n bannen sollen. Hierher gehören die im Zusammenhang mit der Initiation durchgeführten Tänze (z. B. der chisungu, eine Mädcheninitiation der Bemba in Sambia, die Tanzdramen nkwa uko und nkwa ese, welche die Ubakala in Nigeria zu Ehren der Alten durchführen [Hanna 208]), und Tänze, die der Herstellung der Weltordnung dienen; denn der Tod bewirkt Unordnung, die den gesamten Kosmos betrifft. Hier kann der Symbolismus des (geordneten) Tanzes zur Vorwegnahme der wiederhergestellten kosmischen Ordnung und das im Tanz abgebildete irdische Bild zum himmlischen Urbild werden. Alle „Totentänze" haben hier ihren Ursprung. Die Ordnung wiederherstellen bedeutet vor allem heilen. In Kambodscha sind darum Schamanen die Anführer der Schauspieltruppe (Ridgeway 263). Auch der marokkanische Sufiorden Hamajä führt seinen ekstatischen hadrah-Tunz auf, um Besessene zu heilen, indem die Tänzer mit dem Geist (gin) eine wohlwollende Beziehung eingehen. Männer und Frauen fallen dabei in Trance. Zu diesem Typus gehören zweifellos auch alle Versuche, die alte, durch die Europäer zerstörte Stammesordnung wiederherzustellen: Die indigenen indianischen Völker des Nordwest-Plateaus (Paiute) erhofften sich z.B. vom sog. „Ghost Dance" (vgl. T R E 2,438,41-439,52) die tatsächliche Rückkehr zur ursprünglichen Ordnung, zu Wohlstand und Glück, und die mexikanischen Concheros [danza Chicimeca, danza Azteca, danza de la Conquista), die bis in die Zeit der Conquista zurückreichen und die stolze kulturelle Vergangenheit der mesoamerikanischen Völker im Tanz darstellen, sind eindrucksvolle Beispiele dafür, wie der sakrale Tanz zum „Krisenkult" für die sozial Schwachen in der Neuzeit geworden ist. 6) W ä h r e n d der Besessenheit k o m m t es zur I n k a r n a t i o n der n u m i n o s e n M ä c h t e . F ü r die religionsgeschichtliche Definition reicht dazu der Begriff „ A u t o s u g g e s t i o n " oder gar „ A u t o i n t o x i k a t i o n " nicht aus, weil sich religiöse E r f a h r u n g e n nie nur medizinisch-pathologisch erklären lassen. Mindestens vier Typen von Besessenheit (-»Ekstase) während des sakralen Tanzes lassen sich unterscheiden: Der erste Typ hat es mit der individuellen Besessenheit zu tun und umfaßt das Kultpersonal (Wahrsager, Medizinmänner/-frauen, Schamanen und Schamaninnen), das einen Ahnengeist einlädt, sich ein Medium zu wählen. Das Medium bringt das betreffende Numen tanzend ins Dorf und stellt seine Ikone vor oder im Kulthaus auf. Besessenheitstänze imitieren häufig das Numen, indem sie dessen Bewegungen nachahmen bzw. tanzend eine Metamorphose durchmachen

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(Adlertänze der Shoshoni und Crow; vgl. Brown 146), Schlangentänze auf Neu Guinea; schon Lukian von Samosata (ca. 120 - nach 180) erwähnt den „Kranichtanz" (Lange 2). Dem Medium oder Exorzisten wird die Fähigkeit des Heilens zugeschrieben (vgl. die nur Männern vorbehaltene shantiya-Zetemonie auf Sri Lanka [Nürnberger 132.140.145.307], den ida-Tanz auf Neu Guinea [Spencer 36], den Trance-Tanz der Temiar [Sue Jennings: Spencer 56f.]). Der Körper des Tänzers beherbergt den Geist, der Heil und Unheil bringen kann. Der zweite Typ des Besessenheitstanzes stellt sich als invasion dar, weil das Numen dabei ungebeten in die Stammesgemeinschaft eindringt, ein Mitglied überwältigt und das „Opfer" mit Krankheit oder Unglück heimsucht. Hier wird der Tanz zu einem apotropäischen Mittel, durch das der Dämon abgeschüttelt und der Tänzer von seinem Leiden befreit werden soll. Einen dritten Typ kann man als „Einweihung" (consecration) bezeichnen, weil hier die Initiation mit der Personifikation einer Gottheit zusammenfällt und der Tänzer deifizlert wird. Beispiele dafür sind die räma-ITIä und der tibetische Maskentanz 'cham. Ein vierter Typ schließlich läßt sich als „Besessenheit durch ein unpersönliches Numen" beschreiben. So werden z. B. beim namibischen kung-san-Tanz die heilenden Kräfte des Medizinmanns aktiviert: In besonders kritischen Situationen versetzt sich der Medizinmann in Trance und verkehrt tanzend mit den Geistern, die ihm helfen, seine medizinische Potenz zurückzugewinnen. 7) M y s t i s c h e T ä n z e , bei denen die T ä n z e r die B e g e g n u n g mit d e m Heiligen erfahren. Auf Jaläl ad-DTn Rüml (1207-1273) gehen die Wirbeltänze der Mewlewis, der zur Flöte tanzenden Derwische, zurück (Süfismus), bei denen sich Männer, in weiße Hemden gekleidet, mit ausgestreckten Armen zunächst meditativ und dann ekstatisch im Kreise drehen, bis sie - auf dem Höhepunkt ihrer spirituellen Trance angelangt - die Silbe HU,ER, „ G o t t " , ausrufen, mit dem sie sich in der Unio Mystica vereinigen (-»Mystik). Die Derwische wollen sich gleichsam tanzend und respondierend von den irdischen Fesseln lösen; dabei sollen bestimmte Zentren im Innern ihres Körpers aktiviert werden, wodurch sie Allah nahekommen wollen. Auch beim tibetischen Img dro decken rolmo bewegen sich die Tänzer im Kreis und suchen die Erleuchtung dadurch zu erlangen, daß sie sich als Medien der Gottheit verstehen bzw. diese reflektieren. Der Kreis, der die Bewegungen der Tänzer vorgibt, reflektiert den samsära, den Geburtenkreislauf (vgl. den Kreistanz zu Ehren Krisnas: Ridgeway 131). 8) M a s k e n t ä n z e spiegeln in eindrucksvoller Weise die Beziehungen zur G e i s t e r w e l t wider. D i e M a s k e verfremdet und verhüllt und offenbart gleichzeitig das N u m e n : D i e T ä n z e r verwandeln sich unter ihren M a s k e n in G e i s t e r und werden w ä h r e n d der Präsentation für die Z u s c h a u e r tatsächlich d a s , w a s ihre M a s k e n darstellen, n ä m l i c h Ahnengeister, D ä m o n e n , G o t t h e i t e n in ihren verschiedenen A s p e k t e n . Ihre s y m b o l i s c h e A u s d r u c k s w e i s e ist R e a l i t ä t ; das Heilige ist präsent im P r o f a n e n — a u c h wenn die Z u schauer wissen, d a ß sich d a h i n t e r M e n s c h e n verbergen und M e n s c h e n die M a s k e n angefertigt h a b e n . D i e M a s k e wird z u m Beweismittel dafür, d a ß die t o t e n A h n e n unter den N a c h f a h r e n „ l e b e n d i g " sind ( - » I n i t i a t i o n ) und das J e n s e i t s m i t d e m Diesseits im S y m b o l k o s m o s verschmilzt. D e r M a s k e n t a n z v e r k ö r p e r t zugleich die ursprüngliche E i n heit von M e n s c h e n , T i e r e n und Geistern (vgl. die T ä n z e der Y o r u b a , D o g o n usw.). Männer und Frauen tanzen getrennt oder übernehmen wechselseitige Rollen. Matriarchale Elemente treten in Fruchtbarkeitstänzen zutage, beziehen sich auf die sexuelle Vereinigung (vgl. den onsij-Geist der Yoruba!) und die Segnung bzw. Entdämonisierung des Dorfes (Elfenbeinküste). Die Masken sind anthropomorph, theriomorph oder beides (Mali), um die Einheit von Mensch und Tier, vor allem aber ihre Interdependenz deutlich zu machen. Dem entsprechen Ausdruck, Bewegung und Sprache. Mit dem Tod des Tänzers/der Tänzerin stirbt auch deren Maske und wird mit ihnen bestattet. Die Maske ist also nicht übertragbar; sie gehört einer ganz bestimmten Person, deren Attribut sie ist. 9) D e m s a k r a l e n T a n z k o m m t die Bedeutung von O f f e n b a r u n g e n , V i s i o n e n , Audit i o n e n , E n t r ü c k u n g e n zu: D e r T ä n z e r tanzt seinen G o t t , seine G e b ä r d e n s p r a c h e ist G ö t t e r s p r a c h e ; V o r b e r e i t u n g und A u s f ü h r u n g o f f e n b a r e n die G o t t h e i t in ihrem S c h ö p fungshandeln. T ä n z e r und T a n z werden d a m i t zu A b b i l d e r n von S c h ö p f e r und S c h ö p f u n g und a u f diese Weise z u m Vorbild für zahlreiche f o l k l o r e und s ä k u l a r e C h o r e o g r a phien.

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Peter Gerlitz

II. Praktisch-theologisch 1. Phänomenologie 2. Die Religionsoffenheit des Tanzes 3. Tanz und Kirchc - Geschichtliche Hintergründe und gegenwärtige Herausforderungen 4. Theologische Dimensionen von Tanz 5. Praktisch-theologische Reflexionsperspektiven zum Tanz 6. Tanz in der kirchlichen Praxis (Handlungsfelder) (Literatur S. 652)

1.

Phänomenologie

Ein Verständnis dessen, was möglichst präzise gemeint ist, wenn vom „Tanz" die Rede ist, erschließt sich phänomenologisch mindestens in fünf Aspekten (vgl. Berger 5 - 9 ) : 1. Raum und -»Zeit; 2. Rhythmus und Dynamik; 3. Ausdruck; 4. Intensität; 5. -•Kommunikation. 1) Tanz ist ein Bewegungsphänomen, das durch einen spezifischen Umgang mit Raum und Zeit gekennzeichnet ist. Im Tanz wird ein vorhandener Raum einerseits gestaltet, und zum anderen schafft Tanz in seinem Formstreben auch einen eigenen Raum. Im Tanz wird die Zeit zur Erlebniszeit, zur subjektiv verdichteten, im Bewegen qualifizierten Zeit, deren Charakter eher kairologisch, d.h. auf den Augenblick bezogen, als chronologisch ist und als Intensivierung erfahren wird. 2) Von Rhythmus ist dann die Rede, wenn innerhalb einer Bewegung Akzentuierungen im zeitlichen und dynamischen Ablauf wahrnehmbar sind. Schon die Systole und Diastole des Herzschlages vermitteln die Disposition zur Wahrnehmung und Gestaltung von rhythmischer Periodizität. Z u m einen ordnet diese Akzentuierung das Bewegen, zum anderen macht sie dieses als fließend erlebbar (dies ist schon die Doppelbedeutung des Wortes pvOftöt;', vgl. Siedler 2 1 2 - 225). Die Dynamik ist die Gestaltung dieser Bewegung im Wechselspiel verschiedener Spannungsgrade. 3) Tanz ist weiterhin der körperlich gestaltete Ausdruck seelischer Zustände („motion creates emotion"). Die Spannbreite wird von einer Abbildfunktion bis zu einer interpretationswiderständigen (zweck)freien Expressivität gesehen. 4) Grundlegend für den Tanz als Bewegungsphänomen ist sein Charakter der Intensivierung sonstiger Bewegungsvollzüge: „Der Tanz ist gesteigertes Leben schlechthin" (Sachs 2). 5) Im Tanz wird Kommunikation in vielfacher Hinsicht gestiftet: zwischen Individuum

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Tanz II

und Raum, zwischen inneren und äußeren Bewegungen, zwischen Individuen, zwischen verschiedenen Zeitmodi.

Die „Uber-schreitung" von Alltagsvollzügen zu den spezifischen Bewegungsformen des Tanzes bringt diese in Wahrnehmung und Gestaltung phänomenologisch in eine Nähe zur —»Religion als Transzendierung. Die interpretatorische Sprache von Erfahrungsberichten und Analysekategorien weist eine auffällige Nähe zu religiöser Sprachformung auf: Tanz wird als Einheitserfahrung beschrieben, als Transzendieren von Zeit im erfüllten Augenblick, als symbolische Partizipation an kosmisch-rhythmischen Wirklichkeiten, als Verbundenheit mit den tragenden Lebenskräften in der Erfahrung des „flow" (Csikszentmihaliy). 2. Die Religionsoffenheit

des Tanzes

O b die oben genannten anthropologischen Transzendenzerfahrungen als „religiös" qualifiziert werden, hängt von einem jeweils vorgängigen Religionsbegriff ab. Angebracht erscheint es, eine Analyse des Phänomens Tanz auf seine potentielle Qualifizierung als religiös - auch im praktisch-theologischen Interesse - interdisziplinär anzulegen, im Gespräch mit -»Religionswissenschaft und -»Religionsphänomenologie, Kulturwissenschaft (insbesondere Sozial- und Kulturanthropologie), Theater- und Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Ethnologie, Sportwissenschaft, Medizin und Psychologie. Folgende anthropologischen Vollzugsformen von Tanz sind als „religionsoffen" ansprechbar, d.h. einer religiösen Interpretation zugänglich und/oder in religiösen (bzw. kirchlichen) Kontexten praktisch wirksam: 1) Tanz als -*Fest: Tanz ist Lebensbejahung und -Steigerung; Tanz ist Kontrast zum Alltag, Freiheit als Befreiung von dessen Zwang. 2) Tanz als Ritual (-»Ritus): Tanz bindet und löst Energien in Bewegungsformen und macht Zeit, Raum, Kraft und Dynamik als Übergangsphänomene erfahrbar (Failing 65), Tanz ist ein liminales und liminoides Phänomen (Turner). 3) Tanz ist die Kunstform des darstellenden Handelns (-*Schleiermacher): diese ist choreographisch sowohl „poietisch" wirksam als auch „praktisch" im Sinne von einem auf die Handlung selbst bezogenen Zweck. 4) Tanz ist ein Verweisphänomen: Tanz ist in seinen Aspekten nicht notwendig selbstreferentiell, sondern kann auf ein Anderes als Unverfügbares verweisen. 5) Tanz hat Symbolcharakter (-»Symbol): Tanz als das verdichtete Abbild kosmischer Wirklichkeiten, aber auch Tanz als „präsentatives Symbol" (Langer) ohne Abbildfunktion. 6) Tanz hat Vergemeinschaftungscharakter: Tanz hat in produktions- wie rezeptionsästhetischer (-»Rezeption) Sicht einen durchweg kommunikativ-partizipatorischen Erfahrungsgehalt. Das Zusammenwirken nur weniger dieser Aspekte macht das breite Forschungsergebnis einsichtig, daß Tanz in der Nähe zu oder gar als Ursprung von Kulten manifester Religionen gesehen werden muß. Hier soll festgehalten werden: Tanz kann als religionsoffen beschrieben werden. Der Kontext einer Religionsgemeinschaft qualifiziert den Tanz allerdings erst in einem eindeutigeren Sinn als „religiös". Eine Tanzphänomenologie der (reinen) religiösen Form wird nicht gelingen. 3. Tanz und Kirche - Geschichtliche rungen

Hintergründe

und gegenwärtige

Herausforde-

Während interdisziplinär, insbesondere in Religionswissenschaft und Religionsphänomenologie, Tanz als konstitutiver Aspekt von Religionspraxis in den Blick kommt (van der Leeuw, Vom Heiligen 23 —46, spricht von der „Einheit von Tanz und Religion"), sieht sich die praktisch-theologische Theorie, die sich mit Tanz als Aspekt von kirchlicher Praxis beschäftigt, mit einer massiven Verdrängungs- und Abwehrgeschichte konfrontiert. Diese gilt es als Hintergrund für gegenwärtige Herausforderungen wahrzunehmen und gleichzeitig ihre theologischen Grundprobleme zu markieren. 3.1. Das Image der Tanzfeindlichkeit der biblisch-christlichen Tradition kann sich noch nicht auf das Tanzverständnis des Alten Testaments berufen, denn in den ver-

Tanz II

649

schiedensten Kontexten kann hier als Grundströmung eine Auffassung des Tanzes benannt werden, in dem dieser eindeutiger Ausdruck von Lebensfreude ist. Mit V. Saftien ist festzuhalten: Tanzen ist nicht nur selbstverständlicher Ausdruck der israelitischen Glaubenstradition in festlichen, kultischen, militärischen und prophetischen Kontexten, sondern auch ein fester Bestandteil der Bildgehalte eschatologischer Heilserwartungen. Als theologisches Grundproblem ist allerdings die eindeutige Ablehnung von Tanz ekstatisch-naturreligiöser Prägung (vor allem durch den Einfluß der sog. Umwelt Israels) festzuhalten (z.B. Ex 32,18f.; I Reg 18,26ff.). Daß dies nicht schon den Verlust ekstatischer Tanzpraxis bedeuten mußte, kann an der Aufführungspraxis der -»Psalmen studiert werden (vgl. Fermor 1 9 0 - 1 9 8 ; Berger 1 6 - 2 1 ) . 3.2. Dieses Problem der Ablehnung heidnischer Kulte (-»Heidentum) mit ihrer musikalisch-tänzerischen Praxis einer ekstatischen Religiosität, die sich via einer partizipativen Geschlechtlichkeit mit den tragenden göttlichen Lebenskräften und Dynamiken verbindet (z. B. im Dionysos-Kult, -»Mysterienreligionen), wird konstitutiv für das Verhältnis von Kirche und Tanz im Neuen Testament und in der Alten Kirche: Das Neue Testament zeigt in der Bewertung der Glossolalie (-»Zungenrede) durchaus Verständnis für ekstatische Religiosität, läßt jedoch aufgrund der spärlichen Belege kaum Rückschlüsse für eine urchristliche Tanzpraxis zu. Gnostische Quellen sowie die Bekämpfung von Phänomenen durch die Kirchenväter zeigen eine christliche Tanzkultur als Subkultur (Tanz auf Märtyrergräbern: Saftien; Berger 22—28). Ein positives Tanzverständnis zeigt jedoch deutliche Tendenzen zur Spiritualisierung (Tanz der Engel) oder eine Reduktion auf eine symbolische Partizipation an kosmischen Wirklichkeiten. Tanz ist zur Zeit der Alten Kirche eine Wirklichkeit, jedoch eine marginalisierte und domestizierte. 3.3. Im Mittelalter setzt sich diese Tendenz fort, jedoch auch eine andere: Tanzphänomene als signa einer religiösen Volkskultur sind letztlich nicht zu domestizieren (Müller 8 6 - 8 8 ) . Beispiele sind die mittelalterlichen Tanzmanien, die Veitstänze, die Totentanzbewegung (-»Totentanz), die Narrenfeste, die Tradition der Osterspiele und des Osterlachens (Berger 2 9 - 3 5 ; -»Ostern/Osterfest/Osterpredigt). Trotz der bis in die Moderne andauernden Beharrlichkeit volkskultureller Tanzpraxis, der die Revolution der Popmusik im 20. Jh. den Durchbruch zu einer gesellschaftlichen Breitenwirkung verschafft hat, liest sich die christlich bestimmte Zivilisationsgeschichte als eine Geschichte der Ent-körperlichung und Domestizierung (Elias; Siedler 7 7 - 98; Gutmann). Im höfischen Tanz der -»Renaissance unterwirft sich der Takt jeden vitalen Rcichtum an Tanzpotentialität (Jaedtke 36f.), und erst die Jugendbewegung und romantische Naturreligiosität des späten 19. und beginnenden 20. Jh. nimmt diesen wieder in den Blick. 3.4. Die liturgischen Reformbewegungen beider Kirchen vermögen zwar den Sinn für die Leiblichkeit der Liturgie (Abendmahlsfrömmigkeit, -»Michaelsbruderschaft, vgl. -•Stählin) wieder aufzuwerten, wesentliche Anstöße zur Wahrnehmung der kirchlichen Möglichkeiten von Tanz entwachsen jedoch erst der Aufmerksamkeit auf die Protagonisten/-innen des Modern Dance in Frankreich, USA und Deutschland (Stüber). Unübersehbar und von ihnen selbst auch reflektiert sind die religiösen Dimensionen im tänzerischen Kunstschafffen von Mary Wigman (1886-1973), Loie Füller (1862-1928), Martha Graham (1894-1991), Ruth Saint Denis (1879-1968), Ted Shawn (1891-1972), Rudolf von Laban (1879-1958) u.a. Aufführungen dieser Künstler/-innen in Kirchen schlagen Brücken (Taylor), und 1958 wird in den USA die Sacred Dance Guild gegründet (Mann, Everything). Zahlreiche kirchliche Tanzinitiativen entstehen, denen zunächst der Focus auf die Bereicherung des liturgischen Lebens gemein ist (Davies, Tanz). Die Katholikentage und Evangelischen -»Kirchentage geben immer wieder wichtige Impulse. Die Integration des Kunsttanzes in die kirchliche Praxis erfolgte ungleich schwerer, ihre Ermöglichung (respektive einer der Kirchenmusik vergleichbaren Ausbildung) ist immer noch ein Desiderat (Kolster, Angebot, gibt einen Uberblick über die Möglichkeiten in

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Tanz II

Deutschland). Nach einer langen Geschichte der zivilisatorischen Domestizierung scheint der Körper in den zahlreichen milieusegmentierten Nischen der Erlebnisgesellschaften am Beginn des 20. Jh. wiedergekehrt zu sein (Kamper/Wulf; Schulze; Gutmann): in den Körperkultinszenarien der Freizeitindustrie, im -»Sport, in den ekstatischen bis religiösen Erlebnisräumen der Popkultur, von Club- und Stadionkonzert (Fermor 9 0 - 1 2 0 ) bis Techno-Rave (Feist, Techno). Vor allem in letzteren Kontexten nimmt der Tanz eine konstitutive Rolle für den individuellen Lebensentwurf ein: „Das Glück ist körperlich" (Schütz). Für die kirchliche Praxis, die hier zwar nicht völlig im Abseits steht, aber nicht viel mehr als subkulturelle Tanzszenen aufweist, entstehen für die Wahrnehmung und Gestaltung religiöser Lebenspraxis wesentliche Herausforderungen. 4. Theologische

Dimensionen

von Tanz

Die Beantwortung der unter 3. formulierten Herausforderungen fußt auf (systematisch-)theologischen Grundentscheidungen. Das Spektrum dieser möglichen Grundentscheidungen rangiert von K. -•Barths kulturkritisch-ironischer Ablehnung („Was soll man davon halten, wenn man ernste Männer unter Zurückgehen noch hinter den Katholizismus sogar die Einführung des kirchlichen Tanzes ernsthaft in Erwägung ziehen hört?", Barth 111) bis hin zu P. Tillichs Würdigung des modernen Ausdruckstanzes als einer für das Ergriffensein vom Unbedingten äußerst offenen Kunstform. Für Tillich bedeutete der K o n t a k t mit der W i g m a n s c h u l e in Dresden „eine neue Begegnung mit der Wirklichkeit in ihren tieferen Schichten. ... Es w a r der T a n z , der mein Verständnis von Religion tief b e e i n f l u ß t e " : T i l l i c h , T a n z 134).

Die Schieflagen einer theologischen Interpretationskultur zwischen der totalen Ablehnung einer naturreligiös inspirierten Lebens- und Kunstpraxis und der Verharmlosung der Dämonisierungsgefahr jeglicher Kunst (Tillich) müssen überwunden werden zugunsten der Rezeption der religionsoffenen Aspekte des Tanzes in systematisch-theologischer Perspektive: 1) Theo-logisch: Für G. van der Leeuw gründet der „theologische Charakter des Tanzes" in der Entdeckung Gottes als desjenigen, der sich bewegt: „ D e r T a n z ist die Entdeckung einer Bewegung a u ß e r h a l b des M e n s c h e n , der aber gibt ihm erst seine wahre, eigentliche Bewegung. Im T a n z d ä m m e r t die Erkenntnis des sich bewegenden und dadurch die Welt bewegenden G o t t e s . D a s ist elementar, a b e r es ist nichts Geringes. Es führt in die Prolegomena der D o g m a t i k hinein ... G o t t bewegt sich. Und Er setzt uns auf dieser Erde in Bewegung. D a s ist großartig und ergreifend. Es ist der A n f a n g seines Werkes in der Schöpfung und in der Erlösung. Es ist auch der Anfang des T a n z e s " (van der Leeuw, Vom Heiligen 84).

F. -»Nietzsche hätte ihm - etwas zögerlicher und anders motiviert - beigepflichtet: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde" (Nietzsche, Zarathustra 42). 2) Schöpfungstheologisch: Im Tanz partizipiert der Mensch an der rhythmisch-dynamischen Schöpfungswirklichkeit (-»Schöpfer/Schöpfung). Der Tanz ist eine kulturelle Gestaltungswirklichkeit (Verdichtung von Zeit und Raum, Expressivität, Kommunikation). In seiner schöpferischen Kreativität bewährt der tanzende Mensch sein Imago-deiSein. Der Festcharakter des Tanzes ist in Lebenssteigerung und -intensivierung als Schöpfungsfreude wahrnehmbar. 3) Christologisch/soteriologisch/eschatologisch: Die Würdigung der Leiblichkeit von Heilserfahrung ist geboten durch die Anerkennung ihrer inkamatorischen Struktur. Auch die Erlösungshoffnung bezieht sich auf eine neue Leiblichkeit (I Kor 15). Tanzen ist die Gestaltung eschatologischer Vorfreude (Berger 52). 4) Ekklesiologisch, pneumatologisch: Tanz wirkt vergemeinschaftend, er stiftet -•Kommunikation (und hat insofern oikodomischen Charakter). Die Geisterfahrung kann ekstatisch sein und sich im Tanz manifestieren. In dieser ek-statischen Qualität der Geisterfahrung ist Tanz in seinem Verweischarakter auf etwas Unverfügbares von

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Tanz II

konzentrierter pneumatologischer Qualität. Tanz ist somit nicht nur Praxis und Werk (Poiesis), sondern auch Charisma (vgl. Schröer, Poiesis). 5. Praktisch-theologische

Reflexionsperspektiven

zum

Tanz

Eine perspektivische -»Praktische Theologie (Otto; Heimbrock/Failing; Beuscher/ Zilleßen u.a.) bemüht sich um die Wahrnehmung, das Verstehen und die Gestaltung von gelebter Religion innerhalb und außerhalb kirchlicher Praxisfelder, um als Theorie gelebter Religiosität analytisch und visionär diese in ein dialogisch-kritisches Verhältnis zu jener zu setzen. Für die Rezeption der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie der fundierenden theologischen Dimensionen von Tanz sind folgende praktisch-theologischen Perspektiven denkbar, die als Projekt einer praktisch-theologischen -»Hermeneutik (Zilleßen u.a.; Schröer, Scriptura) verstanden werden können: 1) Ritual- und festtheologisch: Die Ritualqualitäten von Tanz sind wesentlich für eine kirchliche Praxis, die das religiöse Potential liminaler sowie liminoider Prozesse (Turner) wahrzunehmen und zu gestalten gewillt ist. Die Ursprungsnähe von Tanz zum Kult erklärt seinen enormen Stellenwert für die Bewegungen der Liturgiereform (Lebendige Liturgie, -»Liturgische Bewegungen) und des Liturgischen Tanzes (Vogler, Spiritualität; Mann, Thesen; Berger; Kreutz, Mut). Katholische wie evangelische Gottesdienstpraxis würdigt mit der Integration dieser Bewegungen die Festqualitäten des Tanzes sowie seinen Spielcharakter als unverzichtbare Aspekte eines jeden Gottesdienstverständnisses (Heimbrock; -»Gottesdienst). 2) Theologisch-ästhetisch: Kirchliches Handeln als darstellendes (nicht notwendig zweckgerichtetes) kommt hier in seinem Praxis- und Poiesis-Charakter in den Blick. Glauben ist hier als unlösbares Ineinander kinetischer Form- und Inhaltsfragen thematisiert. Die Bezogenheit auf ein Unverfügbares und das Sich-Verdanken jeglicher kirchlicher Praxis wird im Tanz ein möglicher verdichteter Erfahrungsgehalt. 3) Kulturtheologisch: Tanz hat nicht nur eine inhärente Nähe zum Kult, sondern ist auch als Kulturphänomen in kirchlicher Perspektive wahrzunehmen. Hier sind zunächst die Herausforderungen der nicht-kirchlichen Tanzreligiosität, sei es in der Esoterikund Workshop-Szene, sei es im Kunsttanz wie beispielsweise im Modern Dance oder seien es die religiösen Dimensionen des Rocktanzes sowie der Techno-Kultur, wahrzunehmen. Kirchliche Inszenierungsbemühungen um Kunsttanz, Rocktanz und Techno (Sachau; Feist; Mertin, Kulturtheologie; Kennel/Meyer-Blanck) haben hier ihren theologischen Ort. 4) Aszetisch, spirituell (-»Spiritualität): Tanz kommt hier als konstitutive Formlehre leiblich-religiöser Praxis innerhalb und außerhalb der Kirche in den Blick. Die Leiblichkeit (-»Leib/Leiblichkeit) als der Ort der Geisterfahrung ist in dieser Perspektive genauso wesentlich wie das paradoxe Beieinander von Üben („Exerzitien") und Nichtmachen-Können von „geist-licher" Erfahrung im Tanz. 5) Geschlechtsspezifisch: Tanz ist mit seiner starken Basis von Frauentanzbelegen im Alten Testament (vgl. Fermor 190f.) ein wesentliches Gebiet praktisch-theologischer Forschung in feministischer Perspektive (Steck 3 2 1 - 3 3 6 ) . Auch die praktisch-theologische Männerforschung hätte hier eine phänomenologische Anbindung. Die Frage nach den differenten Erlebnisbedingungen der Tanzerfahrungen von Frauen und Männern ist auch für kirchliche Praxis unhintergehbar. 6) Gemeinde- und religionspädagogisch: Tanz wird hier virulent als Medium (nicht nur religiöser) Persönlichkeitsbildung. -»Bildung als Lebensbegleitung (Nipkow) findet hier ein durch seine Synästhesie profiliertes Medium, das zwar altersspezifisch zu differenzieren ist, jedoch vom Kindergartenalter bis zur Seniorenarbeit Verwirklichung findet. 7) Poimenisch: Die zahlreichen Impulse tanztherapeutischer Forschung und Praxis sind für das seelsorgerliche Handeln der Gemeinde fruchtbar zu machen (Willke/Hölter/ Petzold).

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T a n z II

8) Bibeldidaktisch: T a n z ist eine noch viel mehr zu entdeckende Aneignungsform biblischer Tradition. Die d a r a u f abzielenden P r a x i s k o n t e x t e haben eine große N ä h e zum Bibliodrama, zum -»Spiel als praktisch-theologischer Kategorie und zu den weiteren multiplen F o r m e n des Bibelgebrauchs (Schröer, Bibelauslegung). Dieser tänzerische Bibelgebrauch hat enormen Unterhaltungswert, in dem von H . Schroeter-Wittke (Unterhaltung) definierten dreifachen Sinn: nutritiv als „ L e b e n s m i t t e l " , kommunikativ im Sinne von „sich u n t e r h a l t e n " in k ö r p e r k o m m u n i k a t i v e r Weise, und amüsierend (Tanz und -»Humor). 9) Homiletisch: T a n z als Verkündigungsform n i m m t die nicht nur textlichen und verbalen Aspekte der Möglichkeiten, Evangelium zu kommunizieren, ernst (Mertin, Tanz). 10) Mystagogisch: In seinem Augenblickscharakter, seinem Verweischarakter auf ein Unverfügbares, seiner nicht fest-stell-baren K o m m u n i k a t i o n ist der Tanz eine F o r m religiöser Praxis, die sich im p a r a d o x e n Ineinander von Darstellbarem und Nicht-Darstellbarem ihren Bezug zum Geheimnis des Glaubens bewahrt. 11) Ökumenisch: Die Begegnung zwischen europäischen und beispielsweise afrikanischen und asiatischen Kirchen birgt für erstere seit Jahrzehnten das Potential, integrale kirchliche T a n z p r a x i s kennenzulernen. Die kontextuellen Theologien vieler Länder sind darüber hinaus auch eine bestehende Herausforderung, indigene naturreligiöse Strömungen ( - » N a t u r r e l i g i o n ) praktisch-theologisch zu rezipieren und fruchtbar zu machen. 6. Tanz

in der kirchlichen

Praxis

(Handlungsfeider)

1) Liturgische Praxis: In diesem Praxisfeld sind bisher die stärksten Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu verzeichnen gewesen, die sich in einer Flut von Praxisliteratur widerspiegeln. Die Bewegungen, die sich hier in beiden großen Kirchen in Europa sowie in zahlreichen Kirchen in den USA formiert haben, gebrauchen unterschiedliche Bezeichnungen für das, was sie an Tanz im Blick auf die liturgische Praxis ihrer Kirchen einbringen: Sakraler Tanz, Liturgischer Tanz, Kirchentanz, Meditativer Tanz (vgl. Berger; Vogler, Spiritualität; Kolster, Kirchentanz; Lander/ Zohner; M.-G. Wosien, Sakraler Tanz). 2) Kirchliche Kulturarbeit: Hier entstanden und entstehen Initiativen, die sich zum einen um den Dialog mit nicht-kirchlich verantworteten Kunsttanzprojekten bemühen und zum anderen in eigener kirchlicher Verantwortung Kunsttanzprojekte realisieren (so z. B. regelmäßig auf den Kirchentagen). Kirchliche Kulturarbeit agiert hier jedoch nicht nur mit ihrer Inszenierungskompetenz, sondern auch mit ihrer Deutungskompetenz von religiösen Phänomenen im Tanz (beispielsweise in begleitenden Seminaren). 3) -»Erwachsenenbildung: Die beiden zuletzt genannten Aspekte lassen sich auch miteinander in kirchlicher Erwachsenenbildungsarbeit verwirklichen. Zahlreiche der obengenannten Perspektiven auf Tanz finden ihr Praxisfeld in Workshops, in Exerzitien, in Fortbildungsseminaren für Haupt- und Ehrenamtliche sowie auf Akademietagungen. 4) Gemeinde- und -*Religionspädagogik: Tanz kann ein wichtiges Medium aller gemeindepädagogischen Praxisfelder sein, von Kinder- über Jugend- bis hin zur Seniorenarbeit (Kuppig; Bittner). In den 90er Jahren des 20. Jh. hat es hitzige Diskussionen um Techno-Gottesdienste gegeben. Besonders hier besteht auch ein Konnex zu den Herausforderungen kirchlicher Kulturarbeit. Auch in schulischen Kontexten ist Tanz ein unverzichtbares Medium nonverbalen religiösen Lernens und Erfahrens (Richter-Frey). 5) Ausbildung: Ein wesentliches Feld, die obengenannten Perspektiven überhaupt zu thematisieren und zu trainieren, ist die Ausbildung an Hochschule, Fachhochschule und Instituten für Pfarrer/-innen, Lehrer/-innen, Gemeindepädagogen/-innen, Diakone, Kirchenmusiker/-innen. Hier steckt die Entwicklung freilich noch in ihren Anfängen. Literatur Douglas Adams (Hg.), Dancing the OT. Christian Celebrations of Israelite Heritage for Worship and Education, Austin, Tex. 1980. - Ders./Dona Apostolos-Cappadona (Hg.), Dance as Religious Studies, New York 1990 (Lit.). - Ders./Judith Rock, Biblical Criteria in Modern Dance. The Modern Dance as Prophetic Form, Austin, Tex. 1980. - Philipp Anz/Patrick Walder (Hg.), Techno, Zürich 1995. - Theodorus P. van Baaren, Dans en religie, Zeist 1962; dt.: Selbst die Götter tanzen. Sinn u. Form des Tanzes in Kultur u. Religion, Gütersloh 1964. - Eugene Louis Backman, Religious Dances in the Christian Church and in Populär Medicine, London 1952. - Petra Bahr, Loi'e Füller.

Tanz II

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Tatian

655

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Gotthard Fermor Taoismus -•Chinesische Religionen Targum -»Bibelübersetzungen Tat -» Werke, gute Tatian (ca. 125-ca. 1. Leben

2. Werk

185) 3. Nachwirkung

(Quellen/Literatur S. 659)

1. Leben In der Alten Kirche war Tatian (Taxiavöc,) als Apologet und Verfasser der Rede an die Griechen (XöyoQ Tipö; "EAÄtjvag) bekannt, heute ist er es in erster Linie als Verfasser der als Diatessaron (Siä xeaoäpcov = „durch [die] vier [Evangelien]") bezeichneten -•Evangelienharmonie. Er war Schülcr von -+Justin dem Märtyrer in -»Rom (so Irenaus, haer. 1,28,1). Danach unterhielt er dort eine eigene Schule; denn —»Eusebius von Caesarea (h.e. V,13,l) bezeichnet Rhodon, einen Gegner -»Marcions, als Tatianschüler. Nach -»Irenaus ist Tatian nach dem Tod Justins auf eine häretische Bahn geraten; nach Eusebius (chron.) wurde er 172 aus der römischen Gemeinde ausgeschlossen. Diese Angaben legen nahe, daß er im Verlauf der fünfziger Jahre des 2. Jh. nach Rom gekommen ist, dort bei Justin studiert hat, seine eigene Schule gründete und um 172 von der römischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. Nach eigenen Angaben ist Tatian „im Land der Assyrer" geboren (or. 42) und hat auf seiner ausgedehnten Reise bei vielen Philosophen studiert (or. 35). Das läßt vermuten, daß er bei seiner Ankunft in Rom etwa 30 Jahre alt war und dementsprechend zwischen 120 und 130 geboren ist. Über sein Leben nach der Trennung von der römischen Gemeinde ist wenig bekannt. Die einzige Quelle ist Epiphanius (haer. XLVI,1,8). Ihm zufolge verließ Tatian Rom und kehrte in den Osten zurück - wohin genau, wird nicht gesagt. Dort gründete er eine Schule und gewann weitreichenden Einfluß. Das läßt an eine beträchtliche Zeit intensiver Wirksamkeit nach 172 denken. Setzt man dafür etwa ein Jahrzehnt an, dürfte er zwischen 180 und 190 im Osten verstorben sein. Die Äußerungen über Tatian in westlichen patristischen Zeugnissen sind kurz und geben zuweilen Anlaß zu Verdacht; denn sie stammen von „großkirchlichen" Gegnern. Orientalische Zeugnisse bringen ihm mehr Sympathie entgegen (zu den orientalischen und westlichen Zeugnissen s. Petersen 3 5 - 6 7 ) . Irenaus (haer. 1,28; 111,23,8) nennt zwei Gründe für seinen Ausschluß aus der römischen Gemeinde: Z u m einen sei er Anhänger

656

Tatian

-•Valentins geworden, was auf eine Verbindung mit der -»Gnosis deutet, und zum anderen sei er Enkratit gewesen, Vertreter einer asketischen Bewegung, die Fleisch- und Weingenuß sowie Geschlechtsbeziehungen jeder Art einschließlich der -»Ehe verwarf (s. TRE 4,211 f.; 18,121f.). Als Evangelienharmonie gibt das Diatessaron keinen Einblick in Tatians Leben. Dagegen bietet die Rede an die Griechen einige Hinweise. Außer seiner Herkunft aus dem „Land der Assyrer" (das sich nach zeitgenössischem Verständnis vom Tigris im Westen bis nach Medien im Osten und von den Bergen Armeniens im Norden bis nach Ktesiphon im Süden erstreckte und im allgemeinen Sprachgebrauch auch auf —»Syrien insgesamt bezogen werden konnte) berichtet Tatian davon, wie er zu einem fahrenden Studenten geworden ist, der Erfahrungen mit vielen Philosophenschulen sammelte (or. 35; vgl. or. 29). Seine Bekehrung zum Christentum erfolgte offenbar vor seiner Bekanntschaft mit Justin und war eine Folge der Lektüre christlicher religiöser Texte, so gut wie sicher der Septuaginta (or. 29). Der Ton seiner Rede ist entlarvend: Tatian gibt sich in der Selbstdarstellung vollmundig (er bezeichnet sich als „Herold der Wahrheit", or. 17,1; er stellt fest: „Herrschen will ich nicht, nach Reichtum strebe ich nicht, militärische Würden lehne ich ab, Unzucht ist mir verhaßt, aufs Meer treibt mich kein unersättlicher Hunger nach Gold,... ich prahle nicht mit meiner edlen Abkunft" [or. 11], übers. R.C. Kukula [BKV2 12]), und bei seiner Herabsetzung der griechischen Welt wird er bissig (or. 29). Es entsteht der Eindruck einer reizbaren, schroffen Persönlichkeit, die schnell zum Angriff bereit ist und nicht zu Kompromissen neigt. 2. Werk Nur zwei der Schriften Tatians sind erhalten, doch die Titel von vier weiteren sind überliefert. Zwei davon nennt er selbst in seiner Rede: Über die Tiere (or. 15) und An diejenigen, die über Gott gehandelt haben (or. 40). -»Clemens von Alexandrien erwähnt eine Schrift Über die Vollkommenheit nach den Worten des Erlösers (str. 111,12), und Eusebius (h.e. V,13,8) zufolge hat Rhodon von einer Schrift Tatians mit dem Titel Probleme gesprochen (zu den verlorenen Schriften Tatians s. Bardenhewer I, 283 f. [§ 19,4]). Darüber hinaus ist aufgrund einer Bemerkung bei Eusebius (h.e. IV,29,6) angenommen worden, daß Tatian - möglicherweise als Entsprechung zum Diatessaron - eine Paraphrase oder Revision der paulinischen Briefe (-»Paulus) geschrieben und darin unter dem Deckmantel einer „Verbesserung" der paulinischen Ausdrucksweise Textänderungen vorgenommen hat. 2.1. Die eine der erhaltenen Schriften Tatians ist seine Rede an die Griechen. Obwohl Tatian im Westen seit der Zeit des Irenaus als Häretiker galt, fand diese Schrift doch den Beifall kirchlicher Autoren wie Clemens' von Alexandrien (str. 1,21) und Eusebius' (h.e. IV,29,7). Als Apologie (-»Apologetik) forderte sie die Aufhebung bestimmter Gesetze, deren Erlaß (oder Verschärfung) in jüngster Zeit zu -»Christenverfolgungen geführt hatte (or. 4,1; 12,5; 25,3; 27,1; 28,1). Tatians Verteidigung des Christentums ist ungewöhnlich: Statt sich bei den Gegnern in ein gutes Licht zu setzen oder um ihr Verständnis zu werben, führt er einen schroffen Angriff gegen alles Griechische. Die -»Griechische Religion und Philosophie macht er wegen mangelnder Originalität lächerlich (or. 1), die griechischen Philosophen wegen ihrer Widersprüche (2f.), die griechischen Götter wegen ihrer anthropomorphen Züge und ihrer grotesken Abenteuergeschichten (8-10); er spottet über den Glauben der Griechen an eine Welt von -»Dämonen, die durch magische Formeln und Zaubertränke beherrschbar ist (16-18), über griechische -»Philosophie (19; 21) und griechische Lustbarkeiten in allen Formen - Theater, Musik, Tanz und Kampfspiele (22-24). Die -»Wahrheit, so behauptet Tatian, ist einheitlich und nicht in sich widersprüchlich (12), die philosophischen und religiösen Auffassungen der Griechen aber widersprechen einander. Die göttliche Wahrheit hat ihren Ursprung bei Gott und ist nicht abgeleitet (1). Die philosophischen und religiösen

Tatian

657

Vorstellungen der Griechen sind dagegen erkennbar abgeleitet und entlehnen voneinander Mythen und Grundsätze. Zwischen den Ausfällen stellt Tatian Vergleiche mit dem Christentum an: Während heidnische Philosophen im Wettstreit ihrer Systementwürfe und Behauptungen einander widersprechen, lehren die Christen eine einzige, in sich stimmige Wahrheit; während die Heiden Gottheiten verehren, die sich in Bäume, Schlangen und Vögel verwandeln, verehren die Christen einen Gott, der Geist ist; während heidnische Kultfeiern (an denen Tatian nach eigener Aussage teilgenommen hat) entmännlichte Kultdiener und blutige Rituale kennen und frevelhaftem Tun nachgehen (29), suchen die Christen ein tugendhaftes Leben zu führen. Im Einklang mit der zeitgenössischen Auffassung, daß sich Wahrheit durch ihr Alter ausweist, macht Tatian geltend, daß -»Mose älter ist als Homer (31; 3 6 - 4 1 ; zum Altersbeweis der Reden und seinem Kontext s. Droge 82-101; Pilhofer). Die „wahre Philosophie" (das Christentum) unterscheidet sich von der griechischen Religion in drei Dingen: Sie ist göttlichen Ursprungs (denn sie ist nicht abgeleitet), besitzt das höhere Alter (denn Mose geht Homer voraus) und ist in Lehre und Glauben einheitlich. Am Ende sieht sich der Leser vor die Frage gestellt, die ihre Antwort bereits in sich birgt: M u ß nicht einer von guter Gesinnung bestimmten, „wahren" und in sich stimmigen Religion die gleiche Freiheit von Verfolgung gewährt werden, wie sie Religionen genießen, die erweislich unerbaulich, unwahr und widersprüchlich sind? (Zur Rede insgesamt s. Elze mit eingehender Untersuchung ihrer Theologie.) Gattung, Datum, Adressaten und Anlaß der Rede sind erörtert worden (s. Ponschab 8 - 1 0 ; Kukula 16f.; Elze 4 1 - 4 3 ) , doch ist dabei der geschichtliche Hinweis außer acht geblieben, den die von Tatian erwähnten, ihn zu seiner Schrift veranlassenden neuen Gesetze bieten. Darum hat Grant (Date; ders., Heresy) nach einem Zeitpunkt gesucht, auf den dieser Hinweis zutreffen könnte, und hat ihn in der Verfolgung von 177 gefunden, bei der -»Polykarp den Tod fand. Aufgrund der von ihm gegebenen historischen Begründung ist dieser Ansatz der befriedigendste. Enkratitische Züge fehlen in der Rede, doch sie enthält gnostische Elemente. Das wohl eindeutigste von ihnen begegnet in or. 7 , 1 - 3 , wo Tatian behauptet, ein Mittler - nicht der höchste Gott - habe die Welt geschaffen (eines der Kennzeichen der Gnosis). Zu den auffallenden Zügen der Rede gehört es, daß Tatian seinen Glauben nie als Religion anspricht, sondern als „Philosophie" (31,1), „Wahrheit" (17,1), „Unterweisung" (12,5; 35,2) oder „wahre Weisheit" (26,2). Uberraschend ist auch, daß die Worte „Jesus", „Christus" und „Christentum" nicht begegnen; allerdings ist dies auch bei -»Theophilus von Antiochien und Athenagoras (-»Apologetik) der Fall. Die Religiosität der Rede ist eindeutig philosophisch, ethisch und abstrakt; das Leben, Leiden und Sterben des irdischen Jesus spielt darin keine erkennbare Rolle. 2.2. Die zweite erhaltene Schrift Tatians, das Diatessaron (-+Evangelienharmonie, bes. 2.), war eines der wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Werke der Alten Kirche. Anders als die Evangelien selbst erfuhr diese Evangelienharmonie eine weitere Verbreitung als jede andere Schrift der altkirchlichen Literatur. Es war der erste syrische und armenische Evangelientext und war bis zu seiner Ersetzung durch die „getrennten" Evangelien im 5. Jh. der maßgebliche Evangelientext des syrischen Christentums, der von der „Großkirche" wie von heterodoxen christlichen Gruppen gleichermaßen benutzt wurde (-»Theodoret von Kyros, haer. 1,20; Rabbula von Edessa, can. 43). Im Osten wie im Westen hat das Diatessaron weite Verbreitung gefunden. Noch heute gibt es überarbeitete Abschriften davon oder Anführungen daraus, im Osten in Syrisch, Arabisch, Armenisch, Persisch, Griechisch und Parthisch und im Westen in Latein, Altsächsisch, Alt- und Mittelhochdeutsch, Mittelniederländisch, Mittelitalienisch und Mittelenglisch. Ihrer Herkunft nach erstrecken sich diese Zeugnisse von England bis China, und sie datieren vom 3. bis zum 15. Jh. Das Diatessaron ist wahrscheinlich syrisch abgefaßt worden (allerdings ist auch an eine griechische oder gar lateinische Abfassung gedacht worden), und es scheint eine

658

Tatian

Erweiterung einer noch älteren, von Tatians Lehrer Justin verwendeten Harmonie der synoptischen Evangelien zu sein. Offensichtlich hat Tatian Justins Harmonie der drei synoptischen Evangelien überarbeitet und dabei zu einer Harmonie aller vier Evangelien umgewandelt. Gnostische Züge begegnen im Diatessaron nicht, doch zeigen sich gelegentlich enkratitische Tendenzen. So heißt es Lk 2,36, die Prophetin Hanna habe „sieben Jahre nach ihrer Jungfrauenschaft" mit ihrem Ehemann zusammen gelebt; das Diatessaron bot dagegen offenbar die Lesart, daß sie „sieben Jahre mit ihrem Ehemann Jungfrau blieb". Diese Abwandlung weist auf das enkratitische Ideal einer jungfräulichen Ehe (zu eine Aufstellung enkratitischer Lesarten im Diatessaron s. Petersen 79—82). Neben Sonderlesarten wie der genannten zeigt das Diatessaron zahlreiche Übereinstimmungen mit frühchristlichen Texten wie dem Werk Justins oder dem Thomasevangelium (-»•Apokryphen II.6.2.), der Vetus Syra und der Vetus Latina (-»Bibelübersetzungen I). Das ist nicht verwunderlich; denn dem Diatessaron liegen die Evangelien in der Fassung zugrunde, in der sie in der Mitte des 2. Jh. umliefen. Das bedeutet, daß es eine der gewichtigsten Quellen für die Herstellung des ältesten wiedergewinnbaren Evangelientextes ist (Uberblick über Textzeugnisse, Forschung und Diskussion sowie Bibliographie bei Petersen). 3.

Nachwirkung

In der Rezeption Tatians besteht ein Unterschied zwischen dem Bereich der orientalischen Nationalkirchen und der westlichen, griechisch-lateinischen Kirche. Hier waren früh bestimmte Seiten Tatians und seines Werkes bekannt, von denen man im Orient nichts wußte; in anderen Fällen wiederum verhielt es sich umgekehrt. Ein Beispiel bietet schon der Name „Tatian": Bereits 185 wird Tatian von Irenäus namentlich erwähnt und dabei charakterisiert und als Häretiker verurteilt. Seine früheste Erwähnung in einer orientalischen Originalquelle (im Gegensatz zu orientalischen Übersetzungen westlicher Quellen wie Irenäus oder Eusebius) begegnet dagegen erst 791 im Liber scholiorum von Theodor bar Koni. Weiterhin wird er im Westen von Anfang an als Häretiker eingeordnet, während der Orient (von einigen wenigen späten Ausnahmen abgesehen) diese Kennzeichnung nicht kennt und ihn daher als orthodox erscheinen läßt. Ein weiteres Beispiel ist die Rezeption der beiden überlieferten Schriften Tatians, der Rede und des Diatessarons. Im Westen war die Rede früh bekannt und stand in hohem Ansehen. Das Diatessaron dagegen wird erstmals bei Eusebius erwähnt und zudem in einer Weise, die annehmen läßt, daß er selbst keine unmittelbare Kenntnis davon hatte. Als Bischof Viktor von Capua (541-554) in der Mitte des 6. Jh. in Italien auf ein Exemplar des Diatessarons ohne Verfassernamen und Titel stieß, kostete es ihn erhebliche Mühe, beides zu ermitteln. Offensichtlich waren Tatian und sein Diatessaron zur Zeit Viktors im Westen tatsächlich unbekannt. Im Orient dagegen verhielt es sich gerade umgekehrt: Die Rede und Tatians Rolle als Apologet waren unbekannt, während das Diatessaron seit dem späten 2. Jh. als Standardevangelium der syrischen Kirche in Ansehen stand. In der Mitte des 4. Jh. hatte es eine solche Geltung, daß -»Ephraem Syrus einen Kommentar dazu verfaßte. (Die halbamtliche Geltung des Diatessarons in der frühen syrischen Kirche ist wohl auch der Grund dafür, daß orientalische Quellen Tatians Auseinandersetzung mit der Römischen Kirche fast ganz außer acht lassen.) Ein letztes Beispiel ist das unterschiedliche Nachleben Tatians im Gedächtnis der späteren Zeit. Die Unkenntnis Viktors von Capua in der Mitte des 6. Jh. zeigt, daß das Gedächtnis Tatians im Westen rasch verblaßt ist. Die Gründe dafür sind deutlich: Es gab kein Bedürfnis, die Erinnerung an einen Häretiker wachzuhalten, noch bestand die Notwendigkeit, das Gedächtnis eines Apologeten zu wahren, nachdem keine Apologien mehr erforderlich waren (wie es seit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion zu Beginn der achtziger Jahre des 4. Jh. der Fall war). Im Westen verschwand daher Anfang des 5. Jh. rasch das während der ersten vier Jahrhunderte noch vorhandene Gedächtnis Tatians. Im christlichen Orient dagegen beruhte sein Ruhm nicht auf seiner

Taufe I

659

Apologetik, sondern auf dem Diatessaron als dem ersten Evangelium der orientalischen Christen. Es kann daher nicht überraschen, d a ß noch 1299 der nestorianische Metropolit von Nisibis Ebedjesu bar Berikhä in seinem Nomokanon mit Ehrerbietung von Tatian spricht. Er schreibt ihm ein fast mystisches Verständnis der Evangelien zu, das es ihm ermöglichte, „den Sinn der Worte der Evangelisten [zu] erfassen ... und in seinem Geist die Absicht ihrer göttlichen Bücher [zu] verstehen ... [und sie im Diatessaron in einer Weise zu harmonisieren, daß] er die genaue Folge der Dinge wahrte, die vom Heiland gesagt und getan w u r d e n " (SVNC 191 [syr. Text]; 23 [lat. Übers.]). Quellen Eduard Schwartz, Tatiani Oratio ad Graecos, 1888 (TU 4/1). - T a t i a n u s , Rede an die Bekenner des Griechentums, übers, v. Richard Cornelius Kukula, 1913 (BKV 2 12). - Molly Whittaker, Tatian. Oratio ad Graecos and Fragments, 1982 (OECT). Zum Diatessaron vgl. -»Evangelienharmonie 2. u. bes. Petersen (s.u.) zu den Ausgaben der zahlreichen einzelnen Zeugnisse.

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William L. Petersen

Taufe I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Religionsgeschichtlich Neues Testament Alte Kirche Mittelalter Reformationszeit Neuzeit Dogmatisch und ethisch Praktisch-theologisch

S. 663 S. 674 S.697 S.701 S.710 S. 720 S. 734

I. Religionsgeschichtlich 1. Etymologische Parallelen 2. Der religionsökologische Kontext kreise 4. Ritus und Bekenntnis (Quellen/Literatur S. 662)

1. Etymologische

3. Ausgewählte Kultur-

Parallelen

Die religionsgeschichtlichen Analogien zur christlichen Taufe sind spärlich bzw. als Riten mit unterschiedlicher Bedeutung (Ablutionen, Besprengen, Untertauchen usw.) so weit verbreitet, d a ß eine Übertragung auf den Begriff „ T a u f e " nicht ohne weiteres möglich ist. Z u m a l weil im außerchristlichen Bereich die der T a u f e innewohnende eschatologische Dimension zu fehlen scheint, lassen sich religionsgeschichtliche Parallelen nur mit Vorbehalten zur Erklärung des christlichen Sakraments heranziehen. Dabei darf die N ä h e zur Initiation und ihrer rituellen Praxis sowie die häufige Synonymität von Taufe und Initiation nicht außer acht gelassen werden. Die im Z u s a m m e n h a n g mit der etymologischen H e r k u n f t von ßäma) und ßanriCü) von A. Oepke (527f.) beschriebene Bedeutung „ e i n t a u c h e n " , „ u n t e r t a u c h e n " (transitiv),

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Taufe I

£V vXrj, „im Schlamm versinken" (Plotin, enn. 1,8,13), „Schiffbruch erleiden", „ertrinken", „umkommen" (Josephus, Bell 111,525), läßt sich auch in der Religionsgeschichte belegen und kommt im außerchristlichen Kontext im Sinne von „verderben" (nämlich der Seele; Libanius, or. 18,286), „untergehen", „von seinen Begierden oder Krankheiten überwältigt werden" (Plutarch; Philo; Plotin; vgl. Oepke 528) vor. Demgegenüber ist die Bedeutung „baden", „waschen" nicht, im Hellenismus spärlich belegt, wohingegen die Vorstellung des Zugrundegehens und Sterbens besonders in den -•Mysterienreligionen eine tragende Rolle spielt. Sie ist zumal auch in den Religionen der indigenen Völker ein durch die Initiationsforschung durchaus bekanntes Thema: Der Novize stirbt im Mannbarkeitskult und wird wiedergeboren. Das während der Beschneidung vergossene Blut symbolisiert seinen Tod und zugleich seine Aufnahme in die Männergesellschaft des Klan (J. Prytz Johansen, Primitive Religion II: H R G I, Göttingen 1971,74.75; Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen III/2, Freiburg/Basel/Wien 1991, 158.159). Doch das Drama der Initiation enthält nur Bruchstücke aus dem Symbolkosmos, von dem die Taufe lebt, und kann deshalb nur partiell zum Vergleich herangezogen werden. In den eleusinischen, Attis- und Mithras-Mysterien, den Dionysos- und (außerägyptischen) Isiskulten fanden sakrale Waschungen statt, die der Reinigung dienten (-»Reinheit I) und das Sterben (Untertauchen) mit einem Ritus der Unsterblichkeit verbanden (Klauck I, 103). Jegliche Schuld, die die Gläubigen rituell unrein machte, selbst die Blutschuld (Heraklit von Ephesus, Frgm. 5: FVS I, 151 f.), ließ sich wie Schmutz und Befleckung ( ß i a o ß a ) abwaschen. Zur Purgation bzw. der Katharsis diente neben Mitteln wie Rinderharn, Schlamm und Blut vor allem Quellwasser, fließendes Wasser also, oder Meerwasser (Eleusis). Wasser hatte stets und überall eine apotropäische Wirkung (Scheftelowitz 4 0 6 - 4 1 2 ) . Pausanias (Graec. descr. IX,39,5) berichtet von einem rituellen Bad im Heiligtum des Trophonios, das dem Initianden schon bei Lebzeiten Unsterblichkeit verhieß. Die Korybanten, die sich zur thrakischen Muttergöttin Kotys bekannten, wurden ßänrai (femininum) genannt. 1.1. Taufe und

Initiation

Eindeutige Kriterien für sakrale Waschungen sind in diesen und ähnlichen Parallelen jedoch nicht zu entdecken. Eher als Initiationsritus ( - » Initiation) ist auch die im Attiskult praktizierte „Bluttaufe" durch das Taurobolium bezeugt (4. Jh. n.Chr.), das uns der christliche Dichter -»Prudentius in seiner Hymnensammlung Peristephanon überliefert hat (dt.: Barrett/Thornton 156f.). Der Stier bzw. sein Blut galt als Sitz der Lebenskraft. Doch scheinen solche „Taufriten" den Status von Initiationen nicht überschritten zu haben. Allenfalls sind sie „Präambeln" zum Taufsakrament (Meslin 60). Sie haben zumindest keine eschatologische Relevanz. Diese finden wir möglicherweise im Feuerordal der Zoroastrier („Feuertaufe"; Feuer = Sohn Ahura Mazdas), das im purifikatorischen und im eschatologischen Sinn zu verstehen ist: Reinigung von den Sünden, Gottesurteil und Endgericht (Yasna 30,7; 32,7), Lebenserneuerung bzw. Vergeltung, Verklärung der Gläubigen: Yasna 31,3,19; 34,4; 43,4; 46,7; 47,6 (vgl. Geo Widengren, Die Religionen Irans, 1965 [RM 14] 3 2 - 3 4 . 8 7 f . ) . Einzig die -»Mandäer scheinen Rituale zu besitzen, die dem an jedem Sonntag vollzogenen Taufakt, der masbütä, eigene Relevanz verleihen und den „Jordan lebenden Wassers" zum Symbol ihrer Religion gemacht haben (Rudolph, Religion 436). Rudolph weist ausdrücklich darauf hin, daß die mandäische Taufe keine bloße Nachahmung der nestorianischen Taufe sei, sondern in ihren Grundbestandteilen durchaus „das eigenständige Produkt einer vorchristlichen Umwelt von sogen. ,Taufsekten' häretisch-jüdischer Provenienz [ist], deren Kennzeichen eine betonte Waschungs- und Taufpraxis war" (ebd. 438). 2. Der religionsökologische

Kontext

Bezeichnenderweise haben Flußdelten, Flußmündungen und Urstromtäler eine große Bedeutung für die Entstehung von Tauftraditionen und die Entwicklung von Taufriten:

Taufe I

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Der im Zusammenhang mit der Taufe ausgebildete Symbolkosmos ist ohne das kontextuelle Ökosystem nicht denkbar. Die riesigen Ströme, welche so gewaltige fruchtbare Schlamm-Massen ablagern (vgl. Kaplony 23) und kostbares Süßwasser transportieren, bevor sie in den Salzwasserozeanen aufgehen, galten und gelten als heilig und wundertätig: Der Nil unterstand der Macht des Gottes Chnum, über die Quelle des Euphrat wachte Enki, der Ganges entspringt im Himmel (Mahäbhärata 3,108 f.) und wird als „Ganga", die Mutter Indiens, verehrt, die fließenden Gewässer, in denen die Mandäer die masbütä vornehmen, sind allesamt „Jordane lebenden [d.h. fließenden] Wassers" und haben ihren Ursprung in der Lichtwelt des Nordens. Das Untertauchen in lebendem Wasser gilt zugleich als Sakrament der physischen bzw. spirituellen Reinigung und ist Garant der Unsterblichkeit.

3. Ausgewählte

Kulturkreise

3.1. Altes Ägypten. Purgativ und apotropäisch bestimmt waren zunächst auch die rituellen Waschungen, die das Ägyptische Totenbuch (vgl. T R E 1,469,41 ff.) erwähnt. Die moralischen Verfehlungen und ihre Absolution werden hier noch ganz körperlich verstanden, gleichsam materialisiert, wenn es Spruch 17,11 f. heißt: „Entfernt ist alles Übel, das an mir war ... Das bedeutet, daß ich am Tage meiner (Neu-)geburt gereinigt wurde in den beiden großen und gewaltigen Teichen, die in Herakleopolis sind" (dt.: Hornung 63).

Aber schon relativ früh (1. Zwischenzeit; vgl. Kaplony 17.22) wird Wasser als wichtigstes Element im Beschwörungsritual, „Wasser des Lebens", genannt. So verweisen die für Wassertropfen verwendeten Hieroglyphen „Leben" und „Gesundheit" auf eine Neubelebung. Der tote Osiris wird mit Nilwasser besprengt, und aus seinem Körper erwächst eine neue Vegetation. Wiederbelebung und Wiedergeburt werden identisch, ebenso wie der Gott mit dem Nil und der kultisch richtig behandelte Tote mit dem Gott (nämlich Osiris) identisch werden („Totentaufe"; Orphicorum Fragmenta 232). Aus dem Mythos entwickelte sich die Vorstellung, daß das Ertrinken im Nil eine Apotheose zur Folge habe. Die ironische Bemerkung Herodots (11,90), daß jemand, der von einem Krokodil ins Wasser gezogen wird, zum Gott erklärt und wie ein Gott bestattet würde, macht die ursprüngliche Bedeutung von ßamitlEiv, „ertrinken", „untergehen", durchaus wahrscheinlich. Aber wer im Nil ertrank, wurde nicht nur vergottet, sondern gelangte auch zu neuem Leben (vgl. das Schicksal des Antinous; Oepke 531). Damit erhält das (heilige) Wasser die Macht der Divination und der Transformation: Es wird zum Weihwasser. Wahrscheinlich knüpfen die Mysterientaufen an diese Tradition an und sind dementsprechend als freiwilliges Sterben und anschließende Vergottung verstanden worden. Corpus Hermeticum 1,4,4 macht deutlich, daß dieser sakrale Taufvorgang den Initianden zu einem Geistwesen macht, das an der Gnosis teilhat und den Ursprung bzw. das Schicksal der Seele kennt, eine Gabe, die nur einer Elite von Gläubigen zuteil wurde. 3.2. Mesopotamien. Vergleichbare religionsgeschichtliche Traditionen, die sich aus der altorientalischen Frühzeit herleiten lassen, scheint es in Babylonien (-»Babylonischassyrische Religion) nicht gegeben zu haben. Allerdings kommt z. B. die Beschwörungsformel, mit der sich der Gläubige vor Enki, dem Herrn von Eridu, rechtfertigt, bereits einer differenzierteren Symbolik nahe. Das heilige Wasser, das aus der Quelle von Eridu stammt, diente nicht nur der Purgation, sondern war Mittel zur Abwehr des Bösen und Immunitätsmerkmal: „Beschwörung. Ich habe meine Hände gewaschen, / meine Hände für mich gereinigt... / Wie diesen Wassern Zauberei, Auflehnung, böses Wort / sich nicht nähern, nicht nahe kommen, / so nähern sich Zauberei, Auflehnung, böses Wort / (mir) nicht, kommen mir nicht nahe" (Maqlü, Tafel VII, Spruch 178f.: dt.: Meier 5).

662

Taufe I

3.3. Indien und Hinduismus. Grundsätzlich gelten seit dem ältesten -»Hinduismus alle Flüsse als numinos besetzt (Mahäbhärata 12,263,40), weil sie mit ihrem „lebenden" und darum heilsamen, reinigenden und Fruchtbarkeit spendenden Wasser Segen über das ganze Land bringen. Der Brahmane soll dreimal täglich ein Bad nehmen und, bevor er untertaucht, die an den heiligen Ganges gerichteten glückbringenden, „reinigenden" Verse (pävamäni) sprechen: „Die Geburtsstätten der heiligen Ordnung, die Stätte der Unsterblichkeit, alle diese Gewässer, welche den Göttern angenehm duften, diese unsere Gewässer sollen wegführen die Sünde; gläubig komme ich in die Welt des Rechtschaffenen, durch diese pävamäni-Werse reinige ich mich" (V. 15; dt. Übers, bei Scheftelowitz 358). Dann taucht er ein Grasbüschel ins Wasser und besprengt damit sein Haupt, um seine Sünden zu tilgen (ebd. 361). Wort und Sakrament ergänzen einander und haben sogar die Kraft, den Geburtenkreislauf (samsära) zu durchbrechen: „Welche ungeheure Sünde ich, als ich noch im Mutterschoß weilte, und welche sonstige Sünde ich bei meiner Geburt, und welche Sünde ich, nachdem ich geboren war, beging, und welche ich während meines Heranwachsens beging, diese reinige ich durch die pävamäni-VeTse" (V. 7; ebd. 356). Wasser hat im Hinduismus eine mit anderen Taufriten der Religionsgeschichte durchaus vergleichbare Bedeutung: Es dient als Absolution, heilt von unheilvollem Karma und schafft die Voraussetzungen für ein neues Leben bzw. sorgt für eine glückliche Wiedergeburt. Interessant ist dabei die Tatsache, daß der sakramentale Ritus nie ohne Wort und Gebet stattfindet, ja beide erst das Sakrament begründen. 4. Ritus und

Bekenntnis

Bedingung für die Zulassung zur Taufe und die Wirksamkeit des Sakraments ist ein „reines Herz", das der Initiand mitbringen muß, wenn er mit der Taufe in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen werden will, wie es z. B. die essenische Gemeinderegel vorschreibt (1QS VI 16f.21; ->Qumran 1.3.3.3.). Durch ein beflecktes Herz würde das heilige Wasser ebenfalls befleckt werden. Das Thema Proselytentaufe (-»Proselyten/ Proselytentaufe) stellt sich insofern, als die Initianden Novizen sind, die, nachdem sie eingeweiht sind, zu Vollmitgliedern ihrer Kultgemeinde werden bzw. ihre Mitgliedschaft durch die Taufe immer wieder neu bekräftigen müssen (—»Mandäer). Zusammen mit einem Ritualtext oder einer Beschwörungsformel übernimmt das Wasser den „elementaren Teil" im Reinigungs- bzw. Taufprozeß und bereitet auf diese Weise die sakramentalen Grundlagen für einen Ritus vor, der in einer großen Vielfalt überall in der Religionsgeschichte zumindest angelegt ist. Quellen Die assyrische Beschwörungssammlung Maqlü, neu bearb. v. Gerhard Meier, Berlin 1937 (AfO.B 2) = Osnabrück 1967. - Corpus Hermeticum, hg. v. Arthur Darby Nock/André-Jean Festugiere, 4 Bde., Paris 1 9 4 5 - 1 9 5 4 . - FVS 1 2 1966. - Herodotus, Historiae, griech. u. dt., hg. u. übers, v. Josef Feix, München 1977. - Flavius Josephus, Bellum Judaicum, hg. u. übers, v. Otto Michel/ Otto Bauernfeind, Darmstadt 1966. - Libanius, Orationes, hg. v. Richard Förster, Leipzig, VI 1903ff. = Hildesheim 1963. - Mahäbhärata. Ein altindisches Epos, bearb. v. Biren Roy, übers, v. Elisabeth Roemer, Düsseldorf 1961. - Mandäische Liturgien, mitgeteilt, übers, u. erklärt v. Mark Lidzbarski, 1920 (AGWG.PH NS 17/1) = Hildesheim 1962. - Orphicorum Fragmenta, hg. v. Otto Kern, Berlin 1922 = 1963. -Pausanias, Descriptio Graeciae, hg. v. Maria Helena da Rocha-Pereira, 1973ff. (BSGRT). - Plotins Schriften, übers, v. Richard Härder, neubearb. mit griech. Lesetext u. Anm., Hamburg, I 1956; fortgef. durch Rudolf Beutler u. Willy Theiler, ebd., I I - V I 1 9 6 0 - 1 9 7 1 . - Aurelius Prudentius Clemens: Charles Kingsley Barrett, Texte zur Umwelt des NT, hg. v. ClausJürgen Thornton, Tübingen 2 1991 (UTB 1591). - Die Texte aus Qumran, hebräisch u. dt., hg. v. Eduard Lohse, München/Darmstadt 1981. - Der Rig-Veda, hg. u. übers, v. Karl Friedrich Geldner, Cambridge, Mass. 1951. - Das Totenbuch der Ägypter, eingel., übers, u. erläutert v. Erik Hornung, Zürich/München 1979.

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Taufe II

663

Pelusischen Spielen, 1 5 6 - 1 5 9 ; Esictus. Der Ertrunkene oder der zum Osiris Gewordene, 1 7 4 - 1 8 3 . - AuC 2 (1930 = 1974): Die Bedeutung von ßanriCcoOai in einem Papyrustext des Jahres 152/151 v.Chr., 57 - 62; Der Durchzug durch das Rote Meer als Sinnbild der christl. Taufe, 63 - 7 9 ; Tertullian über die Bluttaufe, 1 1 7 - 1 4 1 . - Wilhelm Brandt, Die jüd. Baptismen, Gießen 1910. - Franz Cumont, Les religions orientales dans le paganisme romain, Paris 1906; dt.: Die orient. Religionen im röm. Heidentum, Leipzig 1910 3 1931 = Stuttgart 1989 (Lit. zum Taurobolium). - Ethel S. Drower, The Mandaeans of Iraq and Iran. Their Cults, Customs, Magic, Legends, and Folklore, Oxford 1937 = Leiden 1962. - Dies., The Canonical Prayerbook of the Mandaeans, Leiden 1959. - Robert Duthoy, The Taurobolium. Its Evolution and Terminology, 1969 (EPRO 10) (Lit.). - Hans-Georg Gaffron, Stud, zum kopt. Philippusevangelium mit besonderer Berücksichtigung der Sakramente, Diss, theol. Bonn 1969 (Lit.). - Hugo Greßmann, Tod u. Auferstehung des Osiris. Nach Festbräuchen u. Umzügen, 1923 (AO 23/3). - Francis Llewellyn Griffith, Herodotus 11,90. Apotheosis by Drowning: ZÄS 46 (1909) 1 3 2 - 1 3 4 . - Peter Kaplony, Art. Wasser: LA 7 (1992) 1 6 - 4 4 (Lit.). Hans-Josef Klauck, Die rel. Umwelt des Urchristentums, Stuttgart, 11995,110f. (zum Taurobolium); II 1996. - Martin Krause, Die Sakramente in der Exegese über die Seele: Jacques É. Ménard (Hg.), Les textes de Nag Hammadi, 1975 (NHS 7) 47 - 5 5 . - Johannes Leipoldt, Die urchristl. Taufe im Lichte der Religionsgesch., Leipzig 1928. - Hans Lietzmann, Ein Beitr. zur Mandäerfrage: SPAW.PH 27/1930 = Sonderausg. Berlin 1930. - Michel Meslin, Art. Baptism: EncRel(E) 2 (1987) 5 9 - 6 1 . Albrecht Oepke, Art. ßänxa), ßamifa: T h W N T 1 (1933 = 1957) 527 - 532 (Lit.). - Hermann Oldenberg, Das Mahabharata. Seine Entstehung, sein Inhalt, seine Form, Göttingen 1922. - Svend Aage Pallis, Mandaean Bibliography 1 5 6 0 - 1 9 3 0 , Oxford/London 1933. - Richard Reitzenstein, Hell. Mysterienreligionen, Leipzig 1910 J 1927 = Darmstadt 1977. - Ders., Die Vorgesch. der christl. Taufe, Leipzig 1929 = Darmstadt 1967. - Kurt Rudolph, Die Mandäer. II. Der Kult, Göttingen 1961. - Ders., Die Religion der Mandäer: Hartmut Gese/Maria Höfner/ders., Die Religionen Altsyriens, Altarabiens u. der Mandäer, 1970 (RM 10,2) 403 - 4 6 2 (Lit.). - Isidor Scheftelowitz, Die Sündentilgung des Wassers: ARW 17 (1914) 3 5 3 - 4 1 2 . - Eric Segelberg, Masbuta. Studies in the Ritual of Mandaean Baptism, Uppsala 1958 (Lit.). - Walter Curt Till, Das Evangelium nach Philippos, 1963 (PTS 2). - Geo Widengren, Mesopotamian Elements in Manichaeism, Uppsala/Leipzig 1946. Peter Gerlitz

II. Neues T e s t a m e n t 1. Einführung 2. Johannes der Täufer 3. Jesus von Nazareth 4. Die Taufe in den frühen Gemeinden 5. Paulus 6. Die Deuteropaulinen 7. Die Apostelgeschichte 8. 1. Petrusbrief/ Hebräerbrief 9. Der Missions- und Taufbefehl Mt 2 8 , 1 6 - 2 0 10. Das Johannesevangelium 11. Folgerungen (Literatur S. 674) 1.

Einführung

Die Taufe ist im gesamten Urchristentum das P r i m ä r d a t u m christlicher Existenz. Dies signalisiert ihren hohen Stellenwert in der urchristlichen T h e o l o g i e und Missionspraxis. Wenn die Taufe in einzelnen Schriften g a r nicht oder nur selten explizit erwähnt wird, dann ist dies nicht als Hinweis für Kritik, sondern als Ausdruck von Selbstverständlichkeit zu werten. 2. Johannes

der

Täufer

- • J o h a n n e s der T ä u f e r führte als erster innerhalb der jüdischen Religionsgeschichte die Taufe eines anderen Menschen ein. Unter A u f n a h m e von M a l 3 verstand er sich als Vorbote und Wegbereiter G o t t e s , der in Kürze „ m i t Heiligem Geist und Feuer t a u f e n " werde (vgl. M t 3 , 1 1 ; Lk 3 , 1 6 ; M k l , 7 f . ; J o h 1,26f.)- J o h a n n e s taufte an der Ostseite des J o r d a n s in Peräa gegenüber von J e r i c h o (vgl. J o h 1,28; 1 0 , 4 0 ) , an dem O r t , w o einst unter - » J o s u a das Volk Israel den J o r d a n durchschritt (vgl. J o s 3 f.) und - » E l i a den J o r d a n trockenen Fußes überquerte (vgl. II Reg 2 , 1 - 1 8 ; M a l 3 , 2 3 ) . Der T ä u f e r bereitete G o t t den Weg in der W ü s t e (vgl. die A u f n a h m e von Jes 4 0 , 3 in M a l 3 , 1 ) , verblieb aber bewußt östlich des J o r d a n s , u m so die gegenwärtige Situation Israels zu symbolisieren: Das Volk Israel entgeht dem hereinbrechenden - » G e r i c h t Gottes nur

664

T a u f e II

(vgl. M t 3 , 7 - 9 ; L k 3 , 7 f . ) , w e n n es neu in das Heilige L a n d einzieht. Dieser Schritt vollzieht sich d u r c h die T a u f e in den J o r d a n hinein (vgl. M k 1,5; M t 3 , 6 ) , die das künftige E n d g e r i c h t v o r w e g n i m m t und Heil verheißt. D e r aus priesterlichem G e s c h l e c h t stamm e n d e T ä u f e r (vgl. L k 1,5 - 2 5 . 3 9 - 7 9 ) n a h m für sich in A n s p r u c h , der rituelle Stellvertreter G o t t e s zu sein (vgl. M k 2 , 7 ) , durch dessen T a u f e die bisherigen Sünden der G e tauften im zukünftigen G e r i c h t G o t t e s vergeben werden (vgl. M k 1,4; M t 3 , 2 ; L k 3,3). J o h a n n e s verband mit der T a u f e zur - » Vergebung der Sünden auch einen neuen, streng an der T o r a orientierten L e b e n s w a n d e l , der b e s o n d e r e G e b e t s - und Fastenregeln mit e i n s c h l o ß (vgl. M k 2 , 1 8 ; M t 9 , 1 4 ; L k 5 , 3 3 ; 11,1). In E r s c h e i n u n g und Kleidung knüpfte der T ä u f e r o f f e n b a r zeichenhaft an Elia an (vgl. II R e g 1,8; M k 1,6; M t 3 , 4 ) , sein Auftreten sollte als die verheißene W i e d e r k e h r E l i a s verstanden werden. W a h r s c h e i n l i c h s a m m e l t e er schon zu Lebzeiten J ü n g e r u m sich (vgl. J o h 1 , 3 5 . 3 7 . 4 0 ; M k 2 , 1 8 - 2 0 ; Lk 11,1), die ihn nach seinem —»Tod als e s c h a t o l o g i s c h e n Prätendenten verehrten (vgl. L k 3 , 1 5 f . ; M k 6 , 1 4 f . ; J u s t i n , dial. 8 8 , 7 ; P s . - C l e m e n s , rec. 1,54.60) und erfolgreich M i s s i o n betrieben (vgl. Act 1 9 , 1 - 6 ) . D i e J o h a n n e s t a u f e bildete f o r m a l und auch inhaltlich das Vorbild für die urchristliche T a u f e . D i e K o n t i n u i t ä t zur J o h a n n e s t a u f e zeigt sich in den c h a r a k t e r i s t i s c h e n M e r k m a l e n urchristlicher T a u f p r a x i s : (a) D i e urchristliche T a u f e ist keine Selbsttaufe, sondern wird von einem T ä u f e r vollzogen (vgl. I K o r 1 , 1 4 . 1 6 ; A c t 8 , 3 8 ; 1 0 , 4 8 ; Did 7 , 4 ) . (b) D i e urchristliche T a u f e ist wie die J o h a n n e s t a u f e ein einmaliger A k t und unterscheidet sich dadurch von rituellen W a s c h u n g e n ( - » R e i n h e i t ) im antiken J u d e n t u m und im paganen H e l l e n i s m u s , (c) W a h r s c h e i n l i c h w u r d e a u c h die urchristliche T a u f e in der Regel durch U n t e r t a u c h e n in fließendem Wasser vollzogen (vgl. Act 8 , 3 8 ; D i d 7 , 1 ff.), (d) D i e urchristliche T a u f e w a r wie die J o h a n n e s t a u f e (vgl. M k 1,4) eine T a u f e zur Vergebung der Sünden (vgl. I K o r 6 , 1 1 ; R o m 3 , 2 5 ; Act 2 , 3 8 ) und hatte somit eine e s c h a t o l o g i s c h e und soteriologische D i m e n s i o n . 3. Jesus

von

Nazareth

G r u n d d a t u m aller n e u t e s t a m e n t l i c h e n T a u f a u s s a g e n und der mit ihnen verbundenen T a u f p r a x i s ist das h i s t o r i s c h e F a k t u m der T a u f e J e s u ( - » J e s u s Christus) durch J o h a n n e s den T ä u f e r (vgl. M k 1,9 par.). J e s u s akzeptierte u n e i n g e s c h r ä n k t die Person des T ä u f e r s und dessen Z u k u n f t s p e r s p e k t i v e . A u s d r ü c k l i c h b e t o n t er, d a ß der T ä u f e r m e h r als ein P r o p h e t w a r (vgl. L k 7 , 2 4 - 2 8 a p a r . ; M k 9 , 9 - 1 3 p a r . ; ferner M t 2 1 , 3 2 ; L k 7 , 2 9 f . ) ; unv e r k e n n b a r n a h m J e s u s die K e r n s t ü c k e der B o t s c h a f t des T ä u f e r s auf: die G e r i c h t s v e r fallenheit des nicht umkehrwilligen Israel und die Überzeugung von G o t t e s u n m i t t e l b a r b e v o r s t e h e n d e m Eingreifen in die G e s c h i c h t e . U b e r n a h m J e s u s auch die T a u f p r a x i s von J o h a n n e s ? D a r a u f k ö n n t e n die B e r i c h t e über eine T a u f t ä t i g k e i t J e s u in J o h 3 , 2 2 . 2 5 f . ; 4 , 1 hinweisen. D a g e g e n sprechen allerdings das Schweigen der S y n o p t i k e r und die erk e n n b a r e t h e o l o g i s c h e T e n d e n z des Evangelisten J o h a n n e s bei seiner Darstellung des taufenden J e s u s . Man kann zwar vermuten, daß die Synoptiker in ihrer tendenziösen Täuferdarstellung eine Nachricht über den taufenden Jesus unterdrückten, denn sie hätte Jesus zu einem Täuferschüler gemacht. Andererseits berichten sie jedoch von der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, während der vierte Evangelist davon nur indirekt spricht (vgl. Joh 1 , 2 9 - 3 4 ) . Johannes der Täufer kann aus johanneischer Sicht Jesus gar nicht taufen, denn jener stammt direkt von Gott, der ihm den -»Geist verleiht. Deshalb wird im Johannesevangelium Jesus zum Urheber späterer Taufpraxis (s.u. 10.). D i e S y n o p t i k e r berichten z w a r das historische F a k t u m der T a u f e J e s u durch J o h a n n e s den T ä u f e r , fügen es a b e r ebenfalls in ihr T ä u f e r - und J e s u s b i l d ein. M a r k u s läßt seine Leser an einer V i s i o n J e s u t e i l h a b e n , in der sich der H i m m e l öffnet und der - » G e i s t wie eine T a u b e a u f J e s u s h e r a b k o m m t (vgl. M k 1 , 9 - 1 1 ) . I m Z e n t r u m der V i s i o n steht die P r o k l a m a t i o n J e s u zum G o t t e s s o h n ; nun sind H i m m e l und E r d e , G o t t und M e n s c h durch J e s u s von N a z a r e t h v e r b u n d e n . M i t dem G o t t e s s o h n -

Taufe II

665

Titel baut Markus eine Erkenntnislinie auf, die über die Himmelsstimme bei der Verklärung (vgl. M k 9,7) zum Bekenntnis des Hauptmanns unter dem Kreuz führt (vgl. M k 15,39) und das zentrale Motiv der markinischen Christologie zum Ausdruck bringt: Der leidende und gestorbene Jesus von Nazareth ist der auferstandene Gottessohn. Bevor der Leser im Matthäusevangelium zum Taufbericht gelangt, hat er schon entscheidende Auskünfte über die Hauptperson des Buches erhalten: seine Herkunft vom Heiligen Geist (Mt 1,18-20), die wunderbare Geburt (Mt 1,18-25) und die Erfüllungen der messianischen Weissagungen (Mt 1,23; 2,6.15.18). Auch beim eigentlichen Taufbericht setzt Matthäus gegenüber Markus Akzente. In einem kurzen Gespräch vor der Taufhandlung weigert sich der Täufer, Jesus zu taufen, denn er müßte von ihm getauft werden (Mt 3,14f.). Das Problem der Zuordnung zwischen Jesus und dem Täufer löst M t 3,15: „Wir müssen so alle Gerechtigkeit erfüllen." Jesus, der Täufer und alle Christen müssen gleichermaßen dem Willen Gottes nachkommen (vgl. M t 5,17.20; 23,32; 25,37; 28,20). Jesus erfüllt durch das ganze Evangelium hindurch in vorbildhafter Weise den Willen des Vaters, er unterstellt sich ihm und läßt sich wie andere Menschen taufen. Damit gibt er ein Beispiel, wie die göttliche Forderung nach -»Gerechtigkeit zu erfüllen ist. Im Taufbericht redet die Himmelsstimme Jesus nicht direkt an, sondern Jesu Gottessohnschaft wird für den Täufer und die Leser des Evangeliums proklamiert (vgl. M t 3,17). Auch Lukas führt die Leser seines Evangeliums bereits in das Geheimnis der Person Jesu ein, bevor er von dessen Taufe erzählt. Jesus ist der Sohn des Höchsten (Lk 1,32), in ihm erfüllen sich die Verheißungen vom -•Messias (vgl. Lk 1,32; 2,11.26). Der eigentlichen Tauferzählung schaltet Lukas einen Bericht über das Wirken des Täufers und seine Gefangennahme vor (vgl. Lk 3,1-20). So wird Johannes der Täufer im Zusammenhang mit Jesu Taufe gar nicht erwähnt. Im Zentrum steht die Herabkunft des Geistes (Lk 3,22), die sich als Folge des Betens Jesu unmittelbar nach der Taufhandlung ereignet (Lk 3,21c). Im Zentrum steht somit der Geistbesitz Jesu, den Lukas zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu in Kap 4,14 noch einmal nachdrücklich unterstreicht. 4. Die Taufe in den frühen

Gemeinden

Nicht nur Jesus, sondern auch die frühe Jesusbewegung verdankt dem Täufer entscheidende Impulse. Nach Ostern setzte sich offenbar die Anschauung durch, daß die Ankündigungen des Täufers mit dem Geschehen um Jesus von Nazareth in unerwarteter Weise in Erfüllung gegangen sind. In dieser Kontinuität des eschatologischen Neuen dürfte der tiefste Grund für die Übernahme der Taufpraxis des Täufers in den frühen christlichen Gemeinden liegen. Diese Taufpraxis hob sich bei aller Kontinuität in dreifacher Weise von der Johannestaufe ab: (1) Sie versteht das Christusgeschehen als das eschatologische Heilsereignis, welches in der Taufe „auf den Namen des Herrn Jesus/im N a m e n Jesu Christi" gegenwärtig ist. (2) Die urchristliche Taufe ist mit der Gabe des Geistes verbunden. (3) In der Taufe vollzieht sich die Aufnahme in die eschatologische Heilsgemeinde. Diese drei Aspekte bilden das Proprium der frühen urchristlichen Taufe. Mehrere formelhafte Wendungen belegen eine Taufpraxis, die dem „Namen Jesu" eine zentrale Bedeutung beimaß: £i? xö övofia xov Kvpioo 'Irjooo (Act 8,16; 19,5; vgl. I Kor 1,13.15; Gal 3,27; Rom 6,3; M t 28,19); £V x(ö övöpaxi 'Irjoov Xpioxoö (Act 10,48; vgl. I Kor 6,11); £71/ tc5 dvönaxi 'Itjaoo Xpioxoö (Act 2,38). Eine exakte sprachliche Ableitung dieser formelhaften Wendungen gelingt weder aus dem paganen -»Hellenismus noch aus der Septuaginta (vgl. dazu Heitmüller; Delling). Vielmehr weisen ihre Variabilität und inhaltliche Breite darauf hin, daß sie als spezifisch christliche Bildungen zu gelten haben, die in der -»Auferstehung Jesu Christi von den Toten ihre sachliche Begründung und im jeweiligen literarischen Kontext ihren Sinn finden. Als tragender Gedanke dürfte hinter allen Wendungen eine grundlegende Erfahrung liegen: Im Aussprechen des Namens des Kvpioq 'Irjooüq XpioxÖQ ist in der Taufe sein Heilswerk ge-

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Taufe II

genwärtig und bestimmt von nun an das Leben des Getauften. Dies gewährt der Geist; die Erfahrung der Gegenwart des Geistes im Taufgeschehen markiert nicht nur eine Abgrenzung zur Johannestaufe, sondern das Zentrum urchristlicher Tauftheologie (vgl. Mk 1,8; Act 1,5; 8 , 1 4 - 2 5 ; 9,17.18; 11,16; I Kor 6,11; 12,13; II Kor l,21f.; Gal 5,24.25; Rom 5,5; Joh 3,5; Tit 3,5). Die Kraft des Geistes gewährt schließlich die Aufnahme in die eschatologische Heilsgemeinde (-»Eschatologie). Die Getauften sind von der Macht der -»Sünde getrennt (vgl. Act 2,38; 22,16; I Kor 6,11; Rom 3,25; 6 , l f . ; Hebr 10,22; Barn 11,1.11), sie leben von nun an in der Einheit des Leibes Christi (I Kor 12,13) und haben bereits Anteil an den Kräften der kommenden Welt (vgl. II Kor 1,22; 5,5; Rom 8,23). Die T a u f e J e s u am J o r d a n durch J o h a n n e s den T ä u f e r dürfte erklären, w a r u m von Anfang an in den urchristlichen G e m e i n d e n die T a u f e als normativer Initiationsritus galt. Die rituellen Waschungen in - » Q u m r a n (vgl. 1 Q S 2 , 2 5 - 3 , 1 2 ; 6 , 1 6 f . ; 5 , 1 3 ) , die Proselytentaufe (vgl. SifBam 108; b K e r 9a; -»Proselyten/Proselytentaufe) und die Waschungen in einzelnen Mysterienkulten (vgl. Apuleius, met. X I , 2 3 ) weisen einige Analogien auf, können aber nicht als geschichtliche Voraussetzung und Q u e l l e für die urchristliche T a u f e angesehen werden. Im Urchristentum wurden wahrscheinlich keine Kinder getauft (anders J e r e m i a s ) . Weder I Kor 7 , 1 4 noch die sog. O i k o s - F o r m e l (vgl. I K o r 1,16; Act 11,14; 1 6 , 1 5 . 3 3 ; 18,8) sind ein Beleg für eine frühe Kindertaufe (vgl. Aland; zur Entstehung der Kinder- und Säuglingstaufe s.u. III.3.3.).

5. Paulus 5.1. Die grundlegende Bedeutung der Taufe für die Genese und Gestalt der paulinischen Theologie (-»Paulus) zeigt sich in der Aufnahme von Tauftraditionen (I Kor 1,30; 6,11; 12,13; II Kor 1,21 f.; 5,21; Gal 3 , 2 6 - 2 8 ; Röm 3,25.26a; 4,25; 6 , 3 b - 5 ) . 5.1.1. In I Kor 1,30; 6,11 wird die neue Situation der Getauften als Erlöst-, Geheiligtund Gerechtfertigt-Sein beschrieben (—» Heiligung; -»Rechtfertigung). Die Taufe bewirkt die Erlösung/Abwaschung, die Heiligung und Gerechtmachung in einem realen Sinn. Durch die Taufe ist der Täufling frei von Sünden, gehört er zur ausgewählten Gemeinde Gottes und ist gerecht. Davon spricht auch II Kor 5,21; das Ziel der -»Gerechtigkeit Gottes liegt in der effektiven Gerechtmachung der Glaubenden und Getauften „in Christus". Die Glaubenden haben in der Taufe Anteil am stellvertretenden Tod Jesu und erhalten eine neue Existenz, deren Kennzeichen Gerechtigkeit ist. Einen weiteren zentralen Gedanken vorpaulinischer und paulinischer Tauftheologie entfalten I Kor 12,13; Gal 3 , 2 6 - 2 8 : die Taufe als Eingliederung in den Leib Christi, als Eintritt in das neue Sein ev XpiOTCp. I Kor 12,13 verdeutlicht, daß der Leib Christi in bezug auf seine Glieder präexistent ist. Die Taufe integriert den einzelnen in den vorgegebenen Leib Christi, sie ist der geschichtliche Ort der Aufnahme in diesen Leib und der reale Ausdruck der in Christus begründeten Einheit der Ekklesia. Der im Pneuma und als Pneuma gegenwärtige Kyrios (vgl. I Kor 15,45; II Kor 3,17) verleiht nicht nur den Getauften den Geist, sondern bewirkt die neue Gestalt der Gemeinde, deren Kennzeichen die Aufhebung religiöser und sozialer Fundamentalalternativen ist. Die räumlichen Dimensionen des paulinischen Taufverständnisses zeigen sich auch in Gal 3 , 2 6 - 2 8 . Durch die Taufe und in der Taufe gelangt der Christ in den Raum des pneumatischen Christus. Er ist nun umschlossen von Christus, hat Christus „angezogen", so daß die Unterscheidungen zwischen Mann und Frau, Jude und Heide, Grieche und Barbar nicht mehr gelten. Paulus bindet durch das Interpretament Siä ztji,; TtioxecoQ in Gal 3,26 das Neusein des Christen an den -»Glauben und somit an eine Realität, die sich der äußerlichen Demonstration entzieht. Zugleich teilt aber der Apostel die Grundanschauungen der Tradition: die Taufe vermittelt die Gottessohnschaft. Hier konstituiert sich die seinshafte Beziehung zwischen dem Täufling und Christus, die als reale Neuschöpfung aufzufassen ist. Einem räumlichen ev Xpiazip- Verständnis korrespondiert die Vorstellung einer neuen Existenz des Glaubenden, d.h. e'v XpiOTÖ) 'Irjaoo ist lokalseinshaft zu verstehen.

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Die grundlegende Bedeutung und die andauernde Wirkung des Heilshandelns Gottes in der Taufe betont II Kor 1,21.22. Gott selbst ist es, der die Gemeinde und den Apostel in der Taufe mit Christus verband und so das Fundament schuf, auf dem beide stehen. Die bewußte Gegenüberstellung des Partizips Präsens ßeßauöv zu den Aorist-Partizipien Xp'iaaq, opayi