Hegel-Studien Band 32 9783787329540, 9783787314966

TEXTE UND DOKUMENTE Paul Ziche. Naturforschung in Jena zur Zeit Hegels. Materialien zum Hintergrund der spekulativen Nat

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Hegel-Studien Band 32
 9783787329540, 9783787314966

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HE G E L- STU DIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER

B and 3 2

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-On-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1997, erschienen im Verlag Bouvier, Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1496-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2954-0 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

INHALT

TEXTE UND DOKUMENTE (Jena) Naturforschung in Jena zur Zeit Hegels. Materialien zum Hintergrund der spekulativen Naturphilosophie

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(Jena) Die Bestimmung des Menschen als Monismus der Freiheit. Zur Philosophie des böhmisch-deutschen Hegelianers Franz Thomas Bratranek (1815-1884) im Ausgang von einem unveröffentlichten Brief

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PAUL ZICHE

KLAUS VIEWEG

ABHANDLUNGEN KLAUS DüSING

(Köln)

Ontologie bei Aristoteles und Hegel T. PATERSON (Mississippi) Self-reference and the natural numbers as the logic of Dasein

61

ALAN L.

93

(Bochum) Hegel als Transzendentalphilosoph? Zu Heideggers „Phänomenologie"-Deutung von 1942

123

(Debrecen) Hegels Auffassung der Versöhnung und die Metaphorik der „ Vorrede" der Rechtsphilosophie - Risse am System?

137

DIETMAR KöHLER

ERZS^BET RöZSA

MISZELLE (Frankfurt) Eduard Gans über „Opposition" und Karl Rosenkranz über den „Begriff der politischen Partei"

IRING FETSCHER

161

LITERATURBERICHTE UND KRITIK Marco de Angelis; Die Rolle des Einflusses von J. J. Rousseau auf die Herausbildung von Hegels Jugendideal (CHRISTIAN KLUWE, Bochum)

171

Bruno Schindler: Die Sagbarkeit des Unsagbaren (NIKOLAJ PLOTNIKOV, Moskau/Essen)

172

David C. Durst: Zur politischen Ökonomie der Sittlichkeit bei Hegel und der ästhetischen Kultur bei Schiller (NIKOLAJ PLOTNIKOV, Moskau/Essen)

174

Giuseppe Casadei: Idea di mediazione e di immanenza critica nel primo Hegel (SILVIA RODESCHINI, Bergamo)

177

Franco Chiereghin: La „Fenomenologia dello spirito" di Hegel (FRANCESCA IANELLI, Roma)

180

Ruggero Morresi: Argomentazione e Dialettica (SILVIA FERRETTI, Roma)

184

Justus Hartnack: Hegels Logik. Eine Einführung (J. MURRAY MURIXXH, Jr., Fordham University)

186

Luca Illetterati: Figure del limite (CLAUDIA MELICA, Roma)

189

Hegel Reconsidered. Beyond Metaphysics and the Authoritarian State (CHRISTOPH BAUER, Bochum)

191

Michael O. Hardimon: Hegel's Social Philosophy (FIORINDA LI VIGNI, Wassenaar)

197

Francesca Menegoni: Soggetto e struttura dell'agire in Hegel (FIORINDA LI VIGNI, Wassenaar)

199

Manuela Alessio: Azione ed etidtä in Hegel (FIORINDA LI VIGNI, Wassenaar)

201

Angela Requate: Die Logik der Moralität in Hegels „Philosophie des Rechts" (ULI VOGEL, MARBURG)

204

Kurt Seelmann: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion (ULI VOGEL, MARBURG)

208

Fabrizio Sciacca: Imago Libertatis (FIORINDA LI VIGNI, Wassenaar)

213

Ludwig Siep: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus (ERZS^BET RöZSA, Debrecen)

215

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (FRANZ HESPE, Bergen)

217

Kunst als Kulturgut. Die Bildersammlung der Brüder Boisseree (UWE HECKMANN, Marburg)

221

Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne (BERNADETTE GOLLENBERG, Hagen)

228

Maurizio Pagano: Hegel (GABRIELLA BAPTIST, Roma)

234

Hegel und die Möglichkeit einer spekulativen Theorie der Moderne. - Jörg Dierken: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus; Paul Tillich: Vorlesung über Hegel (CHRISTIAN DANZ, Jena)

236

Marcello Monaldi: Storicitä e religione in Hegel (ALDO MAGRIS, Triest)

245

Hegel: fenomenologia, logica e sistema (PAOLO GIUSPOLI, Bochum/ Verona)

247

Politik und Geschichte. Zu Hegels Reformbill-Schrift (ERZSEBET RöZSA,

Debrecen/Münster)

250

Friedhelm Nicolin: Auf Hegels Spuren (NORBERT WASZEK, Paris)

255

Martin Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonard Reinhold (PiERLUiGi VALENZA, Roma)

258

Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen (DIETMAR KöHLER, Bochum) ..

263

Judith Jänoska, Martin Bondeli, Konrad Kindle, Marc Hofer: Das „Methodenkpitel" von Karl Marx (FRANZ HESPE, Bergen)

265

Der Mensch als homo pictor? (ELISABETH WEISSER-LOHMANN, Hagen)

268

BIBLIOGRAPHIE Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1995 Zusammenstellung und Redaktion: CHRISTOPH BAUER, Bochum

275

PAUL ZICHE (JENA)

NATURFORSCHUNG IN JENA ZUR ZEIT HEGELS Materialien zum Hintergrund der spekulativen Naturphilosophie^

Es ist naheliegend, die Naturphilosophie Hegels, wie auch die SCHELLINGS, im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften und Philosophie anzusiedeln. Die aus einer derartigen Annahme resultierenden Forschungsfragen an die spekulative Naturphilosophie bedürfen der Wissenschaftsgeschichte; erst die historische Perspektive auf die Rolle der Naturwissenschaften kann klären, welche systematischen Implikationen die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie bzw. Naturphilosophie und Naturwissenschaften hat. Probleme ergeben sich etwa unter folgenden Fragestellungen: Sind die Naturwissenschaften, auf die sich die Naturphilosophie bezieht, mit den heutigen wirklich identisch oder auch nur vergleichbar, etwa hinsichtlich Inhalt, Methode, DisziplinengHederung, interdisziplinären und weltanschauhchen Implikationen? In welchem Umfang und nach welchen Auswahlkriterien haben die Naturphilosophen die Naturwissenschaften ihrer Zeit rezipiert? In welchem Sinne kann man in der Vergangenheit überhaupt von den Naturwissenschaften im Gegensatz zu anderen Wissenschaftsformen sprechen? Diese Fragen können nur beantwortet werden, wenn die konkreten Wege der Vermittlung der Naturwissenschaften an die Naturphilosophen bzw. die konkrete naturwissenschaftliche Situation, auf die sie Bezug nahmen, erforscht werden. Erst vor diesem Hintergrund kann die Eigenart des philosophischen Zugriffs auf die Naturwissenschaften gewürdigt werden. Für die Tübinger Zeit Hegels und SCHELLINGS, für SCHELLINGS Leipziger und Hegels Berner Zeit konnten erste Resultate in dieser Richtung gewonnen werden.2 Im folgenden soll versucht werden, durch einen 1 Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag, der am 22.2.1997 auf dem Treffen des „Arbeitskreises zur Hegelschen Naturphilosophie" im Emst-Haeckel-Haus, Jena, gehalten wurde. Ein Teil der Forschungsarbeiten wurde von einem Forschungsstipendium der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt. 2 Zur Tübinger Zeit vgl. M. Dumer: Die Naturphilosophie im 18. Jahrhundert und der naturmissenschaftliche Unterricht in Tübingen. Zu den Quellen von Schellings Naturphilosophie. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. 73 (1991), 71-103; R. Pozzo: Hegel: ,Introductio in philosophiam'. Dagli studi giimasiali alla prima logica (1782-1801). Florenz 1989; Chr. F. v. Pfleiderer: Physik. Naturlehre nach Klügel. Nachschrift einer Tübinger Vorlesung von 1804. Hrsg, von P. Ziehe. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, insbesondere die Einleitung des Hrsg. Zu Schellings Leipzi-

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PAULZICHE

Überblick über die Situation der Naturwissenschaften in Jena zur Zeit Hegels die Materialien für eine entsprechende Untersuchung der Hintergründe der Naturphilosophie in der Naturwissenschaft bereitzustellen.3 Die Universität Jena erlebte im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, gemessen etwa an den Studentenzahlen, eine Blütezeit, die aber um 1803 bereits weitgehend beendet war. Die Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ) veröffentlichte im Jahr 1790 eine Liste der Gründe für die Attraktivität der Universität Jena; interessanterweise waren die sachlich relevanten Aspekte, d. h. die, von denen man eine dauerhafte Verbesserung von Forschung und Lehre erwarten durfte, allesamt solche, die mit den Naturwissenschaften und der Förderung naturwissenschaftlicher Forschung und Lehre eng zusammenhingen; genannt werden hier die Akquisition der BüTTNERschen Bibliothek (dazu unten, S. 26), die mathematische und physikalische Instrumenten- und Modellsammlung sowie der botanische und ökonomische Garten (s. unten, S. 27) und Einrichtungen im medizinischen Bereich (klinisches Institut, „Accouchierhaus", anatomisches Theater mit der Sammlung von JUSTUS CHRISTIAN LODER).4 Im Jahre 1805 veröffentlichte die ALZ erneut eine derartige Übersicht, nun in sehr viel ausführlicherer Form, unter dem Titel Praktische Anstalten auf der Universität zu Jena^, wobei betont wurde, „daß das Studium der Wissenschaften auf Universitäten nur dann gedeihen kann, wenn ein praktischer Unterricht, planmäßig und gründlich, der Theorie zur Seite geht"^. Hervorgehoben wurden hierbei für den Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin die „Medicinischen Anstalten", die Einrichtungen des botanischen Instituts sowie die gelehrten Gesellschaften (für den Bereich der Naturwissenschaften die „Naturforschende Gesellschaft" und die „Mine-

ger Zeit vgl. M. Durner: Schellings Begegnung mit den Naturwissenschaften in Leipzig. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. 72 (1990), 220-236; zu Hegels Berner Zeit vgl. C. Ferrini: Nuove fonti per la filosofia della natura del primo Hegel: dal 'Catalogue de la Bibliotheque de Tschugg' a Berna. In: Rivista de Storia della Filosofia. 4 (1993), 717-760. - Die wichtigsten Dokumente zu Hegels Jenaer Tätigkeit sind zusammengetragen in H. Kimmerle: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801-1807). In: Hegel-Studien. 4 (1967), 21-99. 3 Eine entsprechende Darstellung, spezifiziert auf die Tätigkeit Schellings in Jena, wird im Editorischen Bericht zu Schellings Erstem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, hrsg. von W. G. Jacobs und P. Ziehe, im Rahmen der Akademie-Ausgabe der Werke Schellings erscheinen. ■* Intelligenzblatt der ALZ, Nr 1,2.1.1790, Sp. 1-5, hier Sp. 3 f. 5 Intelligenzblatt der Jenaischen ALZ, Nr 37, 3. 4. 1805, Sp. 207-308; Nr 39, 8. 4. 1805, Sp. 321328. 6 Ebd.Sp.297.

Naturforschung in Jena zur Zeit Hegels

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ralogische Gesellschaft“) und die öffentlichen Bibliotheken, die umfangreiche Bestände zu naturwissenschaftlichen Themen enthielten. Bis auf die Gesellschaften wurden alle diese „Praktischen Anstalten“ bereits 1790 erwähnt.7

I. Das Fachgebiet „Naturwissenschaften“ ander Universität Jena Die Wissenschaftssystematik der Zeit um 1800 kannte generell keinen Bereich, der dem Gebiet der heutigen Naturwissenschaften entspräche; auch der Begriff ,Naturwissenschaften' hatte sich noch nicht als Oberbegriff für Einzeldisziplinen durchgesetzt, so daß es problematisch ist, im Wissenschaftskontext des 18. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften als eigenem Fachgebiet zu sprechen. In diesem Punkt macht die Universität Jena eine bemerkenswerte Ausnahme. Die deutschsprachigen Vorlesungsverzeichnisse für die Universität Jena, die in der ALZ pubhziert wurden, spiegeln das Problem wider: in der Zeit vor 1790 wurden Veranstaltungen, die man heute als naturwissenschaftlich bezeichnen würde, unter verschiedene Fachgebiete - Philosophie, angewandte Mathematik, Naturgeschichte, Kameralistik oder unter Medizin - eingeordnet. Im Jahr 1790 erfolgte in den Vorlesungsverzeichnissen der ALZ ein terminologischer Umschwung, indem Ordnungsschemata eingeführt wurden, die zunündest auf den ersten Blick modern erscheinen: ab diesem Zeitpunkt existiert eine Rubrik „Naturwissenschaften“, die gleichrangig neben Phi-

7 Generell zu den Naturwissenschaften in Jena vgl. z. B. Geschichte der Universität Jena 1548/ 58-1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum. 2 Bde. Jena 1958, 1962; E. Giese/B. v. Hagen: Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jena 1958; Beiträge zur Geschichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena anläßlich der 400-Jahr-Feier. Jena 1959; I. Jahn: Geschichte der Botanik in Jena von der Gründung bis zur Berufung Pringsheims (1558-1864). Diss. masch. Jena 1963; H. Franke: Die Entwicklung der Mineralogie an der Universität Jena im Zeitraum von 1782 bis 1832. ln: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Math.-Naturwiss. Reihe. 25 (1976), 159-179; I. Schmid: Die Naturwissenschaftlichen Institute bei der Universität Jena unter Goethes Oberaufsicht. Diss. masch. Berlin 1979; F. Chemnitius: Die Mathematiker, Astronomen und Physiker der Universität Jena. Hg. v. G. Schubring. München 1992; H. Döbling: Die Chemie in Jena zur Goethezeit. Jena 1928 (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. N. F. Beih. 13); O. Knopf: Die Astronomie an der Universität Jena von der Gründung der Universität im Jahre 1558 bis zur Entpflichtung des Verfassers im Jahre 1927. Jena 1937 (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. N. F. Beih. 19).

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losophie, Mathematik, Geschichte, Philologie und Kameralistik steht. In den Vorlesungsverzeichnissen anderer Universitäten in der ALZ sowie in den Rubriken, unter die die ALZ ihre Rezensionen ordnete, wurde hingegen die alte Ordnung beibehalten. Die neue Rubrik nahm alle diejenigen „naturwissenschaftlichen“ Veranstaltungen auf, die vorher unter Naturgeschichte und Philosophie aufgeführt waren; angewandte Mathematik und Kameralistik blieben als eigene Fachbereiche bestehen. Die Ausgliederung gerade des stark mathematisierten Bereichs der Astronomie aus der Rubrik „Naturwissenschaften“ verbietet es daher immer noch, diesen Begriff uneingeschränkt mit dem modernen Begriff von Naturwissenschaften zu identifizieren. Diese Einteilungsprinzipien wurden nach 1804 in der nunmehr Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung übernommen.^ Zu gleicher Zeit wurden für das Gebiet der Naturwissenschaften Neuordnungen hinsichtlich der institutionellen Strukturen vorgenommen. Es läßt sich die Tendenz beobachten, die einzelnen Fachgebiete, die zum Themenfeld der Naturwissenschaften gehören, in der philosophischen Fakultät zu vereinigen, innerhalb derer sich auch die genannte Rubrik „Naturwissenschaften“ etabliert hatte. Dazu mußten einzelne Gebiete aus dem Bereich der medizinischen Fakultät ausgegliedert werden; zu nennen ist der Wechsel von AUGUST JOHANN GEORG KARL BäTSCH, dem späteren Begründer der „Naturforschenden Gesellschaft“, aus der medizinischen in die philosophische Fakultät und die damit verbundene Ausgliederung der Botanik aus der medizinischen FakultäU und die Neugründung eines Lehrstuhls für Chemie innerhalb der philosophischen Fakultät, der 1789 mit JOHANN FRIEDRICH AUGUST GöTTLING besetzt wurde. Gerade für die Chemie ergaben sich hieraus Streitigkeiten in der Abgrenzung von der medizinischen Fakultät, die aufbrachen, als GöTTLING über Pharmazie las. Die erhaltenen Gutachten in dieser Angelegenheit diskutieren - neben persönHchen Aspekten - auch wissenschaftssystematische Fragen wie die Beziehung der Chemie zur Physik oder die Eigenständigkeit des Faches Chemie.io

8 Ausführlich dargestellt wird diese terminologische Neuerung in Verf.: Von der Naturgeschichte zur Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaften als eigenes Fachgebiet an der Universität Jena. Erscheint in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. 21 (1998). 9 Vgl. dazu fahn (s. Anm. 7). 211-224. 10 Vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, A 6341: „Geheime Kairzley Acta, das Gesuch des Prof. med. D. Fuchs, zu Jena, seine Vorlesungen, über die Chemie der Arzneymittel, unbehindert halten zu dürfen, betrf. 1792." Vgl. dazu Döbling (s. Anm. 7).

Naturforschung in Jena zur Zeit Hegels

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Konkrete Ursachen für die Einführung des Begriffs „Naturwissenschaften" in den Jenaer Vorlesungsverzeichnissen sind schwer auszumachen; naheliegend wäre es, einen Einfluß der KANiischen Thematisierung des Wissenschaftsbegriffs anzunehmen. Die organisatorischen und institutioneilen Veränderungen gehen auf das Wirken GOETHES und des Herzogs KARL AUGUST zurück und sind damit im Zusammenhang mit den Maßnahmen GOETHES und des Herzogs zur Förderung der Naturwissenschaften in Jena, etwa durch Ankauf und Verfügbarmachen von Sammlungsbeständen und Bibliotheken (dazu unten, Abschnitt 111), zu sehen.n Die Lehrveranstaltungen aus der Rubrik „Naturwissenschaften" sowie die im heutigen Sinne naturwissenschaftlichen Veranstaltungen aus dem Bereich der „Mathematik" und die weiterhin der Philosophie zugerechneten Veranstaltungen der empirischen Psychologie bzw. Anthropologie sind im Anhang I für die Zeit der Tätigkeit Hegels in Jena nach den Vorlesungsverzeichnissen in der ALZ bzw. der Jenaischen ALZ wiedergegeben; ausgespart bleibt der Bereich der Kameralistik. Hegel stand mit mehreren der Dozenten im Briefwechsel.12 Mit CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID, GöTTLING oder JOHANN HEINRICH VOIGT finden sich Autoren, deren Themenspektrum bzw. philosophische Ausrichtung sie für den Ansatz einer spekulativen Naturphilosophie relevant machte; in diesem Kontext ist auch LORENZ OKEN ZU nennen, der seit 1807 als Professor der Medizin und Pharmazie in Jena tätig war. Mit BäTSCH und JOHANN GEORG LENZ wurden naturgeschichtliche Veranstaltungen von zwei Wissenschaftlern vertreten, die mit der Botanik bzw. Mineralogie zwei Teilgebiete der Naturgeschichte auf hohem wissenschaftlichem Niveau bearbeiteten. In der medizinischen Fakultät arbeiteten mit CHRISTOPH WILHELM HUFELAND, LODER und den beiden Professoren JOHANN CHRISTIAN STARK (Onkel und Neffe) ebenfalls herausragende Wissenschaftler und Lehrer. Die Themen der Veranstaltungen bewegten sich weitgehend im traditionellen Rahmen; es wurden aber auch spezialisierte Veranstaltungen zu einigen Bereichen angeboten, die für die Naturphilosophie von besonderem Interesse sind: genannt seien die medizini11 Zu Karl August als Förderer der Naturwissenschaften in Jena vgl. z. B. F. H. Ortloff: Carl August von Sachsen Weimar und die Universität Jena. Ein akademisches Zeitbild aus den Jahren 1784-1828. Weimar 1904; zu Goethe vgl. G. Steiger: Goethe, die Universität Jena und die Naturwissenschaften. In: H. Brandt (Hg.) Goethe und die Wissenschaßen. Jena 1984.12-29. 12 Vgl. die Briefe des Chemikers und Physikers Kästner an Hegel vom 15.11. 1805 und 15.11.1806 in Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister und F. Nicolin. 3. Aufl. Hamburg 1969-1981. Bd 1.102-104,127 f. Ferner Franz Joseph Schelver an Hegel, Januar 1807 (ebd. 139 f). - Erinnert sei auch an Hegels späteren Briefwechsel mit Peter Gabriel van Ghert, in dem Fragen des animalischen Magnetismus thematisiert werden; van Ghert hatte in Jena Vorlesungen Hegels gehört. - Abgekürztes Zitat im folgenden: Briefe.

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sehen Veranstaltungen zur Theorie JOHN BROWNSI^ sowie zur Problematik des Begriffs einer Lebenskräftig und die Veranstaltungen zur Chemie und zur Elektrizitätslehre. Zur Präzisierung des Hintergrundes der Naturphilosophie sind auch die Lehrveranstaltungen von Interesse, die sich ausdrücklich der Naturphilosophie widmeten (Anhang 11). SCHELLING übernahm hier mit seiner ersten naturphilosophischen Vorlesung von 1798/99 eine Vorreiterrolle - in den Jahren vor 1799 finden sich keine Veranstaltungen zur Naturphilosophie danach wurden derartige Veranstaltungen von mehreren Dozenten angeboten, wobei mehrfach der Bezug zu SCHELLING explizit gemacht wird. Die einzelnen Dozenten gehörten verschiedenen Richtungen innerhalb der Philosophie an bzw. waren eigentlich Naturwissenschaftler im heutigen Sinne (FISCHER) oder gehörten sogar einer anderen Fakultät an (SCHELVER war Mitglied der medizinischen Fakultät). Einige der Veranstaltungen nahmen ausdrücklich auf naturwissenschaftliche Themen Bezug, so SCHELVERS „System der Naturwissenschaft“ und GEORG HEINRICH HENRICIS Veranstaltungen, in denen medizinische Themen einbezogen wurden. Zu nennen sind auch JOHANN AUGUST HEINRICH ULRICHS und HENRICIS Vorlesungen über FRANZ JOSEPH GALL; ULRICH las - als Professor für Moralphilosophie und politische Philosophie - im Wintersemester 1805/6 über „Physiognomie mit Beziehung auf die GALLische Schädellehre“, HENRICI im Wintersemester 1806/07 über die „Philosophie der Natur mit Rücksicht auf GALLS Schädellehre“.15 Die Resonanz, die GALLS Arbeit in Jena fand, ist angesichts der Thematisierung der GALLschen Schädellehre in der Phänomenologie des Geistes von Interesse; zugleich spiegeln diese Veranstaltungen ganz offensichtlich das zeitgenössische Interesse an GALLS Person und Lehre wider. GALL hielt im August 1805 Vorträge über seine Theorien in Jena. Die Jenaische ALZ berichtete ausführlich über diese Vorträge, auch über andere Auftritte GALLS; der Tenor dieser Berichte reicht von einer massiven Kritik bis hin zu einer kritischen Würdigung seiner anatomischen Resultate, i^ 13 Von den beiden Professoren Johann Christian Stark und von Friedrich Ferdinand Bretschneider; dazu ausführlicher der Editorische Bericht zu SchelUngs Erstem Entwurf (s. Anm. 3). 14 Vgl. die Vorlesung zur „Geschichte der Meynungen über das Princip der Lebenskraft" von Johann Wilhelm Theophil von Eckardt im Wintersemester 1798/99 und Sommersemester 1799. 15 Bemerkenswerterweise las Ulrich im Wintersemester 1803/04 über Psychologie bzw. Anthropologie „mit Vorausschickung der nöthigen anatomischen und physiologischen Sätze". 15 Vgl. Intelligenzblatt der ALZ Nr 88,10. 8. 1805, Sp. 745 und Nr 96, 28. 8. 1805, Sp. 809-812 für einen kritischen Bericht zu seinen Vorträgen in Jena; im selben Jahr Nr 122,30.10.1805, Sp. 1027-1030 zu seinen Vorträgen in Göttingen sowie Nr 136, 2.12. 1805, Sp. 1137-1152 und Nr 137,7.12.1805, Sp. 1153-1160: hier kommentiert J. Chr. A. Grohmann unter dem Titel lieber die verschiedenen wissenschaftlichen Principien. Mit Rücksicht auf einige der Gallschen Schädellehre ge-

Naturforschung in Jena zur Zeit Hegels

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Fragen der Beziehung der Naturwissenschaften zu anderen Fachgebieten sowie der Methodik der Naturwissenschaften wurden auch in den Veranstaltungen wie der „Encyclopädie aller Wissenschaften" (gelesen von CHRISTIAN GOTTFRIED SCHüTZ) behandelt, die nach Art eines Studium generale in den Vorlesungsverzeichnissen den spezielleren Lehrveranstaltungen vorangestellt wurden. Das von SCHüTZ zugrundegelegte Lehrbuch der Wissenschaftskunde, ein Grundriß encyklopädischer Vorlesungen von JOHANN JOACHIM ESCHENBURGI^ enthielt eigene Abschnitte über „Mathematische" und „Physische Wissenschaften", die nicht nur - wie in den Jenaer Vorlesungsverzeichnissen - dem Abschnitt über „Philosophische Wissenschaften", sondern auch den entsprechenden Ausführungen über die anderen drei Eakultäten gleichgestellt waren. Derartige Vorlesungen wurden auch von SCHELLING unter dem Titel „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" angeboten (Sommersemester 1802).i8 Auch SCHELLING geht hierbei auf die Naturwissenschaften ein; nach einer Einführung „Lieber die Naturwissenschaft im Allgemeinen" behandelt er das „Studium der Physik und Chemie" sowie „der Medicin und der organischen Naturlehre überhaupt". Der Zusammenhang von SCHELLINGS philosophisch bzw. naturphilosophisch motivierten Ausführungen zur Naturwissenschaft im allgemeinen und seiner Darstellung der einzelnen Fachgebiete wird durch die Frage gegeben, „ob die empirische Betrachtungsart überhaupt und in irgend einem Sinn zu einer Wissenschaft der Natur führen könne"i^. Die seinerzeitige Situation der Naturwissenschaften in Jena wurde nicht nur durch die Lehre der Universitäts-Dozenten bestimmt, sondern auch durch Vorträge wie beispielsweise diejenigen GALLS, in sicher noch stärkerem Ausmaß aber durch die Naturwissenschaftler, die -aus welchen Gründen auch immer - privatisierend in Jena arbeiteten. Der prominenteste Naturforscher, der zu dieser Zeit vorübergehend in Jena arbeitete, war ALEXANDER VON HUMBOLDT, der sich zwar nur vom 1. 3. 1797 bis zum Mai

machten Einwendungen Galls Arbeit (Grohmann, 1769-1847, war seit 1803 Professor für Logik und Metaphysik in Wittenberg). - Zu Gail und seiner Vortragsreise vgl. G. Mann: Franz Joseph Galls kranioskopische Reise durch Europa (1805-1807). Fundierung und Rechtfertigung neuer Wissenschaft. In; Nachrichtenblatt der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik. 34 (1984), 86-114; S. Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Zur Rezeptionsgeschichte einer medizinisch-biologisch begründeten Theorie der Physiognomik und Psychologie. Stuttgart, New York 1990; speziell zu Galls Besuch in Jena 54 f, 68. 17 Erschienen in Berlin und Stettin 1792. 18 In: F. W. /. Schelling: Sämmtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling. Abt. 1, Bd 5. Stuttgart und Augsburg 1859.207-352. 19 Ebd.319.

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dieses Jahres in Jena aufhielt^o, „um Herrn Loder's vortrefflichen anatomischen Unterricht zu genießen", aber auch selbst Experimente auf verschiedenen Gebieten anstellte und insbesondere das Interesse Jenaer Wissenschaftler am Galvanismus wesentlich beeinflußte. Er arbeitete hier an seinen Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser^^; BäTSCH machte ihn im Zusammenhang mit diesen Arbeiten auf JOHANN WILHELM RITTER aufmerksam, dem HUMBOLDT sein Manuskript zur Durchsicht übergab und der in der Folgezeit selbst umfangreiche galvanische Experimente durchführte, die HUMBOLDT am Ende des zweiten Bandes seiner Versuche teilweise referiert. RITTER präsentierte die Resultate seiner Arbeit bereits 1797 in einem Vortrag vor der „Naturfersehenden Gesellschaft"; die entsprechende Publikation erschien 1798.22 RITTER studierte seit 1796 in Jena und setzte seine Forschungsarbeiten ab 1800 als Privatgelehrter fort, wobei er u. a. mit GöTTLING zusammenarbeitete23, bevor er 1804 nach München ging. Im Winter 1803/04 hielt RITTER, auf Aufforderung von Studenten und mit einer Sondergenehmigung des Weimarer Hofes, die die Verwaltungsvorschriften der Jenaer Universität umging, Vorlesungen über Galvanismus, die in den Vorlesungsverzeichnissen nicht aufgeführt sind.24 Hegel nahm von diesen Vorlesungen Notiz, wie sein Brief an SCHELLING vom 16.11. 1803 zeigt.25 Ein weiterer Jenaer Privatgelehrter, dessen Tätigkeit Hegel verfolgte, war THOMAS SEEBECK, der 1802-1810 als - im Gegensatz zu RITTER wohlhabender Privatgelehrter in Jena arbeitete, wo er Experimente v. a. zu optischen Fragestellungen durchführte.26 20 K. Richter: Der Physiker Johann Wilhelm Ritter. In: Der Physiker des Romantikerkreises Johann Wilhelm Ritter in seinen Briefen an den Verleger Carl Friedrich Ernst Frommann. Hrsg, von K. Richter. Weimar 1988.11-84, hier 22. 21 Vgl. A. V. Humboldt: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Proceß des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt. Posen und Berlin 1797. Bd 2. 272. Humboldt nennt in diesem Band einige seiner Aktivitäten in Jena: Scheerer machte ihn auf eine „merkwürdige Stelle" von Mayow zum Zusammenhang von Sauerstoff und Reizbarkeit aufmerksam (102); „in dem Wasser der Hirnhöhlen habe" er „auf dem anatomischen Theater, zu Jena, eine eigene Substanz entdeckt, welche eine nähere Untersuchung verdient" (122); auf den Hügeln um Jena führt er Experimente zur Luftelektrizität durch (203) und schließlich prüft er seine „Beobachtungen über die Einwirkung des Sauerstoffgas, und der atmosphärischen Luft auf den Blutumlauf genauer" (272). 22 In Versuche (s. Anm. 21). 440-446 berichtet Humboldt nicht nur über seine Bekanntschaft mit Ritter, sondern führt auch einige von dessen Experimenten auf. 23 Richter (s. Anm. 20). 19. 24 Richter (s. Anm. 20). 77-80. Das hierfür erarbeitete Material ging in Ritters Publikation Das elektrische System der Körper, Leipzig 1805, ein. 25 Briefe.Bdl.77. 26 Zu Seebecks Rolle im Kontext einer „romantischen Naturwissenschaft" vgl. K. L. Caneva: Physics and Naturphilosophie: A Reconnaissance. ln: History of Science. 35 (1997), 35-106, speziell

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Aus den - für den Bereich der Naturwissenschaften im Anhang wiedergegebenen - Vorlesungsankündigungen ergeben sich bereits erste Hinweise auf die methodische Gestaltung des Unterrichts in den Naturwissenschaften in Jena; zahlreiche Veranstaltungen machen Gebrauch von den verschiedenen Sammlungen und präsentieren Experimente; die Forderungen, die die ALZ 1805 unter dem Titel „Praktische Anstalten" erhob, wurden in Jena also bereits umgesetzt. Medizinische Lehrveranstaltungen nutzten die verschiedenen Sammlungen zu medizinischen Themen, wobei STARK auch die Bestände des herzoglichen Museums für Lehrveranstaltungen zur Physiologie heranzieht. FISCHER und VOIGT lehrten die Elektrizitätslehre mit Experimenten, auch zum Galvanismus werden Experimente durchgeführt, wobei VOIGT ausdrücklich auf seinen eigenen experimentellen Apparat hinweist.27 BATSCH und SCHELVER nutzten den botanischen Garten und boten botanische Exkursionen an. Nach der angeführten Übersicht in der ALZ scheint der botanische Garten auch für die Kameralistik (ökonomische Zwecke) genutzt worden zu sein. Besonders intensiven Gebrauch von anschaulichen Materialien machten die Mineralogen: LENZ verwendete die Sammlungen der mineralogischen Sozietät, des herzoglichen Museums und seine eigene Sammlung. Er hielt sogar seine Vorlesungen im mineralogischen Kabinett ab.2S Hiermit wird zugleich ein Aspekt der Bedeutung der verschiedenen Gesellschaften, die zur Förderung der Naturwissenschaften gegründet wurden, sichtbar. So wird im ALZ-Bericht von 1805 betont, es gehöre zu den Zielen der naturforschenden Gesellschaft, „den hiesigen Studirenden zu eigenem Beobachten und Untersuchen der Natur Gelegenheit zu geben, weil ohne dieselbe selbst der zweckmäßigste Katheder-Unterricht unvollkommen und mangelhaft bleiben würde".29 Die große Bedeutung, die Experimenten im Unterricht zugeschrieben wurde, wird auch dadurch sichtbar, daß unter Umständen die Wahl des Lehrbuches stärker von Überlegungen zur Gestaltung eines Experimentalunterrichts als von inhaltlichen Fragestellungen beeinflußt wurde: GöTTLING schreibt in der gedruckten Übersicht über den Ablauf seiner Chemie-Vorlesung, er wolle sich auf den Lehrbuch-Text von HAGEN stützen, obwohl er dessen zu Seebeck 56-60. Zu Hegels Bekanntschaft mit Seebeck siehe Briefe. Bd I. I72-I74, 21I-2I4, 219-222. 27 Vgl. /. H. Voigt: Versuch einer neuen Theorie des Feuers, der Verbrennung, der künstlichen Luftarten, des Athmens, der Gährung, der Electricität, der Meteoren, des Lichts und des Magnetismus.... Jena 1793,17, zu galvanischen Experimenten 359. 28 /. Salomon: Die Sozietät für die gesamte Mineralogie zu Jena unter Goethe und Johann Georg Lenz. Köln, Wien 1990.24 f. 29 Praktische Anstalten ... (s. Anm. 5), Sp. 324.

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Beibehalten der Phlogiston-Lehre ablehne; er beziehe sich auf HAGEN vor allem deshalb, weil HAGEN in idealer Weise Experimente einbezöge, die den Vortrag anschaulich und die Studenten mit der Experimentalpraxis vertraut machen 30

II. Die „Naturforschende Gesellschaft" und die „Societät für die gesummte Mineralogie"

Die gelehrten Gesellschaften boten vielfältige Möglichkeiten, theoretische Erkenntnisse in den Naturwissenschaften am konkreten Objekt durch Anschauung zu vertiefen. Sie versorgten darüber hinaus die Naturforscher mit Literatur und boten Gelegenheit, sich über neue Entdeckungen und Publikationen zu informieren, sowie vor allem auch zum Austausch unter den in Jena arbeitenden Wissenschaftlern, über die Fakultäts- und Altersgrenzen hinweg, jeweils unter Beiziehung einer Vielzahl korrespondierender und Ehrenmitglieder. SCHELLING war Ehrenmitglied beider Gesellschaften; er wurde zwischen 1798 und 1800 Ehrenmitglied der „Naturforschenden" Gesellschaft und 1799 der „Sozietät für die gesamte Mineralogie". Im Falle Hegels ist schwer zu klären, wie der Hinweis in seinem Lebenslauf vom September 1804, „die Herzogliche mineralogische Sozietät hat mich voriges Jahr zum zweiten Assessor, die naturforschende neulich zu ihrem

30 Vgl. seine Systematische Uebersicht der allgemeinen Chemie nach neueren Grundsätzen als Einleitung zu Hägens Grundriss der Experimentalchemie, o. O. 1794. 3-5: „Ich habe bisher bey meinen chemischen Vorlesungen um die Erscheinungen zu erklären, immer das Grensche phlogistische und das antiphlogistische System neben einander gestellt, und meinen Zuhörern die Wahl derjenigen Erklärungsart überlassen, bey welcher sie die mehreste Befriedigung finden möchten, lezt aber hat der Herr Prof. Gren seine bisherige phlogistische Erklärung selbst aufgegeben ..., weswegen ich mich genöthiget sehe, diese ältere Erklärungsart ebenfalls völlig zu verlassen ... Hägens Grundriß der Experimentalchemie Königsberg 1790, lege ich bey meinen Vorlesungen noch zum Grunde, weil ich für jezt kein anderes Buch kenne, das für eine halbjährige Vorlesung nicht zu weitläuftig wäre, dabey aber doch eine so gute Auswahl von Experimenten enthielte um dadurch eine allgemeine Uebersicht der vorzüglichsten chemischen Erfahrungen zu bekommen und mit allen praktischen Handgriffen bekannt zu werden. Weil aber Hagen noch der ältern Lehre der Phlogistiker folgt, die wir jezt aus so eben angeführten Gründen verlaßen müssen; so haben wir uns blos an die Arbeiten zu halten". In der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Jena befindet sich unter der Signatur Ms. prov. q. 104 eine Nachschrift der entsprechenden Chemievorlesung Göttlings von 1794; ebenfalls erhalten ist die Nachschrift einer Vorlesung Göttlings zur Tedzno/o^ie von 1795 (Ms. prov. q. 105).

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Mitglied aufgenommen", zu interpretieren ist.^i Die Mitgliedschaft in der „Societät für die gesamte Mineralogie" steht fest; ein erhaltenes Diplom der naturforschenden Gesellschaft Westfalens aus demselben Jahr macht die Annahme plausibel, die in Hegels Lebenslauf genannte naturforschende Gesellschaft sei mit der westfälischen naturforschenden Gesellschaft zu identifizieren. Da der Lebenslauf aber im Zusammenhang mit der Bitte um eine außerordentliche Professur an GOETHE gerichtet ist und die Jenaer mineralogische Gesellschaft in einem Atemzug mit der naturforschenden Gesellschaft nennt, liegt es nahe anzunehmen, es sei die Jenaer naturforschende Gesellschaft (und damit eine weitere Mitgliedschaft Hegels) gemeint. Eine gewisse Unsicherheit bleibt, da Akten der Jenaer naturforschenden Gesellschaft für diesen Zeitraum fehlen und Hegel auf dem Titelblatt der Phänomenologie zwar die mineralogische, aber nicht die naturforschende Gesellschaft nennt, was aber auch Ausdruck eines gewissen Konkurrenzverhältnisses der beiden Gesellschaften sein kann. Ein Indiz sei genannt, das für eine Mitgliedschaft in der naturforschenden Gesellschaft sprechen könnte: Im Intelligenzblatt der Jenaischen ALZ wird berichtet, auf der Sitzung der naturforschenden Gesellschaft vom 30. September 1804, der ersten nach einer zweijährigen, durch den Tod ihres Gründers und Direktors BäTSCH verursachten Unterbrechung, seien „mehrere Gelehrte zu neuen Mitgliedern der Gesellschaft aufgenommen" worden.32 Wenn man annimmt, daß die Verhandlungen über die Aufnahme bereits vor der Sitzung stattfanden, könnte man Hegels Bemerkung in seinem Lebenslauf gut auf die Jenaer naturforschende Gesellschaft beziehen. 1807 wurde Hegel schließlich noch Mitglied der physikalischen Gesellschaft Heidelberg.33 Aufgrund ihrer Bedeutung für die Jenaer Naturforschung dieser Zeit und als Modell für die mineralogische Sozietät verdient die naturforschende Gesellschaft trotz der nicht endgültig geklärten Mitgliedschaft Hegels Interesse. Die naturforschende Gesellschaft wurde 1793 von BäTSCH gegründet34; BäTSCH, in dessen Haus auch die Versammlungen stattfanden und (bis 1801/02) die Sammlungen und sonstigen Bestände untergebracht waren, übernahm bis zu seinem Tod 1802 die Präsidentschaft. Nach

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Abgedruckt in Briefe. Bd 4, Teil 1. Intelligenzblatt der Jenaischen ALZ. 1804, Nr 138, Sp. 1161. Vgl. Kimmerle (s. Anm. 2) 74. Vgl. Nachricht von der Gründung einer naturforschenden Gesellschaft zu Jena am 14ten }ulyl793 nebst den dabey gehaltenen Reden, den Statuten der Gesellschaft und dem Verzeichnisse ihrer Mitglieder. Jena o. J. - Zur Naturforschenden Gesellschaft vgl. E. v. Skramlik: Die Naturforschende Gesellschaft zu Jena und ihre Beziehungen zu Goethe, ln: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. 17 (1959), 274-301.

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Tod wurde 1804 GOETHE Präsident der naturforschenden Gesellschaft; die Bestände der Gesellschaft wurden in Räumen im alten Schloß untergebracht.35 Die Gesellschaft erlebte ihre Glanzzeit in den ersten Jahren nach ihrer Gründung unter der Leitung BATSCHS.36 Nach BATSCHS Tod scheint die Gesellschaft zunehmend verfallen zu sein; Akten aus dieser Zeit fehlen. Wie bereits bemerkt, fanden in den zwei Jahren nach seinem Tod keine Sitzungen statt; auch in der Folgezeit überliefert die Jenaische ALZ nur wenige Hinweise auf Aktivitäten der Gesellschaft.37 Um 1850 war sie praktisch erloschen, die Sammlungen und die Bibhothek wurden in andere Bestände eingearbeitet. Zur Gesellschaft gehörten aktive, außerordentliche bzw. korrespondierende sowie Ehrenmitglieder. Während zu den aktiven Mitgliedern insbesondere Jenaer Studenten gehörten, wurden bedeutende Wissenschaftler, auch aus dem Ausland, als Ehrenmitglieder aufgenommen. Auch unter den korrespondierenden Mitgliedern finden sich bedeutende Wissenschaftler; für den Kontext der Naturphilosophie wären etwa PFAFF, RITTER oder STEFFENS ZU nennen.38 Die Tätigkeit der Gesellschaft richtete sich auf eine „planmäßige Erweiterung und Ergänzung der Naturwissenschaften überhaupt durch alle, und vollendete Naturbeschreibung von Jena durch die daselbst lebenden Mitglieder, so wie eine wissenschaftliche und ehrenvolle Verbindung für die letztern"39; die kompletten Statuten sind im Anhang wiedergegeben. Wesentlich für das Profil der naturforschenden Gesellschaft war das Bestreben, möglichst alle Gebiete der Naturforschung und unterschiedliche methodische Ansätze zu repräsentieren, wobei das Schwergewicht und die präziseren Aufgabenstellungen allerdings auf dem Bereich der Wissenschaften vom Organischen lag. Regelmäßig fanden Versammlungen statt, auf denen Vorträge gehalten bzw. Abhandlungen der Mitglieder angezeigt wurden^O; die Gesellschaft verfügte über eigene Sammlungen zu unterBATSCHS

35 Vgl. Skramlik (s. Anm. 34). 36 Zum schlecht dokumentierten weiteren Verlauf und Ende der Gesellschaft in der Mitte des letzten Jahrhunderts vgl. ebd. 37 So im genannten Bericht über Praktische Anstalten ... (s. Anm. 5). 38 Vgl. auch den Bericht von Steffens über seine Einführung in die „Naturforschende Gesellschaft": H. Steffens: Was ich erlebte. Bd 2: Neudruck von Bd 2 und 3 der Erstausgabe Breslau 1841. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995.65-74. 39 Nachricht von der Gründung... (s. Anm. 34) 19. 40 Zur Publikation der Vorträge vgl. auch Alexander Nikolaus Scherers Vorbemerkung zur Publikation von Christoph Heinrich Pfaffs Bemerkungen zu Herrn Professor Göttlings Schrift: ,Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie', ln: A. N. SchererjC. Chr. F. Jäger: Heber das Leuchten des Phosphors im atmosphärischen Stickgas ... Nebst Dr. Chph. Heim. Pfaffs Bemerkungen,

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schiedlichen Teilgebieten der Naturwissenschaften, über Laboratorien und über eine den Mitgliedern, aber auch anderen Wissenschaftlern zugängliche Bibliothek. Der Jahresbericht 1794 gibt einen Überblick über den Grundbestand der Sammlungen: Die Gesellschaft verfügte bereits bei ihrer Gründung über Kabinette zur Zoologie (2 500 Bestandsstücke), Botanik (mehr als 3 000), Mineralogie (1 500), materia medica (700) sowie ein physikalisches Kabinett mit Elektrisiermaschinen, magnetischen Experimentiermaterialien, Thermometer, Barometer und optischen Geräten, ein chemisches Kabinett und ein von SCHERER eingerichtetes komplettes Laboratorium.^i Die Laboratorien konnten von den Mitgliedern der Gesellschaft genutzt werden; eine Möglichkeit, von der etwa SCHERER, aber auch HUMBOLDT während seines Aufenthalts 1797 Gebrauch machten.42 Es bestand auch die Möglichkeit, die Sammlungen der Gesellschaft - gegen Bezahlung - bei Vorlesungen zu benutzen; die erhaltenen Rechnungsbücher der GesellschafHS weisen hierfür umfangreiche Einnahmen aus, die auf eine intensive Benutzung hindeuten. Nach BATSCHS Tod kamen die Sammlungen in das Herzogliche Schloß, wo bereits mehrere andere, unabhängig entstandene Sammlungsbestände aufbewahrt wurden.44 Die Aktualität der Vorträge zeigt sich in RITTERS Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite oder PFAFFS Bemerkungen zu Herrn Professor Göttlings Schriß: Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie, die ursprünglich als Vorträge in der naturforschenden Gesellschaft präsentiert wurden.45 Vorträge wurden zu verschiedensten zu Hm. Prof. Göttlings Schrift: Beytrag zur Berichtigung der antiphlogistischen Chemie. Weimar 1795. IX f.: „Mehrere Umstände haben die Ausgabe der Gesellschaftsschriften, im Ganzen, verhindert, und sogar widerrathen; um den Zweck der Verbindung und der Verfasser zu erreichen, werden die eingereichten Aufsätze künftig theils angezeigt, theils in vorzüglich bekannten Journalen, oder für sich, einzeln, zum Drucke befördert." 41 Vgl. Nachricht von dem Fortgange der naturforschenden Gesellschaft zu Jena. Erstes Jahr 1794. Jena. 24-28. 42 Vgl. z. B. SchererIJäger (s. Anm. 40). VI; zu Humboldt vgl. den Hinweis bei G. Büch: Die Bibliothek der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena. In: Mitteilungen der Thüringer Universitätsund Landesbibliothek Jena. 3 (1993), 1-13, hier 8. 43 Universitätsbibliothek Jena, Handschriftenabteilung, Ms. chron. 1905. 7, z. B. fol. 6. Voigt weist im Wintersemester 1806/07 beispielsweise die Nutzung der Sammlung der „Naturforschenden Gesellschaft" in seiner Vorlesungsankündigung aus (s. unten S. 34). 44 Skramlik (s. Anm. 34). 293-298; ein Überblick über die Geschichte der naturwissenschaftlichen Sammlungen in Jena findet sich in R. Froher u.a.: Museum anatomicum Jenense. Die anatomische Sammlung in Jena und die Rolle Goethes bei ihrer Entstehung. Jena 1996; vgl. v. a. die Tafel S. 150 f. Zur Geschichte der botanischen Sammlungen der „Naturforschenden Gesellschaft" vgl. Jahn (s. Aiun. 7), v. a. 310-324. 45 Vgl. /. W. Ritter: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Weimar 1798. XI; Pfaff (s. Anm. 40). Der ursprüngliche Vortragstext Ritters ist abgedruckt

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Themen abgehalten; für die Jenaer Zeit Hegels ist nur für die 1801/02 eine zusammenfassende Liste eingereichter Aufsätze in den Jahresberichten der „Naturforschenden Gesellschaft" abgedruckt, die folgende Themen aufführt: „Naturhistorische Bemerkungen von Hrn. Kammerrath BORKHAUSEN. Beschreibung des zinnoberrothen Ibis, nebst Abbildung, von Hrn. Professor LANGGUTH. lieber die Hülfsmittel zur leichten und genauen Anstellung der Chladnischen Versuche, von Hrn. D. PANSER. lieber eine besondere Haselmaus, nebst Abbildung, von Hrn. D. REINECKE, lieber den Gegensatz der Warme und des Lichtes in den beyden Enden des prismatischen Farbenbildes, von Hrn. RITTER, lieber die Gattungen Ascaris und Filaria, von Hrn. D. SCHNEEGASS. lieber die sich im Rohr aufhaltenden Motacillen in Deutschland, von demselben. Anzeigen einer vorzüglichen Töpferglasur mit Hornblende, von Hrn. Bergbeamten SPöRL. Vermischte Bemerkungen von Hrn. Amtmann WEPPEN. lieber Gattung und Art der Rosen, von Hrn. Professor BäTSCH. Einzelne Bemerkungen über das Herz der Insekten, die Ausschwitzung bey den Aroideis; Verflüchtigung des Eisens usw. von demselben."^(> Die Tatsache, daß SCHELLING einen Vortrag von STEFFENS, den er in die Zeitschrift ßir spekulative Physik aufnahm, mit einer ausführlichen Einleitung versah, zeigt, daß zumindest einige der Vorträge auch im Kontext naturphilosophischer Überlegungen zur Kenntnis genommen wurden.47 Die Bibliothek der Gesellschaft stand den Mitgliedern zur Nutzung offen und übernahm über die Bereithaltung von Fachliteratur hinaus die Funktion, literarische Neuigkeiten zugänglich zu machen: „In dem Versammlungszimmer der Gesellschaft, neben dem Naturaliencabinet und der Bibliothek, in welchem auch die monatlichen Hauptversammlungen gehalten werden, können die Mitglieder täglich die Naturalien und Schriften des Instituts zu eigenem Studium benutzen, so wie sie auch von Monat zu unter dem Titel Ueber den Galvanismus; einige Resultate aus den bisherigen Untersuchungen darüber, und als endliches: die Entdeckung eines in der ganzen lebenden und todten Natur sehr thätigen Princips; vorgelesen in der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena, am 29. October 1797. In: Ders.: Physisch-Chemische Abhandlungen in chronologischer Folge. Erster Band. Leipzig 1806. 1-42. In diesem Band finden sich zwei weitere Vorträge Ritters, die in der „Naturforschenden Gesellschaft" vorgetragen wurden. Unter der Signatur Ms. prov. q. 238 haben sich in der Universitätsbibliothek Jena, Handschriftenabteilung, die Manuskripte einiger dieser Vorträge erhalten, darunter die genannten Bemerkungen Pfaffs und Scherers Vortrag über Das Verbrennen der Körper, vorgetragen am 8.12.1793, sowie weitere Texte zu medizinischen, geologischen, mineralogischen, zoologischen, chemischen und physikalischen Themen. *6 Nachricht von dem Fortgange der naturforschenden Gesellschaft zu Jena. Achtes Jahr 1801. Neuntes Jahr 1802. Jena. 31 f. Weitere Jahresberichte oder Auflistungen von Vorträgen sind nicht erschienen. 47 Schelling publizierte Steffens' Arbeit Ueber den Oxydations- und Desoxydations-Process der Erde in der Zeitschrift ßr spekulative Physik. Bd 1, Jena und Leipzig 1800,137-168.

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Monat die Anzeige der indeß eingelaufenen Briefe, Nachrichten, Abhandlungen und Geschenke, nebst den Blättern der Allg. Lit. Zeitung vorfinden."48 Sie wurde vor allem dadurch vermehrt, daß Mitglieder ihre eigenen und die Werke anderer Autoren als Geschenk übergaben; daneben wurden wichtige Werke ausgeliehen und angekauftd^ Die Bände, die als Geschenk überlassen wurden, sind jeweils mit dem Namen des Gebers gekennzeichnet. Die Listen gerade der ausgeliehenen Bände in den Jahresberichten zeigen, daß viele wichtige Werke der Zeit, Monographien wie Zeitschriften, aus dem ganzen europäischen Raum vertreten waren. Allerdings wurde die Bibliothek nicht systematisch ausgebaut. Hinweise auf geliehene Bücher finden sich nur im Jahresbericht für 1794. Die Rechnungsbücher weisen der Bibliothek nur einen sehr geringen Etat zu, in mehreren Jahren gar keinen; die Beträge wurden zudem fast ausschließlich für Buchbinderei-Arbeiten verwendet. Die Bibliothek ist im wesentlichen geschlossen in der Universitätsbibliothek Jena (Signaturengruppe HJistoria] njaturalis] X) erhalten geblieben.so Erhalten hat sich ebenfalls ein Katalog der Bibliothek.5i Ursprünglich umfaßte die Bibliothek 80 Titel, wuchs aber bis 1850 auf 604 Titel (790 Bde), wobei der Schwerpunkt der Neuanschaffungen auf der Zeit bis 1802 lag (danach kamen nur noch 47 Bde hinzu) .52 Die naturforschende Gesellschaft bot also vielfältige Möglichkeiten zum Kontakt mit wichtigen Naturwissenschaftlern; die Bibliothek hielt die wichtigsten Texte der aktuellen naturwissenschaftlichen Literatur bereit. Inwieweit Hegel dieses Angebot nutzte - das auch Nichtmitgliedern offenstand -, läßt sich nicht mehr eindeutig entscheiden. Die zweite bedeutende Gesellschaft auf dem Bereich der Naturwissenschaften in Jena zur Zeit Hegels war die „Societät für die gesammte Mineralogie", die von JOHANN GEORG LENZ, der auch bis an sein Lebensende Direktor der Sozietät war, gegründet wurde.53 Das genaue Gründungsdatum ist schwer zu fixieren: erste Bemühungen um die Gründung einer entsprechenden Gesellschaft wurden bereits 1796 unternommen, die Satzung wur-

^8 Vgl. Nachrichten von dem Fortgange ... 1794 (s. Anm. 41). 31. ■*9 Vgl. die Rechnungsbücher der Gesellschaft (Universitätsbibliothek Jena, Handschriftenabteilung, Ms. chron. 1905.7). 50 Zur Bibliothek, ihrer Geschichte und tabellarischen Bestandsüberblicken vgl. Büch (s. Anm. 42). Zur Übernahme durch die Universitätsbibliothek vgl. auch Geschichte der Universitätsbibliothek Jena 1549-1945. Weimar 1958. (Claves Jenenses. Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Jena. Hrsg, von Karl Bulling. Bd 7.) 464 f. 51 Universitätsbibliothek Jena, Handschriftenabteilung, Ms. chron. 1905.8. 52 Vgl. Büch (s. Anm. 42). 53 Zur „Sozietät für die gesamte Mineralogie" vgl. Salomon (s. Anm. 28).

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de 1797 genauer festgelegt, aber erst 1798 wurde die Sozietät öffentlich bekanntgemacht. LENZ hatte ab 1780 bereits eine Anstellung als Unteraufseher der Herzoglichen Sammlungen, deren Oberaufsicht 1781-1803 LODER, dann GOETHE und VOIGT innehatten.541803 wurde GOETHE Präsident der mineralogischen Sozietät, nachdem vorher DOMINIK TELEKI VON SZEK und DIMITRIJ VON GALLITZIN das Präsidentenamt bekleidet hatten; im selben Jahr erhielt die mineralogische Gesellschaft die öffentliche Sanktion des Herzogs und nannte sich seitdem „Herzogliche Societät für die gesammte Mineralogie". Zugleich wurde ihre Sammlung mit der herzoglichen Naturaliensammlung vereinigt, so daß die Trennung der Sammlungen - ohnehin beide im Jenaer Schloß untergebracht - wegfiel. Die Satzung der Mineralogischen Gesellschaft entspricht grundsätzlich der der naturforschenden Gesellschaft, mit dem Unterschied weitgehender Spezialisierung auf die Mineralogie und die entsprechenden Hilfswissenschaften.55 Anders als in der naturforschenden Gesellschaft waren die Aufgaben eng umgrenzt, und hier vor allem auf das Zusammentragen der Sammlung ausgerichtet, die LENZ - unter Anwendung derselben Vermehrungsformen, wie sie auch die naturforschende Gesellschaft anwandte zu einer der bedeutendsten Sammlungen Europas ausbauen konnte. Bei der engen fachlichen, persönlichen, nach dem Tode BATSCHS und der Neuordnung der Sammlung auch räumlichen Berührung ist verständlich, daß eine gewisse Konkurrenz zwischen den Gesellschaften bestand. Anschaulich geschildert wird diese Situation von STEFFENS, der sich mit einer Suite norwegischer Mineralien in die Jenaer wissenschaftliche Gesellschaft einführen will; umworben von beiden Gesellschaften, übergibt er seine Kollektion der naturforschenden Gesellschaft, angetan von der Bescheidenheit BATSCHS,56 der hiermit zumindest implizit als Gegenbild zu LENZ dargestellt wird. GOETHE, schließlich Präsident der mineralogischen und Direktor der naturforschenden Gesellschaft, ergriff keine Maßnahmen, um diese Konkurrenzsituation in einer konstruktiven Weise zu beheben, sondern beschränkte sich auf die Förderung der mineralogischen Sozietät. Es ist denkbar, daß die unerfreulichen Erbschaftsstreitigkeiten, die sich nach BATSCHS Tod um den Sammlungsbestand und die Finanzen der naturforschenden Gesellschaft entspannen, die Ursache für das mangelnde Interesse GOETHES

54 Zur Biographie von Lenz vgl. Salomon (s. Anm. 28). 51-72. 55 Die Satzung von 1798 ist abgedruckt bei Salomon (s. Anm. 28). 121-123. 56 Vgl. Steffens (s. Anm. 38).

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darstellten.57 Im Jahr 1811 ordnete LENZ schließlich die Sammlungen der naturforschenden Gesellschaft.58 Hegel hatte in der „Societät für die gesamte Mineralogie" die Position eines Assessors inne.5^ Über dieses Amt finden sich in den Statuten der Sozietät keine Angaben; jedenfalls ist es von dem der Sekretäre, die für den Briefverkehr und die Zusammenfassung der Tätigkeit der Gesellschaft in den Schriften der Sozietät zuständig war, zu unterscheiden. Die Funktion Hegels als Assessor der mineralogischen Gesellschaft dokumentiert sich beispielsweise in dem Diplom, mit dem GOETHE die Präsidentschaft dieser Gesellschaft verliehen wurde und das von Hegel unterzeichnet ist; vgl. das im Anhang wiedergegebene Faksimile.^o Über die enge persönliche und fachliche Beziehung, die Hegel mit JOHANN GEORG LENZ verband, sowie über Hegels aktives Interesse an der Mineralogie gibt ein Brief Hegels an LENZ vom 17.11.1807 Aufschluß, der in den Akten der „Societät für die gesamte Mineralogie" erhalten ist.^i Die Bibliothek der mineralogischen Sozietät hat sich ebenfalls in der Jenaer Universitätsbibliothek erhalten; der umfangreiche Aktenbestand, der auch die umfangreiche Korrespondenz der Sozietät dokumentiert, befindet sich, durch Findbücher und Register erschlossen, im Universitätsarchiv Jena. Die genannten Gesellschaften dokumentieren, daß es in Jena in dieser Zeit auch über den akademischen Unterricht hinaus Bedarf nach einem Forum für naturwissenschaftliche Forschung gab und zugleich eine breite Rezeption naturwissenschaftlicher Forschung nachweisbar ist. III. Sammlungen und Bibliotheken

Wie bereits der Überblick über die naturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen zeigte, verfügte Jena um 1800 über einen umfangreichen Bestand 57 Dokumentiert bei Jahn (s. Anm. 7). 313-317 und Skramlik (s. Anm. 34). 292-295. 58 Vgl. Salomon (s. Anm. 28) 8 und Anm. 117,155 f. 59 In dieser Funktion wird er in den Schriften der Herzoglichen Societät für die gesummte Mineralogie herausgegeben von J. G. Lenz. Bd 1. Jena 1804. 7 zusammen mit Johann Friedrich Fuchs und Thomas Johann Seebeck zu Jena aufgeführt. - Zu Hegels Mitgliedschaft in der „Sozietät für die gesamte Mineralogie" vgl. die in Briefe, Bd 4, Teil 1,87 abgedruckten Dokumente. 50 Weimar, Goethe-Schiller-Archiv, GSA UF 59. - Dr. B. BCreher-Hartmann, Jena, hat mich auf dieses Dokument aufmerksam gemacht. 5t Abdruck in Briefe. Bd 4, Teil 2.14-16.

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an Sammlungen zu naturwissenschaftlichen Themen, der den Anforderungen der universitären Lehre und Forschung genügte. Dieser Aufstieg der Sammlungen in Jena im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ist umso erstaunlicher, wenn man die bescheidenen Anfänge bedenkt, die durch die bereits genannten herzoglichen Sammlungen gegeben waren; noch 1783 präsentierte sich die Sammlung als unsystematisch aufgebautes Kuriositätenkabinett.62 Das herzogliche Museum ging hervor aus der naturwissenschaftlichen Sammlung von JOHANN ERNST IMMANUEL WALCH, die 1779 auf Veranlassung GOETHES erworben wurde^s, zusammen mit WALCHS Bibliothek. 1781 wurde die Naturaliensammlung der Weimarischen Kunst- und Naturahensammlung aus dem Roten Schloß bei Weimar mit der bereits in Jena befindlichen Sammlung vereinigt. Im Jahr 1783 wurde durch die - bereits eingangs genannte - Erwerbung der Bibliothek von CHRISTIAN WILHELM BüTTNER eine der damals umfangreichsten Kollektionen naturwissenschaftlicher Literatur in Jena verfügbar. BüTTNER, bis 1783 in Göttingen als Sprach- und Naturforscher tätig, kam mit seiner Bibliothek gegen eine Rente nach Jena, wo er - in der Darstellung von STEFFENS - als lebendige Bibliothek wirkte; er bedachte auch die Bibliothek der „Naturforschenden Gesellschaft" mit Buchgeschenken, wie deren Listen zur Vermehrung ihrer Sammlungen zeigen.64 Seine Bibliothek umfaßte etwa 3 000 Titel zu den Naturwissenschaften und wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein wegen ihres Wertes und Umfangs gerühmt.65 Eine weitere Vergrößerung erfuhren die Bestände 1789 durch die Übernahme von Sammlungsstücken aus dem Nachlaß von JOHANN ERNST BASILIUS WIEDEBURG.66 Dem Museum waren mehrere, den Professoren zum Gebrauch überlassene Kabinette zur Mineralogie, Zoologie, Anatomie, Physik und Chemie. GOETHE schildert die herzoglichen Sammlungen folgendermaßen: „Das herzogliche Museum in dem Jenaischen Schlosse steht unter der Oberaufsicht der Hn. Geh. Räthe VON GOETHE und VOIGT, und besitzt in allen Fächern der Naturgeschichte, was zum akademischen Vortrag nöthig ist. ... der mineralogische Theil [hat] große Vorzüge und [befindet] sich neben

62 Therese Heyne schreibt noch 1783 einen bösartig spöttischen Bericht über ihren Besuch dieser Sammlungen, die damals bereits unter Leitung von Lenz standen; zitiert ist dieser Bericht z. B. in Salomon (s. Anm. 28). 47 f. - Generell zu den Sammlungen vgl. z. B. Döbling (s. Anm. 7). 17-51. 63 Vgl.ebd.45. 64 Vgl. z. B. die Jahresberichte der Gesellschaft von 1795 und 1798. 65 Vgl. G. Büch: Die Bibliotheca Büttneriana. Ein Beitrag zur Geschichte der Universitätsbibliothek Jena. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen. 7 (1986), 293-299. 66 Vgl. Salomon (s. Anm, 28). 4.

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den Sammlungen der mineralogischen Gesellschaft aufgestellt".67 GOETHES Bemühungen um die Sammlungen werden von Hegel in einem Brief an ScHELLiNG vom 16.11. 1803 beschrieben: „GOETHE geht sehr auf das Reelle und Apparate los, nicht nur veranlaßte er SCHELVERN, ein botanisches Kabinett anzulegen, sondern es wird auch ein physiologisches errichtet, und von RITTERN forderte er sogleich den Plan zu einem galvanischen Apparate. "68 Auch beim botanischen Garten entstand ein botanisches Cabinett, wieder auf der Grundlage von Sammlungen aus dem Herzoglichen Naturalienkabinett, „mit einem Herbarium zur Erläuterung der Metamorphose der Pflanzen".69 Weitere Sammlungen und praktische Einrichtungen wurden geplant; so betrieben JOHANN HEINRICH VOIGT und FRIEDRICH JUSTIN BERTUCH im Jahr 1802 die Errichtung eines „physicalisch-mathematischen Instituts", in dem insbesondere der Umgang mit den entsprechenden Instrumenten gelernt werden konnte; das Angebot sollte sich nicht nur an Studenten, sondern auch an Mechaniker richten. Akten zu diesem Vorgang haben sich im Thüringischen Hauptstaatsarchiv, Weimar, erhalten (A 6807). Mehrere Dozenten verweisen in den Vorlesungsverzeichnissen auf ihre Privatsammlungen, die teilweise öffentlich zugänglich waren bzw. für Unterrichtszwecke verwendet wurden. Beispiele sind LODERS anatomische Präparatensammlung, die die ALZ 1790 erwähnt, sowie LENZ' Mineraliensammlung. Die Entwicklung der Sammlungen vom ursprünglichen Kuriositätenkabinett zur wissenschaftlichen Kollektion bestand nicht nur in einer Erweiterung des Umfangs der Sammlungen, sondern zugleich im Übergang vom Naturalienkabinett zur geordneten, systematischen Erschließung und Darstellung bestimmter, abgegrenzter Bereiche der Natur mit dem Ziel der naturwissenschaftlichen Erkundung, wobei der Suche nach systematisierenden Ordnungskriterien eine wichtige Rolle zukam. Am deutlichsten verfolgen läßt sich diese Entwicklung an den mineralogischen Sammlungen. Die Sammlung der mineralogischen Sozietät vergrößerte sich unter LENZ' Leitung zu einer der größten und qualitativ hochwertigsten Sammlungen in Europa. Die Prinzipien der Aufstellung wurden intensiv und teilweise kontrovers diskutiert, wobei insbesondere die Systematik ABRA67 Praktische Anstalten ,.. (s. Anm. 5), Sp. 325. 68 Briefe. Bd 1.78. 69 Praktische Anstalten ... (s. Anm. 5), Sp. 307. - Zur Geschichte der botanischen Sammlungen in Jena vgl. die umfassende Darstellung bei Jahn (s. Anm. 7).

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und die Auseinandersetzung zwischen Vulkanismus und Neptunismus im Zentrum der Diskussion standen; diskutiert wurde auch, ob die Sammlung als Schausammlung oder als systematische Sammlung zu präsentieren seiZO HAM GOTTLOB WERNERS

IV. Hegel hat sich in Jena eingehend mit den Naturwissenschaften der Zeit befaßt und dabei insbesondere die Möglichkeiten genutzt, die ihm die Universität Jena und die dortige wissenschaftliche Öffentlichkeit boten. Stichpunkte zu Hegels Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften in Jena sind vor allem bei ROSENKRANZ überliefert: „Unter den Naturforschern hatte Hegel damals viele Freunde. Er trieb das Naturstudium mit großem Eifer, hörte bei ACKERMANN in Jena ... Physiologie,7i botanisirte mit SCHELVER, unterhielt sich über Chemie mit seinem Ereund und Landsmann SEEBECK, vertiefte sich mit KäSTNER, der ihn besonders liebte, in die Arzneiwissenschaft, machte eine geognostische Harzreise".72 in Hegels Wastebook finden sich „Excerpte aus philosophischen und naturwissenschaftlichen Büchern, Aufzeichnungen selbstgemachter physikalischer Experimente ... Die Experimente betrafen vorzüglich die Göthe'sche Farbenlehre ... Die Auszüge ... aus naturwissenschaftlichen [Schriften] gehen auf alle Gebiete der Natur. "73 Sogar die Naturwissenschaftler selbst nahmen anscheinend von Hegels Interessen Notiz; so schreibt MöLLER an Hegel, 24.11.1804: „Sie beschäftigen sich sehr mit der Physik, hat mir RITTER geschrieben".74 Erinnert sei schließlich an Hegels Anerbieten, nach SCHELVERS Weggang Botanik zu unterrichten und den Botanischen Garten, zumindest provisorisch zu inspizieren - wenn er SCHELVERS Wohnung im Botanischen Garten bekäme,75 wobei er zugleich Gelegenheit erhalte, „meine botanischen Studien wiederaufzunehmen, die ich sonst mit Neigung getrieben und zu deren Behuf ich mir in der Schweiz ein Herbarium sammelte, wovon ich zum Andenken

70 Zu den verschiedenen Ordnungsmustem innerhalb der mineralogischen Sammlungen vgl. Salomon (s. Anm. 28). 9,14,21 f; zur Frage der Präsentation, die 1816 diskutiert wurde, vgl. 32-34. n Der Kontakt zu Ackermann ist auch im Bericht von Georg Andreas Gabler bestätigt (vgl. Kimmerle (s. Anm. 2). 66). 72 K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844.220. 73 Ebd. 198 f. 74 Briefe. Bd 1.86; vgl. den Hinweis bei Rosenkranz. 224. 75 Hegel an Goethe, Ende Januar 1807. Vgl. Briefe. Bd 1.141.

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noch einen Teil aufbewahre. "^6 Im Briefwechsel steht Hegel mit dem Chemiker und Physiker KARL WILHELM GOTTLOB KäSTNER (Brief vom 15.11. 1805)77; KäSTNER bittet, SEEBECK und SCHELVER ZU grüßen, mit denen Hegel also offensichtlich in näherem Kontakt steht. Die bereits genannten Briefe Hegels an SCHELVER sowie an SEEBECK bestätigen diese Verbindungen. Untersucht man die Jenaer Systementwürfe Hegels auf eine direkte Umsetzung naturwissenschaftlicher Materialien, so fällt zunächst auf, daß relativ wenige Hinweise auf konkrete Quellen angegeben werden. Am intensivsten auf naturwissenschaftliche Texte verweist Hegel im dritten Systementwurf von 1805/06, wobei er auch neuere Publikationen heranzieht, so beispielsweise BERTHOLLETS Essai de statique chimique von 1803, DALTONS Weitere Erörterung einer neuen Theorie über die Beschaffenheit gemischter Gasarten, ebenfalls 1803, RICHERANDS Nouveaux Elemens de Physiologie, 3. Auflage von 1804 oder SCHUBERTS Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens von 1806. Hegel hat also die ihm in Jena zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten über Neuentwicklungen genutzt und in seiner Naturphilosophie umgesetzt. Die hier präsentierten Materialien zeigen, daß in Jena ab etwa 1790 und noch zur Jenaer Zeit Hegels das Fachgebiet der Naturwissenschaften in seiner Beziehung zu anderen Gebieten und hinsichtlich seiner Eigenständigkeit Gegenstand intensiver Diskussion war. Der experimentelle Aspekt der Naturwissenschaften wurde im Unterricht stark betont; zugleich entwikkelten sich mit den verschiedenen Gesellschaften auch außerhalb der Universität und über die universitären Fakultätengrenzen hinweg Zentren einer naturwissenschaftlichen Fachdiskussion und Institutionen zur Förderung naturwissenschaftlicher Forschung, die auch den Kontakt zu internationalen Wissenschaftszentren aufrecht erhielten. Dennoch muß betont werden, daß die Naturwissenschaften dieser Zeit nicht schlechthin der Philosophie oder der Naturphilosophie entgegengesetzt werden können: die Zuordnung der Naturwissenschaften zur philosophischen Fakultät wurde nicht als problematisch empfunden, sondern bedeutete vielmehr einen Schritt zur Etablierung der Naturwissenschaften als eigenständiger Fachbereich. In diesem Kontext wissenschaftssystematischer, auch hochschulpolitischer Überlegungen entwickelte sich, ausgehend von den Arbeiten und Vorlesungen SCHELLINGS, eine Naturphilosophie als Themenschwerpunkt im Bereich der Philosophie. Es ist anzunehmen, daß diese Naturphilosophie nicht nur Inhalte und Resultate der zeitgenössischen Naturwis76 77

Ebd. ßrie/e.Bdl.102-104.

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senschaft aufgriff und verwertete, sondern daß die Naturphilosophie auch als Reaktion auf die wissenschaftssystematischen Implikationen der beginnenden Etablierung eines Fachbereichs der Naturwissenschaften reagierte. Zusammen mit den bereits vorliegenden Informationen über Hegels und ScHELLiNGs naturwissenschaftliche Kenntnisse, die sie vor ihrer Jenaer Zeit erwerben konnten, ergeben sich hiermit neue Möglichkeiten, den systematischen Ort der spekulativen Naturphilosophie aufzuweisen.

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ANHANG: MATERIALIEN

I. Lehrveranstaltungen zu Naturwissenschaften, angewandter Mathematik, Anthropologie und empirischer Psychologie, 1801/02-1807'^^ WS 1801/02: Philosophische Anthropologie Hr. Hofr. Hennings u. Hr. Hofr. Ulrich - Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt; und n. Huth Hr. Prof. Fischer. Astronomie n. s. Lehrb. Hr. Hofr. Voigt. - Experimentalphysik n. Erxleben lehrt Hr. Hofr. Voigt. Mineralogie n. s. Handb. u. mit Benutzung des herzogl. Mineraliencabinets, der Sammlung der mineral. Societät und seinem eigenen Hr. Prof. Lenz. Geschichte der Mineralogie Hr. D. Schwabe. Geschichte der Fossilien und Petrefacten Hr. Prof. Lenz. Geologie n. s. Lehrbuche öffentl. Hr. Prof. Bätsch. Theoretische und praktische Chemie n. s. Handb. Hr. Prof. Göttling. SS 1802: Empirische Psychologie oder Anthropologie n. s. Lehrb. Hr. D. Schmid. - Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt n. s. Sätzen u. nach Huth Hr. Prof. Stahl. Physisch-mathematische Geographie, Hr. Hofr. Voigt, öffentl. - Allgemeine Naturgeschichte lehrt n. s. Lehrb. und mit Vorzeigung der Hülfsmittel im herzogl. Naturalien-Cabinet und dem botanischen Garten, Hr. Prof. Bätsch. Botanik Hr. Prof. Bätsch. Mineralogie nach s. Handb. u. mit Benutzung des herzoglichen Mineraliencabinets, der Sammlung der mineralogischen Societät u. s. eignen, Hr. Prof. Lenz. Oekonomische Mineralogie unentgeldlich Hr. D. Pansner. Geschichte der Petrefacten öffentl. Hr. Prof. Lenz. Experimentalphysik Hr. Hofr. Voigt nach Mayer. Theoretische u. praktische Chemie n. s. Handb. Hr. Prof. Göttling. Chemische Zerlegungskunst n. s. Handb. Derselbe. Botanische Excursionen hält Hr. Prof. Bätsch. WS 1802/03: Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt n. eignen Sätzen. Populäre Sternkunde öffentl. Hr. Hofr. Voigt nach s. Lehrb. - Experimentalphysik n. Meyer

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Jeweils nach den Vorlesungsverzeichnissen der ALZ bzw. Jenaischen ALZ.

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lehrt Hr. Hofr. Voigt. Mineralogie n. s. Hairdbuch und mit Benutzung des herzogl. Mineralienkabinets, der Sammlung der mineral. Societät und seinem eigenen Hr. Prof. Lenz. Geologie n. s. Lehrb. öffentl. Hr. Prof. Bätsch. Theoretische und praktische Chemie n. s. Lehrb. Hr. Prof. Göttling. SS 1803: Empirische Psychologie Hr. D. Schmid. - Allgemeine Naturgeschichte lehrt

n. s. Lehrb. d. Thiergeschichte und mit Vorzeigung der Hülfsmittel im herzogl. Naturalienkabinet und d. Sammlung der mineral. Gesellschaft, Hr. Bergrath Lenz. Zoologie n. s. Sätzen, jedoch nach der Ordnung, welche in dem Pariser Nationalmuseum beobachtet wird, Hr. Prof. Froriep. Botanik Hr. D. Schelver. Mineralogie n. s. Lehrb. Hr. Bergrath Lenz mit Zuziehung der obgedachten Hülfsmittel. Experimentalphysik n. Mayer Hr. Hofr. Voigt. Theoretische und praktische Chemie Hr. Prof. Göttling. WS 1803/04: Philosophische Anthropologie oder Psychologie n. s. anthropologischen Aphorismen Hr. Hofr. Eiennings, und mit Vorausschickung der nöthigen anatomischen und physiologischen Sätze Hr. Hofr. Ulrich. Pragmatische Anthropologie Hr. Dr. Gruber. Praktische Psychologie Hr. Dr. Schmid. - Angewandte Mathematik n. eignen Grundsätzen Hr. Hofr. Voigt. Populäre Sternkunde trägt Hr. HR. Voigt öffentl. vor. - Mineralogie nebst Geognosie, desgleichen Zoologie lehrt n. s. Lehrbüchern und mit Benutzung des herzogl. Na-

turalienkabinets, der Sammlung der mineralogischen Gesellschaft und seiner eigenen Hr. Bergrath Lenz. Das Natur-System der Vegetabilien Hr. Prof. Schelver. Die Geschichte der kryptogamischen Gewächse lehrt Hr. Prof. Schelver. Experimentalphysik lehrt n. Mayer Hr. HR. Voigt. Theoretische und praktische Chemie n. s. Lehrbuch Hr. Prof. Göttling. Chemische Gewerbskunde n. eigenen Dictaten Hr. Prof. Göttling. SS 1804: Pragmatische Anthropologie, n. s. Lehrbuch der empirischen Psychologie, Hr. Prof. Schmid. Anthropologie oder empirische Psychologie Hr. D. Henrici. Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt. Physisch-mathematische Geographie trägt in öffentl. Vorlesungen Hr. Hofr. Voigt vor. - Naturgeschichte, nach s. Lehrbuch, Hr. Bergrath Lenz. Botanik verbunden mit botanischen Excursionen Hr. Prof. Schelver. Mineralogie, nach s. Compend., Hr. Bergr. Lenz. Theoretische und ExperimentaTPhysik, nach Mayer, Hr. Hofr. Voigt. Zu Vorlesungen über theoretische Physik erbietet sich auch Hr. Prof. Fischer. Theoretische und Experimental-Chemie, nach s. Handbuch, Hr. Prof. Göttling.

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WS 1804/05; Philosophische Anthropologie, Ebenders. [Ulrich] - Angewandte Mathematik nebst den Elementen des calculi speciosi et infinitesimalis und den Sätzen der höhern Geometrie Hr. Hofr. Voigt. Angewandte Mathematik nach s. Lehrbuch, Hr. Prof. Fischer. Astronomie lehrt Hr. Hofr. Voigt öffentl. nach s. Lehrb. einer populären Sternkunde. - Ein System der Naturwissenschaß, enthaltend a) Na-

turphilosophie b) Elementar-Physik c) Geognosie d) Physiologie des Organismus oder Phytonomie, Zoonomie u. Anthropologie trägt Hr. Prof. Schelver vor. Die Geschichte der Eingeweide-Würmer öffentl. Hr. Bergrath Lenz. Mineralogie nach s. Lehrb. Ebenders. Geognosie Ebenders. Theoretische und Experimental-Physik, nach Mayer, Hr. Hofr. Voigt. Theoretische Physik Hr. Prof. Fischer. Theoretische und ExperimentaTChemie nach s. Handb. Hr. Prof. Göttling. SS 1805; Anthropologie oder empirische Psychologie, Ebenderselbe. [Henrici] - Angewandte Mathematik lehrt Hr. Hofr. Voigt nach eigenen Grundsätzen. Physisch-mathematische Geographie Ebenderselbe. - Allgemeine Naturgeschichte lehrt Hr. Prof. Schelver und Hr. Bergr. Lenz nach seinem Lehrbuche, und benutzt dabey das herzogl. Museum. Botanik trägt Hr. Prof. Schelver vor mit Benutzung des herzogl. botanischen Gartens. Botanik, verbunden mit der Physiologie der Pflanzen und Excursionen, lehrt Hr. D. Voigt. Geschichte der Botanik trägt Ebenderselbe öffentlich vor. Mineralogie lehrt Hr. Bergr. Lenz

nach seinem Lehrbuche und gebraucht dabey das herzogl. und sein eigenes mineralogisches Museum. Das System der äußeren Charaktere der Mineralien trägt Ebenderselbe öffentlich vor. Physiologie der unorganischen Körper lehrt Hr. D. Kästner. Theoretische und ExperimentaTPhysik Hr. Hofr. Voigt nach Meyer. Theoretische und Experimental-Physik Hr. Prof. Göttling nach seinem Handbuche. Allgemeine Chemie Hr. D. Kästner nach Winterl und seinem Lehrbuche. Geschichte der Chemie trägt Ebenders. öffentl. vor. WS 1805/06; Empirische Psychologie Hr. K. R. Schmid nach seinem Lehrbuche. Philosophische Anthropologie Hr. Hofr. Hennings, und Hr. geh. Hofr. Ulrich nach sei-

nem Lehrbuche mit einer Einleitung in diese Wissenschaft während der Ferien. Physiognomik mit Beziehung auf die Gallische Schädellehre Hr. geh. Hofr. Ulrich. - Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt nach seinem Lehrbuche und Hr. Prof. Fischer. Astronomie Hr. Hofr. Voigt. - Botanik setzt Hr. Prof. Schelver fort mit Benutzung des herzogl. botanischen Gartens. Die Kryptogamen (in der 24 Classe des Linneischen Sexualsystems) Hr. D. Voigt. Oekonomische Mineralogie Hr. Bergrath Lenz nach seinem Lehrbuche. Geschichte der

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Fossilien, Ebenderselbe mit Benutzung des herzogl. Museums für beide Vorträge. Theoretische und Experimentalphysik Hr. Hofr. Voigt nach Mayer und Hr. Prof. Fischer. Theoretische und Experimentalchemie Hr. Prof. Göttling nach seinem Handbuche. SS 1806: Anthropologie Hr. Hofr. Hennings und Hr. D. Henrici. - Angewandte Mathematik, Derselbe [Voigt] nach seinem Lehrbuche. Physisch-mathematische Geographie nach Mayer, Ebenderselbe. - Allgemeine Naturgeschichte trägt Hr. Prof. Schelver und Hr. Bergr. Lenz vor. Letzterer nach seinem Lehrbuche mit Benutzung des herzogl. Museums. Botanik Hr. Prof. Schelver mit Zuziehung des herzogl. botanischen Gartens. Botanik in Verbindung mit Physiologie der Pflanzen und Excursionen lehrt Hr. D. Voigt. Jussieu’s natürl. Methode der Pflanzen erklärt Derselbe. Mineralogie trägt Hr. Bergr. Lenz nach seinem Lehrbuche vor. Geschichte der Fossilien. Derselbe. Theoretische und Experimentalphysik Hr. Hofr. Voigt nach Mayer. Theoretische und Experimentalchemie Hr. Prof. Göttling nach eigenem Handbuche. Chemische Terminologie nach eigenen Sätzen lehrt Derselbe, und besucht in Begleitung seiner Zuhörer die Werkstätte der Handwerker. WS 1806/07: Philosophische Anthropologie Hr. geh. Hofr. Ulrich nach seinen Lehrsätzen. Empirische Psychologie Hr. D. Henrici. - Angewandte Mathematik Hr. Hofr. Voigt nach seinem Lehrbuche. Astronomie, Derselbe. - Das System der äußeren Charaktere der Mineralien und Fossilien trägt Hr. Bergrath Lenz vor. Oryktognosie Derselbe nach seinem Lehrbuche. Zoologie mit Benutzung des Museums der naturforschenden Societät Hr. D. Voigt. Geschichte der Kryptogamen, Ebenderselbe. Theoretische und Experimentalphysik nach Mayer Hr. Hofr. Voigt. Theoretische und Experimentalchemie Hr. Prof. Göttling nach seinem Handbuche. SS 1807: Empirische Psychologie nach Jacob Hr. D. Henrici. Philosophische Anthropologie Hr. Hofr. Hennings. - Die angewandte Mathematik nach seinem Lehrbuche Ebenderselbe [Voigt]. Physisch-mathematische Geographie nach Mayer Ebenderselbe. - Allgemeine Naturgeschichte trägt Hr. Bergr. Lenz nach seinem Lehrbuche mit Benutzung des herzogl. Museums vor. Die Zoologie Hr. D. Voigt. Die Botanik mit Zuziehung des herzogl. botanischen Gartens Ebenderselbe. Die Mineralogie lehrt Hr. Bergr. Lenz nach seinem Lehrbuche. Geschichte der Fossilien Ebenderselbe. Theoretische und Experimentalphysik trägt

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Hr. Hofr. Voigt nach Mayer vor. Theoretische und Experimentalchemie Hr. Prof. Göttling nach seinem Handbuche. Die Lehre vom Dünger nach physisch-chemischen Principien setzt Hr. Prof. Fischer aus einander.

II. Veranstaltungen zur Naturphilosophie von 1798199 bis zum Sommersemester 1807 Nicht aufgeführt werden die Lehrveranstaltungen Hegels; bei Schelling werden die Veranstaltungen, die jeweils das System der Philosophie betrafen, mit aufgeführt.79

WS 98/99: Philosophiam naturae; SS 1799: Philosophiam naturae (hanc e libro suo); WS 1799/1800: Physicam organicam e principiis philosophiae naturalis; WS 1800/01: Philosophiam naturalem; SS 1801: Systema philosophiae universae exponet eadem methodo, qua et nunc usus est, et quam pluribus delineavit in libri sui: Zeitschrift für spekulative Physik, parte ea, quae proxime proditura est; WS 1801/02: E libris suis, philosophiae Universum systema; SS 1802: Philosophiae speculativae Universum Systema; WS 1802/03: Philosophiae speculativae universam rationem, ex ea delineatione systematis sui tradet, quae inserta est libro: Neue Zeitschrift für speculative Physik (... Heft I. II). ScHAD, JOHANN BAPTIST: SS 1802: Philosophiam naturae una cum philosophia mentis juxta librum proxime a se edendum: Absolute Harmonie der Natur mit der Ichheit; WS 1802/03: Philosophiam naturae conjunctim cum philosophia transcendentali pariter juxta librum suum, qui modo sub prelo est; SS 1803: Philosophiam naturae, et mentis, pariter juxta proprium compendium: System der Natur und Transcendentalphilosophie; WS 1803: Philosophiam naturae pariter juxta suum compendium, cuius modo pars secunda sub praelo est, nundinis proximis autumnalibus proditura, sub titulo: System der Natur- und Transcendentalphilosophie. Landshut bey Krüll. KRAUSE, KARL CHRISTIAN FRIEDRICH: WS 1803: Systema Philosophiae, Rationis et Naturae; ex dictatis; SS 1804: Elementa philosophiae naturae, et alteram quidem ejus partem ad compendium suum: Anleitung zur Naturphilosophie, Jena b. Gabler 1804, alteram vero ad dictata. WS 1804: Systema Philosophiae universae et naturae et rationis; ad librum suum: Entwurf des SCHELLING, FRIEDRICH WILHELM JOSEPH:

79 Die Vorlesungsankündigungen werden hier nach den etwas ausführlicher gehaltenen Angaben im lateinischen Catalogus praelectionum publice privatimque in Academia lenensi... habendarum wiedergegeben.

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Systems der Philosophie: cujus altera pars jam prodiit apud Gablerum, altera iusto tempore prodibit. ScHELVER, FRANZ JOSEPH: WS 1804: Systema scientiae naturalis, complectens a) Philosophiam naturae, b) Physicam elementarem, c) Geognosiam et d) Physiologiam Organismi, sive Phytonomiae, Zoonomiae et Anthropologiae fundamenta; WS 1806: Philosophiam naturalem. FISCHER, JOHANN KARL: SS 1800: Philosophiam naturalem. GRUBER, JOHANN GOTTFRIED: SS 1804: Philosophiam quam dicunt naturae, secuturus ScheUingium HENRICI, GEORG HEINRICH: SS 1804: Philosophiam naturae; SS 1805: Philosophiam, quam dicunt naturae, haud neglecturus partem hujus doctrinae medicinalem; SS 1806: Philosophiam tradet naturae, secundum proprias et aliorum ideas, haud neglecturus huius doctrinae cum medicina connexum; WS 1806: PhUosophiam tradet, quam dicunt naturae, haud neglecturus Gel. GaUii doctrinam de cerebro et organologiam; SS 1807: Philosophiam naturae, secundum suas et aliorum ideas; WS 1807: Philosophiam naturae, decreta huius doctrinae certa minusque ambigua a dubiis et temere prolatis discernere conaturus.

III. Statuten der Naturforschenden Gesellschaß Neue Statuten der naturforschenden Gesellschaß zu Jena. Entworfen und genehmigt, im Febr. 1800. Jena^o [Auszug] I. Der Zweck der Gesellschaft ist: planmäßige Erweiterung und Ergänzung der Naturwissenschaften überhaupt durch alle, imd vollendete Naturbeschreibung der Gegend des Instituts, durch die daselbst lebenden Mitglieder, so wie eine wissenschaftliche und ehrenvolle nähere Verbindung für die letztem. Die Gesellschaft wünscht vorzüglich, daß jedes ihrer näher verbundenen Mitglieder die Gegend seines längeren Aufenthaltes, oder einen eignen Gegenstand der Naturforschung, einer anhaltenden und genauem Untersuchung unterwerfen möge. II. Da die meisten activen Mitglieder solche seyn werden, die an dem Orte des Instituts studieren, so kann in diesem Falle nur der allgemeine Ruf von Fähigkeiten und guten Sitten Hoffnung geben, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Sollte wider Hoffen und Vermuthen ein Mitglied so In der Sache finden sich nur geringfügige Unterschiede zu den ursprünglichen Statuten von 1793; Versammlungen wurden nach den neuen Statuten nicht mehr so häufig angesetzt, und die Rolle von Vorträgen und Aufsätzen wird geringer.

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sich Vergehungen zu Schulden kommen lassen, die eine offenbare Niedrigkeit des Charakters zeigten, und es Jeder Gesellschaft gebildeter Menschen unwürdig machten, so wird es, mit beständiger Beybehaltung der unangenehmen Nachricht, auch aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen. III. Active Mitglieder werden von der ganzen übrigen Gesellschaft ausgeschlossen, wenn sie die Grenzen der Achtung, die jedes Mitglied dem andern schuldig seyn muß, überschreiten, oder die von allen festgesetzte Ordnung der Geschäfte eigenmächtig stören, irgend Eifersucht oder Factionen erregen, und so die ersten, schönsten, und nothwendigsten Stützen der Gesellschaft feindselig untergraben wollen. [*] IV. Die Wirksamkeit der activen Mitglieder muß durchaus mit ihren nothwendigsten Beschäftigungen nicht in Widerspruch kommen. Bloß Nebenstunden werden der Gesellschaft gewidmet, und so, wie ein Mitglied sich die tiefsinnigsten und schwersten Gegenstände wählen kann, so darf es auch, wenn seine Zeit und übrige Lage nicht mehr verstattet, bloß an den Zusammenkünften, und an dem Gebrauche des Eigenthums der Gesellschaft Antheil nehmen. Es werden von keinem Mitgliede bestimmte Arbeiten, und zu bestimmter Zeit, gefordert; alles ist freyer Wille; und der Dank, den man dem Vielleistenden schuldig ist, gereicht dem, der wenig oder nichts leistet, nicht im geringsten zum Vorwurf. [V. -IX. Fragen der Beitragszahlung] X. Die Fächer, welche jedes active Mitglied zu seiner Beschäftigung wählen, und bey denen das verschiedenste Talent seinen Wirkungskreis finden kann, sind: 1) Sammlimg und Bemerkung einzelner Theile der Thiere und Gewächse, z. B. der Früchte, der Blätter, der Eyer, der Nester, des Blumenstaubs, der Knochen, der Federn, u. s. w. alles zur Berichtigung der naturgeschichtlichen Philosophie, wobey wieder ein Mitglied einen oder mehrere dieser Gegenstände bearbeiten kann. 2) Besondre Sammlung ganzer Classen und andrer Abtheilungen z. B. der Gräser, Lilien, Schwämme, Insekten, Fische, Wasserthierchen, Mineralien u. s. w. 3) Bemerkung des Sonderbaren, der Krankheiten und Ausartungen. 4) Bemerkung des öconomischen Nutzens bey den Einwohnern der Gegend, des Aberglaubens, der Volksbenennungen. 5) Bemerkung der Verhältnisse der Gegend im Ganzen. 6) Zeichnung geognostischer Gegenstände, u. a. 7) Messung und Berechnung der Berge, der Meeresschichten, der Flüße. 8) Meteorologische Beobachtungen. 9) Aufbewahrung und

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10) Zergliederung organischer Körper. 11) Zerlegung der Blumen und Fructificationstheile u. s. w., insbesondere zu Berichtigung der künstlichen Systeme der Pflanzen. 12) Microscopische Beobachtung. 13) Ziehen und Beobachten lebendiger Thiere. 14) Chemische Zerlegung, und Verfertigung instructiver chemischer Präparate. 15) Physicalische Untersuchungen. Excerpiren, Extrahiren, und Copieren aus wichtigen Werken und Zeichnungen zu bestimmten Zwecken. XL Zu jedem dieser Fächer wird ein Entwurf, wie es zu bearbeiten sey, den Mitgliedern zu beßrer Auswahl vorgelegt. Kein Mitglied ist, wenn ihm etwas merkwürdiges ausser seinem Fache vorkäme, gebunden, dieses zu verschweigen, nur dient die Bestimmung des Fachs Zerstreuung zu verhüten. Fragen, die ein Mitglied über ein oder das andere Fach aufwirft, werden auch angenommen, und entweder von den Mitgliedern beantwortet, oder als Stoff zu küirftiger Untersuchung aufbewahrt. XII. Finden sich mehrere Mitglieder zu Einem Fache, so suchen diese wieder die Geschäfte unter sich zu vertheilen, und der, welcher die meiste Kenntniß und Fähigkeit hat, oder dem es von den andern übertragen wird, bringt die Arbeit in Ordnung. XIII. Die Sammlungen, Bemerkungen, und Abhandlungen eines jeden einzelnen Fachs, werden von denen, die sie gemacht und bearbeitet haben, zu gewissen Stunden... in der Woche den Verwaltern der Gesellschaft überliefert, und zugleich mit einer schriftlichen Specification eingereicht, damit die Verwalter darüber Registratur führen, und Archiv und Sammlung auf eine bestimmte Weise vermehren können. XrV. Die Verwalter und andre Mitglieder benachrichtigen den Direktor der Gesellschaft nach Gelegenheit, von dem, was vorgegangen ist; dieser giebt in einer allgemeinen Versammlung, so bald Gegenstände genug zum Vortrage vorhanden sind, allen Mitgliedern von dem bis dahin vorgefallenen Merkwürdigen Rechenschaft, und legt, wenn es die Umstände mit sich bringen, neue Entwürfe vor. Ueberhaupt wird in diesen Zusammenkünften das, was in der Zwischenzeit freundschaftlich besprochen, eingeliefert, oder schriftlich verhandelt wurde, zur allgemeinen Bekanntschaft gebracht. XV. [Funktionen des Direktors] XVI. Jedes active oder ordentliche Mitglied verbindet sich... zu den oben (V.) bemerkten Pflichten; correspondirende oder außerordentliche Mitglieder werden durch Uebergabe des Diploms von der Gesellschaft um thätige Beyhülfe ersucht, da man ihre Liebe zur Naturwissenschaft kennt;

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den Ehrenmitgliedern aber überreicht die Gesellschaft ihre Diplome mit verehrungsvoller Empfindung gegen ihren den Wissenschaften geneigten Charakter, oder die Arbeiten, wodurch sie die Naturwissenschaften bereicherten; sie hofft durch eine beständige Erinnerung an so würdige Muster jedes ihrer Mitglieder zu rühmlicher Nacheiferung zu reitzen. XVII. [Beitragsfragen] XVIII. Active Mitglieder sind verpflichtet von ihren eignen Schriften ein Exemplar an die Bibliothek der Gesellschaft zu liefern, und überhaupt von ihren Orts- und Amtsveränderungen der Gesellschaft Nachricht zu geben. XIX. [Beitragsfragen] XX. In jeder öffentlichen Versammlung kommen die Mitglieder und andre achtungswürdige Personen, nach geschehener Einladung, mit dem möglichsten äußern Anstande zusammen; Fremde können, wenn sie sich dazu gemeldet haben, oder von Mitgliedern eingeführt werden, den öffentlichen Versammlungen beywohnen; außer dem können sie in den wöchentlichen an dem Versammlungszimmer der Societät bestimmten Stunden sich die Einrichtung des Ganzen bekannt machen. XXL [Vorschlagsverfahren für Mitglieder] XXII. Ein Hauptgegenstand der Gesellschaft ist der Gebrauch ihrer eignen, durch gemeinschaftliche Bemühung errichteten Sammlung und Bibliothek, wohin auch das Laboratorium gehört, das der Direktor mit allen Instrumenten der Gesellschaft unentgeltlich überläßt. Studierende erhalten dadurch mehr Gelegenheit, als sonst möglich wäre, sich mit aller Muße in den Naturwissenschaften zu unterrichten; es wird aber dagegen auch den Mitgliedern zu einer heiligen Pflicht, den wohlthätigen Zweck dieses Instituts möglichst zu befördern, und ihn auf keine Weise zu stören. Hierzu sind eigne Gesetze entworfen, denen jedes Mitglied, das an diesen Vortheilen der Gesellschaft Theil nehmen will, zu folgen hat, und die nichts andres zur Absicht haben, als Erhaltung der Ordnung, ruhige und zweckmässige Benutzung, und Schonung des allgemeinen Eigenthums. Es ist die Einrichtung getroffen, daß zu gewissen Stunden, Bücher, Naturalien und Instrumente gegen Einschreibung in das deshalb zu führende Register, an die Mitglieder abgegeben, und wieder, gegen Quittirung, zurückgenommen werden. In dem Versammlungszimmer können Mitglieder zu jeder Stunde des Tages, und so lange sie wollen, sich aufhalten, und das Verlangte aus der Sammlung benutzen. XXIII. Da sich endlich die Gesellschaft Glück wünschen, in einem Lande, und auf einer Akademie entstanden zu seyn, wo aufgeklärte Fürsten seit langen Jahren die Wissenschaften begünstigten, wo die mit Klugheit und Anständigkeit verbundene Denkfreyheit nie eingeschränkt wurde, und

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sichtbar von einem Jahrzehend zum andern Sittlichkeit und Kenntniß gewinnen [*], da die Gesellschaft ihre Zwecke eben so sehr, als die Mittel zur Ausführung, öffentlich darlegt; so hofft sie, im Bewußtseyn ihres redlichen Unternehmens, von allen gebildeten Menschen, denen jeder Versuch zur Ausbreitung des Guten ehrwürdig ist, eine geneigte Beurtheilung, und möglichste Begünstigung; und da sie sich dieses, aus Achtung gegen den Charakter derer, denen sie zu gefallen wünscht, fast sicher versprechen kann, so findet sie darin einen Antrieb, sich immer die Erfüllung ihrer guten Vorsätze in Erinnerung zu bringen.

IV. Hegel als Assessor der „Societät für die gesamte Mineralogie": Goethes Diplom Hegel Unterzeichnete in seiner Funktion als Assessor das Diplom, das Goethe zur Ernennung zum Präsidenten der „Societät" überreicht wurde. Die Urkunde befindet sich im Goethe-Schiller-Archiv, Weimar, Sign. ÜF 59.

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KLAUS VIEWEG (JENA)

DIE BESTIMMUNG DES MENSCHEN ALS MONISMUS DER FREIHEIT Zur Philosophie des böhmisch-deutschen Hegelianers Franz Thomas Bratranek (1815-1884) im Ausgang von einem unveröffentlichten Brief

Der „ungeheuere Dom“ des „Meisters“ - Ein Abstract der Hegelschen Logiki „Haben Sie also die Güte, mich eine Strecke durch die Hallen der Hegelschen Philosophie zu begleiten, um zum Gedanken zu kommen. Dieser ungeheuere Dom hat zwar unendlich viele Zugänge, doch wollen wir uns bestreben, den rechten zu treffen, den nämlich der Erbauer als den Anfang bezeichnet. Der Anfang nun soll dies sein, nichts vorauszusetzen, sonst wäre er eben nicht der Anfang, und das Voraussetzungslose kann nichts sein als das Abstrakteste, das Allgemeinste (was in allem ist), das ganz Inhaltslose (jeder Inhalt wäre eine Voraussetzung), kurz das reine Sein, das zum Inhalte Nichts hat, oder das Nichts, das als ein Sein gefaßt wird. Hier ist also gleich eine Identität der beiden Urnegationen Sein -Nichts, Nichts - Sein, die beide identisch, d. h. Nichts, oder vielmehr, in ihrer Einheit gefaßt, der Prozeß des Übergehens, des Umschlagens des einen ins andere sind; dies ist dann das Werden. Hier nun haben Sie die Basis, auf der die Logik gegründet ist; deshalb müssen wir sie näher betrachten. Das Werden ist die Wahrheit des Seins und des Nichts, in ihm sind sie beide, aber als aufgehobene, als Momente. Was das Wort „Moment“ bedeutet, dürfte Ihnen deutlich werden, wenn Sie sich aus der Physik die Vorstellung des Hebels zurückrufen. Dieser ist nämlich eine Linie, welche durch die Entge-

1 Der Brief F. T. Bratraneks (ohne Datum) an einen unbekannten Empfänger, aus dem wir im folgenden einen größeren Auszug mitteilen, befindet sich unter der Registriemummer E 4,191, VI, 25 im Staatsarchiv Brünn, Fonds Altbrünner Königskloster. Die Transskription wurde von dem Prager Bratranek-Forscher Herrn Dr. Jaromir Louzil, der mich 1994 auf das Werk von Bratranek aufmerksam und neugierig machte, freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Auch andere, in diesem Beitrag verwendete Dokumente aus der Feder Bratraneks sowie Arbeiten über den böhmisch-deutschen Gelehrten habe ich von Herrn Dr. Louzil erhalten, wofür ich hier ausdrücklich danken möchte. Ebenfalls Dank für seine Unterstützung gilt Herrn Prof. Milan Sobotka (Prag).

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gengesetzten: Kraft und Last, dies wird; und die beiden Entgegengesetzten nennt man „Momente", weil man sich sie als unendlich klein vorstellen kann, wenn nur der Begriff beibehalten wird, daß beide sich in ihrer Entgegensetzung erhalten. Diese beiden haben also in Wahrheit kein anderes Sein gegeneinander als das ihrer Negation; ihr wahres Sein aber ist das Hypomochlium, wo beide sich gegenseitig aufheben, dadurch aber auch erhalten. Sie sind, um sich so auszudrücken, im Hypomochlium ihrem Begriffe nach oder geistig vorhanden. Der Hebel selbst, oder das Hypomochlium, das alle seine drei Teile aufgehoben enthält, ist nichts anderes als der Prozeß des Übergehens des einen ins andere; denn verschwände Eines, so verschwindet das Ganze, es ist also dieses Werden der beiden, weil keines eine Selbständigkeit hat, keines aber auch vernichtet ist, es ist das ruhige Schweben durch die absolute Unruhe. - Noch ist zu erörtern die Bedeutung des Aufgehobenen und hier verweise ich Sie auf die Etymologie. Aufheben" nämlich heißt erstlich soviel als „verrüchten", die Selbständigkeit rauben, dann aber auch soviel als auch „bewahren", und fassen Sie beides zusammen, so haben Sie die Bedeutung des Aufgehobenen oder des Momentes. Aufgehoben ist nämlich das, was durch ein anderes seiner Selbständigkeit beraubt ist [und dadurch auch das Andere aufhebt] und in einem Dritten aufbewahrt wird, als Teil (wenn Sie damit den Begriff des Zusammengesetzten verknüpfen, denn das Dritte ist nicht ein Zusammengesetztes, sondern ein Entwickeltes, d. h. ein solches, wo beide zu ihrer Wahrheit kamen, welche darin besteht, daß sie sich durch und in ihrer Entgegensetzung erhalten), als Moment. Das erste ist also das Sein, welches auch in allen Kategeorien (die nur seine nähere Entwicklungen oder Bestimmungen sind) die Grundlage bleibt. - Ich habe deshalb weitläufiger gesprochen, weil auf der richtigen Auffassung dieser Basis die Einsicht in die Hegelsche und auch ScHELLiNGSche Philosophie (welche erstere hierin nur eine deutlichere, genauere Wiedergabe der letzteren ist) beruht. Noch ist aber die Kategorie des Daseins zur weiteren Verständigung notwendig. Das Werden nämlich ist seiner Wahrheit nach ebensosehr ein Vergehen (Übergehen des Seins ins Nichts); es vergeht also als Werden oder sinkt in die ruhige Einfachheit, in die Einheit seiner Momente zusammen und so wird es ein Dasein, d. h. ein Sein, welches mit dem Nichts verbunden ist, ein bestimmtes Sein (hier möge Ihnen SPINOZAS Satz: Quevis negatio est determinatio, der in seinem System wohlbegründet ist, unterdessen als Axiom gelten), ein Etwas. Am Etwas treten sogleich die aufgehobenen Momente: Sein und Nichts, wieder hervor; nämlich als Etwas und ein Anderes, welches ebensosehr Etwas ist; und am Etwas wieder als Ansichsein (das Sein des Etwas, sein Inneres) und als Sein für Anderes (das Nichtsein des Etwas,

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sein Inneres) und als Sein für Anderes (das Nichtsein des Etwas oder sein Äußeres) und beide im Anihmsein. Das Sein für Andere ist nichts als das Ansichsein und umgekehrt. Das Äußere ist ein Ausdruck des Inneren und das Innere das, was das Äußere ausspricht [und dem Äußeren zu Grunde liegt]. Das Ansichsein in Einheit mit dem Anihmsein, jedoch so, daß das Erstere vortritt, ist die Bestimmung, das Soll; das Sein für Anderes in Einheit mit dem Anihmsein, jedoch mit der Prävalenz des Seins für Anderes, ist seine Beschaffenheit, und das Dritte, worin beide ebensosehr sind als nicht sind, wo sie als Aufgehobene, als Momente sind, ist die Grenze, die Wahrheit beider, ihr Werden; diese sinkt ihrer Bestimmung nach wieder zusammen in die Einheit der beiden Momente und das Etwas wird ein Endliches. Dieses ist aber, als der Widerspruch seiner in ihm selbst, seiner Bestimmung nach ein Vergängliches, es ist ein Sein, das (nach seiner Seite und daher) in Wahrheit nicht ist, ein Etwas, das ebensosehr ein Anderes ist. Sein wahres Sein ist die Vernichtung, das Vergehen. Es erreicht also sein Ansich, das wahre Sein, wenn es vergeht. Diese Negation des Endlichen, sein Vergehen, sein Sein, ist das Unendliche; das Unendliche aber, als Negation des Endlichen gefaßt, schlägt sogleich um und ist ebensosehr ein Endliches, weil es mit einer Negation, mit dem Grimm gegen das Endliche behaftet ist. Dieses verendlichte Unendhche vergeht also als Endliches wieder, wird ein Unendliches, das aber als Negation wider ein Endliches ist und so fort, und dies ist der Progreß ins Unendliche, die falsche Unendlichkeit, welche keine Endlichkeit sein will, es aber eben dadurch (durch ihr Nichtwollen) wird. Hier haben wir also wieder zwei Entgegengesetzte: die (falsche) Unendlichkeit (das Sein, das Etwas, das Ansich) und das Endliche (das Nichts, das Andere, das Sein für Anderes, das Dasein), welche in ihrer Entgegensetzung keine Wahrheit haben, sondern diese als Momente, als Aufgehobene in einem Dritten erhalten, nämlich in ihrer Einheit (dem wahren Unendlichen, [dem Unendlichen, das nur in seinen Momenten und nicht außer ihnen, ein Diesseits und nicht Jenseits ist]. (: Analogien: die endliche Natur und der unendliche Geist; Körper und Seele etc.:) Diese affirmative Unendlichkeit ist aber in Wahrheit nichts anderes als ein Prozeß, ein Werden, dessen Momente das Endliche und (falsche) Unendliche, oder das Sein und das Dasein sind. Dieses unruhige Übergehen beider Momente (welche so wie das Sein und Nichts wieder und immer identisch sind, weil sie nichts anderes als die Entwicklungen des Seins sind, seine Bestimmungen sind) sinkt daher in die Einheit zusammen und wird Fürsichsein. Dies als die dritte Kategorie ist die Wichtigste; denn es ist die des wahrhaft Unendlichen, des Absoluten (etymologisieren Sie: für-sich-Sein). Das Fürsichsein ist das unendliche Sein, d. h. das nur durch sich selbst Bestimmte, da-

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her das absolute Bestimmtsein; als solches hat es das Dasein, die Negation an ihm (das Bestimmtsein), die aber in dasselbe zurückbeugt, weil das Andere verschwunden ist. Die Endlichkeit (das Bestimmtsein) ist an ihm als Ideales gesetzt, d. h. als in seiner unselbständigen Einheit mit dem wahrhaften Unendlichen („ideell" heißt also als Gegensatz des Realen ebensoviel als „aufgehoben"; das Aufgehobene als das gefaßt, was es ist an dem, wodurch und woran es aufgehoben ist, ist das Gesetzte); das Endliche ist also hier gesetzt als Sein für Anderes, das Andere ist aber nur das eine Fürsichsein, daher als Sein für Eines, und dieses letztere, als Moment mit dem ebenso aufgehobenen Fürsichsein vermischt, ist das Eins, die Einfachheit, Unterschiedslosigkeit der beiden Momente des Fürsichseins und für Einsseins als das durch sich selbst bestimmte sei, als die Grenze seiner selbst. Das Eins ist das Unveränderliche, das gesetzte Insichsein (das Etwas war erst das Ansichseiende, d. h. der Möglichkeit nach seiende Beisichsein und Insichsein); sein Inhalt ist daher ohne alle Verschiedenheit = das Nichts, und das Eins mit seinem Inhalte, dem Nichts, gesetzt, ist das Leere. Hier also haben wir wieder die starrste Negation: das Eins und das Leere (das Sein und das Nichts), die Kategorie des Daseins. In Wahrheit aber ist das Eins und das Leere wieder identisch; denn das Eins ist die Unveränderlichkeit, das Leere; das Leere aber ist als der Inhalt des Eins wieder dieselbe Ununterschiedenheit, Unveränderlichkeit, daher beide Eins. Betrachten wir daher das Eins, so ist es a. die Beziehung auf sich selbst, welche bei sich bleibt und als solche b. seinen Inhalt [seine Bestimmtheit] von sich unterscheidend (der dasselbe ist, was das Eins) und daher sich von sich abstoßend, das Eins in seiner Wahrheit (in der Einheit mit dem anderen Momente, dem Leeren) ist, also das Werden des Eins zu vielen Eins, das Werden des Vielen aus dem Einen (: und dies ist das Wichtigste, aber auch Schwierigste:). Das wahre Sein, die wahre Unendlichkeit ist die beisichbleibende (denn das Eins, wenn es sich von sich abstößt, kommt nicht aus sich heraus, weil außer dem Eins kein Anderes ist) Explikation des Eins. Und hier haben wir zu der uralten Bestimmung „daß das Viele Eins sei", die andere, sie ergänzende Seite, „daß das Eine ein Vieles sei". Das wäre also die Kategorie des Seins und Daseins im Fürsichsein; jetzt bleibt noch die letzte, das Fürsichsein des Fürsichseins zu erklären. Die vielen Eins stehen zuvörderst beziehungslos gegeneinander im Leeren; ihrem Ansichsein nach (d. h. daß sie die Vielen des Eins sind) stoßen sie sich voneinander ab, abstoßen könnten sie sich aber nicht, wenn sie nicht in einer Beziehung zueinander ständen, denn sonst wäre es ein Verlieren der Vielen aus dem Eins, nicht aber ein Abstößen der vielen Eins vom Eins. Daher ist die Beziehung der Eins zueinander eine Anziehung; und Repulsion ist Attraktion geworden, gegenteils ist

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aber die Attraktion wieder eine Repulsion, denn wäre die Attraktion nur sie selbst, so würden die Vielen in Eins zusammenfallen und verschwinden und mit ihnen die Attraktion selbst, diese muß daher ebenso ihr Gegenteil sein; diese beiden (wieder wie im Anfang und immer identischen) Momente erhalten also ihre Wahrheit in ihrer Vereinigung, im Werden des Einen zu Vielen und der Vielen zu Einem. Das Eine existiert nicht außerhalb und jenseits der Vielen und die Vielen nicht außer dem Einen (: Analogien: die Geister und der Geist; die Erscheinungen des Ich und das Ich; die auseinandergelegte und die eine Natur :). Diese drei Kategorien: Sein, Dasein, Fürsichsein, bilden die Kategorien der Qualität, diese übergeht mit dem Werden des Eins und der Vielen in die Quantität, und die Einheit der beiden ist das Maß, ist die Sphäre des Seins abgeschlossen und nach der Ihnen nun bekannten Analogie übergeht das Sein durch das Maß als das Werden des Wesens in das Wesen, die zweite Stufe der objektiven Logik, noch muß ich aber wiederholen, daß dieselbe Triplizität, welche ich für Sie auf der Kategorie des Seins durchführte, der Kern der Hegelschen Phüosophie zu nennen ist; nämlich ein Unmittelbares, dem sich ebenso unmittelbar seine absolute Negation entgegenstellt, welche sich gegenseitig aufheben, ihre Wahrheit in der Vermittlung in einem Dritten haben, welches gegen sie, die Abstrakten, das Konkrete ist. Dieses legt sich wieder in seine zwei Momente auseinander, entwickelt sich. Diese vermitteln sich wieder zur Einheit, die als entwickelter, reicher, d. h. konkreter als die ersteren ist und so fort; so daß die Wahrheit oder das Konkrete ein Werden ist. - Nun wieder zurück zum Wesen. Diese als die Reflexion des Seins in sich (und dies versteht man auch sonst darunter) ist zuerst gegen das Sein eine Negation, das Innere gegen das Unmittelbare, das Äußere; das Wesen gegen den Schein (d. h. das Sein, welches gegen das Wesen ein Unwesentliches, daher nur Scheinendes ist). Dieser Schein (das Sein) ist aber ein Scheinen des Wesens und wird dadurch Erscheinung. Und die Wahrheit dieser beiden entgegengesetzten Momente, des Wesens als Reflexion seiner in sich selbst und der Erscheinung ist ihre Einheit [,] die Wirklichkeit, und diese selbst ist ein Werden des Begriffes, welcher die Einheit des Seins und Wesens, des Inneren und Äußeren, des Grundes und der Erscheinung ist. Die Wirklichkeit bildet also den Übergang von der objektiven Logik in die subjektive oder zur Lehre des Begriffs oder des unmittelbaren Gedankens, dieser legt sich auseinander in die Momente der Subjektivität und Objektivität und kömmt zu sich selbst; d. h. erreicht seine Wahrheit in der Idee, welche noch einmal sich in die Idee des Lebens und die des Erkennens expliziert, um in der Einheit beider, in der absoluten Idee, ganz wahr zu werden. Die absolute Idee als höchste Einheit der Subjektivität und Objektivität ist die Wahrheit des

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Begriffes, der Begriff oder der Gedanke als Einheit des Seins und Wesens ist die Wahrheit dieser beiden, und die Idee ist daher die absolute Wahrheit, der mit dem Sein identische, sich selbst gleiche Gedanke, welcher nur einer ist im Vielen, ja außer dem nichts ist, da außer dem Einen nichts ist. Hier ist die Logik die Wurzel spekulativer Theologie. Der Gedanke aber, der noch unmittelbare Geist, soll dieser ein konkreter, selbstbewußter, wahrer werden, so muß er mit seiner Negation, der Natur vermittelt werden. Dieses ist der aufeinandergelegte, äußerlich gewordene Gedanke [die Welt ist der Leib Gottes, sagt JAKOB BöHME, freilich etwas ungeschickt] und verhält sich zu ihm wie das Wesen zu ihm. Diese beiden Gegensätze aber enthalten ihre Wahrheit in ihrer Einheit, in ihrem Aufgehoben sein, als Momente des selbstbewußten Geistes, der von Ewigkeit in ihrer Einheit seine Wahrheit hat und durch die Stufen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes zum völligen Selbstbewußtsein [und zum Fürsichsein gelangt, daher Philosophie die Wissenschaft des an und für sich Seienden (Gedankens und Seins, welche identisch sind)] ist. Diese Zeilen, lieber Freund, die wider mein Vermuten enorm angeschwollen sind, mögen Ihnen meine Überzeugung wiedergeben. Sollten sie in manchem dunkel sein, so ist das meine Schuld, daß ich den Meister noch nicht so gefaßt habe, um seine Lehre andern wiedergeben zu können."

1. F. T. Bratranek - der bedeutendste böhmische Hegelianer des 19. Jahrhunderts Nach dem Urteil Jaromir Louzils ist zu „den unverdient vergessenen Gestalten der böhmischen Geistesgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ... unzweifelhaft der mährische Philosoph, Ästhetiker und Literaturhistoriker FRANZ THOMAS BRATRANEK ZU rechnen. "2 Die Gültigkeit seiner Einschätzung hat LOUZIL mit einigen Studien sowie der Edition eines bisher unbekannten Manuskripts (Des Lebens Urworte) instruktiv nachgewiesen. Dabei standen die literaturwissenschaftlichen und ästhetischen Arbeiten BRATRANEKS im Vordergrund, auf die angemessene Würdigung dieser bedeutenden Beiträge, insbesondere für die GoETHE-Forschung, muß hier verzichtet werden.3 2 J. Louzil: Franz Thomas Bratraneks Leben und Philosophie. In: Bohemia. Jb. des Collegium Carolinum. Bd 13. Wien 1973.182. 3 Vgl. dazu /. Louzil: Nezndmy filosoftcky rukopis Fr. Th. Bratränka „Des Lebens Urworte“. Vorwort zur Edition Des Lebens Urworte. In: Studie a prameny k dejiam ceskeho mysleni. Svacek 2. Praha

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hat aber schon dezidiert auf BRATRANEK als Hegelanhänger aufmerksam gemacht.4 Diese letztgenannte Facette des Werks von BRATRANEK wird im Zentrum der folgenden Bemerkungen stehen. Inzwischen liefert eine neu gefundene, umfangreiche Handschrift seines philosophischen Hauptwerks (ohne Titelangabe) weitere starke Argumente für die mitgeteilte Passage wie für die in der vorangestellten Zwischenüberschrift enthaltene These. Im Rahmen dieses Beitrags kann nur eine Kostprobe von diesem Text angeboten werden. Mit dem Aufzeigen einiger Hauptgedanken und Umrisse des enzyklopädischen Entwurfs soll das Interesse für die in Vorbereitung befindliche Edition geweckt werden. Jedenfalls ermöglicht das Manuskript eine klare Pointierung des Verhältnisses Hegel - BRATRANEK und verdient Beachtung in der Forschung zu Hegels Philosophie und deren Rezeption besonders in Mittel- und Osteuropa. BRATRANEK, dessen Denken sich allen Versuchen, ihn in eine der Schubladen Alt- oder Junghegelianer zu stecken, entzieht, hat mit seinem wichtigsten philosophischen Manuskript einen eigenständigen, höchst originellen Beitrag in der europaweiten Aufnahme von Hegels Philosophie geleistet; damit liegt uns wohl einer der bedeutendsten philosophischen Entwürfe der böhmischen Philosophie des 19. Jahrhunderts und - mit großer Sicherheit- die tiefgründigste Anknüpfung an den absoluten Idealismus aus dem böhmischen Kulturraum vor. Der Verzicht auf die Publikation rettete wahrscheinlich die akademische Laufbahn im Habsburger Reich, bedeutete aber einen gravierenden Verlust für die philosophische Kultur im Lande. Aber das Werk BRATRANEKS hat nicht nur diese ,regionale' Relevanz. In seinen profunden Abhandluhgen über die deutsche Literatur, speziell in den beiden großen Studien über GOETHE - Des Lebens Urworte und Erläuterungen zu Goethes Faust - verbinden sich die Ideen der modernen philosophischen Strömungen mit dem intellektuellen Gehalt der deutschen Literatur. Die Gedankenwelten GOETHES und Hegels scheinen sich zu verknüpfen; dies wird auch in seinem literarischen Stil offenkundig. Aufgrund der Virtuosität des Umgangs mit der deutschen Sprache - besonders mit der LOUZIL

1971; ders.: Nachwort zur tschechischen Ausgabe von Bratraneks Erläuterungen zu Goethes Faust. Praha 1982 (dazu auch die Rezension von M. Sobotka: Zur tschechischen Ausgabe der Erläuterungen zu Goethes Faust von Franz Thomas Bratranek. In: Philologica Pragensia. 1 (1985), 52 f); J. Krejci: Dve rukopisne interpretace. Faust - Urworte. Orphisch. In: Goethuv sbomik. Praha 1932; Ders.: Goethe und Bratranek. In: Xenia Pragensia. Prag 1929; V. O. Ludwig: Ein unbekannter Faustkommentar aus dem Jahre 1842. In: Blicke in Goethes Welt. Wien 1949; ders.: Einleitung zur Edition von Bratraneks „Erläuterungen zu Goethes Faust". Salzburg-Klosterneuburg 1957; H. Seidler: Österreichischer Vormärz und Goethezeit. Wien 1982 (dieses Buch enthält ein eigenes Kapitel zur Faust-Interpretation von Bratranek). * Vgl. /. Louzil: Franz Thomas Bratraneks Leben und Philosophie (s. o. Anm. 2).

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des „letzten Giganten" GOETHE und des „Meisters" Hegel - kann BRATRANEK als der,poetische' Hegelianer gelten; sein Schüler aus Brünner Zeit, THEODOR GOMPERZ, monierte die „allzu blumenreiche Sprache" als einen „altösterreichischen Erbfehler"5. Im genannten großen philosophischen Manuskript, das sich eindeutig an Hegels Enzyklopädie als Muster orientiert und die Dominanz der Hegelschen Denkungsart offenbart, wird doch ein eigener Weg verfolgt. Auf den Fundamenten des absoluten Idealismus baut BRATRANEK sein Denkgebäude, eine philosophische Lehre von der Bestimmung des Menschen als „Monismus der Freiheit". Und „Neue Bestimmung des Menschen" könnte ein guter Titel für sein Hauptwerk sein (siehe dazu den nächsten Abschnitt). Einige Aspekte des Lebensweges von BRATRANEK in der politisch wie kulturell komplizierten Gemengelage des Habsburger Vielvölkerreichs verdienen ebenfalls Beachtung. Die Überschrift des vorliegenden Beitrages deutet schon auf die Spannung in der Biographie hin; aus Mähren stammend wird BRATRANEK (besonders geprägt von seinen Studienzeiten in Brünn und Wien) zu einem deutsch sprechenden, mährischen Gelehrter, der die längste Zeit seines akademischen Lebens an der Universität im polnischen Krakau lehrt. In dem von MEINECKE SO apostrophierten ,nationalstaatlichen 19. Jahrhundert' ist er ein Wanderer zwischen den verschiedenen kulturellen Welten. Er verkörpert in mancher Hinsicht eine Symbiose des Tschechischen und Deutschen mit all den darin steckenden Problemen und Zerrissenheiten. Er verstand sich als Deutscher und als Slawe. Im Angesicht der nationalistischen Glaubensfrage „Slawe oder Deutscher" sehe er „keine andere Alternative außer dem Tode".^ Aufgrund seiner intellektuellen Kraft und seines subtüen Verstehens deutscher Literatur und PhUosophie erweist sich BRATRANEK als bedeutender „Vermittler der deutschen Phüosophie im böhmischen Vormärz".^ Mit seinem Eintritt ins Augustiner-Kloster in Alt-Brünn (1834) kommt der 1815 in Jedovnice (Mähren) geborene BRATRANEK in eine Stätte kreativen Denkens und Forschens, dafür stehen der hochgelehrte Abt CYRILL NAPP, der Komponist PAVEL KRIZKOVSKY, der berühmte Botaniker GREGOR MENDEL und der Philosoph FRANTISEK M. KLäCEL. Mitten im METTERNiCHschen Reich 5 T. Gomperz: Essays und Erinnerungen. Stuttgart und Leipzig 1905.13. 6 F. T. Bratranek: Erinnerungen aus der Jugendzeit (unpaginiert). Zum Problem der ,nationalen Frage' vgl. Jan Patocka: Düema v nasem narodnim programu. Jungmann a Bolzano [Das Dilemma in unserem nationalen Programm]. In: O smysl denska. Prag 1969.87 f. 7 Vgl.: /. Louzil: Franz Thomas Bratranek - ein unbekannter Vermittler der deutschen Philosophie im böhmischen Vormärz. In: Ost und West in der Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen. Berlin 1966.597 f.

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ist das katholische Königskloster ein „Herd der Aufldärung" und gar „ein Sitz freigeistigen Junghegeltums/'S. KLäCEL ist Hegelianer, er wird später von der Wiener Zensurbehörde als ,hegelisch' und ,pantheistisch' eingestuft - dieser Vorwurf grenzte unter METTERNICH an Landesverrat oder gar an Majestätsbeleidigung - und aus der Lehrtätigkeit entlassen. Ein Augustinerstift im Wiener Machtbereich als Ort des Hegelianismus - dies konnte nicht lange gut gehen. Zu einem entschiedenen Anhänger der deutschen Philosophie, speziell der Hegelschen, wurde der junge Student besonders während seines Aufenthaltes an der Universität in Wien, wo er 1839 zum Doktor der Philosophie promoviert. Der katholische Mönch wird im Wien des Vormärz zum Jünger der ,satanischen' Philosophie - ein scheinbar paradoxes Phänomen, das Hegel wohl ein teuflisches Vergnügen bereitet hätte. Durch seine umfangreichen Studien zur deutschen Literatur und Philosophie sowie seine vielfältigen Kontakte wird BRATRANEK zum deutsch-sprechenden Gelehrten, und es entsteht in Wien die für seinen weiteren Lebensweg äußerst wichtige Bekanntschaft mit GOETHES Schwiegertochter Ottilie und ihren Söhnen Walter und Wolfgang. In den Jahren 1840 und 1841 schreibt BRATRANEK das erwähnte Opus in deutscher Sprache, eine 567 Blätter umfassende, nicht überarbeitete Schrift im Stile der Hegelschen Enzyklopädie, welche er wohlweislich nicht publiziert. Die für diese Phase unübersehbare Hinwendung zum absoluten Idealismus belegt auch der vorliegende Briefabschnitt, worin der (unbekannte) Empfänger eingeladen wird, ein Stück durch die heiligen Hallen, durch den „ungeheueren Dom“ des „Meisters" mitzugehen. Mit dieser Passage liegt ein durchaus bemerkenswertes, präzises ,Abstract' von Hegels Wissenschaß der Logik vor. 1841 erscheint dann BRATRANEKS erste ästhetische Abhandlung Zur Entwicklung des Schönheüsbegrißs, worin Hegel zwar nicht erwähnt wird (wohl wegen der Zensur), aber die Anspielungen auf dessen Ästhetik unübersehbar sind. Hier imponiert die enzyklopädische Kenntnis der deutschen Literatur und Kunstphilosophie, sowohl die Autoren, ihre Werke, die Vielfalt der Strömungen als auch die Themenbreite betreffend. Behandelt werden u. a. KANTS und SCHILLERS Ästhetik, GOETHE und JEAN PAUL, TIECK und NOVALIS, FRIEDRICH SCHLEGEL und HEINRICH HEINE, Sturm und Drang, Klassik und ,moderner Romantismus', Tragödie, Ironie und Humor.^ Diese Publikation markiert zugleich BRATRANEKS Übergang zu der unverfänglicheren Sphäre der Literaturwissenschaft. Die in der Zeit von 1841 bis 1843 entstehenden Arbeiten über * T. Gomperz: Essays und Erinnerungen (s. o. Anm. 5). 4. * Vgl. Anm. 2.

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zeigen die Abwendung von der reinen Metaphysik, obschon die GoETHE-Schriften ihre Beseelung durch den philosophischen Geist nicht verleugnen können. In der Faust-Interpretation, die sich im Paradigma der Idee der Einheit von Unendlichem und Endlichem bewegt, ist so ein Grundthema der philosophischen Komposition wieder aufgenommen. Als Hauptidee des Dramas wird das Problem der Realisierung des Unendlichen im endlichen Menschenleben formuliert; auch die Kapitelüberschriften verraten, „wie sehr BRATRANEK dabei Hegel verpflichtet ist"io. In dieser Zeit lehrte BRATRANEK an der Universität Lemberg als Assistent des Hegelianers I. J. HANUS, der 1844 - nach dem Weggang BRATRANEKS - ihm mitteilt, daß er „wöchentlich 3 mal die Hegelsche Ästhetik behandle''^. Zugleich wächst in dieser Periode - dies offenbart der Briefwechsel aus den 40er Jahren - BRATRANEKS Interesse für neue Tendenzen in der deutschen Literatur und Philosophie, z. B. für den Junghegelianismus und das Junge Deutschland. Erwähnung finden D. F. STRAUSS, B. BAUER, M. STIRNER, A. RüGE, I. H. WEISSE, L. FEUERBACH und K. GUTZKOW, SCHNAASES Kunstgeschichte, ViscHERs Ästhetik; FICHTE und SCHLEIERMACHER gehören wieder zur Lektüre. Er liest auch die Werke des offiziellen österreichischen Schulphilosophen HERBART, aber das sei „eine fürchterliche Arbeit, fad bis zum Einschlafen und sogar kein Resultat".12 Während verschiedener Reisen nach Deutschland (Preußen hält er für einen fortschrittlicheren und freieren Staat als Österreich) kommt es zu Gesprächen mit VARNHAGEN VON ENSE, TRENDELENBURG, WILHELM GRIMM, mit dem „offiziellen Offenbarungsbekämpfer" BRUNO BAUER und mit dem „offiziellen Offenbarungsverteidiger aus fünftausend guten Talergründen" SCHELLING (wobei BRATRANEK ScHELLiNGs Philosophie der Offenbarung als Ironie verdächtigt). - Ueberhaupt ist Ironie (in jeder Bedeutung) der Grundzug seiner Erscheinung, und seine Worte: er wolle die Einseitigkeiten des Hegelschen Systems korrigieren, nehmen sich gesprochen ganz anders als geschrieben aus. Ich würde gar nicht erstaunen, wenn SCHELLING plötzlich sagen würde, er habe die Berliner mit seiner Offenbarungsphilosophie nur zum Besten gehalten (...) ich würde es eben so für Ironie nehmen wie seine Worte in der ersten Rede: er halte sich für von der Vorsehung auserwählt, der deutschen Philosophie eine neue Richtung zu geben. Denn was Ernst, was Schein ist, lässt sich in GOETHE

'0 M. Sobotka: Zur tschechischen Ausgabe... (s. o. Anm. 3), 53. n I. J. Hanus an Bratranek, 18.1.1844. Staatsarchiv Brünn, Fonds Altbrünner Königskloster. E 4,191, VI, 25. u Bratranek an Hanus, Ende 1845. Bratranek an Hanus, 27.10. 1844, Bratranek an Hanus 19. 3. 1846 (I. ). Hanus-Nachlaß im Literararchiv des PNP Prag). Alle weiterhin zitierten Briefe von Bratranek an Hanus stammen aus diesem Nachlaß).

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seinem Sprechen durchaus nicht unterscheiden."i3 Dem mährischen Gelehrten begegnet man in den intellektuellen Kreisen und Zirkeln mit Respekt und Erstaunen ob seines Scharfsinns, seiner ausgeprägten Urteilskraft und seiner ausgezeichneten Kenntnis der deutschen Literatur und Philosophie. Nach der Einschätzung von GOMPERZ war BRATRANEK ein „universeller Autodidakt", in einem Brief weist der Gelehrte mit gewissem Stolz und einem kritischen Seitenhieb auf manche Deutsche darauf hin, „daß jeder von uns [der Kreis seiner tschechischen Freunde] Alles sich, und nicht wie in Deutschland den Heften seiner Professoren verdanke"^^. 1844 wird BRATRANEK Nachfolger seines wegen „Hegelianismus und Slawomanie" suspendierten Kollegen und Freundes F. M. KLäCEL in Brünn. Er übt sich auf den problematischen Feldern in Zurückhaltung und resigniert auch im Blick auf das Öffentlichmachen seiner Philosophie: „es wäre sehr überflüssig sich in Österreich zu einem Märtyrer der Philosophie zu machen, hielt es doch ARISTOTELES sogar in Athen für unzulässig."!^ Dieser ,Realismus', der Verzicht auf die Publikation der philosophischen Hauptarbeit, die Verleugnung von Hegels Namen in den Publikationen - „meine phänomenologischen Untersuchungen über das Wesen der Religion hätten mir überall den Weg versperrt"!^ - und die gleichzeitige und bleibende Sympathie für den ,Meister' und die deutsche Philosophie vertieften den von GOMPERZ diagnostizierten Riß im Wesen BRATRANEKS: „das vornehmste Mittel, diesen Riss nicht zu heilen, aber zu verdecken, war die Ironie, samt ihrer Gehilfin, der Dialektik, die der weitläufige, nicht aller Gefallsucht ermangelnde Priester mit blendender Virtuosität zu handhaben liebte. Da er sich selbst und die Stellung, die er im bürgerlichen Leben einnahm, nicht ernst nehmen konnte, ohne schwer zu leiden, ist ihm die ironische Selbstund Weltbetrachtung zur zweiten Natur geworden. Innerhalb der bedeutenden böhmischen Denker dieser Epoche, die selbst Hegelianer waren bzw. der Hegelschen Philosophie nahe standen, nimmt BRATRANEK einen ausgezeichneten Rang ein. LOUZIL hebt hervor, daß diese Intellektuellen in den 40er und 50er Jahren den engeren Freundeskreis der größten tschechischen Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, BOZENA NEMCOVä, bildeten - neben BRATRANEK der in Brünn wegen Hegelianismus entlassene F. M. KLäCEL, der in Olmütz der Anhängerschaft Hegels

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Bratranek an Unbekannt, 2. 12.1843. Bratranek an Hanug, 1.10.1844. BratranekanHanus,3. 1.1845. Bratranek an Hanus, 13.1.1844. T. Gomperz: Essays und Erinnerungen (s. o. Anm. 5). 15.

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verdächtigte und seines Amtes enthobene I. J. HANU§, BRATRANEKS Freund J. HELCELET, H. HUDEC, V. B. NEBESKY. BOZENA NEMCOVA hat wahrscheinlich Des Lebens Urworte gekannt und hat die Arbeiten von BRATRANEK durchaus positiv auf genommen. 18 Dies ist ein kleines Indiz für das verborgene und untergründige Wirken der Hegelschen Ideen in der tschechischen Kultur des vorigen Jahrhunderts; neben KLäCEL als ,Anreger und Lehrer' spielt BRATRANEK eine herausragende Rolle in der Vermittlung der Hegelschen Philosophie in Böhmen. 1851 ist ein Wendepunkt im akademischen Leben des Brünner Gelehrten, er wird zum Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Universität Krakau berufen (1850 war sein Handbuch der deutschen Literaturgeschichte erschienen). Dort wird er für 30 Jahre lehren und 1866/67 zum Rektor der JagieUionischen Universität gewählt werden. Im Jahr 1851 erinnert er den Kollegen HANU§ wiederum an die „Unbeliebtheit der Hegelschen Philosophie bei Sr. Exzellenz dem Herrn Unterrichtsminister"i9, das Thema Hegel läßt ihn doch nicht los. In der Krakauer Zeit entstehen vor allem weitere literaturwissenschaftliche und ästhetische Abhandlungen20, 1853 eine Ästhetik der Pflanzenwelt - der GoETHE-Enkel Walter sprach von einer ,grünen Ästhetik' und es beginnt die Arbeit an der Herausgabe des Briefwechsels des Weimarer Dichterfürsten (etwa GOETHES Korrespondenz über Naturwissenschaften und sein Briefwechsel mit den Brüdern HUMBOLDT). Von besonderem Interesse für die Vermittlung zwischen slawischer und deutscher Kultur - dies ist ein bleibendes Anliegen und Verdienst BRATRANEKS - sind neben verschiedenen Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche die Publikation des Briefwechsels GOETHES mit dem Grafen VON STERNBERG, WO es um GOETHES Beziehung zur Kultur Böhmens geht, und das Büchlein Zwei Polen in Weimar, in dem der Besuch des polnischen Dichters ADAM MICKIEWICZ bei GOETHE in Weimar thematisiert wird. Mit der thüringischen Klassikerstadt und der Familie GOETHE blieb der Krakauer Professor stets in guter Verbindung, und er kam äußerst gerne in „sein geliebtes Thüringen".2i Er war auch einer der wenigen Auserwählten, die Zugang zum ,sakrosankten Privilegarium' des GoETHE-Archivs hatte. „Was geschehen kann - so WALTER VON GOETHE - um Weimar im poetisch-holden Zauber Ihnen vorzuführen, soll geschehen. Ich werde ... die 18 /. Louzil: Franz Thomas Bratraneks Leben und Philosophie (s. o. Anm. 2). 205-207. 19 Bratranek an Hanus, 13. 4.1851. 20 Vgl. u. a. Goethes Egmont und Schülers Wallenstein. Eine Parallele der Dichter. Stuttgart 1862; Die romantische Schule. Brünn 1866; Das Junge Deutschland. Brünn 1866. 21 Vgl. W. Schram: Notizenblatt (1887). Zitiert nach: V. O. Ludwig: Erläuterungen zu Goethes Faust. (Beilagen) (s. o. Anm. 3). 135.

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ganze Maschinerie in Bewegung setzen: Das Wasser rauscht zu Ihren Füßen, und Ilmnixe singt ihre besten Lieder; Erlkönig aber schwebt in einem Nebelrock durch die Bäume und das ,Donnerstag im Belvedere' wollen wir auch verwirklichen. "22 1884 - drei Jahre nach seiner Emeritierung und Rückkehr aus Krakau ist BRATRANEK im Altbrünner Kloster gestorben. Auf dem Grabstein des Ironikers könnte folgende von ihm verfaßte Charakteristik der „Grundtheoreme" deutscher Philosophie geschrieben sein: „Österreichische Philosophie - Wenn der Mensch nur gesund ist. Norddeutsche Philosophie: Es ist alles nichts und es hat auch keiner was. Süddeutsche Philosophie: Es ist doch etwas, aber es ist ein Mythos."23

2. Das philosophische Hauptwerk „Neue Bestimmung des Menschen "24 Die mit dem philosophischen Entwurf verfolgte Absicht besteht für den katholischen Priester, der gerade in der Höhle des METTERNiCHschen Löwen seinen Doktorhut erworben hat, in einer neuen Lösung des „Räthsels des menschlichen Lebens" (1). Die Frage nach der Bestimmung des Menschen erheische eine neue Antwort. Hier fällt die Koinzidenz mit einer Passage einer Vorlesungsnachschrift von Hegels Philosophie des Geistes auf, die den Verdacht aufkommen lassen könnte, BRATRANEK habe eine solche Nachschrift zur Verfügung gehabt. Der Geist - so heißt es dort - ist „sich durch das Bewußtsein seiner Freiheit ein Rätsel geworden". Die Auflösung dieses Rätsels umschheße die Beantwortung der Frage nach dem Wahrhaften des Geistes sowie die Antwort auf die gleichbedeutende Frage: „Was ist die Bestimmung des Menschen.?"25 Damit ist das Hauptmotiv der BRATRANEKschen Konzeption fixiert. Die alten Antworten und Lösungsvorschläge haben ihre Leuchtkraft verloren und tragen nicht mehr, die „alten Götter sind von ihren Piedestalen herabgeworfen" (1), der Mensch hat in der neuen Zerrissenheit der Welt seine gewohnten Haltepunkte verloren. „Vergeblich streuet ihr Weihrauch, vergeblich ertönen eure Psalmen, vergeblich flehet ihr die alten Götter um Hülfe". (4) Und der Augustinermönch bemüht am Beginn seines Manuskripts ausgerechnet den Spott eines LUKIAN und HEINE 22 Zitiert nach ebd. 135-136. 23 Bratranek an Hanus, 28. 2.1848. 24 Alle Zitate werden im Text durch die Ziffer des betreffenden Blattes des Manuskripts angegeben 25 Hegel: Vorlesung über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828. Nachgeschr. von J. E. Erdmann und F. Walter. Hrsg, von F. Hespe und B. Tuschling. Hamburg 1994.6.

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Über die sterbenden Götter. (1) Alle angepriesenen Therapien, weder der traditionelle Glaube, noch das „Flügelpferd der Phantasie" (2) oder das Trinken aus dem Musenquell bringen die Heilung. Eulenspiegelisch heißt es: „wir sind keine Krähwinkler und lassen uns nicht bereden, dort Gemälde zu sehen, wo nur eine weiße Wand oder der dichte Nebeldunst ist." (56) Die Publikation nur dieses Beginns seines Breviers hätte wahrlich das Ende der österreichischen Laufbahn und vielleicht noch Unangenehmeres bedeutet. Auch manche Vorschläge der Literatur und Philosophie aus Deutschland werden zu leicht befunden: „Wir halten es für ein verzweifeltes Heilmittel, uns aus dem Zweifel durch das Wissen zum Glauben zu bekehren, denn wir haben ja den Glauben an den Glauben und die Auktorität verloren." (6) Ebenso werden SCHILLERS Empfehlungen einer Linderung der Zerrissenheit durch die Kunst abgewiesen. Der Weg in des „Herzens stille Kämmerlein" (2) und die „Flucht aus den trüben Verwicklungen des Lebens in die ewig heiteren Gebiete der Kunst" implizieren eine „Flucht aus dem Leben" (6-7), und „unsere Tage" - so die weitere Anspielung auf SCHILLER - „wollen nicht mehr an das Überfliegen aller Scheidewände [mittels Kunst] glauben". (7) Das Rätsel soll nicht geleugnet oder die Frage umgangen werden, sondern neue Lösung und Beantwortung, Versöhnung statt Entsagung sind das Ziel. Auch das bei gesunden Menschenverständlern und Glückseligkeitspropheten vorhandene Belächeln des „Kerls, der spekulirt", sei unangebracht und töricht. „Das Lichtreich des Denkens und der Wissenschaft ist das, vor dem sich unsre Tage beugen ... Vor diesem Gerichtshöfe muß also auch der Streit um die Bestimmung des menschlichen Daseyns geschlichtet werden." (10) BRATRANEK hier nur in Umrissen nachzuzeichnendes Plädoyer in dieser Streitsache „Bestimmung des Menschen" stützt sich auf die Argumentation eines Kronzeugen und dessen philosophischer Expertise - Hegel. Die folgenden Hinweise auf den eingeschlagenen Gedankenweg erfolgen jeweils unter dem Aspekt der Beziehung zu Hegel und sollen die eigenwillige Interpretation (inkl. partieller Kritik am ,Meister') andeuten. ln der Einleitung wird für die Klärung des Begriffs „Bestimmung" der „Gang in die Grau in Grau gemalten Säle der einfachen, abstraktesten Kategorien" (10) angetreten - in die Hegelsche Logik. Ähnlich dem Beginn der Hegelschen Geistphilosophie in der Enzyklopädie (§ 377) - wo Hegel das Gebot des delphischen Apoll als „Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen" deutet - erfolgt dann die Deklaration der Grundabsicht des Konzepts: eine neue Deutung des „Erkenne Dich selbst" in Form einer neuen Lehre von der Bestimmung des Menschen, ln dem folgenden Aufriß der

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Gesamtarchitektur - der Dreiteilung 1. Der Mensch, 2. Geschichte, 3. Gemeinde - tritt der Grundgedanke der Studie deutlicher hervor: Es handelt sich um eine philosophische Anthropologie auf dem Fundament der Hegelschen Philosophie, eine anthropologische Interpretation des Hegelschen Denkens, um einen anthropologischen Idealismus als Monismus der Freiheit, im prinzipiellen Unterschied zu FEUERBACHS anthropologischem Materialismus. Die Entfaltung dessen, was die Bestimmung des Menschen beinhaltet, soll als triadischer Stufengang nachvollzogen werden, hegelisch gesprochen als Weg vom Begriff über die Objektivation hin zur Idee des Menschen. Der Mensch gilt „zuerst als der abstrakte Begriff seiner selbst, das Erste bey der Erkenntniß der Bestimmung ist also die Erkenntnis des abstrakten Menschenhegriüs und der abstrakten Bestimmung. Dieser Begriff entwickelt sich aber zur Objektivität, und die Heraussetzung der einzelnen Momente des Menschen ist die Geschichte; dieß ist dann das Zweite, die Verwirklichung des Menschen und seiner Bestimmung. - Das Dritte ist endlich das Wiederfinden des Begriffs in der Wirklichkeit, die Idee des Menschen als Wahrheit des Subjektiven und Objektiven, - oder die Gemeinde, - die Wahrheit der verwirklichten Bestimmung." (16) Einige Konturen des Gedankengangs innerhalb der drei Stufen (besonders in der ersten) sollen schlaglichtartig betrachtet werden, wobei Affinitäten und Differenzen zwischen BRATRANEK und Hegel sowie die inneren Probleme der BRATRANEKschen Konstruktion aufscheinen.

a) Der Mensch - Der Begriff des Menschen oder der abstrakte Mensch Der Ansatz BRATRANEKS korrespondiert - wie schon angedeutet - mit dem Beginn der Philosophie des Geistes in der Enzyklopädie (§ 381). Der Versuch der Erkenntnis des „Grundes des Menschen" führe zunächst auf die Natur, aber diese selbst sei das „Grundlose". Der eigentliche Grund ist das Absolute, Gott als die absolute Idee. (17) Für diese entscheidende Grundlegung seines Konzepts zieht BRATRANEK ausschließlich Hegels Logik und Naturphilosophie heran. Die absolute Idee wird zunächst als „Sich-selbst-sich Gegenüberstellen", als einzige Manifestation ihrer selbst im Anderen, das als Natur das Andere der Idee selbst ist, vorgeführt. (18,19) Das Resultat der Naturphilosophie ist das Begreifen des Menschen als „Befreyung der Natur von sich selbst, weil er ihre Negativität negiert" (23); der Mensch gilt als „Wahrheit der Natur, als derjenige, der Idee und Natur in die negative Einheit erhebt, als „Begriff Gottes" (23), als die „negative Einheit und zugleich Wahrheit des Alls" (41). In § 381 der Enzyklopädie ist bekanntlich vom Geist als

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Wahrheit der Natur die Rede, als absolute Negativität, als Zurückkommen aus der Natur, der Mensch ist „denkender Geist". Der Begriff des Menschen ist laut BRATRANEK, - Geist zu sein, er ist nur er selbst, indem er Geist ist, er ist wie der Geist die „Immanenz des Werdens", seines eigenen immanenten Werdens, er ist „im Anderen bey und in sich" (26). Hegelisch gesprochen meint er die Identität der Identität und der Nichtidentität als Geist. Die Einheit der Doppelbewegung - „Erkenntnis des Geistes und Thun des Geistes" (Geist als ewige Manifestation seiner selbst - das All als Selbstproduktion des Einen Geistes) ist die „Freyheit als Wahrheit des Geistes", der einfache wahre Begriff des Menschen (28). In Hegelischer Manier und in eigener poetischer Diktion werden die ersten wesentlichen Bestimmungen der Freiheit in ihrer jeweiligen Einseitigkeit aufgewiesen. Auf der einen Seite steht die absolute Identität als unterschiedslose Einheit mit sich, als das Freie - die Identität des Geistes mit sich gilt als erste wesentliche Bestimmung der Freiheit, als „unerschütterliches Fundament" (32, 33). Dies jede fremde Bestimmtheit Überwindende, welches als reines Wollen aber bloßes Vermögen bleibt, ist die „heimliche Stille der schönen Seele, welche aus sich herauszugehen und sich im Gewühle der Äußerlichkeiten zu beschmutzen scheut" (32). Der Widerpart dieser Reinheit als dem nur innerlichen Wesen ist die Nicht-Identität, die Trennung, der im Handeln notwendig gesetzte Unterschied, der sich „zur Kluft des Gegensatzes erhebt" (33). Diese Handlung, dies Praktische als bestimmtes Setzen hat zugleich den Charakter des „nichtigen Schemens", des „bloßen Thuns". In der Einseitigkeit als ihrem „falschen Doppelscheine" schlägt die Freiheit in ihr Gegenteil um - die reine Identität in die „alles Maß überfliegende Willkür" und die Differenz in das „dumpfe Sklaventhum der Ohnmacht" (34-35). Die Spur Hegels ist unverkennbar {Rechtsphilosophie §§ 5 und 6), die Extreme sind als „maßlose Willkür" und als „Determinismus" und „Unterwürfigkeit gegen das absolute Sein" bezeichnet. Diese Extreme gelten beiden Denkern als „leerer Schein", als „nichtige Vorspiegelung der Freiheit" (3637). Willkür wie reine Fremdbestimmtheit sind, wenn sie Freiheit sein wollen, eine Täuschung.26 Laut BRATRANEK sind sie „die als Freiheit scheinende Unfreiheit"; der „Doppelschein" ist „das Eine Böse". (38) Beide scheinen als einander diametral entgegengesetzt, aber sie gehen ineinander über, „das Eine ist des Anderen innerster Kern". Sklaverei ist Willkür und Willkür höchste Sklaverei, beide sind die Momente des Bösen. Dies „Eine Böse"

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Vg\. Rechtsphilosophie §15.

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als „höchste Entwicklungsspitze des Guten und der Freiheit" (36) ist das an und für sich Nichtige, sich zeigend in der Nichtigkeit beider Extreme, die sich in ihrer Doppelung selbst vernichten. Das Böse ist das Negative des an und für sich seienden Geistes, „nichts anderes als der sich auf die Spitze seiner Einzelheit stellende Geist". Im Rahmen der Explikation seiner Vorstellung vom „Einen Bösen" kritisiert BRATRANEK SCHELLINGS These, daß die Freiheit „ein Vermögen des Guten und Bösen sey". (35-36) Hier werde der Schein der Freiheit für ihre Wahrheit genommen, das Resultat dieses „Doppelscheines" ist aber gerade die „doppelte Selbstvemichtung". (3640) Das „Stehenbleiben" bei der bloßen Divergenz impliziert - der „Meister" hatte dies brillant vorgeführt - zum „Schwanken", zum „perennierenden Sollen", zum unendlichen Progreß - als Grundzug aller dualistischen Philosophien, aller Philosophien der Differenz. (34) In der Schrift Des Lebens Urworte firmiert das radikal Böse, der Teufel als „natürliche und geschichtliche Ertödtung", als Negation und Lüge des Lebens. BRATRANEK fordert dort den „energischen Gegenstoß gegen Tod und Teufel".27 „Denn an dem bis zum unlösbaren Gegensätze gesteigerten Unterschiede der Freyheit von sich selbst ist ihre innere Identität gescheitert, oder vielmehr sie hat sich in ihrer Wahrheit, als die bloß abstrakte, also unwahre Gestalt der Freyheit manifestirt, und diese ihre Manifestation taucht nun aus dem Grunde als der äußerliche Schein, als die Erscheinung der Freyheit auf. Damit ist aber dieses Vergehen der ursprünglichen Identität des Selbstscheinens im Grunde das Werden eines der Freyheit fremden Schemens und die fernere Entwiklung der Freyheit ist das Aufzeigen des Nichtigen an ihrem Scheine, wodurch sie nur ihre wahre Substanz gewinnt." (34) Der scheinbare Dualismus des Guten und Bösen enthalte in seiner Wahrheit den „Monismus der Freiheit" (39): „Nicht die Freyheit ist es, welche mit dem Bösen vergeht, sondern das Böse ist das Vergehen der Freyheit, und indem dieses vernichtet wird, so wird in dieser doppelten Verneinung die wahrhafte Bejahung, das Affirmative oder die Freyheit verwirklicht, und das Vergehen des Schemens ist die wirkliche Offenbarung der Freyheit." (39-40) Das „Erkenne Dich selbst" wird nun als Identität des theoretischen und praktischen Geistes begriffen, als Einheit von tätiger Selbsterkenntnis und sich selbst erkennender Tätigkeit. Die Bestimmung des Menschen wird jetzt als Offenbarung der Wahrheit des Menschen exponiert, dies faßt sich in der Umformulierung des delphischen Gebotes zusammen: „Erkenne

27 Vgl. Des Lebens Urworte. (s. o. Anm. 3), 198 f.

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dich selbst in deiner That". (41-48) Hier fallen die sich als absolut wissende Freiheit und die Freiheit als absolutes Wissen zusammen, das absolute Wissen, welches sich als Freiheit ausspricht - Begriff und Freiheit bilden den Gegenstand von Philosophie. Der wahre Beweis der fixierten Bestimmung des Menschen ist die Weltgeschichte als Entwicklung der Freiheit, als Entwicklung der Bestimmung des Menschen; damit wird der Übergang zum zweiten Kapitel vorbereitet. Der Weg führt vom abstrakten Begriff des Menschen zu den besonderen Momenten seiner Wirklichkeit, zu den Gestaltungsweisen der Freiheit.

b) Die Geschichte als Verwirklichung des Menschenbegriffs' Im zweiten Abschnitt „Die Geschichte" erwartet den Leser eine Überraschung. Die Originalität oder „Bizarrerie" (BRATRANEK) des Konzepts besteht in der Konzipierung einer Philosophie der Geschichte auf der Grundlage und nach der Struktur des subjektiven Geistes der Hegelschen Enzyklopädie. Diese Architektonik des subjektiven Geistes wird als das Grundmodell des Geistes expliziert, und es erfolgt in der Darstellung eine Verflechtung der historischen Formen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes. Dies erscheint als eine eigenwillige Umdeutung von § 380 Enzyklopädie^^, um den Preis des Mangels an Stringenz der Ableitung, des Verschwimmens des Unterschiedes zwischen den Seinsweisen des Geistes und einer unklaren Vermischung von Logischem und Historischem. Andererseits gewinnt eine solche Art von Geschichtsphilosophie eine prominentere Stelle im philosophischen System; sie bildet die Brücke zwischen abstrakter Anthropologie („Der Mensch") und einer Theorie humaner Gemeinschaft („Die Gemeinde"). Hegel gerät hier in die Kritik, weil er bei der „Einteilung der Geschichte" nicht die sonst ausgesprochenen tiefen Grundsätze befolgt habe (71). BRATRANEK versucht nun eine Grundlegung der Geschichtsphilosophie im eigentlichen Hegelschen Geiste; die Kritik

28 Vgl. Enzyklopädie § 380 wo es heißt, „daß an einer niedrigeren, abstrakteren Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden zeigt, wie z. B. in der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder Bestimmtheit. Oberflächlicherweise kann daher in der Empfindung, welche nur eine abstrakte Form ist, jener Inhalt, das Religiöse, Sittliche usf., wesentlich seine Stelle und sogar Wurzel haben und seine Bestimmungen als besondere Arten der Empfindung zu betrachten notwendig scheinen. Aber zugleich wird es, indem niedrigere Stufen betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerklich zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet".

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zielt also nicht auf das Fundament des absoluten Idealismus, sondern auf die „Ausführung" der Prinzipien in der Geschichtsphilosophie. Auf dem Pfad durch das historische Labyrinth werden Gestalten unterschiedlichster Sphären (die Formen des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes sind historisiert und somit ineinander verwoben) behandelt, wie das Jägerund Sammler-Dasein, die Theokratie, die orientalische Architektur, die SoKBtATische Ironie, die Idee der Anerkennung, Reformation und Aufklärung, Französische Revolution und das Denken von NOVALIS und SCHELLING etc. Den roten Faden für diese historische Weltwanderung liefert die Struktur der Hegelschen Lehre vom subjektiven Geist (1. Anschauung, 2. Vorstellung, 3. Gedanke) bis hin zu den entsprechenden Substrukturen. Die Erörterung gipfelt schließlich in der Idee der Identität von „Gottmenschheit" und Subjektivität. Mit „Gottmenschheit" wird die absolute Freiheit des Menschen bestimmt; der Mensch als Einzelner begreift sich als absolut frei und wird wahrhaft Subjekt - „Gott-Mensch" - durch das Wissen um seine Identität mit dem Absoluten, Göttlichen. (211-221)

c)

Die Gemeinde

Mit Geschichte - damit wird die Brücke zum 3. Teil gespannt - ist die Objektivation der Gottmenschheit, die Realisierung dessen, was das Subjekt an sich ist, angesprochen - das Hervorbringen der Gemeinde als wahrer Gemeinschaft von Menschen. Dieser Prozeß reicht von dort, wo „es ausgesprochen wird, daß wenn zwei sich im Namen des Gottmenschen versammeln, er mitten unter ihnen sei", bis dahin, wo „jeder als dieser Zweite anerkannt wird“ (218, Hervorh. K. V). Im Mittelpunkt dieses umfangreich ausgeführten Konzepts (dessen umfassende Einschätzung, wie die des gesamten Textes, erst nach der Edition des Manuskriptes möglich wird) steht die Idee der zur Universalität tendierenden Anerkennung des Individuums in Formen humaner Gemeinschaft, von der Familie über den Staat bis hin zur Welt-Gemeinschaft. Verknüpft damit erfolgt die Darstellung der jeweils korrespondierenden Formen der Selbsterkenntnis der ,Gemeinde' durch Religion, Kunst und Philosophie. Am Abschluß steht das absolute Wissen, das absolute Subjekt, die „wahre Gottmenschheit", der sein Frei-Sein wissende Einzelne in einem diese seine Freiheit garantierenden Gemeinwesen. BRATRANEKS philosophischer Entwurf repräsentiert eine originelle Stimme im Chor der Hegelianer des ersten Jahrzehnts nach Hegels Tod; er braucht den Vergleich mit den deutschen ,Hegelisten', mit den Hegel-Schülern verschiedenster Couleur nicht zu scheuen.

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Zugleich weist BRATRANEK dieses, bis in die letzten Jahre unbekannte Manuskript als den wohl bedeutendsten böhmischen Hegelianer des vorigen Jahrhunderts aus. Das mit philosophischem Scharfsinn und blumenreicher Sprache erbaute Ideengebäude, ruhend auf dem Fundament des absoluten Idealismus Hegels, hält sich jenseits bloßen Nachbetens des Meisters, aber auch jenseits der Hegels Geist verfehlenden Fundamentalkritiken. Grundintention und Substanz von Hegels Denken sind bewahrt - Philosophie als Monismus der Freiheit zu konzipieren. BRATRANEKS Philosophieren ist (wie das Hegels) ein Denken sub specie libertatis.

KLAUS DÜSING (KÖLN)

ONTOLOGIE BEI ARISTOTELES UND HEGEL Die Lehre von den grundlegenden Bestimmungen des Seienden als solchen, die erst im 17. Jahrhundert den Namen; „Ontologie" erhielt, wurde seit der klassischen griechischen Antike in vielfältigen Gestalten entworfen und durchgeführt. Ein Einblick in die wandlungsreiche Geschichte der Ontologie-Konzeptionen zeigt, daß sich mehrere Grundtypen von Ontologie herausgebildet haben, die teilweise einander ausschließen und teilweise miteinander kombinierbar sind. So läßt sich hinsichtlich des inhaltlichen Verständnisses des grundlegenden oder eigentlichen Seienden eine Substanzontologie von einer Ereignis- oder Prozeßontologie unterscheiden. Hinsichtlich der Weise der Erkennbarkeit des Seienden, es mag nun Substanz oder Prozeß sein, läßt sich eine Gegebenheits- von einer Konstitutionsontologie oder - traditioneller gesagt - eine realistische von einer idealistischen Ontologie unterscheiden; Seiendes in seinen Grundbestimmungen gilt dabei entweder als vorgegeben und wird, wie es sich von sich her darbietet oder zeigt, vom Seinsverständnis aufgenommen; oder es wird in seinen grundlegenden Bedeutungen vom Denken allererst konstituiert. Hinsichtlich der methodischen Entwicklung schließlich kann eine Ontologie einerseits von Urteilsfunktionen als Weisen, ,ist' zu sagen, ausgehen und ihnen gemäß ontologische Grundbestimmungen oder Kategorien aufstellen; andererseits kann sie eine eigene originäre Methode des Denkens zur Aufstellung und Verknüpfung der Grundbestimmungen des Seienden entwickeln, die Dialektik, und so dialektische Ontologie werden. - Die jeweils entgegengesetzten Positionen schließen einander aus; aber je eine Seite einer Alternative ist mit je einer Seite der anderen Alternativen durchaus verbindbar. Voneinander verschieden, aber miteinander und mit den bisher genannten Ontologietypen verbindbar sind zwei weitere Typen von Ontologie, nämlich einerseits eine universalistische Ontologie, in der die ontologischen Bestimmungen oder Kategorien von allem Seienden gelten, und andererseits eine paradigmatische Ontologie, in der ontologische Bestimmungen in eminenter Bedeutung von einem exemplarischen Seienden gelten, von anderem, defizientem Seienden aber nur indirekt oder reduziert. In der näheren Durchführung wird sich hierbei das Verhältnis

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KLAUS DüSING

von Ontologie und philosophischer Theologie als besonders bedeutsam erweisen. Nun hat Hegel - entgegen der KANTischen Kritik - die Ontologie wieder restituiert. Dies sollte ihr in Anbetracht der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Ontologie, sei es hinsichtlich der Lehren vom Seienden und vom Sein beim frühen und beim späten HEIDEGGER, sei es hinsichtlich der Ontologie-Reduktionismen in der analytischen Philosophie auch heute noch eine besondere, freilich den Zeiten- und Problemabstand berücksichtigende Aufmerksamkeit sichern. Hegel knüpft dabei nach eigener Aussage teilweise dezidiert an ARISTOTELES' Ontologie an. Diese positive Bezugnahme gerade auf ARISTOTELES verwundert, da Hegel hinsichtlich der typologischen Grundcharaktere seiner Ontologie, wie sich zeigen wird, in weiten Teilen geradezu das Gegenteil zur Anlage der AmsTOTELischen Ontologie vertritt. Doch schon Hegels Bezeichnung der reinen ontologischen Gedankenbestimmungen als Kategorien deutet diese Orientierung an, obwohl er gerade nicht den spezifisch darin enthaltenen urteilslogischen Sinn übernimmt. Insbesondere steht der enge Zusammenhang der Ontologie mit der philosophischen Theologie in Hegels Theorie durchaus ARISTOTELES' Erster Philosophie nahe, in der dieser Zusammenhang essentiell ist. - Hegel rühmt vielfach die „spekulative" Bedeutung der ARISTOTELL schen Philosophie; ihm kommt dabei das besondere Verdienst zu, ARISTOTELES von der langanhaltenden Fehldeutung insbesondere im 18. Jahrhundert befreit zu haben, dieser sei ein nicht sonderlich konsequenter Empirist; auch KANT glaubte dies, und noch der aufklärerische Philosophiehistoriker TENNEMANN stellte es so dar. Für Hegel aber „übertrifft" ARISTOTELES sogar „an spekulativer Tiefe ... den PLATON"I. Solchen spekulativen Sinn sieht Hegel vor allem in ARISTOTELES' Lehre von der göttlichen Noesis Noeseos, die er freilich in seine eigene Theorie der absoluten, rein sich denkenden, göttlichen Subjektivität transformiert, ebenso in ARISTOTELES' Seelenlehre, besonders in der Lehre von der denkenden Seele, wobei Hegel engere Verknüpfungen mit der Theorie des göttlichen, sich denkenden Nous vornimmt als ARISTOTELES, in der Lehre von der Teleologie vor allem des Lebendigen2 und in der reinen Ontologie, die systematisch die Grundlage und

> G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970 f. Bd 19. 133 (belegt in der Nachschrift Griesheim vom Wintersemester 1825/26 S. 352; vgl. ebenso in der Nachschrift Finder aus demselben Semester S. 229). 2 Zu diesen Bereichen von Hegels Aristoteles-Deutung und zur Übersicht über die Literatur darüber sei der Verweis erlaubt auf die Darstellung des Verfassers: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983. 97-132; vgl. auch

Ontologie bei Aristoteles und Hegel

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die Grundkonzeption aller dieser Bereiche enthält. Diese reine Ontologie behandelt Hegel vergleichsweise kurz; gleichwohl liegt seinen Darlegungen eine eigene spekulative Deutung zugrunde.3 Es soll im Folgenden eruiert werden, warum Hegel in dieser offensichtlich so ganz anders angelegten ARiSTOTELischen Ontologie doch eine Präfiguration seiner eigenen erkennen kann. So sei nun in einem ersten Teil zur Gewinnung einer von Hegels Deutungsperspektiven unabhängigen Auffassung ARISTOTELES' Ontologie der Ousia in ihren verschiedenen Versionen in der Kategorien-Schrih und in der Metaphysik für sich hervorgehoben; dazu gehört auch ARISTOTELES' Theorie des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit sowie dessen Teleologie. ln einem zweiten Teil soll dann Hegels Deutung dieser Ontologie, ihres Verhältnisses zur PLATONischen Ideenlehre und ihres spekulativen Charakters, wie Hegel ihn sieht, hervorgehoben werden. Dabei sollen zugleich ontologisch-theologische Gemeinsamkeiten ebenso wie die unterschiedlichen

ders.: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 3. erweiterte Aufl. Bonn 1995 (Hegel-Studien. Beiheft 15). 305-313 sowie ders.: Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der „Philosophie". In: Hegels enzyklopädisches System. Hrsg, von B. Tuschling. Erscheint demnächst. Über diese Darlegungen hinaus soll im Folgenden spezifisch Aristoteles' Ontologie der Ousia in ihren verschiedenen Fassungen und Hegels Deutung der Aristotelischen Ontologie erörtert werden. 3 So zahlreich die Untersuchungen zu Hegels spekulativer Deutung von Aristoteles' Theologie sind, so spärlich sind sie zu Hegels Deutung von Aristoteles' Ontologie. Detailliert und differenziert ist die wirkungsreiche Studie von N. Hartmann: Aristoteles und Hegel (zuerst 1923). In: Ders.: Kleinere Schriften II. Berlin 1957. 214-252. Hartmaim legt u. a. dar, daß in Aristoteles' Ousia-Lehre das Einzelne letztlich durch Eide nicht bestimmt werde und daß Hegel es panlogistisch zu bestimmen suche. H.-G. Gadamer (Hegel und die antike Dialektik (zuerst 1961). In: Ders.: Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien. 2. Aufl. Tübingen 1980. 7-30) und ausführlicher W. Kern (bes.: Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des Aristotelischen „Nous" in Hegels „Geist". In: Philosophisches Jahrbuch. 78 (1971), 237-259; vgl. auch ders.: Aristoteles in Hegels Philosophiegeschichte: eine Antinomie. In: Scholastik. 32 (1957), 321-345) berücksichtigen die Ontologie mit, aber wesentlich im Rahmen der Nous- bzw. Geist-Lehre. E. Vollrath (Die These der Metaphysik. Zur Gestalt der Metaphysik bei Aristoteles, Kant und Hegel. Wuppertal/Ratingen 1969) sucht bei Aristoteles und bei Hegel unterschiedliche Zeitbestimmungen in den Begriffen des eigentlichen Seienden auf. Zur Deutung von Aristoteles' Ontologie als spekulativer Logik bei Hegel vgl. V. Verra: Hegel e la lettura logico-speculativa della Metafisica' di Aristotele. In: Rivista di filosofia neo-scolastica. 85 (1993), 605-621, bes. 614 ff; zu Problemen der Einordnung von Aristoteles' Theorie in Hegels Philosophiegeschichte vgl. im Anschluß an W. Kern (s. o.) L. Samonä: Dialettica e metafisica. Prospettiva su Hegel e Aristotele. Palermo 1989, bes. 13-^8; vgl. dazu ebenso A. Perrarin: Hegel interprete di Aristotele. Pisa 1990, bes. 27 ff. In den weiteren Interpretationen zu Aristoteles' und Hegels Metaphysik (s. auch vorige Anm.) dominieren die Untersuchungen zur philosophischen Theologie, so auch in den Aufsätzen (bes. von P. Aubenque, B. Bourgeois, L. Lugarini und G. Planty-Bonjour) des Sammelbandes: La question de Dieu selon Aristote et Hegel. Publie sous la direction de Thomas de Konninck et Guy Planty-Bonjour. Paris 1991.

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KLAUS DüSING

Grundcharaktere der ArasTOTELischen und der Hegelschen Ontologie vor dem Hintergrund der skizzierten Ontologietypen und ihrer Verhältnisse zueinander deutlich werden.

1. Aristoteles' Versionen einer Ontologie der Ousia hat zwei unterschiedliche Versionen seiner Ontologie der Ousia aufgestellt, was erst in den letzten Jahrzehnten und intensiviert in den letzten Jahren genauer erforscht wurde; die erste, frühere ist in der Kategonen-Schrift entwickelt, die zweite, spätere in den Büchern VII und VIII der Metaphysik. Hegel bemerkt den Unterschied dieser Theoriefassungen zwar wohl insofern, als er sie im ARiSTOTELES-Teil der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an unterschiedlichen systematischen Orten, nämlich unter dem Titel „Logik" und unter dem Titel „Metaphysik" behandelt; aber er stellt keine Beziehung unter diesen Lehren her. Das Verhältnis dieser Lehren zueinander aber ist für ein Begreifen der Entwicklung von ARISTOTELES' Auffassung über die Ousia wesentlich; daher gilt es, diese Frage im Folgenden zu erörtern. ARISTOTELES' frühere Lehre in der Kategorien-Schriit ist in der Geschichte der Philosophie weitgehend kanonisch geworden als die eigentliche Darstellung seiner Position und seines Unterschiedes zur PLATONischen Ideenlehre. Hier differenziert ARISTOTELES offensichtlich gegen den von PLATON konzipierten ontologischen Charakter der Idee zwischen erster und zweiter Ousia (substantia, Wesenheit). Ousia in erster, eigentlicher und ursprünglicher Bedeutung ist in logisch-sprachlicher Hinsicht, was nicht von einem anderen ausgesagt wird und nicht in einem anderen als bloße Bestimmung ist; dies aber heißt, sie ist erstes Zugrundeliegendes oder erstes Subjekt, das sinnvollerweise in einer Aussage nicht als Prädikat fungiert. An dieser Charakterisierung wird bereits die urteilslogische Orientierung des grundlegenden ontologischen Terms deutlich. Ousia in erster und vorzüglicher Bedeutung ist in ontologischer Hinsicht das selbständig für sich existierende Einzelwesen wie dieser bestimmte Mensch, z. B. Sokrates, dieses bestimmte Pferd, z. B. Bukephalos, das Pferd Alexanders; es existiert nicht nur an einem anderen wie etwa die Eigenschaft: weiß, sondern selbständig und für sich; darin liegt für ARISTOTELES zugleich, daß jede erste Ousia numerisch Eines und ontologisch von in sich einfacher Einheit ist. Alles andere Seiende, das qualitativ, quantitativ, relativ oder nach einer der anderen Kategorien bestimmt wird, kann nur existieren, wenn es solche ersten Ousiai gibt; sie sind nur Bestimmungen an einer ersten Ousia. ARISTOTELES

Ontologie bei Aristoteles und Hegel

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Ousia in zweiter Bedeutung ist nach der Kategorien-Schrift das jeweilige Eidos, mit dem ausgesagt wird, was ein zugrunde liegendes, selbständig existierendes Einzelwesen ist; dazu gehört auch - in weiterer Entfernung vom Einzelwesen - das Genos, das als allgemeinerer Begriff zur Wesensbestimmung erforderlich ist; so wird z. B. von diesem bestimmten Einzelwesen ,Sokrates' das Eidos ,Mensch' und das Genos ,Lebewesen' ausgesagt. Dies Eidos ist nicht nur eine akzidentelle Eigenschaft an etwas Anderem, Zugrundeliegendem wie z. B. weiß, sondern Bestimmung dessen, was ein Einzelnes wesentlich ist; nach den Beispielen ist es die Art (species).^ Sie kommt als Allgemeines mehreren zu, wird logisch-sprachlich als Prädikat eines Einzelwesens verwendet, das an der Subjektstelle steht. Ontologisch hat das Eidos ebenso wie das Genos keine abgetrennte Existenz für sich, sondern ist nur als Wassein des selbständig existierenden Einzelwesens existent.5 Diese Lehre ist implizit, aber eindeutig gegen die PLATONische Theorie von der ontologischen Selbständigkeit und vom Ansichsein der Ideen gerichtet. Zwar behält auch Aristoteles ,Eidos' und ,Genos' bei; ferner bestimmt er in der Metaphysik zutreffend den Sinn einer PLATONischen Idee als Allgemeines, als Eines, das für Vieles gilt, als rein Gedachtes und Beständiges gegenüber dem HERAKUiischen Fluß des vielfältig und einheitslos wechselnden Sinnlichen. Aber selbständige Existenz und Ansichsein, wie PLATON es behauptet, kann ihr nach ARISTOTELES nicht zukommen. Denn logisch-sprachlich muß sie, wie die Kategorien-Schiiit zeigt, als Allgemeinheit zuletzt von Einzelnem gelten, von dem sie ausgesagt wird; dann aber muß dieses als Vorgegebenes und Zugrundeliegendes angesehen werden. Auch ontologisch ist infolgedessen das Allgemeine vom Einzelnen, auf das es sich bezieht, abhängig; für sich existiert nur das bestimmte Einzelwesen, wie insbesondere die Beispiele der Lebewesen zeigen; das Eidos existiert 4 Ein solches Eidos kann zu seinem Bedeutungsgehalt nicht etwas bloß Negatives oder Relatives haben; davon gibt es keine inhaltlich bestimmte Gattung; und es ist selbst nicht wohl bestimmt. Ideen kann es nur von Wesenheiten (Ousiai) geben (vgl. Aristotelis Metaphysica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger. Oxford 1957- Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt von H. Bonitz, hrsg. von H. Carvallo und E. Grassi. München 1966. 990 b 13-29, 1079 a 9-26 nach der üblichen Paginierung der Ausgabe von 1. Bekker). Wenn Aristoteles also nahelegt, es gebe keine Ideen von Negativem oder Relativem, denkt er an diese Eidos-Lehre; denn in Platons Sophistes etwa gibt es solche Ideen sehr wohl. 5 Diese Darlegungen gehen davon aus, daß die Kategorien-Schrih eine echte Schrift des Aristoteles ist; dies wurde im 19., auch im 20. Jahrhundert und z. B. noch von H. Schmitz mit z. T. geistreichen Argumenten bezweifelt (vgl. Die Ideenlehre des Aristoteles. Bonn 1985. Bd 1,2.1-26). Vgl. aber die Übersicht über die Argumente, die für die Echtheit sprechen in H.}. Krämer: Aristoteles und die akademische Eidoslehre. In; Archiv für Geschichte der Philosophie. 55 (1973), 119-190, bes. 122 ff.

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nur als deren Wassein oder Art, nicht für sich selbst. Voraussetzung für diese implizite PtATON-Kritik ist vor allem, daß Ideen mit Anspruch auf Wahrheit immer in einfachen Urteilen verwendet werden, in denen letztlich Allgemeines jeweils auf Einzelnes zu beziehen ist. Neben diesem Argument, das durchaus neue Horizonte der Orientierung der Ontologie an der Logik eröffnet, hat ARISTOTELES von seinem nur sekundär und nur bruchstückhaft überlieferten Frühwerk: Über die Ideen an eine Reihe weiterer Argumente gegen die PcATONische Ideenlehre teils ausgebildet, teils aufgenommen und weiterentwickelt, die sich nicht insgesamt auf jenes grundlegende Argument zurückführen lassen. Da Hegel darauf nicht näher eingeht, seien hier die entscheidenden nur genannt; diese Argumente stellen aber lediglich dann Einwände gegen die Ideenlehre dar, wenn die grundlegende These, es bestehe eine Kluft (ein Chorismos) zwischen Sinnenwelt und Ideenwelt, bereits vorausgesetzt wird. Diese These ist unplatonisch; sie impliziert eine mit PLATONS Theorie nicht zu vereinbarende Ontologisierung der Sinnenwelt als eigener selbständiger Welt und der Sinnendinge als selbständig existierender Entitäten, wie es ARISTOTELES' eigener Auffassung entspricht. Nur unter dieser Voraussetzung gilt, daß das Urbild-Abbild-Verhältnis, das - wie auch PLATON zugegeben hätte - nur metaphorisch zu verstehen ist, daß das Teilhabe-Verhältnis oder auch das in weitem Sinne konzipierte Ursache-Wirkung-Verhältnis von Ideen und Sinnendingen keine wirkliche Beziehung unter ihnen zustande bringt und jene Kluft nicht überbrückt. Zwei Argumente scheinen allerdings grundsätzlicher angelegt zu sein und das Verhältnis von Ideen zueinander und zu Sinnendingen überhaupt als paradox zu erweisen. Zum einen erklärt ARISTOTELES im Buch VII der Metaphysik, wenn etwa die Gattung Lebewesen vielen Arten wie Pferd, Hund, Mensch inhärent sei, dann müsse sie wohl getrennt von sich existieren und könne nicht in ihnen eines sein; und wenn sie dabei z. B. am Zweifüßigen und Vielfüßigen teilhabe, dann nehme sie an Entgegengesetztem zugleich teil.6 Solche Unzuträglichkeiten stellen sich nach ARISTOTELES erst recht ein, wenn es um die Beziehung von Ideen und wahrnehmbaren Einzeldingen geht. Schwierigkeiten bei dieser Beziehung werden gerade in dem anderen grundsätzlichen Argument hervorgekehrt, in dem berühmten Argument des „dritten Menschen", auf das ARISTOTELES oft nur verweist, das ihm zumindest in sophi-

6 Vgl. Met. Z. 14,1039 a 33 ff, 1039 b 9 ff. Vgl. hierzu M. FredejG. Patzig: Aristoteles ,Metaphysik Z'. Text, Übersetzung und Kommentar. 2 Bde. München 1988. Bd 1.110 ff, Bd 2. 264 ff. - Zu Aristoteles' Kritik an Platons Ideenlehre vgl. insbesondere H. Cherniss: Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy (zuerst: 1944). 2. Aufl. New York 1962.

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stischen Versionen schon vorliegt und dem er offensichtlich in seiner frühen Schrift: Peri ideon (Über die Ideen) eine eigene Fassung gibt. Danach wird von vielen Einzelmenschen als deren Wassein die Idee des Menschen prädiziert, der nach PLATONischer Auffassung unabhängige Existenz zukommt. Ihnen allen aber, den Einzelmenschen und der Idee Mensch, kommt - als gemeinsames Wassein zur Ermöglichung ihrer Beziehung überhaupt ,Mensch' zu; dies ist der von jenen Relata getrennte ,dritte Mensch'. Wenn man das Wassein aller dieser Bestimmungen zusammennimmt, so ergibt sich ein ,vierter Mensch' usf. ins Unendliche. Nie gelingt definitiv die Beziehung einer einheitlichen Idee als des Wasseins von etwas auf das Einzelding.7 Alle diese Argumente aber, auch die beiden grundsätzlichen ebenso wie die Chorismos-These, kommen schon im ersten Teil von PLATONS Parmenides vor, ohne daß PLATON sich genötigt sieht, seine Ideenlehre zu verabschieden. Das erste der beiden grundsätzlichen Argumente ist - ähnlich wie bei ARISTOTELES - zweiteilig. Wenn jedes Einzelding die ganze Idee in sich aufnimmt, so ist diese unter vieles verteilt und somit getrennt von sich selbst, also nicht mehr eine. Wenn sie aber nicht als ganze in jedem Einzelding ist, sondern ausgebreitet wie ein Segeltuch über viele Einzeldinge, dann ergeben sich Widersprüche; dann sind z. B. viele große Dinge groß, indem sie kleiner sind als die Idee der Größe, an der sie teilhaben.s Bei diesem Argument wird in seinen beiden Teilen die Idee behandelt wie ein bestimmtes Ding, was der Ideenlehre nicht entspricht. - Das Argument des ,dritten Menschen' bringt PLATON am Beispiel der Größe vor: Viele große Dinge sind groß, weil sie teilhaben an der Idee der Größe. Nimmt man die großen Dinge und die Idee der Größe zusammen, so kommt ihnen allen als das ihre Beziehung ermöglichende gemeinsame Wassein Großheit zu oder eine ,dritte Größe', allen diesen als ihr Wassein eine vierte Größe usf. ins Unend^ Diese Fassung des Arguments schildert in seinem Metaphysik-Kommentar Alexander von Aphrodisias als die Aristotelische in Peri ideon. Vgl. dazu etwa P. Wilpert: Das Argument des 4ritten' Menschen. In: Philologus. 94 (1940), 51-64. Wilpert nimmt zu einer damaligen Diskussion über die historischen Gestalten des Arguments des ,dritten Menschen' Stellung. Diese gelehrte Diskussion scheint völlig vergessen zu sein in der neueren Diskussion des Arguments des ,dritten Menschen' im Ausgang von Platons Parmenides, die - schließlich vom historischen Kontext sich lösend - zum Selbstläufer wurde; sie begann bei G. Vlastos: The Third Man Argument in the Parmenides (zuerst: 1954). In: Studies in Plato’s Metaphysics. Ed. by R. E. Allen. London und New York 1965,231-263, vgl. auch ders.: Plato's Third Man Argument. In: Philosophical Quarterly. 77 (1969), 289-301, vgl. die kritische Sichtung dieser neueren Diskussion bei R.-P. Hägler: Platons ,Parmenides'. Berlin und New York 1983. 8 Vgl. Platon: Parmenides. 131 a-d (nach der üblichen Paginierung der Ausgabe von Henricus Stephanus 1578). Dieser zweite Teil des Arguments fällt etwas anders als Aristoteles' Einwand aus, der sich begriffslogisch leicht entkräften ließe. Vgl. auch Philebos. 15 b 6 ff.

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liche.^ Problematisch ist hierbei der zweite Schritt; er impliziert die Aussage, die Idee der Größe selbst sei groß. Darin liegt im Kontext des Parmenides erneut, daß Idee und Ding in solcher Prädikation auf eine Stufe gestellt werden. PLATON hat also gute Gründe, an seiner Ideenlehre trotz dieser kritischen Argumente festzuhalten; seine Darlegung bringt offensichtlich die Einwände, wie sie in der damaligen Akademie^o geäußert wurden, auf den Begriff; ob er auch diejenigen aus ARISTOTELES' Frühschrift: Peri ideon kannte und aufnahm, mag offenbleiben. Warum allerdings ARISTOTELES auch später noch an diesen Einwänden festhält, ist nicht leicht zu verstehen und wohl nur mit mangelnder Berücksichtigung der Ontologie und Ideenlehre des späteren PLATON ZU erklären. Unberührt davon aber bleibt das erwähnte seiner eigenen Weiterführung in der Kategorien-Schiift zugrunde liegende Argument, daß Allgemeines sich notwendig zuletzt auf Einzelnes bezieht. Von der dargelegten, PLATON gegenüber kritischen Unterscheidung von erster und zweiter Ousia in der Frühschrift über die Kategorien weicht nun Aristoteles' spätere Lehre von Ousia und Einzelnem vor allem in Buch VII und Buch VIII der Metaphysik ab. Aristoteles hält daran fest, daß Ousia das ursprünglich Zugrundeliegende bedeutet. Dies kann freilich nicht die Materie sein; denn sie enthält für sich keinerlei Bestimmtheit und Einheit, und sie existiert nicht für sich, was ebenfalls Charakteristika der Ousia sind. Anders als in der Kategorien-SchTift aber erklärt ARISTOTELES, das Eidos als wesentliche Wasbestimmtheit eines Einzelnen sei erste Ousia;ii in der Kategonen-Schrift galt es ihm nur als zweite Ousia. Diese entscheidende Änderung aber stellt nun keine Rückkehr zu PLATONS Ideenlehre dar; ARISTOTELES bleibt auch in der Metaphysik bei seiner Auffassung, ein Allgemeines könne nicht wirklich Ousia seini2, d. h. könne nicht selbständig und für sich exi9 Vgl. Platon: Parmenides. 132 a-b; zu einzelnen Hinweisen auf Literatur s. vorvorige Anm. Auf die ausgebreitete neuere Selbstprädikationsdebatte sei hier nur verwiesen. - Ob die Begegnung des 65-jährigen Parmenides mit dem jungen Sokrates, die in Platons Schilderung jedenfalls literarische Fiktion ist, vielleicht eine inverse Präfiguration von Platons Auseinandersetzung mit dem jungen unerfahrenen Ideenkritiker Aristoteles sein soll (vgl. dessen Argumente in der Frühschrift; Peri ideon), zumal da der Altersabstand in etwa der gleiche ist, mag dahingestellt bleiben. 10 Zur Rekonstruktion anderer Eidos-Lehren in der Akademie vgl. H. J. Krämer: Aristoteles und die akademische Eidos-Lehre (s. oben Anm. 5). 11 Vgl. z. B. Metaphysik (Buch VII). 1032 b 1 f, auch 1037 a 33-b 2 u. ö. - Aristoteles nennt im Buch V der Metaphysik zwei Grundbestimmungen der Ousia, nämlich sie sei letztes Zugrundeliegendes und selbständig existierendes Einzelwesen aufgrund seines Eidos (vgl. 1017b 23 ff, auch 1017 b 10 ff). 12 Vgl. Metaphysik. 1038 b 8f, 34 f. Vgl. hierzu M. Frede/G. Patzig: Aristoteles ,Metaphysik Z' (s. o. Anm. 6). Bd 2. 244 ff, 260; H. Schmitz: Die Ideenlehre des Aristoteles (s. o. Anm. 5). Bd 1. 221 ff, 230 f.

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stieren. So stellt sich das Problem, wie das Eidos einerseits als Ousia Einzelnes als ein Etwas dieser Art (tode ti) sein kann, andererseits aber, sei es als Art (species), sei es als Gehalt einer Wesensbestimmung oder Definition, ein Allgemeines bedeuten kann. Eine philosophische, wohl auch von ARISTOTELES beabsichtigte Lösung bietet sich mit dem ontologischen und definitorischen Sinn von ARISTOTELES' Rätselterminus: „to ti en einai"i3 an, der hier - entgegen mehrfachen Versuchen einer den Wortbestand in etwa wahrenden, aber wenig verständlichen Übersetzung - mit dem sinnadäquaten Terminus: Essentia, Essenz übersetzt werden soll, wovon vielfach auch in angelsächsischer oder italienischer Literatur Gebrauch gemacht wird. Die ontologische Bedeutung von ,Essenz' bei Aristoteles, die noch nicht wie später prinzipiell von ,Existenz' unterschieden wird, besteht nicht nur darin, daß sie das Wassein, sondern darüber hinaus darin, daß sie, wie ARISTOTELES sagt, die Ousia, das eigene Sein eines Einzelwesens ausmacht.i4 Die definitorische Bedeutung der Essenz, von der es jeweils eine Wesensbestimmung gibt, besteht inhaltlich in ihrem spezifischen Eidos und dem dazugehörigen Genosis, d. h. bei aller Spezifiziertheit des Bedeutungsgehaltes doch in etwas Allgemeinem. Diese scheinbar divergierenden Bestimmungen lassen sich folgendermaßen vereinbaren: Sofern das jeweilige Eidos, wie es als Bedeutungsgehalt zu erfassen ist, die Essenz (to ti en einai) von etwas bildet, macht es damit Wassein und Sein einer Sache, eines Einzelwesens aus. So ist das Eidos: Rose diejenige

13 Zur sprachlichen Eigenart dieses Ausdrucks vgl. M. Frede/G. Patzig: Aristoteles Jvletaphysik Z‘ (s. o. Anm. 6). Bd 1.19 f, Bd 2.34 f; in Kurzform wird damit z. B. ausgedrückt, „was es für den Menschen heißt, ein Mensch zu sein"; so übersetzen Frede und Patzig ,to ti en einai' mit dem Ungetüm: ,das „Was es heißt, dies zu sein'". u Vgl. Metaphysik. 1031 a 18. Die Aristotelische Ontologie der Essenz (des ti en einai) ist damit eine andere als diejenige des Thomas von Aquin. Thomas verwendet für to ti en einai die Übersetzungen; quidditas, essentia oder natura rei (S. Thotnae Aquimtis in duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Zu Metaphysik VII. 3 s. Nr 1270). Ursprünglich wurde ,Ousia' nicht mit ,substantia', sondern mit ,essentia' übersetzt, wie Quintilian von Plautus berichtet; erst später bürgerte sich die Übersetzung: ,substantia' für Aristoteles' erste Kategorie ein, so bei Marius Victorinus und Augustinus, der diese aber auch noch mit ,essentia' bezeichnet. Vgl. dazu - mit den Belegstellen - C. Arpe: Substantia. In: Philologus. 94 (1941), 65-78; den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich J. Halfwassen, der für das Historische Wörterbuch der Philosophie den Artikel „Substanz" (Antike) ausarbeitet. 15 Vgl. Metaphysik. 1030 a 11 ff. Zur Exposition dieser Theorie von Ousia und Essenz, auch ihrer Probleme vgl. D. Ross: Aristotle (zuerst: 1923). 5. Aufl. 1949. Reprint: London 1977. 165 ff, ebenso E. Berti: Aristotele: Dalla dialettica alla filosofia prima. Padova 1977. 230-240; auch ders.: II profilo di Aristotele. Roma 1979.219-224 und /. Moreau: Sein und Wesen in der Philosophie des Aristoteles (L'etre et l'essence dans la philosophie d'Aristote, 1955). Übersetzt von K. Stichweh. In: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Hrsg, von F.-P. Hager. 2. Aufl. Darmstadt 1979.222-250. Vgl. zu detaillierten Interpretationsalternativen unten Anm. 17.

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Essenz, die das Wassein und Sein eines Einzelwesens als Rose bedeutet. Sie konstituiert die ursprüngliche Einheit und die Gestalt einer einzelnen Rose, macht deren erste Ousia aus, wodurch sie überhaupt erst als einzelne geformte für sich existiert; denn ohne das Eidos als Essenz gäbe es gar kein Einzelwesen, sondern lediglich form- und einheitslose Materie, die nach ARISTOTELES, für sich genommen, gar nichts Wirkliches, sondern bloße Möglichkeit ist. Das Eidos also, sofern und nur sofern es diese Essenz von etwas in ontologischer Bedeutung darstellt, ist die erste Ousia eines Einzelwesens.16 Das Eidos ist nicht selbst und als solches schon das Einzelwesen oder als solches individuelle Eorm.17 Eine derartige Auffassung entwickeln für bestimmte Eide erst die Neuplatoniker und eine explizite Begriffstheorie darüber erst LEIBNIZ mit seiner Lehre vom vollständigen, individuellen Begriff; sie dürfte Hegel sicherlich nahestehen. - Die oben charakterisierte Essenz eines Einzelwesens aber ist nun nach ARISTOTELES teils identisch mit dem Einzelwesen, teils auch von ihm verschieden. Wenn nämlich das Einzelwesen ein Synholon, ein geeintes Ganzes aus Stoff und Eorm ist wie die einzelne Rose oder der einzelne Mensch, so lassen sich davon auch akzidentelle Eigenschaften, die nicht wesentlich, gleichwohl aber existent sind, aussagen. Dann aber ist das Einzelwesen nicht einfach identisch mit seiner Essenz und ihrem Eidos; das Eidos ist vielmehr in diesem Einzelwesen.^^ Enthält das Einzelwesen aber nicht zufällige Bestimmungen, ist es etwa nicht stofflich, woran immer ARISTOTELES hierbei denkt, z. B. an Gott, dann sind das Einzelwesen und seine Essenz offensichtlich identisch, sind dasselbe Seiende. Entscheidend ist hinsichtlich der ontologischen Theorie, daß auch in diesem Falle für ARISTOTELES nicht das Eidos als solches eine fürsichseiende Existenz hat, sondern nur Eidos, das die Essenz eines solchen. 16 Vgl. Metaphysik. 1032 b 1 f, auch 1037 a 28 f, 1037 b 1 f. 17 Dies nehmen M. Frede und G. Patzig an, vgl. Aristoteles ,Metaphysik Z' (s. o. Anm. 6). Bd 1. 48-57; die individuelle Form unterscheiden sie vom Eidos als Art. Vgl. ähnlich T. H. Irwin: Aristotele's First Principles. Oxford 1988. Bes. 250 ff, 263 ff und - in Auseinandersetzung mit anderen Deutungen - L. Spellmann: Substance and Separation in Aristotle. Cambridge 1995.40-62. Dies ist gegen die traditionelle Auffassung gerichtet, die gleichwohl in differenzierter Weise auch gegenwärtig in der Forschung vertreten wird (vgl. z. B. F. A. Lewis: Substance and Predication in Aristotle. Cambridge 1991.265 ff, 300 ff, 308 ff). Vgl. E. Berti (s. o. Anm. 15). Eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationen gibt H. Steinfath: Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles. Frankfurt a. M. 1991. Ch. Rapp versucht, das obengenannte Problem durch die Unterscheidung eines individuierenden Art-Eidos vom Gattungs-Allgemeinen zu lösen; vgl. Ch. Rapp: „Kein Allgemeines ist Substanz" (Z 13, 14-16). In: Aristoteles: Metaphysik. Die Substanzbücher (Z, H, 0). Hrsg, von Ch. Rapp. Berlin 1996. 157-191. - Zu Identität und Unterschied von ti en einai und Einzelnem vgl. K.-H. Volkmann-Schluck: Die Metaphysik des Aristoteles. Erankfurt a. M. 1979. Bes. 61 ff. 18 Es ist das „Eidos to enon" (Metaphysik. 1037 a 29).

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etwa nichtstofflichen Einzelwesens ausmacht. Die Grundthese der Kategon'en-Schrift bleibt also trotz der Änderung der Ousia-Auffassung auch in der Metaphysik erhalten: was selbständig und für sich existiert, ist das Einzelwesen. Doch fragt ARISTOTELES in der Metaphysik nach dessen wesentlichen Konstituentien und konzipiert nun den eidetischen Bedeutungsgehalt der Essenz als das Einheit- und Gestaltgebende und damit als Sein und Wassein des Einzelwesens.^^ Von dieser ontologischen ist die definitorische Bedeutung der Essenz zu unterscheiden. Von jeder Essenz gibt es eine Wesensbestimmung, eine Definition, die das spezifische Eidos und das nächste Genos angibt. Das so in der Definition Begriffene aber bleibt offensichtlich etwas erkennbares Allgemeines. Nun wird vermittels des PLATONischen Verfahrens der Dihairesis, d. h. des Ausgehens von allgemeinen Gattungen und zunehmender eidetischer Spezifizierung eine Definition gesucht. Sie wird über das nicht mehr weiter einzuteilende, über das atomon Eidos aufgestellt. Dies ist bei PLATON die methodisch aufzusuchende und zu definierende Idee. Bei Aristoteles wird das atomon Eidos in bestimmterer ontologischer Bedeutung gefaßt. Es ist in ARISTOTELES' Ontologie des Einzelnen der letzte essentielle Unterschied eines Einzelwesens von anderen, d. h. die spezifische Art, wie immer sie aufgefunden werden kann, durch die sich Einzelseiende wesentlich voneinander unterscheiden.20 Darin sind stofflich begründete akzidentelle Eigenschaften nicht enthalten. Der letzte Unterschied ist also, wie sich zeigt, die eidetisch bestimmte Essenz eines Einzelwesens; diese ist, wie dargelegt, mit dem Einzelwesen nicht einfach identisch, wenn das Einzelwesen auch stofflich und akzidentell bestimmt ist; sie ist damit identisch, wenn das Einzelne nichtstofflich ist. Der letzte Unterschied in der Definition ist damit das Eidos und die Ousia von etwas, allerdings nur, wie man 19 Aristoteles spricht im Buch VII der Metaphysik mehrfach von der Ousia oder der Essenz des Einzelnen (vgl. 1032 b 1 f, 1038 b 10 u. ö.). Bei den materiellen, geformten Dingen oder bei den Synhola aus Materie und Eidos ist die Materie nach dieser Theorie principium individuationis oder der individuierenden, aber unwesentlichen Unterschiede; Sokrates und Kallias unterscheiden sich durch Fleisch und Knochen, während ihr atomon Eidos, das vernünftige Menschsein, dasselbe ist (vgl. Metaphysik. 1034 a 5 ff). Bei den nichtstofflichen Einzelwesen muß das Prinzip der Individuierung etwas anderes sein, nämlich, was Aristoteles nicht ausführt, offenbar die Essenz, deren Bedeutungsgehalt das Eidos ist (anders M. FredejG. Patzig: Aristoteles ,Metaphysik Z' (s. o. Anm. 6). Bd 2.147 f; vgl. oben Anm. 17). 20 Vgl. Metaphysik. 1038 a 5-30 (definiert wird das Eidos als Allgemeines, vgl. 1036 a 28 f). Im essentiellen Unterschied sieht mit perspektivenreichen Interpretationen H. Schmitz (Die Ideenlehre des Aristoteles (s. Anm. 5). Bd 1,1.199 ff, ebenso 211 ff, 221 ff, auch Bd II, 1. 486) die vollendete Differenz, das vollbestimmte Eidos als den eigentlichen Prägnanztypus und als Ousia des Seienden; auch dies tendiert offenbar zu der Auffassung, ein solches Eidos sei die individuierende und damit wesentlich individuelle oder konkrete Form.

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präzisierend hinzufügen muß, sofern er den eidetischen Bedeutungsgehalt der Essenz eines Einzelwesens darstellt. Das im letzten Unterschied gedachte Eidos bleibt also begrifflich innerhalb der Definition ein Allgemeines, wie es auch in der späteren Lehre von der infima species ausgeführt wird; ontologisch aber bedeutet dies Eidos des letzten Unterschiedes die Essenz des Einzelwesens, und diese macht das Sein und Wassein des Einzelwesens aus. - So lassen sich ARISTOTELES' unterschiedliche Bestimmungen wohl prinzipiell vereinbaren; in der Wesensbestimmung oder Definition einer Essenz sind das Eidos und das mitverwendete Genos als gedachte etwas Allgemeines; ontologisch aber macht die Essenz und ihr eidetischer Bedeutungsgehalt das Wassein und Sein und damit den Ousiacharakter des Einzelwesens aus; dadurch existiert das Einzelwesen eigentlich erst, sei es als Synholon, sei es als nichtstoffliches Wesen. Hieran wird zugleich deutlich, daß dasjenige, was Sein und Wassein eines Einzelwesens konstituiert, nämlich die Ousia und die Essenz, für ARISTOTELES immer ein Zugrundeliegendes ist, nämlich für die Existenz eines Einzelwesens; solches Zugrundeliegen bildet also nach wie vor eine Grundbestimmtheit der Ousia. Bei aller ontologischen Weiterentwicklung und Differenzierung der Lehre von der Ousia in der Metaphysik bleibt hinsichtlich des Theorietypus somit diese in der Kategorien-Schiih exponierte begriffliche Orientierung der Ousia-Konzeption am Zugrundeliegenden und damit letztlich am Modell der einfachen wahren Aussage erhalten. Über die PLATONische Ontologie führt in ARISTOTELES' Lehre ebenso der schon angedeutete grundlegende Unterschied von Möglichkeit (Dynamis) und Wirklichkeit (Energeia, Entelecheia) hinaus. Er setzt ARISTOTELES' Theorie von Ousia und Eidos voraus. Möglichkeit und Wirklichkeit sind generelle Modalbestimmungen, die in unterschiedlicher, teilweise alternativer Weise für alle Seinsbereiche gelten. ARISTOTELES konzipiert sie allerdings nicht als Kategorien, obwohl sie - bei solcher Anwendung - von vergleichbarer Allgemeinheit sind; denn sie sagen nichts über den allgemeinen Sachgehalt eines Seienden aus, sondern über dessen Seinsweise. Gleichwohl orientiert sich Aristoteles bei der Explikation dieser Modalbestimmungen ebenso wie bei der Ousia und den anderen Kategorien prinzipiell an der Aussage; wie das Seiende nach allen Kategorien ausgesagt werden kann, so kann es grundlegend ebenso als möglich oder wirklich ausgesagt werden.2i Auch hieran wird die urteilslogische Orientierung der ARISTOTELischen Ontologie deutlich. 21 Vgl. Metaphysik. 1045 b 32 ff, 1051 a 34 ff. Verwiesen sei hier auf Heideggers rein ontologische Deutung der Aristotelischen Lehre über Möglichkeit und Wirklichkeit. Heidegger erkennt

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Evident tritt der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit nun am bewegten, sich verändernden Seienden hervor. So mag bei Artefakten z. B. der geeignete Stoff der Möglichkeit nach ein Haus sein; wenn dann die Kunst des Architekten hinzutritt, so wird gemäß dem Eidos: Haus ein wirkliches Haus daraus geformt und erbaut. Bei Organismen mag z. B. der in die Erde gesenkte Samen der Möglichkeit nach eine Rose sein, die in sich selbst das Prinzip der Entstehung hat, aufwächst, Knospen und schließlich Blüten entwickelt und zu einer Rose der Wirklichkeit nach wird. Die Bewegung oder der Prozeß, der hier in beiden Bällen stattfindet, ist jeweils die Überführung von etwas aus dem Zustand der Möglichkeit in den Zustand der dem Einzelseienden eigenen Wirklichkeit. Hierbei hat nach ARISTOTELES die Wirklichkeit vornehmlich dem Begriff und der Ousia nach den Vorrang.22 Dem Begriff nach hat die Wirklichkeit Vorrang, weil ein Seiendes als vermögend zu etwas nur bestimmt werden kann, wenn dies begrifflich vorangeht; so ist jemand nur baukundig und des Bauens fähig, wenn er diese Tätigkeit wirklich vollziehen kann und irgendwann einmal vollzieht, sehfähig nur, wenn er wirklich sehen kann und irgendwann wirklich sieht usf.; immer wird die spezifische Möglichkeit im Hinblick auf die wirkliche Tätigkeit begrifflich bestimmt. Dies bedeutet für Aristoteles, daß die wirkliche Tätigkeit letztlich auch zeitlich vorangeht; dies geschieht z. B., wenn das wirkliche Eidos in der organischen Zeugung vorangeht; eine spezifische wirkliche Tätigkeit kann zwar auch erst entstehen aus bestimmtem Stoff und damit aus bestimmter Möglichkeit. Dieser aber muß nach ARISTOTELES letztlich etwas bestimmtes Wirkliches als das in Bewegung Setzende vorangehen. Ebenso liegt der Ousia nach, was ontologisch entscheidend ist, die Wirklichkeit der Möglichkeit voraus. Denn das Eidos ist im Bewegungs- oder Entwicklungsprozeß das Prägende und Gestaltgebende für das sich entwickelnde Einzelseiende. Es ist, wie gezeigt, als Essenz die Ousia des Einzelwesens, bringt dieses aus der bestimmten Möglichkeit erst in sehr wohl, daß Möglichkeit und Wirklichkeit vom Seienden ebenso allgemein ausgesagt werden wie die Kategorien. Aber gerade die grundlegende und charakteristische Orientierung von Aristoteles' Ontologie an der Aussage und damit an der Urteilslogik drängt Heidegger zurück - parallel zur Zurückweisung von Kants Orientierung der Kategorienlehre an der Logik, da die Logik für ihn der bloß abkünftigen Ontologie der Vorhandenheit verhaftet bleibt und sogar in bezug auf diese noch abstraktiv ist. Vgl. vor allem M. Heidegger: Aristoteles, Metaphysik 0 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Vorlesung Sommersemester 1931). Hrsg, von H. Hüni. In: M. Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. II, Bd 33. Frankfurt a. M. 1981, z. B. 5 ff, 33 ff, 121 ff, 144 ff u. ö. Vgl. zu Heideggers Aristoteles-Interpretation die umfassende Abhandlung von E. Berti: La ,metaßsica‘ di Aristotele: „Onto-teologia" o „ßlosofia prima"? In: Rivista di filosofia neo-scolastica. 85 (1993), 256-282. 22 Vgl. Metaphysik. 1049 b 12 ff, 1050 a 4 ff.

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seine ihm eigene Wirklichkeit hervor. Das Eidos ist somit das Verwirklichende und das Wirkliche in solchem Prozeß; darin aber ist es das Telos, das Ziel der Bewegung und Entwicklung.23 Doch gelten Möglichkeit und Wirklichkeit nicht nur kombiniert für das in Bewegung befindliche Seiende oder für das seine Zustände ändernde Einzelwesen. Sie gelten unkombiniert jeweils auch für die Extreme. Der bloße, noch ungestaltete, unbestimmte, einheitslose Stoff befindet sich nach ARISTOTELES in der Modalbestimmung der bloßen Möglichkeit; er ist rein als solcher nicht existent, insofern ein Nichtseiendes, aus dem aber alles werden kann.24 Das andere Extrem ist das für sich unbewegte, unstoffliche, rein eidetisch und intellektuell Seiende; für Aristoteles ist dies, woran immer er sonst noch gedacht haben mag, vor allem der erste und beherrschende unbewegte Beweger, nämlich Gott, dem nur reiner Vollzug der vollkommensten Tätigkeit, des Denkens seiner selbst zukommt und der sich darin im Zustand reiner, mit keiner Möglichkeit mehr vermischter Wirklichkeit und wirklicher Tätigkeit (Energeia) befindet.25 Dies ist die vollkommene Ousia in reiner exemplarischer Wirklichkeit und Tätigkeit. Hier geht die Ontologie bruchlos in die philosophische Theologie über, die beide zusammen für ARISTOTELES die ,Erste Philosophie' ausmachen. Die nähere Bestimmung der Wirklichkeit sowohl des in Bewegung befindlichen Seienden als auch des unbewegten, vollendeten, göttlichen Seienden erfolgt bei ARISTOTELES nun teleologisch. Die Teleologie hat daher für ihn ontologische Bedeutung; sie charakterisiert das Seiende selbst in seiner Seinsweise. So entwickelt sich, um das genannte Beispiel noch einmal zu 23 T. H. Irwin hebt hervor, daß diese Lehre des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit gegen die Megariker gerichtet ist, die annahmen, vermögend und möglich sei nur etwas, das ebendies auch wirklich sei, d. h. nichts sei möglich, was nicht wirklich sei; dies besagt Aristoteles' Lehre vom Vorrang der Wirklichkeit gerade nicht; niemand könnte dann z. B. Baumeister, d. h. des Bauens fähig sein, der gerade einmal etwas anderes tut (vgl. Metaphysik, 1046 b 29 ff). Vgl. T. H. Irwin: Aristotle's First Principles (s. o. Anm. 17). 227 ff. 24 Vgl. Metaphysik. 1037 a 27,1049 b 1 f, 1050 a 15,1078 a 30 u. ö. 25 Vgl. Metaphysik. 1050 a 35-b 4, 1072 a 25, 31 f, 1072 b 3-30. - Vielleicht denkt Aristoteles darüber hinaus auch an die dem ersten kosmologischen unbewegten Beweger und Gott untergeordneten 55 unbewegten Sphärenbeweger, die ebenfalls rein eidetisch bestimmt sind. Ferner kennt Aristoteles im ontologisch-kosmologischen Stufenbau noch eine weitere, eine mittlere Art von Oisia, so daß er drei Arten von Ousia unterscheidet, 1. die sinnlich-sichtbaren, bewegten, vergänglichen Ousiai wie Pflanzen, Tiere, Artefakte, 2. die sinnlich-sichtbaren, bewegten, aber unvergänglichen Ousiai wie nach Aristoteles die Gestirne, 3. die nichtsinnlichen, unsichtbaren, unbewegten, ewigen Ousiai, vor allem den höchsten Gott. Vgl. dazu und zu Hegels verändernder Aufnahme dieser Lehre unten in T. 2. Vgl. zu den grundlegenden Problemen des Verhältnisses von Ontologie und Theologie bei Aristoteles z. B. P. Aubenque: Le probleme de l'etre chez Aristote. Essai sur la problematique aristotelicienne. Paris 1962. Nachdruck: Paris 1991. 305^11.

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verwenden, der in die Erde versenkte Samen aus eigenem inneren Prinzip zu einer Rose, indem er aufwächst, Knospen und schließlich Rosenblüten ausbildet. Das Einzelseiende erstrebt in dieser Entwicklung die Verwirklichung seines Eidos als sein Telos, sein Ziel und seine immanente Vollendung, in der es wirklich und entfaltet ganz ist, was es sein kann.26 Dann hat es als Einzelnes sein Eidos als seine Essenz verwirklicht. Das Einzelseiende ist in dieser seiner Bewegung und Entwicklung hin zur Verwirklichung seines Eidos also selbst immanent teleologisch bestimmt. In eminenter Weise hat das unbewegte, göttliche Seiende, dem allein vollendete Tätigkeit und Wirkhchkeit im Vollzug des reinen Denkens seiner selbst zukommt, seinen Zweck, seine Vollendung in sich selbst. Zugleich ist dies göttliche, vollendete Seiende, obwohl selbst unbewegt, für das vielfältig bewegte Seiende bewegend, da es von diesem als Vollendungsziel erstrebt wird. So erstreckt sich diese Teleologie auf den ganzen Kosmos; alles strebt in seiner Bewegung und Entwicklung hin in die Wesensnähe des Vollendeten. Dieses aber ist Gott, der die vorzüglichste Tätigkeit in reiner Wirklichkeit ausübt, das reine Denken, in dem er in den vorzüglichsten Ideen sich selbst denkt.27 Damit hat sich wohl gezeigt, daß ARISTOTELES' Ontologie der Ousia erstens dem Grundtypus einer Substanzontologie gemäß ist; das eigentliche Seiende ist das Zugrundeliegende, das ARISTOTELES zunächst unmittelbar als das bestimmte Einzelseiende ansieht, das für sich existiert; das eigentliche Seiende ist für ihn sodann die Ousia eines Einzelwesens, d. h. das Sein und Wassein eines Einzelwesens oder dessen Essenz und Eidos, wodurch es überhaupt erst als dieses bestimmte Einzelne existiert. Innerhalb dieses Ansatzes kann ARISTOTELES sehr wohl Bewegung und Prozeß mit der Kombination der ontologischen Grundbestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit der bewegten Ousia sowie mit der immanenten Teleologie dieser Ousia begreifen. ARISTOTELES' Ontologie ist ferner grundlegend Gegebenheits- und nicht Konstitutionsontologie oder realistische und nicht idealistische Ontologie; die Ousia und die sie charakterisierenden Bestimmungen werden als seiende aufgenommen und gedacht; sie sind dem Denken, selbst dem göttlichen Denken als wesentliche und unveränderliche 26 Vgl. Metaphysik. 1050 a 7 ff u. ö. 22 Vgl. Metaphysik. 1072 a 25 ff, 1072 b 3-30. Zur Aristotelischen Theologie sei hier nur generell verwiesen auf die Sammelbände: Metaphysik und Theologie des Aristoteles (s. o. Anm. 15) und ha question de Dien selon Aristote et Hegel (s. o. Anm. 3). Zu manchen Details, zu weiterer Literatur und zu Hegels Interpretation dieser Aristotelischen philosophischen Theologie sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegung des Verfassers: Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der „Philosophie" (s. Anm. 2, auch Anm. 55).

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vorgegeben; gerade die Eide und damit Essenzen der Einzelwesen sind ewig; und dies gilt wesentlich auch für die in der Materie anwesenden und sie formenden Eide. ARISTOTELES' Ontologie der Ousia orientiert sich schließlich - anders als diejenige PLATONS oder Hegels - an der Struktur der einfachen Aussage, des ,ist'-Sagens; das eigentliche Seiende ist das Zugrundeliegende, das in einer Aussage sinnvollerweise nicht als Prädikat auftreten kann und von dem alles andere ausgesagt wird. Diesen ersten, noch rudimentären urteilslogischen Ansatz der Ontologie führt später KANT konsequent aus, indem er Kategorien als diejenigen Funktionen der Einheit entwirft, die in Urteilsformen enthalten sind und darüber hinaus als Anschauungsbestimmungen Geltung beanspruchen; KANT konzipiert damit eine Systematik der Ontologie, wie es sie vorher noch nicht gab; damit ist für KANT allerdings nicht garantiert, daß solche Ontologie mehr als ein reines Gedankengebäude ist und ihr auch Erkenntnisbedeutung zukommt. - In der fundamentalen Anlage der Ontologie vertritt Hegel, wie sich zeigen wird, hinsichtlich aller drei Ontologietypen das Gegenteil zur ARiSTOTELischen Ontologie. Nur in der Verbindung einer universalistischen Ontologie, die Grundbestimmungen, z. B. Kategorien für alles Seiende als solches aufstellt, mit einer paradigmatischen Ontologie, die Seiendes vom vollendeten, höchsten Seienden her begreift, ist die Hegelsche der ARISTOTELischen Ontologie verwandt. Angesichts der gravierenden Differenzen in der Ontologiekonzeption wird daher die Frage besonders brennend, wie es möglich ist, daß Hegel gerade in ARISTOTELES' Ontologie die Präfiguration seiner eigenen erblickt.

2. Hegels spekulative Deutung und Transformation der Aristotelischen Ontologie Hegel befaßte sich schon in seiner frühen Jenaer Zeit mit ARISTOTELES' praktischer Philosophie; erst gegen Ende der Jenaer Zeit - wohl im Zusammenhang mit seiner ersten Vorlesung über Geschichte der Philosophie im Wintersemester 1805/06 - rezipierte er ARISTOTELES' Metaphysik^^; in der Phänomenologie von 1807, insbesondere in der „Vorrede" finden sich dann einige emphatische Anknüpfungen an die theoretische Philosophie des ARISTOTELES, vor allem an die Metaphysik. Diese AniSTOTELES-Bezüge und mehr noch

28 Hegel benutzte nach eigenem Zeugnis die Aristoteles-Ausgabe von Erasmus, Basel 1531, die er besaß, in späterer Zeit wohl auch die leichter lesbare, mit einer lateinischen Übersetzung versehene von Casaubonus (Lugduni 1590), die sich ebenfalls in seiner Bibliothek befand. Vgl. dazu Verfasser: Noesis Noeseos und absoluter Geist (s. o. Anm. 2). Anm. 9 (erscheint demnächst).

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die systematisch-spekulative Darstellungsart der Phänomenologie dürften deren Rezensenten: C. F. BACHMANN, der Hegel 1804/05 und 1805/06 selbst gehört hatte, dazu veranlaßt haben, Hegel als den „deutschen Aristoteles" zu bezeichnen, während er SCHELLING wegen seines schriftstellerischen Stils als „modernen PLATO" ansah.29 Eine ausgeführte, detaillierte Auseinandersetzung Hegels mit der ARiSTOTELischen Metaphysik kennen wir aber erst aus seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hegel deutet in der Vorrede der Phänomenologie und differenzierter in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ARISTOTELES' Erste Philosophie oder Metaphysik als Ontotheologie. Dabei sieht er in ARISTOTELES' reinen ontologischen Bestimmungen der Ousia und der Seinsweisen des Seienden das allgemeine Fundament, auf dem die philosophische Theologie des sich denkenden Gottes errichtet werden karm. Diese bildet das Ziel der Metaphysik und steht für Hegel daher im Zentrum seiner ARISTOTELESDeutung; gleichwohl betrachtet er die Lehre vom Seienden als solchen und von dessen Grundbestimmungen bei ARISTOTELES als eigenständige Theorie und Grundlegung, nicht nur als Propädeutik zur philosophischen Theologie. Diese Ontologie wird von ihm spekulativ gedeutet und - trotz ihrer ganz andersartigen Anlage und Orientierung - in ihren prinzipiellen Bestimmungen und Einsichten als eine Art Vorgestalt seiner eigenen Ontologie verstanden. Speziell die Ousia- und Eidos-Lehre des ARISTOTELES steht in der „Vorrede" der Phänomenologie im Hintergrund von Hegels Darlegungen zum philosophischen Wesenssatz als Basis für den sog. „spekulativen Satz". Während das gewöhnliche Denken nach Hegel an der Schnur der Prädikate fortläuft und die räsonnierende Reflexion sich über deren Inhalt zu erheben sucht, wird das Denken bei einem philosophischen Wesenssatz, wenn es im Prädikat das Wesen oder die Substanz (Ousia) des an der Subjektstelle Bezeichneten vorfindet, gehemmt und zurückverwiesen an jenen Subjektinhalt; nun erst erfaßt es dessen Substanz und Begriff, dessen Ousia und Eidos. Der Unterschied zwischen Kategorien-Schrift und Metaphysik ist hierbei nicht berücksichtigt. Eine entscheidende subjektivitätstheoretische Weiterführung nimmt Hegel schon in der Phänomenologie vor; das an der grammatisch-logischen Subjektstelle Benannte, das in seinem Eidos und Wesen begriffen werden soll, ist das sich in seinen Prädikaten bestimmende und sie „haltende" Subjekt, das sich begreifende Selbst. Dessen dia29 Vgl. den (gekürzten) Wiederabdruck dieser Rezension, die 1810 in den Heidelberger Jahrbüchern erschienen ist, in: G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hrsg, von J. Hoffmeister. 6. Aufl. Hamburg 1952. XL f.

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lektisches, sich in sich unterscheidendes und sich mit sich identifizierendes Sich-selbst-Begreifen aber ist, wie Hegel hervorhebt, nicht in einem Satz aussagbar; ein sog. „spekulativer Satz" ist daher nicht als Satz möglich, sondern, wie Hegel andeutet und erst später ausführt, nur als spekulativer Schluß oder als Zusammenhang solcher Schlüsse.30 In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie aber, in denen Hegel sich auf ARISTOTELES nicht nur bezieht, sondern dessen Lehre auch durchaus interpretiert, bemerkt er offensichtlich einen Unterschied zwischen der Ousia-Konzeption der Kategorien-Schrift und der Ousia-Konzeption von Buch VII und Buch VIII der Metaphysik; er sieht hierin jedoch nicht entwicklungsgeschichtliche Unterschiede und Fortschritte innerhalb derselben Theorie, sondern verteilt diese Ousia-Konzeptionen auf verschiedene Systemteile, auf die Logik einerseits und die Metaphysik andererseits, ohne das Verhältnis dieser Konzeptionen zueinander näher zu erörtern. Die Ousia-Lehre der Kategorien-Schritt stellt er unter dem Titel: Logik dar; die Kategorien könnten zwar auch zur Ontologie und Metaphysik gehören, wie Hegel erwähntsi; aber diesem seinem Verweis auf einen anderen Kontext geht er nicht genauer nach. ARISTOTELES' Bestimmungen von erster und zweiter Ousia in der Kategorien-Schriit faßt Hegel im wesentlichen begriffslogisch auf, nämlich als Bestimmungen des Einzelnen, Besonderen (Eidos) und Allgemeinen (Genos). Diese und weitere Bestimmungen der Kategorien-Schritt und anderer Organon-Schriften ordnet Hegel der Logik des endlichen Verstandes zu. Sie charakterisiert er wie zu Beginn der Jenaer Zeit seine eigene, noch nicht spekulative Logik der endlichen Reflexion als Explikation der Formen der Endlichkeit, insbesondere von Begriff, Urteil und Schluß, sofern diese nur eine „Nachahmung", ja „Nachäffung" von reinen Bestimmungen des Absoluten darstellen.32 in diesem Kontext der Logik des endlichen Verstandes, dessen „Naturgeschichte" zum ersten Mal aufgestellt zu haben Hegel als ein „unsterbliches Verdienst des ARISTO30 Vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg/Düsseldorf 1980. 41 ff; zur Interpretation sei der Verweis erlaubt auf die Darlegung des Verfassers; Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik (s. Anm. 2). 198 ff, 266 ff. - Zur Aufnahme von Aristoteles' Teleologie in der Vorrede s. u. 31 Vgl. G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970 f. Bd 19.230. - Da hier der durch K. L. Michelet kompilierte Text von Vorlesungsnachschriften abgedruckt wird, bleibt es unsicher, ob dies jeweils Hegels Wortlaut ist. Michelet verwandte jedoch Nachschriften, die heute verloren sind, so daß seinem Text auch Quellenwert zukommt. - Zur je verschiedenen Bedeutung von Kategorie bei Aristoteles und Hegel vgl. A. Doz: La logique de Hegel et les problemes traditioneis de l'ontologie. Paris 1987. 26 ff, auch 162 ff. Er weist in Hegels Logik vielfach Platonische und Aristotelische Hintergründe auf. 32 Ebd. 231, vgl. auch 233,240 f.

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rühmt, kann die Ousia als Grundterm der Ontologie und als spekulative Bestimmung natürlich nicht zur Geltung kommen. Dies ist erst innerhalb der Metaphysik möglich, wie Hegel sie bei ARISTOTELES bestimmt. Sie ist in ihrem grundlegenden Teil Ontologie und innerhalb dieser wesentlich Theorie der Ousia; diesen Terminus übersetzt Hegel in traditioneller Weise mit Substanz34. Das ti en einai, dessen entscheidende ontologische Bedeutung Hegel offenbar nicht erkennt, überträgt er mit: „wodurch etwas Dieses ist"35. Diese Ontologie der Ousia ist, wie Hegel durchaus sieht, eine hochentwickelte, komplexe, späte Theorie innerhalb der klassischen griechischen Philosophie; diese Theorie des ARISTOTELES gewinnt daher ihre eigene Bedeutung und ihr Profil spezifisch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit vorangehenden Lehren, insbesondere mit der PLATONischen Ideenlehre und ihrer Ontologie. ARISTOTELES' Kritik an der PLATONischen Ideenlehre bezeichnet Hegel als „weitläufig"; er erklärt auch gelegentlich, ARISTOTELES „polemisiere" gegen diese Ideenlehre.36 Hegel deutet zwar die Argumente an, die ,Teilhabe' von einzelnen Dingen an Ideen oder das ,Urbild-Abbild-Verhältnis' von Idee und Ding seien bloße Metaphern, oder die Annahme selbständiger Ideen als Allgemeinheiten gegenüber Dingen führe zu Widersprüchen; aber erörtert und geprüft werden diese Einwände von Hegel nicht. Insgesamt erbhckt Hegel in dieser Kritik an der Ideenlehre PLATONS, mit der ARISTOTELES sich den Weg zu seiner eigenen Ontologie bahnt, nicht bloß Entgegensetzung und Konfrontation, da ja auch ARISTOTELES eine Eidos- und OusiaLehre vertritt, sondern vielmehr systematische Fortentwicklung der Ontologie. Dies entspricht dem generellen Prinzip seiner philosophiegeschichtlichen Betrachtung, nach dem der geschichtliche zugleich als ein systematischer Fortschritt zu begreifen ist; solche Betrachtung gelingt allerdings nur, wenn die metaphysischen Grundbestimmungen jener geschichtlich aufgetretenen philosophischen Theorien spekulativ gedeutet und mit Kategorien von Hegels eigener spekulativer Logik, die idealistische Metaphysik ist, identifiziert werden.37 Ob solche Deutung der originären Auffassung TELES'"33

33 Ebd. 229,237. 34 Vgl. ebd. 152. 35 Ebd. Hegel gibt hier mit Auslassungen Metaphysik. 983 a 27 ff wieder. Weiter unten bezeichnet Hegel im „Praktischen" to ti en einai mit „Bestimmtheit des Zwecks" (ebd. 166), was weniger spezifisch ist. 36 Ebd. 155, vgl. diese Stelle auch im Folgenden; vgl. auch 159. 37 Zur Erläuterung dieser These mag der Hinweis auf die Darlegung des Verfassers erlaubt sein: Hegel und die Geschichte der Philosophie (s. Anm. 2). 22-31; vgl. auch ders.: Dialektik und Geschichtsmetaphysik in Hegels Konzeption philosophiegeschichtlicher Entwicklung, ln: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg, von H.-Chr. Lucas und G. Planty-Bonjour. Stuttgart-Bad Cann-

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der interpretierten Philosophen gerecht wird, ist freilich eine - von Hegel nicht erörterte - andere Frage. Die Grundlage der ARisxoTELischen Ideenkritik, die über PLATON hinausführe, deutet Hegel zunächst - wie vielfache ARiSTOTELES-lnterpretationen in der Tradition - mit dem ontologischen „Prinzip der Individuation"38 an; darin liege der Fortschritt gegenüber PLATONS Konzeption, nach der die Ideen als Allgemeinheiten das eigentliche Seiende darstellen. Solche Individuation wird von Hegel jedoch spekulativ aufgefaßt; sie charakterisiert für ihn nicht ein gegebenes Dieses wie diesen Menschen oder dieses Pferd; sie erhält bei Hegel vielmehr den Sinngehalt der spekulativ-logischen Begriffsbestimmung der Einzelheit mit den dazugehörigen Konnotationen. Das, was eigentlich und wesentlich ist, ist somit nicht das Allgemeine einer Idee, sondern das spekulativ-logisch verstandene Einzelne, das für Hegel die eigentliche Bestimmung des Begriffs ist.39 In seiner PLATON-Deutung hatte Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ebenfalls - PLATON durchaus entsprechend - hervorgehoben, die Idee als ein Allgemeines, als Gattung oder Art und als ein rein Gedachtes sei das Wahre, d. h. das eigentliche Seiende; im PLATON-Kapitel fügt er freilich hinzu, die Idee sei ein solches Allgemeines, das von sich aus in entgegensetzende Beziehung zu anderen Ideen trete, in solchem Verhältnis dialektisch bestimmt werde und schließlich - als höhere Einheit - Gegensätze und Widersprüche aufgelöst in sich enthalte; das so nach Hegels eigener Konzeption weitergeführte Allgemeine als Idee aber betrachtet er als das „in sich Konkrete"40. Von dieser fortentwickelten Bedeutung der Idee ist im ARiSTOTELES-Kapitel keine Rede mehr. Hier schreibt Hegel PLATON nur die Idee als Allgemeines zu, das gerade noch nicht in sich konkret ist; er scheint damit seine eigene Weiterführung, die im PLATON-Kapitel noch der recht verstandenen Theorie Platons zuzukommen schien, nun von PLATONS Lehre zu unterscheiden. Hegels Charakterisierung der PLATONischen Idee fällt in Abhebung von ARISTOTELES' Ousia-Lehre also kritischer aus als deren Darlegung im PLAstatt 1989.127-145. Zum Problem der Stellung von Aristoteles' Metaphysik in Hegels Philosophiegeschichte vgl. die Darlegungen von W. Kern, L. Samonä, A. Ferrarin (s. o. Anm. 3). 38 Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.155. 39 N. Hartmann, der die frühere Aristoteles-Interpretation vertritt, die keine konzeptionellen Unterschiede zwischen der Ousia-Lehre der Kategorien-Schriit und derjenigen der Metaphysik sieht, deutet Hegels Auffassung als eine systematische Ausfüllung der Lücke zwischen infima species und Einzelwesen; dabei denke Hegel das Einzelne aber als Begriff. Vgl. N. Hartmann: Aristoteles und Hegel (s. Anm. 3). Bes. 229-244. 40 Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.65 (vgl. die Nachschrift der Vorlesung Hegels vom Wintersemester 1825/26 durch Griesheim S. 321).

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TON-Kapitel. Eine solche Idee gilt ihm nun lediglich als „abstrakt Allgemeines"4i, dem die immanente Negativität noch fehlt, das insofern nur affirmativ als sich selbst Gleiches bestimmt ist. Die Idee ist zwar das Wahre, das eigentlich Seiende, jedoch nur als Ansichseiendes; dies Ansichseiende bleibt nach Hegel statisch; ihm fehlt innere Bewegung, Tätigkeit und Lebendigkeit. Diese Auffassung läßt sich vielleicht noch mit der Ideenlehre des mittleren PLATON, nicht jedoch mit deren Weiterführung im Sophistes vereinbaren, in dem PLATON gegen die Statik der Idee, wie sie die Ideenfreunde konzipieren, intellektuelle Bewegung als Bewegung des Erkennens und Erkanntwerdens der Ideen geltend macht. Die Idee verbleibt nach Hegels Deutung ferner - unplatonisch - wegen jener von ihm hervorgehobenen Einseitigkeiten in der ontologischen Bedeutung im Status bloßer Möglichkeit; sie ist noch nicht in AmsTOTELischem Sinne wirklich gewordene Idee. Solches Ansichsein, das nicht wahre Wirklichkeit ist, bestimmt Hegel zugleich als bloße, einseitige Objektivität. Die ARiSTOTELische Ousia stellt nun gegenüber allen diesen Bestimmungen in ihrer Bedeutung nach Hegel eine entscheidende Fortentwicklung dar. Sie ist nicht mehr nur abstrakt Allgemeines, sondern erweist sich in der Durchführung ihrer verschiedenen Bestimmungen als in sich konkret; damit entspricht sie Hegels spekulativen Anforderungen an das eigentliche und wesentliche Seiende, das nicht nur Substanz, sondern in sich konkrete Allgemeinheit sein soll. Diese Deutung beruht auf der Grundlage genuin Hegelscher spekulativer Theorie; es gibt jedoch, wie sich zeigen wird, in ARISTOTELES' Ousia-Lehre immerhin einige Anhaltspunkte dafür, die Hegel dann in seinem Sinne ausdeutet. Der Ousia, die nicht mehr nur abstrakt Allgemeines bleibt, ist Negativität immanent. Hegel scheint sich hierbei auf ein Argument des ARISTOTELES gegen die Ideenlehre in Buch VII der Metaphysik zu beziehen, wie es oben skizziert wurde; und er scheint die darin enthaltene Kritik positiv gewendet zu verstehen. Hegel erklärt, die PLATONische Annahme von Ideen als selbständiger Gattungen enthalte Widersprüche. Die angeführten Beispiele sind abbreviativ; wenn ein Lebewesen, ein Tier, als Gattung zugleich am Zweifüßigen und am Vielfüßigen teilhat, so ergibt sich, wie ARISTOTELES erklärt, ein Widerspruch, weil es als Eines in Vieles, ja Entgegengesetztes getrennt sei; und solche Widersprüche treten, wie dargelegt, nach ARISTOTELES

41 Ebd. 154, vgl. 154 f auch im Folgenden (belegt bei Griesheim S. 361 f, vgl. auch die Nachschrift Finder (1825/26), S. 234 f); vgl. auch G. IV. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3. Hrsg, von P. Garniron und W. Jaeschke (Vorlesungen. Bd 8). Hamburg 1996.68 f.

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erst recht bei der Teilhabe von Einzelnem an Ideen auf.42 Ohne die - ebenfalls oben umrissene - Möglichkeit wahrzunehmen, diese Vorwürfe vom ersten Teil des PLAXONischen Parmenides aus zurückzuweisen, zeichnet Hegel in vorangehenden Ausführungen offenbar eine positive Deutung vor. Die Idee und ihre Allgemeinheit sei eigentlich als eine „Einheit Entgegengesetzter" aufzufassen; ihr komme immanent Negativität zu, sie enthalte solches Entgegengesetzte in sich; und damit werde sie zum „Aufheben der Entgegengesetzten".43 Diese spekulativ-dialektische Bedeutung der Idee wird nun ARISTOTELES' Ousia- und Eidos-Lehre zugeschrieben. In solcher Bestimmung kommt der Idee nicht mehr nur Ansichsein zu wie bei PLATON; ihr kommt auch nicht nur unmittelbares Eürsichsein zu, sondern in dieser Entgegensetzung ihrer eigenen Bestimmungen Entzweiung in Eürsichsein und Sein-für-Anderes sowie die Einheit dieser ontologischen Bestimmungen; der Fortgang dieser Bestimmungen entspricht nicht genau der Fortentwicklung der Kategorie in der Wissenschaft der Logik; aber der entscheidende Gedanke ist mit jener Fortentwicklung durchaus vereinbar, nämlich daß der ontologische Sinn des PLATONischen Ansichseins der Idee bei ARISTOTELES fortbestimmt werde zu einem entwickelten und vermittelten Eürsichsein. Die Idee oder das Eidos, die so fortbestimmt werden, sind nicht mehr bloß statisch und unbeweglich; ihnen kommt vielmehr Tätigkeit und lebendige Bewegung zu. Hegel hebt hierbei die besondere Bedeutung der „Form", des Eidos hervor; insbesondere im Synholon, in dem Stoff und Form geeint sind, ist die Form oder das Eidos das Tätige, das Bestimmende; es ist dasjenige, was das Synholon erst zu einem wirklich Seienden macht.44 Hegel dürfte hierbei ARISTOTELES' Konzeption des Eidos in Buch VII und Buch VIII der Metaphysik vor Augen haben; er geht freilich nicht darauf ein, daß das Eidos gerade als Essenz (als ti en einai) das Sein und Wassein eines Einzelwesens ausmacht; ebensowenig erörtert er die Unterschiede dieser Konzeption des Eidos als erster Ousia in der Metaphysik zur Konzeption des Eidos als zweiter, dem bestimmten Einzelwesen

Vgl. Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.155; vgl. Aristoteles: Metaphysik. 1039 b 1 ff; vgl. oben Anm. 6 und den zugehörigen Text. 43 Hegel: Theorie-Werkausgabe. Ebd. Vgl. diese Stelle auch im Folgenden. Wie dies mit dem von Aristoteles als „sicherstes Prinzip" aufgestellten Satz vom Widerspruch vereinbar ist, sagt Hegel nicht. 44 Vgl. ebd. 153 f, vgl. etwa Griesheim S. 361 f, ebenso Finder S. 235 f, auch G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3 (s. o. Anm. 41). 68 ff. Vgl. diese Stellen auch zum Folgenden. - Hegels Satz: „alles Seiende enthält Materie" (Theorie-Werkausgabe. Bd 19.154) muß eingeschränkt werden auf dasjenige Seiende, das Synholon ist.

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nachgeordneter Ousia in der Kategorien-Schnft. Aber die Prävalenz des Eidos in der Konstitution eines wirklich seienden Synholon vor dem Stoff oder der Materie hebt er eindeutig hervor. Dieses Eidos ist als Begriff zugleich ein Allgemeines; es ist damit ebenso ein Feststehendes, identisch Bleibendes in aller Veränderung. Mit dieser Verbindung von Konstanz und Veränderung in der bewegten Ousia als Synholon vermeidet ARISTOTELES, wie Hegel darlegt, einerseits die Einseitigkeit des Eleatismus, für den Konstanz und Statik die Seinsweise des eigentlichen Seienden ist, was Hegel auch noch in PLATONS Ideenlehre erblickt, und andererseits die Einseitigkeit des HERAKLiiismus, der einen form- und einheitslosen Strom der Veränderung annimmt als die eigentliche Weise, wie überhaupt etwas ist. Daran wird deutlich, daß die AmsTOTELische Ontologie auch in Hegels Deutung eine späte, komplex synthetisierende Theorie innerhalb der klassischen griechischen Philosophie ist. Das Eidos als das Tätige und Bestimmende in der Ousia als einem Synholon ist also zugleich als begreifbares ein Allgemeines; gemeint ist offenbar das atomon Eidos, das, wie dargelegt, die Essenz des Einzelwesens darstellt. Da dieses Bestimmen des Allgemeinen, des atomon Eidos, sich nicht nur auf unwesentliches Anderes bezieht, sondern nach Hegel dem Eidos selbst immanent ist, bestimmt darin das Allgemeine sich selbst. Es ist damit nicht mehr bloße an sich bestehende Objektivität wie bei PLATON; in solcher Tätigkeit des Sichselbstbestimmens ist es bei ARISTOTELES, wie Hegel interpretiert, „Subjektivität". So erklärt Hegel: „Dies Prinzip der Lebendigkeit, der Subjektivität, nicht in dem Sinne einer zufälligen, nur besonderen Subjektivität, sondern der reinen Subjektivität ist ARISTOTELES eigentümlich. "45 Hiermit wird die spezifische Grundbestimmung der Ontologie und Ontotheologie Hegels, der sich bestimmende Begriff als reine Subjektivität, ARISTOTELES zugeschrieben. Das, was eigentlich und wesentlich ist, erweist sich also als sich selbst bestimmender, tätiger Begriff oder als solche reine Subjektivität, die ihre eigenen, ihr immanenten Bestimmungen spontan konstituiert. Diese Konzeption deutet Hegel in ARISTOTELES' Ontologie hinein. Begriffslogisch ist solche reine Subjektivität bei Hegel das Einzelne, nicht als sinnliches Dies-da, sondern als Begriffsbestimmung, die die Begriffsbestimmungen des Allgemeinen und des diesem entgegengesetzten Besonderen in sich zu höherer Einheit bringt. Hierin ist offenbar ARISTOTELES' “IS G. W. F. Flegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19. 153; vgl. 154 f, belegt bei Finder S. 234, vgl. S. 235, Griesheim S. 361, so auch in G. W, F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3 (s. o. Anm. 41). 68.

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Theorie in der Metaphysik über das Eidos als Essenz, nämlich als Wassein und Sein des Einzelwesens sowie als logisch gleichwohl definierbares Allgemeines aufgenommen und spekulativ transformiert. Bei ARISTOTELES bleiben diese Bestimmungen und deren Kontexte verschieden, werden aber spezifisch ontologisch aufeinander bezogen und dabei vereinbart. Das Eidos als Essenz, als Sein und Wassein eines Einzelwesens ist, wie erörtert, mit einem intellektuellen Einzelwesen identisch, vom Einzelwesen aber auch verschieden, wenn dies ein Synholon ist; und das Eidos, für sich betrachtet, ist innerhalb der Definition ein Begriff, insofern aber ein Allgemeines. Bei Hegel dagegen werden Allgemeines und Einzelnes in eine genetische begriffslogische Abfolge von zugleich ontologischer Bedeutung gebracht.46 Das ursprüngliche Allgemeine wird nicht nur bestimmt und begriffen; es bestimmt und begreift sich vielmehr selbst. Damit setzt es sich als Besonderes und setzt solches Besondere dem ursprünglichen Allgemeinen entgegen, das nun als Entgegengesetztes selbst ein Besonderes wird. Solche entgegengesetzten Begriffsbestimmungen sind aber nur Selbstbestimmungen des Allgemeinen; diese Erkenntnis führt zur Einheit zurück als einer höheren Einheit, zum Einzelnen, das in sich das Ganze der Begriffsbestimmungen und damit unmittelbar das konkrete Allgemeine ist. Es gibt in ARISTOTELES' Ousia- und Eidos-Lehre also zwar Anhaltspunkte für Hegels Deutung; diese selbst aber nimmt eindeutig eine Transformation jener Lehre in die spekulative Theorie des Begriffs vor; und da der Begriff, insbesondere der Begriff als Einzelnes in Hegels Idealismus die logisch-ontologische Bestimmung der reinen Subjektivität ist, erblickt Hegel auch diese seine eigene Grundbestimmung in ARISTOTELES' Ontologie. Diese allgemeine Ontologie der Ousia, die Hegel, wie sich zeigte, subjektivitätstheoretisch umdeutet, wird nun von ARISTOTELES differenziert in der Bestimmung der drei Substanzarten, nämlich der sinnlich sichtbaren, bewegten, vergänglichen Ousia, wozu die beschriebenen Synhola gehören, der sichtbaren, bewegten, aber unvergänglichen Ousia, womit die Gestirne gemeint sind, und der unsichtbaren, unbewegten, ewigen Ousia, womit 46 Vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 12: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Hrsg, von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg/Düsseldorf 1981. 32-52. Zur Interpretation sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegung des Verfassers: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik (s. Anm. 2). 244-251, auch 233 ff. - N. Hartmann sieht in dieser Theorie Panlogismus, der den alogischen Rest des Individuellen bei Aristoteles, welcher die begriffliche Bestimmung nur bis zur infima species als einem immer noch Allgemeinen führe, begrifflich auszufüllen suche. Hierbei wird in Aristoteles' Theorie nur das Synholon berücksichtigt, dessen materieller Bestandteil letztlich undefinierbar bleibt, nicht jedoch dasjenige Einzelwesen, das mit seiner Essenz und seinem Eidos identisch ist. Vgl. N. Hartmann: Aristoteles und Hegel (s. Anm. 3). Bes. 229-244.

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was sich gerade für Hegels Deutung als entscheidend erweist - vor allem der kosmologisch beherrschende erste Beweger und Gott als reiner, sich selbst denkender Nous ontologisch erfaßt werden soll. Diese Substanzarten werden von ARISTOTELES aber nicht systematisch entfaltet, wie Hegel kritisch vermerkt, sondern nur nacheinander deskriptiv betrachtet.47 Der Ousia überhaupt und diesen Substanzarten gelten nun die fundamentalen Modalbestimmungen von Möglichkeit und Wirklichkeit, die ARISTOTELES in ihrem wohlbestimmten Unterschied in seine Ontologie über PLATONS Lehre hinaus einführt; in ihnen erkennt Hegel die beiden „Hauptformen" der Metaphysik des ARISTOTELES. Sie durchziehen, wie Hegel interpretiert, in unterschiedlicher Kombination alles Seiende; dafür müssen natürlich die Bestimmungen der Ousia vorausgehen. Der Materie als solcher kommt reine Möglichkeit zu; das materielle, stoffliche Seiende ist hinsichtlich seiner Materialität ebenfalls nur möglich. Solche Möglichkeit ist nicht einfaches, reines Nichtsein, sondern dasjenige, woraus etwas werden kann. Deshalb bestimmt Hegel die ARISTOTELische Dynamis u. a. als „Anlage". Läßt sich dieser Gedanke noch mit ARISTOTELES' Lehre vereinbaren, so stellt es eine Transformation in die eigene Theorie dar, wenn Hegel Möglichkeit auch als das Ansichseiende und „Objektive" betrachtet.49 Da Hegel das abstrakt Allgemeine der PLATONischen Idee gleichfalls als Ansich und als Objektives bestimmt, schreibt er auch ihr - gänzlich unplatonisch, wie erwähnt - die Modalbestimmung der bloßen Möglichkeit zu; die PLATONische Idee oder, wie Hegel hinzufügt, das Wesen ist damit nur an sich, objektiv, bloß möglich und nicht eigentlich wirklich. Wirklich ist bei ARISTOTELES dagegen z. B. das aus Materie und Eidos („Form") geeinte Synholon als Ousia; hierbei ist das Eidos das Prägende und Wirksame; ihm kommt Tätigkeit und damit eigentliche Wirklichkeit (Energeia) zu. Denn das Eidos gestaltet die für sich ganz unbestimmte Materie, die bloß möglich ist, und bringt dadurch erst ein bestimmtes und geformtes, wirkliches Einzelwesen zustande; Hegel hat hier offenbar ARISTOTELES' Darlegungen im VII. und IX. Buch der Metaphysik vor Augen. Die Energeia oder Wirksamkeit und Tätigkeit dieses Eidos, welches bei ARISTOTELES die Essenz, d. h. das Sein und Wassein eines Einzelwesens bedeutet. 47 Vgl. G. W. F. Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.156. Vgl. auch oben Anm. 25. 48 Ebd. 154 (belegt bei Griesheim S. 362). Die Berücksichtigung weiterer Nachschriftenstellen zu ITynamis und Energeia findet sich bei W. Kern: Aristoteles in Hegels Philosophiegeschichte: eine Antinomie. In; Scholastik. 32 (1957), bes. 327-336,341 ff. 49 Ebd. 154 (belegt bei Griesheim S. 362; s. auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3 (s, Anm. 41). 69 f); vgl. diese Stelle auch im Folgenden.

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transformiert Hegel wiederum in seine eigene Theorie, wenn er sie als „sich auf sich beziehende Negativität" und als „Subjektivität"50 begreift. Dem tätigen Eidos und der dadurch bestimmten Ousia kommt also in Hegels Deutung nicht lediglich eine inhaltsneutrale Bestimmung der Wirklichkeit zu; vielmehr ist jene Tätigkeit und Wirksamkeit, die dem Eidos und der Ousia immanent sind, nach Hegel ein inhaltlich bestimmtes Sich-insich-Unterscheiden und eine Selbstbeziehung; dadurch entwickelt sich die Substanz, die Ousia, in ihrer Bedeutung fort zu ihrer Energeia als Subjektivität.5i Diese idealistische, genauer subjektivitätstheoretische Umdeutung ist rein metaphysisch; sie läßt die oben skizzierten Prädikationen und damit die Orientierung an einer Logik der Aussage unbeachtet. Bei der Ousia als einem Synholon aus Materie und Form bleiben beide Bestandteile unterscheidbar; dies gilt für die erste Substanzart, die sichtbare, bewegte, vergängliche Ousia, aber auch für die „höhere", die zweite Substanzart, die zwar auch noch sichtbar und materiell ist, aber schon Verstand (Nous) enthält, wie Hegel betont; seine Beschreibungen bleiben freilich z. T. unbestimmt; offenbar denkt er nicht wie ARISTOTELES an die Gestirne, sondern an „die Seele", die „wesentlich Entelechie" ist.52 Entelechie bedeutet für Hegel ebenfalls erfüllende Wirklichkeit. Die „höchste" Substanzart wird für Hegel repräsentiert durch die „absolute Substanz"; sie ist die nichtsinnliche, unbewegte, ewige Ousia als der kosmologisch beherrschende Gott, der reines Denken seiner selbst ist. Ihm kommt, was Hegel referiert, nach ARISTOTELES reine Energeia, reine Wirklichkeit ohne Materie und ohne Möglichkeit zu, und Hegel kommentiert: „Einen höheren Idealismus gibt es nicht."53 Aber in seiner modalontologischen Interpretation schreibt Hegel diesem göttlichen Nous in seiner vollkommenen Tätigkeit Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit zu; Mög-

50 Ebd. 154; vgl. zum Synholon auch 156. 51 Daraus läßt sich entnehmen, daß Hegel den - auch für eine Kritik des ontologischen Gottesbeweises bedeutsamen - ontologischen Satz Kants nicht unverändert akzeptieren kann, „Sein" auch in der Differenzierung als Möglich-, Wirklich-, Notwendigsein, sei „kein reales Prädikat" (vgl. Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga 1787. 626). Dazu erklärt Hegel in seinen Gottesbeweisvorlesungen, Sein sei zwar nicht einfach eine Inhaltsbestimmung; aber die Trennung von Begriff und Sein gelte nur für den endlichen Verstand und fasse beides nur einseitig auf (vgl. Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes. Hrsg, von G. Lassen. Nachdruck: Hamburg 1966. 174; auch Gesammelte Werke. Bd 21 (Wissenschaft der Logik. 2. Aufl.). Hrsg, von F. Hogemann und W. Jaeschke. Hamburg/Düsseldorf 1985. 73 ff. Vgl. zu diesem Problem D. Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. 2. Aufl. Tübingen 1967.194-219. 52 Ebd. 158 (belegt bei Griesheim S. 363). Vgl. diese Stelle auch im Folgenden. 53 Ebd. 158.

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lichkeit und Wirklichkeit seien hier ununterschieden und eins.54 Im Hintergrund dieser von ARISTOTELES abweichenden Deutung dürfte vor allem Hegels Auslegung von KANTS Idee des intuitiven, urbildlichen Verstandes stehen, dem Hegel in Glauben und Wissen solche Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit zuschreibt. Den ARiSTOTELischen göttlichen Nous, den er auch z. B. bei PLOTIN wiederfindet, bestimmt er also wie diesen aus PLATONischer Tradition stammenden intuitiven Verstand, den Hegel nicht nur wie KANT als ein negatives Gegenbild unseres endlichen, sinnlich-verständigen Erkennens ansieht, sondern als reales Vorbild des Erkennens, als Präfiguration der von ihm selbst projektierten spekulativen Vernunfterkenntnis; gerade der späte Hegel erblickt solche Vernunfterkenntnis im göttlichen, sich in Ideen selbst denkenden ARiSTOTELischen Nous, der für ihn Subjektivität, nämlich absolute, über die Objektivität „übergreifende Subjektivität"S5 ist, wie Hegel sie selbst konzipiert. So bildet in der Lehre von den Substanzarten die philosophische Theologie den Abschluß der Ontologie. Hegel nimmt dies Verhältnis von Ontologie und Theologie auf und überführt es in seine eigene Logik als Metaphysik der Subjektivität. In den Kontext dieses Verhältnisses von Ontologie und Theologie gehört auch die ARiSTOTELische Teleologie. Das Telos ist bei einem Einzelwesen inhaltlich das Eidos, das dieses in seiner Bewegung und Entwicklung zu verwirklichen strebt. Es ist bei dem vollendeten Wesen, nämlich Gott, die Vollendung und die erfüllte Wirklichkeit, die von allem Bewegten im Kosmos letztlich angestrebt wird. Diese Teleologie war offenbar der erste Theoriebestandteil, den Hegel aus ARISTOTELES' Metaphysik aufnahm. Während der junge Hegel in Bern um 1795 KANTS Naturteleologie aus der Kritik der Urteilskraß rezipierte und ihr neue Bedeutung auf der Grundlage der Ethi-

54 Vgl. ebd. 158 f, 164 (vgl. Griesheim S. 364, auch Finder S. 236, auch Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. T. 3 (s. Anm. 41). 72). Zum Folgenden vgl. G. W. F. Hegel: Gesammelte Vlerke. Bd 4. Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 340 f. Dazu möge der Verweis auf die Darlegung des Verfassers erlaubt sein: Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. In: Hegel-Studien. 21 (1986), 87128. 55 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaßen im Grundrisse. 3. Aufl. Heidelberg 1830. § 215 Anm.; vgl. das Zitat zur Noesis Noeseos aus Aristoteles: Metaphysik. Buch XII, 7 am Ende der Enzyklopädie (3. Aufl.) nach § 577. Zur Interpretation von Hegels Deutung und Abänderung der Aristotelischen philosophischen Theologie mag insbesondere verwiesen werden auf E. Coreth: Das dialektische Sein in Hegels Logik. Wien 1952.138-157, auf W. Kern: Die Aristotelesdeutung Hegels (s. o. Anm. 3), auf den Sammelband: La question de Dieu selon Aristote et Hegel (s. o. Anm. 3) sowie auch auf die Darlegung des Verfassers in: Hegel und die Geschichte der Philosophie (s. o. Anm. 2). Bes. 120 ff, 125 ff und in: Noesis Noeseos und absoluter Geist (s. o. Anm. 2). Deshalb sei die philosophische Theologie bei Aristoteles und Hegel in der hiesigen Darlegung nur gestreift und nur in ihrer Bedeutung für die Ontologie hervorgehoben.

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ko- oder Moraltheologie verleihen wollte und während er dann zu Beginn seiner Jenaer Zeit spekulative Gehalte in KANTS Konzeption des Organischen hervorhob, dabei aber - in der Tendenz SPINOZA folgend - die dazugehörige Teleologie mit einer gewissen Zurückhaltung betrachtete, führt er nun in seiner späteren Jenaer Zeit ab 1805/06 die Teleologie dezidiert in seine eigene Philosophie ein; und ARISTOTELES wird ihm dafür offensichtlich zum Vorbild, wie insbesondere die „Vorrede" der Phänomenologie beweist. Hegel schiebt hierbei die ontologische und die theologische Bedeutung der Teleologie ineinander. ARISTOTELES habe „die Natur als das zweckmäßige Tun bestimmt"56; damit dürfte zuerst der Entwicklungsprozeß eines natürlichen, lebendigen Wesens gemeint sein; dessen das Einzelwesen verwirklichende Eidos, das Hegel mit der „Art" identifiziert^^, dem jedoch zugleich Nous innewohnt, ist in solchem Entwicklungsprozeß das Telos, der Zweck und die zu erreichende Vollendung des lebendigen Wesens; und dies gilt dann für alle derartigen natürlichen Wesen oder für Natur überhaupt; zugleich aber erklärt Hegel: „Der Zweck ist das Unmittelbare, das Ruhende, welches selbst bewegend oder Subjekt ist", bzw. deutlicher in der Umarbeitung von 1831 für die geplante Neuauflage der Phänomenologie: „Der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte, welches selbst bewegend ist; so ist es Subjekt.Die Teleologie der natürlichen Wesen vollendet sich also offensichtlich in der Teleologie des unbewegt bewegenden Gottes, nämlich darin, daß dessen Vollendetsein angestrebt wird durch alles bewegte Seiende; diesem Gott kommt reine vollendete Tätigkeit, nämlich reines selbstbezügliches Denken zu; dies interpretiert Hegel schon 1807 als „Subjekt". Solche universale ontologische und theologische Teleologie führt Hegel sogar dazu, den methodischen, spekulativ-dialektischen Fortgang selbst insgesamt als teleologisch zu begreifen; dies tritt in Hegels späterer Zeit wieder in den Hintergrund. Für diese eminente Bedeutung der Teleologie in der Phänomenologie ist ARISTOTELES der Gewährsmann; sie wird von Hegel inhaltlich fundiert im sich denkenden Denken als Subjektivität. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie findet wenigstens im Ansatz und implizit eine Differenzierung von ontologischer und theologischer Bedeutung der Teleologie des ARISTOTELES statt. Dabei wird die Teleologie in die Lehre von den ontologischen Grundbestimmungen der Möglichkeit und Wirklichkeit eingeordnet. Zweck (Telos) ist für Hegel ge56 G, W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 9 (s. Anm. 30). 20. 57 Vgl.ebd.40. 58 Ebd. 20 (mit Apparatnotiz). Vgl. diesen Absatz auch im Folgenden.

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nerell das Allgemeine oder das Eidos; dies ist dasjenige ein Wassein Bestimmende, das sich in einer bewegten Ousia durch deren Entwicklung realisiert. Solches Allgemeine oder Eidos als Zweck deutet Hegel - über ARISTOTELES hinaus - subjektivitätstheoretisch; „der Zweck ist das Sichselbstbestimmen, was sich realisiert"59. Bezogen auf die Modalbestimmungen, ist Zweck nach Hegel eine immanente Bestimmung der Wirklichkeit, der Energeia und Entelecheia. Dies ist ein rein ontologischer Begriff von Zweck, von Telos, das dabei zugleich den Sinn von Vollendung hat. Solche Wirklichkeit als Entelechie ist „in sich Zweck und Realisierung des Zwecks"60. Sie ist vollbrachte Vollendung, die den Zweck in sich selbst hat. Solche Wirklichkeit, die zugleich Vollendung bedeutet, kommt in ihrer Reinheit nur der höchsten Ousia, nämlich Gott zu; hier wird Teleologie in ontotheologischer Bedeutung gedacht. Der Gott ist nach ARISTOTELES' Bestimmungen in Metaphysik Buch XII ferner das „Schöne und das Beste" und als solches, wie Hegel sagt, „Endzweck"6i; als selbst unbewegter bewegt er alles andere Seiende wie ein „Geliebtes", Erstrebtes, das sich auf ihn als „Endzweck", als erstrebte Vollendung hinbewegt. Teleologie wird dabei in kosmotheologischer Bedeutung gedacht; die kosmologische Argumentation des ARISTOTELES, die zur Ansetzung der Existenz Gottes als des beherrschenden ersten Bewegers führt, ist dabei für Hegel nur von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist für ihn vielmehr die inhaltliche Bestimmung der Energeia als Tätigkeit Gottes; diese ist die vollkommenste Tätigkeit, nämlich das reine Denken seiner selbst, das nach Hegel seine Vortrefflichkeit nicht vom Gedachten, von den vorgegebenen ewigen Ideen als Momenten seiner selbst empfängt, in denen es sich denkt, wie ARISTOTELES lehrt, sondern das seine ihm eigenen reinen Gedankenbestimmungen, in denen es sich denkt, allererst spontan konstituiert. Diese Umdeutung der Tätigkeit des ARiSTOTELischen Gottes62 läßt ihn zur maßgeblichen Präfiguration der von Hegel selbst entwickelten absoluten, göttlichen Subjektivität werden. 59 G. W. F. Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.153 f (belegt bei Griesheim S. 362); zu Zweck als Eidos vgl. 157. - Der Kantischen Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit des Organischen attestiert Hegel mehrfach das Verdienst, die Aristotelische Teleologie des Lebendigen restituiert zu haben (vgl. ebd. 177, ebenso Enzyklopädie. 3. Aufl. 1830, s. o. Anm. 55, § 204 Anm., § 360 Anm.); dabei bleibt freilich Kants Erkenntnisrestriktion außer Betracht, die solche Teleologie des Lebendigen nur als Modell Vorstellung der reflektierenden Urteilskraft zuläßt. 50 G. W, F. Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19.154 (vgl. auch Griesheim S. 362); vgl. 159. 51 Ebd. 161. Vgl. Aristoteles: Metaphysik. 1072 a 34 ff. 52 Zu Hegels Umdeutung vgl. z. B. H.-G. Gadamer: Hegel und die antike Dialektik. In; Ders.: Hegels Dialektik (s. Anm. 3). 25 f. Zu Interpretationen über Hegels Deutung der Aristotelischen Theologie s. o. Anm. 55.

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Damit hat Hegel das Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie in seiner ARiSTOTELES-lnterpretation bestimmt. Von universaler ontologischer Bedeutung für alles Seiende sind die Kategorien, vor allem die Ousia in ihren verschiedenen Sinndimensionen, ferner die Modalbestimmungen, wobei für ARISTOTELES - anders als in Hegels Deutung - die Extreme der reinen Möglichkeit und der reinen Wirklichkeit nur einerseits für das gänzlich Unbestimmte, insofern Nichtseiende und andererseits für den beherrschenden Gott gelten, ln der Theorie der Substanzarten zeigt sich, daß die ontologischen Grundbestimmungen von Ousia, Eidos und Energeia oder Entelecheia, die als wirklich vollbrachte Vollendung das Telos in sich hat, in Gott eine reine, eine exemplarische Bedeutung erhalten. So verbindet ARISTOTELES die universalistische Ontologie der Kategorien mit einer paradigmatischen Ontologie und Ontotheologie des höchsten Seienden. Dies ist systematisch prägend für Hegels eigene Theorie. So setzt Hegel sich etwa von der neuplatonischen, z. B. PROKLischen metaphysischen Auslegung des PLATONischen Parmenides insofern ab, als sie reine ontologische Bestimmungen wie Einheit, Vielheit, Sein usw. als solche schon unmittelbar als spekulativ-theologische Bestimmungen auffaßt; hierbei deutet Hegel PROKLOS' negative Theologie des ursprünglichen Einen als des ersten Gottes in eine positive Theologie um.63 Hegel schneidet damit implizit ein systematisches Problem an, das auch in der mittelalterlichen Philosophie, was Hegel nicht wußte, vielfach und variantenreich erörtert wurde, nämlich ob und ggf. mit welchen reinen ontologischen Bestimmungen das Wesen Gottes erfaßt werden könne.64 - Hegels eigene Lösung besagt zunächst ARiSTOTELisch, daß eine reine Ontologie universale Kategorien oder Gedankenbestimmungen enthält, die die Grundlage für die Bereiche von Wissenschaften des besonderen Seienden darstellen, daß aber nur höherstufige, entschieden inhaltsreichere Bestimmungen von paradigmatischer ontologischer und ontotheologischer Bedeutung das höchste Seiende oder Gott charakterisieren können; und dessen eigentliche und wesentliche Bestimmung ist eben reines Denken seiner selbst. Dieses Verhältö Vgl. G. W. K Hegel: Theorie-Werkausgabe. Bd 19. 28, 83. Vgl. zu Hegels prinzipiell positiver Proklos-Deutung jetzt /. Halfwassen: Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Hegel-Studien. Beiheft. Erscheint Bonn 1998. 64 Vgl. hierzu /. Aertsen: The Platonic Tendency of Thomism and the Foundations ofAquinas's Philosophy. In: Medioevo. 18 (1992), 53-70. Hier wird dargelegt, inwiefern bei Pseudo-Dionysios und Thomas die Transzendentalien „bonum" und „ens" Wesensbestimmungen Gottes sein können. Grundlegend und entscheidend wird dies ausgeführt in ders.: Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Gase of Thomas Aquinas. Leiden usw. 1996, vgl. bes. 360-415; es wird gezeigt, daß Thomas göttliches Seiendes und esse commune in ihren je eigenen Bedeutungen voneinander unterscheidet und durch Kausalität aufeinander bezieht.

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nis von Ontologie und philosophischer Theologie nimmt Hegel auf und transponiert es in seine eigene spekulative Logik als Metaphysik. Dabei ergeben sich entscheidende Änderungen. Zum einen müssen die Kategorien und reinen ontologischen Bestimmungen über ARISTOTELES hinaus systematisch und methodisch, d. h. für Hegel spekulativ-dialektisch entwickelt werden. Zum anderen muß inhaltlich, was dadurch erst möglich wird, durch eine Stufenreihe von im Bedeutungsgehalt sich immer weiter anreichernden reinen Gedankenbestimmungen der Weg von einer allgemeinen Ontologie zu einer reinen philosophischen Theologie aufgezeigt werden; in sich einfache ontologische Bestimmungen der Seinslogik werden fortentwickelt zu Relationsbestimmungen, wie sie die Wesenslogik darlegt, und diese zu Bestimmungen denkender Selbstbeziehung bis hin zur absoluten Idee. Schließlich entwickelt diese Idee das reine Denken ihrer selbst anders als bei ARISTOTELES als spontan konstituierendes Denken der in ihrer Struktur hochkomplexen, selbstbezüglichen absoluten Subjektivität; was eigentlich und paradigmatisch ist, ist solche Subjektivität, die sich in den ihr vorangehenden ontologischen Bestimmungen der Seins-, Wesens- und Begriffslogik als ihren Momenten, die sie spontan hervorbringt und synthetisiert, selbst denkt und begreift. Solche Subjektivität ist realiter Gott und Geist. Weil Hegel also in dem von ARISTOTELES konzipierten Verhältnis von Ontologie und philosophischer Theologie wenigstens in entscheidenden Grundlinien die Präfiguration seiner eigenen Lehre erblickt, knüpft er teilweise emphatisch an ihn an und rühmt, wie erwähnt, seine „spekulative Tiefe". Dabei vertritt Hegel hinsichtlich der Typen, wie Ontologie grundlegend angelegt und aufgebaut sein kann, weitgehend eine andere, ja gegenteilige Auffassung zu ARISTOTELES. Während ARISTOTELES im Prinzip eine Substanzontologie entwirft, innerhalb deren auch Bewegung und Prozeß begriffen werden können, vertritt Hegel wesentlich eine Ereignis- oder Prozeßontologie, die innerhalb dialektisch zu begreifender Bewegung auch Konstantes und damit Substantialität erfassen kann. Ferner ist ARISTOTELES' Ontologie eine Gegebenheitsontologie, in der die Ousia und ihre Bestimmungen als im Seienden selbst vorliegende aufgenommen und gedacht werden, insofern also eine realistische Ontologie; Hegel dagegen begründet eine Konstitutionsontologie, die idealistisch ist, da die ontologischen Grundbestimmungen nicht als vorgegebene angesehen werden, sondern allererst konstituiert werden müssen vom reinen Denken, das sich als spontane Subjektivität in jenen von ihr hervorgebrachten Bestimmungen zuletzt selbst denkt und erkennt. Schließlich orientiert sich ARISTOTELES in seinen Ontologie-Entwürfen in unterschiedlicher Intensität, aber doch je-

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weils eindeutig erkennbar an der Logik der Aussage, des ,ist'-Sagens, was später bei KANT in der Anbindung aller Kategorien an die Urteilsformen systematisch ausgeführt wird. Diesem Ontologie-Typus folgt Hegel nicht; vielmehr entwirft er - in der Grundorientierung wie PLATON - eine dialektische Ontologie, in der die systematische Entwicklung der ontologischen Bestimmungen durch eine eigene, dem reinen Denken immanente Methode der Gedanken- oder Ideenverknüpfung gewährleistet ist. Hinsichtlich dieser Typenbestimmungen der Ontologie hat die Hegelsche mit der ARISTOTELischen Ontologie also wenig gemeinsam, ja sie ist ihr im wesentlichen entgegengesetzt. - Wie ARISTOTELES aber verbindet Hegel universalistische Ontologie, in der die Kategorien oder reinen Gedankenbestimmungen für alles Seiende gelten, und paradigmatische Ontologie, in der ontologische Bestimmungen in eminenter Bedeutung von einem exemplarischen Seienden gelten und anderes, endliches, auch defizientes Seiendes stufenartig darauf hingeordnet wird. Die Verbindung dieser beiden OntologieTypen findet innerhalb des Verhältnisses von Ontologie und philosophischer Theologie statt. Dies ist es, was Hegel trotz der ansonsten so andersartigen Grundausrichtung seiner Ontologie an ARISTOTELES' Lehre aus systematischen Gründen so rühmt; und er führt es mit spekulativen Transformationen weiter in seiner dialektischen Ontologie und Subjektivitätstheorie.

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SELF-REFERENCE AND THE NATURAL NUMBERS AS THE LOGIC OE DASEINi „Be that as it may, Hegel now belongs to US: he cannot be all in all to us if only because his belonging to us, our possession of him, can only be of value (as the possession of a thought can only be of value) when it incites new life, new thought." Benedetto Croce^

1. Introduction It is well known that self-referential Statements have posed a fundamental Problem for the philosophy of mathematics in connection with the semantic paradoxes of the subject. (Indeed problems associated with such Statements appear in a wide ränge of philosophical topics.) Another fundamental problem of the philosophy of mathematics is that of justifying the concept of the natural numbers. It is generally agreed that modern mathematical philosophy, in any of its main forms of Logicism, Intuitionism or Formalism has not been able to account satisfactorily for either of these Problems. Initially, one might think that these two problems were not related to one another. The purpose of this paper is to demonstrate that in fact, the second of these problems arises out of the first and that both have their common resolution in terms of HegeTs logic of Daseinß More precisely, self-referential 1 The author is grateful to H. S. Harris and M. Hoffheimer for their advice and encouragement. He is particularly indebted to Dr. Hoffheimer for his detailed criticism of the paper and numerous valuable suggestions. 2 B. Croce: An Unknown Pagefrom the Life of Hegel. In: Philosophy, Poetry, History: An Anthology of essays. London 1966.191. 3 The logic of self-reference discussed below is only a determination of the logic of Dasein for that logic applies to a much wider ränge of thought than just the mathematical. A discussion of various English translations of Dasein, and the reasons for staying with the original German term in this paper, are given in the Appendix.

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Statements as meaningful are implicitly determined by this logic, and the qualitative concept of the natural number arises out of this determination. (This qualitative concept of number is post-Hegelian, the Hegelian concept of number being quantitative in character.) An interpretation of this logic, based on Hegel's Wissenschaft der Logik"*: js presented, together with its determination in the context of self-referential sentences, in the second section. The remainder of this introduction is devoted to preparation and motivation for this second section. We first briefly discuss the semantic paradoxes, which give the most important examples of self-referential Statements in mathematical logic. These are paradoxical Statements whose paradoxicality depends on the notion of truth or of definability. A classical example of such a paradox is that of the Liar paradox: in its simplest (not entirely precise) form, the paradox asks:5 A man says that he is lying. Is what he says true or not? Either assumption leads to a contradiction. Richard's paradox of 1905 is an example of a modern semantic paradox. It considers the set E of all decimals definable by a finite number of words and constructsö a decimal that is neither in nor out of E. Berry's paradox hinges on the paradoxical character of the least integer not nameable in fewer than nineteen syllables - but this specification of that integer involves only eighteen syllables! In Grelling's semantic paradox, an expression is called heterological if it is not truly ascribable to itself. The paradoxical problem is then the contradiction that arises when we ask if the expression heterological is itself heterological. It will be convenient to anchor our discussion of the semantic paradoxes on one particular such paradox. (A similar discussion applies in the case of the other semantic paradoxes.) The paradox that we will use is a Version of the Liar paradox which we will refer to as the card paradox. This is both precise and yet is expressed in a simple, commonsense way.7 We are given a card with two sides A and B. On side A is written exactly one sentence which reads: The sentence written on side B of this card is false.

4 Hegel's Wissenschaft der Logik will be abbreviated to WL in the sequel. A. V. Miller's translation of WL, Hegel's Science of Logic. Atlantic Highlands, N. J. 1989, will be abbreviated to SL. The translation by T. F. Geraets, W. A. Suchting and H. S. Harris of Hegel's Encyklopddie der philosophischen Wissenschaßen - The Encyclopedia Logic. Indianapolis 1991. - will be abbreviated to EL. 5 W. and M. Kneale: The Development of Logic. Oxford 1962.114. 6 The construction is similar to that used by Cantor in his proof that the set of real numbers is not denumerable. 7 The card paradox is taken from W. S, Hatcher: Foundations of Mathematics. Philadelphia 1968.113. The preceding book will be referred to in the sequel as FM.

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On side B is written exactly one sentence which reads: The sentence written on side A ofthis card is true. Now if the A sentence is true, then the B sentence is false and referring to the actual B sentence, the A sentence is false. This is a contradiction. Similarly, if the A sentence is false, then it is true. Whatever truth value is assigned to the A sentence gives a contradiction. But this is impossible since (surely!) what A is asserting is either true or false. The sentences are self-referential in the sense that, for example, the A-sentence refers to the B-sentence which in turn refers back to the A-sentence. So the A-sentence is implicitly referring to itself and similarly for the B-sentence. (All this can be put explicitly into one, obviously self-referential, Statement by substituting for the B-sentence in the A-sentence to give: This sentence asserts that the sentence that this sentence is true is false.) One would expect Hegelian logic to have much relevance to the semantic paradoxes, ln fact, many of the Statements that Hegel makes in his logic can be interpreted as semantic paradoxes. (This is not surprising if we agree, as the present paper Claims, that the semantic paradoxes are about the Hegelian infinite.) For example, in his discussion of Ground, Hegel Claims (SL 444) that „Essence in determining itself as ground, is determined as the non-determined; its determining is only the sublating of its being determined.“ This is a semantic paradox. For if Essence is determined, then it cannot be non-determined and we have a contradiction. If on the other hand, Essence is non-determined, it is not determined (as ground or anything eise) and so we have again a contradiction. However from the standpoint of Hegelian Reason (Vernunft), such a paradox only arises because we are operating from the perspective of the Understanding (Verstand). Eor Hegelian Reason, such a „paradox" is meaningful, it expresses the fluidity and infinitude of the Concept in which the hard and fast distinctions of the Understanding are broken up and the falsity of the rigid distinctions made explicit. So given the relevance of Hegelian logic to the semantic paradoxes, the next Step that needs to be decided is how such a paradox relates to the three fundamental parts into which Hegel divides his logic. These parts are Being, Essence and Concept (Sein, Wesen and Begriff). The meaning of these requires, of course, the full resources of WL to explicate. However, at the risk of greatly oversimplifying, in Being, conceptual determinations are immediate in character, expressing relations which are „external." The movement of Being is that of transition into otherness. Essence determinations are, by contrast, mediated in character, self-subsistent (rather than relations expressing otherness), the movement of Essence being that of reflection wi-

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thin it rather than transition into otherness. Essence is the first negatior\ of the immediacy of Being, which has as a consequence that Essence has lost Being or (as Hegel puts it), the Being of Essence is illusory. Concept is the negation of this first negation so that Being is restored but as essentially mediated, with Being and Essence now determined through each other. At the level of Concept, we have truth, the truth of Being and Essence, realized in the Idea of Concept. Furthermore, the moments of Concept, though different, are not determinations involving otherness or reflection but each gives the whole Concept in which otherness and reflection are included in sublated form. These three major levels of Hegelian logic - Being, Essence and Concept - are readily seen to be present (even on superficial inspection) in the card paradox. The otherness and transitional aspect of Being is present in the two separate sides of the card (each with its own sentence) and the turning over of the card as we determine the meaning of the sentence on one side by referring to the other. At the level of Essence, the sentence on each side refers to that on the other which in turn refers back to the original sentence. Thus the „movement" of the card is its internal reflection of one side into the other. The Essence level is also apparent in the presence of the important Essence concepts of Difference (Unterschied) and Contradiction (Widerspruch) inasmuch as the sentence on one side refers to Truth while that on the other refers to Falsehood, and a contradiction seems to result. The reference in the card paradox to Truth also indicates the Concept level present in the paradox as Idea, and the intrinsic reference of each side to the other indicates the Concept feature of moments (the sides) each of which, though different, give the whole Concept. A full Investigation of the paradox in terms of these three levels is beyond the scope of this paper. Instead we will concentrate on the first of these levels, that of Being, and at that level, present the Hegelian logical development (Entwicklung) which appears initially in immediate form in the paradox. At this level essential and conceptual elements in the card paradox must be left implicit.8 What is important at this level is that the sentence on each side refer to that on the other. This is all that will be used in the discussion below. The card with two such other-referential sentences on its sides will be referred to as the card case. The card paradox would give an example of this but the sentences for the card case in general need not be paradoxical. 8 However, following the practice of Hegel, it will at times be helpful to use Essence/Concept categories to describe more clearly the development.

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To conduct this logical development, it is natural first to identify features of the card case which will indicate which part of HegeTs treatment of Being in WL is going to be relevant. From the above discussion of Being, the two sides have to be kept separated from one another and the logical movement between them has to be one of transition. The natural Being category that fits this is that of Something and Other. The two sides of the card are each a Something in relation to which the other side is Other. The development in the next section Starts for this reason with Something and Other. Now Something and Other is a category of the second chapter in HegeTs treatment of Being, that dealing with Dasein. This indicates that the logic of the card case at the level of Being should be that of Dasein logic.^ Further preliminary evidence of the Dasein content of the card case at the Being level is the implicit presence in it of (what we shall call) the Finite-Finite infinite progress. Hegel (SL 136) discusses this progress briefly in the chapter on Dasein. In that progress, the inherent instability of the Finite is made explicit in its generation of a never-ending production of Finites. This infinite progress can be seen in the card case as arising out of the indeterminacy of the sentences on the sides. When we are dealing with a „normal" sentence such as: Would you hand me that book over, please? you and I are in a determinate Situation. There is a book and you are present before me and the sentence is „realized" when you actually pick up the book and hand it to me. By contrast, when, in the context of the card case, we follow the instructions on side A and find out what the claimed false sentence on side B is, we are in an indeterminate Situation. To understand what the claimed false B sentence is saying so that it becomes determinate, we have to refer to A again which in turn requires for its determinacy referring to B. Following the instructions literally (i. e. at the Being level) leads to a Situation where we can never stop.io Unlike the case of handing over the book above, we never know what either sentence really says: the instructions that each sentence gives to find that out (i. e. reading what is on the other side) just „passes the buck" back. Each is, to use a WiXTGENSTEiNian metaphor, an arrow 9 More confirmation that Dasein is the part of Hegel's treatment of Being relevant to the semantic paradoxes is given by the fact that it is there that Hegel deals first with the infinite as qualitative. This infinite (in its „genuine" form) is self-referential. Russell argued against locating the Problem of the semantic paradoxes in the infinite: for example, the liar paradox does not seem to involve an infinite set. However, the self-referential property which he regarded as characterizing all of the paradoxes is infinite in the sense of Hegel, to be thought of in terms of a circle bending back on itself. A good example for Hegel of the infinite as self-referential is that of selfconsciousness which is „the nearest example of the presence of infinity" (SL 158). 10 As we will see below, the category of Limitation in the card case is in fact the arbitrary stopping. But this is unstable and the Ought with which it is coupled forces on the infinite progress.

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pointing in one direction, and when we look in that direction, we are confronted with an arrow pointing in the opposite direction. It is to be compared to the Situation in which a group of children is being questioned by a teacher over some impropriety and each child points to another and says: „Not me, sir - it was him". Qua determinacy, the sentence on each side of the card only says: ask on the other side!

This is a striking illustration of the Hegelian Finite-Finite infinite progress in which the determination of any Step points away from one Finite to another and is never achieved. The Finite will not stay still, ln the presence of superficially stable Finite objects, the intrinsic instability of the Finite described in detail by Hegel in Dasein - is normally not noticed. However in the context of the card case, this instability is inescapable. This is why the card case gives us the logic of Dasein, the logic of the Finite. The Hegelian development described below shows (as an unexpected consequence) that the logic of Dasein as determined in the semantic paradoxes gives the natural numbers as a determination of the final categories, that of The Ideal (das Ideelle) and Being-for-self (Fürsichsein). The natural numbers are thus no longer, as in modern mathematics and its logic, an immediate assumption, intuitively obvious, „God-given". Rather they are a logical consequence of Dasein logic. The philosophy of mathematics developed on Hegelian principles - part of which is given below - can reasonably be described as Hegelian logicism (in contradistinction to the FREGE-RUSSELL logicism). The former, unlike the latter, is not reductionist. It is the reflective presentation, the making explicit, of the development immanent in the on-going mathematics of the great mathematicians, not as separated off or as telling mathematicians what to do. Hegelian logic has nothing to offer the future progress of Creative mathematics anymore than philosophy can teil the artist what to paint. But Hegelian philosophy provides us with the rational basis for mathematics as it exists today and the form of the infinite whose content mathematics expresses. As the Hegelian infinite, mathematics is ineluctably self-reflexive. One cannot stand back and (as it were) box it up within a formal System. (The precise expression of this is, of course, given in the incompleteness theorems of GöDEL.) It also gives an answer to the difficult question for modern mathematical logic of how applied mathematics is possible. Indeed, since the concepts of mathematics are determinations of the categories of (an extended) Hegelian logic, and these categories are also those grounding the concepts of Science, we see how applied mathematics is possible. Both are expressions of the same logic.

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The theorems of mathematics are the intuitive determinations of the latter's own depth as mediated in proof. Such a determination is not deep because its proof takes many pages to write down - complicated boring tautologies can do as much - but is deep because of its content and the significance (or value) which comes from the Hegelian infinite determining itself in it. The philosophy of mathematics is then Hegelian logic, not as a fossilized Collection of bizarrely related categories but as the conceptual articulation of mathematics in its living movement.

2. Self-reference and the natural numbers as the logic of Dasein The scope of this paper does not allow for a complete treatment of all of the categories involved in Hegel's treatment of Dasein, and we shall concentrate only on those most relevant to the card case. As in our presentation of the card case earlier, the sides of the card are denoted by A and B. Each side is regarded as being given loith its sentence. The discussion is divided up into subsections, each of which briefly attempts to describe part of Hegel's argument in Dasein and follows that up by exhibiting the argument's special form in the card case. The context will make clear whether we are discussing HegeTs argument in WL or its specialization in the logic of the card case. We will use MILLER'S translation SL of WL throughout and will use capital letters when referring to technical Hegelian categories.ii Justification of why we start with Something and Other was given in the introductory section. (a) Something and Other The categories of Something and Other depend, of course, on what precedes them in WL, and so we give first an extremely brief, minimal account of the earlier material in WL adequate for our purposes. ln HegeTs logic, Being and Nothing vanish into each other in Becoming, the „equilibrium" of coming-to-be and ceasing-to-be (SL 106). But Becom11 It is important to distinguish between the Hegelian and everyday use of a term, the latter being a vague, imprecise Version of the formen For example, the Hegelian finite is much more logically developed than the „everyday" finite since it explicitly embraces, seething within it, conceptual Contents such as becoming, something, Constitution, limit and the ought that are left blurred over in the everyday use. Further, the conceptual contents of Hegelian terms determine the strictness of the logical development. Reserving, for example, finite for the ordinary finite as defined in a dictionary and Finite for the logically structured, Hegelian finite is perhaps the least objectionable way to make this distinction.

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ing makes sense only if Being and Nothing are also distinguished, since otherwise, these two would coincide statically and there would be no vanishing movement (i. e. no Becoming) between Being and Nothing. But these two have been shown to vanish into one another. Hence Becoming, whose very „being" involves this distinction of the two, itseh must vanish, not just stay there abstractly „fixed." This „vanishing of the vanishing" is Dasein, „the simple oneness of Being and Nothing" (SL 109). Dasein is a sublation of the vanishing movement, a stability (since the vanishing has stopped). As it is mediated through a sublation, Dasein has lost the completely abstract character of the earlier Being, and so is (relatively) determinate. Qualityi2 is defined to be this determinate character of Dasein. The two moments of Quality reflect Being and Nothing whose sublation through Becoming was Dasein: Quality as Being is called Reality (determinate Being) while Quality as Nothing is called Negation (determinate Nothing). On the one hand, these moments are, of course, different. On the other hand, since Dasein is the „simple oneness" of Being and Nothing, its character Quality is also „simple oneness," and hence its two moments also coincide with it and therefore with each other, each moment implicitly containing the other. The sublation of Quality that makes explicit the nullity of the distinction between Reality and Negation yields the category of Something. Something is being with this distinction together with its sublation. Something as this sublation is the mediation or transition between the two moments of Reality and Negation, that in which the two are „drawn together" yet distinguished. However, as Something contains these moments in sublated form, the moments are further determined in Something. These further determined moments are called by Hegel Something and Other. (There is an unfortunate ambiguity here in that Something can either refer to the original Something or the moment. When there is the possibility of misunderstanding, the term moment will explicitly be used when the moment Something is intended.) 12 A fundamental theme of Hegel's treatment of Dasein (and therefore also of this paper) is the importance of the qualitative. In 20th Century mathematical logic, this emphasis is also clear in Russell's no dass theory, which (in its simplest form) can be regarded as removing substantiality from a dass of things and assigning it to the property or attribute that describes it, the supposed justification being that coherent properties are immune from paradox. (See, for example, R. M. Sainsbury: Russell. London 1979.293 ff.) The qualitative character of property is discussed in SL 487, where quality is shown to be property in an immediate, non-reflected form. It is of interest that Russell's theory had already been anticipated by Hegel in his treatment of Existence (SL 491) in WL. There, Hegel shows how property as a relation between things becomes itself self-subsistent while the things become unessential.

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From the corresponding properties of Reality and Negation in Quality, each of the moments Something and Other is itself implicitly the whole Something. So Something is also a self-mediation (SL 116). (This to some extent justifies the ambiguous use of the term Something discussed in the previous Paragraph.) The fact that Something and Other are more determinate forms of Reality and Negation is indicated by the fact that the Something/ Other relation is the Being/non-Being relation. (This would not have made sense for the Reality/Negation pairing.) We now discuss the determinations of Something and of the moments Something/Other in the card case. With the latter, we are immediately presented with the turning over of the card (backwards or forwards) as one follows up the Claim of the sentence on a side by referring to the other side. The unity of this turning as immediate and „qualitative" is Something. We can define Something as the card-in-turning from one side to the next in the quest for making determinate the other-referential sentences. As a turning, this Something is (as in Hegel's treatment of the first Something described above) a becoming, a mediation. Also as in Hegel's treatment, Something becomes determinate in the card case as the moments Something and Other. The form that these moments assume are very explicit and indeed obvious: they are just the two sides of the card (each with its sentence). Notice that the sides are completely symmetrical with respect to one another: at whichever side we Start, turning gives the other side. What we have here is the logical determination that each side is the moment Something which is Other relative to the „other" side: when one side is facing up, the other has disappeared underneath. Each is the „non-Being" of the other. Further, each side generates through the following up of its sentence the turning of the card, and hence is implicitly the „whole" Something (the card-in-turning). These are exactly the properties of Something and the Something/Other moment relation in general as discussed in the paragraph preceding the last.

(b) Being-for-other and Being-in-itself The Something of (a), which is the mediation or transition between the sepa~ rated moments of Something and Other, is in unity with itself, preserves itself, in the transition. This unity is made explicit in the categories of Beingfor-other and Being-in-itself, the former affirming the otherness through which Something preserves itself while the latter affirms its self-relatedness in otherness. Both are distinct; but, as expressing the unity of Something,

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they are also implicitly identical - for example, Being-for-other establishes the moment of Other as well as Something's self-preserving in transition. But to have a transition implies the presence of the moment Something in „transit" to this Other and back, and hence contains conceptually the Something (with its full unity) which is (by (a)) the sublation of this transition. So Being-for-other, as well as Being-in-itself, is the full unity of Something with itself, not just „a part" of it. ln particular, they are identical. Both kinds of Being are „undividedly present" (SL 120) in Something. In the card case, the Something is ((a)) the card-in-turning between the sides. The following up of the sentence on the (up-facing) side of the card by turning the card over to refer to the other side is Being-for-other in this case. (The other side will be up-facing then.) On the other hand, Being-initself is the returning back to the starting position, with exactly the same side facing up as when we started (after the transition through the other side). As we saw for Being-for-self above, the turning card (Something) „preserves itself" qua turning by moving to („affirming") the other side. On the other hand, as we saw for Being-in-itself, the turning card on its return back to the starting side will coincide with its starting position and so has „affirmed its self-relatedness" (unity) in transiting through the other side. The (implicit) identity of the two kinds of Being is obvious in the card case, since Being-for-other applied twice gives us the return of Being-in-itself, and Being-in-itself entails having gone through the other side (Being-forself) before the return.

(c) Determination and Constitution We saw ((b)) that Being-for-other is implicitly identical with Something's Being-in-itself. Indeed, the argument of (b) establishing this identity can be briefly formulated in Essence terms (SL 122); Something is „reflected into itself out of its Being-for-other." Thus what is in-itself is Being-forother. This identity is explicitly posited as the Determination of the in-itself in Something (by the for-other). The argument of (b) was formulated in terms of the moments, Something and Other, of Something. Determination can usefully be formulated in terms of these moments as well. It is just the positing of each moment in the other through their transition, their conceptual identity. In the card context, the preceding gives that Determination is the explicit positing in Something (the card-in-turning) of each side in the other through the transition from one to the other. In terms of Being-for-other

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and Being-in-itself, the reference to the other side of the turning card, which was Being-for-other, is now determined in unity with its Being-in-itself, the return of the card back to its original position. Side A can no longer be regarded as isolated, on its own, separate from B, the „non-Being" of B as we had in (a), the latter side only a means through which the sentence on A is to be determined, and then discarded. It is now explicitly recognized that A and B intrinsically involve each other. The two sides are conceptually posited as the same in the card-in-turning. Returning to the general case, Determination is further determined by taking into account the „filling" that Something's Being-in-itself obtains from the reflection into it of Being-for-other. This is where the otherness comes in that was excluded from Determination as the immediate identity of the two kinds of Being. As so excluded, this „filling" of Something's Determination falls outside the Determination. This filling is its Constitution, and is that in the Something which becomes other while its Determination remains unchanged. Something's Constitution is what ennables the Determination to be preserved under „external" influences. ln the card case, the Determination of the Something (card-in-turning) has its Constitution in the external circumstances of the turning of the card through which the Determination - the conceptual identification of the two sides - is established and preserved. Returning to the general case, the Determination and Constitution of Something are initially indifferent to one another inasmuch as the action of Constitution in relating to external influences does not seem to make any difference to the Determination - the two lead separate, independent lives. ln the card case, for example, the Determination of the conceptual identity of A and B is independent of any actual turning of the card. But this apparent indifference is only immediate - it is clear from the definitions of Determination and Constitution above that each is only established through the other. Determination only preserves itself through its defending Constitution and conversely, Constitution only has meaning as constituting the Determination. They are together as a unity, both within Something. This unity of Determination and Constitution is then made explicit and posited in Something. This is the unity of the moments of Something and Other as identical (Determination) together with the transitional „external" influences through which it is preserved (Constitution). As such, the transition (alteration) between the moments of Something and Other, which that unity expresses, is now located in Something. Accordingly, the moments Something and Other now no longer relate directly as immediate Being/ non-Being ((a)), but through Something, now in its developed form, which

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encapsulates their movement into one another. The intrinsic transition between the moments is no longer abstract as before, one external to the other, but is through the Determination-Constitution unity in Something.i^ (This unity will be further determined in Limit below.) In particular, in the card case, the moments (the sides) of Something (the card-in-turning) no longer relate directly to one another by the means of turning the card, which turning is then forgotten. Instead, „each relates itself to itself only by means of the sublation of the otherness which, in the determination, is reflected into the in-itself" (SL 125). The unity of Determination and Constitution is a determination of Something as the card-in-turning in which the sides are identified. This unity is recognized when we see the sides as saying the same thing in their other reference, their relation explicitly being in the common card-turning (Something) which implements their identity.14 (d) Limit The determination or the precise specification of the above posited unity in Something through which the moments Something and Other relate to one another is called Limit. It is determined (using a spatial metaphor) as the boundary between the moments, which on the one hand determines where they „come together" yet on the other hand distinguishes them, gives the „place" where they „push" against each other. (So that, as we noted above, Something and Other no longer oppose each other directly but rather through the posited unity made precise in Limit.) Limit is simultaneously the Being and non-Being of Something and Other. Something is not fully given or determined if the Limit is not specified. Dynamically, Something as determined by the Limit is „explosively" there in Limit. Hegel gives the (mathematical) example of a line segment

13 A good example of this relating of the Something-Other moments through the unity of Something is provided by the sons Shaun and Shem in James Joyce's Finnegans Wake. The unity in this case is their father HCE in whom their Opposition is reconciled. As Michael Hoffheimer has pointed out to me, in Finnegans Wake, Joyce, who obviously identifies with Shem, also identifies with his father and even with his brother. (See the discussion of this in Bernard Benstock: Joyce-again's Wake. Washington 1965. 232 ff.) In Hegelian terms, such identifications are to be thought of, not in the Being terms of Something and its moments but in the more advanced terms of the Concept, each of whose moments is the whole Concept. 14 This identity of sides and turnings through each other prefigures the closed „loop" of the Affirmative Infinite, to be discussed in (j), in which each of the Finite and the Infinite returns to itself through the other.

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generated by starting at a point on a line and moving along the line in one direction or the other. This end-point is the limit which has „within it" the line Segment which it generates through its „unrest"i5 (SL 128). The endpoint separates out the line segment as „Something" from the remainder of the line of which it is a part. This remainder is also a line segment starting at the point but going in the opposite direction, and is the „Other" to the original line segment's „Something". In the point as Limit, the two Segments come together yet are distinguished. Since Limit is the determinate form of the transition through which Something and Other relate, this determination in the card case is easy to specify. As we saw above, Something and Other are the two sides of the card. The Limit in this case is the card „frozen" in the turning between the two sides, as it were a snapshot of the rotating card. As such it is the „unity" of the sides since the card can go from this in-between state to the state in which either side faces up. But it also separates the sides in their Opposition and acts as the „boundary" between them. (Notice that the posited unity of the other-referential turning which was the sublated unity of Determination and Constitution in the card case has been specified further in the „snapshot" Limit.) (e) Finite Limit, the Something-Other boundary through which Something is determined, explicitly lacks this Something that it bounds (though implicitly it is dynamically the being of Something). It is the circular edge of a disk in the plane without the interior or exterior, the smile on the face of the Cheshire Cat in Alice in Wonderland. But since Something is only determinate in its Limit, the making determinate of the former gives Limit as explicitly „located" in the being of Something. Now since Limit is also the non-being of Something (or equivalently, the being of the Other ((a))), Limit as located in Something drags into the heart of Something the latter's own non-being. This is not just in a passive sense. For since Limit dynamically generated both Something and its Other, the Something as determined in Limit is now „posited as the contradiction of itself, through which it is directed and forced out of and beyond itself" (SL 129). As such, Something (and its Other) now coincide.

15 This argument is used in the derivation of the line from the point in HegeTs Philosoph]/ of Nature.

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Something is this intrinsic shifting and is only determined through its negation in Limit which in turn is what it is only as negating the Somethingd^ We have reached the stage of the Something as the Finite whose hour of birth is its hour of death and whose being is its ceasing-to-be (SL 129). In the card case, Something and Other (the sides) coincide in their embracing of the Limit (the card frozen in transition ((d))) to give the Finite as the whole card asforcing it seif out of itself through Limit in its rotating quest for making determinate the instructions on the sides. Note that the original Something of (a) - the abstract, card-in-turning - has become determinate in the Limit (as asserted in the second paragraph above).

(f) Limitation and the Ought Limit as the being of Something-as-Finite is made determinate by being „posited by Something as a negative which is at the same time essential" (SL 132). In this determination, the negative, bounding character of Limit (that we saw in (d)) now becomes explicit and ineluctable (essential) at the level of the Finite. Such a positing of Limit is called Limitation. But at the same time, Something as Finite can no longer remain steadfast within its Limitation; it is „forced out of itself" through its inherent instability and so goes „beyond" the Limitation. So in the determining of Limit as Limitation, „Something must at the same time in its own seif transcend the Limit" (SL 132). This transcending negative relation of Something to its Limitation is the Ought. The being of each of Ought and Limitation mutually implies that of the other. So reference to the Ought is meaningful only if there is Limitation which is blocking its fulfillment and conversely. We now determine the categories of Limitation and the Ought for the card case. We saw ((e)) that in that case, the Finite was the whole card (not just separate sides of the card) in its self-generated, rotating drive for making determinate the instructions on the sides. As we observed earlier, the instructions refuse to become determinate and the only way that the Limit can be posited as determinate, „bounding" the rotation, is by stopping this rotation at a side. This stoppingi^ is the Limitation of the card case. But of

16 We have here a precursor of Schein in Essence, the movement of nothing to nothing (SL 400). Of course, that is exactly what we would normaUy do when we realized the vicious circle that we were trapped in when trying to resolve the card case - we would hurst out laughing

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course, Something as Finite (in particular, containing its Limit) transcends this (arbitrary) cessation: we could still go on reading the instructions and turning the card. This is the negative relation of Something to its Limitation which is the Ought. The Ought is the driving onwards towards (illusory) determination through the turning of the card. (g) The Finite-Finite infinite progress and the Infinite^s We saw above ((e)) that the Finite as Something determined as Limit was the contradiction which is forced out beyond itself. This contradiction was further determined in the Ought and the Limitation each of which mutually involved each other. To resolve the explicit contradiction, the only way possible is for it to become implicit. This is done by taking any one of the two, say the Ought, and „giving it its head," suppressing the Limitation. (And indeed, in normal life, we often use the term „ought" in a given Situation without explicit mention, or even conscious awareness, of the limitation with which it is paired.) The Ought has thus been abstracted, posited Outside the Finite within which the original Ought and Limitation related unstably. The Finite and its inner conflict has been destroyed since an essential moment (the Ought) is no longer present. As Hegel says, the Finite „ceases to be." But implicit in this „outside" Ought is Limitation and when the latter is made explicit, the Limitation and Ought are once again unstably related in the Finite, another Finite. So the preceding development describes the production of the new Finite from the destruction of the old. Note that the Finite itself has been determined further since it is now seen in transition outside itself rather than being „self-contained" as before. The same development occurs again with this second Finite which like the first is annihilated and produces yet another Finite, and so on ad infinitum. This is what we shall call the Finite-Finite infinite progress, a „bad" infinite sequence whose work in going from one Finite to the next is never doned^ Its infinitude lies in the fact that (SL 136) „in ceasing to be, the Finite has not ceased to be." The badness of the infinite is strikingly indicated when one and go and do something eise! However, this action is a giving up, and the resolution of such a self-referential problem can only be obtained by staying strictly with it and allowing it to develop itself logically. 18 SL 136. 19 There are, of course, many other infinite progresses in philosophical thought, not just in Hegelian logic. There is, for example, the quantitative one produced by halving as in Zeno's first argument about motion (Aristotle: Physics. 239 b). The Finite-Finite infinite progress is qualitative in character, and in form is simplest possible since the terms of that progress are all the same.

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attempts to write down the sequence according to Standard mathematical practice - the sequence is: Finite, Finite, Finite,... The tell-tale ... (standing for „and so on") is effectively a giving up - to use a trenchant expression of WITTGENSTEIN's, the dots in ... are the dots oflaziness.^^ However, conceptually, the Finites produced are all instantiations of the same Finite and hence this infinite process is not just a „going on for ever". Fach Step in the progress is (as qualitative) identical, the same thing, viz. the Finite identifies zvith itself through its disappearance. The Finite identifying with itself through its self-produced disintegration is a sublation, a negation of a negation. The positing of this sublation is defined to be the Infinite. The Infinite is the sublation of a transition and so, as in the original sublation of Becoming in (a), has the form of Being. We now identify the Finite-Finite infinite progress and the Infinite in the card case. Recall that in this case, the Finite was the whole card, the Ought was the driving towards determination of the card sentences while Limitation was the giving up of this objective after some turns. We described above how the Separation of the Ought (or Limitation) from the Finite gave the disappearance of the original Finite followed by its reappearance. In the card case, the Separation of Limitation and the Ought gives the original Finite (the card) as fixed under Limitation „losing" the Ought. Since the dynamic of the Ought forcing the turning of the card has been separated out from Limitation, the card is now still. The Finite, as the card in the unstable Limitation-Ought relation, has now been replaced by the side of the stationary card facing up. When the suppressed Ought is made explicit in the side, we have that the further determined Finite referred to above is no longer the card as a whole but rather the side forcing itself out of itself in the turning.^^ In determining the form of the Finite-Finite infinite progress, the Ought as freed-up from the Finite is then realized in the side turning over.

20 This is quoted by G. E. Moore in Wittgenstein's Lectures in 1930-33. In: Mind. 64 (1955), 3. The „laziness" in the use of... for Wittgenstein was in connection with the replacement of the formula(x)./x(i. e.forallx,fxholds)byalogicalproductfa.fb.fc.... in the case where the x's ränge over a finite alphabet, and we use the ... when we cannot be bothered (are too lazy!) to finish the enumeration explicitly. In the context of this paper, the „laziness" in the use of.,. is different though related. It concems the use of ... in the infinite progress (sequence) through which we stay Content with the „idea" of the progress suggested by giving a few initial terms followed by the ..thus evading the serious issue of the bad infinitude involved. Such evasion is inadmissable for the philosophical understanding of mathematics. The paper argues that the true meaning of the ... is to be found in the Hegelian infinite. n The moment Something was also a side but in unmediated form. So the further determined Finite is a return to this Something but as mediated, the moments of Limitation and Ought having been made explicit.

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The Finite which has lost the Ought (i. e. the side at which we initially started) then disappears underneath, of course, but when explicitly determined by the new Limitation, the new Finite is the side opposite to that with which we started, the side now facing up. The Finite-Finite infinite progress is then the endless generation of card turns, each side as Finite disappearing and generating the next as the new Finite. Since the sides are the same Finite conceptually, the sides of the card are now blank and regarded as indistinguishable.22 In particular, the instructions have disappeared. (The remaining physical distinction between the sides will vanish later in this section in the emergence of the *string.) The truth of the original instructions is now clear - their only content was the imperative to turn the card to the other side. The indeterminacy of the original sentences informally discussed in the Introduction has now been made completely explicit and justified in their disappearance. The Finite which has been determined as the side now obtains an important further determination. For the Limitation for the Finite was ((f)) the stopping of the card arbitrarüy at a side while the Ought was the forcing on of the turning. Now when the card is determined under Limitation as stopped at a side, what is being presented is more than just the simple side; it is the side as sublating the turns which were implemented before the stopping. So the qualitative concept of some turns is implicit in the determination of the Finite as side. When this and also the Ought (which was implicit in the fixing of Limitation) are made explicit, we have the Finite now determined in the side as the ready-to-go-on after some turns. Note particularly that the use of some indicates the qualitative and is at the level of Being.23 Thus there is no quantitative determination involved with „some". The sublation of this progress in the Infinite in the card case is just the positing of the sublated tuming transition from one side to the next in which the two sides are identified qua Finite. The Infinite has two aspects, first as regards the Finite as a card side, and second, as regards the qualitative content of the Finite.

22 In the positing of Determination and Constitution ((c)), the moment sides were posited as identical only ideally in the Something, but remained extemally separate as moments. This Separation was overcome in the Finite in (e) (for the card case) in which the two sides identified immediately in the whole card. But in this case, they disappeared as only imphcit in the whole card. Now, however, the sides have both separated out and then exphcitly identified in the infinite progress. 23 The term „some" at the more advanced Concept level is used in HegeTs treatment of the Particular Judgement (SL 645). But in the context of the present paper, „some" is immediate relative to this latter „some".

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First, the Infinite is the intrinsic self-reference of a side (the Finite) as identifying with itself through the turning process, both sides being conceptually identified as indistinguishable. Of course, physically, the sides switch over when the card is turned - the important point here is that they are now actually identified, not just (subjectively) regarded as identified. In the Finite-Finite infinite progress, the sides came one after the other. Now there is no order and a side as such identifies with itself in the Infinite. Since the sides are physically not identical in the card, the card itself with its sides now falls away as inessential in the logical development and the side replaced by a simple positing. Second, in the Infinite, the qualitative content of the Finite must also be identified with itself. Now as we saw above, this content was the some turns determined by Limitation in a side. So in the Infinite, this content must identify with itself as we turn from one side to the next. In this self-identifying, some turns becomes independent of side and is qualitatively infinite. The preceding considerations will be clarified below when this qualitatively determined, infinite, positing will be presented in the familiär string terminology of mathematical logic. (Indeed, the Finite-Finite infinite progress and the Infinite are effectively present in abstract, unrecognized form in the formal Systems of modern logic.) The discussion below could be expressed without any reference to Symbols but is made clearer by using them. Thus the symbolization is strictly only a convenience, and it is important to use it (as the mathematician uses mathematical symbolization) for indicating the conceptual development, and not for its own sake. The rest of the development will then exhibit the fundamental mathematical concepts implicit in the original card case.

(h) The Finite-Finite infinite progress and the Infinite for Strings The side of the physical card is initially posited, without its qualitative content, as the simple symbol *. Any other symbol would suffice.24 Since above, the Finite was realized as such a side, it is now given as *. The concept of the Finite has, as described in (g), the infinite qualitative content of „some turns". This content determined in the original „side" as * 24 The use of * here follows the practice in formal Systems (such as the Statement Calculus) of denoting Statement letters by .. (cf. Hatcher in FM 144 ff) except that we have dropped the inessential x. In that context it is used as a device for constructing an infinitely countable number of distinct Statement letters from a finite alphabet.

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is a *string. It is conveniently (though not necessarily) thought of in terms of an ordered sequence of *'s written from left to right on a piece of paper, the left-to-right transition from one * to the next representing the turning from one side (= *) to the next. The last * of the string is conveniently regarded as the side which was fixed under Limitation described above (and so has the qualitative content „some turns" of the Finite, this * determining the whole sequence of *'s as the specification of the Limitation which stops the sequence.) Examples of strings are ** and ****. It is important to stress (as we did for some turns) that such a notation is only a representation of qualitative content. This content is not restricted to strings that can be so represented - the inadequacy of the notation is illustrated by using dots for „and so on" (discussed in (g)) as when we say that the typical string is The Finite-Finite infinite progress is then that in which a string has the * (the last one of the string) which contains the qualitative content having another * adjoined (corresponding to the turning over of the card). The Infinite is the positing of the identification of string with itself through the transition of adjoining a *. It is to be stressed that the conceptual foundation of string and the Infinite of string cannot be avoided. They are not „empirical" - for the actual marks made to represent different instances of * on paper will physically Vary, if only under a microscope.25 The Infinite of the Finite-Finite infinite progress underlies the concept of what is (misleadingly) called in the Philosophy of Mathematics an incomplete infinite. The latter is a quantitative determination of the formen It is true that at the level of the Dasein Infinite as quantitatively expressed, no „actual" infinite set of finite strings is posited, so that in this respect there is no „complete infinite" in that Infinite. However the Infinite as the positing of the self-identity of string through *ing, is qualitatively complete. (But 25 Hatcher, in FM 17, comments that the „semantically precocious“ reader may notice that when we speak of a sign such a we do not really mean „the particular blob of ink on the particular part of this page". He suggests that the sign is really the „equivalence dass of ink blobs under the relation sameness of shape." However, there is nothing precocious about such a view of signs - it is simply a confusion. For a Start, it would imply that when a small child recognizes a sign, he has implicitly used infinite set theory and checked an equivalence relation! The real Problem is that the proposed equivalence relation is not properly defined for mathematical use. In fact, the proposed relation is ultimately purely subjective - two blobs are equivalent if they look the same to us. (Compare this to a genuine equivalence relation such as that which defines two integers to be equivalent if their difference is divisible by 2.) The truth is that such a sign (or what we have called a Symbol) is more than its physical appearance on the paper - it expresses something, it is a positing and so is given as conceptual in character.

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while there is nothing „incomplete" about the Infinite, it is as we shall see an inadequate infinite.) For the same reason, the related claim sometimes made - in particular, in the Intuitionism of modern logic and also in classical mathematics (for example, by Gauss^ö) - that we avoid the recognition of the „complete infinite" - such as that of the set ofall strings - by constructively adding *'s onto „existing" strings is also illusory. For in the constructive approach, the sequence of constructed strings is not intrinsically allowed to „stop" and so entails the implicit recognition of the „completed" infinite of strings which is „there" in the background, strings being „picked out" of the supposed complete infinite by flashlight, as it were. Such an implicit complete infinite is just the Infinite of Dasein in a „bad" form, the positing of the Infinite transformed into a stationary abstract „set" as arbitrarily assumed in Russell's Axiom oflnfinity. The making stationary of the Infinite is the undoing of the Infinite since it has then lost the transitional movement in which it is the self-identity of the Finite, and we are back with the Finite-Finite infinite progress. So the Infinite of Hegel with which we are dealing here is not a „constructive" infinite. The important point is that this Infinite is not quantitatively determined at all, but, like all of the categories of Dasein, it is qualitative in character.27

(i) The qualitative infinite progress Returning to Hegelian logic, the Infinite as the positing of the Finite's selfidentifying through transition, as identity, has left the Finite behind. It is fixed with none of the „ceasing-to-be" of the Finite. But looked at more closely, the Finite cannot be „swept away" like this since without the Finite identifying with itself, there is no Infinite. The relationship between the Finite and the Infinite is in fact that of a developed form of Something and Other. For as the uniting of the Finite with 26 Gauss's Horror of the infinite as something consummated is described in D. M. Burton: The History of Mathematics. Boston 1985.593. 27 The importance of the qualitative in questions involving the Infinite is illustrated by Hegel's qualitative solution to the infinite in the Differential Calculus (SL 274 f). This is sometimes dismissed derisively (for example, by Russell). But it is to be observed that the modern „solution" to the defining of a derivative in the Calculus uses neiv concepts relative to Hegel's time, such as that of limit and the real line as a set (rather than as conceived geometrically), and these involve the qualitative in the sense of Hegel.

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itself, the transition through which the uniting - the Infinite - was the result, has been negated. But the being of the Finite is just its ceasing-to-be ((e)) and it is this that the Infinite has negated. Hence the Infinite is the nonbeing of the Finite (SL 138) and (as noted in our discussion of Something and Other in (a)), the being/non-being relation is the Something-Other relation. Now the Hegelian logic described earlier in (a)-(e) shows that (both) Something and Other develop into the Finite. Since the Infinite is such an Other to the Finite's Something, it follows that it itself is implicitly Finite and when this is made explicit, it is the ßnite Infinite. But as we saw in (g), the Finite through the agency of Limitation and the Ought generates the Finite-Finite infinite progress which is posited as the Infinite. Since the Infinite is now the Finite, it in turn will generate the Finite-Finite infinite progress and hence the Infinite again. The process continues to give the second infinite progress, the qualitative infinite progress. This, then, consists of the original Finite, whose reuniting with itself in the first infinite progress is posited as the Infinite. This Infinite is, as we have seen, a finite Infinite and so we are back with the Finite again. This in turn generates the Finite-Finite infinite progress which produces the Infinite. This becomes Finite again, and we have the alternating sequence Infinite, Finite, Infinite, Finite,... repeating ad infinitum, the finiteness of the Infinite being made explicit in every Finite. We now investigate the determination of the qualitative infinite progress in the context of *strings. Recall that in the string context, the Finite was a *string in transition. The Infinite was the positing of the qualitative selfidentification of the string through its intrinsic transition of *adjunction. We first have to examine how this string Infinite becomes finitized. To this end, recall that the transition from Finite to Finite in the latter's „ceasingto-be" was left behind in the Infinite's positing. Now the Infinite must identify the two strings as finite, i. e. qualitatively as strings, and yet the second string is the first with an extra *. The two strings are not equal. Since the strings must be identified in the Infinite, the latter's positing must therefore undo the *adjunction. On the other hand, since the Infinite is only through the adjoining, we have that the Infinite as identifying through external ’*'ing is contradictory in character. It sublates itself into an inner, implicit immediacy.28 The positing of this immediacy is the finite Infinite. It is simply the potentiality for adjoining a * to the Finite-as-string. The movement whose sublation was the Infinite has been frozen up and the string (Finite) is oppo28 This is to be compared to HegeTs treatment of the Essence category of Contradiction: Contradiction resolves itself and „withdraws into Ground" (SL 434).

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sed in a Something-Other relation to the potentiality for its augmenting (finite Infinite). The finite Infinite will be represented by *. Indeed, the Finite-as-string is * (with the qualitative content of some *'s), and since the finite Infinite is also a Finite, it is therefore representable as *. Looked at more closely, however, as we saw above, the finite Infinite is the positing of the Essence concept of potentiality for *adjunction. Now in the Essence terms of WL, the Finite-asstring is just the Outer in relation to this potentiality as Inner. (Indeed, the potentiality expressed qualitatively is just the some *'s whose production it is the potential for and conversely, the concept of some *'s presupposes the potentiality for stringing together some *'s in a string.) Since (SL 524) the Inner and the Outer „are only one identity", their positings as Being, i. e. as Finite, together with their qualitative contents, are just the same, both representable by *. The qualitative infinite progress for strings is then as follows. We Start with the Infinite. As finitized, it is, as we have just discussed, represented by * and we are back with the Finite as * again as in (h). The development in (h) therefore applies again, giving the Finite-Finite infinite progress of *strings. This in turn gives the Infinite of strings with which we started. We have thus gone through the sequence Infinite, Finite, Infinite, and this repeated gives the Infinite, Finite, Infinite, Finite,... of the qualitative infinite progress. (The Finite, Infinite, Finite part of this will reappear in sublated form in (k) below.)

(j) The Affirmative Infinite, The Ideal and Being-for-self Returning to Hegel's treatment of the Infinite, the truth of the Qualitative infinite progress is the dynamic unity of the Finite and the Infinite, a unity in which each loses its qualitative character. Indeed, this unity is exactly what the alternation of the infinite progress is expressing. The Infinite, when its intrinsic dependence on the Finite is made explicit, becomes a Finite, so that its unity with the Finite qua Finite has been established. On the other hand, the Finite-Finite infinite progress is just asserting that the Finite with its transitoriness removed is the Infinite, thereby asserting their unity again. Both are now „this movement in which each returns to itself through its negation" (SL 147). Each only is in passing through its other and as such is a double negation, the first negation being that in which it disappears into the other and the second its sublatory return. The Affirmative Infinite is thus to be thought of in terms of a circle, completely present, looping back

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on itself with no beginning or end, rather than as a straight line which goes on „for ever" grasping for the illusory „at the end", the Image of an infinite progress (SL 149). The progress asserts the Affirmative Infinite, the genuine Infinite (die wahrhafte Unendlichkeit) (and genuine Finite) as the mediation in which each of the old Finite and Infinite returns to itself through the other. As such, each has now brought out explicitly what it was implicitly from the beginning the Finite contains the Infinite and the Infinite the Finite. No longer is each a „beyond", the Finite in its Being outside itself and having no stability, and the Infinite an unattainable goal which the Finite vainly strives to achieve. The genuine infinite is then the relation of itself to itself as dynamic in which each of the Finite and Infinite is a moment.29 The Finite, as it is in this genuine infinite, is then (SL 150) a more developed form of the old Finite and is called by Hegel das Ideelle, The Idealßo (Since the old Infinite is, as we have seen ((i)) finitized in the qualitative infinite progress, The Ideal is also the Infinite as it is in the genuine infinite.) Hegel calls The Ideal the quality of the Affirmative Infinite. To specify this quality more precisely, the (old) Finite was determined as transition outside itself ((g)). The Ideal is also a transition. It is the transition of the Affirmative Infinite mithin that infinite, or, as Hegel puts it (SL 150), is the „process of becoming" of this infinite. The Ideal can be regarded as having the two moments of Being and Negation (SL 150,158), reflecting the Being of the Infinite (no longer in external transition to the Finite in the qualitative infinite progress) which is only in its intrinsic becoming (Negation). The Ideal will play an important role in our discussion of the natural numbers in (k). A helpful example of HegeTs, illustrating the Finite as The Ideal in the context of consciousness, is discussed below. The sublation of The Ideal as the becoming of the Affirmative Infinite is Being-for-self, Being which is infinite. This is the theme of the next Chapter of 29 The two infinite progress arguments, in which the reuniting of the Finite with itself sublates to give the Infinite and the dynamic uniting of the Finite with the Infinite sublates to give the Affirmative Infinite, illustrate a fundamental principle of Hegelian logic. For example near the end of Essence, the „bad infinite" of cause and effect is sublated in a causality which presupposes itself (SL 564) and even at the advanced logical level of the Concept, the Idea itself is the sublation of the „infinite progress of mediation" (SL 749) of ends and means. 30 Miller, in SL, translates the term das Ideelle as ideal being. However, as a moment in the genuine infinite, it does not have the immediacy of being but rather is intrinsically mediated. Further, as we shall see, for Hegel, the term is to be thought of in terms of becoming rather than of being, and anyway the being of the Affirmative Infinite is that of Being-for-self which is different from (though it includes in sublated form) das Ideelle. For these reasons, it is better to remove any reference to being in translating the term, and we have rendered it as The Ideal.

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WL. Indeed, like all „becoming" sublations, it is a form of Being, the stabilizing of the Affirmative Infinite in its leaving and its returning in the infinite loop (to use Hegel's metaphor for the Affirmative Infinite alluded to above).3i Another way of expressing the above is that Being-for-self is the positing of the unity of the moments Being and Negation of The Ideal.32 Indeed, at the level of complete chapters of WL, Being-for-self is the second negation following up on Dasein which was the first negation to abstract Being. In Being, Being and Negation were in unity together indeterminately. In the first negation, Dasein, the sphere of the Finite, Being and Negation were clearly separated and their unity was only implicit. We saw this, for example, in polarized pairings such as Something-Other and Limitation-Ought but above all in the two infinite progresses in which Negation diremptively forced on the two progresses (in the form of the Finite-Finite or Infinite-Finite). So Being and Negation are in a difference relation with one another in Dasein but in Being-for-self their difference is „posited and equalized" (SL 157), otherness being ideally present as a moment within it. An example that Hegel gives of this is Being-for-self as consciousness, in which an object of which we are conscious („other" to us) is present („equalized") in us ideally in the content of our thought. This is the object as The Ideal defined above, the Finite as it is in the Affirmative Infinite and sublated in Beingfor-self. We now examine briefly the forms that the Affirmative Infinite, The Ideal and Being-for-self assume as determined in the mathematical (string) context.

(k) The Affirmative Infinite, Being-for-self for strings, and natural numbers Turning to the logic of strings, the Affirmative Infinite - the mediation in which each of the moments, the Finite (string) and the Infinite (the potentiality for adjoining * to the string) return to each other - is (qualitative) stringness determined as preserving itself through this *adjunction. On the 31 It is the positing of the coincidence of beginning and end as asserted in the Bhagavad Gita and the poetry of T. S. Eliot. It is also the linking of the first and last sentence-fragments in Finnegans Wake. (This latter Observation is due to Michael Hoffheimer.) 32 Being-for-self, the unity of the moments of Being and Negation of The Ideal posited as the Quality of the Affirmative Infinite, is to be compared with the Something of (a) which expressed the identity of the moments Reality and Negation in the sublation of Quality.

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one hand, it is the complete movement of the Finite-as-string, no longer in the incomplete, unstable infinite progress of (h) but as asserting its stringness through the activity of the Infinite as the above potentiality. On the other hand, it is the complete movement of this Infinite as well, no longer abstractly apart from the string to which it is in a Something-Other relation, but establishing itself through its adjoining action on the string. As we saw in (j), this Finite (and Infinite) as it now is in the Affirmative Infinite is The Ideal. In the string context, The Ideal is the string-in-general, the Quality of stringness. As we saw in (j), the moments of The Ideal are Being and Negation. The Being aspect of The Ideal as string-in-general is the string part, while the Negation aspect is the in-general, the latter being the fluidity indicated by the refusal to be pinned down to any particular string. The Ideal will be specified further in more familiär mathematical terms once we have determined Being-for-self f or strings. As the infinite Being of stringness (the Affirmative Infinite), Being-forself is the sublation of the string-in-general (The Ideal), the positing of the unity of its moments of Being and Negation. In more familiär mathematical terms, it is simply the qualitative determination of the natural number in immediateform. This is represented in its quantitative, „set," form in mathematics using a symbol, usually N. For us, it is, as we have said, only qualitative in character. There is no notion yet of the quantitative - of counting or size or of a set of things.33 The Ideal, the string-in-general, then assumes the mathematical form of the variable. It is usually represented by a symbol such as n. Thus in mathematics, one says: Let nbea natural number. In this Connection it is true that, as we saw above, The Ideal sublated in Being-for-self is the string-in-general and this is not immediately the concept of the familiär natural number. However, recall that the selection of * was arbitrary ((h)) and The Ideal is „the Finite as it is in the true infinite" (SL 150). Accordingly, the sensuous presentation of number as strings of *'s, whose length can be arbitrarily large - infected with the bad infinite drops off and the simple form of The Ideal in Being-for-self is reflected in external s5unbolism by a single symbol, such as n. Number thus is an ideal form, and this ideality is reflected into the strings of *'s which gave rise to the infinite progresses in the simple form of numbers that we customarily use. Thus 1 corresponds to * and 2 to **. In terms of external Symbols, there

33 This notion of Being-for-self is effectively what is being expressed extemally in the fundamental formal System S for elementary arithmetic, the formalization of Peano's axioms (eg. Hatcher in FM 70). (The successor function that appears in these axioms is briefly discussed below.) A merit of this System for mathematical logic is precisely its limited set theoretic commitment.

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is no distinction between, for example, ** and 2 - one could in principal do arithmetic calculations in terms of either normal base 10 numbers or strings of *'s. (The latter would be much less convenient.) However, there is an important distinction between, for example, 2 as the number two and **. The latter is immediate, conceivable without any numerical connotations. The former, however, is mediated by the ideal Finite in Being-for-self, representable in this context by n, a determination of which is 2. So 2 presupposes the variable n which in turn only is as sublated in Being-for-self in the form of N. So a number is not a separately existing thing that we intuit (PLATOnism), nor a „God-given" synthesis of moments in a priori temporal Intuition (Intuitionism), nor sets of certain sets of things in the „world" (logicism) nor „marks" manipulated according to rules in a game (Formalism). Rather a number is the determination of the Finite as sublated in ideal form in the Hegelian category of Being-for-self. We conclude this development by showing how it provides, at the level of Being, the conceptual basis for the successor function n ^ n,

(1)

used in the Peano axioms for the natural numbers. This is the function that takes a natural number to the next one. (So, for example, T = 2 and 2' = 3.) Here, the natural number (The Ideal in Being-for-self as N) is determined in n, n' as difference: it has bifurcated into n and n'. Now Difference is an Essence determination. Since the development of this paper is at the Being level, such difference will not appear in it conceptually, and so n and n', even though numerically different, are conceptually identified in the natural number (as The Ideal).34 With this conceptual Identification, (1) is expressing the Affirmative Infinite as mediated through Being-for-self as N. Indeed n and n' then both stand for the Finite and the symbol Stands for the Infinite, the Operation of going to the next number, corresponding to the Infinite as the potentiality for ^adjunction in string terms ((i)). As written out externally, the sequence (1) reflects part of the qualitative infinite progress which was sublated to give the Affirmative Infinite - the sequence n —>■ n' reads: Finite, Infinite, Finite, and the identification of the extremes gives the Affirmative 34 Of course, the essential difference that is being expressed in (1) is of fundamental importance for the full conceptual content of the successor function, and indeed the Dasein determination of the function, discussed above, is far from doing justice to this content. We note that the conceptual identification of n, n' above is, however, present implicitly in the embarrassing Problem for logicism that for some n, n could conceivahly be the same asn',a possibility that Russell sought to avert by his Axiom of Infinity.

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Infinite. The significance of the implicit mediation of Being-for-self as N lies in the fact that it is the sublated Finite, The Ideal as natural number n, n' determined by this Being, that is involved in the sequence, not the old, unstable Finite of the qualitative infinite progress. We have included this very Brief discussion of the successor function to indicate how the logical development of self-referential sentences grounds (unexpectedly) Basic concepts of the natural numbers and the mathematical logic associated with them. Of course, the foundations of mathematics requires a far more extensive development (including categories of Essence and Concept and indeed new, non-Hegelian categories) which is beyond the scope of this paper.

Appendix: The Translation of „Dasein" The issue of translating into English HegeTs logical term Dasein - especially in the context of its first introduction in WL - is a thorny one. J. H. STIRLING35 translates the term literally as there-being while in their translation EL of the Encyclopedia Logic, GERAETS, SUCHTING and HARRIS, on a majority decision, translate it as being-there or thereness. These neologisms, however, have the spatial connotation of place. Spatial considerations are quantitative in character (as Hegel says at the beginning of his philosophy of nature) and indeed, in WL, are considered by Hegel in Quantity - for example in his treatment of the KANiian antinomies. But Quantity comes after Quality in WL and Dasein is in the earlier section on Quality. Place, with its spatial and hence quantitative, significance, should not be part of Dasein. GERAETS and HARRIS^ö, in their discussion of criticism by J. H. WILKINSON, agree that Dasein should not be connected with a representation of space, and argue against the spatial connotations of being-there and thereness, pointing out that „there" does not necessarily carry a spatial connection, as evinced by non-spatial terms such as „there-by", „there-fore" and „thereof". However, there is no hyphenation in any of these terms in normal English usage, and it seems clear that the meaning of each of these non-spatial terms is not obtained by externally combining the meaning of „there" with that of the other word. In the case of a neologism such as being-there, there is, in contrast, no alternative but to take the meaning of being and of there separately and combine them meaningfully somehow. Since the primary 35 The Secret of Hegel. London 1865. 36 On Translating Hegel's Encyclopedia Logic: A Response. In: Owl of Minerva. 26 (1994), 95-97.)

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significance of „there" is surely spatial, these hyphenated terms ought to be also. J. BURBIDGE37 has rendered Dasein as a being. A problem with this rendering is that a being implies one being among others, and so entails the one and the many. Yet Hegel's treatment of the one and the many comes after Dasein in Fürsichsein (Being-for-self). Translating Dasein by existence or life is unsatisfactory since these concepts occur much later in WL than Dasein, ln response to an objection by HARRIS and GERAETS to his Suggestion that Dasein should be translated by existence, J. H. WILKINSONSS argues that a distinction should be made in English between existence (Dasein) as „connected with" the finite and Existence (Existenz) as what emerges out of Ground. However, this distinction is not valid since this Existence that has emerged out of Ground, for Hegel, applies every bit as much to a finite (though mediated) Dasein such as a book^^ as it does to God. It is important to stress that the meaning of Dasein deepens, becomes more concrete, as it is continually further determined through the accumulating sublations of an advancing Hegelian logic, so that, for example, at the level of Existenz, Dasein, instead of being simply qualitative, as it was in Chapter 2 of WL, is to be thought of in terms of a presupposed Grund and (as GERAETS and HARRIS point out) is used to refer even to the existence of God. Unfortunately, this deepening is not clear from the „contextual" translation SL which does not render Dasein consistently. However, in SL, the populär translation of Dasein as determinate being is offen used. This is open to the GERAETS-HARRIS criticism^o that Dasein is the most completely indeterminate form of finite being. Further, the being that we surely have in mind when using the expression determinate being is positive being, while^i Dasein is the simple oneness of being and nothing with being given no preference. It seems, therefore, better to reserve, as we did in (a) of the second section, the expression determinate being for Hegel's later Dasein category, Reality, the determinate character (Quality) of Dasein as being. It seems to me that even in German, Hegel's choice of the term Dasein in Chapter 2 of WL was not good. A vague, „qualitative" term like the English 37 /. Burbidge: Hegel's conception of logic. In: F. C. Beiser: The Cambridge Companion to Hegel. Cambridge 1993. 38 J. H. Wilkinson: On Translating Sache in Hegel's Texts: A response to a Response. In: Owl of Minerva. 27 (1996), 211-230. 39 SL 490. 40 EL XX. 41 SL 109.

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something, as when, in informal conversation, we are pressed for details of which we are not sure and say that „it was something like that", seems closer, but something is itself an (early) category of Dasein. Maybe neither German nor English has a word for what Hegel means, a word that has the difficult job of ranging in meaning from the almost inconceivably indefinite through to existing things and beyond, and in this paper, I decided to leave Dasein untranslated in the hope of building up its early meaning by extrapolating backwards from the more familiär concepts that Hegel develops out of it rather than opt for an English word which would be misleading.

DIETMAR KÖHLER (BOCHUM)

HEGEL ALS TRANSZENDENTALPHILOSOPH? Zu Heideggers „Phänomenologie"-Deutung von 1942 Hegels bereits seit den ersten Studienjahren im Tübinger Stift einsetzende Auseinandersetzung mit der KANiischen Philosophie ist seit langem Gegenstand der Hegelforschung. Insbesondere durch die in den vergangenen Jahrzehnten geleistete Aufarbeitung der Berner, Prankfurter und frühen Jenaer Periode im Denken Hegels konnte dessen Verhältnis zur Philosophie KANTS entscheidend aufgehellt werden.i Vor allem KANTS praktische Philosophie und innerhalb dieser die Moralitätskonzeption sowie die Postulatenlehre, aber auch die von Hegel positiv gewendete Antinomienlehre und die Teleologie-Konzeption der Kritik der Urteilskraft haben maßgebliche Impulse für die philosophische Entwicklung des jungen Hegel gegeben. Demgegenüber versucht MARTIN HEIDEGGER in den uns inzwischen vorliegenden Vortragsmanuskripten von 19422 einen völlig andersgearteten Zugriff auf das Verhältnis KANT - Hegel: Hegel wird hier als Fortsetzer und Überwinder der theoretischen Philosophie KANTS, d. h. der Transzendentalphilosophie beansprucht. Eine derartige Auslegung kann dann naturgemäß nicht auf die politischen und religiösen Jugendschriften Hegels zurückgreifen, sondern muß sich mit der ersten ,gereifteren' Systemkonzeption, der Phänomenologie des Geistes, auseinandersetzen. Diese wird von HEIDEGGER als eine „Transzendentalphilosophie sui generis" ausgelegt, die sich notwendig aus einer Radikalisierung der KANiischen Fragestellung entwickle. Um zu einer angemessenen Bewertung des HEiDEGGERschen Interpretationsansatzes zu gelangen, ist es zunächst erforderlich, in einem etwas längeren ersten Teil dieses Aufsatzes die Argumentationsstruktur von HEIDEG-

1 Vgl. insbesondere Manfred Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik. Bonn 1986; ders.: Hegels Kritik an Kants Moralprinzip. In: Hegel-Jahrbuch (1987), 235-244; Klaus Düsing: Hegels Metaphysikkritik, dargestellt am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre. In: Denken unterwegs. Philosophie im Kräftefeld sozialen und politischen Engagements. Eestschrift für Heinz Kimmerle zu seinem 60. Hrsg, von Henk Oosterling u. Erans de Jong. Amsterdam: 1990,109-125. 2 Martin Heidegger: Hegel. 1. Die Negativität. 2. Erläuterung der „Einleitung" zu Hegels „Phänomenologie des Geistes". In: Gesamtausgabe. Abt. III: Unveröffentlichte Abhandlungen. Bd 68. Hrsg, von Ingrid Schüßler. Frankfurt/M. 1993. (Im Text zitiert als: GA 68).

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GERS eigenwilliger Phänomenologie-Deutung von 1942 nachzuzeichnen; diese Darstellung wird dann in einem zweiten Schritt mit Hegels eigener Auseinandersetzung mit KANT im Text der Phänomenologie konfrontiert. Schließlich wird im dritten Teil auf die Motive für HEIDEGGERS spezifische Auslegung der Phänomenologie einzugehen sein, um damit zugleich Perspektiven für die Bewertung des HEiDEGGERschen Projekts einer Synthese der Konzeptionen KANTS und Hegels zu eröffnen.

I. Heideggers Interpretation der Einleitung zu Hegels „Phänomenologie des Geistes" von 1942 In dem vorliegenden Text, der vermutlich für Seminarvorträge oder Übungen konzipiert wurde und nur unvollständig überliefert ist, beschränkt sich HEIDEGGER auf eine Interpretation der „Einleitung" zur Phänomenologie des Geistes; offenbar ist er der Ansicht, daß schon mit der Erörterung der „Einleitung" der Gesamtansatz des Werkes deutlich werde. HEIDEGGER kommentiert in 4 Etappen die Abschnitte 1-15 der „Einleitung"; der Kommentar zu Abschnitt 16 ist nur fragmentarisch überliefert. Dem eigentlichen Kommentar ist eine kurze „Vörbetrachtung" über die Stellung der Phänomenologie des Geistes innerhalb der Hegelschen Metaphysik vorangestellt. In der „Vorbetrachtung" geht HEIDEGGER zunächst auf das Titelproblem der Phänomenologie ein; trotz der Benennung als „erster Teil" des Systems der Wissenschaft faßt er den Text als ein eigenständiges und in sich geschlossenes Werk auf, das sogenannte „Phänomenologie-System", welches er dem späteren „Encyklopädie-System" gegenüberstellt. HEIDEGGER behauptet, daß bereits mit dem Erscheinen der Wissenschaß der Logik 1812 das „Phänomenologie-System" aufgegeben worden sei, ja daß sogar schon die reduzierte Funktion der Phänomenologie in Hegels „Nürnberger Propädeutik" darauf verweise, daß jene „in eine Ecke des Systems" verschwinde.3

3 Diese These ließe sich auch durch ireuere Forschungen, etwa von Udo Rameil unterstützen; der „Bruch" wird wohl um 1809, evtl, auch früher anzusetzen sein. Vgl. Udo Rameil: Die Phänomenologie des Geistes in Hegels Nürnberger Propädeutik. In: Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse". Hrsg, von Lothar Eley. Stuttgart-Bad Cannstatt: 1990, 84-130. Zur Konstitution der „Nürnberger Phänomenologie" vgl. Texte zu Hegels Nürnberger Phänomenologie. Hrsg, und erläutert von Udo Rameil, In: Hegel-Studien. 29 (1994), 9-61.

Hegel als Transzendentalphilosoph?

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Grundlegend für HEIDEGGERS Hegel-Deutung - nicht nur für seine Interpretation der Phänomenologie - ist die These, daß Hegel das Absolute so fasse, daß es sich dem menschlichen Erkennen nicht verschließt, sondern sich als der Geist offenbaren will; d. h. es gehört zum Wesen des Absoluten, daß es erscheint bzw. sich darstellt. Für die Phänomenologie bedeutet dies, daß das absolute Wissen sich als erscheinendes Wissen darstellen muß; nur so liegt es dem menschlichen Erkennen offen, welches seinerseits das Sichdarstellen des erscheinenden Absoluten in der Wissenschaft zur Ausführung bringen muß. Die Wissenschaft selbst muß aber gemäß dieser Aufgabe dem Absoluten angemessen, d. h. selbst absolut sein (vgl. GA 68. 73). Die Aufgabe der Hegelschen Metaphysik besteht dann nach HEIDEGGER nicht mehr nur darin, das Sein des Seienden zu denken, sondern „das Seiende in seinem Sein als das Absolute absolut, in absoluter Weise, zu denken" {GA 68. 74). Mit diesem Anspruch konfrontiert HEIDEGGER den ursprünglichen Titel der Phänomenologie als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins", den er mit dem endgültigen Titel „Phänomenologie des Geistes" ohne Bedenken gleichsetzt und als dessen Erläuterung er die gesamte „Einleitung" auffaßt. HEIDEGGER akzentuiert in diesem Zusammenhang die Kontinuität der Hegelschen zur CARTEsischen Bewußtseinsmetaphysik: Bewußtsein ist immer zugleich Selbstbewußtsein, und dieses ist das „Wesen des Seins alles Seienden" {GA 68. 77 f); alles im metaphysischen Sinne Seiende ist im und für das Bewußtsein. Nach dem oben Ausgeführten erhebt sich die zentrale Frage, was in dem ursprünglichen Titel einer „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" die Termini „Erfahrung" und „Erfahrung des Bewußtseins" zu bedeuten haben.4 Im ersten „Hauptstück" seiner Interpretation wendet sich HEIDEGGER den Abschnitten 1-4 der „Einleitung" zu. Keineswegs verwerfe Hegel den KANiischen Anspruch auf eine kritische Selbstprüfung in der Metaphysik, doch dürfe in dieser Selbstprüfung das Erkennen nicht als ein Medium genommen werden, als könnte das Absolute zunächst nicht bei uns sein und ■* Noch in dem späteren Aufsatz: Hegels Begriff der Erfahrung aus dem Aufsatzband Holzwege verweist Heidegger in einer Anmerkung auf diese Interpretation der „Einleitung" als Quelle. Zuvor hatte Heidegger schon im Wintersemester 1930/31 eine bis zum Selbstbewußtseins-Kapitel reichende Phänomenologie-Interpretation vorgetragen, die bereits einige Motive der Auslegung von 1942 vorwegnimmt. Der Vergleich der drei Texte würde jedoch den Umfang dieser Untersuchung bei weitem sprengen. Vgl. Martin Heidegger: Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Gesamtausgabe. Abt. II: Vorlesungen 1923-1944. Bd 32. Hrsg, von Ingtraud Görland. Frankfurt/ M. 2. Aufl. 1988; ders.: Hegels Begriff der Erfahrung. In: Holzwege, Frankfurt/M. 5. Aufl. 1972,105193.

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würde erst durch ein „Werkzeug" dem Erkennen näher gebracht. Diese Vorstellung ist dem Wesen des Absoluten sowie dem des absoluten Erkennens völlig inadäquat. Der Begriff des Absoluten vereint, so HEIDEGGER, das Sein des Seienden im Sinne der ontologischen Metaphysik mit dem höchsten Seienden im Sinne der theologischen Metaphysik; Hegels Metaphysik ist also wie diejenige PLATONS, ARISTOTELES', DESCARTES' oder NIETZSCHES Onto-theo-logie" {GA 68. 81). Nach HEIDEGGER steht eine solche Wissenschaft durchaus nicht in Opposition zu KANTS kritischer, also transzendentaler philosophischer Selbstbesinnung, sondern „sie begreift die ,Kritik' selbst in ihrer Unbedingtheit" {GA 68. 82), da sie bedenkt „daß die höchste Bedachtsamkeit hinsichtlich des Erkennens des Absoluten darin liegt, mit dem im vorhinein ernst zu machen, was hier erkannt ist" (ebd.). Doch mit dem entscheidenden Ansatzpunkt ist noch nicht die Darstellung des Absoluten selbst erreicht; dieses muß vielmehr im Element des Bewußtseins sich durch seine verschiedenen Erscheinungsstufen hindurch vollständig entfalten (in der Sprache HEIDEGGERS sich „befreiend vollbringen" bzw. absolvieren" {GA 68. 83)). Das Erkennen des Absoluten ist somit niemals Mittel, sondern „ein Gang und Weg des Absoluten zu ihm selbst" (ebd.). Schon der Titel des die Abschnitte 5-8 kommentierenden zweiten Hauptstücks gibt die Essenz der HEiDEGGERschen Auslegung dieser 4 Abschnitte wieder: „Das Sichdarstellen des erscheinenden Wissens als Gang in die Wahrheit seines eigenen Wesens" {GA 68. 84). Damit ist gemeint, daß sich das natürliche Bewußtsein nicht in Analogie zu BONAVENTURAS Iterinarium mentis in Deum zum absoluten Geist /unbewegt, sondern das Absolute steht bereits am Anfang der Bewegung, freilich in seiner äußersten Entäußerung, der sinnlichen Gewißheit. Indem es die „Wahrheit seines vollständigen Erscheinens" „erwandert" {GA 68. 84), läßt es Schritt für Schritt die jeweiligen Wesensgestalten des Bewußtseins als unwahre, weil noch nicht vollständig entfaltete zurück, bleibt aber notwendig auf diese bezogen, indem es sie „aufhebt". Hinsichtlich des Begriffs der „Aufhebung" unterscheidet HEIDEGGER die drei Bedeutungen „Aufnehmen" (tollere), „Aufbewahren" (conservare) und „Hinaufheben" (elevare) {GA 68. 88 f), die er mit der dialektischen Bewegung von Position und Negation - Thesis, Antithesis, Synthesis - parallelisiert. Da für HEIDEGGER der Weg des Bewußtseins durch seine verschiedenen Gestalten als ein „Sichvollbringen des Absoluten" aufgefaßt werden muß, wird deutlich, daß von den drei Modi der Aufhebung bzw. der Negation die Elevation bzw. die Synthesis die leitende Funktion innehaben muß, denn nur sie kann den Leitfaden abgeben für die vollständige Entfaltung der zu durchlaufenden Gestalten mittels der bestimmten Negation. Diese hat zugleich den Charakter der Prüfung, insofern

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beim Fortgang von niederen zu höheren Stufen des erscheinenden Wissen das Niedere aus dem Höheren geschieden und unterschieden wird. Das Dritte „Hauptstück", welches die Abschnitte 9-13 der „Einleitung" zusammenfaßt, untersucht den Maßstab und das Wesen einer solchen „Prüfung". Entscheidend sind für HEIDEGGER die Hegelsche Formulierung aus dem vorangegangenen Abschnitt, daß das Bewußtsein sich selbst sein „Begriff" sei, wie der aus Abschnitt 12 zitierte Satz: „Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst.. ."5 Auch für Hegel macht nach HEIDEGGER das Selbstbewußtsein die Bedingung der Möglichkeit von Bewußtseinsgegenständen hinsichtlich ihrer Gegenständlichkeit aus, d. h. auch Hegel faßt das Bewußtsein im KANiischen Sinne transzendental. Somit ist „die ursprüngliche Einheit des Selbstbewußtseins und seines einigenden Vorstellens ... der im Wesen des Selbstbewußtseins gegebene Maßstab für das Bewußte als solches" (GA 68. 93). Hegel gehe jedoch in einem zweifachen Sinne über KANT hinaus: Zum einen bleibt er nicht beim menschlichen (endlichen) Selbstbewußtsein stehen, „sondern macht auch das Selbstbewußtsein noch ausdrücklich zum Gegenstand seiner selbst und läßt so in ihm selbst die ursprünglicheren Maßstäbe sich entfalten" (ebd.). Damit ist aber bereits die zweite gravierende Abweichung von der KANiischen Position angezeigt: Sofern das Bewußtsein sich seinen Maßstab selbst gibt, ist es maßstabbildend. Dies bedeutet, daß im Zuge der Elevation des natürlichen Bewußtseins zum absoluten Wissen sich auch der Maßstab selbst Schritt für Schritt modifiziert, bis schließlich das Absolute „als die Vollständigkeit des Wesens des Bewußtseins erscheint" (ebd.). Das Bewußtsein verhält sich dabei sowohl zu seinem Gegenstand, dem Bewußten, Zu-Messenden, als auch zu sich selbst, dem Messenden: Als diese zwiefältige Vergleichung des Zu-Messenden mit seinem Maßstab ist das Bewußtsein selbst seinem Wesen nach die Prüfung, eben „eine Auseinandersetzung des Bewußtseins mit sich selbst“ (GA 68.94). Wenn das Erkennen des Absoluten nur der „Strahl ist, als welcher das Absolute uns berührt", wie HEIDEGGER im Anschluß an Hegel formuliert (GA 68. 90 f), so wird sogleich deutlich, daß dieser Begriff des „Erkennens" ohne weiteres mit dem der „Erfahrung" in Einklang zu bringen ist, da "Erfahrung,, immer etwas Passives im Sinne des Erleidens oder „Berührt-Werdens" einschließt. Erfahrung kann sich gemäß dem hier entfalteten Gegenstandsbereich, d. h. dem Sichselbstdarstellen des Absoluten, nicht auf ontische Erfahrungsgegenstände (z. B. Einzelgegenstände: Tisch, Stuhl etc.) be5 Hegels Phänomenologie des Geistes wird zitiert nach der historisch-kritischen Edition im Band 9 der Gesammelten Werke; im folgenden zitiert als GW9, hier GW 9.59.

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ziehen, sondern sie ist „ontologisch, oder KANiisch gesprochen: transzendentale Erfahrung" {GA 68. 102), derzufolge wir z. B. Naturvorgänge immer nach dem Kausalitätsprinzip aufzufassen suchen. Als die mit dem Schmerz der Enttäuschung über die als unwahr zurückzulassenden Gestalten des Bewußtseins verbundene „Arbeit des Begriffes" ist die Erfahrung das „Sichherausarbeiten des Bewußtseins in die unbedingte Vollständigkeit der Wahrheit seines Sichselbstbegreifens" (GA 68. 103). So gewendet ist aber die Erfahrung als Prüfung nicht nur und nicht primär eine Art von Erkenntnis, vielmehr ist sie - wie HEIDEGGER formuliert - ein „Sein", und zwar genauer das „Sein des Absoluten, dessen Wesen selbst im unbedingten Sichselbsterscheinen beruht" (ebd.). Insofern der Begriff der Erfahrung hier notwendig mit dem der Elevation verknüpft ist, erlangt er über seine transzendentale Fassung hinaus eine spekulativ-metaphysische Bedeutung. Mit seiner Interpretation der Abschnitte 14 und 15 der „Einleitung" im IV. Hauptstück vertieft HEIDEGGER die Frage nach dem Wesen der Erfahrung des Bewußtseins, indem er zunächst den Hegelschen Begriff der Erfahrung von dem ARiSTOTEÜschen im Sinne einer Verknüpfung von zwei Erscheinungen nach dem Schema des „Wenn ..., so ..." (z. B. „Wenn die Sonne scheint, wird der Stein warm.") wie auch von dem KANiischen Erfahrungsbegriff im Sinne einer Vorstellung der Ursache-Wirkung-Synthesis (z. B. „Die Sonne macht, daß der Stein warm wird.") deutlich abhebt. Ausgehend von Hegels eigener Definition, nach der „Erfahrung" das Entspringen des neuen wahren Gegenstandes als Folge einer dialektischen Bewegung des Bewußtseins meint (GW 9. 60), hebt HEIDEGGER hervor, daß der neue wahre Gegenstand die dem Bewußtsein offenkundig gewordene Gegenständlichkeit des Gegenstandes als eines solchen, keineswegs aber ein einzelnes vorfindliches neues Seiendes bedeutet. Der neue Gegenstand ergibt sich aus der selbstreflexiven Prüfung des Bewußtseins, welches nicht nur das „An-sich-sein", sondern auch das „Für-das-Bewußtsein-sein" des Gegenstandes bedenkt. Wenn „Erfahrung" bei Hegel für HEIDEGGER das Erfassen der Gegenständlichkeit der Gegenstände {GA 68,111 f) und zwar im und für das Selbstbewußtsein meint, so ist sie gleichzusetzen mit der transzendentalen oder ontologischen Erkenntnis im Sinne KANTS, die es mit der Frage nach dem Sein des Seienden bzw. nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen der Erfahrung zu tun hat. Der neue, „transzendentale" Gegenstand ist demnach als die ausdrücklich erfaßte Gegenständlichkeit nichts anderes als das „Selbstbewußtsein als solches" {GA 68. 113). Der Titel „Erfahrung des Bewußtseins" bedeutet somit ein Dreifaches: 1. „Das Bewußtsein ist das in dieser Erfahrung Erfah-

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rene, nämlich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes." 2. „Das Bewußtsein ist aber zugleich das Erfahrende, die Erfahrung Ausübende." 3. „ ... das Bewußtsein ist daher jenes, dem das Erfahrene und das Erfahren angehört, dergestalt, daß das Bewußtsein selbst diese Erfahrung „ist"." (ebd.) Die Gegenständlichkeit selbst als Bedingung der Möglichkeit von Gegenständen der Erfahrung könnte nun, so HEIDEGGER, auch im KANiischen Sinne durchaus selbst wiederum als Gegenstand der Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Erkenntnis aufgefaßt werden. Dann aber wäre auch nach der Gegenständlichkeit dieses neuen, transzendentalen Gegenstandes zu fragen, d. h. nach den Bedingungen der Bedingungen der Möglichkeit. Die Erage könnte nun nicht mehr beim endlichen menschlichen Erkennen bzw. bei dem ersten neuen Gegenstand, eben der Gegenständlichkeit der Gegenstände der ontischen Erkenntnis der mathematischen Naturwissenschaft im Sinne KANTS Halt machen, sondern sie müßte weiter getrieben werden bis zu einem „ersten alles bedingenden und nicht mehr bedingten Unbedingten" (ebd.). HEIDEGGER gesteht ohne Zögern zu, daß ein solches Fragen weit über KANTS eigene Fragestellung hinausweise, jedoch „nur auf der von KANT selbst allererst eröffneten Bahn" (ebd.). Der von Hegel in Anspruch genommene Begriff der „Erfahrung" als - KANiisch gesprochen - transzendentale Erfahrung weist damit hinaus über alles Bedingte zum unendlichen Un-bedingten, von dem her auch der ganze Bedingniszusammenhang" {GA 68. 115) erst in seiner Wahrheit erscheinen kann; erst vom „absoluten Wissen" aus sind auch die übrigen Gestalten einer „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" angemessen zu begreifen. „Erfahrung" steht dann für das „unbedingt transzendentale Erkennen", welches bereits mit dem „Hinaussehen in das Unbedingte" beginnen muß und dieses nicht erst nachträglich KANTS transzendentaler Fragestellung nur anfügen kann. Die unbedingte transzendentale Erfahrung des Bewußtseins muß zudem notwendig eine systematische sein, sofern die durch die „Umkehrung des Bewußtseins" entstandenen neuen Gegenstände - (vielleicht besser: die neuen „Ebenen von Gegenständlichkeit") - ihre Wahrheit erst mit der vollständigen Entfaltung ihres Erscheinens erlangen. „Diese Vollständigkeit des Erscheinens ruht jedoch ursprünglich im unbedingten, absoluten Selbstbewußtsein. Das absolute Bewußtsein „ist" die Wahrheit des wahren Gegenstandes." {GA 68.120) Erst im „System", dem „unbedingt(en) gewissen(en) Zusammenhang der Bedingungen in der Einheit des Unbedingten" {GA 68. 120 f), fügt sich die Mannigfaltigkeit der Bedingungen in die Ordnung einer „Reihe". Soll diese „Reihe" vollständig durchlaufen werden, so ist naturgemäß von dem Bedingtesten auszugehen, von demjenigen

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welches von dem unbedingten, absoluten Selbstbewußtsein am weitesten entfernt ist, eben dem einfachen, unmittelbaren Sein der sinnlichen Gewißheit. Auch dieses ist allerdings eine Form von Gegenständlichkeit, d. h. von Bedingung, insofern ist auch die sinnliche Gewißheit bereits dem Absoluten zugehörig. Die in der „Einleitung" von Hegel als „unsere Zutat" beschriebene Umkehrung des Bewußtseins besagt demzufolge zweierlei: 1. Die „Drehung des Gegenstandes in seine Gegenständlichkeit" (GA 68.123), in das Wie seines Gegebenseins. 2. Die für die vollständige systematische Entfaltung des Absoluten erforderliche Entäußerung in seine ärmste und leerste Gestalt, von der her erst der „Gang" als „Rückkehr" möglich wird. Durch diese „Zutat" wird allein das für den Leser der Phänomenologie geforderte „reine Zusehen" möglich, ein gleichzeitiges „Sichzeigen und Entspringenlassen" (GA 68. 124), für dessen aktiv-passiven Doppelcharakter HEIDEGGER wiederum einen Vorläufer in KANTS „transzendentaler Einbildungskraft" zu erkennen meint. Die hier beschriebene Umkehrung des Bewußtseins macht somit nach HEIDEGGER das „Wesen der,Erfahrung des Bewußtseins'" aus (ebd.); die Erfahrung selbst ist nichts anderes als „das transzendentalsystematische Aufzeigen, das den „neuen wahren Gegenstand" entspringen läßt", (ebd.) Die Bezeichnung „transzendental" in HEIDEGGERS komprimierter Eormel bedeutet, daß die Gegenständlichkeit als solche thematisiert wird; systematisch ist dieses Auf zeigen, insofern die verschiedenen „Ebenen von Gegenständlichkeit" in ihrem Zusammenhang im absoluten Bewußtsein vollständig dargestellt werden. Der „neue wahre Gegenstand" entsteht, indem das Absolute von seiner äußersten Entäußerung in verschiedenen „Etappen" zu sich selbst zurückkehrt, d. h. die Wahrheit eines jeden Gegenstandes beruht allein in seiner Zugehörigkeit zum Absoluten. Damit ist der entscheidende Punkt in HEIDEGGERS Argumentation erreicht: Die Erfahrung als „transzendental-systematischer Gang" ist der Weg des sichselbstdarstellenden Bewußtseins, in HEIDEGGERS Eormulierung: „Der Weg ist das Bewußtsein selbst als Entstehung seiner Wahrheit." (GA 68. 125) Die von Hegel häufig gebrauchte Unterscheidung zwischen dem „für uns-Sein" des Gegenstandes und seinem „für das BewußtseinSein", dem „für es", bereitet nunmehr der HEiDEGGERschen Auslegung keine weiteren Probleme. „Pür uns" bedeutet für diejenigen, welche die transzendentale Umkehrung des Bewußtseins bereits vollzogen haben, die „transzendental-systematisch Erfahrenden" (GA 68. 126). ,„,Eür es" aber meint das Bewußtsein, das als Selbstbewußtsein geschichtlich seine Gestalten frei entfaltet und im Gedächtnis aufbewahrt und sich so in der Eülle seines Inhalts weiß", d. h. für den „absoluten Geist in seiner Geschichte"

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(ebd.). (Es entgeht HEIDEGGER an dieser Stelle offenbar völlig, daß Hegel sich zwischen verschiedenen Textebenen - ich nenne sie „Metatext" und „Beispieltext" - hin- und herbewegt; das „für es" gilt gerade für das bornierte, natürliche Bewußtsein, welches sich immer wieder der Täuschung hingibt und enttäuscht wird, indem es an einer bestimmten Gestalt des Bewußtseins festhalten will und diese dann als „unwahre", weil zu einseitig gefaßte aufgeben muß. - Ein weiterer, gravierender Fehler unterläuft HEIDEGGER, wenn er unterstellt, Hegel fasse die Sprache, welche das Allgemeine aussagt, so auf, als bewege sie sich in Gegenrichtung zu dem aus seiner Entäußerung zu sich zurückkehrenden Geist. Nach Hegel aber ist die Sprache geradezu das „Dasein des Geistes". (Vgl. das von HEIDEGGER offenbar nicht zur Kenntnis genommene Kap. VI, C, c)) Am Ende des VI Hauptstücks hebt HEIDEGGER noch einmal die inhaltliche Übereinstimmung der beiden Titel „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins" und „Phänomenologie des Geistes" hervor, denn das Bewußtsein sei ja gerade das erscheinende Wissen, das absolute Sichselbstwissen aber ist der Geist. Abschließend faßt HEIDEGGER in 9 „Leitsätzen" zu Hegels Begriff der Erfahrung dessen Wesensmomente wiederholend zusammen. Das als Kommentar zu Abschnitt 16 der „Einleitung" geplante V Hauptstück ist nur in 18 stichwortartigen Entwürfen überliefert, die im wesentlichen Resultate der vorausgegangenen Erörterungen wiederholen. Die Phänomenologie als ganze wird gefaßt als „die begriffene Geschichte des erscheinenden Absoluten" (GA 68. 137). Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem 16. Abschnitt der „Einleitung", vor allem - wie zu erwarten wäre - mit dem Schlußsatz der Einleitung ist nicht auszumachen; statt dessen geht HEIDEGGER auf das Verhältnis der Phänomenologie zur Logik sowie grundsätzlich auf die Rolle Hegels in der abendländischen Metaphysikgeschichte ein. Von Belang ist in diesem Zusammenhang der in seiner Bedeutung wohl nur unter Berücksichtigung von HEIDEGGERS eigenem „Denkweg" aufzuhellende Punkt 15: „Die Metaphysik SCHELLINGS und Hegels als der durch KANTS Transzendentalphilosophie geprägte (?) und wesentlich geklärte Rückgang zu LEIBNIZ, SO zwar, daß dessen Metaphysik jetzt als im transzendental-ontischen Sinne metaphysisch begriffen wird." (GA 68. 145) (In seiner LEIBNIZ-Vorlesung 1928 sieht sich HEIDEGGER zum ersten Mal vor das Problem einer „Metontologie" gestellt, die das Seiende im Ganzen zu bedenken hat.) Darüber hinaus scheint HEIDEGGER in diesem V Hauptstück - wenngleich nur in spärlichen Anmerkungen - zu bedenken, in welcher Weise Hegel bzw. die Metaphysik des Deutschen Idealismus überhaupt „Gesprächs-

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Partner" seines eigenen Philosophierens bleiben können. Schon der Schlußsatz des IV Hauptstücks verweist auf den „Schmerz der Entzweiung" mit der absoluten Metaphysik {GA 68. 136) und unter Punkt 8 der Entwürfe heißt es in einem Zusatz: „Noch ganz anders bedachtsam ist das seynsgeschichtliche Denken, von dem aus erst das Wesen der absoluten Metaphysik aufleuchtet." (GA 68.141). Welchen Sinn man diesem Verweis abgewinnen muß, darüber läßt uns allerdings der vorliegende Text/ür sich allein betrachtet vollständig im Dunkeln.

II. Hegels Auseinandersetzung mit Kant in der „Phänomenologie" Um über die Angemessenheit oder Unangemessenheit der HEiDEGGERschen Hegel-Auslegung zu entscheiden, scheint es zunächst dienlich, sich Hegels Auseinandersetzung mit KANT, SO wie sie sich in der Phänomenologie darstellt, zumindest in ihren Grundzügen ins Gedächtnis zu rufen. Es wird sich dabei sehr rasch ergeben, daß Hegel wohl kaum als ein „quasi über sich selbst hinausgewachsener KANiianer" gelten kann.

Eine positive Anknüpfung an KANT findet sich zunächst in der Vorrede der Phänomenologie, wo Hegel auf die „Triplicität" in KANTS Kategorientafel, also die Herleitung der jeweils dritten Kategorie aus den beiden vorangegangenen, verweist; dieses Schema sei bei KANT jedoch noch „todt" und „unbegriffen" (GW 9. 36), da bei KANT die Begriffe noch nicht in einer dialektischen Bewegung miteinander verknüpft sind. Wenige Seiten später aber setzt bereits die Kritik ein an der von ARISTOTELES und KANT proklamierten Trennung von Dialektik und Beweis, da so „der Begriff des philosophischen Beweises" verloren gehe (GW 9. 45). In der Einleitung wird KANT der „natürlichen Vorstellung" zugewiesen, die das Erkennen nur als „Medium" bzw. „Werkzeug" auffasse; die von KANT betonte Endlichkeit des Erkennens muß Hegel für die Wissenschaft als Erkenntnis des Absoluten zurückweisen. Während für Hegel „das Absolute allein wahr" und das „Wahre allein absolut" ist (GW 9. 54), muß KANT den Begriff der Wahrheit notwendig mit dem des Apriori verknüpfen und damit mit den Strukturen unserer (endlichen) Subjektivität. Auch KANTS „rhapsodische" Herleitung der Kategorien aus den Urteilsformen wird von Hegel scharf kritisiert (GW9. 134). Das Zentrum der Hegelschen Kritik aber bildet KANTS Einschränkung der Erkenntnis auf die Dinge als Erscheinungen sowie die propagierte Unerkennbarkeit der Dinge an sich und in diesem Zusammenhang die Entgegensetzung der KANiischen Einheit der Apperzeption gegenüber dem Ding an sich (vgl. GW 9. 89,102,137).

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Den Schwerpunkt von Hegels Auseinandersetzung mit KANT in der Phänomenologie bildet jedoch keineswegs KANIS theoretische Philosophie, sondern dessen Moralphilosophie; diese ist der zum Teil mit bitterer Ironie „gewürzten" Polemik Hegels ausgesetzt. Zunächst wird die bloß „formale Allgemeinheit" des kategorischen Imperativs bemängelt, dann die KANTIsche Auffassung, daß nur die Absicht einer Handlung als Kriterium für ihre Beurteilung dienen könne (KANTS „guter Wille") zurückgewiesen, da sich diese bloß abstrakte Konzeption einer Moralphilosophie für die konkrete Verwirklichung der Sittlichkeit als völlig unzulänglich erweise. Schließlich wird in den Abschnitten VI, C, a und b über „Die Moralische Weltanschauung" und „Die Verstellung" die gesamte Postulatenlehre Ziel der Hegelschen Polemik, indem das moralische Bewußtsein auf der Ebene der „moralischen Weltanschauung" sich unablässig in Widersprüche verstrickt, die sämtlich darauf zurückgehen, daß das Bewußtsein Moralität und Pflicht in ein von ihm selbst verschiedenes Wesen setzt. KANTS Pflichtbegriff im Sinne der Achtung vor dem moralischen Gesetz entpuppt sich so als eine Absurdität. Hegel verfehlt hier mit seiner Kritik sicherlich vollends die KANiische Konzeption, selbst wenn er im einzelnen relevante Probleme gesehen haben mag.6 Bereits dies könnte ein erster Hinweis darauf sein, daß Hegel sich überhaupt nicht intensiv genug um eine Ausdeutung der KANiischen Konzeption bemüht, geschweige denn diese fortführen möchte; die KANTIsche Moralphilosophie dient vielmehr nur als ein Übergangsstadium für die Entwicklung des Selbstbewußtseins zum Standpunkt des Gewissens. Wenn Hegel wirklich von der KANTischen Position - und d. h. gemäß HEIDEGGERS Auslegung vom Ansatz der Kritik der reinen Vernunft ausginge, müßte er sich doch zu allererst die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori vorlegen und deren Bedingungen untersuchen. Sodann bleibt problematisch, mit welchem Argument er die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung wieder einebnen und „Sein" gegen KANT wieder als reales Prädikat fassen könnte. Schließlich ergibt sich auch die radikale Endlichkeit des Erkennens bei KANT aus den grundlegendsten Motiven der Kritik, etwa der notwendigen Verknüpfung von Anschauung -

6 Eine detaillierte Gegenüberstellung der Kantischen praktischen Philosophie, insbesondere der Postulatenlehre, und ihrer UmdeuUmg in Hegels Kritik wäre freilich Gegenstand einer eigenen Abhandlung und muß an dieser Stelle somit unterbleiben. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Hegel von vornherein die Unterscheidung Kants zwischen der konstitutiven und der regulativen Verwendung von Begriffen völlig einebnet und zudem auch den Postulaten im einzelnen einen spezifischen neuen Sinn gibt; nur so kann Hegel die der Kantischen Konzeption angelastete Kette von Widersprüchen konstruieren (vgl. GW 9.324-340).

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und Begriff, der Diskursivität des Denkens etc., so daß man die Position der Kritik doch wohl vollständig und nicht nur partiell zurücklassen müßte, wenn man wie Hegel eine wissenschaftliche Erkenntnis des Absoluten etablieren wollte. Die bedeutet indes nicht, daß Hegels Konzeption nicht wichtige Impulse auch von KANTS theoretischer Philosophie empfangen hätte; sie selbst entfaltet sich jedoch zumindest seit der systematischen Konzeption der Phänomenologie auf vollkommen eigenständigen Bahnen und in ganz unkantischer Manier, was nicht zuletzt auch an der - bis auf die Kritik an der Postulatenlehre - sehr spärlichen Auseinandersetzung Hegels mit KANT im Text der Phänomenologie zu ersehen ist. HEIDEGGERS lineare Verknüpfung der Hegelschen Phänomenologie mit der KANTischen Kritik entbehrt somit nach meiner Überzeugung innerhalb der Konzeption der Phänomenologie jeder Grundlage.^

III. Motive für Heideggers eigenwillige Hegel-Auslegung Sofern die eben geschilderte grundlegende sachliche Divergenz zwischen KANTS Transzendentalphilosophie auf der einen und Hegels Phänomenologie-Konzeption auf der anderen Seite zutrifft, erhebt sich naturgemäß die Frage, wie HEIDEGGER überhaupt zu einer derartigen Phänomenologie-lnterpretation im Sinne einer KANT-Hegel-Synthese gelangen konnte. Einen ersten Hinweis für die Beantwortung dieser Frage gibt Hegels, von HEIDEGGER zumindest ab der zweiten Hälfte der 20er Jahre intensiver rezipierte, Differenz-Schritt von 1801. In dieser verweist Hegel ausdrücklich auf KANTS transzendentale Deduktion der Kategorien" in der Kritik der reinen Vernunft, die bereits das „ächte Princip der Spekulation" (GW 4. 6) liefere, welches dann allerdings erst von FICHTE in seiner eigentlichen Bedeutung erfaßt und herausgearbeitet worden sei. Der Kern dieses Prinzips liegt in der Identität von Subjekt und Objekt, die bei KANT jedoch allein auf „neun reine Denkthätigkeiten" (ebd.) als Kategorien eingeschränkt sei. Durch KANTS philosophische Reflexion, d. h. die Behandlung der Vernunft mit dem Verstand verschwindet diese Identität wieder, so daß es Aufgabe der idealistischen Philosophie (FICHTE, SCHELLING, Hegel selbst) bleibe, dieses Prinzip für die Grundlegung einer wirklichen spekulativen Philosophie nutzbar zu machen. In der Differenz-Schritt glaubt Hegel also durchaus noch, in ei^ Zur Kritik an Heideggers Auslegung der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes vgl. auch Otto Pöggeler: Hegel und Heidegger über Negativität. In: Hegel-Studien. 30 (1995), 145-166; ders.: Hölderlin, Schelling und Hegel bei Heidegger. In: Hegel-Studien. 28 (1993), 327-372.

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ner positiven Weise an KANTS Transzendentalphilosophie anschließen zu können, so daß seine eigene Konzeption sich als eine konsequente Weiterentwicklung des KANiischen Ansatzes verstehen könnte. Hier wäre somit ein Anknüpfungspunkt für HEIDEGGERS Phänomenologie-Auslegung gegeben, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß man die sachlichen Divergenzen zwischen der Differenz-Schrift und der wohl erst 1805/06 endgültig ausgereiften Phänomenologie-Konzeptiorv außer Betracht läßt. Wichtiger als diese quasi „rezeptionsgeschichtlichen" Motive für HEIDEGGERS eigenwillige Hegel-Deutung scheinen mir jedoch sachliche Beweggründe, die aus seiner eigenen philosophischen Entwicklung etwa von 1928 an resultieren. Von 1925/26 bis 1929 hatte HEIDEGGER immer wieder insbesondere KANT bemüht als Fürsprecher für die von ihm gestellte „Seinsfrage", die Frage nach dem Sein des Seienden bzw. auch nach dem Sinn von Sein. KANTS Transzendentalphilosophie wurde von HEIDEGGER beansprucht als Vorform seiner eigenen „Fundamentalontologie", wobei unter anderem der KANiische Begriff des „Transzendentalen" ohne Skrupel in den Begriff der „Transzendenz" innerhalb der HEiDEGGERschen „Daseinsanalyse" überführt wurde. Keineswegs betätigt sich HEIDEGGER als „KANT-Exeget", sondern KANT wird - wie später u. a. Hegel - für die Ausarbeitung der eigenen philosophischen Konzeption als „Vörbereiter" und „Weggefährte" beansprucht. ln HEIDEGGERS Vorlesung vom Sommer 1928 modifiziert sich der Ansatz von Sein und Zeit dergestalt, daß zu der Frage nach dem Sein des Seienden - KANiisch gesprochen der Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung - die Frage nach dem Seienden im Ganzen tritt; der Fundamentalontologie muß eine „Metontologie" (in Anlehnung an SCHELER) zur Seite gestellt werden. Nach dieser Problemstellung, welche 1928 nur kurz erwähnt, ab dem Winter 1929/30 immer mehr ausgeweitet wird und HEIDEGGERS Denken bis hin zu der vorliegenden Vorlesung begleitet, geht es in der Philosophie nicht allein um den Sinn von Sein, sondern um dessen Wahrheits- und Ereignischarakter, schließlich - wie in der Hegel-Interpretation von 1942 - um die „Seynsgeschichte". Der Schwerpunkt der Analyse verlagert sich demgemäß vom endlichen Erkenntnissubjekt bei KANT, dem „Dasein" in Sein und Zeit, zum unendlichen Erkenntnisgegenstand, dem Absoluten bzw. der „Seynsgeschichte". Damit aber rükken die Frage nach dem Seienden in seiner Ganzheit im Sinne der traditionellen rationalen Kosmologie wie die Frage nach dem höchsten Seienden im Sinne der rationalen Theologie wieder stärker in den Gesichtskreis von HEIDEGGERS Philosophieren. Jedoch sind die jetzt zu behandelnden Probleme nur schwerlich auf dem Boden der KANiischen Philosophie zu erörtern;

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es müssen andere philosophische „Weggefährten" gefunden werden. So ist es meiner Ansicht nach kein Zufall, daß mit der Aufgabe des Ansatzes von Sein und Zeit und nach Abschluß des „KANxbuches" HEIDEGGER 1929 eine Vorlesung über die Philosophie des Deutschen Idealismus hält.® Gerade die Frage nach dem Absoluten legt auch die Auseinandersetzung mit Hegel nahe, doch selbstverständlich sind auch HEIDEGGERS intensive Beschäftigung mit HöLDERLIN und SCHELLING - in eingeschränkter Weise auch mit FICHTE - kennzeichnend für die „Wende" auf seinem „Denkweg" in den 30er Jahren. HEIDEGGERS Interpretation der „Einleitung" zu Hegels Phänomenologie erweist sich m. E. als im wesentlichen getragen von seiner KANT-Interpretation, so daß Hegel zum Eortsetzer und Überwinder der KANiischen Transzendentalphilosophie wird und gerade in dieser Eigenschaft philosophischer „Gesprächspartner" HEIDEGGERS bleiben kann zu einer Zeit, in der KANT selbst eben diese Rolle einbüßt. Im Zuge dieser Darstellung der HEiDEGGERschen Phänomenologie-Interpretation von 1942 mag einerseits deutlich geworden sein, daß HEIDEGGER zu Unrecht Hegel als Eortführer der KANTischen Transzendentalphilosophie proklamiert und auf diese Weise das eigentliche Anliegen wie auch den strukturellen Aufbau der Phänomenologie notwendig verfehlen muß. Andererseits können wohl auch einige aus der immanenten philosophischen Entwicklung HEIDEGGERS sich ergebende Gründe aufgewiesen werden, warum und wie HEIDEGGER ZU dieser - am Ende verfehlten - HegelDeutung gelangen konnte. Die Erage, ob und in welcher Hinsicht Hegel als Vollender und Überwinder gerade auch der theoretischen Philosophie KANTS gelten kann, mag dennoch keineswegs im vorhinein als unsinnig oder erledigt abgetan werden. Sie dürfte nur nicht so voreilig entschieden werden wie bei HEIDEGGER, sondern müßte den spezifischen philosophischen Intentionen KANTS und Hegels folgend beide Konzeptionen zunächst immanent interpretatorisch aufarbeiten und dann vergleichend gegenüberstellen, um zu einer angemesseneren Bewertung zu gelangen.

8 Martin Heidegger: Der Deutsche Idealismus. (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, ln: Gesamtausgabe. Abt. 11: Vorlesungen 1919-1944. Bd 28. Hrsg, von Claudius Strube. Frankfurt/M. 1997,

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HEGELS AUFFASSUNG DER VERSÖHNUNG UND DIE METAPHORIK DER „VORREDE" DER RECHTSPHILOSOPHIE - RISSE AM SYSTEM? „Der Gehalt ist derselbe, aber wie HOMER von einigen Dingen sagt, daß sie zwei Namen haben, den einen in der Sprache der Götter, den anderen in der Sprache der übertätigen Menschen, so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen..." G. W. F. Hegel

1. Das Problem der Versöhnung und die hermeneu tische Relevanz der poetischen Redeweise in der „Vorrede" der Rechtsphilosophie Die Bedeutung von ,Versöhnung' bei Hegel wird im folgenden thematisiert, und zwar in dem durch das Motto angezeigten Sinn: die Versöhnung stellt einen jener Ausdrücke dar, die nicht nur zur philosophisch-begrifflichen Sprache Hegels im gewöhnlichen Sinne gehören, sondern bei deren Anwendung lassen sich auch Züge der sog. poetischen Redeweise erkennen. Gerade Hegels Rechtsphilosophie von 1820, oder genauer die „Vorrede" erschließt das wichtigste Anwendungsgebiet dieses Gebrauchs. Wie HOMER hat auch Hegel hier denselben Gehalt, die Versöhnung, in zwei Sprachen ausgedrückt: in der Sprache „des Gefühls, der Vorstellung und des Verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens" und dann auch in der Sprache „des konkreten Begriffs".! Es wird im folgenden versucht, diese Dualität ausführlich darzustellen und zu erläutern. Zuvor ist es jedoch unumgängHch, einen kurzen Blick auf die Wirkungsgeschichte des Ausdrucks ,Versöhnung' zu werfen. ,Versöhnung' ist ein Ausdruck bei Hegel, der die zum Gemeinplatz gewordene These der Akkomodation des Berliner Philosophen an den preußischen Staat 1 Einen anderen Aspekt der Problematik von Begriff und Vorstellung hat AngeUca Nuzzo behandelt, die dabei die Notwendigkeit einer Verdoppelung der Methode bei Hegel aufzeigt. Vgl. AngeUca Nuzzo: „Begriff" und „Vorstellung" zwischen Logik und Realphilosophie bei Hegel. In; HegelStudien. 25 (1990), 45^9.

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ZU rechtfertigen scheint. Wie bekannt, stammt dieser Ausdruck aus der „Vorrede" der Rechtsphilosophie von 1820; aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen und ohne seine ursprüngliche(n) Bedeutung(en), hat er eine ungeheuer große Karriere gemacht und viel dazu beigetragen, ein bis heute geläufiges Vorurteil gegen Hegels Philosophie zu verbreiten und zu bestätigen. Ohne diese vielfach gedeutete Problematik ausführlich zu behandeln^, ist darauf hinzuweisen, daß alle Vertreter der Auffassung eines konservativ akkomodierten Hegels im folgenden übereinstimmen: die Versöhnung ist ein Begriff, der nicht Hegels theoretisch-politische Position, sondern vor allem seine Stellungnahme zu aktuellen politischen Fragen bezeichnet. Wenn man aber zum Text, zu den Passagen der „Vorrede" selbst zurückkehrt, tauchen eine Menge von Fragen und Problemen auf, die mit der erwähnten Interpretationslinie schwer in Einklang gebracht werden können. Es handelt sich nämlich darum, daß die Versöhnungsproblematik auf eine vielseitige und tiefgreifende Weise in der Hegelschen Philosophie verwurzelt ist; folglich hat sie andere Bedeutung(en) und einen anderen Stellenwert, als man es gewöhnlich annimmt.

2 In Anlehnung an eine Bemerkung von Eduard Gans spricht auch M. Riedel von Mißverstand und falscher Auslegung, die sich um die „Vorrede" zur Rechtsphilosophie ausbreiteten und sich in ihrer Rezeptionsgeschichte auswirkten: „Als Eduard Gans kurze Zeit nach Hegels Tod (1831) die 2. Auflage der Rechtsphilosophie im Rahmen der ersten großen Hegel-Ausgabe vorbereitete, begann er seine Vorrede mit dem Hinweis auf das ,ungemeine Mißverhältnis, welches zwischen dem substantiellen Werte des vorliegenden Buches und seiner Anerkennung und Verbreitung liegt'. Durch Mißverstand und falsche Auslegung, bemerkt Gans unter Anspielung auf die ,Abmahner' der ersten Rezeptionsphase, sei man dazu gekommen, ,das vorliegende Buch nicht allein dem deutschen Publikum abwendig zu machen und vor demselben zu sekretieren, sondern es als ein serviles zu bezeichnen, von dessen Grundlagen und Lehren sich jeder freiheitsliebende Mann entfernt halten müsse'." (M. Riedel: Einleitung. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt a. M. 1975. Bd 1. 20. - Ohne auf die Rezeptionsgeschichte der Rechtsphilosophie und die Rolle der Versöhnungsproblematik darin näher einzugehen, sei es gestattet, eine Auswahl der wichtigsten Literatur zu erwähnen: /. Ritter: Hegel und die Französische Revolution (zuerst 1957). Frankfurt a. M. 1965; M. Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1969; Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. 2 Bde. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt a. M. 1975; K.-H. llting: Die .Rechtsphilosophie' von 1820 und Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie. In: G. W. F. Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Hrsg, von K.-H. llting. Bd 1. Stuttgart 1973; Hegels Philosophie des Rechts. Hrsg, von D. Henrich und R.P. Horstmann. Stuttgart 1982; Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang mit der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-Chr. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. - Für die Diskussion um die Rechtsphilosophie enthält auch wichtige Aufsätze der Sammelband: Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von Hegels Reformbill-Schrift. Hrsg, von C. Jamme und E. Weisser-Lohmann. Bonn 1995. Zur Wirkungsgeschichte von Hegels Rechtphilosophie sei es schließlich noch erlaubt, auf die Arbeit der Verf. hinzuweisen: Hegel gazdasägfilozöfidja (Hegels Wirtschaftsphilosophie). Budapest 1993. Bes. 2-22.

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Dies läßt sich in aller Deutlichkeit dann zeigen, wenn man die Versöhnungsproblematik auch in den sonstigen Werken Hegels betrachten würde, so daß man z. B. die Versöhnung in Beziehung auf die Systematik der Hegelschen Philosophie setzt.3 Die Beziehung der Versöhnung auf das System hat aber in der „Vorrede" der Rechtsphilosophie eine wesentlich andere Akzentuierung, als es in den anderen Texten z. B. in der Enzyklopädie, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie oder in den Vorlesungen über Ästhetik der Fall ist; die Bedeutung und der Status der Versöhnung bei Hegel sind dadurch noch komplizierter verflochten.^ Jener Unterschied zwischen der Rechtsphilosophie und anderen Werken Hegels kann hier nicht entwickelt werden. Jedoch ist kurz daran zu erinnern, daß es die gegenseitige Beziehung der Philosophie und der Religion ist, die in der „Vorrede" die Bedeutung und den Stellenwert der Versöhnung, bzw. die Position der Interpretation bestimmt, die aber in diesem Text nicht als Systemproblem des absoluten Geistes gedeutet werden darf. Hier befindet man sich auf der Ebene des objektiven Geistes, was weder das eigentliche, eigene Territorium der Philosophie noch eines der Religion als Form des absoluten Geistes ist. Aber die Religion hat sich nach ihrer Erkennensform, den Vorstellungen nicht so weit von der Ebene des objektiven Geistes entfernt wie die Philosophie. Die Religion, namentlich das Christentum und vor allem das Lutherthum haben in dieser Hinsicht einen Vorteil: ihr Inhalt wird in der Sprache der ,übertätigen Menschen' ausgedrückt. Im Gegensatz zur Philosophie, ist die Religion ihrem Inhalt und ihrer Sprachform nach ,für alle Menschen'. Ohne alle Konsequeirzen dieser Beziehung auf die Systematik berücksichtigen zu können, soll nur herausgehoben werden, daß die Versöhnung bei Hegel den Berührungspunkt und das Grenz-

3 Für die Beziehung von Systematik und Versöhnung bieten die Überlegungen zur Dialektik von A. Arndt wichtige Anregungen. Er weist auf die innere Widersprüchlichkeit der Hegelschen Dialektik hin, die dem spekulativen Zug der Hegelschen Philosophie zugeschrieben werden kann, die, wie hier zu zeigen sein wird, auch die Widersprüchlichkeit der Versöhnungsauffassung mitprägt. Vgl. A. Arndt: Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs. Hamburg 1994. Bes. 145-230. ln Anlehnung an Kants Problem der erfahrungstheoretischen Begründung hat die innere Widersprüchlichkeit der Hegelschen Dialektik im philosophiegeschichtlichen Kontext dargestellt W. Röd: Dialektische Philosophie der Neuzeit. 2. neu bearbeitete Aufl. München 1986. 4 R. Adolph! hat die Gemeinsamkeiten der Begründungsmethoden in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie überzeugend aufgezeigt. Vgl. R. Adolphi: Spekulative Begründung und inhaltliche Erkenntnis in der praktischen Philosophie Hegels. Untersuchungen zur Jenaer Philosophie des Geistes, zu ihrer Methode und Entwicklung. Bonn 1989.155-180. Aber einige in der „Vorrede" der Rechtsphilosophie auftauchende Probleme können noch weitere Gemeinsamkeiten verdeutlichen.

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gebiet zwischen Philosophie und Religion bildet, bzw. als deren gemeinsame Charakteristik erklärt wird. Einen anderen Weg zur Annäherung an die Versöhnung bei Hegel hat O. PöGGELER gezeigt, als er sie in einen Bezug zur antiken Tragödie stellte. Bei ihm wird die Versöhnung nicht als philosophischer Begriff, auch nicht als eine in erster Linie politische Implikation inkorporierende Konstellation aufgefaßt. Seine Unterscheidung zwischen einem ,an der tragischen Bewegung orientierten Denken' und dem ,dialektisch-teleologischen Denken' kann auch für die hier versuchte Interpretation fruchtbar angewandt werden, so daß auch von diesem Blickwinkel aus die oben exponierte Differenz zweier Redeweisen bei Hegel als gerechtfertigt erscheint.^ Vielleicht kann man mit gutem Grund ebenfalls voraussetzen, daß die Spuren der ,tragischen Bewegung' in der gleich zu behandelnden poetischen Redeweise der Versöhnungsproblematik in der Rechtsphilosophie aufbewahrt sind. Aber welchem Zweck dient diese Redeweise? Wovon ist eigentlich die Rede? Bei näherer Betrachtung der „Vorrede" fällt es auf, daß es vor allem nicht die damaligen Debatten der politischen Öffentlichkeit in Preußen sind, die Hegel im Kontext des Versöhnungsabschnitts beschäftigen. Vielmehr geht es um etwas anderes: der Gedankengang über die Versöhnung wird von dem Problem der Aufgabe der Philosophie bzw. der Philosophen sowie von der Thematik des Protestantismus, der Rolle LUTHERS und der Gewißheit des Glaubens begleitet. Eine der grundlegenden Fragen der „Vorrede" bezieht sich nun auf ,die(se) Stellung der Philosophie der Wirklichkeit'. Es ist hierbei zu betonen, daß die Frage nach der Aufgabe der Philosophie für Hegel von Anfang an erstrangig vom Philosophen beantwortet werden sollte. Diese Frage klärt sich beim jungen Hegel in der Beziehung auf das ,Leben', beim späten Hegel in der Beziehung auf die ,Wirklichkeit', wobei die Frage inhaltlich stets dieselbe geblieben isU und, was die Stellung der Philosophie und des Erkennens betrifft, auf zweierlei Weise beantwortet werden kann: in der Sprache der Götter und der übertätigen Menschen, d. h. im Begriff und in der religiösen Vorstellung. Doch wie läßt sich die Beziehung dieser Fragestellung auf die Systematik von Hegel auszulegen? Was bedeutet ,System' in den Relationen der „Vorrede"? Es handelt sich in der „Vorrede", wie bereits erwähnt war, nicht um

5 Vgl. dazu O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 2. erw. Aufl. Freiburg, München 1993.97-109, 6 Zum Problem des Lebens beim jungen Hegel vgl. ebd. 33-40.

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das System des absoluten Geistes oder um die Systematik des späten Hegels, die „ihre starrste Ausformung in der Enzyklopädie findet", wo alle seine Einsichten letztendlich ins „Prokrustesbett einer Systematik" gezwungen werden.7 Wenn es daher um die Auffassung der Versöhnung in der Enzyklopädie oder in den Berhner Vorlesungen ginge, wäre es unvermeidlich, sich dem Problem einer starren Systematik zu stellen. Folgt man der Enzyklopädie als System und deren Gang, so wird man die Erfahrung machen, daß die Versöhnung als Ausdruck nach der Hegelschen Art des Philosophierens die Spezifika der Begriffsbildung trägt: demnach erhält, oder genauer gesagt, gibt sich der Begriff ,Versöhnung' im Laufe seiner Ausgestaltung immer weitere Bestimmungen bis der am Anfang abstrakte und leere Begriff sich selbst entspricht. Aber diese Eigenschaft der Selbstdetermination hilft bei der Erklärung der Versöhnungsproblematik der „Vorrede" der Rechtsphilosophie kaum, obwohl Hegel in diesem Werk die Bedeutung einer umfassenden Deutung des Systems nicht zurückgenommen hat, indem sogar seine Versöhnungsauffassung letzten Endes verbleibt. Trotz allem kann man keine relevante Auslegung der Versöhnungsauffassung in der „Vorrede" geben, wenn man auf der starren Systematik beharrt. Die Anwendung der Metaphern, der poetischen Redeweise bei der Darstellung und Erklärung der Versöhnung macht die Problematik aus, die dazu anregt, über den Systembegriff selbst nachzudenken. Um das Verständnis von Versöhnung aus dem so entstandenen schlechten hermeneutischen Zirkel zu befreien, ist es im folgenden notwendig, eine gewisse Umdeutung des Systems durchzuführen. ln der „Vorrede" befindet sich die Versöhnung in einem bestimmten Sinne außerhalb des Systems. Dies geht zunächst einmal aus dem problematischen Status der „Vorrede" zur Rechtsphilosophie hervor. Das Außerhalb-des-Systems-Sein wird in folgender Hinsicht deutlich: der Status der „Vorrede" als philosophischer Gattung scheint sich in den Berliner Jahren zu ändern, und diese Änderung geschieht zunächst gerade in dieser „Vorrede", worauf wir noch zurückkommen werden. Die andere, im folgenden eingehend zu behandelnde Hinsicht des Außerhalb-des-Systems-Seins ist die neben der begrifflichen Sprache Hegels auftretende und sie kreuzende poetische Redeweise; anders gesagt: Hegels metaphorische Rhetorik.^ Wie bald offensichtlich wird, ist der Gebrauch der Metapher in der „Vorrede" 7 Ebd. 66. 8 Auch Riedel macht darauf aufmerksam, daß sich sprachliche Probleme in der Rechtsphilosophie finden; so führt er „die Überspannung der sprachlichen Darstellungsmittel" an. Vgl. M. Riedel: Einleitung (s. o. Anm. 2). 12.

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zur Rechtsphilosophie kein bloß einmaliges, d. h. akzidentell vorkommendes Verfahren, sondern eine spezifische Redeweise der im Motto unterschiedenen zwei Sprachformen, eine von Hegel wiederholt und durchdacht angewandte Technik des Philosophierens. Gerade dadurch ist man berechtigt, den als ,Außerhalb-des-Systems-Sein' bestimmten Status der ,Versöhnung' neu zu denken, was auch die Auslegung des Hegelschen Systems beeinflußt. Ebenfalls durch diese Situation ergibt sich die Aufforderung, die Frage nach der Systemkonformität der Metapher aufzuwerfen. Damit deutet sich bereits an, daß die Versöhnung zu jenen Hegelschen Ausdrücken gehört, welche eine Spannung um das System herum entstehen lassen. So wird man zunächst sowohl den problematischen Status der Vorrede als auch die hierbei angewandte metaphorische Technik des Philosophierens als systemfremdes Element auffassen müssen. Zur Bestimmung der Versöhnung wird von Hegel in der „Vorrede" eine Metapher gebraucht, die er folgendermaßen beschreibt: „Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten. Der Ausdruck ,Rose im Kreuze der Gegenwart' läßt sich schwerlich mit Hilfe des Hegelschen Apparates einer strengen Begrifflichkeit auslegen. Man braucht eine Art poetisches Instrumentarium, um die Erklärung für die gewählte sprachliche Form zu finden, die offensichtlich einen christlichen Inhalt besitzt. Die Ergänzung der Hegelschen Begrifflichkeit durch eine metaphorische Redeweise gerade in bezug auf die Versöhnung, verstärkt den Verdacht, wie problematisch die ohne Eingrenzung und weitere Erklärung angenommene These des ,abgeschlossenen Systems' ist, bzw. wie wenig man angesichts eines Problems wie dem der Versöhnung in der vorliegenden Textstelle damit anfangen kann. Worum geht es Hegel in dem Zitat? Läßt sich der Verdacht bestätigen oder sollte Hegel mit sich selbst in Widerspruch geraten sein? Festzustellen ist, daß die Versöhnung bei Hegel begrifflich und metaphorisch bestimmt ist. Aber was für eine Beziehung besteht zwischen dem Begriff und der Metapher? Sollte die angeführte Metapher vielleicht bloß zufällig in den Hegelschen Gedankengang hineingeraten sein? Wohl kaum. Der Zufall kann 9 G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg, von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970. Bd 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts. 26. Im folgenden abgekürzt: Rechtsphilosophie.

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um so mehr ausgeschlossen werden, als es im unmittelbaren Kontext der Versöhnung sogar mehrere Metaphern gibt. Folgende Metaphern sind gemeint: „Hic Rhodus, hic saltus", dann „hier ist die Rose, hier tanze", worauf die Charakterisierung der Versöhnung als ,Rose im Kreuze der Gegenwart' folgt, und schließlich die berühmte Metapher von der „Eule der Minerva". (Nebenbei bemerkt ist es eine interessante Tatsache, wie sehr das durch ,Minervas Eule' ausgedrückte Problem als Hegelsche Metapher Gemeingut geworden ist, während dasselbe von der Metapher der Versöhnung nicht gesagt werden kann. Dies allein läßt schon ahnen, daß um die Versöhnung ein Mißverständnis herrschen mag.) ln dem insgesamt zwei Seiten langen Text kommen also bei Hegel sogar vier Metaphern vor. Weit von einer bloßen Zufälligkeit entfernt, kann man mit gutem Grund annehmen, daß hier neben dem begrifflichen Philosophieren auch eine andersgeartete Technik des Philosophierens oder der Redeweise, nämlich die metaphorische, angewandt wird. Um diese Annahme bestätigen zu können, müssen einige Momente der Auslegung des Systems bzw. der Methode betrachtet werden. Es ist zu ermitteln, was in diesem Zusammenhang unter System bzw. Methode verstanden wird. Von MARTIN HEIDEGGER stammt die Feststellung, daß das System nicht durch die einzelnen philosophischen Thesen, „eine Reihe von Aussagesätzen" gebildet werde, sondern daß vielmehr der „Gang des Zeigens", der „Weg" als Bewegung selbst wichtig sei.^o In ähnlichem Sinne bestimmt auch RICHARD RORTY die Hegelsche Denkweise, die Dialektik: Die Dialektik sei kein ,argumentatives Verfahren', sondern eine ,poetische Fähigkeit', wie Hegel von der einen Terminologie zur anderen übergehe und ,überraschende Gestaltenverschiebungen' hervorbringe.^i Selbst wenn man RORTYs Behauptung nicht zustimmen kann, derzufolge Hegel und insbesondere dessen Dialektik zur poetischen Redeweise und zur Romantik gerechnet wird, kann sein Interpretationsvorschlag ebenso wie der HEIDEGGERS in mehr als einer Hinsicht fruchtbar sein. Diese von HEIDEGGER und RORTY angeregte Bedeutung der Methode hat selbstverständlich auch Konsequenzen, wenn man sie auf das System selbst bezieht. Zur Auslegung der Versöhnung ist hier der Horizont des Sy10 Vgl. M. Heidegger: Zeit und Sein. In: Ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1966. 2. und Die Frage nach der Technik. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1967.5. Die Überlegungen Heideggers wurden von mir in einem Aufsatz angewandt, der den Einfluß der in diesem Sinne verstandenen Hegelschen Dialektik auf die Kierkegaardsche in den Feinstrukturen des Tagebuch des Verführers aufzudecken versucht. Vgl. dazu von Verf.: Metamorphosen der Verführung. Spuren des Hegelianismus in Kierkegaards ,Entweder-Oder'. In: Mesotes. 3 (1994), 358-371. 11 Vgl. R. Rorty: Contingency, Irony and Solidarity. Cambridge 1989.

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Sterns gewählt, aber in dem Sinne einer durch Ausdrücke wie ,der Gang des Zeigens', der ,Weg' die ,Gestaltenverschiebung' bezeichneten philosophischen Methode. In der Tat ist es diese selbstauslegende und selbsthervorbringende Einstellung der Philosophie Hegels, die sie auch heute noch anziehend macht, unabhängig davon, ob sein Denken zur Romantik gerechnet wird, oder ob man es wie RoRTvals Begründung der ironischen philosophischen Tradition ansieht. Unterstützend könnte man auch jenen Gedanken aus HANNAH ARENDTS Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben zitieren, daß gerade die selbsthervorbringende und selbstauslegende Einstellung das Spezifikum der Neuzeit sei, deren Denkweise in Hegel eine große Gestalt besitzt.i2 Geht man bei der Auslegung der Hegelschen Philosophie als Versöhnung zwischen Geist und ,Wirklichkeit' von einem derartigen Verständnis der Methode aus, so wird unser traditionell starrer Systembegriff schon an sich problematisch und in vieler Hinsicht unhaltbar. Durch die Ausdrücke wie der ,Gang des Zeigens', die ,Gestaltenverschiebung', die ,selbsthervorbringende Einstellung' wird nicht nur die Veränderung unseres Auslegungshorizontes, sondern auch die Richtung dieser Veränderung angedeutet. Versuchen wir also die soeben angeführte Bestimmung der ,dialektischen Methode' im Hinblick auf die Versöhnungsproblematik der „Vorrede" anzuwenden. Was wird bei Hegel mit Hilfe der Metapher ,Rose im Kreuze der Gegenwart' bestimmt? Die Vernunft, die bereits im vorhergehenden Satz als ,selbstbewußter Geist' und als ,vorhandene Wirklichkeit' charakterisiert wurde. Darin gibt es nichts Überraschendes: im ersten Satz findet man die in der Hegelschen Philosophie wohlbekannte Technik der Begriffsbestimmung. Das Ungewöhnliche erscheint im zweiten Satz des Abschnitts über die Versöhnung, im Versöhnungssatz, in dem die Vernunft erneut bestimmt wird, allerdings auf andere Weise als im ersten Satz. Die metaphorische Bestimmung im zweiten Satz ist so als eine ,Gestaltenverschiebung' der begrifflich bestimmten Vernunft, d. h. als die Bewegung und das Fortschreiten des Denkens auszulegen, und zwar in dem Sinne, daß sich hier die Technik des Philosophierens und demzufolge auch die Redeweise ändert. Im ersten Satz spricht Hegel in der Sprache des ,konkreten Begriffs', also in der Sprache der ,Götter', im zweiten aber in der bei ihm nicht üblichen metaphorischen Sprache der ,übertätigen Menschen', des ,Gefühls', der,Vorstellungen' usw.

u Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München/Zürich 1992. 293.

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Die Frage, was dieser Wechsel und Übergang zu bedeuten hat und wozu diese Gestaltenverschiebung dient, wird später beantwortet. Jetzt sollte die Aufmerksamkeit vielmehr darauf gelenkt werden, daß die begriffliche und die metaphorische Technik des Philosophierens in diesen beiden Sätzen einander nicht schroff gegenüberstehen: der begrifflichen Bestimmung wird durch die metaphorische nicht widersprochen, vielmehr wird sie entfaltet und erläutert, und zwar so, daß der zweite Satz die nur für die Philosophen erreichbare exklusive begriffliche Sprache, die ,Sprache der Götter' übersetzt - in die Sprache der ,übertätigen Menschen'. Die Sprache des konkreten Begriffs und die des Gefühls sind in diesem Kontext wie bei HOMER konvertierbar, weil es sich um denselben Gehalt handelt, in diesem Falle um die Vernunft. Dann wird die so bestimmte Vernunft keine spekulative oder praktische Vernunft, sondern dasjenige, was in beiden gemeinsam vorhanden ist: die schöpferische Kraft des Geistes, die sich als Gestaltenverschiebung gezeigt hatte. Man könnte also sagen, daß beide Arten der Redeweise zur schöpferischen Kraft des Geistes gehören, und diese gemeinsame Grundlage ist es, welche die Ergänzung der begrifflichen Bestimmung, der Sprache des konkreten Begriffs, durch die metaphorische ermöglicht. Auch wenn Hegel seit der Jenaer Zeit bis zu seinem Lebensende daran festhielt, daß die Philosophie eine Wissenschaft, ein wissenschaftliches System darstelle, deren adäquate Ausdrucksform das begriffliche Denken sei, so kann man doch hier sehen, wie er die metaphorische Redeweise, die Sprache des ,Gefühls' und der ,Vorstellungen' dennoch in seine Philosophie hineinließ, wodurch innere Spannungen aufgetreten sind. Tatsache ist jedenfalls, daß die beiden Arten der Hegelschen Rhetorik in der „Vorrede" darauf aufmerksam machen, daß eine starre Zuordnung des Systems zum begrifflichen Philosophieren die Auslegbarkeit gewisser Probleme der Hegelschen Philosophie erschwert. Eine differenzierte Interpretation des Systems, bzw. der Technik des Philosophierens von Hegel wird somit auch zur Klärung der Versöhnung nötig. Nach all dem ist verständlich, wenn das zum Auslegungshorizont gewählte System als Methode für ein inhärentes Element der Hegelschen Philosophie angesehen wird. Die Versöhnung stellt in diesem System einen Begriff und eine Metapher dar, aus deren Entfaltung das Funktionieren der Dialektik selbst erschlossen werden kann. Die Dialektik ist nirgendwo anders als dort, wo man sich gerade befindet: die Bewegung und ,Gestaltenverschiebung' der Dialektik im System, ihre Bewegung zwischen Begrifflichkeit und Metapher ist selbst Dialektik, und zwar praktische Dialektik, ja sogar eine Praxis der Dialektik. Deshalb kann und wird man Hegels ,gi-

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gantisches Unterfangen' (HANNAH ARENDT) hinsichtlich der Versöhnung im folgenden nicht nur in inhaltlichem Sinn, sondern auch als Methode untersuchen, die die Logik und die Sprache inbegreift. Gerade das ist der Grund, warum diese Philosophie von HEIDEGGER, aber auch von HANNAH ARENDT und RORTY ZU Recht für lebendig gehalten wurde. Wenn man das alles akzeptiert, so gelangt man zu dem Schluß, daß die Versöhnung nicht nur als Begriff, sondern auch als Metapher ein Teil des Systems, ein Element des als ,Gestaltenverschiebung' fungierenden Philosophierens ist. In diesem Sinne ist sie mit dem ,System' konform, das allerdings verändert aufgefaßt werden muß.

2. Die „Vorrede" und die Gattungsprobleme im Hinblick auf das System Wenn man die Problematik der Versöhnung in der Rechtsphilosophie behandelt, stößt man zunächst auf die Schwierigkeit, wie sich die „Vorrede" und das System als philosophische Gattungen aufeinander beziehen; daran schließt sich die Frage an, wie sich die „Vorrede" der Rechtsphilosophie zu den Vorreden der zweiten und dritten Auflage der Enzyklopädie verhält.13 Um beide Problemfelder immanent aus der Philosophie Hegels heraus zu klären, muß hier noch einmal daran erinnert werden, daß sich im Umkreis des Begriffs der Versöhnung keinerlei politische Äußerungen finden, aus denen sich z. B. eine Reaktion auf die Karlsbader Beschlüsse ablesen läßt. Vielmehr behandelt der Abschnitt, der der Einführung der Versöhnungsproblematik vorausgeht, das Wesen der Philosophie und die Aufgabe des Philosophen. Zahlreiche allgemeine Thesen bzw. später weithin bekannte ,Grundwahrheiten' werden in diesem Prätext zur Versöhnung formuliert und nacheinander aufgeführt. So findet sich hier das berühmt-berüchtigt gewordene Axiom über die Beziehung des Wirklichen und des Vernünftigen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.", ebenso wie die These: „das Individuum ... ist ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt." Eines der Probleme, die sich sogleich stellen, betrifft die Beziehung dieser ,Grundwahrheiten' oder Axiome zur Versöhnung. Geht es darum, daß die

13 Die damit verbundene Aufgabe der Philosophie als Versöhnung einer tragischen Bewegung beim jungen Hegel hat analysiert O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes (s. o. Anm. 5). Vgl. dazu neuerdings G. Portales: Hegels frühe Idee der Philosophie. Zum Verhältnis von Politik, Religion, Geschichte und Philosophie in seinen Manuskripten von 1785-1800. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994.

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Problematik der Versöhnung durch diese Axiome gleichsam eingeleitet wird? Und was soll überhaupt der Sinn des Aufeinanderfolgens von ,Grundwahrheiten' und Versöhnung bedeuten? Die zu klärenden Probleme werden dann zusätzlich im letzten Abschnitt erst richtig vermehrt. Auf diese Hegelschen Axiome folgt nämlich nicht nur der Abschnitt über die Versöhnung, sondern daran schließen sich noch drei weitere Abschnitte an. Der dritte und zugleich letzte Abschnitt der „Vorrede" muß beim Leser eine fast ,heillose' Verwirrung stiften, wenn Hegel die „Vorrede" mit folgenden Worten enden läßt: „Doch es ist Zeit, dieses Vorwort zu schließen; als Vorwort kam ihm ohnehin nur zu, äußerlich und subjektiv von dem Standpunkt der Schrift, der es vorangeschickt ist, zu sprechen. Soll philosophisch von einem Inhalte gesprochen werden, so verträgt er nur eine wissenschaftliche, objektive Behandlung, wie denn auch dem Verfasser Widerrede anderer Art als eine wissenschaftliche Abhandlung der Sache selbst nur für ein subjektives Nachwort und beliebige Versicherung gelten und ihm gleichgültig sein muß."i4 Was geschieht in dieser Textstelle? Sehen wir mal von der offensichtlich zur Selbstverteidigung dienenden Abwehrgeste ab, mit der Hegel auf mögliche Kritiken und Mißverständnisse hinweist. Wird dieser letzte Abschnitt im Gesamtkontext der „Vorrede" ausgelegt, so geht es um nichts anderes als darum, daß die früher behandelten Probleme von Hegel in Frage gestellt, ja daß sogar die soeben angeführten sog. Grundwahrheiten relativiert oder in Klammern gesetzt werden. Man hat den Eindruck, als ob Hegel Vorschlägen würde, all das bisher Gesagte zu vergessen, weil es sich dabei nur um ,äußerliche' und ,subjektive' Behauptungen handelte. Dieses Zurückziehen erfolgt mit dem Argument, daß die „Vorrede" ihrer Gattung nach ,nicht wissenschaftlich' sei. Diesem Kriterium wird erst das jetzt folgende, und darzulegende System gerecht, d. h. im letzten Abschnitt der „Vorrede" verändert sich plötzlich alles, selbst die Bedeutung des Systems: von nun an genügen die Kapitel über das abstrakte Recht, die Moralität und die Sittlichkeit, also der sog. Haupttext der Rechtsphilosophie dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit, weswegen dieser Haupttext als System im weiteren Sinne zu betrachten ist. Dieses Anzweifeln des in der „Vorrede" Behandelten gilt natürlich auch für die Versöhnung, so daß sie sich, in dieser Hinsicht betrachtet, wieder außerhalb des Systems zu befinden scheint. Diese Vermutung wird noch dadurch bekräftigt, daß der Ausdruck selbst in den Kapiteln der Rechtsphilosophie, d. h. im Haupttext keine nen-

u G. W. F. Hegel: Rechtsphilosophie (s. o. Anm. 9). 28.

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nenswerte Rolle spielt. Eine solche Veränderung läßt sich auch noch anders charakterisieren: Hegel hat durch sie auch die metaphorische Redeweise als Sprache und als Philosophierenstechnik dem Äußerlichen, dem Subjektiven, dem Nicht-Wissenschaftlichen, Nicht-Begrifflichen zugeordnet. Die bei Hegel Vorsicht waltenlassende Sensibilität, die im letzten Abschnitt der „Vorrede" zu beobachten ist, steigert sich noch mehr in den zur Berliner Zeit gehörenden späteren Äußerungen, die sich in den Vorreden zur zweiten und dritten Ausgabe der Enzyklopädie finden. Was bewirkte in der Zwischenzeit eine solche wachsende Zurückhaltung? ln der kurzen Vorrede zur ersten Ausgabe der Enzyklopädie scheint noch alles ruhig, klar und geordnet zu sein; die Würde der Philosophie als Wissenschaft und die Festigkeit des Systems sind über jeden Zweifel erhaben. Hier gibt es noch keine Spur von jenem hektischen Ton, der 1820, dann 1827 und insbesondere 1830 beobachtet werden kann. Im Jahre 1827 beklagt Hegel sich über,das schlimmste Schicksal' der Philosophie, und noch sonderbarer ist die „Vorrede" zur dritten Ausgabe von 1830, in der Hegel auf die sich aus ,üblen Leidenschaften des Dünkels, Hochmuts, des Neides, Hohnes' ergebenden anzüglichen Angriffe gegen seine Philosophie reagiert. Der sich höchster Anerkennung erfreuende Berliner Professor, der Philosophenkönig ist offenbar voller angespannter Erbitterung über das Unverständnis, auf das er stößt. Geht es nur um die Sorge, mißverstanden worden zu sein, oder war Hegel sich vielleicht seiner selbst nicht mehr sicher? Sollte ihm das, was noch vor ein paar Jahren in Heidelberg auf der festen Grundlage der Philosophie als Wissenschaft so klar zu ordnen und funktionsfähig zu sein schien, in Berlin schon nicht mehr so sicher Vorkommen? Ohne der Verführung dieser spannenden Fragen nachzugeben, die zu weit vom Thema der Versöhnung abführen würden, darf ein wichtiger Aspekt hierbei nicht unerwähnt bleiben. Nach HANS BLUMENBERG tritt in der Neuzeit an die Stelle der Kirche die Wissenschaft, und zwar mit dem Anspruch, nicht nur die ,Welt' zu verstehen und zu beschreiben, sondern auch als Grundlage für die Normen des Handelns zu dienen. i^Dieser doppelten Aufgabe versucht auch Hegels Auffassung von der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit, bzw. der Philosophie, wenngleich auf ziemlich widersprüchliche Weise gerecht zu werden.i^ (Das vielfach diskutierte

15 Vgl. dazu H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1988.22. 15 Zum Verhältnis der theoretischen und praktischen Philosophie gibt Quante eine anregende Interpretation, wenn er Hegels Auffassung der Handlung im Kapitel „Moralität" der Rechtsphilosophie als eine Disziplin der theoretischen Philosophie aufweist. Vgl. M. Quante: Hegels Begriff der Handlung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993.

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Verhältnis der theoretischen zur praktischen Philosophie könnte eine der Koordinaten einer eingehenden Untersuchung des Problems bilden, von dem hier abgesehen werden muß.) Man denke nur daran, daß das Wichtigste für Hegel in seiner „Vorrede" zur Rechtsphilosophie nicht die allgemeine Bestimmung der Philosophie in bezug auf die ,Welt', sondern die Bestimmung der Philosophie und ihrer Stellung zur Wirklichkeit ist, wodurch die Philosophie ihre Aufgabe löst, einen Maßstab für das ,rechte und gute' Leben zu finden.i7 Die ,Stellung der Philosophie der Wirklichkeit' ist also eine der entscheidendsten Fragen der „Vorrede", bei der es auch die meisten ,Mißverständnisse' gibt, wie Hegel mit der Absicht betont, sie zu beseitigen. Die Philosophie als Wissenschaft bildet den Grundstein, auf welche Weise man sich zur Wirklichkeit stellt. Der von dem theoretischen Wissen aus gesehen verständliche Zwiespalt von Philosophie und Handeln ist es, der sich bis zum letzten Abschnitt durch die Vorrede hindurchzieht. Deswegen wird es möglich, die Wissenschaftlichkeit, die strenge Begrifflichkeit und den vom Gesichtspunkt der Begrifflichkeit aus zweifellos flexiblen Ausdruck ,Versöhnung' gemeinsam auftreten zu lassen. Die Sprache des konkreten Begriffes und die des Gefühls ergänzen sich und widerlegen nicht einander, und zwar darum, weil sich herausstellt: in der „Vorrede" werden nicht nur ,Kenntnisse' behandelt, die für sich selbst da sind und die zur Sphäre des rein theoretischen Wissens gehören, sondern auch solche, welche die diese ,Stellung der Philosophie der Wirklichkeit' gestaltenden Verhaltensnormen und -muster betreffen. So gibt es auch eine Antwort auf unsere frühere Frage, weshalb auf die Hegelschen Axiome die Einführung des Versöhnungsproblems folgt: Die beiden Arten des Wissens und des Erkennens harmonieren aufgrund der doppelten Funktion der modernen Wissenschaft miteinander, so daß der Übergang von einem zum anderen hier noch ungehindert erfolgen kann. Die Versöhnung darf somit zu den Hegelschen Schlüsselbegriffen gerechnet werden, mit deren Hilfe Hegel der zweiten Forderung, der Ableitbarkeit der Normen des Handelns gerecht zu werden versucht. Dies alles wird jedoch nicht explizit ausgedrückt, es muß vom Leser vielmehr zwischen den Zeilen ausgemacht werden. Diese Doppeldeutigkeit der Hegelschen Strategie beeinflußt dann auch die Auslegung bzw. die Auslegbarkeit des Versöhnungsproblems. Die Versöhnung stellt ein zur Hegelschen Technik des Philosophierens gehörendes Element dar, mit dessen Hilfe HeZum Thema ,das rechte Leben' und ,das Bedürfnis der Philosophie' vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes (s. o. Anm. 5).

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gel verdeutlicht, daß er die Aufgabe der in der modernen Zeit an die Stelle der Kirche tretenden Wissenschaft hinsichtlich der Ableitbarkeit der Normen des Handelns akzeptiert. Allerdings kommt diese Einsicht nicht ganz eindeutig zum Ausdruck, worauf sich die auf den ersten Blick unklar anmutende Bedeutung der Versöhnung zurückführen läßt. Aus diesem Grund werden bei der Beschreibung der Versöhnung die Aspekte der Normativität des Handelns mit der durch den Begriff der Vernunft bezeichneten Wissenschaftlichkeit vermischt, darum existieren zweierlei Sprachen und Redeweisen nebeneinander. Ebenfalls aus diesem Grund wird der Leser in die Lage gebracht, diese Elemente selber voneinander trennen, ihren Sinn finden und das Rätsel lösen zu müssen. Nach all dem kann die oben gestellte Frage, wieso Hegel die Vernunft im Abschnitt der „Vorrede" über die Versöhnung auf zweierlei Weise bestimmt, leicht beantwortet werden. Die erste, begriffliche Bestimmung der Vernunft, die Sprache des konkreten Begriffes, entspricht der Forderung nach einem theoretischen Verständnis, und diese Bestimmung gehört zur Sphäre des spekulativen Wissens und Erkennens bzw. seiner Sprache. Die zweite, metaphorische Bestimmung, d. h. die Versöhnung selbst im engeren Sinne zeichnet hingegen die von der Wissenschaft ableitbare Handlungsnorm aus, deshalb stellt sie ein zur Sphäre des praktischen Wissens und zu einer anderen Redeweise gehörendes Element dar. Aufgrund dieser doppelten Aufgabe und durch die doppelte Redeweise wird auch verständlich, worum es in der zweiten Hälfte des Satzes über die Versöhnung eigentlich geht: „... diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten". ,Begreifen' und ,Erhalten' werden den zwei Anforderungen an die moderne Wissenschaft, nämlich der Norm des ,begreifenden', erkennenden und verstehenden Verhaltens einerseits, bzw. der des ,erhaltenden', handelnden andererseits zugeordnet. Die Versöhnung taucht, wie sich zeigte, im weiteren Kontext der das Wesen und die Rolle der Philosophie betreffenden Fragen und Dilemmas in der „Vorrede" zur Rechtsphilosophie auf. In diesem Kontext verfügt sie keineswegs über eine politische Bedeutung. Es wurde zudem deutlich, daß der Ausdruck ,Versöhnung' bei seiner Verwendung nicht nur eine begriffliche, sondern auch eine metaphorische Rhetorik besitzt. Die metaphorische Philosophietechnik mit ihrer Rhetorik gehört in der „Vorrede" zur zweiten Funktion der modernen Philosophie, die sich auf die das Handeln betreffenden Erwartungen bezieht. Doch nicht nur diese Rhetorik, sondern auch

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die Architektonik der Versöhnung, d. h. ihre Plazierung in der „Vorrede" deuten darauf hin, daß das Hegelsche System auch in diesem Bezug der Auslegung bedarf. Deshalb ist es nun unumgänglich, die Beziehung der Konzeption der Philosophie als Wissenschaft sowie die der aus ihr ableitbaren Handlungsnormen zu klären, bzw. sie aus der unklaren Lage herauszuheben, in der sie sich im Text der Rechtsphilosophie befinden. Diese Interpretation kann aber sinnvollerweise nicht im allgemeinen, sondern sie muß vielmehr im Kontext bestimmter Probleme und im Zusammenhang mit den Form- und Bedeutungsveränderungen der Hegelschen Sprache und Redeweise, die u. a. auch die Versöhnung erfährt, geschehen. Es zeigte sich: das System als Methode steckt nirgendwo anders als in den ,Gestaltenverschiebungen' der untersuchten Probleme. Diese Einsicht aus dem ersten Abschnitt wurde nun insofern erweitert, als man bei der Untersuchung der Rolle der Philosophie und des Erkennens überhaupt hinsichtlich der Klärung des Systems als Methode, als Technik der ,Gestaltenverschiebung' näher gekommen ist. Damit wurde eine Erklärung für die gemeinsame Verwendung der begrifflichen und der metaphorischen Redeweise als philosophischer Methode in der „Vorrede" zur Rechtsphilosophie gefunden. Doch wurden damit die Gattungsprobleme in der „Vorrede" in bezug auf das System noch bei weitem nicht beantwortet. Dazu muß man die Bedeutung der „Vorrede" weiter entwickeln.

3. Die Bedeutung der Versöhnung und der Protestantismus als allgemeines Verhaltensmuster Aufgrund der bisher Gesagten überrascht es vermutlich nicht, wenn die Versöhnung folgendermaßen bestimmt wird: sie ist ein Lösungsversuch auf ein von Hegel exponiertes Dilemma, eine Antwort auf die in der „Vorrede" gestellte Frage, wie sich der Philosoph in der von Widersprüchen erfüllten ,neueren Zeit' zu verhalten hat. Doch wie stellt sich dieses Problem in der „Vorrede"? Warum muß sich Hegel überhaupt damit auseinandersetzen? In den der Passage über die Versöhnung vorangestellten Abschnitten handelt es sich darum, daß zwischen dem ,Ist' und dem ,SolP, bzw. dem ,Gegenwärtigen', ,Bestehenden' und dem ,Sollen' ein Widerspruch besteht. Die hierbei zu beantwortende Frage ist nun, wie sich die Philosophie, bzw. der Philosoph zu diesem Widerspruch zu verhalten hat. Diese Frage muß, wie wir gesehen haben, gestellt und beantwortet werden, weil es die Aufgabe des Wissens und Erkennens ist, aufzuzeigen, wie der Mensch (der Philosoph) seinen Platz in der Gegenwart zu finden habe.

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Hegel gibt darauf nicht nur die positive Antwort, sondern er analysiert gleichzeitig das unrichtige Verhalten. Ja, er macht zunächst sogar deutlich, was seiner Ansicht nach falsch ist, bzw. was für Verhaltensmustern der Philosoph nicht folgen darf. Demnach stelle das Sollen, die in der Meinung aufgebaute Welt ein ,weiches Element' dar, und dieses weiche Verhalten trage die ,Fesseln irgendeines Abstraktums', ,das nicht zum Begriffe befreit' ist. Das richtige Verhaltensmuster wird jedoch metaphorisch - und nicht begrifflich ausgedrückt - folgendermaßen beschrieben: „Hic Rodus, hic saltus", und später in der anderslautenden Formulierung: „hier ist die Rose, hier tanze." Zu diesem in der Gegenwart wurzelnden Verhalten fügt er die oben zitierte Bestimmung der Versöhnung hinzu: „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart" erkennen und dadurch sich dieser Gegenwart freuen. Mithilfe dieser Metaphern drückt Hegel den Imperativ der Gegenwärtigkeit aus, daß seiner Meinung nach die Grundlage und der Ausgangspunkt des richtigen Verhaltens des Philosophen die Gegenwart bildet. Die Gegenwart ist aber weder akzidentell noch subjektiv: die Kontingenz kann nicht einmal in bezug auf die Normen des Handelns ein Kriterium für die als Wissenschaft verstandene Philosophie sein. Sie kann es deshalb nicht, weil das gemeinsame Prinzip der Wirklichkeit wie des Selbstbewußtseins die in der Gegenwart wirkende Vernunft darstellt. Man sieht also, daß nicht nur das spekulative Wissen, sondern auch das praktische Verhalten in der Vernunft begründet ist. Damit hegt Hegel keinen Zweifel daran, daß die Normen des Handelns und das Wissen von der Welt eine einzige gemeinsame Grundlage haben müssen. Dadurch entsteht offenbar aber ein innerer Widerspruch in seinem Denken, sofern die von ihm geteilte moderne Philosophie mit ihrer Doppelfunktion auf dem konzentrischen Systembau beruht. Hier stößt man auf einen derart tiefen Widerspruch der Hegelschen Philosophie, der die Auslegung der Probleme und somit auch die Versöhnung beeinflußt, ja dieser Widerspruch macht letztendlich sogar die plausiblen Antworten und Auslegungen bezüglich der Versöhnung unmöglich. Die Versöhnung als praktisches Verhalten findet nämlich ihren Platz letzten Endes gemäß der auf dem Fundament der spekulativen Vernunft beruhenden Architektonik und ist also den Prinzipien dieser Architektonik untergeordnet. Von einem geschlossenen System Hegels kann jedoch trotzdem nicht gesprochen werden, und zwar deshalb nicht, weil es die Dialektik, der Prozeß des Denkens, die,Gestaltenverschiebung', d. h. die unausgesetzt wirkende selbsthervorbringende Kraft der Philosophie ist, welche das System nicht nur schafft, sondern auch dessen aus einem Block bestehendes Fundament angreift. Auch die Vernünftigkeit des Gegenwärtigen weist denselben

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Zwiespalt auf: die Vernunft stellt das letzte und einzige Fundament des Gegenwärtigen dar, das seinerseits einer Erklärung bedarf. Dadurch wird aber die Vernunft nicht nur in den Zeitdimensionen pluralisiert. Diese Erklärung kann aber nicht nur durch das vernünftige Philosophieren gegeben werden, sondern die Religion ist ebenso imstande, das Gegenwärtige wie das Vergangene rechtfertigend zu begründen. Die Aufgabe der Philosophie und ihre Stellung zur Wirklichkeit erweist sich gleichzeitig als die Stellung der Religion zur Wirklichkeit. Das am objektiven Geist orientierte Erkennen und Wissen ist kein Privileg der Philosophie und des Philosophen, es gehört auch zur Kompetenz der Religion und des Glaubens. Wenn man auf den Text der „Vorrede" zurückkommt, sieht man, daß bereits ein Abschnitt, den Hegel nach der Einführung der Versöhnung erörtert, die Forderung und das Muster der Versöhnung mit der Gegenwart in der Philosophie zur Geltung gekommen ist. Diese Befreiung in (und zu) der Gegenwart wurde allerdings nicht von Hegel entdeckt, ja sie ist sogar nicht einmal eine ,Einsicht' der Philosophie, sondern sie gehört dem Christentum an. Doch erfolgen in der Religion die Anerkennung und die Rechtfertigung des Gegenwärtigen wie auch die Befreiung in ihm durch Glauben und Gefühl. Die (Hegelsche) Philosophie stellt dagegen eine Darlegung des LuTHERischen Protestantismus im reiferen Geiste der Philosophie, im Begriff dar. In der (Hegelschen) Philosophie wird in dieser Hinsicht nichts Neues erfunden, weil nichts Neues erfunden zu werden braucht; hier wird lediglich der im protestantischen Christentum bereits vorhandene Geist begrifflich festgehalten. Es mag ein Stück Wahrheit darin stekken, wenn behauptet wird, daß gerade dieser Hegelsche Gedanke von MAX WEBER genutzt wurde, als er die Grundlage und das Erklärungsprinzip für den Geist des Kapitalismus im Protestantismus zu finden glaubte. (Es kann auch hier die übrigens äußerst wichtige Frage nicht behandelt werden, inwieweit Hegel sich vom LuTHERischen Protestantismus abkehrte, bzw. inwiefern seine Philosophie Merkmale anderer protestantischen Strömungen erkennen läßt.)i8 In der Religion, die die Versöhnung im Unterschied zum philosophischen Begriff als Gefühl und Glaube faßt, ist dieses Verhaltensmuster potentiell für alle Menschen gegeben. In der „Vorrede" zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie schreibt Hegel folgendes: „Die Religion ist die Art und Weise des Bewußtseins, wie die Wahrheit für alle Menschen, für die Men'8 Die komplexe Wirkung der protestantischen Kultur in Hegels Lebensphasen zwischen 1770 und 1807 hat analysiert L. Dickey: Religion, Economics, and the Politics of Spirit. Cambridge 1987,1-138.

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sehen aller Bildung ist; die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit aber ist eine besondere Art ihres Bewußtseins, deren Arbeit sich nicht alle, vielmehr nur wenige unterziehen. Der Gehalt ist derselbe, aber wie HOMER von einigen Dingen sagt, daß sie zwei Namen haben, den einen in der Sprache der Götter, den anderen in der Sprache der übertätigen Menschen, so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen, die eine des Gefühls, der Vorstellung und des verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens, die andere des konkreten Begriffs, So stellt die Versöhnung in der Religion und der Philosophie denselben Gehalt dar, der zugleich zwei Formen, zwei Sprachen hat. Als Glaube, Gefühl und Verstand gehört sie einem jeden und hat auch eine eigene Sprache, die Sprache ,des Gefühls', die die Sprache der Metapher, die Sprache ,der übertätigen Menschen' ist. Die Versöhnung als Vernunft ist aber die Sache der Philosophen, von wenigen, die aber auch eine eigene Sprache, die Sprache der Begrifflichkeit, die Sprache ,der Götter', ,des konkreten Begriffs' haben. Daß Hegel in der „Vorrede" zur Rechtsphilosophie tatsächlich nach einem in der Moderne gültigen Verhaltensmuster sucht, geht auch daraus hervor, wenn er zum historischen Ausgangspunkt für die Antwort auf die hier behandelten Probleme das Christentum wählt. Vom Christentum weiß man nun, daß es nach der Hegelschen Konzeption das Prinzip der modernen Zeit eingeführt hat, in der die Subjektivität bzw. die subjektive Freiheit und durch diese wiederum deren Konfrontation mit den substantiellen Mächten als eine grundlegende Entzweiung der Moderne geschaffen wurde. Die Versöhnung als Gefühl und Begriff stellt einen Versuch zur Aufhebung dieser Entzweiung dar, obwohl eines von Anfang an klar ist: es ist letztendlich unmöglich, die Kollisionen der modernen Welt vollkommen aufzuheben. Hier sieht man sich nun mit einem anderen Hegelschen Widerspruch konfrontiert, daß nämlich einerseits die Kollisionen der modernen Zeit durch den ,Geist' des Christentums hervorgebracht, daß aber andererseits auch deren Aufhebung im ,Gefühl der Versöhnung' mit dem Gegenwärtigen bzw. der Befreiung in ihr durch denselben gefunden wurde. Typisch Hegelisch ist auch die endgültige Aufhebung des Widerspruchs, wozu die Philosophie den Schlüssel bietet. Demnach bleibt für die Philosophie ,nur' soviel zu tun übrig, all das vom Protestantismus als Gefühl Ausgearbeitete begrifflich zu gestalten, bzw. die Widersprüche der modernen Zeit in der Gestalt der durch Erkenntnis zu erwerbenden Versöhnung und Befreiung auf treten zu lassen.

IS G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden (s. o. Anm. 9). Bd 8.23.

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Wenn für Hegel das Christentum zugleich Ursprung der Entzweiung und Quelle der Versöhnung ist, auf die er mit der Metapher von der ,Rose im Kreuz der Gegenwart', vorausdeutet, dann stellt die Religion eine Entfaltung der begrifflich bestimmten Vernunft dar. Sie ergänzt kraft des Protestantismus und als natürliche Form des Gefühls, das die Metapher ausdrückt, die philosophische Vernünftigkeit. Hierdurch wird jedoch nicht die Philosophie der Religion untergeordnet, sondern der „reifere Geist" einer begrifflichen Vernünftigkeit komplementiert die im Protestantismus angestrebte Versöhnung durch Gefühl und Glauben. Welchem Ziel dient nun die sich stets ergänzende Wechselseitigkeit von Religion und Philosophie, die als Wissenschaft auch in die Sprache von Handlungsnormen übersetzbar sein muß. Da eine solche praktische Transformation in der Wissenschaft unmittelbar nicht möglich ist, übernimmt bei Hegel die Religion im Sinne eines säkularisierten Christentums die Funktion, ein Muster für das Handeln abzugeben. Hierdurch wird allerdings die nur angedeutete, im Grunde genommen gar nicht offen ausgesprochene Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft, auch praktisch zu sein, gewissermaßen zurückgenommen. So gesehen, wurde die Rolle der Metaphern in der Philosophie lediglich darauf beschränkt, die Aufgabe der Religion - des Protestantismus - zu verdeutlichen. Der Philosoph seinerseits zieht sich in die Gestalt des ,reiferen Geistes', die Sphäre der begrifflichen Philosophie zurück, deren mühsame Arbeit auch nicht jeden anlangt. Hier ist keine Rede mehr von der normsetzenden Rolle der Philosophie, die Versöhnung stellt in dieser Hinsicht auch kein philosophisches Problem mehr dar, sondern sie gehört in die Kompetenz der Religion bzw. des Glaubens. Damit wird der universale Anspruch der Moderne in bezug auf die Verhaltensnormen nicht durch die Philosophie, sondern durch die Religion erfüllt. Es hat den Anschein, als hätte Hegel jene ursprüngliche Frage fallen gelassen, wie sich die Philosophie zur Wirklichkeit zu verhalten habe. Jetzt handelt es sich lediglich darum, daß er die Beschränktheit dieses universalen Anspruchs in der Philosophie als Wissenschaft festschreibt. Die Religion mit ihrem Instrumentarium kann aber die Sphäre sein, wo dieser universale Anspruch befriedigt werden kann. Mit dieser Selbstbeschränkung der Philosophie treten wir in ihre weltliche Existenz zurück. Jedoch bildet die Selbstbeschränkung nicht das letzte Wort Hegels zu dem gesamten Problemkreis; es steht uns noch ein weiterer Kreisgang bevor. Im nächsten Abschnitt der „Vorrede" kommt er wieder auf die Frage nach dem nicht zu befolgenden oder unrichtigen Verhalten zurück: „So wie die Vernunft sich nicht mit der Annäherung, als welche weder kalt

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noch warm ist und darum ausgespien wird, begnügt, ebenso wenig begnügt sie sich mit der kalten Verzweiflung, die zugibt, daß es in dieser Zeitlichkeit wohl schlecht oder höchstens mittelmäßig zugehe, aber eben in ihr nichts Besseres zu haben und nur darum Frieden mit der Wirklichkeit zu halten sei.. ."20 Es liegt auf der Hand, daß das Problem des richtigen bzw. falschen Verhaltens erneut auf die Philosophie bzw. die Philosophen bezogen ist. Weder die Gleichgültigkeit noch die kalte Verzweiflung können also zum Verhaltensmuster dienen. Ausschließlich die Norm der durch Erkenntnis erworbenen Versöhnung kann als zu befolgendes Verhaltensmuster akzeptiert werden. In dieser Passage versieht Hegel den Imperativ ,die Rose im Kreuze der Gegenwart erkennen' mit weiteren Erklärungen, als er die Bemerkung hinzufügt: „es ist ein wärmerer Frieden mit ihr [mit der Wirklichkeit - E. R.], den die Erkenntnis schafft". Man hat sogar den Eindruck, als erhielte hier der ursprünglich religiöse Inhalt der Versöhnung eine diesseitige Bedeutung, und zwar nicht nur im Sinne des säkularisierten Protestantismus, sondern auch in dem des vom Religiösen schon getrennten philosophischen Wissens. Eür die diesseitige Wende spricht die im vorletzten Abschnitt eingesetzte Metapher ,Eule der Minerva', welche kraft ihres ,heidnischen' Inhaltes z. T. den Kontrapunkt zur christlichen Metapher der Versöhnung, der Metapher „die Vernunft als Rose im Kreuze der Gegenwart erkennen", bildet. Andererseits stellt die Metapher von der ,Eule der Minerva' auch eine Portsetzung, Ergänzung und Entfaltung des Gegenwärtigkeitsimperativs der christlichen Versöhnung dar: das ,Ideale' läßt sich demzufolge nur aus dem ,Realen', das ,zur Reife der Wirklichkeit' gelangte, aufbauen. Die Metapher vom ,heidnischen' Ursprung kann daher auch als eine Gestaltenverschiebung der christlichen Metapher verstanden werden. Anhand dieses Beispiels wird übrigens wiederum deutlich, wie innig in der Hegelschen Philosophie antike und christliche Geistigkeit miteinander verflochten sind.21

G. W. F. Hegel: Rechtsphilosophie (s. o. Anm. 9). 27. Es ist zu vermuten, daß die mit der antiken Tradition zusammenhängende Dialektik für den Gebrauch der Metapher bei Hegel eine wichtige Rolle spielte. Methodologische Koordinaten eines solchen Einflusses macht der Sammelband deutlich: Hegel und die antike Dialektik. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt a. M. 1990. ln seinem Aufsatz befaßt sich hier O. Pöggeler mit der Hegelschen Bestimmimg von Begriff, Begrifflichkeit und Leben in bezug auf die Dialektik: „Die Frage, was Hegels Dialektik der Antike und was sie der Neuzeit verdanke, führt zu unterschiedlichen Perspektiven, in denen Hegels Logik auf zwei geschichtliche Traditionen zurückgeführt werden kann." (Ebd. 61). 20 21

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Die Metapher ,Eule der Minerva' weist darüber hinaus auf einen weiteren Zwiespalt hin. Die drei vorherigen Metaphern (Hic Rhodus, hic saltus; Hier ist die Rose, hier tanze; die Vernunft als Rose im Kreuze der Gegenwart erkennen) gehören zur Dimension der Gegenwart, in allen wird die entscheidende Rolle der Gegenwart im Unterschied zu einer imaginären Zukunft hervorgehoben. Auch die Metapher ,Eule der Minerva' verfügt über eine solche Dimension, die oben anhand der Beziehung des Idealen zum Realen aufgezeigt wurde. Aber Hegel führt den Leser auch in eine andere Dimension hinein, wenn er die ,gereifte', ,vollendete' Wirklichkeit, die alt gewordene Gestalt des Lebens anführt und all dies einer imaginären Welt der Zukunft gegenüberstellt, so daß die Dimension der Vergangenheit hier eine ausgezeichnete Stelle erhält. Warum wird jedoch in dem einen Zusammenhang die Dimension der Gegenwart herausgehoben und in dem anderen die Vergangenheit eingeführt? Auch darauf läßt sich mit der Doppelfunktion der neuzeitlichen Philosophie als Wissenschaft eine Antwort finden, ln dem ersten Zusammenhang hebt Hegel vom Gesichtspunkt der Ableitbarkeit der Normen des Handelns aus die Priorität der Gegenwart hervor. In der zweiten Annäherung an die Philosophie schreitet man mit Hilfe der Metapher ,Eule der Minerva' aus der Sphäre des Handelns in die des ,Gedanken', des ,Begriffs' hinüber, wo die Begreifbarkeit, das Verstehen der Wirklichkeit das maßgebliche Kriterium ist. Der Wechsel der zeitlichen Dimensionen ist also auf den Unterschied der Auslegungshorizonte und der damit parallel sich wandelnden Punktionen des Erkennens zurückzuführen. Der weitere Gedankengang scheint die durch die Metapher,Eule der Minerva' ausgedrückte ,diesseitige' Wende zu bekräftigen. Die durch Erkenntnis erworbene und zu erwerbende Versöhnung kann nach Hegels Ansicht dem Philosophen nicht nur im Heute als Muster dienen, sondern es bietet sich für ihn überhaupt keine andere vernünftige Lösung. Dies liegt nun an jener Natur der Philosophie, die mit Hilfe der Metapher ,Eule der Minerva' umschrieben wird, die den ganzen Gedankengang damit beschließt, daß sie die Unmöglichkeit einer jeden voraussagbaren Erwartung an die Zukunft enthält. Die ,Eule der Minerva' ist der letzte Trumpf, wobei inmitten der Widersprüchlichkeiten der modernen Zeit das erwünschte oder möglicherweise richtige Verhalten zur Wirklichkeit auf dem Spiel steht. Allerdings kann es auch sein, daß statt dessen eigentlich vielmehr das Schicksal des sich hinter der Philosophie als solcher versteckenden Philosophen aufs Spiel gesetzt wird. Welche Alternative dabei zutrifft, ist dabei einerlei, weil der Spielraum ziemlich eingeschränkt ist, und zwar in beiden Fällen. Der Philosoph kennt zwar die Sprache der Götter - und das ist ein Privileg -, aber er kann damit in der ,diesseitigen' Wirklichkeit nicht

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viel ausrichten. Die Philosophie hat ihre Macht ausschließlich im Reich des absoluten Geistes, dessen vielversprechendes Reich jetzt jedoch noch nicht erreicht ist. Vielmehr befanden wir uns weiterhin auf dem Gebiet des objektiven Geistes, in der weltlichen Existenz, die nicht die eigentliche Heimat der Philosophie ist. Diese sich stets wiederholende Spannung um den Status und die Aufgabe der Philosophie ist der Raum, wo der Philosoph der Moderne die richtigen Verhaltensnormen, den Maßstab des ,rechten Lebens' sucht. Der Handlungsspielraum des Philosophen ist, wiewohl dazu befähigt, die Vergangenheit, die Geschichte und das daraus entstammende Wissen zu Hilfe zu nehmen, genauso eng wie der des mit den Kollisionen ringenden, allein im protestantischen Glauben Anhalt findenden modernen Menschen. Was sich beide Male herausstellte, ist, daß der Mensch der modernen Zeit in der Versöhnung mit der Gegenwart sich selbst und seine Welt verstehen sowie erhalten kann. Es wurde aber auch deutlich, daß das Wissen, die Bildung und die Philosophie keineswegs allmächtig sind; in diesem Dilemma vermag selbst demjenigen, der die mühsame Arbeit der Philosophie nicht scheut, weder Wissen noch Glaube zu helfen, was Hegel hier zugibt: auch wenn im absoluten Geist die Philosophie die Königin des Wissens ist, kommt man mit diesem erhabenen Wissen im objektiven Geist, in der weltlichen Existenz, wo wir das richtige Verhalten zur Wirklichkeit, zur Gegenwart erkennen müssen, um unseren Platz darin finden zu können, nicht weiter. Aber man hat noch einen weiteren Kreis, den letzten Abschnitt der „Vorrede", vor sich. Es wurde bereits erwähnt, daß der Leser in diesem Abschnitt dazu angeregt wird, von der jetzt erreichten Warte aus auf das Bisherige zurückzublicken, weil Hegel hier seine eigenen Ausführungen mit dem Argument in Frage zu stellen scheint, daß sie bloß subjektiv, äußerlich sind und damit der Forderung nach Wissenschaftlichkeit nicht gerecht würden. Zu dieser Spannung in der „Vorrede" ist es dadurch gekommen, daß das auf dem Axiom von der Philosophie als Wissenschaft aufbauende System Hegels die Welt nicht nur verstehend begreifen, sondern auch Normen des Handelns ableiten soll. Dies ist aber vom Standpunkt des streng begrifflichen und in diesem Sinn geschlossenen Systems Hegels problematisch, so daß hier Hegel Inkonsequenzen vorgehalten werden können. Betrachtet man die „Vorrede" vom letzten Abschnitt aus, dann läßt sie sich nur unter äußersten Schwierigkeiten mit dem System der Rechtsphilosophie verbinden, weil Hegel in diesem Abschnitt auf der ausschließlichen Berechtigung der wissenschaftlichen und objektiven Einstellung zur Wirklichkeit besteht. Während Hegel in den vorangehenden Abschnitten der

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„Vorrede" die Frage nach den Normen des Handelns sowohl unter ihrem begrifflichen als auch unter ihrem metaphorischen Aspekt behandelt, beginnt er vom letzten Abschnitt an, die Struktur und das Funktionieren einer bestimmten Sphäre des Geistes begrifflich darzulegen, die, sofern sie den an das spekulative Wissen gerichteten Forderungen entspricht, mit dem Haupttext der Rechtsphilosophie identisch ist. Betrachten wir diese Spannung etwas genauer. Wenn Hegel in die „Vorrede" Metaphern eindringen läßt, dann wird daran ihr poetischer Charakter deutlich, der mit der Rhetorik der Versöhnung sein wichtigstes Element besitzt. Neben der Rhetorik steht die metaphorische Redeweise in Zusammenhang mit der Architektonik der „Vorrede" und der als Gestaltverschiebung fungierenden Dialektik, wodurch das System selbst in Bewegung gerät, so daß sich damit auch der Status und die Bedeutung der Versöhnung ändern. Fängt man nun aber an, die „Vorrede" vom letzten Abschnitt, vom System der Rechtsphilosophie her auszulegen, so stellt sich folgendes heraus: es ist auch auf Abweichungen von der Gattung der „Vorrede" und des Systembaus zurückzuführen, wann und in welchem konkreten Kontext eben Hegel von den Mitteln der Metapher Gebrauch macht, bzw. wann er deren Gebrauch ausschließt. So handelt es sich nicht nur darum, daß im letzten Abschnitt der „Vorrede" die bis dahin behandelten Probleme und Ausdrücke von Hegel für subjektiv und äußerlich erklärt werden, auf welche die Regeln des durch strenge Begrifflichkeit aufgebauten Systems nicht bezogen werden können. Darüber hinaus erfährt die ganze „Vorrede", ja sogar die Gattung der Vorrede selbst eine radikale Umwertung, und zwar nach dem auf der nächsten Buchseite einzuführenden neuen Gesichtspunkt des gerade anfangenden System der Rechtsphilosophie. Mit diesem Gesichtspunkt verändert sich aber im letzten Abschnitt die Bedeutung des Systems. Das heißt zunächst einmal, daß dieser Abschnitt der „Vorrede" auch vom ersten Element des Systems der Rechtsphilosophie, dem abstrakten Recht her ausgelegt werden muß. Er bildet also nicht nur das Ende und den Abschluß der „Vorrede", sondern er fungiert auch als die Einführung eines Systems, das jedoch nicht wie bisher als Gestaltenverschiebung und als ,Gang des Zeigens' beim ,Praktizieren' der Dialektik beschrieben werden kann. Im letzten Abschnitt der „Vorrede" klingt, gleichsam als neu ansetzender Akkord, bereits ein anderes System an, das der im abstrakten Recht beginnenden Architektonik der Rechtsphilosophie verpflichtet ist. Das Eintreten in eine andere systematische Denkweise wird auch durch den Wechsel der Rhetorik bestätigt, bei der von nun an die Metaphern verschwinden, als

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hätte es sie niemals gegeben. Anders ausgedrückt: Der Apparat der strengen Begrifflichkeit rückt in den Vordergrund, so daß ein gewandeltes Wörterbuch notwendig wird. Jetzt hat man es mit der rein wissenschaftlichen Sphäre der Philosophie und also mit der ,Sprache der Götter' zu tun, die, wenn man in sie durch die Vorhalle wie ein Fremder hineingekommen ist, keinen Blick zurück und keine Rückkehr in die vorspekulative Welt erlaubt. Mit diesem Schritt ist das ganze Problem der Versöhnung strukturell und inhaltlich wie auch seiner sprachlichen Form nach außerhalb des Systems verlegt worden. Das Außerhalb-des-Systems-Sein der Versöhnung als Metapher, als ,Sprache der übertätigen Menschen', ihre anomische, vom Gewöhnlichen abweichende Natur weist auf das Problematische am Hegelschen System, auf die inneren Ungeklärtheiten hin. Doch bringt die Versöhnung zugleich auch die Eigentümlichkeit des Systems zum Ausdruck, daß es keine Form, keine Sprache und überhaupt kein Element des Wissens gibt und geben kann, das nicht irgendwo und auf irgendeine Weise an das System anknüpfte. Die Versöhnung braucht nach der im letzten Abschnitt der „Vorrede" gestellten Eorderung der Wissenschaftlichkeit nicht zunichte gemacht zu werden, ebensowenig wie man sie vergessen darf, denn sie war eine Gestalt des Geistes. Ihr widerfährt es im Sinne der Aufhebung, zum Begriff zu werden und als Begriff ihren Status bzw. ihre Bedeutung und ihre Sprache im gerade erst veränderten System finden zu müssen. Das ist aber schon eine andere Geschichte. Wenn Hegel innerhalb der „Vorrede" eine Bewegung vollzieht, die die anfänglich wichtige Funktion der der metaphorischen Redeweise zugunsten eines auf das begriffliche Denken bauenden Systems aufgibt, dann ist auch der systemkonforme und/oder systemfremde Status der Versöhnung in Abhängigkeit von dieser Bewegung zu beschreiben. Dies ist auch der Grund dafür, daß der im Titel gebrauchte Ausdruck „Risse im System" sowohl als Behauptung wie auch als Frage verstanden werden kann. Hinter dieser Ambivalenz verbirgt sich die veränderte Lage und der veränderte Wirkungskreis der neuzeitlichen Philosophie als Wissenschaft, die mit folgendem Dilemma konfrontiert ist: Wie vermag man die universelle Forderung der Moderne hinsichtlich der Ableitbarkeit von Handlungsnormen gerecht zu werden, ohne gegen den von der Erkenntnisfunktion herrührenden und exklusiven Anspruch der sich als Wissenschaft begreifenden Philosophie auf Kohärenz und Konsistenz aufzugeben? Die aus dieser Lage resultierenden unaufhebbaren Spannungen sind auch hinter den Rissen verborgen, auf die man bei der Auslegung der Versöhnung stößt, ohne daß Hegels Philosophie dabei ihre erstaunliche Aktualität und große argumentative Kraft für unsere Zeit verliert.

MISZELLE Eduard Gans über „Opposition" und Karl Rosenkranz über den „Begriff der politischen Partei"

Der Bundestagsabgeordnete ADOLF ARNDT (1904-1974) hat in den fünfziger Jahren einmal auf die Frage nach einer möghchst knappen Definition der Demokratie geantwortet; „Demokratie ist eine politische Ordnung mit legaler Opposition." Diese Erkenntnis war erst plausibel nachdem Erfahrungen mit den Pseudodemokratien des 20. Jahrhunderts gemacht worden waren, die sich als „Führerdemokratie" im Deutschen Reich und als „Volksdemokratien" im Ostblock deklariert hatten. Für die Tradition der kontinentalen Demokratietheorie war dieser Gesichtspunkt keineswegs von Anfang an maßgeblich gewesen. Weder J. J. ROUSSEAU noch die entschiedenen Demokraten während der Französischen Revolution anerkannten die Legitimität einer parlamentarischen Opposition. Im Unterschied dazu entstand in England schon früh die Erfahrung, daß miteinander konkurrierende, in Opposition gegeneinander stehende, Parteien für ein Parlament nützlich, ja notwendig sind. Es ist daher auch kein Zufall, daß in dem großen Staatslexikon der badischen Liberalen CARL VON ROTTECK und CARL WELCKER die Thematik „Opposition" unter dem Stichwort „Fox und Pnr und ihre Politik; politische Parteien, Ministerialpartei und Opposition" abgehandelt wird. 1847 widmet CARL WELCKER diesem Thema 18 Seiten. 1

1 Vgl. Carl Welcker: Staatslexikon. Enzyklopädie der sämtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Neue, durchaus verbesserte und vermehrte Auflage. Bd 5. Altona 1847.34 f: „Die richtige Auffassung der bisherigen, ... wohltätig sich ergänzenden Richtungen der beiden englischen Hauptparteien bildet auch die wesentliche Grundlage zur rechten Beurteilung der Ministerial- und Oppositionspartei und dessen, was man oft als sogenarmte systematische Opposition so verwerflich findet... Die Repräsentation muß nun so organisiert sein, daß in jedem Falle vor der Beschlußfassung jede Maßregel durch die möglichst vollständige Hervorhebung und Abwägung aller sie unterstützenden und ihr entgegenstehenden Verhältnisse geprüft und ergänzt oder verbessert werde. Dieses muß vor allem auch nach jenen den beiden natürlichen Parteien zu Grunde liegenden Hauptgesichtspuirkten für alles gesunde Staatsleben geschehen. Was könnte nun aber hierzu vorteilhafter sein, als daß jedem neuen Vorschlag, daß insbesondere stets den Ministern und ihren durch moralische und menschliche Einflüsse befangenen Anhängern eine solche Opposition gegenübersteht, die, jene möglichst vollständige Prüfung durch absichtliches Aufsuchen und durch schonungslose Beleuchtung jeder schwachen Seite der Maßregel bewirken, sich zum Geschäfte macht? Hat ja doch selbst der einzelne Mensch zu seinem Vorteil in sich als systematische Opposition gegen jede kühne, vielleicht allzu kühne Bewegung

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MISZELLE

In diesem Artikel wird nicht von Torys und Whigs sondern von einer Ministerialpartei und einer Oppositionspartei gesprochen. In England hießen diese Parteien eine Zeit lang „Court" und „Country", weil die Ministerialpartei durch den Mund des Monarchen sich zu äußern hatte, während die im Unterhaus in der Minderheit bleibende Partei ihrerseits darum bemüht war, die Interessen und Ansichten des „Landes" (Country) angemessener zum Ausdruck zu bringen, um bei der nächsten Parlamentswahl die Mehrheit zu erlangen. Mehr noch als Hegel, auf dessen gründliche Vertrautheit mit der englischen Politik NORBERT WASZEK wiederholt hingewiesen hat^, orientierte sich EDUARD GANS am britischen Vorbild. Seine kleine Abhandlung Über Opposition beginnt mit einer entschiedenen Kritik an der in Deutschland damals - und noch lange Zeit danach - weit verbreiteten Verwechslung von Opposition mit Hochverrat. In den folgenden Abschnitten entwirft er eine Theorie der Opposition aus dem Geist Hegelscher Dialektik. Opposition ist für ihn das notwendige Moment des Negativen, das sowohl am individuellen Menschen als auch an Eamilie und Staat vorhanden sein muß, wenn sie lebendig sein sollen. Im Einzelmenschen ist ein oppositionelles Moment insofern vorhanden als der Mensch - im Unterschied zum Tier - als selbstbewußter „doppelt ist" - zugleich Subjekt und Objekt, Sich-wissender und Gewußter. Diese dialektische Struktur könnte man - auf der Grundlage psychoanalytischer Konzepte - noch weiter konkretisieren. Dem bewußten Ich steht nach EREUD sowohl das triebhafte „Es" als auch das kritische „Uber-Ich" gegenüber. Zu einer reifen Persönlichkeit entwickelt sich ein Mensch erst dadurch, daß er „ichstark" sowohl die Triebhaftigkeit des Es zu kontrollieren

den Ruhetrieb, und hinwiederum gegen die vielleicht allzu träge Ruhe die leicht erregbaren Affecten und die Begeisterung für höhere Ideen! ... Hat ein Volk überhaupt nur einen geordneten Zustand und ist es nicht durch öffentliche Demoralisation unrettbar verloren, alsdann bleiben in allen diesen Kämpfen zur gemeinschaftlichen Grundlage und Schranke die wesentlichen Grundsätze des Rechts und der Verfassung, der Achtung, der Sitte und Ehre, sowie als lebendiger Einigungspunkt die wahre Vaterlandsliebe. Ist aber dies der Fall, alsdann führen ... diese öffentlich unter Teilnahme der ganzen Nation geführten eifrigen Wettkämpfe, solche regelmäßigen vollkommenen Prüfungen zur möglichsten Erkenntnis des Wahren und dem Vaterland Heilsamen, zum Sieg der Wahrheit über die Lüge ... Sie führen zugleich, weit mehr als das Dunkel über die Beratungen und als geheime Hofintrigen, zum Vertrauen in die Güte der Beschlüsse und zum lebendigen Gemeingeist und Patriotismus." 2 Vgl. Norbert Waszek: Weltgeschichte und Zeitgeschehen. Hegels Lektüre des ,Globe'. ln: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg, von H.-Chr. Lucas und G. Planty-Bonjour. Stuttgart 1989. 33-56.

Fetscher: Eduard Gans und Karl Rosenkranz

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als auch die Ansprüche des Über-Ich in erträglichen Grenzen zu halten vermag.3 Auch in der Familie findet sich ein Moment der Opposition. Zwar gilt hier - für die Beziehungen der Individuen - das Prinzip der Liebe, die Anerkennung nicht von Leistung abhängig macht, sondern der bloßen Existenz gilt, dennoch wären Familien, in denen weder Meinungsverschiedenheiten noch Opposition vorhanden wären, „schal und langweilig". Es ist auffallend, daß EDUARD GANS der „bürgerlichen Gesellschaft", die in Hegels Konzeption zwischen Eamilie und Staat steht, keinen eignen Abschnitt widmet. Er deutet den Übergang von der liebevollen Geschlossenheit der Familie zur Vereinzelung der erwachsenen Personen in der bürgerlichen Gesellschaft nur durch den Satz an: „Tritt nun die Familie in den Conflict mit den Gegenständen und dem Reichtum des Lebens und der Welt". Damit ist zweifellos die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Gegensätzen, mit Konkurrenzkampf usw. gemeint. Als besondere Thematik kommt sie aber in diesem kurzen Abriß nicht vor, sondern lediglich in Gestalt ihrer Rückwirkung auf die Familie. Bei Hegel wird der Übergang von der Familie, „der unmittelbaren Substantialität des Geistes" mit ihrer „sich empfindenden Einheit" in der Liebe, zur bürgerlichen Gesellschaft höchst dramatisch beschrieben: „Diese Substantialität geht in den Verlust ihrer Einheit, in die Entzweiung und in den Standpunkt des Relativen über, und ist so B. bürgerliche Gesellschaft, eine Verbindung der Glieder als selbständiger Einzelner."'^ Da GANS die bürgerliche Gesellschaft nicht ausdrücklich thematisiert, ist er genötigt, ein opponierendes Moment auch in der Eamilie nachzuweisen, weil nur so die Eamilie eine „genügende Grundlage für den Staat" werden kann. Der Übergang zum Staat wird von Hegel ganz anders entwickelt. Er erfolgt auf dem Weg über die gegensätzlichen Korporationen, die ein je „besonderes Interesse, besonderen Zweck, zum Inhalt zu ihrem allgemeinen Zweck" habend. Die „Corporationen" bringen die Interessen von Land und Stadt sowie der verschiedenen Gewerbe zum Ausdruck. „Seine Wahrheit" hat „der Zweck der Korporation", der unmittelbar „beschränkt und endlich" ist, erst „in dem an und für sich allgemeinen Zwecke und

3 Vgl. z. B. Sigmund Freud: Das Ich und das Es und Das Ich und das Über-Ich. In: Ders.: Gesammelte Werke (Imago-Ausgabe). Bd 13. Frankfurt/M. 1963.237 ff. * G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 157. 5 Ebd.§256.

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MISZELLE

dessen absoluter Wirklichkeit" - nämlich im Staat, in den „daher die bürgerliche Gesellschaft übergeht''.^ Der Wahrheit und Dignität nach ist aber der Staat vielmehr das erste und Familie wie bürgerliche Gesellschaft die allein durch ihn ermöglichten unterschiedlichen Momente. Darin erblickt Hegel bekanntlich die Überlegenheit des modernen Staates im Unterschied zur antiken Polis, daß er „das Prinzip der Subjektivität... zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit" entlassen kann und dennoch die Individuen „in die substantielle Einheit zurückzuführen" vermag.7 An die Stelle der unterschiedlichen, einander oft widersprechenden Corporationen mit ihren partikularen Interessen - oder auch an die Stelle der Zweiheit von Eamilie und bürgerlicher Gesellschaft - tritt bei EDUARD GANS die „Opposition". Vielleicht sollte man angemessener unterstellen, daß GANS im Parlament nach britischem Vorbild eine Zweiheit von Parteien annimmt, von denen die eine - die WELCKER die Ministerialpartei nennen wird - auf der Seite der Regierung steht, während die andere „opponiert". Die kritische Begleitung der Regierungspolitik durch eine Opposition ist aber - wie GANS in seinem letzten Abschnitt ausführt - für die Regierung selbst von großem Nutzen. Sie wendet sich - je nach ihrer kritischen Einsicht - gegen die zu progressive oder zu rückschrittliche Politik der Regierung. Diese oppositionelle Kritik dient - so formuliert es GANS - letztlich der Verwirklichung der „Wahrheit". Die Anerkennung der Nützlichkeit, ja Unentbehrhchkeit der Opposition wird durch das Beispiel WILLIAM PITTS DES JüNGEREN hervorgehoben, der - als einmal im Parlament keine Opposition sich rührte - durch Bestechung sich künstlich eine opponierende Fraktion schuf. Die keineswegs nur spaßhafte Bezeichnung „his Majesty's Opposition" weist ebenso darauf hin, daß eine opponierende Parlamentspartei ein wesentlicher Bestandteil des britischen Regierungssystems ist, ebenso unentbehrlich wie die Regierung selbst. Der leise kritisierende Hinweis auf eine Oppositionspartei im zeitgenössischen Frankreich, die nach Übernahme der Regierung „in ihrem Anschein gar nicht mehr das zu sein vorgab, was sie noch vor wenigen Jahren hatte vorstellen wollen", hängt vermutlich damit zusammen, daß EDUARD GANS den Wechsel der Regierungsmehrheiten nicht als Prinzip des parlamentarischen Systems erkannte. Vielleicht ist aber nur gemeint, daß an die Regierung gelangende ehemalige Oppositionsparteien oft ihre früheren

6 Ebd. 7 Ebd. § 260.

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Prinzipien vergessen, weil sich die Probleme von der Regierungsbank aus ganz anders ausnehmen als von der Seite der Opposition. Besonders bemerkenswert ist auch der letzte Abschnitt der GANSschen Abhandlung. Er enthält ein eindrückliches Plädoyer für die „legale"^, freie, „ungehemmte" Tätigkeit der Opposition. Wird die Opposition unterdrückt, dann sucht die - in der Bevölkerung und unter der politischen Klasse stets vorhandene - Unzufriedenheit auf anderen - illegalen und gefährlichen - Wegen sich auszudrücken. Es kommt entweder zu Intrigen oder auch zu „Anarchie und Auflösung". Hegel geht in seinem Paragraphen über die Pressefreiheit, „die Freiheit der öffentlichen Mitteilung", nicht so weit wie GANS. Er meint, sie diene der „Befriedigung jenes prikkelnden Triebes, seine Meinung zu sagen und gesagt zu haben", und erklärt, daß ihre Gefahr durch die „Ausschweifungen teils verhindernden, teils bestrafenden polizeilichen und Rechtsgesetze und Anordnungen" begrenzt werde. Indirekt sorge aber „vornehmlich" die „Vernünftigkeit der Verfassung, die Festigkeit der Regierung", auch die „Öffentlichkeit der Ständeversammlung", in der „die gediegene und gebildete Einsicht über die Interessen des Staates" dominiert, dafür, daß Meinungsfreiheit nicht schadet.9 Ein Anklang an Hegels Hervorhebung der Vernünftigkeit der von gebildeten Beamten beratenen Regierung findet sich allerdings in dem Satz von EDUARD GANS, in dem er schreibt, „eine Regierung solle sicherlich der Opposition Herr werden". Er fügt freilich hinzu, „aber nur, indem sie von ihr lernt, durch sie bereichert wird, und sie gleichsam in sich aufnimmt." Belehrung empfängt - nach Hegel - vor allem die Bürgerschaft, indem sie den öffentlichen Beratungen im Parlament folgt. Die Regierung bedarf bei Hegel dieser Belehrung durch eine Opposition nicht. Der „allgemeine Stand", „der die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte" hatio, kann zwar die Argumente von Vertretern der 8 Norbert Waszek, der Gans' Überlegungen zur Opposition wieder abgedruckt hat (vgl. Eduard Gans (1797-1839): Hegelianer - Jude - Europäer. Texte und Dokumente. Frankfurt a. M. 1991. 156 f), liest hier mit der ersten Druckfassung irrtümlicherweise „loyale". Die Auffassung von Gans zur Opposition ist zuerst veröffentlicht als „Brief an Dr. Dorow in Berlin" in: Denkschriften und Briefe zur Charakteristik der Welt und Litteratur. Bd 5. Berlin 1841.90-93. 9 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 319. Einen aufschlußreichen Vergleich zwischen Hegel und Gans gibt Johann Braun: Die Lehre von der Opposition bei Hegel und Gans. In; Rechtstheorie. 15 (1984), 343-383. JO Ebd. § 205. Der durch umfassende Bildung und Examen aus der übrigen Bevölkerung herausgehobene „allgemeine Stand" wird im englischen poHtischen System vermißt. Hier vertritt Gans zugleich die kontinentale und die fortgeschrittenere bürgerliche Position gegenüber dem halbfeudalen britischen Standpunkt.

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„besonderen Stände" zur Kenntnis nehmen, wird aber von ihnen nicht hinsichtlich wesentlicher Erkenntnisse „bereichert". Sechs Jahre nach EDUARD GANS beschäftigt sich ein anderer Hegelianer KARL ROSENKRANZ mit einem neu aufkommenden Begriff, der - aus England übernommen - in Deutschland zunehmend verwendet wird. Es ist der „Begriff der politischen Partei" (1843, Rede zum 18. Januar am Krönungsfeste Preußens in der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg).^ Das Wort sei zwar neu, meint ROSENKRANZ, die Sache aber schon seit langem bekannt. Es gab konfessionelle, literarische und philosophische Kontroversen und entsprechende Parteinahmen. „Die Entstehung der politischen Partei muß [aber] aus dem Begriff des Staates abgeleitet werden. Der Staat ist die Form, welche die sittliche Freiheit eines Volkes als ein in sich progressives System von Gesetzen und Einrichtungen erhält. Weil aber der Inhalt in sich selbst unendlich ist, so ist die Form, die er sich gibt, ihm niemals in der Weise angemessen, daß nicht noch eine Vervollkommnung derselben denkbar wäre. Durch dies Verhältniß erzeugt sich eine stete Unruhe. "^2 Politische Parteien sind - in modernen Staaten - Konkretisationen unterschiedlicher Auffassungen und Interessen in bezug auf die politische Form des Gemeinwesens. Familien und Stände spielen im zeitgenössischen Staat die frühere Rolle nicht mehr: „So wenig als Familien an sich, sind Stände als solche Parteien. Sie werden es aber leicht, sobald ein Stand über den andern in einem solchen Grade hervorragt, daß er der Sache nach die Herrschaft über die anderen Stände erwirbt und diese befürchten müssen, es könnte die Herrschaft de facto in eine de jure verwandelt werden. "i3 Auch die Regierung ist oder soll doch nicht Partei sein, weil sie sonst den Haß der existierenden unterschiedlichen Parteien auf sich ziehen würde. „Die wirkliche Partei" gemeint ist die politische Partei, wie sie z. B. in England entstanden ist entsteht also erst, wenn zu dem persönlichen Interesse der Familien und zu dem objektiven Interesse der Stände das Princip des Staates selbst, die Gesetzgebung hinzutritt.Die Entwicklung des Parteiwesens hat dazu geführt, daß an die Stelle zufälliger Bezeichnungen (wie Tory und Whig z. B.) Benennungen auftauchten, „welche selbst einen Begriff ausdrücken. Von „Demokraten und Oligarchen, von Republicanern und Royalisten, von Liberalen und n Vgl. Karl Rosenkranz: Über den Begriff der politischen Partei. In: Die Hegelsche Rechte. Ausgewählt und eingeleitet von Hermann Lübbe. Stuttgart 1962.65-85. Dieser Text, der nur sechs Jahre nach dem Gansschen Essay erschienen ist, macht deutlich, daß beide Hegelianer sich sehr nahe stehen, nur daß Rosenkranz den bei Gans fehlenden Begriff der Partei hinzubringt, u Ebd. 68. 13 Ebd. 69. u Ebd. 70.

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Servilen, von Radicalen und Conservativen usw." ist jetzt die Redeis. In diesen Parteien ist - wie schon gesagt - das Prinzip mit dem unterschiedlichen Interesse verbunden. Der Staat als existierende „Allgemeinheit" bleibt abstrakt, wenn er nicht das Besondere (die Besonderheiten der Individuen und Stände) als Unterschiede in sich faßt. „In dieser Einheit des Allgemeinen mit dem Besonderen liegt mithin die Möglichkeit, daß das Besondere sich nicht nur als dem Wesen nach identisch mit dem Allgemeinen, vielmehr als dieses selbst zu setzen versuchen kann, oder auch, daß das Allgemeine für concrete Bestimmungen sich auf den Standpunct der Besonderheit fallen läßt und denselben mit dem ihm notwendigen verwechselt. Die Partei entsteht dadurch, daß ein Element des Staates den Charakter usurpiert, in seiner Besonderheit nicht nur an sich, sondern überhaupt das Allgemeine zu sein. Dies Streben muß sofort die Entgegensetzung desjenigen besonderen Elements erzeugen, welches der Natur der Sache nach das dem zur Herrschaft aufstrebenden coordiniert ist. Die Reaction desselben ist die Form, in welcher die mechanische Bewegung des Ganzen sich zum Gleichgewicht mit sich wiederherstellt. Indem jede Partei unausbleiblich die ihr widersprechende erzeugt, sieht man daß es eigentlich das Ganze selbst ist, welches seine Unterschiede bis zum Extreme gegeneinander spannt, um sich dadurch des wahrhaften Inhalts seiner selbst, der ihm sonst ein verborgenes Gut bliebe, zu bemächtigen. Der Staat ist nur in so weit Staat, als er ein Bewußtsein von der Notwendigkeit der Form hat, welche die Freiheit in seinen Gesetzen und Einrichtungen gewinnt. Die Überzeugung, daß der politische Staat sich dadurch von Familie und bürgerlicher Gesellschaft unterscheidet, daß er ein vernünftiges Bewußtsein seiner selbst besitzt, haben ROSENKRANZ wie EDUARD GANS von Hegel übernommen. Die im Staat enthaltenen und zur Herausbildung dieses Selbstbewußtseins notwendigen Momente sind aber für ROSENKRANZ nicht mehr Familien und besondere Stände und deren „Corporationen", sondern miteinander konkurrierende Parteien. - ROSENKRANZ fährt in seiner Argumentation wie folgt fort: „Allein dies Selbstbewußtsein entwickelt sich nur dadurch, daß es die lebendige Erfahrung von der Notwendigkeit der im Staat geltenden Gesetze macht. Diese Erfahrung kann aber nicht ge-

15 Ebd. 16 Ebd. 71. Pointiert faßt der Gans verehrende H. B. Oppenheim diese Überlegungen folgendermaßen zusammen: „Wie die Wahrheit nur aus der Entwicklung von Gegensätzen hervorgeht, so der Staat notwendig der Parteien bedarf, damit die öffentliche Meinung sich bilden kann. Ein freier Staat ohne Parteien ist gar nicht denkbar... Staaten ohne Parteien gehen unter." {Philosophie des Rechts und der Gesellschaß. Stuttgart 1850.60 f.

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macht werden, wenn nicht die Reflexion vor der Fixierung des Gesetzes die Notwendigkeit desselben eben so sehr bestritten als verteidigt hat/“^'^ Bestreitung und Verteidigung der Gesetzesentwürfe ist die eigentliche Funktion der politischen Parteien im Parlament. Genauso wie bei GANS und später bei CARL WELCKER steht auch bei ROSENKRANZ die Regierung „über den Parteien", sie „muß das Bewußtsein haben, daß die Parteien für sie das bequemste und angemessene Mittel sind, das wahrhafte Bedürfnis des Volkes zu erkennen. Die Regierung hat also den Kampf der Parteien nicht im Mindesten zu fürchten. Sie hat nur dafür zu sorgen, daß einer jeden ,freies Feld und keine Gunst' zu Teil werde. Denn wollte sie selbst Partei für eine Partei nehmen, so würde sie dadurch in die unfehlbare Einseitigkeit derselben und in das damit verbundene einseitige Schicksal geraten. Eine kluge Regierung zögert ihre eigne Entscheidung so lange hinaus, bis die „Dialektik der Parteien auch durch das Stadium der Sophistik" hindurchgegangen ist. Am geschicktesten verfährt sie, wenn sie nicht auf die Dankbarkeit der Parteien wartet, sondern davon ausgeht, daß sie es „keiner Partei recht machen" kann. An dieser Stelle weist ROSENKRANZ erstaunlicher Weise auf NAPOLEON hin, der „mit sich stets [dann] am zufriedensten" war, „wenn Alles mit ihm am unzufriedensten war".i9 Daß Rosenkranz nicht nur die Prinzipien des Parteienkampfes sondern auch deren oft banale Realität kennt, wird deutlich, wenn er die Häufigkeit der Bestechung von Oppositionsparteien erwähnt und solche Parteien anprangert, die nur deshalb opponieren, um „die Regierung zur Bestechung zu zwingen". Der Kampf der Parteien gilt der jeweiligen Gegenpartei und der Regierung, auf die sie Einfluß zu nehmen suchen. Die dafür benützten Mittel sind seit jeher die gleichen gewesen: theoretische Mittel sind die „begriffliche Widerlegung der Ansichten der Gegenpartei", aber auch „streng sachliche Kritik ihrer Handlungen und Charaktere".20 Polemische Mittel sind Verunglimpfungen, verbale Angriffe, Verleumdungen usw, die von Beobachtern der englischen Wahlkämpfe, die vom Kontinent kommen, oft mit Entsetzen registriert werden, aber in Wirklichkeit dort meist ganz ungefährlich bleiben. Ein Versuch, die unbequem werdende oppositionelle Partei zu unterdrücken, wird stets scheitern soweit es sich um eine Partei handelt „welche aus substantiellem Boden entsprossen ist".2i Ganz ähnlich wie EDUARD Karl Rosenkranz: Überden Begriff der politischen Partei (s.

18 Ebd. 72. 19 Ebd. 73. 20 Ebd. 77.

o. Anm. 11), 71.

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warnt auch ROSENKRANZ vor unterdrückenden Maßnahmen oder Verboten, weil diese Verschwörungen und fanatische Feindseligkeit zur Folge zu haben pflegen. Dagegen müsse sich „die Regierung so verhalten, wie Hegel von der Vernunft sagt, daß sie als zweckmäßig handelnde" die List sei, welche das Mittel für die Verwirklichung des Zwecks sich abarbeiten und aufarbeiten läßt und sich den Genuß des reinen Resultates vorbehält".22 Ehe ROSENKRANZ abschließend - nach dem Vorbild Hegels - die Grenzen auch noch des vernünftigen Staates (bzw. der vernunftgeleiteten Regierung) durch Hinweis auf die „Vorsehung" (die Weltgeschichte) aufzeigt, mahnt er noch einmal seine Zeitgenossen: „Das Klagen über die Parteien, das Verdrießlichtun gegen sie hilft nichts, wenn sie einmal da sind: nur ihre selbstbewußte Freilassung von Seiten der Regierung verwandelt das Negative ihres Tuns in positive Leistungen. Die Reibung und freie Äußerung der Parteien ist die Bedingung für die Bildung einer wahrhaften öffentlichen Meinung, welche die Vorarbeit für die Richtung übernimmt, der die Regierung folgen muß. "23 Iring Fetscher (Frankfurt a. M.) GANS

Ebd. 83. Ebd. 84 Hegel verweist wiederholt auf die listige Verhaltensweise „zweckmäßigen Tuns". Dabei hat er in erster Linie die Technik der Naturbeherrschung im Auge. Vgl. z. B. „Die Vernunft ist ebenso so listig als mächtig. Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß auf einander einwirken und an einander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt" (Enzyklopädie § 209 Zusatz). Die List des menschlichen Technikers gegenüber der Natur wird an der gleichen Stelle mit der göttlichen List gegenüber der Welt und ihrem Prozeß in Verbindung gebracht. „Gott läßt die Menschen mit ihren besonderen Leidenschaften und Interessen gewähren, und was dadurch zu Stande kömmt, das ist die Vollführung seiner Absichten, welche ein Anderes sind, als dasjenige, um was es denjenigen, deren er sich dabei bedient, zunächst zu tun war." Daß Rosenkranz der Regierung den miteinander streitenden Parteien gegenüber die gleiche listige Gelassenheit vorschlägt, schränkt freilich seine demokratische Portschrittlichkeit wieder ein. Weder Gans noch Rosenkranz gehen in dieser Hinsicht über Hegels Überzeugung von der - nur durch das Weltgericht der Geschichte korrigierbare Vernünftigkeit des „Staates" und des „allgemeinen Standes" - der Beamten - hinaus. Parteien und Opposition sind notwendig und nützlich, aber Regierungen bleiben ihnen gegenüber unangreifbar. 23 Rosenkranz: Über den Begriff..., 84. 21 22

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Marco de Angelis: Die Rolle des Einflusses von }. J. Rousseau auf die Herausbildung von Hegels Jugendideal. Ein Versuch, die ,dunklen Jahre'

(1789-1792) der Jugendentwicklung Hegels zu erhellen. Frankfurt/Main [usw.]: Lang 1995. XX, 336 S. (Hegeliana; Bd 4.) Ders.: Hegels Philosophie als Weisheitslehre. Beiträge zu einer neuen Interpretation des jungen und des reifen Hegel. Frankfurt/Main [usw.]: Lang 1996.x, 206 S. In seiner 1994 in Bochum vorgelegten Dissertation versucht DE ANGELIS den Einfluß ROUSSEAUS - nach einem von HENRICH veröffentlichten Zeugnis LEUTWEINS, Hegels „Held" in Tübingen - in den „dunklen Jahren" (RIPALDA) von 1789-1792 der Tübinger Zeit auszumachen. Ein erster Teil ist zunächst der „Rekonstruktion des Inhaltes von Hegels geistiger Entwicklung" im fraglichen Zeitraum gewidmet (11-191). Am Leitfaden von Hegels Erage nach einer „Aufklärung des gemeinen Mannes" unterzieht der Autor sämtliche Texte der Stuttgarter, Tübinger und frühen Berner Zeit einer genetischen Analyse und kommt in einer „Schichtuntersuchung des Ideals der Stiftung einer Volksreligion" (178-186) zu dem Ergebnis, daß die Texte nach 1792 implizit mit einer „natürlichen Welt- und Menschenauffassung" operieren, deren Entwicklung allein den „dunklen Jahren" zugeschlagen werden kann. Im Anschluß versucht der zweite Teil (193-254) anhand der dokumentierten Hinweise und eines Textstellenvergleichs der Hegelschen Schriften mit dem Emile die „Philosophie ROUSSEAUS als Hauptquelle von Hegels früher natürlicher Welt- und Menschenauffassung" nachzuweisen sowie die Unterschiede in Gottes-, Natur- und Menschenauffassung herauszuarbeiten. Über die Rekonstruktion der Jugend Hegels hinaus versteht sich die Studie als Beitrag „zur Wiederentdeckung der echten Bedeutung von Hegels reifem System als ,Weisheitslehre'" (XII). Diesem Anliegen widmen sich die im zweiten zu besprechenden Band versammelten Texte. Die Beiträge der ersten beiden Sektionen bringen - in Ergänzung der Dissertation - über ROUSSEAU hinaus weitere „Quellen und Hintergründe" (11-51) zur Sprache und geben einen umfassenden und detaillierten Forschungsbericht zu einigen „Fragen und Interpretationen" (53-136). Die in der dritten und letzten Sektion versammelten Beiträge versuchen die Ergebnisse in Richtung auf die im Titel angekündigte „neue Interpretation" von „Hegels Philosophie als Weisheitslehre" weiterzuführen (137-198). Zunächst wird Hegels Entwicklung als Weg „Von der Weisheit zur Wissenschaft" (139-149) erörtert, um anschlie-

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ßend zu zeigen, „daß die Philosophie Hegels eine Lebensführung in den Menschen fördert, die als ,weise' bezeichnet werden kann. Diese Lebensführung kann in der Tat allen Hauptgefahren entgegenwrrken, die das Leben der Menschen bedrohen." (173) Die sich daraus ergebende Forderung nach einer „Aktualisierung von Hegels System" (181-186) soll durch die von DE ANGELIS entwickelte „Theorie der ,Globalinterpretation'" (187-196) geleistet werden, mit deren Durchführung er „beabsichtig(t), eine neue Fassung der Philosophie des absoluten Idealismus anzubieten" (1). Der Ausblick entwirft die Vision eines Bündnisses der Hegelianer (200), dessen „Hauptziel" in der Aufstellung einer ,,neue(n) politische(n) Theorie" bestehen soll, und das „sich das weitere Fernziel setzen müßte, die politische Organisation der Weltgemeinschaft nach den Prinzipien der Philosophie des absoluten Ideahsmus umzuformen" (202). Mögen die Detailuntersuchungen durchaus nützliche Hinweise zutage gefördert haben: der in ihrer ausschließlich auf Hegel rekurrierenden Beschränktheit mehr als naiv wirkenden Emphase besonders der letzten Beiträge hätte man wenigstens die Spur einer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion gewünscht - wobei sich das Weltverbesserungsprogramm im Namen der Weisheit allerdings in Luft aufgelöst hätte. Christian Kluwe (Bochum)

Bruno Schindler: Die Sagbarkeit des Unsagbaren. Hegels Weg zur Sprache des kortkreten Begriffs. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994. 333 S. (Pommersfeldener Beiträge. Bd 8.) Die vorliegende Untersuchung macht sich zur Aufgabe, einen für die Erforschung des jungen Hegel eher ungewohnten Aspekt, nämlich den sprachphilosophischen Ansatz der Jugendschriften, herauszuarbeiten. Es geht darum, die Entwicklung des von Hegel „implizit (sic!) beanspruchten Sprachverständnisses zu verfolgen" (29) und die „zentrale Bedeutung" (30) der Sprache und der sprachlichen Phänomene für die Berner und Erankfurter Entwürfe Hegels herauszustellen. Die Schwierigkeiten einer solchen Untersuchung liegen auf der Hand: Um Hegels Weg zum Jenaer Verständnis der „Sprache als Dasein des Geistes" nachzuzeichnen, muß der Verfasser auf die „weitgehend latente sprachphilosophische Unterströmung der Frühschriften" (30) zurückgreifen. Also wird der Leser gleich am Anfang mit dem Unsagbaren konfrontiert. Den Leitfaden der Untersuchung soll der entwicklungsgeschichtliche Aspekt des Hegelschen Weges zur Philosophie bilden, wobei jedoch als Argumentationsquelle ein breiter Textbestand von den gymnasialen Sprachübungen bis zur Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften herangezogen wird. Die rekonstruierte entwicklungsgeschichtliche Linie verläuft von der Berner Kritik der „sprachlichen Objektivität" (31-71) über die Gegenüberstellung der „sprachlichen Plastizität" der Grie-

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chen und der Sprache des positiven Christentums (72-121) zur Frankfurter Konzeption „symbolischer Objektivität" (122-181) und weiter zur Ausarbeitung der spekulativen Sprache des konkreten Begriffs (182-310). Die Frage ist, ob und aus welchen Gründen die genannten Momente in einen zusammenhängenden sprachphilosophischen Ansatz gebracht werden können. Denn nicht jede Äußerung des Philosophen zum Sprachproblem, und sei es auch das Klagen über die Ohnmacht des gedruckten Wortes (wie 96 f mit Rückgriff auf den Briefwechsel Hegels mit SCHELLING ausgeführt wird), muß für sprachphilosophisch relevant erachtet werden. Dazu bedürfte es zumindest der artikulierten Auffassung der sprachphilosophischen Perspektive, in der die entsprechenden Texte behandelt werden. Statt dessen wird der Leser mit dem Schluß konfrontiert, daß Hegel angesichts der Fülle sprachphilosophischer Konzeptionen in seiner Zeit sowie der „Unmittelbarkeit seines Zugangs zu sprachlichen Phänomenen" (7) ein philosophisches Verständnis der Sprache ausarbeiten mußte. Aber nimmt Hegel das Phänomen der Sprache in den Blick, indem er in seinem Gedicht „Eleusis" (vgl. 32-47) die „ewig Toten" Buchstabenmenschen mit ihrem „hohlejn] Wörterkram" anklagt und eine scharfe Trennung zwischen Buchstabe und Geist zieht? Wenn er darüber hinaus den Reichtum an Phantasie in den griechischen Mythen und die Offenheit des sokratischen Dialogs (75-92) bewundert und sie der Unfähigkeit Jesu zur „dialogisch-maieutischen Verständigung" (78) gegenüberstellt, so ist damit doch keine Sprachphilosophie gewonnen. Auch in den Frankfurter Überlegungen Hegels zur „S)mribolischen Objektivität" der christlichen Sakramente sowie zur bildlichen Metaphorik des Alten Testaments (167-172) läßt sich schwerlich eine explizite Thematisierung des Sprachphänomens nachweisen. Über die Mutmaßungen zu unausgesprochenen Motiven Hegelscher Reflexionen, zu denen der Verfasser oft greift (vgl. 57, 71, HO f, 115 etc.), können wir in Ermangelung näherer Kenntnisse nichts aussagen. Wie wenig sich Hegel aber tatsächlich in seinen überheferten Fragmenten mit der Sprache befaßt (und zwar nicht stiUstisch, sondern sachlich), zeigt schon der Vergleich mit den Texten seines Freundes HöLDERLIN, für den die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie KANTS und FICHTES den Weg zu einer poetischen Sprache bedeutet. Schließlich sind auch HöLDERLINS Ausführungen über die Vereinigung und Trennung im Kontext seiner Bemühung um eine dichterische (und damit in erster Linie sprachliche) Artikulation der Lebenseinheit zu verstehen. Hegel dagegen bleibt stärker dem bewußtseinsphilosophischen Ansatz verpflichtet und versteht die Sprache als eine Form der Reflexion (unter anderen). Daß mit seinen Frankfurter Vermittlungsversuchen zwischen Vereinigung und Trennung nicht die „ ,liebende Vereinigung' von Sprache und Denken" (HO) gemeint ist, erklärt sich schon daraus, daß er sich vielmehr für eine ,schöne', d. h. bildhaft dargestellte Religion interessiert. Wenn aber diese Akzentverschiebung im Hegelschen Ausdruck „die Sprache der Reflexion" vorgenommen wird, kann auch die rekonstruierte Entwicklungsgeschichte „zur Sprache des konkreten Begriffs" ohne Rückgriffe auf geheime Motive plausibel gemacht werden. Nachdem Hegel in Erankfurt die universale Bedeutung der Reflexion entdeckt und sie in den geschichtlichen Phänomenen wie der christli-

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chen Religion oder modernen Staat aufgespürt hatte, konnte er zur Ausarbeitung der Dialektik des konkret Allgemeinen und damit zu dessen spekulativ-begrifflicher Artikulation übergehen. Von diesem Standpunkt aus sind nämlich dann die Untersuchungen des Verfassers über die Hegelsche Deutung der christlichen Symbole und Zeichen sowie über die reflexive Form des philosophischen Systems von Bedeutung, denn in den analysierten Konzeptionen schlägt sich der dialektische Neuansatz Hegels einer Verbindung der Unmittelbarkeit und Reflexion nieder. Auch die Herausarbeitung des Vollzugscharakters dieser im Symbol bzw. symbolischen Handlung dargestellten Verbindung (157 ff) leistet, abgelöst vom erhobenen sprachphilosophischen Anspruch, Aufklärung über die Hegelschen Gedankengänge in Frankfurt. Schließlich gehören die Überlegungen Hegels zur Sprache in den Jenaer Systementwürfen und der Phänomenologie des Geistes in denselben thematischen Kontext einer Überwindung der Reflexionsphilosophie mit ihren eigenen Mitteln. Es ist zudem sowohl aus dem Vergleich mit seinen Zeitgenossen (etwa HERDER oder W. VON HUMBOLDT) als auch von den späteren Konzeptionen (wie denen von WITTGENSTEIN oder CASSIRER) aus ersichtlich, daß Hegel damit keinen expliziten sprachphilosophischen Ansatz entwickelt, wenngleich sich Reflexionen über den „spekulativen Geist" der deutschen Sprache bei ihm vielfach nachweisen lassen. Man kann über die Weisen der Aktualisierung der Hegelschen Philosophie diskutieren; die Unterstellung irgendwelcher unausgesprochenen Motive, wie aktuell auch immer sie sein mögen, kann aber wegen ihrer Argumentationsunzugänglichkeit nicht zur Debatte gestellt werden. Nikolaj Plotnikov (Moskau/Essen)

David C. Durst: Zur politischen Ökonomie der Sittlichkeit bei Hegel und der ästhetischen Kultur bei Schiller. Eine Studie zur politischen Vernunft. Wien: Passagen-Verlag 1994.228 S. ln der von ERANCOISE SAGAN als Läge du soupqon bezeichneten Epoche der Auflösung großer geschichtsphilosophischer Erzählungen ist Hegel nicht nur einmal der Prügelknabe gewesen. Ungeachtet der Leistung der historischen Forschung, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts den absoluten Anspruch des Hegelschen Systems als ein dogmatisches Werk der Schüler weitgehend zersetzte, hat man an Hegel solche Vorwürfe wie den des „Logozentrismus", der „Phallokratie" u. ä. gerichtet, ln diese Reihe ordnet sich offensichtlich auch das vorliegende Buch ein, indem es „eine sittliche Kolonisierung des menschlichen Körpers" (68) als Zentrum des philosophischen Anliegens Hegels herausstellt. Das Bemühen um eine archäologisch-genetische Betrachtung des frühen Deutschen Idealismus kommt deutlich in der Hauptthese der Arbeit zum Ausdruck: „Die ästhetische Philosophie SCHILLERS und die Philosophie der Vernunft Hegels finden einen ihrer elementarsten ,Ursprünge' weniger im Wunsch nach Versöhnung als in einem fundamentalen politischen Imperativ der Moderne, den Wahnsinn

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und alle minder subversive Gestalten sozialer Devianz ein für allemal zum Schweigen zu bringen" (32). Um die vielfach metaphorische Rede des Verfassers nachvollziehen zu helfen, sei dabei angemerkt, daß unter dem „Wahnsinn" jener „dominante strategische Imperativ der Politik in der Moderne" gemeint ist, der zur „Fragmentierung menschlichen Handelns" und zur „Krise politischer Kontingenz im gesellschaftlichen Körper" führt (19, 30, 32). Auch die „politische Ökonomie", von der der Titel spricht, ist nicht im Sinne MARX' sondern eher ROUSSEAUS ZU verstehen als eine „neuartige politische Wissenschaß vom Menschen als einem Organismus" (16). Die deutliche Abhängigkeit einer solchen Redeweise mit ihrer inflationären Verwendung von Ausdrücken wie „subversiv", „Körper", „Macht", „politisch" usw. von FOUCAULTB archäologischen Untersuchungen sei hier unerörtert gelassen ebenso wie die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit dergestalt vorgetragener Argumente. Das Interesse gilt der Hegel-Interpretation, um die sich DURST bemüht. Nach einleitenden Bemerkungen zur Methode wird im zweiten Kapitel die schon angesprochene Aufmerksamkeit Hegels (und SCHILLERS) gegenüber der „Fragmentierung menschlichen Handelns" in der Moderne thematisiert. Den Gegenstand der Untersuchung bildet vor allem Hegels Verfassungs-Schnit Die Interpretationsleistung besteht jedoch weder in der Textanalyse noch in der Aufklärung des politischen Kontextes dieser Schrift als vielmehr in der Bestätigung der Vision von einem „sozio-politischen Separatismus“ der modernen Gesellschaft (28), die DURST, Hegelsche Begriffe ins Griechische übersetzend, als „innere Diaspora politischen Nomadentums" bezeichnet (29). Im dritten Kapitel wird ausführlich die „politische Strategie der Legalität und Moralität" behandelt, die eine erste Antwort auf die herausgestellte Fragmentierung menschlichen Handelns fungieren soll. Es geht also um die Grundlagen der Philosophie KANTS und FICHTES, in denen Hegel und SCHILLER, ihre politische Optik schärfend, eine „politische Ökonomie der Legalität und Moralität" kritisieren (39 ff). Dazu gehören u. a. Hegels Untersuchungen zur Positivität (die wohlgemerkt z. T. von einem überzeugt KANrischen Standpunkt durchgeführt werden) sowie seine Kritik an FICHTES „Physik des Ich" (52) in den frühen Jenaer Aufsätzen. Dabei wird eine Fülle von Imperativen, Taktiken und Praktiken der zu bekämpfenden politischen Ökonomie zu Tage gefördert (Taktik des Zwangs, politische Strategie der Legalität, Praktik der Strafe, praktische Operation der Pflicht, Praktik des bösen Gewissens usw.). Die strategische Pointe Hegels ist also, wie der Interpretationskontext nahelegt, „auf die fundamentale Inkompetenz einer solchen Philosophie bedacht, einen Angriß zu koordinieren, welche[r] die wahnsinnige Delinquenz im menschlichen Leib restlos eliminiert" (53). D. h. die grundlegende ,Strategie' der Reflexionsphilosophie (hier der „politischen Ökonomie der Legalität und Moralität") besteht nach Hegels kritischen Ausführungen darin, daß sie mittels des Zwangs „die mannigfaltige Materie des menschlichen Körpers im wesentlichen gebietet, verbietet, beschränkt, einschränkt, untersagt, negiert, unterdrückt, ausschließt, beherrscht und abgrenzt" (80). Damit wird „die Fragmentierung menschlichen Handelns" nicht nur nicht beseitigt, sondern durch den Einsatz der dieser politischen Ökonomie innewohnenden ,Praktiken' erst im vollen Maße durchgeführt.

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Demgegenüber vollzieht Hegel (und SCHILLER) „eine Kopernikanische Wende in der Politik des menschlichen Körpers" (68), indem er seine eigene politische Ökonomie, nämlich die „politische Ökonomie der Sittlichkeit" (und die der „ästhetischen Kultur" bei SCHILLER) als Antwort auf „die moderne Krise politischer Kontingenz" (112) konzipiert. Dieser „revolutionäre Paradigmenwechsel im politischen Blick auf den menschlichen Körper" (113) soll darin bestehen, entgegen den politischen Strategien der Legalität und Moralität „den Wahnsinn des modernen Menschen und alle seine minderen Gestalten restlos zu eliminieren" (113). Dies fängt schon beim jungen Hegel in seiner Konzeption einer „nationalen Volksreligion" (einem Ausdruck, der sich übrigens in den Jugendschriften nirgendwo finden läßt, da für Hegel, im Gegensatz zu DURST, der das „nationale" Motiv bei Hegel mit Nachdruck betont, ,Nation' und ,Volk' synonym sind). Diese soll weniger in der „Beförderung der menschlichen ,Freiheit'" bestehen, was Hegel deutlich hervorhebt, als vielmehr „einen effektiveren Zugriff auf den menschlichen Körper" (147) enthalten, als es die KANiische und FiCHTEsche Philosophie getan haben. Und zwar gelingt der Volksreligion dieser ,Zugriff' dadurch, daß sie „einen internen Strafmechanismus im Menschen einbaut, welcher jede mögliche künßige Delinquenz weitaus wirksamer zu bekämpfen vermag als die zwanghafte Strafpraktik der objektiven Religion und der Aufklärung" (160). Bei Hegel heißt es ,die Strafe als Schicksal'. Wenn aber die Volksreligion auf die beschriebene Weise zur Wirkung gelangt, dann soll dem Menschen „eben keine Zeit zum Überlegen gewährt werden, in der er bewußt über die mögliche Legitimität bzw. die strategischen Vorund Nachteile verschiedener möglicher Handlungszwecke nachdenken könnte" (159). Nicht besser sieht es mit der Philosophie der Sittlichkeit aus, die Hegel in Jena ausarbeitet. Hier betreibt er „die unbeschränkte Unterwerfung des endlichen Einzelnen unter die Herrschaft des nationalen Volksgeistes" (162) mithilfe einer „Kolonisierung des menschlichen Körpers" (170). Damit wird das Hauptziel seiner neuen „Politik des menschlichen Körpers" effektiv durchgesetzt. Die Macht der Sittlichkeit befindet sich „nicht in den Händen Weniger, sondern in den Körpern Aller" (173). Die Untersuchung kulminiert in der These, daß sich die „wesentlichen Grundzüge des modernen antisemitischen Denkens gerade in den Frühschriften Hegels auf paradigmatische Weise vorweggenommen finden" (187). Nun fragt man sich nach den Argumenten, die DURST für seine Thesen findet. Denn eine bloße (und zum größten Teil dem Text nicht gerecht werdende) Paraphrase der Hegelschen Texte, die sich über weite Strecken der Abhandlung ausdehnt, kann schwerlich als Beleg für solch spektakuläre Behauptungen gelten. DURST greift darum zu einer Strategie, die in ihrer Resistenz gegen jegliche Argumentation geradezu unschlagbar ist. Er konzentriert sich nämlich auf das, was Hegel in seinen Schriften „eher verschweigt" (37 - Kursivierung ausnahmsweise nicht original). Das nennt sich „interpretativer Funktionalismus" (13), der sich in der dezidierten Abneigung von DURST gegen alle ,immanente Kritik' und ,entwicklungsgeschichtliche Untersuchung' als eine „Anti-Hermeneutik" (14) versteht, d. h. die hermeneutische Methode auf den Kopf stellt (15). Das Resultat einer solchen Umstellung kann man dementsprechend zugespitzt als eine „Umbenennung der Ge-

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meinplätze" bezeichnen. Denn das, was die Arbeit schließlich leistet, besteht in der Wiederbelebung sinnloser Kritiken, die in bezug auf Hegel vorgetragen wurden und die jetzt in Gestalt einer „politischen Ökonomie der Sittlichkeit" wiederkehren. Was dabei DURST selbst eher verschweigt, ist, daß für seinen methodischen Angriff auf den Text weniger auf die Unterscheidung wahr/falsch als vielmehr auf die von frappant/banal ankommt. Aber auch in diesem Sinne kann die interpretative Leistung nicht als gelungen angesehen werden. Nikolaj Plotnikov (Moskau/Essen)

Giuseppe Casadei: Idea di mediazione e di immanenza critica nel primo Hegel. Referent!, formazione e impianto della critica filosofica jenese. In appendice la traduzione del „Wesen der philosophischen Kritik". Pisa: Ets 1995.342 S. Ziel der Arbeit von CASADEI ist es, zu beweisen, daß das Programm der Kritik von den theologischen Jugendschriften an bis zu den späteren Arbeiten in der Jenaer Zeit nicht einfach eines der philosophischen Themen der Hegelschen Philosophie, sondern das Hauptinteresse Hegels gewesen sei. Die hauptsächlich von KANT und ScHELLiNG beeinflußte Idee einer philosophischen Kritik bei Hegel ist, nach CASADEI, zugleich kritische Forderung und Untersuchung des Begriffs der Vermittlung, die durch die kritische Methode geführt wird. Das Ergebnis wäre die Formulierung der dialektischen Methode und des Begriffes des Absoluten als „Identität der Identität und der Nicht-Identität". Es gäbe also eine wesentliche Kontinuität zwischen den Schriften theologischen Inhalts und den nach 1800 geschriebenen Texten. Diese inhaltliche und methodologische Gleichförmigkeit sei an zwei grundlegenden Forderungen gebunden: das Interesse Hegels an der Religion und an dem philosophischen System als Versuch, eine geschichtlich bestimmte Vermittlung darzustellen, und die immer wieder bearbeitete kritische Methode, die aufgrund der philosophischen oder religiösen immanenten Prinzipien die inhaltliche Analyse durchführen kann. Hegel legt in seiner Arbeit den Schwerpunkt auf die philosophischen Gestalten (Einleitung, 30), die zugleich durch die kritische Methode beschrieben werden und die einen philosophischen Inhalt darstellen. Die Arbeit CASADEIS besteht aus drei Teilen: Der erste behandelt die Entwicklung des Kritizismus im deutschen Idealismus, insbesondere bei KANT, FICHTE und SCHELLING; der zweite analysiert die sogenannten Theologischen Jugendschriften und der letzte die philosophische Kritik in der Jenaer Zeit bis 1802. Der erste Teil skizziert das Thema der Kritik, wie es von KANT definiert wurde und wie es die deutschen Idealisten übernommen haben. Besondere Aufmerksamkeit wird ScHELLiNG gewidmet, der hauptsächlich und direkt Hegel beeinflußt hat. Der folgende Teil analysiert das Thema der Kritik und der kritischen Methode, wie es Hegel schon in Bern genau Umrissen hat. Nach CASADEI ist die Methode in der Tat

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trotz des Interesses an religiösen Themen schon zwischen 1793 und 1796 als objektiv, an die Immanenz gebunden und zugleich als kritisierend vorhanden: „Die immanente Kritik wird schon hier als zweigesichtige Prozedur angesehen, die sich - die Objektivität erreichend - mittlerweile fruchtbar ausüben kann, weil sie einen (nicht substanziellen) Kompromiß mit dem Objekt ihrer Tätigkeit enthält, von welchem man nicht absehen darf ..., um so zu einer höheren Ebene des Verständnisses seiner Wahrheit überzugehen“ (118). Die Philosophie kann dadurch sowohl methodologisch als auch inhaltlich die Form der aufklärerischen Kritik der Religion aufheben. möchte im Gegensatz zu Interpreten, die versucht haben, in den Schriften bis 1800 Elemente der Kontinuität mit der viel späteren Philosophie der Religion aufzufinden, die Beziehung von Philosophie und Religion umkehren, insbesondere im Rahmen der Interpretation des Systemfragments. Er gibt eine neue und mit seiner Interpretation übereinstimmende Übersetzung der berühmten Passage über die Philosophie, die „mit der Religion aufhört“, und erklärt sie nicht als mystische Aufhebung des spekulativen Denkens in der Religion, sondern als Moment, in dem die „echte Spekulation“ (166 Fußnote) eine „echte Beziehung“ des Endlichen zum Unendlichen vervollständigen soll. In geschichtlicher Hinsicht ende, wie MIRRI, der italienische Herausgeber der Theologischen Jugendschrißen, behauptet, die Philosophie mit der Religion, aber nach CASADEI hebt die Philosophie im spekulativen Sinne die Religion auf, bzw. die Philosophie versteht sich auf die Vermittlung zwischen dem Absoluten und Endlichen. CASADEI

Der letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Dißerenz-Schnit und dem Artikel über das Wesen der philosophischen Kritik, in dem nach CASADEI der Charakter der Philosophie Hegels als kritischer Philosophie endgültig hervortritt. Als kritisches Denken strebt sie die Aufhebung der von Hegel betrachteten philosophischen Systeme an (208), erkennt die Mängel des Religionsprinzipes (210) und erreicht durch die Einführung der geschichtlichen Elemente die Definition des Absoluten, das, da es aus der philosophischen kritischen Vermittlung stammt, sich als „Identität der Identität und der Nicht-Identität“ vorstellt. Die Schrift über das Wesen der philosophischen Kritik sei die methodologische Kodifikation dieses komplexen Themas des Hegelschen Denkens, aber CASADEI, indem er seine Analyse mit der Betrachtung dieses Textes gipfeln läßt, läßt unerklärt, warum Hegel nicht nur die kritische, sondern auch die Forderung nach einem System entwickelt hat. definiert seine Arbeit als eine „Pionierarbeit“ (9), bezieht sich deswegen auf wenig neue Sekundärliteratur und beschränkt seinen Interpretationsversuch nur auf das Hegelsche Denken bis 1800. Der Versuch CASADEIS, eine neue Interpretation des Denkens des jungen Hegels vorzustellen, bereitet indessen eine Schwierigkeit in bezug auf die Quellen: es ist in der Forschung bekannt, daß die von NOHL herausgegebene Ausgabe der sogenannten Theologischen Jugendschriften nicht den mehrmals von Hegel bearbeiteten Texten entspricht. CASADEI weist kurz auf das Problem hin und erwähnt die neue, schon erschienene historisch-kritische Ausgabe der Schriften der Tübinger und Berner Zeit, aber er entscheidet sich, noch die 1909 erschienene Ausgabe zu zitieren. CASADEI

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schließt seine Studie mit einer Übersetzung der Schrift über das Wese« der philosophischen Kritik, deren Neuheit er für sich beansprucht oder deren alte Version er nicht zitiert (323 Fußnote). Dieser Text stand den italienischen Forschern schon seit 1983 zur Verfügung. Er erschien in der Zeitschrift Verifiche (XII, S. 101129), herausgegeben von S. BARITUSSO. Die Übersetzung CASADEIS ist durch die Absicht geprägt, den Text wortgetreu zu übersetzen, so daß die italienische Version dem Original so ähnlich wie möglich sei, aber der Anspruch des Verfassers weist einige Mißverständnisse auf: Das erste ist philologischer Natur, bzw. die Einteilung der Abschnitte in der Übersetzung unterscheidet sich vom Original, auf das sich der Verfasser stützt; das zweite ist sprachlicher Natur und betrifft die Entscheidung, „Verhältnis" (3 der deutschen Ausgabe) mit dem italienischen Wort „Condizione" zu übersetzen, das dem deutschen Wort „Zustand" näherkommt, ohne daß es auf Italienisch oder auf Deutsch als zweideutig zu bezeichnen ist. CASADEI setzt sich in dieser Studie mit einem Aspekt der Hegelschen Philosophie auseinander, der noch nicht ausführlich behandelt worden ist, aber er weicht zugleich einem anderen ebenso wichtigen und der Forschung bereits bekannten Aspekt aus: der schon ab 1800 bei Flegel vorhandenen Forderung nach einem System. Sie bildet den interpretatorischen Mittelpunkt sowohl für das sogenannte Systemfragment, das sich der bekannten Passage aus dem Brief an SCHELLING vom 22. November 1800 anschließt: „das Ideal des Jünglingsalter mußte sich ... in ein System verwandeln“. Die Perspektive der philosophischen Kritik als Schwerpunkt der Analyse des frühen Denkens Hegels ist zwar neu, besonders wenn CASADEI die philosophische Kritik als Hauptbestimmung der Hegelschen Jugendschriften definiert, aber insofern die Forderung nach Kritik bei Hegel zugleich ein System impliziert, hätte der Verfasser notwendig auch diesen Aspekt sowohl in den Hegelschen Texten als auch in der Sekundärliteratur zu berücksichtigen gehabt. So beschränkt sich CASADEI im Rahmen seiner Interpretationshypothese auf den frühen Hegel und widmet der Betrachtung der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens wenig Aufmerksamkeit. Die Arbeit stellt eine starke Interpretationshypothese vor, die aber wegen ihres Umfangs sowohl in bezug auf die ganze Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens als auch im Rahmen der Jenaer Zeit nicht vollständig nachgewiesen werden kann. Die Studie CASADEIS faßt die Tübinger, die Berner und die Jenaer Zeit bis 1802 zusammen, aber sie bricht jäh mit der Schrift Wesen der philosophischen Kritik ab. Es bleibt daher noch zu klären, ob die Interpretation CASADEIS mit den Forschungen zum Jenaer Hegel und dessen Konzeption eines philosophischen Systems übereinstimmt und auf welche Weise sich die Idee der Kritik in der Phänomenologie des Geists vollendet. Silvia Rodeschini (Bologna) CASADEI

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Franco Chiereghin: La „Fenomenologia dello spirito" di Hegel. Introduzione alla

lettura. Roma: La Nuova Italia Scientifica 1994.195 S. Das vorliegende Buch ist eine Einführung zur Phänomenologie des Geistes von Hegel. Wie der Autor erklärt, handelt es sich hier weder um einen Kommentar (wie bei J. HYPPOLITE, J. A. GILLION, H. P. KAINZ, M. PAOLINELLI, C.-A. SCHEIER, C. V. DUDECK, J. C. PLAY und M. NAGEL) noch um eine Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilen des Werkes (wie bei LABARRIERE, S. LANDUCCI oder P. LIVET), sondern es ist eine Analyse der logischen Struktur des phänomenologischen Inhaltes. Daß das Vorgehen der Phänomenologie auf einer logischen Gliederung beruht, ist die Hauptthese dieses Buches, welche CHIEREGHIN - nachdem er in der Einleitung und in dem ersten Teil systematische und spekulative Probleme betrachtet hat - am Ende des ersten Teiles seiner Arbeit aufstellt und deren Gültigkeit in dem zweiten und dritten Teil sowohl durch eine ausführliche Analyse der phänomenologischen Momente als auch durch präzise Hinweise auf Hegels Jenaer Logikkonzeption untermauert. ln der Einleitung findet er bei der Untersuchung einiger weniger Fragmente (besonders in den Fragmenten 17 bis 21) aus Hegels Vorlesungsmanuskripten zur Philosophie der Natur und des Geistes (1803/04) Beziehungen, die deutlich darauf hinweisen, daß Themen, die später zum Leitfaden der Phänomenologie werden, hier ihren Ursprung haben. Aber die eigentliche Arbeit, die zur Phänomenologie führen wird, hat seiner Meinung nach erst 1805 begonnen. Dann beschreibt er, wie die Phänomenologie den Übergang von der Logikkonzeption der ersten Jenaer Jahre zu der des Spätwerks ermöglicht, ln der Logik, so wie sie in den ersten Jenaer Jahren formuliert worden ist, zeigt Hegel, wie die endlichen Kenntnisformen des Verstandes sich durch ihre Widersprüchlichkeit auflösen, was der Übergang zu der, das absolute Wissen behandelnden Metaphysik bildet. Aber die Phänomenologie überwindet diese Konzeption völlig. Die frühe Logikkonzeption fordert nämlich, daß eine Logik des endlichen Denkens zur Metaphysik als Betrachtung des absoluten Wissens einführt, während die Phänomenologie zugleich Aufhebung der endlichen Formen und Einführung in das absolute Wissen ist. Insofern wird die Logik als erster Teil des Systems des Spätwerks weder eine Darstellung des endlichen Wissens noch eine Einführung in das absolute Wissen sein, sondern eine spekulative Logik, die die Funktion der Metaphysik übernommen hat und an ihre Stelle getreten ist. Anschließend, nachdem CHIEREGHIN auf die Veränderung des Titels und des Index hinweist, geht er am Ende seiner Einleitung zu dem schon in den letzten Jahrzehnten häufig erörterten Problem einer Logik der Phänomenologie über. Unter der Voraussetzung, daß, wie Hegel ausführt, „jedem abstrakten Momente der Wissenschaft eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt" (GW 9. 432) entspricht, hält CHIEREGHIN die Untersuchung dieser Entsprechung für keinen willkürlichen Versuch die bewußte Bewegung durch einen leeren und abstrakten Formalismus zu interpretieren, sondern für eine Verdeutlichung der inneren Logik des Bewußtseins. Er erwähnt dann die Hauptmomente dieser Diskussion und die verschiedenen Thesen (von H. SCHMITZ,

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O. PöGGELER, J. FiEiNRiCHS und L. B. PUNTEL). Er beschließt seine Einleitung mit der These, daß die Phänomenologie, obwohl man hier auf die Logik von 1804/05 hinweisen muß, nicht auf diese reduziert werden kann.

H. F. FULDA,

In dem ersten Teil befaßt sich CHIEREGHIN mit grundlegenden phänomenologischen Begriffen wie der Bedeutung der Erfahrung des Bewußtseins oder des Nichts als bestimmten Nichts (GW9. 62) und dem Unterschied zwischen den Momenten und den Gestalten des phänomenologischen Weges. Nachdem er am Ende dieses Teils feststellt, daß sowohl die Bewegung des Bewußtseins als auch die des Urteils zugleich ein Teilen und ein Verbinden sind, erhellt er die enge Verwandtschaft der Struktur der beiden und stellt sich die Frage, inwiefern diese Entsprechung genau ist und wieviel sie helfen kann, um die Organisation der Phänomenologie zu verstehen. Auf diese Frage antwortet er mit der These, daß die phänomenologischen Momente mit den Urteilsformen, die in der Logik von 1804/05 behandelt werden, übereinstimmen. Deswegen analysiert CHIEREGHIN die zwei Subsumptionen, durch die Hegel in der Jenaer Logik aus den Jahren 1804/05 zum dialektischen Übergang des zum Schluß gewordenen Urteils kommt. Aus dem ersten Prozeß, der aus der Abfolge des allgemeinen (Jedes A ist B), partikulären (einige A sind B), singulären (dieses ist B) und hypothetischen Urteils (Wenn dieses ist, so ist B) besteht, realisiert sich das Subjekt. Im zweiten Schluß dagegen, der in das negative, das unendliche, und das disjunktive Urteil geteilt ist, tritt die Realisierung des Prädikates hervor. Aber obwohl man an dieser Stelle auf die dialektische Entwicklung der verschiedenen Urteilsformen nicht eingehen kann, ist es doch nötig hier das Ende der beiden Subsumptionen anzumerken, um sie mit dem Entwicklungsgang der Phänomenologie vergleichen zu können. Nach CHIEREGHIN müßte der erste Prozeß der Entwicklung den ersten vier phänomenologischen Momenten entsprechen. Deshalb hat man am Ende des Kapitel des Geistes dasselbe Ergebnis, das am Schluß der ersten Subsumption mit dem hypothetischen Urteil erreicht wurde. Aus dem ersten Prozeß geht nämlich die Form des Wissens hervor. Dagegen wäre der zweite Prozeß vergleichbar mit der Entwicklung und dem Ende des Kapitels über die Religion, denn in beiden Fällen verwirklicht sich die Vollendung des Inhaltes. Und so wie diese zwei Prozesse sich im Schluß vollenden, so münden das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, die Vernunft, der Geist und die Religion in das absolute Wissen. Aber, wie CHIEREGHIN präzisiert, besteht diese Analogie nur aus dem Verhältnis zwischen den Urteilsformen und der ganzheitlichen Funktion der Momente, wobei die phänomenologische Gestalten ausgegrenzt werden. Jedoch muß gesagt werden, daß CHIEREGHIN sich in dem siebten Kapitel nicht auf die Behandlung des Religionsmomentes überhaupt beschränkt, sondern unter der Voraussetzung, daß er sich nur mit ihren formellen Charakteren befaßt, zieht er auch die übrigen phänomenologischen Gestalten in Betracht. In dem zweiten und dritten Teil wird diese These ausgearbeitet und belegt. Zuerst stellt CHIEREGHIN fest, daß die Abhängigkeit und die leere Allgemeinheit, die die Beziehung des Subjekts und des Prädikats im allgemeinen Urteil (Jedes A ist B) der Jenaer Logik charakterisieren, sich wiederholen in der Beziehung der sinnlichen Ge-

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wißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes, mit ihren jeweiligen Objekten. Dann geht er zur Betrachtung des Moments des Selbstbewußtseins über. Und nach seiner Kritik an denjenigen Interpreten wie WAHL und KOJEVE, die sich ausschließlich auf einzelne Gestalten (d. h. auf das unglückliche Bewußtsein und auf den Kampf Herr-Knecht) dieses Moments konzentrieren und insofern den wesentlichen Bezug jedes Moments zum Ganzen vergessen haben, legt er die Entsprechung dieses Moments mit dem partikulären Urteil (einige A sind B) dar. Das Selbstbewußtsein sowie das Prädikat in der zweiten Urteilsform werden als Gattung aufgefaßt, jedoch lediglich als abstrakte. Der Feststellung dieser Übereinstimmung folgt die Analyse des Vernunftmomentes, das nach dem Autor mit dem singulären Urteil (dieses ist B) gleichzusetzen ist. Diese Urteilsform ist nämlich nach CHIEREGHIN die abgekürzte Formel, die das Vernunftmoment aufzufassen ermöglicht. Von der Dialektik des Selbstbewußtseins kommt nämlich die unmittelbare Verknüpfung der Einzelheit mit der Allgemeinheit her, die das Vernunftmoment in der Phänomenologie charakterisiert. Jedoch bleibt diese „Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein" (GW 9.133) nur eine Verfälschung der wahren Identität Subjekt-Objekt des absoluten Wissens. Ähnlich entfaltet das singuläre Urteil (dieses ist B) kein echtes Einssein der Einzelheit und der Allgemeinheit, weil die Allgemeinheit des Prädikates sich in dieser Urteilsform nur auf Eigenschaften des Subjekts reduziert. Schließlich zeigt der Autor, daß es auch für das Geistesmoment eine logische Form gibt, die fähig ist, den wesentlichen Charakter auszudrücken, welcher die vielen und verschiedenen Gestalten dieses phänomenologischen Moments vereinigt. Der Entwicklungsgang des Geisteskapitels ist für CHIEREGHIN nach der Struktur des hypothetischen Urteils (Wenn dieses ist, so ist B) aufzufassen. Unter der Erfahrung des Bewußtsein als Geist läßt sich nämlich ein logisches Schema erkennen, nach dem jede bestimmte Stellung des Bewußtseins einer bestimmten geschichtlich-geistigen Welt entspricht. Diese Gliederung des Geistesmoments erinnert nicht nur an die Form des hypothetischen Urteils (Wenn dieses ist, so ist B), sondern auch an die Notwendigkeit, die die Beziehung Subjekt-Prädikat charakterisiert, so wie außerdem an die zusammenfassende Aufgabe, die das hypothetische Urteil in Bezug auf die vorhergehende Urteilsformen hat. Der Beleg seiner These erfolgt durch die Analyse des Momentes der Religion, das CHIEREGHIN nach der zweiten Subsumtion der Logik von 1804/1805 interpretiert. In dieser Subsumtion „blieb das Subjekt, Besonderes unentwickelt, und das Prädikat entwickelte sich als das durch die negative Einheit des Subjekts bestimmte" (GW 7. 92). Während das Subjekt für sich ist, realisieren die Prädikate sich durch ihre fortschreitende Anpassung an das absolute Subjekt. Die drei Etappen dieses Prozesses - das negative, das unendliche, und das disjunktive Urteil - entsprechen laut CHIEREGHIN den drei Gestalten, nach denen das Religionsmoment sich entwickelt. In der ersten Gestalt des Religionskapitels, besonders bei der Betrachtung des Lichtwesens, das alles enthält und erfüllt (GW 9.371) sowie bei der der Blumenreligion, „die nur selbstlose Vorstellung des Selbst ist" (GW 9. 372) und der Tierreligion, die das Fürsichsein zerstört (GW 9. 372), stellt sich das Göttliche als absolute Substanz vor

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das Selbst, welches dadurch verdeckt wird. Ähnlich wie dieses Selbst der natürlichen Religion verschwinden die Prädikate in dem negativen Urteil (B ist nicht = A), weil sie absolut unbestimmt bleiben. So wie die Zweideutigkeit des Nichts in dem negativen Urteil - ein Nichts, das Hegel ausdrücklich definiert als „das Doppelsinnige, das Nicht überhaupt, das reine Nichts oder Sein, oder das Nicht dieses bestimmten A" (GW 7.87) - würde sie sich in den vom Werkmeister erzeugten Werken (Vgl. GW 9. 375) wiederholen. Der Autor geht also zur zweiten Gestalt des Religionskapitels über, welche eine weitere Bestätigung der bisher gezeigten Entsprechung wäre. Aber wie CHIEREGHIN präzisiert, kann diese Entsprechung nur unter einer Bedingung angenommen werden, daß man von der Fülle des Inhaltes absieht, um sich auf den Übergang zur Kunstreligion zu konzentrieren. Einerseits ist das Ende dieser Gestalt, bei der das Selbst sich als das absolute Wesen darstellt, geistlos, aber andererseits ist es nicht eine absolute Leerheit (Vgl. GW 9. 399). Diese Duplizität charakterisiert auch das unendliche Urteil, obwohl das Prädikat dieses Urteiles etwas Positives zeigt, d. h. die Grenze des Bereichs „Nicht-A", wo das Subjekt (B) gefunden werden kann, bleibt noch unbestimmt. Aber Hegel behauptet ebenso: „die Negation, das Nichts ist überhaupt nicht ein leeres, es ist das Nichts dieser Bestimmtheit und eine Einheit, welche das Negative entgegengesetzter Bestimmtheiten ist" (GW 7. 89). Demzufolge ist das Ergebnis sowohl der Kunstreligion als auch des unendlichen Urteils nicht eine reine Leere, sondern eine bestimmte Negation, die auf ihre positive Spezifizierung wartet. Diese Spezifizierung wird von der offenbaren Religion und von dem disjunktiven Urteil gegeben. In dieser letzten Urteilsform, wobei „das Subjekt" (B) „entweder auf A oder C bezogen" (GW 7.91) ist, realisiert sich das Prädikat. Dieses „ist Bestimmtheit, und dadurch zugleich mit seiner entgegengesetzten, und hierdurch ist es auch das Allgemeine derselben." (GW 7. 91) Jedoch muß betont werden, daß diese Beziehung des Prädikats zum Subjekt allerdings ohne Notwendigkeit ist. ln ähnlicher Weise ist der Inhalt der offenbaren Religion das Wahre, „aber alle seine Momente haben, in dem Elemente des Vorstellens gesetzt, den Charakter, nicht begriffen zu sein, sondern als vollkommen selbständige Seiten zu erscheinen, die sich äußerlich aufeinander beziehen." (GW 9. 408). Aus diesem Grund bleibt, obgleich diese letzte Gestalt des Religionskapitels die Wahrheit des Inhaltes erreicht, die Form, d. h. die Vorstellung, durch die der Inhalt ausgedrückt wird, problematisch. Die vorstehende Form muß aufgehoben werden. Durch die Einheit der absoluten Form des Wissens, die am Ende des Geisteskapitels erreicht wurde, und des absoluten Inhaltes der Religion wird die vorstehende Form aufgehoben, und es verwirklicht sich die Überleitung zum absoluten Wissen. Diese Überleitung würde sich nach CHIEREGHIN mit derjenigen vom Urteil zum Schluß in der Logik von 1804/05 decken. Das realisierte Prädikat des disjunktiven Urteils vereinigt sich nämlich mit dem realisierten Subjekt des hypothetischen Urteils oder, wie Hegel sagt: „Subjekt und Prädikat hören auf, durch das leere: ist des Urteils verbunden zu sein, sie sind durch die erfüllte Mitte, die ihre Identität ist, und hiermit durch die Notwendigkeit zusammengeschlossen und das Urteil ist zum Schlüsse geworden." (GW 7.94)

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Aber, wie CHIEREGHIN im Schlußteil erklärt, läßt sich das siebte Kapitel der Phänomenologie auch nach einer anderen logischen Gliederung auffassen. Die drei Gestalten, die dieses Kapitel bilden, könnte man auch nach der logischen Skandierung (Sein, Wesen, Begriff), die sich in den folgenden Jahren durchsetzen wird, interpretieren. In der natürlichen Religion schaut sich der Geist „in der Form des Seins" (GW 9. 371) an, in der Kunstreligion „ist der Geist... in das Extrem des sich als Wesen erfassenden Selbstbewußtseins herausgetreten" (GW 9. 377), und in der offenbaren Religion „wird das Wesen als Geist gewußt" (G W 9.405). Jedoch ist nach CHIEREGHIN nicht nur das Religionsmoment, sondern die ganze phänomenologische Entwicklung nach dieser Skandierung zu interpretieren. Wie Hegel am Anfang des siebten Kapitels sagt, ist die Religion sowohl Resultat als auch der Grund der vorangegangenen Momente, und die Religion als Grund ermöglicht nach Auffassung des Autors, daß jedes vorhergehende Moment nach dieser Skandierung (Sein, Wesen, Begriff) erfaßt werden kann. Deshalb folgert CHIEREGHIN, daß es in der Phänomenologie nicht nur eine Ebene gibt, sondern sich verschiedene logische Niveaus miteinander verflechten. Wie schon zu Anfang beschrieben, bietet CHIEREGHIN mit diesem Buch nur eine Einführung in die Phänomenologie an, weshalb er nicht sehr tief in die Materie eindringt. Seine Abhandlung ist eine einfache und klare Beschreibung des phänomenologischen Weges und seiner These, die besagt, daß der Inhalt der Phänomenologie einer logischen Struktur folgt. Dem Leser, der sich schon intensiv mit phänomenologischen Themen beschäftigt hat, bietet er mit diesem Buch, das durch die verkürzte inhaltliche Auseinandersetzung mit der Phänomenologie deren Lebendigkeit und Reichhaltigkeit vermissen läßt, keine wirklich neuen Anregungen, was auch nicht die Absicht des Autors war. Francesca lannelli (Roma)

Ruggero Morresi: Argomentazione e Dialettica. Tra logica hegeliana e „Nouvelle Rhetorique" (Argumentation und Dialektik. Zwischen der Hegelschen Logik und der „Nouvelle Rhetorique"). Roma. 131 S. In Argomentazione e Dialettica schlägt RUGGERO MORRESI eine strenge logische Gegenüberstellung der Nouvelle Rhetorique von PERELMAN und OLBRECHTS-TYTECA (Traite de l'argumentation. Paris 1958) und der Dialektik Hegels vor. MORRESI geht von der Tatsache aus, daß die Neurhetoriker fast nie Hegel zitieren und jeden Vergleich zwischen dem eigenen Sprachgebrauch, eigenen Denktechniken und dem Rationalismus Hegels ablehnen. Er versucht daher, den Grund einer solchen Ablehnung zu finden und zu erklären, warum ein solches Verhalten unentschuldbar und schädlich für das Verständnis der neuen sprachlichen Ausdrucksmittel ist. In der Nouvelle Rhetorique findet eine Aufwertung der rhetorischen Argumentation in unserem Jahrhundert statt, die die geläufigen Bedeutungen der Umgangssprache und der philosophischen Sprache hinterfragt. Die Neurhetoriker stellen eine

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kritische und konstruktive Verbindung zu der Aristotelischen Theorie über die Grundlage von Sinn und Überzeugungen her (57 ff). Die Dialektik von ARISTOTELES, wie sie in den Topoi definiert ist, beschäftigt sich mit Meinungen und wird deshalb von den Neurhetorikern anerkannt, weil ihr Verfahren von der Tatsache ausgeht, daß „jede Argumentation sich im Hinblick auf einen Zuhörerkreis entwickelt". Der Hauptgrund für die Ablehnung Hegels liegt darin, daß dieser der Rhetorik keinen autonomen Wert beimißt, sondern sie in dem Bereich der Ästhetik und Emotion ansiedelt, die durch die gedankliche Strenge der dialektischen Rede (Kap. IV) überwunden wird. PERELMAN vermeidet sogar Hegel zu zitieren oder zu diskutieren, da er die rigorose Strenge der Hegelschen Dialektik ablehnt, die zu abstrakt ist, um rhetorische Themen einzuschließen. Das spekulative Ziel der Neurhetoriker besteht darin, die Einführung neuer sprachlicher Formen vollständig zu verstehen. Um das zu erreichen, muß man die Zweideutigkeit, die mehrfache Verwendungs- und Interpretationsmöglichkeit des sprachlichen Ausdrucks zugeben. Eine solche Auffassung verhindert die Auseinandersetzung mit der als metaphysisch gescholtenen Dialektik Hegels, die, obwohl ihr Einfluß auf die philosophische Terminologie der beiden letzten Jahrhunderte äußerst wichtig war, keine linguistische Anwendung erlaubt. Hierbei hebt MORRESI den Widerspruch in der Verhaltensweise der Neurhetoriker hervor, der eine große historische Lücke entstehen läßt u. darüber hinaus einen Mangel an innerer Kohärenz in ihren Ausführungen zeigt (10-11). In dem Buch wird dagegen eine neuartige Möglichkeit dargelegt, die Theorien von Hegel und PERELMAN ZU nutzen, um das Problem der Beziehung Logik-Rhetorik zu lösen. Der Autor versucht von verschiedenen Seiten u. gegensätzlichen Gesichtspunkten die beiden Gedankensysteme in eine Wechselbeziehung zu setzen, obwohl jedes völlige Unabhängigkeit beansprucht (90). MORRESI erkennt in den beiden Theorien einige verwandte theoretische Themen: Das Verhältnis zur formalen Logik (17), das Mißtrauen gegenüber dem Gebrauch der Evidenz, die Möglichkeit einer Auseinandersetzung zwischen dem dialektischen Gegensatz bei Hegel (vor allem in der Wissenschaß der Logik) und dem Prinzip der Analogie bei PERELMAN (23), das Thema der Tautologie des Identitätsprinzips und seinem Sichtbarwerden bei dem Verhältnis Redner-Zuhörer (39). Durch diese vergleichende Gegenüberstellung treten die zentralen Themen der Neurhetorik klar hervor und bieten eine Interpretationsmöglichkeit auf philosophischer wie auf historisch-literarischer Ebene. Es zeigt sich auch, daß sich die Neurhetoriker gegen die Abstraktionen der formalen Logik wenden; sie versuchen vielmehr eine derartige Vorstellung von der Sprache und ihren Veränderungen zu schaffen, die es möglich macht, daß dieselben Interpretationsregeln auch als veränderlich und im Werden begriffen werden können (88-89). Eine überzeugende Argumentation muß in der Tat im Rahmen der natürlichen Ausdruckskraft der Sprache bleiben, d. h. der Situation entsprechen und konkret sein. Das Vorgehen MORRESIS, um seine Gegenüberstellung und seinen Integrationsversuch zwischen Hegels Dialektik und der Neurhetorik durchzuführen, gründet in

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seinem (hermeneutischen) Vorverständnis Hegels. MORRESI meint, daß die Bedeutung der Philosophie Hegels, die scheinbar nur auf eine dialektische Rationalität und Unbestreitbarkeit abzielt, dagegen auch auf die Vernünftigkeit einer rhetorischen Argumentation ausgerichtet werden könnte. Es handelt sich darum, dem exklusiven und festumrissenen Bereich der Rationalität einen Raum für Variationsmöglichkeiten zu schaffen, für Unterschiede und die unzähligen Begebenheiten der Wirklichkeit. Mit seiner überzeugenden theoretischen Analyse schafft MORRESI einen gemeinsamen Horizont, in dessen Licht besehen die von den Neurhetorikern entwickelten Techniken sich als Aktualisierungsmoment für Hegels dialektisch-ontologische Ausführungen erweisen. Silvia Ferretti (Roma)

fustus Hartnack: Hegels Logik. Eine Einführung. Aus dem Dänischen übersetzt von Heinz Kulas. Frankfurt; Peter Lang 1995. 119 S. (Hegeliana. Bd5.) This volume öfters a German translation of HARTNACK's work originally written in Danish. The book is a short but poigniant introduction to HegeTs Logic, based mainly on the Wissenschaft der Logik but referring to the Encyclopedia Version as well. The book is generally written at an introductory, not at the scholarly level, but HARTNACK sometimes takes the treatment so far as to offer something to the scholar as well. The editor comments that the purpose of translating a Danish book into German requires some justification. This book, according to the editor, merits translation insofar as it gives a picture of the Danish reception of Hegel. Actually, the book gives little Information in this regard. While HARTNACK occasionally refers to Danish or other Scandinavian studies, the book is an introduction to HegeTs Logic and as such refers primarily to English and German language scholarship. HARTNACK'S conception of the value of the book is rather to clarify HegeTs perplexing work for audiences for whom the book has thus far remained unclear. „Ich habe keine Anstrengung gescheut, dieses Werk so verständlich wie möglich darzustellen und seine Argumente möglichst plausibel zu machen, um den Weg zu einer intensiveren Auseinandersetzung zu bahnen" (7). This conception of the purpose of the book is much more accurate and worthwhile, even for a German translation, than that stated by the editor. The work is of interest to a wider audience insofar as it fulfills this objective. As an introduction to HegeTs Logic, the volume is extremely worthwhile. HARTNACK brings the breadth of a seasoned scholar to the work, explaining with stellar lucidity many of the perplexing basic issues of HegeTs philosophy. He clarifies difficult Hegelian maxims, such as the famed phrase from the Phenomenology: „Es kommt nach meiner Einsicht... alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken" (6, 10, 82-85, 101,

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& 110) and the notorious Identification of the rational and the actual from the Philosoph}/ of Right (73). HARTNACK weaves an explanation of Hegel's conception of the relation between ontology and rational thought throughout the text, enabling him to give a clear rendition of these and other difficult points through a wholistic picture of Hegel's philosophy. HARTNACK's breadth of familiarity, encompassing the English-American analytic tradition and formal logic as well as the history of philosophy and German idealism specifically enables him to situate Hegel in his philosophical context and to illustrate his doctrines through comparison and/or contrast with those of others. So besides the expected references to ARISTOTLE, LEIBNIZ, SPINOZA, HUME, KANT, FICHTE, and ScHELLEMG, HARTNACK includes references to WITTGENSTEIN, QUINE, MARCUSE, POPPER, J. S. MILL, and BERTRAND RUSSELL, and even contrasts Hegel's description of motion to that of HERACLITUS, and his discussion of being to that of ANAXIMANDER (13-14,1718). He offers references, furthermore, to selected Hegel scholarship from the early part of the Century through the present day. HARTNACK's

discussions occasionally go beyond the introductory level, to correct or to challenge certain Claims prominent within Hegel scholarship. Specifically, in his discussion of becoming HARTNACK emphasizes, as he will do offen, that Hegel is not describing a temporal process and situates this claim in Opposition to the assumptions present in the critiques and descriptions from KIERKEGAARD and TRENDELENBURG, MCTAGGERT, EROL HARRIS, W. T. STACE, J. N. EINDLAY, and KUNO FISCHER. Of course, one would have to examine the descriptions of the above scholars individually before assuming that they interpret Hegel temporally. Since Hegel himself uses such language as „motion", „transition" and „becoming" (Bewegung, Übergang, Werden) to describe his own non-temporal „process", we cannot assume that the use of terminology which typically refers to temporal processes indicates a temporal Interpretation of the dialectic. But for the beginner, the clarification that such terms are to be understood as „eine begriffliche Deutung" rather than temporally („Das Werden ist kein in der Zeit ablaufender Prozeß", 13) is exceedingly helpful, and goes beyond many common perceptions of Hegel's project. „Die mit dem reinen Sein beginnende Geschichte, die vom Werden zum bestimmten Sein übergeht, ist keine sukzessive Erzählung; es ist keine Erzählung von etwas, das sich ereignet hat; es ist eine begriffliche Deutung. Darum gibt es ganz eindeutig keinen als primär anzusehenden Prozeß, wo das reine Sein mit dem Nichts vereint wird und es gibt weder ein reines Sein noch ein reines Nichts, weshalb sich auch kein solcher Prozeß ergeben kann" (18). Such a description clarifies not only the temporal misperception of Hegel's dialectic, but also certain ontological misperceptions regarding the origin of the logic with pure being. To clarify such basic but difficult Hegelian principles is of value to the scholarship in any language. HARTNACK'S clarity on the difficult basics of Hegel's Logic could be further illustrated with another passage, describing Negation and Dasein: „Der Unterschied zwischen dem reinen Sein und dem Dasein ist folglich, daß der Begriff der Negation als Begrenzendes und Bestimmendes ein integrierter Teil des Seins wurde. Darum ist nichts, was ist.

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ohne von der Negation bestimmt zu sein, also von dem, was nicht ist. Es ist bestimmt als ein Etwas, das sich von einem anderen Etwas unterscheidet" (18). Perhaps the discussion which goes the farthest for the Hegel scholar is that of „Die Verkehrte Welt" (66-67). Here HARTNACK argues that Hegel's discussion is not so cloudly as is often assumed (EINDLAY, M. J. INWOOD, and PAUL OWEN JOHNSON) if we realize that Hegel's description portrays the conceptual relation between the sensible („sinnlichen") and meta-sensible („übersinnlichen") world. These occasional discussions which address the scholar are found generally in the footnotes. The text itself remains quite tactically brief and readable as an introduction. HARTNACK divides his work according to the major divisions of the Logic, though with a sometimes rather loose correspondence, designed to give a readable description of the text rather than a commentary. Providing a clear description which introduces the reader to Hegel's logic within a concise format of 100 pages is the great accomplishment of this text. One of HARTNACK'S prominent and recurring illustrations, however, is significantly problematic and misleading. HARTNACK employs GOTTLOB FREGE'S distinction between Sense and Reference (Sinn und Bedeutung) to clarify negativity and Hegel's discussion of the contradition. He uses this illustration repeatedly to elucidate Hegel's complex approach toward identity and difference. This example thus clarifies the relation between Sein and Nichts as well as between Etwas and Anderem, and then is used later in exactly the same way to explain the relation in the Wesenslogik between „das Ganze und die Teile", „die Kraft und ihre Äußerungen", and „das Innere und das Äußere" (68-72). The distinction is used to Claim that Hegel's affirmation of two seemingly opposing propositions essentially views a univocal referent in two different ways, or senses. So, for example: „Wenn gesagt wird, das Innere und das Äußere seien identisch, so heißt das, zu sagen, daß beide Ausdrücke dieselbe Bedeutung haben - sie weisen auf dasselbe hin -, nicht aber, daß sie denselben Sinn haben" (73). The correspondence between this illustration and Hegel's difficult approach to identity and difference is exceedingly problematic. For example, Hegel's descriptions of Sein-Nichts and Etwas-Anderem, as well as Ganze-Teile, Kraft-Äußerung, and Innere-Äußere each describe two things which are clearly opposite. These descriptions are paradoxical in asserting that the two seeming opposites are essentially „identical." Contrariwise, the contradiction itself refers to a singulär, a univocal, and paradoxically asserts that it is contradictory. Hence, for the former examples, Hegel refers univocally to that which has neither the same Sinn nor the same Bedeutung, whereas the contradiction itself asserts bivalence for a (and any) given entity which has a singulär referent in a univocal sense. Secondly, since HARTNACK uses this illustration indiscriminately throughout all three books of the Logic, it gives the illusion that Hegel's concept of negativity functions univocally throughout. This clouds the distinction between the Seinslogik and the Wesenslogik, which HARTNACK himself describes so clearly: „Während allerdings in der Seinslogik die identitätssichernde Negation im „Anderen" wirkt, ist im Wesen die Negation im Begriff selbst enthalten"

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(80). If we take this distinction seriously, we cannot describe this negativity by a formula such as FREGE'S, and certainly could not use it in the same way for both of the first two books. One further criticism should be mentioned. In his discussion of „Die schlechte Unendlichkeit“, HARTNACK criticizes WALLACE'S English translation as follows: . hat WALLACH seiner Übersetzung als „Zusatz" folgenden Passus hinzugefügt; „With such empty and other-world stuff philosophy has nothing to do.“ Dies sind harte Worte zu einem Problem, das Philosophen von ZENON bis WITTGENSTEIN und QUINE fasziniert hat. Zu allen Zeiten ...“ (23-24, regarding § 94 of the Encyclopedia). While HARTNACK follows with interesting and noteworthy reasons why this remark does not accord with the Hegelian approach, it is unclear why he points these criticisms at WALLACE. The text is not added as a „Zusatz," but included in the translation of the larger Zusatz, which VON HENNING records in his edition of the Encyclopedia Logic, the edition which is usually the basis for translations of the „lesser logic" in English. The sentence in question is not WALLACE'S fabrication, but his rendition of the sentence, „Die Philosophie treibt sich nicht mit solchem Leeren und bloß jenseitigen herum" from VON HENNING'S edition. Some unfortunate editorial oversights should also be mentioned. Eirst, though the edition is a translation of a work originally written in Danish, allegedly with the purpose of illuminating our understanding of the Danish reception of Hegel, the editor has not given any Information about the publication of the original text. The text was indeed published in Danish, with the German title, „Hegels Logik: Ein großer Mann verdammt die Menschen dazu, ihn zu explizieren" (Copenhagen: C. A. Reitzel, 1990). Second, the text breaks off abruptly between pages 73 and 74, seemingly omitting a significant portion of HARTNACK'S discussion of Wirklichkeit. Einally, the book is followed by a brief „Excurs", titled „Hegel in Denmark". This „Excurs" seems to be an addition, presumably not included in the original Danish, which was intended to foster the editor's stated purpose of the translation. The short text, however, is mysteriously rendered in English, without any description of its origins or authorship. These editorial oversights, however, do not distract from the book's purpose if we take that to be HARTNACK'S purpose rather than the editor's. The book is highly recommendable as a clear and concise introduction to HegeTs difficult text, which will be of great value certainly to students and perhaps even to Hegel scholars who wish to further their grasp on the logic viewed as a comprehensive whole. J. Murray Murdoch, Jr. (Eordham University)

Luca Illetterati: Figure del limite. Esperienze e forme della finitezza. Trento: Verifiche 1996.115 S. Mit seiner Arbeit versucht ILLETTERATI, Eormen und Figuren menschlicher Endlichkeit zu untersuchen. Hierbei spielt der Begriff der Grenze eine zentrale Rolle, der

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nicht nur negativ, sondern auch positiv zu verstehen ist. Folgende theoretische Fragen will ILLETTERATI im Hinblick auf die philosophische Problematik der Grenze beantworten: Besteht das endlich Sein des Wesens im Dasein des Menschen? Auf welche Weise stellt sich der Mensch die Grenze in seinem Leben, in seinen Handlungen und in seinem Denken vor? Zunächst ergibt sich hierbei das Problem einer Definition des Begriffs der Grenze, die unterschiedliche Bedeutungen hat. Aus diesem Grund untersucht ILLETTERATI im ersten Kapitel verschiedene Formen der Grenze, deren Typologie er beschreibt. Negativ gesehen erscheint die Grenze als eine Beraubung, der die positive Bedeutung als einer Ganzheit und Vollständigkeit gegenübersteht. Solchermaßen bildet die Grenze einen Ort des Widerspruchs, sofern sie ein Mittel der Negation darstellt, die sich aber selbst bestimmt und dadurch positiv wird. Um diese Definition der Grenze weiter zu klären, zieht ILLETTERATI im zweiten Kapitel beispielhaft drei Philosophen heran, die dieses Thema behandelt haben. Als erstes geht er auf KANT ein, der Limitation, Einschränkung, Schranke und Grenze kennt. Nach KANT bezeichnet die Schranke etwas Negatives und damit eine mangelhafte Form. Grenze hingegen ist positiv zu verstehen, weil sie sich auf die Begriffe von Vollständigkeit und Ganzheit bezieht. Für KANT läßt sich an diesem Unterschied insofern festhalten, weil sich die Schranke auf gleichartige Orte und die Grenze auf ungleichartige Orte bezieht. Dieser Unterschied dient KANT dazu, verschiedene Weisen der Erkenntnis zu separieren. So hat es die Metaphysik mit den ungleichartigen Orten der Grenze zu tun, während sich die Wissenschaften mit den gleichartigen Orten der Schranke beschäftigen. KANTS Interpretation hat seinerseits Hegel in der Wissenschaß der Logik und in der Enzyklopädie diskutiert, was ILLETTERATI durch eine theoretisch anspruchsvolle Darstellung ausführt, die das Anregendste innerhalb seiner Untersuchung ist. So erfährt man z. B., daß Hegel hauptsächlich die KANiische Auffassung der Schranke, nicht aber die der Grenze kritisiert. Laut Hegel übersteigt man ständig die Schranken, die man kennt, und erliegt so dem, was man die ,Bosheit der Schranke' nennen könnte, die auf einen Progreß ins Unendliche führt. Die Grenze dagegen bedeutet für Hegel die Bestimmtheit des Etwas, das zugleich eine Negation impliziert und aus diesem Grund in einer Beziehung mit dem anderen seiner selbst steht. So ist das Etwas strukturell „das Aufhören eines andern in ihm" (GW 21.113). Am Etwas, das sein Dasein in der Grenze hat, wird hierbei nach ILLETTERATI eine Dynamik offenkundig, die aus der Sache selbst stammt. Die Grenze als das Gegenteil der Schranke ist für ILLETTERATI die wahre Unendlichkeit bei Hegel. Ebenso wie sich für Hegel die wahre Unendlichkeit nicht von der Endlichkeit trennt, sondern das Aufheben des Endlichen aus sich selbst meint, betont HEIDEGGER die Handlung des Übergehens, die sich nicht als Grenzüberschreitung im Telos einer Transzendenz vollendet. Gerade in Anlehnung an den von HEIDEGGER betonten Vollzugscharakter untersucht ILLETTERATI Handlungen des Menschen, in denen die Grenze eine wichtige Rolle spielt. Nachdem er im dritten Kapitel auf seinem Spezialgebiet den

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Begriff des Lebendigen als Tätigkeit des Mangels charakterisiert hat, beschreibt das vierte Kapitel das vom Organischen wesentlich unterschiedene Handeln des Menschen. In einem Konflikt befindet sich das Subjekt nicht innerhalb einer Grenzsituation, sondern es ist bereits über sie hinausgegangen, wie ILLETTERATI an Phänomenen wie Wert, Entscheidung und Verantwortung zu erhellen versucht. Das abschließende fünfte Kapitel thematisiert die Sprache als Grenze und die Übersetzung als Erfahrung des Unterschieds. In diesem Sinn ist insbesondere die Übersetzung, durch die man in sich selbst etwas davon Verschiedenes ausmacht, eine ausgezeichnete Erfahrung der Grenze, sofern sich das Subjekt seine eigenen Bedingungen vorstellt, die es gleichzeitig überschreitet. Aufgrund der sachlichen und philosophiegeschichtlichen Differenzierungen bietet ILLETTERATI eine äußerst instruktive Analyse des Begriffs der Grenze, die es verdient, auch über Italien hinaus zur Kenntnis genommen zu werden. Claudia Melica (Roma)

Hegel Reconsidered. Beyond Metaphysics and the Authoritarian State. Ed. by

H. Tristram Engelhardt, Jr. and Terry Pinkard. Dordrecht, Boston, London: Kluwer 1994.257 S. Die vorliegende Aufsatzsammlung wurde dem 1991 verstorbenen deutschen Philosophen KLAUS HARTMANN gewidmet. Wie H. TRISTRAM ENGELHARDT in der Einleitung erklärt, besteht der Ansatz der Aufsatzsammlung darin, im Anschluß an HARTMANNS Artikel Hegel: A non-Metaphysical View (In: A. Maclntyre (Hrsg.): Hegel. Notre Dame 1972.101-124) „transcendental and conceptual explorations drawing on Hegelian argument“ vorzustellen.(l) Hegels entscheidender Beitrag ist demzufolge die in der Logik dargestellte „Theorie“ bzw. „Hermeneutik der Kategorien" (K. H. 104/124), er wird so zu einem Philosophen, der den „unavoidably systematic character of thought" in den Vordergrund seiner Überlegungen stellte (ix, 1 f). Hegel umgeht bzw. überwindet das der traditionellen Metaphysik innewohnende Problem der ersten Setzung durch sein Modell der Zirkularität. Seine Dialektik fußt weder auf einer transzendenten, noch auf einer - etwa der ,Realität' oder der ,Geschichte' - immanenten Macht und kann als eine Methode angesehen werden, Geschichte rational von einem partikularen, aber „gehaltvollen" (content-full) Standpunkt - der Perspektive der Vernunft - aus zu rekonstruieren.(4) Dieser Standpunkt wiederum wird im Sinne der Vorstellung, daß Philosophie die Reflexion der Vernunft auf sich selbst ist, als einem ,hermeneutischen Zirkel' unterworfen gedacht, der die isolierten Bedeutungen in ihren Kontext einfügt und der systematischen Betrachtung unterwirft. ENGELHARDT erhebt den Anspruch, Hegels Denken von den Mißverständnissen anderer, aber auch von dessen eigenen Mißverständnissen zu befreien. Es handelt

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sich also erneut um einen der zweifelhaften Versuche, den ,wahren' Hegel - hier den Hegel des Systems - ins rechte Licht zu rücken. ENGELHARDT rechtfertigt dieses Vorgehen jedoch dadurch, daß so der Blick freigemacht werde auf eine philosophische Methodologie, die heute als Werkzeug dienen kann, den aktuellen Problemen - dem ,postmodernen' Relativismus, der Bindung des Einzelnen und der Gemeinschaften an den Markt - zu begegnen und die Begründung einer pluralistischen Gesellschaft zu liefern, die sich an der „universal self-conscious realization of freedom" orientiert. (14) (The Hegelian Project, 19-42) bietet eine im besten Sinne gut verständliche Einführung in die Hegelsche Logik als die Darstellung seiner Methode und die Verbindung dieser Methode mit der Realphilosophie. Philosophie als „meta-theory" bedeutet demnach nicht, „thinking about reality, but thinking about what it is to think about reality“ (23). Schwierigkeiten bei der Übersetzung weisen allerdings auf den sich einer ,allgemeinverständlichen' Aneignung widersetzenden Charakter der Hegelschen Begrifflichkeit hin. Der Begriff ,Schein' etwa bleibt unübersetzt, die Entsprechung ,Vorstellung' - „representation“ bzw. „picturing thought" bezeichnet BUNGAY selbst als vage, wenn auch nicht als falsch. Die Verwendung des Verbs ,to comprehend', das die im Deutschen grundlegende Unterscheidung zwischen ,verstehen' und ,begreifen' übergeht, weist auf die Bedeutung dieser Eragen hin. Wichtig ist BUNGAY, Hegel gegen die Vorurteile zu verteidigen, sein System habe keine Beziehungen zur Wirklichkeit, wichtig ist ihm auch der Hinweis auf die Hegelsche Unterscheidung zwischen ,richtig' und ,wahr', die eine Philosophie des Urteils, welche sich in diesem Sinne auf ,Richtigkeit' beschränkt, als eine Philosophie des Verzichts erweist. Mit der Hegelschen Orientierung an der,ganzen' Wahrheit wird eine Philosophie verteidigt, die sich weder mit der - sprachanalytischen - Beschränkung auf das Allgemeine, noch mit der - postmodernen - Beschränkung auf das Individuelle zufrieden gibt. STEPHAN BUNGAY

(Hegel'S Metaphysics, or the Categorial Approach to Knowledge ofExperience, 43-56) beurteilt Hegel als Vollender der von KANT begonnenen „Kopernikanischen Revolution“. Es geht Hegel demnach nicht darum, neue Wahrheiten über die Wirklichkeit zu erlangen, vielmehr bestimmt er „the categorial framework,... through which content is made comprehensible to the mind of the knower“ (47). Die Übereinstimmung mit der Darstellung BUNGAYS ist offensichtlich. Das hier vermittelte Bild vom ,Hermeneutiker' Hegel bleibt in seiner Einseitigkeit jedoch ebenso zweifelhaft wie der Versuch, Hegel von seinen in der traditionellen Metaphysik gründenden Bezügen abzutrennen. Dementsprechend weist KLAUS BRINKMANN (Hegel'S Critique of Kant and Pre-Kantian Metaphysics, 57-78) darauf hin, daß Hegel nicht lediglich den Ansatz KANTS fortgeführt, sondern seine eigene Begrifflichkeit entwikkelt habe. BRINKMANN geht es darum, „to identify the fundamental principles that define the common ground Hegel shares with the metaphysical tradition and that at the same time set him off against its particular mode of thinking“ (57). Hegel schloß aus dem „negative result of the Dialectic (KANTS) ..., that the categories qua thought-determinations of the conditioned are unfit for affording knowledge of the TOM ROCKMORE

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unconditioned, i. e., the truth", daß etwas mit diesen Kategorien selbst nicht stimmen kann. Für ihn lag der Ausgangspunkt der Philosophie in einer Kritik des natürlichen Denkens und dessen naiven Realismus. Der Begriff ,Vorstellung' ist laut BRINKMANN ein Synonym für (Wort-) Bedeutung (meaning), und ,vorstellendes Denken' ist ein Denken in Termini von Bedeutung (meaning) oder ein Denken entsprechend der Semantik der Sprache. (66) Für Hegel stand demnach fest, daß wir in ,Namen' denken. Die Aufgabe der Philosophie besteht diesbezüglich darin, „to transcend the level of thinking in names, if not the limits of language, in Order to reach the level of ,comprehensive thinking' (begreifendes Denken), at which the most general forms or features of our conceptual structure may be laid bare" (67). Hegel geht es nicht darum, durch die Reflexion eine neue Struktur für die Sprache zu erfinden, sondern durch die Ersetzung von,Vorstellungen' durch ,Begriffe' den der Sprache inhärenten rationalen Kern aufzudecken (68). Das von Hegel kritisierte metaphysische Denken verharrt demgegenüber entweder auf der Ebene des symbolischen Denkens in Termini von ,Vorstellungen' oder auf der Ebene von Subjekt-Prädikat Sätzen oder Propositionen (Urteilen). Indem BRINKMANN versucht, Hegels Ansatz in den Diskurs der Sprachanalyse einzubinden, eröffnet er einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem von dieser Seite vielgescholtenen Idealisten neue Möglichkeiten. {On the Theoretical Form of Hegel's Aesthetics, 79-101) erörtert die methodologischen und kategorialen Probleme, die sich aus der Einteilung der Sphäre des absoluten Geistes in die Formen Kunst, Religion und Philosophie ergeben. Für ihn steht fest, daß Hegel „never maintained anything other, than that, with respect ,to its highest determination', namely its task of arriving at an adequate consciousness of the absolute, art and religion are overhauled in modern times". (86) Intuition (Kunst), Repräsentation (Religion) und Denken sind aber nicht lediglich verschiedene intentionale Formen der Verweisung auf den selben Inhalt, sondern sie bezeichnen als noologische Strukturen drei Arten des Verhältnisses der Selbstreferentialität, als welche „concrete subjectivity" existiert. (87) Hegels Ansatz, der für ASCHENBERG auch der modernen Kunst gerecht wird, indem er ,Geschmack' als eo ipso „subjectively particular" (90) bezeichnet, kann als eine „highly complexed mixed theory" einer Dreiteilung unterworfen werden. Lediglich deren erster Teil, die „fundamental aesthetics", kann Teil eines Systems kategoria1er Ontologie sein. Der zweite Teil, die „philosophy of art history of the particular forms of art", muß demgegenüber als ein historischer und hermeneutischer Exkurs des Systems betrachtet werden, welcher wiederum auf eine „descriptive structural ontology of the individual arts" übertragen wird. (95 f) ASCHENBERG bietet insofern eine Illustration dessen, wie ein philosophisches Denken, welches Hegel folgt, in der Lage ist, „to explicate in its conceptual structure all that concrete subjects know, even when they, as it is usually the case, are not thinking philosophically" (99). REINHOLD ASCHENBERG

J. BOLE III (The Cogency ofthe Logic's Argumentation: Securing the Dialectic's Claim to Justify Categories, 103-117) geht der Frage nach, ob HARTMANNS Beurteilung THOMAS

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der Wissenschaft der Logik als einer transzendental argumentierenden Theorie der Kategorien gerechtfertigt ist. BOLE liest Hegels Realphilosophie als eine Erläuterung dessen, wie die Kategorien der Logik unsere ,Deutungen' (explanations) der empirischen Realität erfassen können. Weil ,Deutungen' einen irreduzibel kontingenten Inhalt in sich tragen, geht BOLE nicht davon aus, daß sie kategorial beurteilt werden können wie die strengen Begriffe der Logik. Nichtsdestoweniger können wir, da die Logik allgemeine Kategorien garantiert, die kategorialen Elemente in unseren Deutungen der empirischen Realität anerkennen. (The Meta-Ontological Option: On Taking the Existential Turn, 119142) sieht entgegen der Ansicht der anderen Autoren HARTMANNS Hegel-Lektüre als verfehlt an, weil er „the irreducible otherness of existence (gestattet,) to stand as a positivity whose integrity must be respected", und insofern „the pure categorial level" relativiert. (133) Dagegen habe Hegel die Differenz, die etwa in der Beziehung zwischen Sprache und Welt thematisiert wird, zurückgewiesen. Wenn HARTMANN Hegels System ,nicht-metaphysisch' interpretiert, impliziert er, „that the ordering could not be taken as a direct ordering of being“. Wenn er aber das System als Ontologie bezeichnet, impliziert er, „that the ordering of the System is relevant as an ordering of being" (138). Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen, habe für HARTMANN darin bestanden, die Ontologie als eine Ontologie der Werte (value) anzusehen, was aber als ein „valuational mistake" anzusehen sei. KHUSHF schlägt daher vor, die nicht-metaphysische Hegel-Lektüre durch eine „meta-ontological Option" zu ersetzen. Es bleibt die Frage, ob wir es hinsichtlich des Hegelschen Systems nicht lediglich mit einem „game reason plays with itself" zu tun haben. KHUSHF geht jedoch davon aus, daß eine nicht-metaphysische Lesart, auch wenn sie Hegels Ansatz verfehlt, in der Lage ist, wichtige Probleme der modernen Philosophie wie die Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Realität zu diskutieren. Für KHUSHF bietet etwa die Enzyklopädie „a language about language that escapes the ambiguity that post-modernist critics like DERRIDA have attributed to all language" (139). GEORGE KHUSHF

(The Logic of Contingency, 143-161) schlägt eine Lesart vor, welche den „Creative, hermeneutical aspect of the Hegelian position" (145) betont und sich auf dessen „repeated criticisms of the distinction between fact and value in philosophy" stützt. Ihr geht es gerade darum, die Bedeutung der „Hegelian ontology" für das ,tägliche Leben' offenzulegen. Ausgehend von einer Neuinterpretation der Hegelschen „Überzeugung", daß, „was vernünftig wirklich" und was „wirklich vernünftig" ist, kommt sie zum Schluß ihres Aufsatzes zu der bedenkenswerten Aussage, daß „the flow of contingency shows that our knowledge is something like the craftsman looking at the product of his labor: the facts of history might be represented by the particular pieces of the craftsman's labor, and it is only through a retrospective look at his product that the shoemaker sees the necessity of the unity" (157). CHAFFINS Aufsatz ist geeignet, der Argumentation gegen die nach wie vor virulenten Vorurteile gegenüber der Hegelschen Geschichtsphilosophie eine breitere Basis zu verleihen, indem sie auf die Rolle verweist, welche „the conceptual delineaDEBORAH CHAFHN

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tion of the subject" bei Hegel hinsichtlich des Wirklichen spielt, welches als „the real" zu verstehen ist, „that is the rational". Seine Logik kann in diesem Zusammenhang als ein „understanding of understanding" angesehen werden, das „its own self-understanding" einschließt. (150 f) (Constitutionalism, Politics and the Common Life, 163-186) geht in seinem Aufsatz der für ihn zentralen Frage Hegels nach, welche Form der Gemeinschaft dem modernen marktorientierten Staat entsprechen könne. PINKARD stellt Hegels Ablehnung der Moralphilosophie dar und zeigt, daß es zur Lösung der Konflikte zwischen einer universellen Moral und der persönlichen Sphäre des Einzelnen notwendig ist, „to construct the idea of a form of social life in which personal and moral motivation meshed" (166). Der konstitutionelle Staat trägt dem Umstand Rechnung, daß der Markt weder am ,guten Leben' noch an der ,schönen Existenz' orientiert ist, sondern lediglich „the product of a series of seemingly disconnected individual choices", indem er der „Justiz" als „an ordering relation among individuals in a pluralistic setting" eine entscheidende Rolle zuweist.(168) Im Hegelschen Staat wird das Individuum aufgrund der ,Sittlichkeit', verstanden als einer gemeinsamen Sittenlehre, die auf Werten beruht, welche zwar „historically relative" sind, „but on which widespread agreement may still be found" (176), stärker eingebunden als in einem rein liberalen Staat. Hegel liefert insofern nicht den Zugang zur einen, begreifbaren Wahrheit, sondern „a categorial understanding of the complexities of the life in which it now finds itself" (172). Hegels Kritikern hält PINKARD entgegen, daß im 19. Jahrhundert allgemein nicht entschieden war, daß ein ,Rechtsstaat' zugleich auch demokratisch zu sein hat. Der Artikel verweist auf die aktuelle sogenannte Kommunitarismusdebatte; ihm liegt die Intention zugrunde, unter Rückgriff auf Hegels Gesellschaftsmodell ein für die aktuelle Situation tragfähiges Modell einer pluralistischen Gesellschaft zu begründen, das eine einseitige Orientierung entweder an konstitutionellen oder radikal demokratischen Auffassungen vermeidet. TERRY PINKARD

(Revolution as the Foundation of Political Philosophy, 187-209) knüpft an den paradoxen Ansatz HARTMANNS an, eine systematische politische Philosophie zu formulieren, deren Ziel zu sein scheint, Politik zu vermeiden. HARTMANN wandte sich gegen diejenigen, die während der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts mehr ,Realismus' von der Philosophie verlangten. HOWARD beabsichtigt nun, auf der Basis einer Analyse der amerikanischen und der französischen Revolution, den Rahmen für eine Theorie der Demokratie und ihrer Beziehung zur Revolution bereitzustellen, auf dessen Grundlage auch „the necessary relation of philosophy and politics" gegründet werden kann.(189) Beide lassen sich durch die aus ihnen heraus entstandenen Konstitutionen identifizieren, und doch sagen diese nichts über die Revolution an sich aus, vielmehr negieren sie als empirische Resultate diese als ihren eigenen Ursprung. (201) Insofern gilt, daß Revolutionen konzeptuell einfach „nothing" sind, weil die universalen Kategorien des Politischen ihnen gegenüber versagen. (203) Gegenüber der Sphäre des objektiven Geistes ist nur eine symbolische, nicht aber eine ontologische Interpretation möglich. DICK HOWARD

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Hier liegt der Grund für HARTMANNS Zurückweisung einer philosophischen Auseinandersetzung mit den partikularen Forderungen revolutionärer Gruppierungen, aber hier liegt auch der Grund dafür, daß für HARTMANN Hegels Weltgeschichte nicht als dem System zugehörig angesehen werden kann. HOWARD sieht in der symbolischen Spannung zwischen Entwicklung und Normativität eine Bedingung für die Möglichkeit der Demokratie, welche demnach aber nicht als eine für alle Zeiten fixierte Ordnung anzusehen ist. Das Resultat der Auseinandersetzung mit Hegel und HARTMANN ist „a theory which can account both for the necessity of institutions of political decision ... and for the constant challenge ... to these institutions".(206) Die Festlegung der Aufgaben der Philosophie auf die kategoriale Analyse kann aktuell zu einer Argumentation gegenüber Positionen herangezogen werden, welche aus der ,postmodernen' Relativierung der ,Wahrheit' und der politischen Standpunkte den Schluß ziehen, auch die Wissenschaft müsse bewußt Partei ergreifen für letztlich nicht mehr begründbare Überzeugungen, müsse bewußt ,ideologisch' sein, um ,falschen' Ideologien entgegenzutreten. Für H. TRISTRAM ENGELHARDT {Sittlichkeit and Post-Modernity: An Hegelian Reconsideration of the State, 211-229) schließlich war Hegel derjenige, der, vorausgesetzt man versteht unter,Postmoderne' „the post-Enlightenment recognition that there is no universal moral narrative"(211), deren Wurzeln aufgedeckt hat. Die Überlegungen CHAEHNS, HOWARDS und PINKARDS zusammenfassend, sieht er Hegels Projekt des konstitutionellen Staates als Grundlage einer pluralistischen Gesellschaft an, welche die Fehler der Aufklärung überwindet. Hegels Ansatz lasse sowohl Raum für die Anerkennung der Verschiedenheit der menschlichen Visionen vom Guten als auch für die Universalität der grundlegenden Menschenrechte. Ein jeweiliger Staat könne seine Identität nur im Politischen als der „Wirklichkeit einer sittlichen Idee" (Hegel), als „political unity of diverse communities" (und verschiedener Sittlichkeiten) gründen, was aber nicht soziale Einheit und Identität bedeute. (218) Der Staat „is a category of social reality that can compass in a categorial unity a diversity of understandings of the content-full character of morality" (219). Eür HARTMANN wird Hegel zu einem Vordenker der Demokratie, und zwar einer begrenzten Demokratie; diesbezüglich leistete Hegel mehr als ihm selbst bewußt war. Aber das, so schließt ENGELHARDT, ist eben die ,List der Vernunft'. (222) Die Aufsatzsammlung, so läßt sich zusammenfassend sagen, bietet trotz gewisser Fragwürdigkeiten, wie dem Versuch, mit Hegel als ,Sprachphilosophen' den ,linguistic turn' im deutschen Idealismus zu verorten, oder demjenigen, Hegels System etwa von seiner Weltgeschichte abzutrennen, einen wichtigen Beitrag, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dessen Philosophie in aktuellen Kontexten diskutiert werden kann. Insbesondere in Hinsicht auf die defensive Situation, in der sich die ,kontinentale' Philosophie in den USA verschiedentlich befindet, kann ein Buch wie das vorliegende dazu beitragen, Hegel in der Tat wieder „in Betracht zu ziehen". Christoph Bauer (Bochum)

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Michael O. Hardimon: Hegel's Social Philosophy. The Project of Reconciliation.

Cambridge University Press 1994.278 S. Das Thema des Subjekts hat ohne Zweifel die Hegel-Forschung in den letzten Jahrzehnten charakterisiert; die Idee einer Philosophie des Absoluten, die die Unterscheidungen in der organischen Gliederung des Ganzen vernichtet und grundsätzlich die Rechte des Individuums verkennt, wird von der Vorstellung eines Denkens ersetzt, das dagegen versucht, die Ansprüche des Allgemeinen und des Besonderen zu „versöhnen". Dieses ist im wesentlichen auch das Thema des Buches von HARDIMON: es hat vor allem den Vorteil, eine extrem maßvolle Lesart des Hegelschen Textes zu bieten; es will nach der Definition des Autors als eine umfangreiche und ausführliche Darstellung der „sozialen Philosophie" Hegels verstanden werden. HARDIMON behauptet, daß für Hegel diese Theorie ein Versuch ist, seine Zeitgenossen mit der modernen sozialen Welt zu versöhnen, d. h. ihre Entfremdung den grundsätzlichen Institutionen gegenüber - der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat - zu überwinden; es handelt sich darum, sich ihrer immanenten Vernünftigkeit bewußt zu werden. In der Behandlung des Hegelschen Projekts gibt der Autor erstens eine begriffliche Abklärung mit dem Ziel, Hegels Darstellung von ihrem schweren technischen Apparat zu befreien; gleichzeitig versucht er, den Text von seinen exegetischen und ideologischen Schichtungen zu lösen. In diesem Sinn richtet sich das Buch nicht nur an den Spezialisten, sondern auch an Leser, die sich zum ersten Mal der Hegelschen Philosophie nähern. Der erste Teil des Buches ist dem eigentlichen philosophischen Hintergrund der Argumentation gewidmet und hat den Zweck, einige Schlüsselbegriffe zu erklären: Insbesondere analysiert der Autor den Begriff des Geistes in der Absicht, die Stellung des Individuums gegenüber dem Allgemeinen zu verstehen; darüber hinaus beschäftigt er sich mit dem sogenannten Doppelsatz, d. h. der Identität des Vernünftigen und des Wirklichen, um die Unabhängigkeit des Denkens gegenüber der Wirklichkeit hervorzuheben. Natürlich spielt auch der Begriff der Versöhnung eine Hauptrolle: Er wird in seiner technischen Bedeutung innerhalb der Hegelschen Philosophie rekonstruiert und von seinem gewöhnlichen Sinn unterschieden. Der zweite Teil des Buches geht hingegen auf die Einzelheiten des Hegelschen Projekts ein; zuerst analysiert HARDIMON die Struktur und die bestimmenden Elemente dieses Projekts; dann betrachtet er Hegels Auffassung der Individualität und ihrer Zugehörigkeit zu der Gesellschaft in den verschiedenen Institutionen; schließlich erhellt er jene Verwicklungen - die Scheidung, den Krieg, die Armut -, die die Perspektive der Versöhnung besonders fragwürdig erscheinen lassen. Durch seine sorgfältige Analyse versucht HARDIMON, die Aktualität des Hegelschen Projekts zu beweisen: Mit der eigenen sozialen Welt versöhnt zu werden, bedeutet, in ihr „zu Hause" zu sein. Die Stärke des Hegelschen Vorschlages besteht

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nach der Meinung des Verfassers in der Anstrengung, diesem Bild einen konkreten Inhalt zu geben. Nach Hegel kann man sich, wie HARDIMON behauptet, in der sozialen Welt nur dann „zu Hause" fühlen, wenn die Menschen die Möglichkeit haben, sich selbst zu realisieren, und zwar sowohl als Individuen wie auch als Mitglieder der Gesellschaft. Sich als Individuen zu realisieren, impliziert bestimmte Bedingungen; die Zugehörigkeit zu einer familiären Sphäre von persönlichen affektiven Verhältnissen, in der man seine eigene psychologische Eigentümlichkeit äußern kann, sodann die Möglichkeit, in einem privaten Bereich von rechtlichen Verhältnissen besondere Interessen zu verfolgen und die eigenen Begabungen, Fähigkeiten sowie den eigenen sozialen Status anerkannt zu sehen und endlich die Teilnahme an einem System politischer Verhältnisse mit dem Ziel, das Gemeinwohl zu verfolgen und sich gleichzeitig als Glied einer politisch organisierten Gemeinschaft zu fühlen. Die individuelle Selbstverwirklichung erfordert dann gleichzeitig die Teilnahme an der Familie, an der bürgerlichen Gesellschaft und am Staat. Diese Idee scheint dem Verfasser absolut plausibel und aktuell zu sein. Hier liegt jene Vernünftigkeit der sozialen Institutionen, mit denen Hegel die Zeitgenossen versöhnen wollte. Von diesem Standpunkt aus könnte die Hegelsche Auffassung auch für uns anregend sein, weil sie uns hilft, über ein Grundproblem unserer Gesellschaft nachzudenken: den Wunsch nach einer politischen Mitwirkung, die eine echte Bedeutung hätte, die einerseits nicht ausschließlich passiv und andererseits gleichzeitig vereinbar mit dem eigenen Privatleben wäre. Trotzdem - erklärt der Autor - stellt diese Idee nur in großen Zügen die Hegelsche Auffassung dar: Sie sieht von besonderen Themen, Einzelheiten und spezifischen Gestaltungen des Modells ab, die wir nicht teilen können: die Vorstellung des Geschlechtsunterschiedes und die Rolle der Frauen, die hierarchische Auffassung der Politik, die den Bürgern eine zu geringe Macht zuschreibt, um nur einige Beispiele anzuführen. Wenn es auch möglich wäre, an eine Reorganisation dieser Aspekte entsprechend unserer aktuellen Lebensauffassung zu denken, gibt es dennoch einen Punkt, von dem wir nicht einfach abstrahieren können: Hegel gesteht ein, daß die Armut ein negativer Zug, ein Fehler der modernen sozialen Welt ist. Und darin können wir übereinstimmen. Trotzdem behauptet er, daß es jedenfalls möglich wäre, sich mit dieser Welt zu versöhnen, sich in ihr „zu Hause" zu fühlen. Wir aber können diese Haltung nicht annehmen; Um sich in der sozialen Welt „zu Hause" zu fühlen - behauptet HARDIMON -, dürfte es nicht eine von ihren prinzipiellen Institutionen ausgeschlossene Klasse geben. Wenn uns die Hegelsche Auffassung auch die Möglichkeit bietet, in einer tieferen Weise über unsere aktuellen Probleme nachzudenken, muß trotzdem die Frage anders gestellt werden. Also nicht: „Kann ich mit der Gesellschaft versöhnt werden?", sondern vielmehr: „Können wir mit der Gesellschaft versöhnt werden?" Das Werk HARDIMONS stellt damit eine sehr aktualisierte Auslegung der Hegelschen Philosophie dar mit der Absicht, ein Modell auszuarbeiten, das die Ansprüche des Individuums mit dem Standpunkt des Allgemeinen koexistieren läßt.

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Durch eine sorgfältige Lektüre der Texte erreicht es der Verfasser, ein Bild Hegels zu bieten, das frei von totalitären Hypotheken und gleichzeitig alternativ zu den extremen Konsequenzen des Liberalismus ist. Fiorinda Li Vigni (Wassenaar)

Francesca Menegoni: Soggetto e struttura delVagire in Hegel. Trento: Verifiche 1993. 207 S. Das Buch von MENEGONI stellt sich als eine extrem sorgfältig dokumentierte Forschung dar, die von einer knappen Gegenüberstellung Hegels mit der ARisioxELischen und KANiischen Philosophie gestützt wird. Sie hat den Zweck, im Ganzen des Hegelschen Werkes die grundlegenden Züge einer möglichen Handlungstheorie wiederzuerkennen. Die Untersuchung hat jedoch noch ein weiteres Ziel, obwohl sie von einer streng analytischen Anlage ausgeht. Durch die Hervorhebung der dualistischen, in sich selbst tragischen Struktur der menschlichen Handlung versucht MENEGONI in der Hegelschen Reflexion eine „Philosophie der Differenz" zu lesen: Das Bewußtsein der konstitutiven Negativität des Menschen läßt die ihm zukommende Verantwortung identifizieren. Weit entfernt von der Bestimmung einer Geschlossenheit des Systems in sich selbst, erweist sich dann die Idee der Philosophie als regelndes Prinzip der menschlichen Handlung. Das erste Kapitel analysiert den Ursprung der Handlung: vor allem den Übergang von der Natur zum Geist, der sich um den Begriff des lebendigen Organismus dreht (19-28); dann die phänomenologische und anthropologische Grundlage der Handlung (28-37). In diesem Kontext wird die Bedeutung der enzyklopädischen Abteilung „Psychologie" betont, die als Grundlage der Ethik betrachtet wird: In der Thematisierung des freien Geistes - der Identität von Intelligenz und Wille - läßt sich die wahrhafte Wurzel des eigentlichen menschlichen Handelns erkennen (38). Das zweite Kapitel analysiert die objektive Verwirklichung der menschlichen Handlung, d. h. die rechtliche Handlung (74-82), die Handlung aus dem Standpunkt der Moralität (82-102), die sittliche Handlung (102-133). Hier wird auf einem höheren Niveau der unterscheidende Zug der Handlung erneut bestätigt, die in all ihren vielfältigen Äußerungen von einer ursprünglichen Zweiheit charakterisiert ist. Wenn sie in die Welt eindringt, versucht die Handlung das Innere und das Äußere zu vereinigen; außerdem wird sie von einem Subjekt vollzogen, das in seiner Konstitution zwischen Trieb und Vernunft, Zugehörigkeit zu der Natur und freier Kreativität geteilt ist. In diesem Sinne stellt die Handlung eine in ihren Bestandteilen und in ihrem Verlauf sich unterscheidende Synthese dar (135-136). Die aus einem rechtlichen Standpunkt betrachtete Handlung beruht auf dem Begriff der Anerkennung, der aber immer in Gefahr ist, nicht nur die Rechtspersönlichkeit, sondern auch das Wesen des Rechts selbst zu vernichten (137). Von ihrer Seite ist die moralische Handlung - in der Erfahrung des konstitutiven Gegensatzes

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zwischen ihrem Wesen als einzelnem Willen und dem allgemeinen Prädikat, das sie realisieren möchte - der tiefgreifende Ausdruck der unheilbaren Zweiheit, die auch die Handlung im allgemeinen bezeichnet (138). Ebenso wird auf ethischem Gebiet die der substantiellen Einheit der Familie innewohnende Differenz betont: Der Dualismus und der Gegensatz zwischen dem weiblichen und männlichen Charakter wird so das Unterscheidungszeichen der bürgerlichen Gesellschaft, wo die atomistischen und potentiell den Zerfall bewirkenden Tendenzen zur Reife kommen, die schon in der Familie existieren. Selbst die staatliche Handlung - das in sich und für sich ethische Ganze - ist nicht von der individuellen Handlung unterschieden: Als einzelner Wille bringt der Staat Spannungen und Konflikte hervor, um schließlich vor dem Gericht der allgemeinen Geschichte zu erscheinen (139). Auf die Analyse der Handlungsbestandteile folgt im dritten Kapitel die Erforschung ihres Kontexts. In diesem Zusammenhang stellt MENEGONI die Verwandtschaft zwischen der Handlungstheorie Hegels und der ARiSTOTELischen Auffassung der tragischen Handlung heraus (147). Auch im Übergang von der Ebene des individuellen und kollektiven Tuns - Gegenstand des subjektiven und objektiven Geist - zu der der Tätigkeiten des absoluten Geistes wird die Tragik der Handlung bestätigt: in der Kunst als jener geistigen Tätigkeit, die in sich selbst das Moment der Sensibilität und der Unmittelbarkeit hat und einen ewigen Konflikt zwischen Form und Bedeutung darstellt, (159) und in der religiösen Gesinnung, die von einem Kampf zwischen der Einzelheit des Menschen und der Sehnsucht nach der Unendlichkeit lebt (168). Schlußendlich wird die Aktivität der Philosophie - die Tätigkeit der Idee, die sich selbst denkt und ewig sich selbst verwirklicht, hervorbringt und genießt - von Hegel als eine absolut unbedingte und dann absolut freie Tätigkeit betrachtet (173). So wie die göttliche Tätigkeit stellt sie etwas Vollkommenes und Einheitliches dar, das aber in dem sich selbst Setzen eine Differenz mit sich selbst hervorbringt und dann die Spaltung und den Gegensatz ertragen muß (180). Die sich selbst wissende Vernunft darf nicht als ein formales und abstraktes Denken verstanden werden; das hier thematisierte Denken ist ein konkretes Allgemeines, das in sich selbst das Ganze der Gegensätze umfaßt, die es im Wege zum Wissen und zur Selbstrealisierung erfahren hat (178). Wenn dann die Idee der Philosophie in bezug auf die des lebendigen Organismus oder des vielfältigen menschlichen Tuns eine höhere Art von Praxis ausdrückt, gilt das nur, weil sie in sich selbst das Bewußt-Sein ihrer immanenten Negativität hat (182), jenes Wissen, das, bei Anerkennung der Alterität, ihre innerliche Tragik bestimmt (183). Absolut ist die Tätigkeit eines Denkens, das nicht nur sich selbst verwirklicht und hervorbringt, sondern auch ewig in Verhältnis mit seinem Anderen ist und in der Identität mit sich selbst die Differenz erfährt: seine Absolutheit muß dem Zufälligen, dem Endlichen, dem Beschränkten, dem Bedingten - d. h. der Natur - Platz machen (183). Die hier hervorgehobene tragische Auffassung findet so ihre Lösung in dem Bewußtwerden ihrer ursprünglichen Negativität und wird eine an jedermann gerichtete Herausforderung. Somit lernt der Mensch, in seinem Handeln das natürliche und geistige Leben in seinen eigentlicheren Möglichkeiten zu respektie-

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ren und es nicht aus einem instrumentalen Standpunkt, sondern als absoluten Zweck zu berücksichtigen (182). In diesem Hinweis auf die Bestimmung des Menschen erweist sich diese Untersuchung als ein Versuch gemäß dem Geist unserer Zeit, im Hegelschen absoluten Wissen das Spiel der Differenzen, der Zweiheiten, der Widersprüche an den Tag zu legen: eine „Rehabilitierung" des Absoluten in einer post-modernen Dimension, die jedoch nicht auf eine enge Textinterpretation und eine ununterbrochene Berücksichtigung des philosophischgeschichtlichen Hintergrunds verzichtet. Fiorinda Li Vigni (Wassenaar)

Manuela Alessio: Azione ed eticitä in Hegel. Saggio sulla ,Filosofia del diritto'. Milano: Guerini 1996. 280 S. Das Buch von MANUELA ALESSIO hat einen gut durchdachten und sorgfältigen Aufbau, der eine extrem ,radikale' Auslegung der Hegelschen Rechtsphilosophie bietet. Die leitende Idee ist, daß der Begriff der Sittlichkeit in seiner wirklichen Entfaltung nur verstanden werden kann, wenn man ihn in Verbindung mit dem Prozeß der Konkretisierung des Handelns betrachtet. In der Analyse der Struktur des Willens ragen zwei Elemente heraus, die nur in der weiteren Entfaltung der Reflexion ihren Bedeutungsgehalt offenbaren werden: der Begriff der Entscheidung und der Gedanke der Individualität als des einzigen möglichen Subjekts des Handelns (27). Die Entscheidung ist diejenige Gestalt, die die Tätigkeit des Willens begrifflich näher charakterisiert, weil sie den Übergang zu seiner Wirklichkeit darstellt. Der Entschluß bietet die Möglichkeit, den Abstand zwischen der abstrakten Allgemeinheit der Absicht und der mannigfaltigen Besonderheit, in welche das Handeln sich einfügt, aufzuheben. Nach ALESSIO bildet dann die Akzentuierung des Entschlusses den Wendepunkt zu einer völligen Aufhebung der KANiischen Konzeption der Moralität, was nicht über den Formalismus des Sollens geschehen kann. Das wird durch die begriffliche Veränderung der Auffassung der ,Beschränkung' hervorgehoben: Sie ist nicht mehr als eine Grenze zwischen Individuen gedacht, die als solche die Freiheit enthalten, sondern als eine tragende Struktur des beschließenden Willens, während sie gleichzeitig die Bedeutung einer,Befreiung' gewinnt (36-37). In der Auslegung der Verfasserin gestaltet sich die Hegelsche Auffassung des Handelns nicht als eine Kritik der KANiischen Überlegung, die zugestandenermaßen den aporetischen und zweifellos tragischen Charakter der moralischen Handlung akzeptiert; vielmehr stellt sich die Hegelsche Reflexion jenseits der KANiischen Perspektive. Das wird weiter bewiesen durch die Deutung der Unterscheidung zwischen ,Tat' und ,Handlung': Die Tat kann sich nur als Handlung aufbauen, wenn sie durch den Willen ,gewußt' wird (43). Es ist also sicherlich wahr, daß Hegel in dem Bewußtwerden des Handelns den grundsätzlichen Übergang zur Modernität er-

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kennt; dennoch darf man nicht jene Hegelsche Behauptung vernachlässigen, nach der die alte tragische Auffassung sich in einem besonderen Sinn als überlegen erweist. Der Handelnde übernimmt nämlich hier die Verantwortung nicht nur für das, was in seiner Absicht war, sondern auch für die unvorhersehbaren und unerwarfeten Folgen seines Handelns {Rechtsphilosophie. § 118). So behauptet Hegel, daß das Handeln des Individuums sich unvermeidlich dem Gesetz der Zufälligkeit preisgibt; es fügt sich in einen Kontext, den das Individuum nicht beherrschen kann. In diesem Sinn nimmt Hegels Kritik des KANiischen Gesichtspunkts die aporetischen Folgen der modernen Konzeption der Subjektivität an. Diese umfassende Problematik, welche mit dem Handeln des Einzelnen in Verbindung steht, taucht nicht in der Analyse der Verfasserin auf, mit einer einzigen Ausnahme, wie wir bald sehen werden. Statt dessen betont sie den Gedanken, daß der Standpunkt der Moralität sowie der des abstrakten Rechts ihre Wirklichkeit in der sittlichen Idee finden, jener Idee, die ihre vollendete Wahrheit bildet (53). Das moralische Sollen konkretisiert sich dann in den Pflichten, in den substantiellen Bestimmungen des Sittlichen. Sie stellen einen substantiellen Bund dar; so bilden sie nicht ein Element des Zwanges, sondern befreien das Individuum zu der Sittlichkeit des Handelns (58). Die Freiheit des Individuums realisiert sich dann als Teilnahme an der sittlichen Substanz; in dieser Weise offenbart sich in der Hegelschen Philosophie die völlige Aufhebung jeder abstrakten Gegenüberstellung zwischen dem Allgemeinen und dem Individuum (65). Die Analyse der Familie und der Korporation als sittlicher Wurzeln des Staates bestätigt die Idee einer Übereinstimmung zwischen der ,Wirklichkeit' des Individuums und seiner Freiheit und der,Wirklichkeit' der Substanz (69). In der Familie als erster Stufe der sitflichen Idee entwickelt das Individuum eine Zugehörigkeitsgesinnung zu einem Ganzen (83). Der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft, in der das Ziel des Handelns von der Besonderheit des Willens vorgegeben wird, gestaltet sich dagegen als ,Verlust des Sittlichen'. Trotzdem bleibt auch hier die sittliche Idee ,das Bestimmende', weil genau von dieser Idee die Besonderheit entspringt und als solche gesetzt werden kann (101-102). Die zweite sittliche Wurzel des Staats wird mit einer spezifischen Gestaltung der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert, d. h. mit der Korporation, die zu dem Stand der Industrie gehört. Sie macht ein Mittelglied zwischen Familie und Staat aus; ihr höchst sittlicher Charakter besteht darin, daß das Allgemeine (als Interesse gedacht) als Ziel des Willens und des Handelns erkannt wird wie in der Familie (104-105). Auch in diesem Kontext scheint die Verfasserin jene Elemente einseitig hervorzuheben, die im sittlichen Ganzen zusammenfließen, während sie die Spezifität und die Komplexität der verschiedenen Momente zu vernachlässigen scheint; in diesem Sinn wird zum Beispiel einerseits die bürgerliche Gesellschaft in ein ,Reflexionsverhältnis' aufgelöst; andererseits erhält sie ausschließlich Bedeutung durch jene Elemente, die als Neigung zum Allgemeinen auf die sittliche Idee verweisen. Eine Bestätigung dieser Behauptung ist die Darstellung des Begriffes der Arbeif. Die Verfasserin betont vor allem ihren ,poietischen' Charakter; wenn auch die Arbeit zu der

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geistigen Bildung des Menschen beizutragen scheint (115), reduziert sie sich schließlich auf die geistlose latigkeit der Maschine. Die einzige mögliche Form der ,Erlösung' ist der Hinweis auf ihr sittliches Ziel jenseits ihrer Besonderheit. Die Arbeit verbreitert sich zu einem Moment der ,Praxis' nur insofern, als sie sich als ein Handeln vom Gesichtspunkt des Staates als ,dem Kreis der Kreise' ausgestaltet. So nehmen die Arbeiter am politischen Handeln nicht als Individuen, sondern als Mitglieder der Stände teil (123-124). Im Staat realisiert sich die Einheit der objektiven und der subjektiven Freiheit; das handelnde Individuum erkennt den Staat - das konkrete Allgemeine als Wirklichkeit der sittlichen Idee - als die Möglichkeit seiner vollständigen Befriedigung an (159). Andererseits kann der Staat sich in seiner Universalität nur durch den Trieb des Individuums zum Handeln realisieren (157). Auch in diesem Fall geht der Verfasserin ein wichtiges Element verloren: die umfassende Hegelsche Konzeption der Bildung des Willens. Als Mitglied eines Standes erkennt das Individuum die sittliche Idee und identifiziert sich mit ihr. Was dann hier nicht klar gesehen wird, ist die Tatsache, daß der ,Verzicht' des Subjekts auf seinen Anspruch auf eine Absolutheit, aus welchem die gegenseitige Anerkennung der Individuen entspringt, einem fortschreitenden Bewußtwerden des Allgemeinen entspricht. Es gibt auch einen anderen Aspekt, der nicht zu vergessen ist, nämlich die Unmöglichkeit, den Konflikt, die Verabsolutierung des besonderen Willens, zu vermeiden. Von diesem Punkt auszugehen, wenn auch um auf seine notwendige Aufhebung hinzuweisen, entspricht dem Hegelschen Prinzip, die Autonomie des Individuums festzustellen. Diese Anerkennung kann nicht stattfinden, wenn man den Konflikt, den Kampf, die Verabsolutierung des Subjekts umgeht und dieses einfach als Moment des Ganzen setzt. Das scheint aber genau der Gesichtspunkt der Verfasserin in der Darstellung der Souveränität zu sein. Sie legt jene Deutungen beiseite, die seit K. H. ILTING in der Rechtsphilosophie die Spuren einer Akkomodation entdecken, und schreibt der Gestalt des Monarchen eine sehr wichtige Bedeutung zu. Weit entfernt davon, bloß derjenige zu sein, der nur,den Punkt auf das I setzt', verkörpert der Monarch hingegen in seinem ,Ich will' jene Entscheidung, die allein das Handeln wirklich macht (182). Es handelt sich hier nicht um die Hegelsche Option für die konstitutionelle Monarchie, sondern vielmehr um eine Vertiefung des Sinnes des Handelns (185). In dem ,Ich will' des Monarchen bricht man eine sonst nach der schlechten Unendlichkeit fortlaufenden Reihen von inneren Überlegungen so ab, daß das Handeln möglich wird (182). Die verschiedenen Besonderheiten werden hier nicht nur aufgehoben, sondern in ihrer endlosen Einzelheit vernichtet (188). Nach der Verfasserin ist genau die Entscheidung jenes Element, das die Hegelsche Auffassung einem vollständigen organischen Aufbau entzieht, weil in der Entscheidung des Monarchen ein Moment von ,Abweichung' und ,Entschiedenheit' der Komplexität des Ganzen gegenüber besteht (185-186). Obwohl behauptet wird, daß die Handlung des Monarchen sich innerhalb der Verfassung entfaltet, ist aber dennoch seine Entscheidung ,grundlos' und unmittelbar (189), weil sie einem

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Ich ,ohne Grund' entspringt (193). Das Handeln des Monarchen hat nichts zu tun mit einem Begründungs-, Motivations- und Derivations Verhältnis; es kann darum nicht als ,repräsentativ' bezeichnet werden. Auf der Grundlosigkeit der letzten Entscheidung basiert seine Unverantwortlichkeit den Regierungsakten gegenüber (200).

Wir haben es damit mit einer sich in Extreme unterscheidenden Situation zu tun: Einerseits gestaltet sich das Handeln der Einzelnen als ,Teilnahme', wie sie sich nach der ständischen Repräsentanz entwickelt. Der politische Sinn dieses Handelns wird völlig von der Zugehörigkeit zu einem organischen Ganzen absorbiert und nicht einfach auf die Abstimmung beschränkt (220); andererseits liegt es nur am Monarchen, daß das Handeln zu seiner Wirklichkeit als Entscheidung kommt. Die Verfasserin betont so die kritische Einstellung Hegels zu dem modernen Repräsentationsbegriff; sie stellt einen Umriß dieser Unterscheidung dar, die später im 20. Jahrhundert von C. SCHMITT und G. LEIBHOLZ weiter entwickelt wird zur Differenz zwischen ,Stellvertretung' im privaten Sinn und ,Repräsentation' als Vollendung des korporativen Handelns (226); hier werden nicht die Individuen ,repräsentiert', sondern die Interessen der verschiedenen Kreise der Gesellschaft (233-234). Die Akzentuierung und die Verwertung des ständischen und korporativen Elements innerhalb der Gesellschaft - wo das Einzelne von der Szene der ,Repräsentation' verschwindet, um dem Interesse des eigenen Kreises Platz zu machen-, scheint genau diesen Aspekt in den Hintergrund zu stellen, nach dem das Handeln sich in der Entscheidung realisiert. Der Begriff der Entscheidung umfaßt in sich dagegen nicht nur die Bedeutung und die Rolle des Monarchen, sondern auch die des Krieges. Die Gefahr des Krieges als der höchsten Probe ist eine sittliche Bestimmung und keineswegs ein Zurückfallen in den Naturzustand; der Krieg bereitet in der Tat den Streitigkeiten zwischen den Staaten so ein Ende, daß das Handeln sich in einer Einheitsbewegung kanalisieren kann (259). Außerdem wird die Entscheidung jenem Subjekt zugeschrieben, das sich sozusagen - ebenso wie der Monarch - ,jenseits' des Kreis der Kreise setzt: das weltgeschichtliche Individuum (265). Wenn die Entscheidung der Höhepunkt des Handelns ist und wenn sie nur an der Spitze des Staates stattfindet - im Monarchen, im Krieg, in den weltgeschichtlichen Individuen - dann wird die Vollendung der menschlichen Handlung als ,Praxis' nur als eine Ausnahme konzipiert. Fiorinda Li Vigni (Wassenaar)

Angela Requate: Die Logik der Moralität in Hegels „Philosophie des Rechts".

Cuxhaven/Dartford: Junghans 1995. 128 S. (Hochschulschriften Philosophie. Bd 19.) Die von ANGELA REQUATE vorgelegte Untersuchung beschäftigt sich mit dem Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit in Hegels Grundlinien der Philosophie des

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Rechts (= RP). Dabei will sie sich dankenswerterweise in der Deutung dieser notorisch schwierigen Passage nicht den selbst eher moralisierenden Interpretationen anschließen, die Hegels Konzeption der Aufhebung der Moralität im Sinne einer „Umkehrung der Freiheit" lesen, sie gar als „moralische Perversion" wie TUGENDHAT (miß-)verstehen. Derjenige Weg der Interpretation, der für REQUATE dementgegen übrig bleibt, ist der immanent-kritische, der „der Sache selbst" (8) und dem auch Hegel selbst folge, da dieser sich eine solche Behandlungsart seiner Rechtsphilosophie wenn nicht ausbedungen, so doch gewünscht habe: Sittlichkeit soll bei ihm - und bei REQUATE - begriffen werden in ihrer logischen Struktur, die das Ganze und seine Momente im Zusammenhang entwickelt und darstellt (9, unter Bezug auf RP §§ 141,142 A, Einleitung 12/13). Es geht also um die Präsenz des Logischen in der Realphilosophie. Sie komme darin zum Ausdruck, „daß der Begriff des Begriffs, der in der Logik Ontologie (Seinslogik) und Reflexionstheorie (Wesenslogik) vereinigt, in der Rechtsphilosophie sich verendlicht und somit selbst zum Medium und zum Mittel der Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen durch das Endliche wird" (12). Wie soll dies nun bei dem infragestehenden Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit vonstatten gehen? REQUATES Hegel-Interpretation zufolge subsumiert das sich im moralischen Urteil des Willens Dasein gebende Denken das Einzelne reflexiv unter das Allgemeine und führt so als Setzung der morahschen Reflexion nur zu einem Schlecht-Unendlichen. Durch die Subjektivität des moralischen Urteils könne das intendierte Ziel, die Realisation des Guten in der Welt, nicht erreicht werden. Erst wenn Subjektivität und Substantialität - die sich in der realisierten Handlung wechselseitig bestimmen: die Subjektivität wird durch den Willen substantiiert, das Gute (als das Substantielle) wird im Gewissen subjektiviert - sich zusammenschlössen, würde der Begriff aus seiner Verendlichung im Urteil erhoben: „Der Begriff ist das Vermittelnde beider Seiten, indem er sich aus dem Urteil erhebt und beide Seiten zusammenschließt. Der Begriff als Schluß ist in der Rechtsphilosophie die Sittlichkeit. Sie ist die Einheit des Subjektiven und des Objektiven." (13) Auf diese Weise, so REQUATE, erweise der schon in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes sich findende spekulative Satz, demzufolge das Subjekt ebensosehr als Substanz begriffen werden müsse, hier seine „konfundierende Wahrheit" (14) für den Übergang von Moralität zur Sittlichkeit.

Konkret versucht REQUATE im folgenden, jenen Übergang als „Genesis und Geltung des spekulativen Satzes" (15) darzustellen. In einem ersten Kapitel („Die Genesis der Moralität", 21^9) expliziert sie die Entwicklung vom abstrakten Recht (als äußerer Allgemeinheit) zur inneren Allgemeinheit der Moralität, in der „das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst" (RP § 122 Z) thematisiert wird. Der nunmehr intemalisierte Bezug von Allgemeinem und Besonderem bleibt dabei allerdings ein bloß Subjektives, der Standpurrkt der Moralität ist partikulär und einseitig: es wird zwar gefordert, daß das Besondere allgemein sei, doch aufgrund der Hypostasierung des subjektiv gewollten Besonderen zu einem Allgemeinen wird das wahrhaft Allgemeine gerade nicht erreicht. So kann der moralische Standpunkt, der

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das Gute will, aufgrund der Einseitigkeit des sich in ihm äußernden Willens jederzeit in das Böse Umschlägen (vgl. 21-28). Unter Verweis darauf, daß Hegel alle Bestimmungen - auch die der Realphilosophie - auf ihre Logizität „ ,reduzieren'" (29) würde - was m. E. eine problematische Auszeichnung ist, insofern diese ,Reduktion' gerade den gesamten Reichtum des sich zu dem, was er an sich ist, entwickelnden Begriff ausmacht -, interpretiert REQUATE das Eormelle des subjektiven Willens - nur die Eorm wirklicher Freiheit zu sein - im Sinne ihres Nachvollzugs des spekulativen Satzes als Zeichen dafür, daß in der Moralität der Freiheitsbegriff zwar im Subjekt realisiert sei, doch noch keine substantielle Grundlage habe (31). Als sich zuerst begrenzender (indem er sich einen Inhalt gibt) und zugleich (als reflektierte Beziehung auf sich) für sich unendlicher, beschränkt sich der subjektive Wille, um dann im Sollen über seine Bestimmtheit und Endlichkeit hinauszugehen (vgl. 3235). Die Pflicht um der Pflicht willen, wie sie von KANT gelehrt worden sei, werde bei Hegel dementsprechend nicht grundsätzlich, sondern nur in bezug auf ihre dort fehlende inhaltliche Spezifikation kritisiert (40^3). Es sei einerseits das im Begriff des Sollens sich findende „Streben nach Unendlichkeit", das den Ort seiner wahrhaften Realisierung erst jenseits der Moralität hat, und andererseits das sich im Begriff der Handlung findende Moment der tätigen Umsetzung subjektiver Zwecke in Objektivität, die hier den Übergang zur Sittlichkeit antizipieren (43^9). Jener Übergang wird nun im zweiten Kapitel („Übergang von der Moralität in Sittlichkeit"; 51-93) thematisiert. Die Differenz der Moralität, in der ein nur sein sollendes Gutes (als Gut, auf Seiten der Objektivität oder Substantialität) einer nur gut sein sollenden Subjektivität (im Gewissen) gegenübersteht (vgl. 51 ff), ist als Beschränktheit und Endlichkeit eine bloße Abstraktion, eine „Verendlichung des an sich Unendlichen" (52). Zugleich ist in jenen so „an ihnen selbst ihr Gegenteil" {RP §141) enthaltenden Momenten der Begriff als Wechselwirkung tätig: beide Bestimmungen müssen sich als das setzen, was sie an sich sind, und zwar „durch selbstbezügliche Negation" (54). Erst dadurch, so REQUATE, erhält der Begriff Realität und wird die Einheit seiner als Begriff und als Realität erreicht: die Idee des Sittlichen. Die folgende Diskussion der theoretischen Seite der Handlung (57-93) ergänzt nun die im ersten Kapitel geleistete Analyse ihrer praktischen Dimensionen nicht nur, sondern stellt das eigentliche argumentative Herzstück der Arbeit REQUATES dar. Wie, so fragt es sich, funktioniert nun von dieser Seite die Transformation von „substanzloser Relationalität" der Moralität in die „substantielle Wirklichkeit" (56) der Sittlichkeit? Nach REQUATE realisiert sich die „urteilende Macht" (57; RP § 138) im Übergang von Moralität zu Sittlichkeit als Übergang des Urteils in den Schluß. Dabei wird zunächst untersucht, wie sich das Verhältnis von dem, was ist (Schuld, Wohl, das Gute), zu dem, was davon in mir als Vorstellung ist (Vorsatz, Absicht, Gewissen), in der Beurteilung als unmittelbares Urteil, Reflexionsurteil und Begriffsurteil - insgesamt somit als Prozeß „der Identifikation des subjektiven Willens mit seinem Begriff" (59) - darstellt. So wird auf der Ebene von Vorsatz und Schuld in der Tat ganz unmittelbar geurteilt: die so ausgeführte Handlung führt nur zu unmittelbarem Dasein, und das heißt, sie vereinzelt das Allgemeine ebenso unmittelbar, wie sie das

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Einzelne verallgemeinert; die Handlung verändert nur die Form aus einer subjektiven in eine objektive (62 f). Zugleich, so REQUATE, ergibt sich aus dieser Vereinzelung bzw. Verallgemeinerung implizit ein negatives Urteil, das auf Einzelnes und Allgemeines als Besondere Bezug nimmt, wie es sich im Reflexionsurteil (Absicht und Wohl) zeigt, wo die Handlung in ihrer allgemeinen Qualität - in Hinsicht auf den allgemeinen Zweck - betrachtet (66 ff) und insofern „an einem allgemeinen Reflexionsprädikat gemessen" (68) wird. Doch bleibt auch hier ein Moment der Differenz erhalten, insoweit dieses Urteil keines des Seins, sondern eines der Reflexion ist und nur zu einer relativen Allgemeinheit, einer Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine führt (vgl. 70). Auch im allgemeinen Reflexionsurteil, in dem gewußt wird, daß das eigene Wohl durch die Partikularität der Einzelheit seine Selbständigkeit verliert und mit anderen in Zusammenhang tritt, erscheint das Allgemeine noch nicht als Substanz des Einzelnen, sondern nur als äußeres Band (vgl. 72). Das substantielle Allgemeine, das Leben, der absolute Zweck, soll hier zwar allgemein sein, ist dies aber nicht, sondern bloß besonders und endlich. Erst im Begriffsurteil (Das Gewissen und das Gute) werden Notrecht (das Leben, sofern es ein endlicher Zusammenhang ist) und Recht (das Leben, sofern es „unendliche Weise der Realität" (74; RP § 127 A) ist, in der Idee des Guten und damit als Einheit der Differenz von Setzen und Sein, d. h. als Begriff gesetzt. Doch wird damit noch keine wahrhafte, sondern erneut nur eine schlechte Unendlichkeit erzeugt: wurde der Begriff im unmittelbaren und im Reflexionsurteil einseitig subjektiviert, so wird er im Begriffsurteil ebenso einseitig substantiiert (vgl. 76 f). Weil der Begriff - als das Gute der Handlung vorausgesetzt wird, formuliert dieses Urteil in bezug auf das Subjekt eine Sollensforderung, nämlich mit dem Allgemeinen übereinstimmend zu werden. Im assertorischen und problematischen Urteil nur defizitär (weil formell) erfaßt, erweist sich diese Übereinstimmung erst im apodiktischen Urteil, in dem das wahrhafte Gewissen an sich das Allgemeine, was es sein soll, ebenso wie seine eigene Beschaffenheit hat (vgl. 84 f). Während das formelle Gewissen, das die Forderungen des Begriffs subjektiv einzuholen versucht, sich zwar durchaus dazu entschließen kann, das Allgemeine des Begriffs zu wollen, dies jedoch nicht muß, sondern ebensogut seine besonderen Zwecke zum Prinzip machen und insofern böse werden kann, liegt der Grund des Urteils des wahrhaften Gewissens nicht mehr im Subjekt, sondern in der Verbindung von Subjekt und Substanz, der ,,konkrete[n] Identität des Guten und des subjektiven Willens" (88; RP § 141), der Sittlichkeit. Damit, so REQUATE, sei „der Begriff in den Schluß" (89) übergegangen. In der anschließenden Interpretation dieses Übergangs wird nun - wenig überraschend - dargelegt, daß sich erst in der Sittlichkeit „der Begriff der Idee der Freiheit objektiviert" (90), erst hier Subjektivität und Substanzialität sich nicht mehr gegenüberstehen, womit klar geworden sei, daß auch der „spekulative Satz der Identität des Vernünftigen und des Wirklichen" (92), wie er sich in der Einleitung in die Rechtsphilosophie findet, erst in der Idee der Sittlichkeit seine Gültigkeit habe, was im abschließenden Kapitel („Die Sittlichkeit"; 95-112) anhand einer summarischen Durchsicht der §§ 142-157 der Rechtsphilosophie mit zahlreichen Stellen überzeugend belegt wird, unabhängig.

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wie man zu REQUATES sich auf VITTORIO HöSLE beziehendes Verständnis der Hegelschen Sittlichkeit sowohl als ,sozialer Welt' wie als ,Ethos einer von Reflexion ungestörten Kultur' (vgl. 107 ff) sich auch stellen mag. Es ist die Stärke der Arbeit REQUATES, das, was in den Diskussionen um die „Logik der Rechtsphilosophie" oftmals nur punktuell gezeigt wird, an einem wichtigen Stück der Rechtsphilosophie exemplarisch entwickelt zu haben. Es ist dabei mehr die systematische Durchführung dieses Programms als sein Resultat, was den Rezensenten beeindruckt. Die, Applikation' der Kategorien der Logik auf die Rechtsphilosophie geschieht umsichtig und basiert auf einer profunden Kenntnis des gesamten Hegelschen Systems, auch wenn der Wechsel zwischen der Darstellung der Begriffsentwicklung in der Wissenschaß der Logik und der Rechtsphilosophie zuweilen etwas abrupt und unvermittelt geschieht und dadurch der systematischen Entfaltung der eigenen Argumentation manchmal im Wege steht. Doch ist dies, zumal wenn man bedenkt, daß es sich bei REQUATES Studie um eine 1989 vorgelegte Magisterarbeit handelt, in keinster Weise als grundsätzliche Kritik zu verstehen: auch wenn, wie gesagt, das Ergebnis wenig überraschend ist, wird die Arbeit ihrem eigenen Anspruch, eine „logisch-systematische Rekonstruktion" (Vorwort) des Übergangs von Moralität zur Sittlichkeit zu leisten, sicher gerecht und zeigt damit beispielhaft, was es bedeutet, wenn Hegel sagt, das Bekannte sei darum, weil es bekannt sei, noch nicht erkannt: sie hilft, das Bekannte kennenzulernen. Uli Vogel (Marburg)

Kurt

Seelmann:

Anerkennungsverlust

und

Selbstsubsumtion.

Hegels

Straftheorien. Freiburg, München: Alber 1995.152 S. Strafrechtler und Rechtsphilosoph in Hamburg, legt mit seinem neuen Buch eine Sammlung größtenteils schon publizierter Arbeiten zum Problem des Hegelschen Verständnis der Strafe vor. Dabei will er einerseits die Hegelschen Positionen „gegen allzu eilfertige Kritik, die sich auf die Texte gar nicht einlassen will" (Vorwort, 10), in Schutz nehmen, andererseits auf die grundsätzliche Schwierigkeit einer Legitimation von Strafe aufmerksam machen (vgl. ebd.). Der erste Beitrag („Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts'", 11-31, zuerst publiziert 1979) weist ganz in diesem Sinne Positionen zurück, die Hegels (und im übrigen auch KANTS) Straftheorien aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Pragwürdigkeiten endgültig verabschieden wollen. Er interpretiert die Hegelsche Konzeption der Strafe ausgehend von § 97 der Rechtsphilosophie, wo es heißt: „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung - die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit." Das Recht als Dasein KURT SEELMANN,

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des freien Willens oder die Idee der Freiheit (RP § 29) werde, so SEELMANN, durch das Rechtsgebot des § 36 „mit einer Beziehung gegenseitiger Anerkennung" (14) zwischen Personen, d. h. zwischen abstrakten Selbstbewußtseinen, die sich nur wissend auf sich selbst beziehen, identifiziert. Das Dasein der Personen zueinander bestehe entsprechend in ihrem äußeren Bezug aufeinander, und zwar im Eigentum als Inbegriff der Möglichkeiten und Realisationsformen äußerer Freiheitsbetätigung (vgl. 17 f). Wenn somit von einer „Verletzung des Rechts als Rechts" bei Hegel gesprochen werde, so bedeute dies nicht nur eine - wie im bürgerlichen Recht - „in gutem Glauben" (18) geschehene Anerkennungsverweigerung eines einzelnen Anspruchs (im Sinne des einfachen Unrechts) des anderen, sondern vielmehr eine Verletzung der Person insgesamt, insofern hier die gesamte Beziehung des Anerkennens und Anerkanntseins in Frage gestellt wird. (vgl. 20) Diese Verletzung, so SEELMANN zutreffend, sei deshalb „nichtig", weil im Verbrechen der Verbrecher nicht nur das Anerkanntsein des Opfers, sondern zugleich sein eigenes Anerkanntsein vernichtet (ebd.). Eine „Manifestation" des Verbrechens sei in der Folge deshalb notwendig, damit in der Strafe die gestörte Anerkennungsbeziehung wiederhergestellt und die Gesellschaft in ihrem gesamten Funktionszusammenhang nicht gefährdet wird (vgl. 22-24); die Strafe hebt das Verbrechen auf und ist „die Wiederherstellung des Rechts" (RP § 99). Allerdings, so SEELMANN, stehe diese scheinbare Befürwortung der Generalprävention der Strafe im Gegensatz zu Behauptungen Hegels an anderen Stellen, die Abschreckung und Besserung nur als abgeleitete Funktionen des an und für sich gerechten Strafens interpretieren (vgl. 22). Der Gedanke des Schutzes der Gesamtgesellschaft qua Strafe trete bei Hegel erst in der „bürgerlichen Gesellschaft" (§ 218) und auch nur als „gewichtige Erweiterung" (25) der bisherigen Begründung der Notwendigkeit der Strafe auf: dort behandele Hegel „jede Anerkennungsbeziehung als in das gesamtgesellschaftliche Geflecht von gegenseitiger Anerkennung eingebettet" (26). Daß in der Gesellschaft nicht mehr nur das ,subjektiv Unendliche' des einzelnen Anerkennungsbedürfnisses, sondern dasjenige „der allgemeinen Sache" (RP § 218) verletzt wird; daß dementsprechend dort durch das einzelne Verbrechen alle Gesellschaftsmitglieder lädiert werden, führe dazu, daß die Sanktion einer solchen Handlung umso schwächer ausfallen könne, je stärker und gefestigter die Gesellschaft sei (vgl. 27). In „Hegel und die Strafrechtsphilosophie der Aufklärung" (1987; 33-44) relativiert SEELMANN die allgemein als scharf angesehenen Gegensätze der Hegelschen Theorie der Strafe zu Positionen, die die Strafe (1) aus dem Gesellschaftsvertrag (35-37), (2) aus Nützlichkeitsorientierungen (37-38), (3) im Sinne eines Schadensausgleichs oder (4) einer überzeitlich gültigen Strafzuordnung zu begreifen versuchen, indem er zeigt, daß (1) schon in der späten Aufklärung - trotz Gesellschaftsvertrag - die Legitimation der Strafe mehr und mehr aus der Tat selbst gewonnen wurde (vgl. 37); daß (2) die Orientierung der Strafe nur an ihrer Nützlichkeit auch dort umstritten gewesen ist; daß ferner (3) der Gedanke eines Schadensausgleichs auch in der Aufklärung nicht sozusagen zivilrechtlich verkürzt vorkam, sondern durchaus auf einen Schaden „für die Gesellschaft insgesamt" (39) bezogen wurde

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und daß schließlich (4) auch „Hegels Abrücken von einem sich überzeitlich verstehenden Rationalismus des Strafens" (39) durchaus Vorläufer wie BECCARIA oder FILANGIERI hat. Im Resultat bleibt als Hegels weiterführende Leistung hinsichtlich des Strafrechts für SEELMANN dessen Forderung nach wechselseitiger Anerkennung der Rechtssubjekte (und entsprechend die Strafe als Restitution einerseits des Opfers als Rechtsperson, andererseits der Gesellschaft als ganzer) sowie die Einsicht in die Selbstwidersprüchlichkeit der Straftat, in der der Verbrecher nicht nur sein Opfer und das Allgemeine, sondern ebenso sich selbst als Person verletzt, erhalten (vgl. 40^4). Im dritten Beitrag („Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. Hegels ,Recht der Objektivität'"; 1989,45-61) geht es dem Autor um den Versuch einer kritischen Fortschreibung der Hegelschen Zurechnungslehre. Hegel, so SEELMANN, versuche zu klären, inwieweit es bei der Frage der Zurechnung von Verbrechen darauf ankommt, ob etwa aus ,freien Stücken' gehandelt wird und welches „Regel-Ausnahmeverhältnis" (47) allgemein vorausgesetzt werden muß. Die in dieser Erörterung „von Hegel verwendeten Eiktionen" (ebd.) sollen hinsichtlich ihres Status' geklärt und kritisch revidiert werden. Dabei ergibt sich folgender Befund: im Abschnitt über die Moralität wird durchgängig „das subjektive Für-sich-Sein des Willens als Bedingung der Zurechnung" (48) begriffen. Diesem Recht des Willens wird schon hier das Recht der Objektivität entgegengestellt, freilich nicht verstanden als „eine für das Subjekt heteronom bestimmte Anforderung" (ebd.). Der subjektiv-besondere Wille kann auch in der Moralität deshalb nicht alleiniger Grund der Zurechnung sein, so SEELMANN zutreffend, weil das Gewissen in sich die Möglichkeit des Umschlags in das Böse enthält. In der Sittlichkeit schließe Hegel scheinbar an diese Überlegungen unmittelbar an und suche nun nach einer Vermittlung dieser beiden Rechte: zugerechnet werden könnten Handlungen hier, weil und insofern „man den Tater an seiner eigenen Vernünftigkeit mißt" (50). Dieser „unterstellten Teilhabe an der sittlichen Substanz" (51) gegenüber verliere das „Recht des besonderen Willens" (ebd.) seine eigenständige Bedeutung. Dagegen, so SEELMANN unter Bezug auf die von ILTING publizierte HoTHO-Nachschrift von 1822/23, stehe allerdings die zum Teil dem Zusatz zu § 218 ein verleibte Bemerkung Hegels, derzufolge ein Verbrechen überhaupt nicht dem besonnenen Willen, sondern nur der Leidenschaft als der natürlichen Seite des Willens zugesprochen werden könne. Danach könne in der Sittlichkeit die offenbar doch vorauszusetzende Vernunftallgemeinheit nicht mehr Grund der Zurechnung von Verbrechen sein (vgl. 52). Als Resultat ergeben sich für SEELMANN zwei verschiedene Ansätze der Zurechnungslehre in der Sittlichkeit: einmal eine der Zurechnung in der Moralität kontrastierte, sich aus deren Defiziten ergebende, „am selbstwidersprüchlichen Verfehlen der Vernunftallgemeinheit orientierte" (54), dann (in der bürgerlichen Gesellschaft) eine solche, die auf die natürlichen Triebe abstellt. Als entscheidenden Mangel der Hegelschen Zurechnungslehre konstatiert SEELMANN eine sich schon im Übergang zur Sittlichkeit findende einseitige Vermittlung von Recht des Willens und Recht der Objektivität, deren Ausdruck einerseits die Herabstufung des Individuums zu einem Akzidens des Allgemeinen,

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andererseits die dann mögliche Reduktion des der sittlichen Substanz gegenüber „praktisch irrelevanten" (56) verbrecherischen Willens „fiktiv" (ebd.) auf natürliche Triebe. Zur Lösung dieses Problems bietet SEELMANN nun die Intersubjektivität an. Im Anschluß an THEUNISSEN und HöSLE fordert er eine vermittelnde Wirkung der Intersubjektivität derart, daß hinsichtlich der Zurechnung des Ergebnisses einer Handlung der Blick nicht nur auf individuelle Motive und sittliches Allgemeines gerichtet wird, sondern daß „der immer schon gegebenen" (59) Beteiligung anderer Willen Raum gegeben wird: in der Sittlichkeit sollen Handlungen dementsprechend - im Unterschied zur Moralität - nicht mehr nur dem einzelnen Handelnden, sondern allen „an einem bestimmten Handlungszusammenhang Beteiligten" (ebd.) zugeschrieben und insofern als „Resultat eines von mehreren zu verantwortenden sozialen Konflikts" (ebd.) deutbar werden. So sympathisch dieser Lösungsvorschlag auch ist: ob er auf der Hegelschen Basis tragfähig ist, d. h. ob er nicht nur ohne Rekurs auf natürliche Triebe, sondern auch und vor allem ohne die - letztlich unbegründete - Voraussetzung einer wie auch immer gearteten ,Vernunftallgemeinheit' bei den zwar vielen, im Endeffekt aber doch wieder ,auseinander zu dividierenden' einzelnen Handlungsbeteiligten auskommen kann, darf wohl bezweifelt werden. In „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht. Strafe als Postulat der Gerechtigkeit" (1993; 63-79) finden sich kritische Erörterungen vor allem zu Hegels Konzeption der Strafe als „Recht an den Verbrecher" und als „an sich gerecht" (64) sowie zu einigen Konsequenzen seiner Vorstellung der Strafe als Manifestation der Nichtigkeit der im Verbrechen enthaltenen Anerkennungsverletzung, die in ihren allgemeinen Zügen schon in den vorherigen Aufsätzen Thema war und in dieser Hinsicht hier nichts neues liefert (an einer Stelle dagegen eine identische Textpassage aus dem ersten Beitrag (1979) enthält; vgl. 71 f mit 15 f). Die Ablehnung der Hegelschen These, die Strafe subsumiere den Verbrecher im Gesetz unter sein Recht, insofern er als Vernünftiger in seiner Handlung das Allgemeine, das Grund des Gesetzes ist, anerkennt (68 ff), erscheint dabei in beiden Hinsichten - sowohl aufgrund des in ihr enthaltenen „intellektualistischen Eehlschlu[sses]" (dem Schluß von Bedingungen des Vernunftgebrauches auf verbindliche moralische Normen; 69) als auch aufgrund ethikimmanenter Fragwürdigkeiten - überzeugend. Daneben ergeben sich aus der Diskussion der Probleme des Anerkennungsargumentes einige über Hegel hinausgehende Aspekte, so z. B. die unter dem Stichwort „Notwendigkeit der Statusminderung des Verbrechens durch Strafe" erörterten Fragen hinsichtlich der Umkehrung der zeitlichen Perspektive (Forderung nach zukünftiger Anerkennung des Opfers seitens des Taters; 74 f), des Problems der Gnade (77 f) und hinsichtlich entwicklungspsychologischer Überlegungen (75 f), wobei allerdings SEELMANNS Ansicht, daß für die Ich-Stabilität von Verbrechern die Erniedrigung der Opfer zunehmend weniger von Belang sei, angesichts der neudeutschen Realität des „Ausländer-Klatschens" durchaus in Frage gestellt werden kann. In „Versuche einer Legitimation von Strafe durch das Argument selbstwidersprüchlichen Verhaltens des Straftäters" (1993; 81-97) weist SEELMANN überzeugend nach, daß weder in Vertrags- noch in Interessenstheorien die Strafe als Ausdruck

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der Selbstwidersprüchlichkeit der Tat des Verbrechers hinreichend begründet werden kann (vgl. 82-85). Im Anschluß an KANT habe Hegel - neben seiner allgemeinen Kritik an der Vertragsmetapher (vgl. 85-87) die Strafe aus einer anderen Konzeption des Argumentes selbstwidersprüchlichen Verhaltens zu legitimieren versucht, nämlich aus den uns schon bekannten Thesen der in der Strafe geschehenden Subsumtion des Verbrechers unter sein Recht sowie der Restitution des in der Tat verletzten Anerkennungsverhältnisses (vgl. 88 f). Der Unterschied zum Kontraktualismus liege dabei im Gesetzesargument darin, daß bei Hegel der Verbrecher rächt den von ihm geschlossenen Vertrag erst willentlich brechen und dann diesem Bruch gemäß die Strafe erleiden muß, sondern daß ihn die Strafe deshalb zurecht ereilt, weil sie seiner Vernünftigkeit, die ja das Allgemeine - damit das Gesetz und die Strafe will, entspringt (90). Hinsichtlich des Anerkennungsargumentes, so SEELMANN, bestehe der Unterschied Hegels zu den Vertragstheoretikern vor allem darin, daß es bei ihm nicht mehr „um einen Widerspruch zwischen einer jetzigen und einer früheren Aussage" (94), sondern um die Verletzung eines allgemeinen Verhältnisses geht, dem man sich durch Änderung der Meinung nicht entziehen kann: „Wer gegen Anerkennung argumentiert, setzt eben Anerkennung als Argumentations- und Interaktionsmöglichkeit voraus." (94) Und damit, so SEELMANN zutreffend, habe Hegel in seiner Kritik der Vertragstheorien das Argument selbstwidersprüchlichen Verhaltens zwar „präzisiert" (97), aufgrund der Abhängigkeit seines Anerkennungsargumentes von praktischen Prämissen jedoch noch nicht begründet, „daß Strafe ein Postulat der Gerechtigkeit ist" (ebd.). In „Zur Kritik kontraktualistischer Straftheorien im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts (neu; 99-121) wird Hegels Straftheorie, wie sie auch in den übrigen Aufsätzen schon beschrieben worden ist, als Gegenentwurf zu den vertragstheoretischen Strafkonzepten juristischer Provenienz vorgestellt, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts formuliert wurden. Dabei sei wesentliches Merkmal dieses juristischen Diskurses, daß zwar bestimmte kontraktualistische Überlegungen fortlebten (102 ff), daß diese jedoch - in unterschiedlicher Weise vermittelt über HUME, KANT und FEUERBACH - zugunsten der Vorstellung der Strafe als Verteidigung zum Nutzen des Staates (105-109), einer Rehabilitierung der,Goldenen Regel' (109 f) oder der Inanspruchnahme von Tradition und Gefühl (110-112) zunehmend in den Hintergrund traten. Das Legitimationsproblem von Strafe, so SEELMANN, sei in diesen Theorien kein eigentlicher Gegenstand mehr gewesen; Strafe sei dort „zu einer Art polizeirechtlicher Verteidigungshandlung" (120) umdefiniert worden, wohingegen im philosophischen Diskurs von KANT über FICHTE und Hegel jenes Begründungsproblem thematisiert und im Sinne einer Theorie wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse einer Lösung zugeführt worden sei (vgl. 121). Der letzte der in diesem Band versammelten Aufsätze, „Differenzen zwischen KANT und Hegel bei der Begründung staatlicher Strafe" (neu; 123-137), kommt zu dem Ergebnis, daß KANT selbst „keine Begründung staatlichen Strafens" (137) entwickelt habe. Zwar fänden sich bei ihm z. B. in seiner Wiedervergeltungslehre (vgl. 126-128), in seinem Versuch der Anbindung der Strafe an den Zusammenhang von

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Glückswürdigkeit und Glückseligkeit (vgl. 129 f), in seiner Vorstellung der durch ein geplantes Verbrechen inkraftgesetzten Legitimation des Zwangsrechts des Opfers gegen den Täter (vgl. 130 f) und schließlich in seiner Behauptung, daß das Verbrechen aus der ihm zugrundegelegten Maxime (vgl. 131 f) erklärt werden müsse, durchaus Momente, die auf einzelne Aspekte der Hegelschen Straftheorie verwiesen. Im Unterschied zu Hegels (hier nicht weiter beurteilter) Begründungsleistung handele es sich bei KANT jedoch nur um ein „eher intuitives Auf greifen von Vergeltungsideen" (137). Abschließend bleibt zu sagen, daß SEELMANNS Buch einen ambivalenten Eindruck hinterläßt. Es ist Resultat jahrzehntelanger gelehrter Arbeit an der Hegelschen Rechtsphilosophie im allgemeinen und der dort entfalteten Straftheorie im besonderen. Doch es scheint, als hätte Hegels Theorie der Strafe eher eine umfassendere Behandlung z. B. in Eorm einer umgreifenden Studie verdient gehabt, als - wie geschehen - in einer Sammlung größtenteils schon publizierter Einzeluntersuchungen immer wieder ähnlich, nur abrißartig dargestellt zu werden. Auch die häufigen, ermüdenden Wiederholungen und zum Teil sogar identischen Textpassagen hätten so - zugunsten einer systematischen Gesamtdarstellung - vermieden werden können. Uli Vogel (Marburg)

Fabrizio Sciacca: Imago Libertatis. Diritto e Stato nella filosofia dello spirito di Hegel. Torino: Giappichelli 1996.132 S. Ziel dieses Buches scheint es zu sein, den Fortschritt der Hegelschen Reflexion gegenüber der Naturrechtsphilosophie zu zeigen. Das Hegelsche Denken wäre nämlich das einzige, das sich als Vollendung in der ,Wirklichkeit' realisierte. Hegel konnte durch eine epistemologische Kritik der ,wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts' zu diesem Punkt kommen. Solche Kritik wendet sich, wie wir sehen werden, an LEIBNIZ, HUME und KANT - als jener Schlüssel, die die Tür zur Philosophie des objektiven Geistes öffne. Die Hegelsche Auffassung des Rechts, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Beziehung zum Staat, der Einreihung des Staats in die Weltgeschichte stellt dann die konsequente Entwicklung einer Aufhebung der oben erwähnten Positionen dar. Die Hegelsche Kritik der empirischen Wissenschaft - so beginnt der Verfasser umfaßt zwei wesentliche Momente: den Begriff des Erkennens und die Idee der Erfahrung. Diese Momente verweisen also auf die Analyse zweier verschiedener philosophischer Positionen, die von LEIBNIZ und HUME repräsentiert werden (30). Die LEiBNizsche Philosophie stellt die strengste Ausarbeitung eines einheitlichen Systems dar, das das Naturrecht als Objekt hat. Trotzdem offenbart diese Theorie ihre Schwäche genau an der Idee der Einheit. Nach LEIBNIZ können die einzelnen Bestimmtheiten (die Monaden) nicht nach der Einheit streben, weil sie kein anderes

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Ziel haben als die Setzung ihrer selbst. Die Einheit wird demzufolge künstlich durch die naturrechtliche Aushilfe der,prästabilierten Harmonie' etabliert (32). Mit HUME gehen wir von der Philosophie der Erkenntnis zur Philosophie der Erfahrung über (39). Hegel gibt zu, daß die Philosophie der Erfahrung eine Philosophie der Freiheit sei - einer Freiheit des Subjekts, das durch die Wahrnehmung der Realität sich als solches setzt. Was hingegen Hegel nicht annimmt, ist die empirische Folge dieser Freiheit, d. h. die Unmöglichkeit einer Vorstellung des Allgemeinen außerhalb der subjektiven Realität (40); unter anderem führt diese Unmöglichkeit dazu, die Allgemeinheit des Naturrechts zu verleugnen (42). Nach HUME werden die Bestimmtheiten der Allgemeinheit und der Notwendigkeit durch die Gewohnheit erreicht: KANT spricht ihnen jedoch ihre Gegenständlichkeit ab. Sie sind ,a priori' und haben ihren Platz im Denken, in der Vernunft als Selbstbewußtsein (49). Hegel akzeptiert die KANiische Idee der Autonomie der Vernunft; dennoch gehen ihre Positionen genau bei der Auffassung des ,Denkens' auseinander. Nach Hegel ist das Erkennen nicht nur ein Setzen, eine Vorstellung des Subjekts; die Bestimmtheiten des Subjekts dürfen nicht nur gesetzt, sondern müssen auch gedacht werden. Aber das Denken als Tätigkeit des Subjekts bedeutet, in die Wirklichkeit einzugreifen, um sie zu verändern (50). Nach Hegel ist also schon das Denken in sich Gründung der Wirklichkeit (123). Die KANiische Philosophie bleibt die Subjektivität eingeschlossen und kann nicht Gegenständlichkeit erlangen (59). In diesem Sinn erlaubt sie kein Erkennen, das Einheit erreichen könnte. Für die KANiische Philosophie ist die Einheit notwendigerweise einseitig: sie stellt sich entweder auf eine positive Weise in der reinen Einheit als theoretisches Dasein oder auf eine negative Weise in der Beziehung zum Mannigfaltigen, als praktische Vernunft dar. Dieser Einseitigkeit fehlt somit der Standpunkt der Sittlichkeit (67). In bezug auf die KANiische Auffassung erweist sich die Hegelsche Konzeption des notwendigen Überganges von der Moralität zum Recht als schwach: Sie entfaltet sich in der Tat in einer bloß juristischen, institutioneilen Dimension. Andererseits bewahrt die Hegelsche Perspektive ihre Überlegenheit als ,Philosophie des Widerspruches' (70), jenes Widerspruches, der sich notwendigerweise zwischen dem sittlichen Gesetz und der Freiheit des Einzelnen setzt (80). Die KANiische Freiheit ist dann nur ,Form', ,Paradigma'; die Hegelsche Freiheit ist dagegen Wirklichkeit, historisierte Idee. Als Moment des objektiven Geistes stellt das Recht die Reihe von Rechten und Pflichten des Individuums in der äußerlichen Entfaltung seiner Freiheit dar (79). Das ,juridische' Recht, das ,positive' Recht kann aber nicht in seiner Gesamtheit die Bestimmungen der Freiheit umfassen, die sich hingegen in dem sittlichen Gesetz finden. Dieses verkörpert nämlich die allgemeine Freiheit aller Menschen in bezug auf die natürliche Freiheit der Einzelnen (80). In der sittlichen Idee wird nicht der Widerspruch zum Schweigen gebracht, sondern er gilt als solcher (87). Die Sittlichkeit äußert sich im Einzelnen nur in der Form der Negation. Die sittlichen Qualitäten des Einzelnen sind ,negative Sittlichkeiten', indem sie Einzelheiten, ,Unwahrheiten' des Besonderen sind (94).

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Die sittliche Totalität bringt eindeutig eine kritische Opposition zum naturrechtlichen System nach sich; nach diesem geht das Individuum der Totalität voraus. Hegel wirft das HoBBESsche System um. Das Volk bedarf nicht eines ,pactum'; es ist eine Totalität, die ihren Teilen vorausgeht und die einzelnen Bestimmtheiten aufhebt (89). Die Kraft des Rechts ist die Gesetzgebung, die Kraft eines Volkes ist die militärische Stärke. Dann gehorchen die Gesetzgebung und der Krieg derselben Funktion, den Geist in der Geschichte zu verwirklichen (92). Die bürgerliche Gesellschaft ist der sittliche Organismus, in dem die Individuen sich wieder in einer Allgemeinheit setzen; sie ist im Wesentlichen ein System der Bedürfnisse, eine wirtschaftliche Struktur, die auf die Vermittlung durch Tausch und Arbeit gegründet ist (99). Die bürgerliche Gesellschaft bedarf einer Ordnung, die von den Gesetzen und den verwaltenden Institutionen geleistet wird. Diese Institutionen (Rechtspflege, Polizei, Korporationen) werden vom Staat hervorgebracht, aber sie sind kein Teil des Staates (102). Im korporativen Staat gilt eine Repräsentation der Stände. Was repräsentiert wird, ist das Interesse. So vermeidet Hegel die ,liberale' Gefahr, die Konkurrenz in Konflikt zu verwandeln. Der Konflikt besteht weiterhin, aber bloß innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, und so wird er aus dem Staat ausgeschlossen (103). Die Beziehungen der Individuen basieren in der bürgerlichen Gesellschaft auf der gegenseitigen Anerkennung: Diese setzt nicht die Gleichheit der Subjekte voraus, sondern ihren Unterschied. In der bürgerlichen Gesellschaft wird tatsächlich die Freiheit nicht gleichmäßig verteilt; die Freiheit vollzieht sich hier vielmehr vom Standpunkt des Einzelnen aus. Die Bedingung der Freiheit ist dann die Ungleichheit. Nur im Staat finden die universellen Prinzipien des Rechts, der Freiheit und der formellen Gleichheit ihre Vollendung und vollzieht der Einzelne seine substantielle Freiheit. Der Staat stützt sich auf die sittliche Einheit der sozialen Besonderheiten. Notwendig ist sodann das institutionelle System der Besonderheit, das die Konflikte im Rahmen eines universellen Interesses beilegt (124). Fiorinda Li Vigni (Wassenaar)

Ludwig Siep: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. 348 S. Von LUDWIG SIEP wurde ein Band veröffentlicht, der einen der sowohl sachlich wie aktuell spannendsten Themenkomplexe des deutschen Idealismus behandelt, nämlich dessen praktische Philosophie. Obwohl SIEP für den Band Aufsätze aus nahezu zwei Jahrzehnten zusammengestellt hat, gewinnt man den Eindruck, als ob sie in den letzten Jahren geschrieben worden seien. Dies hängt offensichtlich damit zusammen, daß SIEP nicht nur die Rekonstruktion der Entwicklung der inhaltlichen Schwerpunkte der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus unternommen hat, sondern auch die Auseinandersetzung mit ihr im Horizont gegenwärtiger

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Probleme anstrebt. So geht SIEF einerseits von der Frage nach der Methode und dem Ziel einer umfassenden Begründung aus, wobei er die Entwicklung der praktischen Philosophie Hegels und ihrer Systematik aus dem Subjektivitätsprinzip darstellt, wie es von KANT, FICHTE und dem frühen SCHELLING bestimmt wurde. Andererseits analysiert SIEP insbesondere im dritten Teil die Tragfähigkeit der Konzeption einer praktischen Philosophie im deutschen Idealismus bezüglich gegenwärtiger Diskussionen, ohne eine solche Aktualisierung oberflächlich werden zu lassen. Im Hinblick auf die heute viel diskutierten wissenschaftlichen und politisch-sozialen Probleme, die von der analytischen Sprachphilosophie bis hin zu den oft hektisch diskutierten, brisanten Fragen nach einer ökologischen und medizinischen Ethik reichen, differenziert er zwischen unhaltbaren Thesen und dem Ertrag der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus. Hierbei wird gezeigt, wie anregend das idealistische Denken immer noch sein kann, wenn es um die wissenschaftlichen Begründungsversuche von Handlungen und menschlichem Verhalten geht. Für die praktische Philosophie - zunächst als Moral- und Rechtslehre verstanden - hat SIEP versucht, „historisch und hermeneutisch angemessen festzustellen, was KANT und FICHTE, vor allem aber Hegel, in ihrem systematischen Rahmen zu solchen Problemen zu sagen haben“ (15). Die Rekonstruktion und die Auseinandersetzung mit dieser Philosophie werden in die gesamteuropäische Tradition eingebettet, die vor allem durch PLATON, ARISTOTELES, HOBBES, LOCKE und ROUSSEAU sowie durch das Christentum bestimmt ist, das auf eine seiner Bedeutung gemäße Weise berücksichtigt wird. So steht Hegels praktische Philosophie nicht isoliert im Mittelpunkt der einzelnen Abhandlungen, sondern im Vergleich mit anderen europäischen Traditionen und mit der praktischen Philosophie von KANT, FICHTE und gewissermaßen ebenfalls SCHELLING. Hierbei behandelt SIEP auch den (inneren) Entwicklungsprozeß Hegels, wie er sich vor dem Hintergrund der konkreten, historisch-politischen Umstände zeigt. Hauptsächlich geht es um die Rechtsphilosophie oder, besser gesagt, die Rechtsphilosophien von Hegel. Der Themenkreis der Rechtsphilosophien wird von SIEP für den Zeitraum von 1805 bis 1830 untersucht, und zwar so, daß darüber die systematische Stellung der Rechtsphilosophie als Teil des objektiven Geistes und des enzyklopädischen Systems nicht zu kurz kommt. Bei den Grundbegriffen der Rechtsphilosophie legt SIEP auf den Begriff der Person einen besonderen Akzent und betont LOCKES Bedeutung für die praktische Philosophie der Neuzeit. Die inhaltlichen Schwerpunkte des Bandes sind vielfältig; sie reichen vom Thema der Person und der Persönlichkeit, über Autonomie und Vereinigungsformen bzw. Geschichte, Freiheit und Anerkennung bis hin zur Problematik der Gewaltenteilung und Verfassung. Einen der spannendsten Schwerpunkte stellt die von SIEP schon mehrfach und andernorts untersuchte Frage nach der Anerkennung dar, die für Hegel seit Jena ein entscheidendes Prinzip der praktischen Philosophie ist. Man kann diesen Band mit dem Bewußtsein aus der Hand legen, einen an Anregungen und Einsichten reichen Band gelesen zu haben. Was man jedoch ein wenig vermißt, ist eine angemessenere Würdigung der Ökonomie als einer Sphäre der

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praktischen Philosophie Hegels, die die hier vorliegende, offene, differenzierende und distanzierte Behandlungsart um ein sicherlich vielversprechendes Thema sinnvoll ergänzt hätte. Erzsebet Rozsa (Debrecen)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Berlin 1822/23. Nachschriften von Karl Gustav Julius Griesheim, Heinrich Gustav Hotho und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Hrsg, von Karl Heinz llting, Karl Bremer und Hoo Nam Seelmann. Hamburg: Meiner 1996. 626 S. (Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd 12.) Nach einer gern zitierten Aussage setzte sich EDUARD GANS als erster Herausgeber der Vorlesungen Hegels zur Philosophie der Weltgeschichte die Aufgabe, aus dem ihm vorliegenden Materialien durch seine eigene redaktionelle Bearbeitung erst ein Buch zu machen. Dieses auch von den anderen Herausgebern der Preundesvereinsausgabe verfolgte Verfahren, verschiedene Materialien unterschiedlicher Provenienz zu einem Text zu verschmelzen, ist oft kritisiert, von den verschiedenen nachfolgenden Herausgebern dann aber doch in unterschiedlichen Varianten meist wieder nachgeahmt worden. Dieses Verfahren beruht m. E. auf zwei folgenschweren Fehleinschätzungen: 1. Insofern Nachschriften von Vorlesungen verschiedener Jahrgänge zu einem synthetischen Text verschmolzen werden, rechnet man von vornherein nicht damit, daß Hegel seine Konzeptionen weiterentwickelt oder gar korrigiert haben könnte. 2. Insofern durch die Kompilierung verschiedener Nachschriffen und die Ausmerzung stilistischer und syntaktischer Mängel ein wohlformulierter Text erzeugt wird, wird der Eindruck erweckt, die so rekonstruierte Vorlesung gebe das wieder, was Hegel eigentlich gesagt habe. Diese falsche Suggestion von Authentizität hat wie die Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Philosophie zeigt - dazu geführt, daß die Vorlesungseditionen wie die von Hegel selbst publizierten Texte behandelt oder gar an ihrer Stelle rezipiert und gegen diese ausgespielt werden. Während sich die erste Einsicht in der Hegelforschung und Editionspraxis inzwischen weitgehend durchgesetzt hat, insofern alle neueren Vorlesungseditionen sog. Jahrgangstexte bieten, ist die zweite auch heute noch keineswegs selbstverständlich. So beschränkt sich auch die hier vorgelegte Edition einerseits auf die Wiedergabe von Nachschriffen der Vorlesungen aus dem Wintersemester 1822/23 (vgl. dazu die Ausführungen der Herausgeber auf VII f), andererseits aber versucht sie, durch Herstellung eines „integralen Textes" (531) das Material aus den vorliegenden Nachschriften dieser Vorlesung „weitgehend zu einem fortlaufenden Text zu verarbeiten". Die Herausgeber erheben dabei explizit den Anspruch, daß mit diesem Verfahren ein Text rekonstruiert werden kann, der „im hohen Maße

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wiederzugeben erlaubt, was Hegel in seinen Vorlesungen tatsächlich gesagt hat" (ebd.). Die Begründung der Herausgeber für dieses Verfahren ist zunächst durchaus einleuchtend, daß nämlich ein einfacher oder auch synoptischer Abdruck aller Nachschriften sich aus Redundanzgründen verbietet, insofern der Leser alle Texte gleichzeitig lesen müßte (531). Abweichend von der von den Herausgebern vertretenen Auffassung halte ich es aber für ausgeschlossen, mithilfe von Nachschriften den Wortlaut von Hegels Vortrag rekonstruieren zu können. Denn es handelt sich bei diesen Texten nicht um Diktattexte oder stenographische Protokolle, sondern um die - in unterschiedlicher Weise oft in häuslicher Arbeit redigierte - Wiedergabe eines mündlichen Vortrags, die von der subjektiven Auffassungsgabe und der Schwerpunktsetzung des Nachschreibers bestimmt ist. Dies findet seine Bestätigung in vielen Mitteilungen von Hegels Schülern, die berichten, daß sie darauf angewiesen waren, den Hegelschen Gedanken, ausgehend von dessen Vortrag selbständig zu formulieren und zu verarbeiten, und die Vorlesungsnachschriften deswegen auch nicht als diplomatische Aktenstücke des Hegelschen Vortrags dienen könnten (vgl. E. Erdmann Vorlesungen über akademisches heben und Studium. Leipzig 1858. 264 f). Bei der Edition von Vorlesungsnachschriften liegt daher eine völlig andere Sachlage vor, als bei dem in diesem Diskussionszusammenhang gern angeführten Beispiel der Überlieferung antiker Handschriften in unabhängigen Abschreiber-Traditionen, wo aus Übereinstimmungen im Textbefund auf größere Sicherheit einer Lesart geschlossen und unter günstigen Bedingungen eine Annäherung an den ursprünglichen Wortlaut mittels philologischer Techniken mit Aussicht auf Erfolg versucht werden kann. Ich möchte dies an einigen leicht überprüfbaren Beispielen aus der hier vorgelegten Edition demonstrieren. Als ein erstes kann dasjenige dienen, das die Herausgeber zur Verdeutlichung ihrer Textrekonstruktion geben (vgl. 534 f). Zu diesem Text gibt es in der Ausgabe von KARL HEGEL einen Paralleltext (wiedergegeben in der Theorie-Werkausgabe von MOLDENHAUER und MICHEL. Bd 12. 97 f), der mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Hegels Manuskript selbst stammt; denn da dieses Textstück inhaltlich mit dem hier zu Diskussion stehenden Text übereinstimmt, stammt es wohl aus demselben Jahrgang. Aus diesem standen KARL HEGEL aber keine weiteren Nachschriften als die hier vorliegenden zur Verfügung, wohl aber eigenhändige Manuskripte Hegels, die heute verlorengegangen sind. Das Textstück ist außerdem in der Ausgabe von GANS nicht enthalten; nach eigenen Angaben hat KARL HEGEL aber alle Ergänzungen zur Ausgabe von GANS wörtlich aus Hegels eigenhändigem Manuskript entnommen. Das Textstück ist von KARL HEGEL allerdings - wie andere auch - umgestellt und weiter hinten in der Einleitung plaziert worden. In diesem Textstück heißt es nun; „Der allgemeine Gedanke, die Kategorie, die sich bei diesem ruhelosen Wechsel der Individuen und Völker, die eine Zeitlang sind und dann verschwinden, zunächst darbietet, ist die Veränderung überhaupt". Diese Ausführungen, daß die erste Kategorie, die sich uns beim Nachdenken über den Wechsel der Individuen und Völker darbietet, die der Veränderung ist, wird (wie

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aus den von den Herausgebern auf Seite 534 f abgedruckten Texten deutlich wird) von den Nachschreibern in unterschiedlicher, teils verkürzender, teils verfälschender Weise zusammengefaßt und in der Rekonstruktion der Herausgeber dann zu einer bloßen Reihung: „Der erste, allgemeine Gedanke, die Kategorie, die sich darbietet, ist das Abstrakte der Veränderung, der Wechsel der Individuen, Völker und Staaten“. Die anscheinend geringfügige Veränderung zerstört aber die Pointe des Hegelschen Gedankens, daß die erste sich aufdrängende Form der philosophischen Verarbeitung des empirisch konstatierten Wechsels der Völker die - sich dann als mangelhaft erweisende - Applizierung der Kategorie der Veränderung ist. Etwas weiter unten heißt es dann in der Ausgabe von KARL HEGEL: „Welcher Reisende ist nicht unter den Ruinen von Karthago, Palmyra, Persepolis, Rom zu Betrachtungen über die Vergänglichkeit der Reiche und Menschen, zur Trauer über ein ehemaliges kraftvolles und reiches Leben veranlaßt worden? - eine Trauer, die nicht bei persönlichen Verlusten und der Vergänglichkeit der eigenen Zwecke verweilt, sondern uninteressierte Trauer über den Untergang glänzenden und gebildeten Menschenlebens ist.“ Hegels Ausführungen, daß der Anblick der Ruinen vergangener Kulturen zu einer uninteressierten Trauer veranlaßt, die eine andere als die bei persönlichen Verlusten ist, werden von allen Nachschreibern wieder in unterschiedlicher Weise zusammengefaßt; bei von GRIESHEIM sind sie weitgehend korrekt, wenn auch verkürzt wiedergegeben, bei HOTHO ist vom „Grabe“ persönlicher Zwecke die Rede, nach VON KEHLER dagegen ist - den Hegelschen Gedankengang offensichtlich verkehrend - von einer „uninteressierten Trauer am Grabe bekannter Menschen“ die Rede. In der Rekonstruktion der Herausgeber heißt es dann: „Jeder Reisende hat diese Melancholie empfunden. Es ist dies nicht eine Melancholie, die bloß beim Grabe einzelner persönlicher Zwecke stehenbleibt, nicht die Trauer am Grabe bekannter Menschen, sondern eine allgemeine, uninteressierte Trauer über den Untergang von Völkern, einer gebildeten Vergangenheit“. Möglich ist, daß Hegel die Rede von persönlichen Verlusten im mündlichen Vortrag mit dem Beispiel der Trauer am Grabe bekannter Menschen erläutern wollte. Die Herausgeber haben nun die sinnvolle Eormulierung bei GRIESHEIM von der Trauer „beim Verlust einzelner persönlicher Zwecke“ durch die „vom Grabe einzelner persönlicher Zwecke“ bei HOTHO ersetzt, daran aus der Nachschrift VON KEHLER die Phrase von der „Trauer am Grabe bekannter Menschen“ angehängt, ohne zu vermerken, daß sie dort - wohl fälschlich als Beispiel der uninteressierten Trauer dient, und dadurch den Hegelschen Gedanken nicht nur verdunkelt, sondern auch verdoppelt. Ein weiteres, leicht überprüfbares Beispiel ist der Vergleich des Anfangs der Einleitung in der vorliegenden Edition (vgl. 3-9) mit den heute noch erhaltenen Bögen der Einleitung zur Philosophie der Weltgeschichte von 1822/28 (jetzt kritisch ediert in: Gesammelte Werke. Bd 18.121-137). Zunächst ist auffallend, daß der Text der Vorlesungsedition wesentlich geringeren Umfangs als Hegels Manuskript ist, selbst wenn man berücksichtigt, daß zu den Randbemerkungen im Manuskript insgesamt keine korrespondierenden Ausführungen in den Nachschriften gefunden werden können, diese deshalb wohl erst später nachgetragen wurden. Dies bestätigt die

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These, daß die Nachschreiber Hegels Ausführungen nicht protokollierten, sondern gemäß ihrer eigenen Auffassungsgabe und Schwerpunktsetzung verarbeiteten. Insbesondere haben sie die illustrierenden Beispiele häufig nur angedeutet. Schwerwiegender aber ist, daß sie gerade in den philosophisch interessanten und deswegen für die Schüler Hegels wohl auch schwierigen Passagen den Hegelschen Gedankengang oft stark verkürzt wiedergeben. Dazu zwei kurze Beispiele; vergleicht man das Textstück 4, 34—38 in der vorliegenden Nachschriftenedition mit GW 18.123,15-124,8, so wird deutlich, daß Hegel in seinem Manuskript zwischen historia und res gesta differenziert: Völker, die keine eigentliche Geschichtsschreibung haben, können nicht Gegenstand der philosophischen Weltgeschichte, d. h. nicht Gegenstand des philosophischen Nachdenkens über sie sein, da sie ihr Prinzip nicht selbst zum Bewußtsein gebracht haben; dieses ist aber gerade Gegenstand der philosophischen Weltgeschichte, die es mit der Entwicklung der Idee in der Geschichte zu tun hat. Indem diese Unterscheidung verwischt wird, wird daraus in der vorliegenden Edition: „Völker mit trüben Bewußtsein sind von der Weltgeschichte [noch] ausgeschlossen." Als letztes Beispiel möchte ich den Anfang des Absatzes ßß) aus dem Abschnitt über die „ursprüngliche Geschichte" anführen, in dem Hegel die Zugehörigkeit der Autoren der ursprünglichen Geschichtsschreibung zu ihrer Epoche und der politisch handelnden Klasse hervorhebt. In der vorliegenden Edition (5, 56 ff) lautet diese Passage: „In [einer] solchen Geschichte ist die Bildung des Verfassers und sein Geist, sowie die Bildung der Taten, die er erzählt, [also die Bildung] seines Geistes und der von ihm beschriebenen Handlung eines und dasselbe". In der entsprechenden Passage des Manuskripts (vgl. GW 18.125, 8-11) heißt es dagegen: „In solchen Geschichtschreibern ist die Bildung des Autors, und die (Bildung der) Begebenheiten, die er zum Werke erschafft - der Geist des Verfassers und der allgemeine Geist der Handlungen, von denen er erzählt, einer und derselbe". Der in Hegels Manuskript zum Ausdruck kommende spezifische Geistesbegriff mit der Behauptung, der Geist des Autors und der der Handlungen sei ein- und derselbe, geht in der Nachschriftenedition also verloren und wird zur bloßen geistigen Bildung des Verfassers. Diese Beispiele mögen zeigen, daß es nicht gelingen kann, den Hegelschen Vortrag authentisch aus den Nachschriften zu rekonstruieren. Während die Lücken und Mängel dieser Texte den aufmerksamen Leser aber darauf stoßen können, daß diese den Hegelschen Vortrag möglicherweise verkürzend oder gar verfälschend wiedergeben, wird durch die Ausmerzung dieser Mängel in der Rekonstruktion der falsche Anschein einer authentischen Überlieferung suggeriert. Zudem erzeugt das Bestreben der Herausgeber, möglichst jede überlieferte Formulierung durch bloße Aneinanderreihung mitzuteilen, wohingegen sie sich beim Vergleich mit Hegels Manuskripten - dort wo dies heute noch möglich ist - als unterschiedliche Ausformulierung desselben Gedankens durch die Nachschreiber erweisen, eine eigentümliche Redundanz und Wiederholung des so konstruierten Textes. Um nicht mißverstanden zu werden: es kann nicht darum gehen, den Nachschriften ihren Wert für die Interpretation der Hegelschen Philosophie abzusprechen. Im

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Gegenteil sind sie für jene Teile des Systems, zu denen Hegel selbst nicht publiziert hat, die einzige Quelle seiner Philosophie, und auch dort, wo authentische Arbeiten Hegels vorliegen, oft eine wertvolle Ergänzung. Sie sind aber eben auch nicht authentische Protokolle des Hegelschen Vortrags, und dies in der Präsentation der Vorlesung deutlich zu machen und nicht durch den falschen Anschein von Authentizität zu retuschieren, ist Aufgabe des Herausgebers. Die für den Herausgeber vielleicht mühsamste Form der Präsentation dieser Texte, ihre Kompilation zu einem wohlformulierten Text, ist daher möglicherweise nicht die sinnvollste. Es gibt andere Formen der Präsentation der Nachschriften, die diese in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, ohne daß der Herausgeber genötigt ist, alle Vorlesungen einfach nacheinander abzudrucken, und dem Leser die Aufgabe aufbürdet, sie nebeneinander zu lesen. In der vorliegenden Edition bleibt ferner unklar, wie sich die Art der Rekonstruktion mit den editorischen Prinzipien vereinbaren läßt, daß kein Wort ausgelassen oder verkürzt wurde und unterschiedliche Wörter, sofern diese nicht in den integralen Text aufgenommen wurden, im kritischen Apparat angegeben werden (vgl. 533); denn wie am Beispiel der Herausgeber deutlich wird, werden die Sätze des „integralen Textes" so konstruiert, daß sie die sich ergänzenden Phrasen aller Nachschreiber aufnehmen, sofern sie sich in den Satzduktus fügen, ohne daß aber dokumentiert wird, welcher Text aus welcher Nachschrift stammt, wie die einzelnen Textstücke aneinandergereiht werden und welche nicht berücksichtigt werden, weil sie sich nicht integrieren lassen. Nur wenn dieselbe Phrase in verschiedenen Varianten überliefert wird, wird deren Unterschied im kritischen Apparat dokumentiert. Nicht ausgewiesen ist schließlich auch, daß die Überschriften z. T. von den Herausgebern stammen und nicht immer unproblematisch sind. Schließlich wäre es auch wünschenswert gewesen, daß - wie in kritischen Ausgaben heute üblich - die Paginierung der Originalmanuskripte mitgeteilt wird, damit der Leser die Möglichkeit hat, unter Umständen einen bestimmten Text in den Nachschriften wiederzufinden. So gilt letztlich der Vorbehalt, den die Herausgeber der vorliegenden Edition gegen frühere Herausgeber machen, auch gegen diese selbst, daß „solange wie bisher an der Funktion eines Gesamttextes oder Haupttextes festgehalten wird", für die in der jeweiligen Edition „vorliegenden Gestalt nicht Hegel verantwortlich gemacht werden kann, sondern lediglich der jeweilige Herausgeber" (530). Franz Hespe (Bergen)

Kunst als Kulturgut. Die Bildersammlung der Brüder Boisseree - ein Schritt in der Begründung des Museums. Hrsg, von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler. Bonn: Bouvier 1995. 328 S. (Neuzeit und Gegenwart. Bd 8.) Wer heute die Säle der Alten Pinakothek in München besucht, in denen die Werke der altdeutschen und -niederländischen Malerschule im neutralisierenden Am-

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biente des modernen Museumsraumes gezeigt werden, ahnt wenig von der Irritation und dem öffentlich diskutierten Relevanzanspruch, den gerade diese Tafelbilder in der GoETHE-Zeit auszulösen vermochten. Vor allem die Werke der Sammlung BOISSEREE, die LUDWIG I. von Bayern 1827 zur Komplettierung seiner Kunstsammlungen ankaufte, wurden in der Zeit zwischen 1804 und 1827 zu den bevorzugtesten Gegenständen eines öffentlichen Diskurses, durch den nicht nur die Kunstgeschichtsschreibung der mittelalterlichen Malerei mitbegründet wurde, sondern in dem es auch um die weltanschaulich-künstlerische Relevanz der christlichen Kunstpraxis ging. Kaum aus den Kirchen in die bürgerlichen Privatsammlungen gelangt, lösten diese der christlichen Ikonographie verpflichteten Tafelbilder eine Flut von Kommentaren aus. Von all dem erzählen die Werke nur, wenn man sich die Mühe macht, die Formen und Strategien der Popularisierung zu studieren, die die Brüder BOISSEREE und JOHANN BAPTIST BERTRAM als Besitzer dieser „ersten deutschen Privatkollektion von fester Physiognomie und einheitlichem Aufbau" entwickelten, um ihre Sammlung ins Bewußtsein der kulturellen und politischen Öffentlichkeit ihrer Zeit zu stellen. Die Sammlung wurde gemeinsam von den beiden Kölner Kaufmannssöhnen MELCHIOR (1786-1851) und SULPIZ (1783-1854) BOISSEREE und ihrem Freund, dem Juristen JOHANN BAPTIST BERTRAM (1776-1841), zwischen 1804 und 1817 angelegt. Während der Säkularisation des geistlichen und feudalen Kunstbesitzes durch die Franzosen beginnen sie ab 1804 in Köln ihre Sammeltätigkeit. Sie beschränken sich in der Erwerbspraxis vornehmlich auf den niederrheinischen Kulturraum und auf die zeitliche Eingrenzung zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert. Der beginnenden kunsthistorischen Forschung wird dabei ein durch SULPIZ BOISSEREE quellenkundlich abgesicherter Bereich der christlichen Bildkunst erschlossen und in einer chronologischen Präsentation in Heidelberg (1810-1819) und in Stuttgart (1819-1827) öffentlich vorgestellt. 1827 konnte die Sammlung - wie angedeutet - von LUDWIG I. für die Alte Pinakothek in München erworben werden, wo sie noch heute den Bestand der altdeutschen Meister bestimmt. Das Einzigartige der Sammlung BOISSEREE liegt nicht nur in der Systematik der Sammlungsgegenstände, durch die es den Besitzern gelang, eine chronologische Reihe altdeutscher Tafelbilder in ihren Sammlungsräumen effektvoll und in einheitlich glänzenden Goldrahmen zu präsentieren, sondern auch in ihrer Konzeption. Diese sah vor, daß ein Teilbereich der deutschen Kunstgeschichte in einer entwicklungsgeschichtlichen Ganzheit vor aller Augen gestellt werden und zugleich als Manifestation eines weltanschaulich-künstlerischen Ideals sinnstiftend auf die kulturelle Gegenwart einwirken sollte: Das Sammeln von ehemals im Sakralraum der Kirche eingebundener Tafelbilder wird so nicht nur geschmacksästhetisch begründet, sondern erhält im Auslegungshorizont der Sammler eine soziale Relevanz für die Orientierungsansprüche der Gegenwart. Gerade dieser kunst- und sammlungsgeschichtlichen Novität, daß sich in einem Gemäldebestand altdeutscher Meister zugleich eine weltanschauliche und kultur-

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politische Option ausdrückt, geht die hier vorzustellende Publikation in interdisziplinärer Zusammenarbeit nach. Schon in früheren Publikationen konnten die Herausgeber des vorliegenden Aufsatzbandes die Forschungslage zur Sammlung BOISSEREE um eine kunsttheoretische und kulturpolitische Deutungsperspektive bereichern. (Vgl. Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Hrsg, von A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler. Hegel-Studien. Beiheft 27. Bonn 1986.) Während die fachspezifische Forschungsliteratur von HERMANN HüFFER über EDUARD FIRMENICH-RICHARTZ bis WILHELM WAETZOLDT vorrangig der kunst- und stilgeschichtlichen Erfassung des BoissEREEschen Gemäldebestands verpflichtet blieb, galt die Aufmerksamkeit der germanistischen Forscher jener „Weltautorität", die über die Sammlung mit „universeller Billigkeit" (GUSTAV FRIEDRICH HOTHO) geurteilt hatte. So versuchten GEORG POENSGEN, ADOLF BACH und ERNST OSTERKAMP das Verhältnis dieser „Weltautorität" namens JOHANN WOLFGANG VON GOETHE zur Sammlung BOISSEREE als einer „Kultstätte" des romantischen Geistes näher zu bestimmen. (Vgl. zuletzt Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991.224-312.) Erst die sammlungs- und museumsgeschichtlichen Untersuchungen von WOLFGANG VON LöHNEYSEN, GUDRUN CALOV und EVA SCHULZ eröffneten jene Deutungsperspektive, durch die die Sammlung BOISSEREE in den institutionsgeschichtlichen Prozeß der Herausbildung des Museums um 1800 integriert werden konnte. Von nun an galt es, die Konzeption der Sammlung BOISSEREE in ihrer bemerkenswerten „Mischung von politischer Repräsentationsfunktion und kulturellem Bildungsanspruch" (Eva Schulz: Das Museum als wissenschaftliche Institution. Neue Ideen und tradierte Vorstellungen am Beispiel der Sammlung BOISSEREE. In: Wallraf-RichartzJahrbuch. 51 (1990), 285-317) konzis zu beschreiben, was durch die quellengeschichtlich verdienstvollen Editionen des Briefwechsels, aber vor allem der Tagebücher SuLPiz BOISSEREES gründlich vorbereitet wurde. Erst die Untersuchungen von FRIEDRICH STRACK und ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT erweiterten die Forschungslage um den Aspekt einer kunst- und kulturtheoretischen Interpretation der Sammeltätigkeit der Brüder BOISSEREE vor dem Horizont einer umfassenden Musealisierungsbewegung um 1800. Deutet STRACK das Phänomen einer „Säkularisierung der religiösen Kunstwerke" im profanen Kontext von Privatsammlungen nur an, so bestimmt diese Deutungsperspektive eines neuen „Lebensraumes" für die alte Kunst die Überlegungen von GETHMANN-SIEFERT. Das Besondere der Sammlung erkennt sie darin, daß sich in der Konzeption ihrer Besitzer der historisch-wissenschaftliche Anspruch und die christlich fixierte Weltanschauung überlagern und in der Vorstellung Gestalt annehmen, eine Gemäldesammlung als öffentliche Bildungsanstalt mit zugleich historischer, kunstpraktischer und moralischer Zielsetzung zu institutionalisieren. Der hier anzuzeigende Aufsatzband resümiert insofern die neuere Forschungslage zur Sammlung BOISSEREE, als ein interdisziplinäres Spektrum von Untersuchungen die kunsttheoretischen, kunst- und sammlungsgeschichtlichen sowie kultur-

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politischen Implikationen der Sammeltätigkeit der Brüder BOISSEREE darstellt und als einen bedeutsamen „Schritt in der Begründung des Museums" - so der Untertitel - erscheinen läßt. Die Gliederung des Bandes reflektiert jenen Interpretationsansatz einer „Kunst als Kulturgut", der die Beiträge inhaltlich engführt. Nach einer allgemein gehaltenen Einleitung von GETHMANN-SiEFERTwird das „Selbstverständnis des Sammlers im Spiegel der Zeit" anhand des Briefwechsels, der Tagebücher und der kunstgeschichtlichen Manuskripte von (vor allem) SULPIZ BOISSEREE dargestellt. Dann wird der Weg der Sammlung ins Museum, d. h. die institutionelle Wandlung von einer kunstpatriotischen Privatinitiative zur Angelegenheit von nationalem und kulturellem Interesse nachgezeichnet. Zuletzt informiert das Kapitel über das „kulturelle Echo der Sammlung" darüber, inwieweit der Relevanzanspruch der Sammler sich in der erreichten Breitenwirkung niedergeschlagen hat. Eine von GISELA GOLDBERG erarbeitete Konkordanz der alten und neuesten Zuschreibungen dokumentiert die BoissEREEsche Galerie in ihrem ursprünglichen Bestand, der als Bildanhang dem Leser erstmals wieder die Sammlung vollständig vor Augen stellt. Die programmatische Einleitung von GETHMANN-SIEFERT (I-XXVIII) stellt den neuen Rezeptionsrahmen heraus, den die alte Kunst auf ihrem „Umzug" aus den Kirchen in die diversen Privatsammlungen erhält. Dieser institutionsgeschichtliche Prozeß, dessen Analyse rekonstruiert, wie die religiösen Werke aus ihren tradierten Bindungen gelöst werden, bis ihnen anstelle des ursprünglich liturgisch geprägten „Lebensraums" eine auf Geschichte gegründete „Kunstwelt" als neuer „Sitz im Leben" zuwächst, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Werke selbst. Für GETHMANN-SIEFERT wird die Sammlung BOISSEREE in diesem durch die Säkularisation beschleunigten Prozeß zu einer „Schaltstelle" mit exemplarischem Wert. Denn durch die massive Öffentlichkeitsarbeit der Sammler, die effektvollen Präsentationsformen sowie die Wirkung der begleitenden kunstgeschichtlichen Theoriebildung werden die in der Sammlung vereinigten Werke des deutschen Mittelalters als „Kulturgut" für alle zugänglich, treten ein ins Reich der „Bildung durch Bilder". Die kulturpolitische Strategie der Brüder BOISSEREE besteht für die Autorin darin, daß die als nationaler „Gemeinbesitz" anzuerkennenden Bildwerke nicht nur als „Bestand konservierter historischer Kenntnis" diskutiert werden, sondern dadurch kulturelle Relevanz erreichen sollen, daß ihre Rezeption religiös bestimmt, d. h. auf weltanschauliche Orientierungs vorgaben hin ausgerichtet bleibt. Wie es zu dieser Funktionsbestimmung einer altdeutschen Bildersammlung durch die Brüder BOISSEREE und BERTRAM hat kommen können, stellen die Aufsätze der genannten drei Hauptkapitel des Bandes dar. HANS JüRGEN WEITZ (Die Sammlung Boisseree in den Tagebüchern des Sulpiz, 4-19) analysiert vornehmlich die Geschichte der Verkaufsverhandlungen im Spiegel der Informationen, die er aus den umfänglichen Tagebüchern SULPIZ BOISSEREES schöpft. Er begreift diese zwischen 1808 und 1854 akribisch geführten Journale als ein „kunstpolitisch-historisches Dokument", wobei er sich in der Darstellung aus-

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schließlich auf das „Gewoge der Wechselfälle" in den Verhandlungen mit Württemberg (1825/26) und Bayern (1826/27) konzentriert. Inwieweit gerade bei diesen Sammlern der „Erhaltungstrieb" mit einem umfassenden „Bildungstrieb" korreliert, d. h. Kunstbesitz und Kunstdiskurs sich mit einem erzieherischen Fernziel verschränken, kann MARIANNE KüFFNER (Zum Briefwechsel Boisseree und Cotta, 20-29) anhand des Briefwechsels zwischen SULPIZ BOISSEREE und dem Verleger JOHANN FRIEDRICH COTTA belegen. Denn die verschiedenen Publikationsprojekte, die BOISSEREE bei COTTA planen und realisieren konnte, zeigen, wie der sammelnde Kunstgelehrte den „NAPOLEON der Buchhändler" in den Dienst einer massiven Popularisierung der altdeutschen Kunstgeschichte miteinbezog. Der ScHLEGEL-Fxperte ERNST FEHLER (Friedrich Schlegel und die Brüder Boisseree. Die Anfänge der Sammlung und ihr philosophischer Ausgangspunkt, 30-41) rekonstruiert anschließend den philosophischen Ausgangspunkt der Sammlung und erkennt dabei die Lehrjahre der drei Kölner Kunstjünger bei FRIEDRICH SCHLEGEL in Paris und Köln zwischen 1803 und 1808 als den „wichtigsten Bildungsfaktor" im Leben der Sammler. Hier hätte man sich eine differenziertere Analyse des Einflusses von FRIEDRICH SCHLEGEL - dem Mentor der BOISSEREES - auf Sammlungskonzeption und Kunstanschauung von vor allem SULPIZ BOISSEREE gewünscht. In einem ähnlich systematisch geführten Vergleich der ScHLEGELschen Kunstmaximen, wie ihn GABRIELE BICKENDORF in ihrer Studie über GUSTAV FRIEDRICH WAAGENS Frühschrift über die Brüder VAN EYCK (1822) auf das darin vorherrschende kunsthistorische Verfahren verwirklicht hat, könnte man SCHLEGELS kunstprogrammatische Überlegungen aus seinen Europa-Aufsätzen auch auf die Sammeltätigkeit der Brüder BOISSEREE beziehen. (Vgl. Gabriele Bickendorf: Der Beginn der Kunstgeschichtsschreibung unter dem Paradigma der „Geschichte“. Worms 1985.) In der Transkription und Kommentierung eines Manuskriptes über die „Geschichte der altdeutschen Malerei" von SULPIZ BOISSEREE aus dem Jahre 1833 verdeutlicht DORIS STRACK (Boisserees Projekt der „Beiträge zur Geschichte der christlichen Malerei, 42-62) in vorbildlicher Weise, wie souverän der Sammler die „eigenen Bestrebungen und Leistungen in die geistigen Strömungen der Zeit" einzuordnen wußte. Wie in seinen in den 1850er Jahren verfaßten Fragmente(n) einer Selbstbiographie leistet BOISSEREE in diesem Text eine geistes- und kunstgeschichtliche Selbstinterpretation der eigenen Sammlungsbestrebungen vor dem Horizont des romantischen Denkmodells einer „Zukunft in der Vergangenheit". Konnten die Aufsätze des ersten Teils des Bandes die Selbstauslegung der Sammler als „Verwalter" eines nationalen „Gemeinguts" aus den Quellen heraus ermitteln, so resümieren die folgenden Untersuchungen die Ausstellungsformen in Heidelberg und Stuttgart sowie die Öffentlichkeitsarbeit und die Verkaufsverhandlungen der BOISSEREES. FRIEDRICH STRACK (Die Sammlung Boisseree in Heidelberg. Künstleratelier und Bildungsanstalt, 64-73) thematisiert anhand der Ausstellungsbedingungen in Heidelberg zwischen 1810 und 1819 den „Übergangsstatus" der Sammlung zwischen

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„Künstleratelier" und „Bildungsanstalt". Die ausgestellten Tafelbilder werden in den narrativ-didaktischen Führungen des Galerieinspektors JOHANN BAPTIST BERTRAM gleichermaßen der „religiösen Verehrung", der „ästhetischen Bewunderung" wie auch der „historischen Betrachtung" zugänglich gemacht. Weniger diesem Ereignischarakter des Sammlungsbesuchs als vielmehr den sozial-, Wirtschafts- und geistesgeschichtlichen Gründen spürt WERNER FLEISCHHAUER in seinem Aufsatz über die Boisseree und Stuttgart (74-106) nach, um das Scheitern der Ankaufsbemühungen des württembergischen Königs 1825/26 zu erklären. Wie es dann doch im Frühjahr 1827 zu einem Verkauf der Sammlung an LUDWIG 1. von Bayern hat kommen können, zeigt GISELA GOLDBERG (Das Schicksal der Sammlung Boisseree in Bayern. Wie die Sammlung nach Bayern kam und dort aufgenommen wurde, 113-125) anhand der Etappen der Ankaufsgeschichte ab 1826 auf. Hierbei kann der Ankauf der Sammlung BOISSEREE überzeugend im Kunstverständnis und der Kulturpolitik LUDWIGS I. begründet und aufgezeigt werden, welche Funktion diese Sammlung religiöser und „vaterländischer Malerei" innerhalb des „volksbildenden" und „vorbildhaften Charakters" der gesamten Kunstsammlungen in München einnahm. Die Bemühungen der Sammler um eine umfassende kunstgeschichtliche Darstellung ihrer Galerie kulminieren in der Einrichtung einer lithographischen Anstalt in unmittelbarer Nähe zu den Sammlungsräumen in Stuttgart. IRMGARD FELDHAUS (Die Lithographien Johann Nepomuk Strixners, 152-174) ermittelt anhand einzelner Vergleiche, inwieweit sich in dieser lithographischen Reproduktion des Sammlungsbestands durch JOHANN NEPOMUK STRIXNER ab 1821 nicht nur eine Sammlerideologie popularisieren ließ, sondern sich in der angestrebten „originalgetreuen Wiedergabe" der Gemälde zugleich eine zeitbedingte Stilistik vor allem bei der Darstellung körperlicher Plastizität ausdrückt. Die anwachsende öffentliche Resonanz der Sammlung wird dann im abschließenden Teil des Bandes exemplarisch an Hegels und GOETHES Stellungnahmen aufgezeigt. Hierbei gilt die Aufmerksamkeit der Autoren vornehmlich der kulturpolitischen Programmatik, die zuvor unter der stärker individualisierenden Perspektive des Selbstverständnisses der Sammler sowie der Präsentations- und Popularisierungsformen herausgestellt wurde. Während die Form der „historischen Ausstellung", wie sie sich in der „sichtbaren Kunstgeschichte" (CHRISTIAN VON MECHEL) der altdeutschen Malerei in den Sammlungsräumen der BOISSEREES verwirklichte, von Hegel als vorbildlich gelobt wird, kann er die Absicht der Sammler, das „Alte für eine neue Gegenwart retten" zu wollen, nicht mehr teilen, wie OTTO PöGGELER darstellt (Hegel und die Geburt des Museums, 197-205) Für Hegel gilt der rezeptionsgeschichtliche Prozeß, durch den sich der ästhetische „Geschmack" und die historische Betrachtung in der Privatsammlung und dann später im Museum an Werken delektiert, die zuvor der religiösen „Frömmigkeit" gewidmet waren, als irreversibel. Deutlicher noch als in dem allzu kurzen Text von PöGGELER, hätte man Hegels Heidelberger Galerieerlebnisse während seiner dortigen Lehrzeit zwischen 1816 und 1818 zu einigen prominenten Stellen seiner

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späteren Berliner Ästhetik-Vorlesungen der Jahre 1820/21 bis 1828/29 in Beziehung setzen können. So ließe sich aufzeigen - und GETHMANN-SIEFERT, wie auch PöGGELER selbst, hatten dies bereits in früheren Untersuchungen angedeutet daß die BOISSEREEsche Kunstgalerie ihm Einsichten vermittelt, die eine begriffliche Klärung dann in den Überlegungen der Ästhetik-Vorlesungen erfahren, wo er über das Verhältnis von ästhetisch-historischer und religiöser Betrachtung, von Kult- und Ausstellungsraum reflektiert und seine Analyse der Bedeutung christlicher Kunst für die moderne Welt in das bekannte Diktum vom „Vergangenheitscharakter der Kunst" münden läßt. In der Heidelberger Galerie treten ihm die religiösen Bildwerke in einer geordneten Reihe und in einer eigens dafür eingerichteten präsentativen Räumlichkeit gegenüber, wodurch die „normative Bindung der Kunst" an ihre alte Lebenswelt zerstört wird und sich die Bedingungen ändern, „wie Kunst uns anspricht". (Vgl. O. Pöggeler: Hegel und Heidelberg. In: Hegel-Studien 6 (1971), 65-133, hier 99-108) Gerade diese von Hegel erkannten Veränderungen begründen seine deutliche Absage an jene regenerativen Tendenzen in der Heidelberger Romantik, die in der Rückwendung zum Alten zugleich dessen Wiederaneignung für die Gegenwart einfordern. Diese von den Sammlern kulturpolitisch erhoffte Zukunftsrelevanz wird auch von GOETHE bestritten, wie GETHMANN-SIEFERT in ihrem Beitrag über dessen „Widerstand gegen die neue Religiosität" deutlich macht (Goethe und das Geschmäcklerpfaffentum, 219-227). GOETHE kann zwar dem historischen Bildungsanspruch der Sammler beipflichten und in seinem Sammlungsbericht von 1816 vor allem der altniederländischen Malerei seine ästhetisch-künstlerische Anerkennung nicht verweigern. Doch dem „kulturpolitischen Aufruf zur Verinnerlichung dieser neuentdeckten Zukunftsmacht Vergangenheit" verweigert er - wie Hegel - die öffentliche Zustimmung. An dieser Stelle wäre es lohnenswert gewesen, die Arbeit ERNST OSTERKAMPS über das Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen in die Überlegungen miteinzubeziehen. Denn OSTERKAMP gelingt es in seiner akribischen Studie zu GOETHES Sammlungsbericht, pointiert die romantischen von den klassischen Bildbeschreibungsverfahren anhand eines Beispiels zu unterscheiden. Dabei kann er nachweisen, wie sich in diesen Beschreibungsverfahren sowohl ideologische als auch kunsttheoretische Optionen ausdrücken und wie sich GOETHES ästhetische Würdigung des Sammlungsbestands bei gleichzeitiger weltanschaulicher Ablehnung des Relevanzanspruchs der Sammler in der rhetorischen Struktur des Berichts niedergeschlagen hat. Insgesamt nehmen die im dritten Teil des Bandes versammelten Aufsätze das Thema des „eingeschränkten Relevanzanspruchs" wieder auf, welches von GETHMANN-SIEFERT in ihrer Einleitung unter dem übergreifenden Gesichtspunkt „Kunst als Kulturgut" eingeführt wurde. Das von den Brüdern BOISSEREE kontrollierte Zusammenspiel von öffentlicher Ausstellung, kunstgeschichtlicher Theoriebildung, populärer Sammlungsbeschreibung in Kunstjournalen und der Nutzung eines technisch versierten Reproduktionsmediums beschleunigt letztlich - und zwar gegen die erklärten Absichten der Sammler - die „Ablösung der kulturpolitischen Inten-

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tion der Kunstsammlung durch die anschaulich gestaltete historische Reflexion", wie sie sich im Museumsgedanken ausdrückt: Das „lebendig wirkende Kulturgut", zu dem die Bildwerke von ihren Besitzern in der Sammlung BOISSEREE als „Andenken besserer Zeit" vereinigt waren, wandelt sich im Museum zum nur noch historisch relevanten Bildungsangebot. Wie sich diese Wandlung in der zeitgenössischen Diskussion über die Sammlung BoissERfiE spiegelt, läßt sich durch eine umfassende und systematische Auswertung der vielfältigen Rezeptionszeugnisse zwischen 1804 und 1827 darlegen. Die vorliegende Publikation liefert dazu einige Ansätze, die es weiter zu verfolgen gilt. Denn die frappierend vielseitigen Formen der Diskursivität, in denen das Galerieerlebnis öffentlich gemacht wurde, informieren über die Funktionen und Strategien jener kulturellen Wertsetzung, die eine Sammlung altdeutscher Bildwerke im kunsttheoretischen und kulturpolitischen Meinungsstreit der GoETHE-Zeit annehmen konnte. Uwe Heckmann (Karlsruhe)

Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Bd 1: Von Kant bis Hegel. 365 S. Bd 2: Von Nietzsche bis zur Gegenwart. 316 S. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1993. Mit seinem zweibändigen Werk antwortet der Germanist GERHARD PLUMPE auf ein „Ungenügen der literaturwissenschaftlichen Lehre", der es zwar nicht an Einzelstudien zu ästhetischen Theorien mangelt, an der er aber „eine aktuelle deutschsprachige Darstellung der Ästhetik, die deren philosophische Beobachtung der Kunst und Literatur seit ihrer Ausdifferenzierung zu einem ,autonomen' Kommunikationssystem im 18. Jahrhundert rekonstruierte", entschieden vermißt (1. 7). Indem nämlich die Philosophie in Gestalt der Ästhetik die Möglichkeit der Literaturwissenschaft begründet, entbehrt diese so einer überblickshaften Beschreibung ihres Substrats. Diese Lücke will der Autor mit seiner Untersuchung zentraler Etappen der Geschichte der Ästhetik schließen. Dabei trägt die Auswahl und die Interpretation der Konzeptionen ausdrücklich „der literaturwissenschaftlichen Orientierung des Verfassers" Rechnung (I. 24). Aber indem die Literatur „ein Teilgebiet der ,Kunst'" ist, zielt seine Darstellung immer auch über diesen Rahmen hinaus (I. 7). Er geht also von einem Begründungsnotstand dessen, der Kunst in jeder ihrer Ausprägungen wissenschaftlich bearbeitet, aus und sucht nach Lösungen, die in allen entsprechenden Einzelwissenschaften weiterzuführen vermögen. Die folgende Schwierigkeit gilt es zu bewältigen: Zwar kommt eine die Kunst erforschende Wissenschaft nicht ohne ästhetische Kriterien aus, wenn sie sich auf die Wahl ihres Gegenstandes, ihrer Verfahren und ihrer „Werturteile" (!) besinnen will. Das Grundproblem der Ästhetik bleibt indes, daß sie insbesondere in unserem Jahrhundert außerstande zu sein scheint, „einen Kunstbegriff zu formulieren und zu begründen, der der phänomenalen Vielfalt des ,Künstlerischen' in unserem Leben ge-

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recht würde und zwanglos zu ihm paßte". (I. 7 f) Kunst existiert nunmehr unabhängig „von einem Konsens über die Eigenart ihres Wesens" (II. 7). Der Kunstcharakter einer Sache erhellt nicht aus dieser selbst, dem Werk, sondern aus der Kunstcharakter verbürgenden Eigenschaft der Institutionen, innerhalb derer sie begegnet (z. B. Museum, Theater, Konzertsaal, belletristischer Verlag). Die soziale Wirklichkeit der Kunst ist also, so die Folgerung des Verfassers, „nicht in Werken, sondern in ästhetischer Kommunikation" zu suchen (II. 8). Dies bedeutet aber näherhin, daß Kunst nicht bereits Kunst ist, weil sie innerhalb ,Kunst' signalisierender Institutionen figuriert, sondern weil sie als Gegenstand ästhetischer Kommunikation zur Geltung gebracht und wahrgenommen wird. Von dieser Feststellung her kommt PLUMPE ZU der Forderung, „einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und bei der Bemühung um eine Analyse des sozialen Faktums ,Kunst' vom ,Werk' auf ,Kommunikation' umzustellen". In diesem Ansatz, den er seiner Darstellung zugrundelegt, erkennt PLUMPE einen Ausweg aus dem zu konstatierenden Dissens der Kunstbegriffe, indem die Analyse so „ohne jede normative Festlegung des ,Wesens' der Kunst operieren und sich vorurteilslos auf die Wirklichkeit alltäglicher ästhetischer Kommunikation einlassen kann". (II. 9) Die anzustellende Betrachtung der ästhetischen Kunstbeobachtung geht der Autor dabei im Anschluß an NIKLAS LUHMANN von einem systemtheoretischen Ansatz aus an. PLUMPE legt seinem Rekonstruktionsversuch die Leitüberlegung zugrunde, daß ein „ ,autonom' prozessierendes Kommunikationssystem ,Kunst', das alle anderen sozialen Kommunikationssysteme als Umwelt behandelt, also etwa moralische, juristische, religiöse oder politische Relevanzkriterien in seinem Geltungsbereich einklammern kann", erst im 18. Jahrhundert allmählich als Resultat eines langwierigen Differenzierungsprozesses entsteht. Die Ästhetik, die das Kunstsystem beobachtet, ist dabei nicht, wie PLUMPE gegen LUHMANNS Auffassung erklärt, Selbstreflexion der Kunst und damit Teil des eigentlichen Kunstsystems, sondern vielmehr „eine der Reaktionsweisen der Gesellschaft auf die Ausdifferenzierung eines neuen Systems ,Kunst' im 18. Jahrhundert", d. h. eine Fremdbeschreibung und damit lediglich ein Teil des weiter zu fassenden Systems der ästhetischen Kommunikation (I. 23). Zu diesem gehören neben einer spezifischen Kunstpraxis, die sich von den vorausgegangenen Praktiken unterscheidet und der spezifischen ästhetischen Rede auch die Institutionen, wie sie in dieser Zeit entstehen bzw. eine neue Prägung erhalten, in denen die aus einer unmittelbaren Einbindung in andere Systeme gelöste Kunst sich materialisiert. Von dieser theoretischen Basis aus wird die Darstellung der ästhetischen Theorien in Angriff genommen. Im ersten Band geht der Verfasser der Ausdifferenzierung einer ästhetischen Beobachtung von Kunst nach, er verfolgt ihre überfordernde „Programmierung" durch die Wahrheitsforderung und ihre Historisierung (vgl. I. 24). PLUMPE unternimmt es dabei, von KANTS Konzeption aus die Position der Romantik und ihre kritische Reflexion in Hegels Ästhetik zu rekonstruieren. Nach einer knappen Skizze der ,vorästhetischen' Rede über die Künste werden hier als Dokument der Begründung einer ästhetischen Kommunikation KANTS AUS-

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führungen über die Rationalität ästhetischen Argumentierens, seine Theorie der Kunst und des Künstlers sowie die Verknüpfung von Schönheit und Moral angeführt. Das System der ästhetischen Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, daß in ihm - wie in allen anderen Systemen - Kommunikation einem „prägnanten Binarismus" unterworfen wird. Den ursprünglichen „Code" eines eigenständigen, von wissenschaftlichen und moralischen Maßstäben unberührten Systems der Kunstbeobachtung sieht Verfasser in der Leitdifferenz von ,schön' und ,häßlich'. (1. 22 f) Die Leistung, das Schöne in seiner Spezifik gegenüber anderen Systemen herausgestellt zu haben, kommt nun KANTS Überlegungen zur Ästhetik zu, indem hier ein empirisch bereits erfolgreicher Redetypus über Kunst, der sich strikt von moralisch-politischen wie von wissenschaftlichen Diskursen unterscheidet, auf die Bedingung seiner Möglichkeit hin untersucht wird. Entscheidend ist dabei für PLUMPE KANTS Wendung von einer Konzentration auf das „Werk" bzw. den „Künstler" zur „Kommunikation", d. h. die spezifische Perspektive, in der eine ästhetische Erfahrung wahrgenommen und in Sprache gefaßt werden kann (II. 14). Die von KANT eingeführte ästhetische Basisunterscheidung sieht PLUMPE im Kunstsystem der Gegenwart abgelöst durch die von ,interessanten' und ,uninteressanten' Werken. Denn es ist die Eigenschaft eines Werkes, interessant zu sein, vermittels derer das moderne Kunstsystem die Funktion der „Unterhaltung" erfüllt, die nach der Auffassung des Verfassers nunmehr im Zentrum der Kunstkommunikation steht. (1.22; vgl. II. 296 f) Diese Verlagerung der ästhetischen Erfahrung betrachtet der Verfasser offenbar als Konsequenz aus einer in der Geschichte der Ästhetik immer wieder anzutreffenden „Übercodierung" der Unterscheidung ,schön'/,häßlich' durch die ,wahr'/ falsch'-Differenz des Wissenschaftssystems (I. 23). Die Philosophie nimmt also mit Hilfe der Ästhetik eine Beschreibung der Kunst vor, deren Referenz das Wissenschaftssystem ist (vgl. II. 295). In dieser Verquickung von ästhetischer Erfahrung und Wahrheitserfahrung erkennt PLUMPE eine unzulässige Überforderung der Kunst, die aus einem Übergriff der Ästhetik auf das Kunstsystem (seiner „Programmierung") resultiert (I. 24). - Auch noch die unübersehbare Vielfalt der ästhetischen Ansätze in der neueren Kunst, die die Definition der Kunst von einem einzelnen ihrer Ansätze her als unsinnig erscheinen läßt, ist das Resultat einer mannigfachen und heterogenen Programmierung bzw. auch Selbstprogrammierung der Kunst, die dazu dienen soll, „sie für - zumeist unerfüllbare - Leistungen zu konditionieren" (II. 292). - Die so als Ort des Wahrheitsgeschehens gedeutete Kunst soll, so die Vermutung des Verfassers, Enttäuschungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, wo die Erwartung der Wahrheitsvermittlung frustriert wird, kompensieren, indem sie etwa „die Vision einer sozial und diskursiv integrierten Gesellschaft, die Schau der Einheit von Natur und Geist, Objekt und Subjekt, oder allerlei utopische Antizipationen einer wie immer ,heilen' Nachmoderne" vor Augen führt (I. 24). Diese Ausformulierung von „Programmen ästhetischer Kommunikation" geschieht nach SCHILLER namentlich durch die Romantiker (FRIEDRICH SCHLEGEL und SCHELLING) und SCHOPENHAUER.

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Derlei romantischen Vorstellungen sei Hegel in seiner Ästhetik mit der geschichtsphilosophischen Reflexion entgegengetreten, die Kunst als Vermittlerin von Wahrheit schlechthin habe allein unter den vorreflexiven Bedingungen des Griechentums einen Ort. ln der reflexiv geprägten und prosaisch verfaßten Gegenwart werde die Kunst dagegen nur noch ,als Kunst', d. h. in einer institutionalisierten Sonderwelt, in Geltung gelassen, wo dann die angesprochene Unterhaltungsfunktion der Kunst regiere. „Die Leistung der Hegelschen Ästhetik liegt vornehmlich darin, daß sie der KANiischen Bestimmung spezifisch ästhetischer Kommunikation einen historischen und soziologischen Ort gegeben hat." (II. 16) Hegels These vom „Ende der Kunst", auf der der Verfasser diese Deutung maßgeblich fußen läßt, eröffnet der Kunst, wie eingeräumt wird, aber zugleich ein bis dato unbekanntes Maß an Freiheit und Offenheit; „Gerade die Ausdifferenzierung der Kunst in der Moderne, ihr Partialwerden ..., löst sie von tradierten Zwängen moralischer, politischer oder religiöser Provenienz ab und entfesselt ihre Potentiale, die an keinem Wirklichkeitsbegriff, es sei denn ein ästhetischer, die an keinem technischen Regelbegriff, es sei denn ein eigengesetzter, eine Grenze finden müssen. Erst die ,Partialität' räumt der Kunst die Möglichkeit ein, unter den entlasteten Bedingungen ihres Systemstatus ,Realitätssimulationen' durchzuspielen und kommunikativ zu erproben, die ansonsten ... Gefahr laufen, als unzumutbare Tabuverletzung gewertet und zensiert zu werden." (II. 17) Eine weitere Leistung der Ästhetik Hegels und seiner These vom Ende der Kunst sieht PLUMPE neben der spielerischen Außerkraftsetzung von normativen Positionen anderer sozialer Systeme in seinem Hinweis auf die Möglichkeit der Selbstthematisierung der Kunst in Form der Besinnung auf ihre genuinen Gestaltungsmittel. Das Gewicht, das der Verfasser Hegels Reflexionen zu Fragen der Ästhetik beimißt, schlägt sich auch in der Tatsache nieder, daß die Ausführungen zu der durch ihn geleisteten „Historisierung ästhetischer Kommunikation" (I. 251), mit deren Darstellung der erste Band beschlossen wird, mit gut hundert Seiten das mit Abstand ausführlichste Kapitel innerhalb der beiden Bände bildet. Während im ersten Band KANT die Schlüsselfigur ist, von der aus die weiteren Positionen her erörtert werden, versucht PLUMPE im zweiten Band, vom Denken NIETZSCHES her den Fortgang ästhetischer Kommunikation im 20. Jahrhundert in den Griff zu bekommen. NIETZSCHE stellt sich als Leitfigur einer avantgardistischen Protestbewegung der Bestätigung der partialen Rolle einer institutionalisierten Kunst in der Moderne durch Hegel entgegen: Kunst soll nicht länger Teilsystem der Gesellschaft bleiben, wo sie, wie auch SCHOPENHAUER dies kritisiert, in ihrer Stellung abseits der lebensweltlichen Misere, als bloßes Quietiv fungiert, sondern in eine neue Praxis der Lebenskunst überführt werden. Auf dieser Linie liegt auch die ursprüngliche avantgardistische Kunstkonzeption des Marxismus, bevor sie in eine staatslegitimatorische Doktrin überführt wurde, wie PLUMPE insbesondere an MARX selbst sowie an BRECHTS Ausführungen über das Theater darlegt. Einen zweiten Aspekt von NIETZSCHES Kunstkonzeption sieht der Verfasser in dessen Plädoyer für die Ablösung der ihm dubios erscheinenden philosophischen Ästhetik durch eine wissenschaftliche

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Theorie der Kunst, die die eingeforderte generalisierte Lebenskunst fundieren soll. Antworten auf diese Forderung erkennt PLUMPE in FREUDS Ausführungen über die Genealogie des Schöpferischen und die Strukturierung der Artefakte. Aber auch GEHLENS Kunstanalyse betrachtet er als eine Antwort auf NIETZSCHES Forderung nach einer Verwissenschaftlichung der Kunstreflexion nun von anthropologischer und soziologischer Warte aus. Die Überführung von Kunst als Sonderwelt in Gesellschaftskunst, wie sie im Marxismus angestrebt wird und sich hier in einer programmatischen Abkehr von einem gesonderten ästhetischen Diskurs zeigt, sowie die Verwissenschaftlichung der Rede über die Kunst sieht PLUMPE historisch abgelöst durch die Wiederanknüpfung an die früheren Positionen einer ausdifferenzierten ästhetischen Kommunikation. Diese als „Wiederkehr philosophischer Ästhetik" apostrophierte Wendung wird bei LUKäCS, ADORNO und HEIDEGGER beobachtet. Dabei erkennt der Verfasser in den jeweiligen Positionen eine „Wiederkehr" im eigentlichen Sinne, nämlich eine „Reprise oder Variation schon einmal vollzogener Reflexionen" (II. 26). So knüpft LUKACS sowohl im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Kunst als auch im Blick auf seine Systemdifferenzierung bei Hegels ästhetischem Ansatz an; ADORNO wiederholt den der Romantik, wenn er die Kunst als Vermittlerin von Natur und Rationalität betrachtet und wenn er die geschichtliche Wirklichkeit mit dem utopischen Potential des Ästhetischen konfrontiert; HEIDEGGER schließlich verleiht der Kunst, wenn er in ihr ein Medium erkennt, in dem sich das Sein zeigt, aber zugleich auch verbirgt und das sich daher nicht zum ,Objekt' depotenzieren läßt sowie der Kommunikation über sie ein Potential, das an die Erhebung der Kunst zum ,Organon der Philosophie' durch SCHELLING gemahnt. Welche Perspektive eröffnet nun die aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ästhetik resultierende Betrachtungsweise der Kunst als Wirklichkeit ästhetischer Kommunikation für die Gegenwart? Dieser Frage widmen sich abschließenden knapp gefaßten Überlegungen betreffend die „Probleme der Theorie ästhetischer Kommunikation". PLUMPE sieht die aktuelle Funktion der Kunst in einer Funktionsdifferenzierung: Der Kunst bleibt von der HoRAZischen Konzeption des „prodesse et delectare", nachdem sie die Funktion der Belehrung an Wissenschaften und Religion abgetreten hat, die „Unterhaltung". Seiner Ansicht nach zeigt sich, „daß sich Kunst im Kontext der kontemporären Ausdifferenzierung freier Zeit exklusiv auf ,Unterhaltung' einstellt". Damit erteilt PLUMPE allerdings auch einer Konzeption der Autonomie der Kunst, die diese im „Wegfall jeder Funktion" erkennt, eine Absage. Die vielfältige Differenzierung der Kunstansätze in der Gegenwart trägt, vom Wahrheitsanspruch befreit, dem Umstand Rechnung, „daß die hohe Differenzierung des Publikums nach entsprechend vielfältigen künstlerischen Unterhaltungsstrategien verlangt". Er resümiert diese Deutung mit der Behauptung, der Wirklichkeit ästhetischer Kommunikation in der Moderne werde „die Funktionshypothese ,UnterhaItung durch interessante Werke' offenbar gerechter als jede programmfixierte Verengung auf Spezialitäten, mit denen man etwa avancierte Geister, Humanisten oder Gesellschaftskritiker beeindrucken mag". Den Gewinn des

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systemtheoretischen Ansatzes für die eingangs konstatierte Vielfalt des ästhetischen Materials, vor der andere theoretische Ansätze in ihrer jeweils perspektivbedingten Engführung des ästhetisch Relevanten bzw. Legitimen kapitulieren müssen, sieht PLUMPE darin, daß dieser es erlaubt, unabhängig von den Registern des Seins, die hier betroffen sein mögen, ästhetische Kommunikation pluralistisch verfolgen zu können - wenngleich er einräumt, daß „nicht alles gleich gut als Anlaß und Thema ästhetischer Kommunikation geeignet ist, und entsprechend präparierte, bereichsspezifisch zugeschnittene Artefakte gewöhnlich leichter als ,Werke' in Frage kommen als Steine, Astgabeln, Sandwüsten oder Packungsbeilagen". (II. 303 f) Versuch, der Ästhetik zwischen traditioneller (vorgeblicher) Orthodoxie und postmoderner Beliebigkeit vermittels der Systemtheorie einen mittleren Weg zu bahnen, ist informativ und in seinem Elan erfrischend. Die Lektüre bietet, trotz oder gerade auch wegen des thetischen Charakters der Darstellung, Einsichten in allgemeinere Zusammenhänge, die in Spezialstudien oft aus dem Blick geraten. Sie weckt und schärft in hohem Maß Problembewußtsein. Verschiedene Aspekte empfehlen die Ästhetische Kommunikation der Moderne so als Einführung in Grundfragen der Ästhetik weniger für Philosophen als für Geisteswissenschaftler, insbesondere Literaturwissenschaftler: Ihr Charakter eines Überblicks über Wegmarken der Ästhetikgeschichte sowie die - abgesehen von den gewöhnungsbedürftigen Termini der Systemtheorie - leicht verständliche Sprache und Darstellungsweise, die so gut wie keine philosophischen Vorkenntnisse fordert, schließt eine Lücke in der Studienliteratur. Ein Manko ist allerdings darin zu sehen, daß die ebenfalls jedem der Bände beigegebene Bibliographie für diesen Zweck entschieden unzureichend ist, zentrale Werke zu den aufgegriffenen Themenbereichen fehlen hier. Schwerer wiegen aber inhaltliche Aspekte. Ein Überblick, wie er hier vorgelegt wird, muß notwendig komplexe Zusammenhänge verkürzen. Dies wäre keineswegs problematisch, wenn insbesondere die angelegte systemtheoretische Brille, so erhellend sie auch in vielerlei Hinsicht wirkt, nicht in zentralen Punkten zu - mit aller Vorsicht gesprochen - entschieden diskussionsbedürftigen Deutungen führte. So wird beispielsweise Hegels Konzeption eines Systems der Philosophie ohne weiteres kurzerhand mit dem Systemverständnis von LEVI-STRAUSS und LUHMANN erläutert. Andere Beispiele, die philosophische Konzeptionen allzusehr als Stichwortgeber verwenden und auf für den eigenen theoretischen Zugriff zugeschnittene Schlagworte reduzieren, wären zu nennen. Schließlich bleibt auch die Engführung der ästhetischen Kommunikation in der Gegenwart auf die Funktion der mehr oder weniger geistreichen Unterhaltung, als deren Gewährsmann Hegel mit seiner These vom Ende der Kunst erscheint, zumindest in der Kürze, wie sie dargeboten wird, eine Verkürzung. Man fragt sich nicht nur, ob hier nicht allzu schnell Sein mit Sollen identifiziert wird, sondern auch, ob dies die notwendig zu ziehende Quintessenz aus der Beschäftigung mit den ästhetischen Reflexionen der historischen Autoren ist. Die Ausführungen zu den verschiedenen Denkansätzen bieten oftmals entschieden mehr konstruktiv fortzuführendes Potential, die geforderte Offenheit gegenüber der der Vielfalt der ästhetischen Ansätze in der Gegenwart eingeschlossen, als die PLUMPES

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Schlußbemerkungen des Verfassers es wahrhaben wollen. Nicht zuletzt Hegels Kunstphilosophie, die das Problem einer Institutionalisierung der Kunst unter den Bedingungen der Moderne ausdrücklich als sinnstiftend versteht, birgt Anknüpfungspunkte für eine ästhetische Konzeption, die die Funktion der Kunst gegenüber den Thesen der Romantiker zwar relativiert, aber eben auch nicht auf die bloßer Unterhaltung reduziert. Dies wäre dann auch in der Literatur- und Kunstwissenschaft zu bedenken. Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hagen)

Maurizio Pagano: Hegel. La religione e Lermeneutica del concetto. Napoli; Edizioni Scientifiche Italiane 1992. 245 S. (Biblioteca di Filosofia e Teologia. Saggi.) Auch unter Berücksichtigung des von den kritischen Editionen ermöglichten neuen Einblickes in die verschiedenen Perspektiven der Berliner ReligionsphilosophieVorlesungen mißt sich MAURIZIO PAGANO an dem immer noch unumgänglichen Dilemma der Beziehung zwischen dem absoluten Wert der religiösen Tradition und dem modernen Anspruch, an der Autonomie des Subjektes festzuhalten. Hier wird ein Knoten der Moderne wiedererkannt, der von Hegel eigentlich noch fester geknüpft wird, anstatt mit einem Schnitt gelöst zu werden. Im Einklang mit FACKENHEiMs Deutung von Hegels Religionsphilosophie will PAGANO genau die in diesem Knoten zusammengehaltene Spannung zwischen der universalistischen, logischformellen Öffnung der Vernunft und der existentiellen, konkret-hermeneutischen Verwurzelung in der individuellen Dimension bewahren. Deswegen bleibt für ihn Hegels Religionstheorie eine Aufforderung für die zeitgenössische Diskussion nicht nur theologischer Prägung. Der erste Teil („Die Frage nach der Religion", 15-106) bietet eine analytische Lektüre von Hegels ,Begriff der Religion'. Dabei wird deutlich, wie sich die Argumentation gleichzeitig von einer beweisenden und deskriptiven Intention leiten läßt, da sie sich „zwischen einer quasi phänomenologischen (im Sinne der Phänomenologie unseres Jahrhunderts) Profilierung der Hauptdimensionen religiöser Erfahrung und einer kritischen Analyse derselben bewegt" (34). Auch deswegen kann man PAGANO zufolge Hegels Religionstheorie weder als eine bloße Demystifizierung noch als eine Demythisierung abtun; sie wird vielmehr als eine „transmythologische und transsymbolische" Position gedeutet (104). Der zweite Teil („Geschichtliche Religionen und Philosophie", 107-183, teilweise schon erschienen) untersucht Hegels Auseinandersetzung mit der ägyptischen und mit der christlichen Religion. Im Pall der ägyptischen Religion wurde Hegel bekanntlich durch Diskussionen und Studien der Zeit angeregt, was aber nicht allein die „Öffnung und interpretative Fruchtbarkeit" seiner Deutung erklärt (128). Durch eine nähere Untersuchung der Texte auch in ihren Bezügen auf andere Systemteile

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wird besonders die Problematik des Symbols als ein wichtiger Argumentationspunkt herausgestellt, in dem das Ringen des Geistes und der Subjektivität mit der Animalität zum Ausdruck kommt, was gleichzeitig die Genese der göttlichen Objektivität und des Bewußtseins ermöglicht und parallel zu dem gesteigerten Interesse für die Anthropologie innerhalb der Berliner Philosophie des subjektiven Geistes und für die symbolische Kunst innerhalb der Ästhetik zu lesen ist. Der systematische Ort, an dem sich die christliche Religion situieren läßt, ist dagegen mit der Krise 4es modernen Bewußtseins in seiner absoluten Entzweiung zwischen Gefühl und Erkenntnis des unendlichen Wesens verbunden. Besonders die Problematik der Sünde als ,gewollte Endlichkeit', der Menschwerdung als absolute Verklärung des Endlichen und der Gemeinde als Verwirklichung der Versöhnung zwischen Einzelheit und Allgemeinheit werden im Licht der gegenwärtigen philosophischen und theologischen Reflexion aufgefaßt (etwa PAREYSON, RICCEUR, PANNENBERG). Auf jeden Fall „erweist sich der allgemeine Gott der Logik nur in der Religionsphilosophie als tatsächlich allgemein, weil er nur hier mit dem Extrem der Erfahrung der Endlichkeit sich verbindet" (172). Das erklärt auch die vom Autor behauptete „Identität der Identität und Nicht-Identität von Philosophie und Religion" bei Hegel, „was auch die Verknüpfung des logischen und hermeneutischen Momentes der Philosophie bestätigt" (177). Für das philosophische Denken der Gegenwart, das sich mit Hegels Versöhnung nicht ganz zufrieden stellen mag, schlägt PAGANO eine invertierte Lösung vor: „Weil wir die Untilgbarkeit der Andersheit anerkannt haben, wissen wir, daß das Symbol ein Vorrecht hat, vor ihm muß das Denken seine Ansprüche beschränken.... Für uns ist die Allgemeinheit nicht das erste, das in sich die Entzweiung generiert, um sich selbst zu spezifizieren; die Allgemeinheit ist vielmehr das zweite, das aus der Entzweiung und vor ihr entsteht, um sich selbst wiederzugewinnen" (181-182). Im dritten Teil („Eine Begegnung der katholischen Theologie mit Hegel", 185238, ebenfalls schon teilweise erschienen) wird schließlich STAUDENMEIERS Deutung von Hegels Religionsphilosophie als eine der ersten und wichtigsten Auseinandersetzungen der katholischen Theologie mit Hegel in ihrer philosophischen Relevanz und in ihrem weiterführenden Einfluß gewürdigt, der sogar bis HEIDEGGER und ScHELER reicht. Trotz der heftigen Kritik an der Vorherrschaft des logischen Elementes bei Hegel, was das System zur Ohnmacht verdammt, das Einzelne und die absolute Alterität Gottes, aber auch der endlichen und konkreten Wirklichkeit denken zu können, wird von STAUDENMEIER allerdings auch die Absicht Hegels anerkannt, dem Diskurs über Gott und die Welt einen vernünftigen und allgemeingeltenden Rahmen geben zu wollen. Eine solche Aufforderung bleibt nach PAGANO für die zeitgenössische philosophische Diskussion von großer Bedeutung, wenn man die Rechte der Freiheit, der Andersheit und der konkreten Individualität nicht auf Kosten eines Rückfalls in den Relativismus behaupten will. Gabriella Baptist (Roma)

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Hegel und die Möglichkeit einer spekulativen Theologie der Moderne Jörg Dierken: Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Ver-

hältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher. Tübingen: Mohr 1996. XIV, 476 S. (Beiträge zur historischen Theologie. Bd 92.) Paul Tillich: Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/32). Hrsg, von Erdmann Sturm. Berlin: de Gruyter 1995. XXI, 621 S.

I. Eine spekulativ konzipierte Theorie des Absoluten, wie sie mit dem Namen Hegels verbunden ist, und die pluralistische Moderne scheinen sich auf den ersten Blick einander auszuschließen. Markieren doch Pluralismus und Monismus der Vernunft Gegensätze, wie sie größer nicht gedacht werden können. Ein Blick auf die gegenwärtige philosophische Diskussion, die sich um die Stichworte „Abschied vom Prinzipiellen“ und „Nachmetaphysisches Denken" gruppiert, bestätigt diesen Befund ebenso, wie der schon sprichwörtlich gewordene Verwesungsprozeß des Geistes, nach dem Ende der idealistischen Systembildungen. Daß diese Meinung auf einer Fehlinterpretation der idealistischen Systeme und Hegels insbesondere fußt, bestätigen PAUL TILLICH und JöRG DIERKEN in ihren Arbeiten auf unterschiedliche Weise. So different beider Auseinandersetzung mit Hegel ist, handelt es sich bei TILLICH um eine im Wintersemester 1931/32 an der Frankfurter Universität gehaltene Vorlesung über Hegel und bei DIERKEN um eine systematisch-theologische Untersuchung über das Verhältnis von Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, so kommen doch beide darin überein, daß Hegels Theoriebildung prominenten Konzepten des zwanzigsten Jahrhunderts weit überlegen ist. TILLICH macht dies in seiner Vorlesung deutlich, indem er Hegels systematische Konzeption in den Diskurs der zwanziger Jahre einträgt und mit den Theoriebildungen der sogenannten dialektischen Theologie, der Lebensphilosophie, der Phänomenologie von HUSSERL bis HEIDEGGER sowie dem Personalismus BUBERS und GRISEBACHS konfrontiert und diesen Theorietypen gegenüber als überlegen erweist. DIERKEN zeigt in einem kritischen Durchgang durch die theologischen Theoriebildungen von KARL BARTH und RUDOLF BULTMANN, daß sie jeweils auf kategoriale Grundprobleme stoßen, welche sie mit den Mitteln ihrer jeweiligen Theorien nicht bewältigen können. Die immanente Interpretation der Denkergestalten BARTH und BULTMANN führt zu dem Sachverhalt, daß religiöser Vollzug und theologische Bestimmtheit eine irreduzible Duplizität bilden, welche nur um den Preis von willkürlichen Abstraktionen einseitig aufgelöst werden kann. Diesem Umstand Rechnung getragen zu haben, zeichnet die Systembildungen von Hegel und SCHLEIERMACHER aus, welche mithin das theoretische Potential bereitstellen für eine kategoriale Klä-

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rung des Verhältnisses von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit. Insofern sich beide Aspekte als unhintergehbar erweisen, so daß Identität für die Letztgeltung von Differenz steht, ist damit ein vernünftiger Umgang mit differenten Perspektiven möglich. Diesem Sachverhalt wird jedoch nur eine spekulative Theorie des Absoluten inne, so daß Pluralität durch eine Theorie des Absoluten nicht nur ermöglicht, sondern geradezu gefordert ist. Denn so sehr das Absolute als grundloser Grund der Freiheit von TILLICH und DIERKEN auf unterschiedliche Weise im Rahmen einer Theorie endlicher Freiheit thematisiert wird, so impliziert dieser Sachverhalt für beide die Konsequenz, daß Freiheit nur im individuellen Vollzug wirklich ist, der notwendig pluralistisch sein muß. Hegels theoretische Anstrengungen, darin kommen TILLICH und DIERKEN überein, bieten in einer kritischen Lesart ein begriffliches Instrumentarium, welchem eine Theologie der Moderne nicht entraten kann.

II. Mit dem Versuch einer kategorialen Klärung des Verhältnisses von Glaube und Lehre wendet sich die Untersuchung von DIERKEN einem zentralen theologischen Thema zu. Obwohl beide Aspekte nicht isoliert werden können, waltet doch zwischen beiden eine Differenz. Denn so sehr die theologische Lehre auf den gelebten Glaubensvollzug abzielt, ist sie nicht mit diesem identisch, und ein Religionsvollzug ohne theologische Bestimmtheit verflüchtigt sich in bloße subjektive Willkürlichkeit. Die hier waltende Disjunktion zwischen fides qua und fides quae, welche der philosophischen Grundrelation von Daß und Was oder von Existenz und Essenz entspricht, rekonstruiert DIERKEN durch das grundbegriffliche Disjunktionspaar von Vollzug und Bestimmtheit. Damit versucht er die cum grano salis scholastische Disjunktion von Existenz und Essenz unter den Bedingungen neuzeitlichen Philosophierens zu reformulieren. Mit diesem grundbegrifflichen Instrumentarium ergibt sich für die Untersuchung der Theoriebildungen von BARTH, BULTMANN, Hegel und SCHLEIERMACHER nicht nur ein höheres Komplexitätsniveau, sondern auch die Möglichkeit, Aspekte, die mit dem Thema Glaube und Lehre verbunden sind, über Positionsdifferenzen hinaus identifizierbar zu machen (11). Da DIERKEN die kategoriale Grundlage seiner eigenen Konzeption des Verhältnisses von Glaube und Lehre, wie sie im fünften Teil der Untersuchung angedeutet ist (417-4:52), in der Auseinandersetzung mit dem Denken Hegels gewinnt, beschränke ich mich im Folgenden weitgehend auf den Hegelteil seiner Studie (203-307). Angemerkt sei jedoch, daß DIERKEN Hegels Philosophiekonzept, welches auf seiner höchsten Spitze in der Gefahr steht, das Moment der Asymmetrie zwischen unmittelbarem Vollzug und Reflexion zu kassieren, um beide Momente in eine unmittelbare Identität zu überführen, durch SCHLEIERMACHERS stärker transzendentalphilosophisch orientierte Konzeption zu korrigieren versucht (308-416, bes. 317). Die Theologie KARL BARTHS (16-112) zeichnet sich nach DIERKEN dadurch aus, daß sie die Eigengeltung der theologischen Lehre gegen den religiösen Vollzug geltend

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macht. Diese einseitige Isolierung des Vollzugsmomentes von der theologischen Bestimmtheit führt jedoch dazu, daß sich BARTHS Theologie in bloßen Abstraktionen zu erschöpfen droht. So sehr das Interesse von BARTHS Theologie auch darin besteht, der theologischen Bestimmtheit, wie sie in der Lehre grundgelegt ist, einen Vorrang einzuräumen, so sehr bestätigt sie jedoch auch wider ihren Willen die Unreduzierbarkeit der beiden Aspekte von theologischer Bestimmtheit und religiösem Vollzug. Auch eine Theologie der absoluten Faktizität Gottes kann also des Bezugs auf Glauben und Sünde nicht entraten, wenn sie nicht in unbestimmte Abstraktionen verfallen will." (22) Von diesem Dilemma, welches aus einer einsinnigen Isolierung der Momente theologische Bestimmtheit und religiöser Vollzug resulüert, ist auch die Theologie RUDOLF BULTMANNS (113-202) gekennzeichnet. Im Gegenzug gegen BARTH macht BULTMANN den religiösen Vollzug gegen die theologische Bestimmtheit geltend und faßt den Gottesbegriff nach Maßgabe absoluter Aktualität. Damit gerinnt der Gottesgedanke in die Unbestimmtheit eines nackten Daß, die nicht für den Aufbau seiner Bestimmtheit einstehen kann. Um die Bestimmtheit des Gottesgedankens aufbauen zu können, muß daher immer schon auf eine Explikationsfolie rekurriert werden, welche nicht aus dem bloßen Daß abgeleitet werden kann. Somit bestätigt auch die Theologie BULTMANNS wider ihre Intentionen die Unreduzierbarkeit von theologischer Bestimmtheit und religiösem Vollzug. Nach dieser knappen Skizze der Positionen von BARTH und BULTMANN kann das systematische Problem des Verhältnisses von theologischer Bestimmtheit und religiösem Vollzug nun in seinem begrifflichen Gehalt expliziert werden. Läßt sich der Denkvollzug nur in der Bestimmtheit eines Gedankens vergegenwärtigen, so ist damit eine Differenz angezeigt, insofern das Denken selbst kein Gedanke ist, gleichwohl es Gedanken denkt. Der Gedanke verfehlt damit die Synthesisleistung, welche das Denken an ihm selbst ist, da das Denken nur in der Differenz Gedanke-Denken vergegenwärtigt werden kann. Die Einsicht, daß der Gedanke das Denken als vorgängige Einheitsleistung verfehlt, setzt jedoch schon eine Reflexion auf diesen Sachverhalt voraus, so daß eine einseitige Isolierung des unmittelbaren Denkvollzuges, welche gegen die Reflexion ins Felde geführt wird, nicht nur einer abstrakten Unbestimmtheit anheimfällt, sondern ebenso schon in einem gesteigerten Maße die Züge der Reflexion an sich trägt. Der produktive Umgang mit diesem Dilemma durch eine Integration dieser gegenläufigen Momente in eine Theorie des Geistes zeichnet nach DIERKEN die systematische Theorie der Philosophie Hegels aus, welche damit die kategorialen Mittel bereitstellt, welche den einsinnigen Theoriebildungen BARTHS und BULTMANNS nicht zur Verfügung stehen. Freilich markiert diese Lösung des Dilemmas der Reflexion erst die Position des reifen Hegel. In den Fragmenten der Frankfurter Zeit favorisiert Hegel, nach dem Scheitern einer an KANT angelehnten moralphilosophischen Religionstheorie, ein Vereinigungskonzept, welches die vorgängige Einheit des Lebens gegen die Reflexion zur Geltung bringt. Auch diese Religionskonzeption des jungen Hegel muß

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letztlich ihr Scheitern eingestehen, da sie immer schon uneingestandenermaßen von der Reflexion Gebrauch macht, insofern die Gestalt des Göttlichen, die als Vereinigung bestimmt ist, dem aktualen Vollzug entgegengesetzt ist (220). Ebenso wie der Gottesbegriff die Züge der Reflexion trägt, vermag Hegel nicht die Reflexion abzuleiten, welche er beanspruchen muß, um die Vereinigung von der Reflexion zu unterscheiden. Diesem Dilemma seiner eigenen frühen Religionstheorie trägt der Jenaer Hegel grundsätzlich Rechnung, indem er unmittelbaren Vollzug sowie Reflexion in einer spekulativen Geisttheorie integriert und damit als letztgültig anerkennt. Dadurch erhält er die begrifflichen Mittel, um einerseits dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, daß die Unterscheidung von Vollzug und Bestimmtheit immer schon Reflexion beansprucht, und andererseits eine Genese der immer schon beanspruchten Reflexion durchzuführen. DIERKEN diskutiert diese Systemkonzeption des Jenaer Hegel, welche für die systematische Endgestalt seiner Philosophie maßgeblich bleibt, unter zwei Aspekten. Einerseits fordert die Vereinigung der gegenläufigen Denkfiguren in einer spekulativen Theorie des Geistes eine Selbstanwendung der Reflexion auf sich selbst, wodurch der Übergang der Verstandesreflexion in Vernunft möglich wird (225), und andererseits fordert das Geistkonzept, daß die Differenz am Orte des Absoluten selbst statt haben muß (226). Denn ein nach Maßgabe absoluter Identität konzipiertes Absolutes birgt in sich den Widerspruch, daß es ob seiner Bestimmtheit immer schon eine Instanz beanspruchen muß, die nicht mit dem Absoluten unmittelbar zusammenfallen kann. „Gerade wenn das Absolute als absolute substantielle Einheit gedacht werden soll, zeigt sich, daß die Durchführung dieses Gedankens angewiesen ist auf ein aus dem Absoluten generiertes anderes, ßir das das Absolute absolut ist. Dieses andere relativiert die Exklusivität der Absolutheit des Absoluten." (232) In einer in sich konsistenten Argumentation rekonstruiert DIERKEN die logisch-kategoriale Struktur des Absoluten im Durchgang durch Seinslogik, Wesenslogik und Begriffslogik, wobei die Übergänge von der Idee zum Geist nachgezeichnet werden (229-243). Leitend ist hierbei die duplizitäre Struktur des Absoluten, welche eine zwiefältige Explikationsgestalt erfordert, damit die gegenläufigen Denkfiguren von unmittelbarem Vollzug und Reflexion nicht in einem Indifferenzkonzept kassiert werden. Denn das Absolute kann seine Eigenbestimmtheit nur dann haben, wenn sich an seinem Ort eine Relation zu einem anderen aufbauen läßt, für das das Absolute absolut ist. Ehirch den der absoluten Idee eingeschriebenen Für-Bezug ist das Absolute als Identität zugleich unhintergehbar Differenz. Im Ausgang von der auf der logisch-kategorialen Ebene explizierten Struktur der duo-monistischen Verfaßtheit des Absoluten rekonstruiert DIERKEN die Religionstheorie des reifen Hegel in der Sentenz von Theologie (244—267), Christologie (267284) und Pneumatologie (285-307). Die Unhintergehbarkeit der gegenläufigen Momente von unmittelbarem Vollzug und Reflexion, welche die Theorie des Geistes als letztgültig explizierte, muß auch in der Religion auftreten. Denn die Religion als Selbstbewußtsein des Geistes steht bei Hegel einerseits für die Sphäre des Geistes

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überhaupt und andererseits für dessen geschichtliche Realisierung. Die für den Geist konstitutive Asymmetrie dokumentiert sich in der Religion im engeren Sinne durch die Differenz von objektivem Gottesgedanken und subjektivem Gottesbewußtsein sowie in der Form der Vorstellung, welche eine Differenz von Vorstellendem und Vorgestelltem impliziert. Damit tritt jedoch die für den Geist ebenso konstitutive Symmetrie in den Hintergrund, wodurch die Religion ihr eigenes Wesen, nämlich Selbstbewußtsein des Geistes zu sein, hintertreibt. Denn der Geist realisiert seine Selbstidentität gerade dadurch, daß er sich von sich unterscheidet, indem er sich zu sich selbst verhält. Zur Bestimmtheit des Geistes ist eine mit seiner Identität nicht unmittelbar identische Duplizität vonnöten. Die Religion thematisiert damit das Selbst des Geistes am Ort seines anderen, indem sie selbst nichts anderes ist, als der Selbstvollzug des Geistes. Die gegenläufigen Denkfiguren von Vollzug und Bestimmtheit werden von Hegel so integriert, daß der Gottesgedanke an der Stelle des subjektiven Gottesbewußtseins und vice versa expliziert wird. Damit trägt Hegel, so DIERKEN, grundsätzlich dem Sachverhalt Rechnung, daß der Gottesgedanke nur um den Preis einer bloßen Abstraktion vom Religionsbegriff isoliert werden kann und wehrt damit einem objektivistischen Mißverständnis der Religion ebenso wie einem subjektivistischen. Die Lehre von Gott ist daher konsequent als Lehre von der Religion zu explizieren, wie umgekehrt die Lehre von der Religion als Lehre von Gott. Freilich wird die Symmetrie von Gottesgedanke und Gottesbewußtsein in der Religion im engeren Sinne durch Asymmetrien überlagert, welche aus der für die Religion konstitutiven Form der Vorstellung resultieren. Aus diesem Grunde muß die Sphäre der Religion überschritten werden in die „philosophische Philosophie", da die Religion mit der in ihr durch die Vorstellungsform bedingten Entzweiungsstruktur sich um ihre eigene Intention bringt. So sehr die Religion als Selbstbewußtsein des Geistes in ihrem Vollzug die Einheit von Gott und Mensch realisiert, so wenig kann sie ein Wissen um diesen ihren eigenen Vollzug ausbilden. Hegels Figur der Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff beabsichtigt daher alles andere als eine Destruktion der Religion, vielmehr „geschieht sie im Interesse einer Rettung der Religion vor dem ruinösen Ehialismus und seinem Niederschlag in einer widersprüchlichen Dogmatik" (296). Allerdings wäre diese Figur, wie DIERKEN unterstreicht, mißverstanden, wollte man sie im Sinne einer Ablösung eines invarianten Kernes von seiner zeitbedingten Hülle verstehen, wie es Hegel selbst mitunter suggeriert, wenn er auf eine sich durchhaltende Identität des Inhaltes in Religion und Philosophie rekurriert. In der Aufhebung der religiösen Vorstellung ist es vielmehr darum zu tun, die im religiösen Inhalt ausgesprochene Einheit mit der Form zu wahren. Die Philosophie leistet dies dadurch, daß sie in ihrem Vollzug die duo-monistische Struktur des Absolten expliziert (297). So sehr sich Hegels Konzeption dadurch auszeichnet, die duplizitäre Struktur des Absoluten in einer zwiefältigen Explikationsgestalt auszulegen, wie es auf der logisch-kategorialen Ebene der Logik grundgelegt ist, so sehr fällt Hegel in der Durchführung der Christologie und Pneumatologie hinter seine eigenen Intentio-

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nen, indem er die grundlegende duplizitäre Struktur einsinnig auslegt, ln der Christologie schlägt sich dies dadurch nieder, daß Hegel den Übergang von Jesus zu Christus an das Gemeindebewußtsein überweist, „aber mit der Ablehnung einer ,Beglaubigung' dieses Individuums die sachliche Frage der Beglaubigung an die Bestimmtheit der Idee adressiert" und damit nicht zeigen kann, „wie das Gemeindebewußtsein die für das Verständnis des Todes vorausgesetzte Einheit von ,Jesus' und ,Christus' hervorbringt" (283). Von dieser einsinnigen Auflösung der zweisinnigen Verfaßtheit der duo-monistischen Struktur ist auch die Pneumatologie Hegels sowie seine Konzeption der „philosophischen Philosophie" betroffen, insofern sie mit der Eskamotierung des Momentes der Asymmetrie eine unmittelbare Identität von Vollzug und Bestimmtheit suggeriert. Freilich stellt Hegels Theoriekonzept, wie es in der Logik grundgelegt ist, die begrifflichen Mittel einer Selbstkorrektur der einsinnigen Theoriedurchführung bereit.

III. Kann man davon ausgehen, daß die Endgestalt der Philosophie Hegels die systematisch-produktive Umgangsweise mit dem Dilemma der Reflexion in seinen frühen Schriften und seiner frühen Religionstheorie insbesondere darstellt, indem sie die gegenläufigen Elemente Vollzug und Bestimmtheit in einer spekulativen Theorie integriert und die begrifflichen Mittel bereitstellt, diese zwiefältige Struktur zu explizieren, so entwickelt PAUL TILLICH in seiner Frankfurter Vorlesung über Hegel eine andere Perspektive auf die Denkentwicklung Hegels. TILLICHS Wahrnehmung der Philosophie Hegels läßt sich stichwortartig durch den Gegensatz faktischer Vollzug und Logisierung charakterisieren, da er implizit die Jugendschriften und die Phänomenologie gegen die spätere Systemgestalt stark macht und in dieser nur noch eine Logisierung ursprünglich religiöser und theologischer Probleme erkennen kann (177). Freilich behandelt TILLICH in dieser Vorlesung nicht die Endgestalt von Hegels Philosophie, sondern beschränkt sich auf die 1907 von HERMAN NOHL herausgegebenen sogenannten theologischen Jugendschriften Hegels sowie auf die Phänomenologie des Geistes. Im Wintersemester 1931/32 hatte TILLICH neben der Vorlesung über den jungen Hegel noch ein Seminar über Hegels Enzyklopädie sowie ein Proseminar über ausgewählte Abschnitte aus Hegels Geschichtsphilosophie (zusammen mit seinem Quasi-Assistenten THEODOR WIESENGRUND ADORNO) angeboten. Der nun zugänglich gemachte Text der Hegelvorlesung bietet in 29 Vorlesungen nicht nur TILLICHS Manuskript der Vorlesung (A), sondern auch eine Nachschrift der jeweils gehaltenen Vorlesung (B). In den ersten vier Vorlesungen behandelt TILLICH Prägen des Niederganges des Hegelschen Systems sowie biographische Fragen, um sodann in einem ersten Teil (Vorlesungen 5-16) die von NOHL herausgegebenen Jugendschriften Hegels zu behandeln. In einem unmittelbar anschließenden zweiten Teil (Vorlesungen 16-29) wird die Phänomenologie des Geistes dargestellt. Die didaktisch äußerst durchdacht angelegte Vorlesung verfährt so, daß jeweils fortlaufend der

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Text Hegels von TILLICH vorgetragen wurde, um sodann der systematischen Entfaltung des Grundgedankens nachzugehen. In seiner Hegelinterpretation läßt sich TILLICH von der methodischen Maxime leiten, daß es unmöglich ist, „eine schöpfende Synthese aus der Summe der Elemente zu erklären. Man kann nur die Elemente feststellen. Aber der synthetische Akt selber ist nicht durch die Elemente bedingt, sondern ist das, was als schöpferisch Neues hinzukommt" (109). Damit trägt TILLICH grundsätzlich dem Sachverhalt Rechnung, daß Theorien nur individuell angeeignet werden können und mithin eine rein ideengeschichtliche Methode ebenso ungenügend bleibt wie eine rein problemgeschichtliche Methode. Freilich beabsichtigt TILLICH in seiner Vorlesung nicht, eine historisch-genetische Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Philosophie darzustellen, da er die Jenaer Schriften und Systementwürfe Hegels übergeht. Vielmehr ist es ihm um das systematische Potential der „Lebensphilosophie" Hegels zu tun, deren Ausarbeitung in der Phänomenologie er auf dem Hintergrund der Jugendschriften expliziert. Somit ergibt sich als Leitfaden seiner Interpretation Hegels dessen Umgang mit dem Problem der Reflexion im Rahmen einer umfassenden Lebensphilosophie. Dem entspricht es, daß TILLICH Religion und Politik als Grundpfeiler von Hegels Entwicklung ausmacht (75), deren angemessene Artikulation sich in einer doppelten Frontstellung gegen die Aufklärungstheologie und gegen den theologischen Supranaturalismus, wie ihn Hegel in Gestalt seiner Tübinger theologischen Lehrer kennengelernt hatte, ausspricht. „Die theologische Frage sofort als politische Frage gestellt zu haben, das ist das Merkwürdige des Hegelschen Denkens, besonders merkwürdig, weil es auf deutschem Boden geschieht." (111) Ist die Stoßrichtung von Hegels Religionstheorie darin zu sehen, daß sie sich ebenso gegen das subjektivistische wie das objektivistische Mißverständnis der Religion wendet, so impliziert dieser Gegensatz zugleich den politischen Gegensatz von Autonomie und Heteronomie oder von Autonomie und Positivität. Hinter diesen Gegensätzen verbergen sich die Gegensätze von Unmittelbarkeit und Reflexion und die Frage nach einer Synthese dieser abstrakten Gegensätze. Als Einheitsprinzip in Hegels frühen Fragmenten aus der Berner Zeit macht TILLICH die Volksreligion aus, welche für eine unmittelbare Einheit von Vernunft und Sinnlichkeit steht (115). Der systematische Leitbegriff Volksreligion, dessen entscheidendes Charakteristikum im Begriff der Liebe als unmittelbare Einheit von Vernunft und Empirie von Hegel gesehen wird, vermag jedoch insofern nach TILLICH nicht zu überzeugen, da die Frage nach einer angemessenen Explikationsgestalt des Vereinigungsprinzips mit den Hegel zu dieser Zeit zur Verfügung stehenden begrifflichen Mitteln nicht beantwortet werden kann. Auch wenn TILLICH diesem Problem nicht explizit nachgeht, so ist doch seine Darstellung der Jugendschriften an Hegels Ringen mit dem Reflexionsproblem orientiert. Denn so sehr Hegel in der Wahrnehmung TILLICHS das Absolute an den individuellen Vollzug bindet, so daß „das Unbedingte in mir... meine Freiheit" (158) ist, so wenig ist doch dieser unmittelbare Vollzug als solcher zu explizieren, sondern nur in der Sphäre der Reflexion zu vergegenwärtigen. Ein Absolutes, welches auf Grund der Reflexionsdifferenz ,mir' gegenübersteht, vermag jedoch

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niemals als Konstitutionsgrund von Subjektivität gedacht zu werden, sondern zergeht selbst ob seiner internen Widersprüchlichkeit. ln dem Maße, wie sich Hegel von der Religionstheorie KANTS löst und die Begriffe Liebe und Leben eine zentrale systematische Schlüsselstellung erlangen, vermag Hegel Auskunft zu geben über eine Vergegenwärtigungsweise des Vereinigungsprinzips, welche nicht in der Reflexion zergeht. Diese erblickt Hegel nach TILLICH im Gefühl, freilich nicht in einem besonderen, sondern in der Einheit der einzelnen Gefühle. „Es ist ein Wort, in dem der Versuch gemacht wird, das Ausgedrückte, nämlich das Leben, darin das Leben sich selber lebt, ohne einen Sinn der Reflexion sich als Objekt gegenüberzustellen. Dies unmittelbare Sich-selber-Haben des Lebensprozesses, dies Lebnis, ist es, worum es Hegel geht." (209) Mit dieser Position, wie sie sich in den Frankfurter Fragmenten artikuliert, steht Hegel in der Sicht TILLiCHs an der Schwelle zu seinem späteren System, wie es in der Phänomenologie grundgelegt ist. Denn nicht nur hat er eine Vergegenwärtigungsweise der Synthesis a priori namhaft gemacht, sondern vielmehr es auch vermocht, der Reflexion einen Ort zuzuweisen, in dem „zum erstenmal bei Hegel ausdrücklich dem Prinzip der Entgegensetzung sein Recht" (211) eingeräumt wurde. Freilich entgeht TILLICH mit dieser Einschätzung, welche für seine Sicht der Philosophie Hegels insgesamt signifikant ist, die Aporetik der Lösungsversuche des Frankfurter Hegel. TILLICH sieht die Pointe von Hegels Lösung gerade darin, daß die Synthesis a priori den systematischen Status eines Faktums hat, so daß das Zugleich von Einheit und Differenz immer schon für das begreifende Denken selbst unergründbar in Anspruch genommen wird. Damit entgeht ihm, daß Hegel seine ganze theoretische Anstrengung darauf verwendet hat, das Faktum der Synthesis a priori an ihm selbst zu denken, ln dieser Sicht Hegels ist es auch begründet, daß TILLICH in der Endgestalt der Philosophie Hegels nur eine Logisierung der ursprünglich rehgiös vergegenwärtigten Faktizität der Synthesis a priori erblicken konnte. Die Stärke des Hegelschen Lebensbegriffes liegt für TILLICH darin, daß er die Reflexion immer schon unableitbar impliziert, ln dieser Einschätzung, welche einen abstrakten Dualismus von Leben und Geist überwindet, trifft sich TILLICH mit der Sicht ERNST CASSIRERS, der in seinem 1930 erschienenen Aufsatz „ ,Geist' und ,Leben' in der Philosophie der Gegenwart" den Lebensbegriff Hegels kritisch gegen die zeitgenössische Lebensphilosophie zum Zuge bringt. Indem nämlich Hegels Lebensbegriff die Momente zu integrieren vermag, die in der modernen Lebensphilosophie auseinanderbrechen, erweist er sich diesen gegenüber als überlegen. Setzt doch die abstrakte Gegenüberstellung von Leben und Geist diesen immer schon voraus. Mit der Einsicht in die Faktizität des zwiefältig verfaßten Lebens hat Hegel nach TILLICH die systematisch gedankliche Grundlage für die Phänomenologie des Geistes zur Verfügung, da der so strukturierte Lebensbegriff sowohl dem kritischen Dualismus KANTS als auch dem Monismus SPINOZAS Rechnung zu tragen vermag. Denn das Leben ist dadurch mit sich identisch, daß es sich von sich selbst unterscheidet, wobei jedoch diese Duplizität nicht unmittelbar identisch mit der Selbstidentität des Lebens sein kann, wenn anders Einheit und Differenz unhintergehbar

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sein sollen. Der dem Leben interne Für-Bezug kann dadurch auch nicht unmittelbar mit dem Wissen um diesen Für-Bezug zusammenfallen, wie es für das Selbstbewußtsein als Form des Geistes konstitutiv ist. Der Faktizität der duplizitären Einheit, welche das Leben auszeichnet, entspricht daher die Unableitbarkeit des Selbstbewußtseins, wie es sich in der gedoppelten wechselseitigen Anerkennung konstituiert. Der Geist als Prinzip des Systems kann daher nur durch den Durchgang der Bewußtseinserfahrungen für sich das sein, was er an sich ist, nämlich Wissen des Lebens um sich als Leben. Unmittelbarer Vollzug und Reflexion erweisen sich somit als faktisch unhintergehbar. Ein Prinzip absoluter Identität stellt demgegenüber ebenso eine einsiniüge Abstraktion dar wie ein Dualismus. Denn ein absolut identisches Prinzip müßte sich in völliger Bestimmungslosigkeit erschöpfen. „Hegel macht also den Versuch, den Dreitakt für sich selber, in seiner eigenen Entwicklung aufzuweisen. Zuerst KANrianismus oder Protestantismus: das duale Dasein der Aufklärung, dann der Einbruch des spinozistischen Prinzips aus der mystischen Tradition, und drittens der Versuch von Hegel, auf der einen Seite jenes Identitätsprinzip aufzunehmen, die Entgegensetzung der Aufklärung aufzulösen, und auf der andern Seite der Wille, doch nicht zu versinken in die Nacht der Identität." (377 f) Ausgehend von dieser unreduzierbaren Duplizität, wie sie in dem Lebensbegriff grundgelegt ist, rekonstruiert TILLICH den Gang der Phänomenologie des Geistes. Freilich wendet TILLICH aus einsichtigen Gründen mehr Zeit der „Vorrede" der Phänomenologie des Geistes zu (332, 343-427, 434) als dem eigentlichen Werk, so daß er gegen Ende der Vorlesung große Teile der Phänomenologie gewissermaßen im Schnelldurchlauf darstellen muß (430, 441-581, 596). TILLICHS Darstellung der Philosophie Hegels, welche die Unableitbarkeit der Differenz aus der Einheit und vice versa betont (396,457), steht in eigentümlicher Spannung zu der Deutung von Hegels späterer Systemgestalt als „klappernder Mechanismus" (368). Indem TILLICH Hegels ScHELLiNckritik aus der Phänomenologie an Hegels späteres System weiterreicht, wird nicht nur deutlich, daß seine Sicht der Philosophie Hegels durch Einsichten der Spätphilosophie SCHELLINGS motiviert ist, sondern auch, daß TILLICH mitunter einer vulgärhegelschen Deutung aufgesessen ist, der Hegel freilich zum Teil selbst Vorschub geleistet hat. TILLICHS Interpretation der Philosophie Hegels, die völlig auf eine Auseinandersetzung mit der Hegelforschung verzichtet, ist daher auch eher durch dessen eigene systematische Fragestellungen motiviert, und in dieser Hinsicht ist die Vorlesung über Hegel äußerst erhellend. Nicht nur, daß in dem nun zugänglich gewordenen Text TILLICHS Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels in einem größeren Umfang erkennbar wird, sondern vielmehr, daß TILLICH in dieser Vorlesung zentrale Begriffe seines eigenen Systems in einer argumentativen Breite entfaltet, wie sonst nirgends. Christian Danz 0ena)

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Marcello Monaldi: Storicitä e religione in Hegel. Pisa: Edizioni ETS 1996.

252 S. Daß man Hegels Philosophie in allen ihren Teilgebieten wohl als ein zusammenhängendes „System", jedoch keineswegs im Sinne der bloß mechanischen „Anwendung" von feststehenden theoretischen Ansätzen auf die „Tatsachen" zu verstehen hat, gehört zu den bedeutendsten Erträgen der neueren Hegelforschung, die besonders durch die Untersuchung der in der letzten Zeit herausgegebenen Vorlesungen bzw. Vorlesungsnachschriften angeregt worden ist. ln einem solchen Rahmen bietet dieses ohnehin empfehlenswerte Buch eine umfangreiche Darstellung der Wandlungen, die Hegels Auffassung der Religionsgeschichte (vor allem die systematische Einordnung der vor- und nichtchristlichen Religionen) in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion erfuhr. Bekanntlich hat Hegel seine Religionsphilosophie (und damit zusammen seine Betrachtung der Religionsgeschichte) viermal vorgetragen. Nur das Kollegmanuskript vom Jahre 1821 liegt in kritischer Ausgabe vor. Von den Vorlesungen 1824 und 1827 ist aber eine durch W. JAESCHKE besorgte Kollation der bisher aufgefundenen Nachschriften (Hamburg 1983 ff) veröffentlicht worden. Somit verfügt man zur Zeit über eine zureichende und philologisch gut ausgestattete Quellenlage, um die Entwicklung dieses Sondergebiets anhand von Hegels Lehrtätigkeit zu verfolgen. ln der „Einleitung" setzt sich MONALDI mit den am meisten diskutierten Problemen der Hegelforschung auseinander: dem Verhältnis zwischen Logik und Realphilosophie, der relativen Selbständigkeit der Sondergeschichten innerhalb der Geistesgeschichte und der Präge nach dem sogenannten „Ende" der Geschichte selbst. Aufgrund der Tatsache, daß der Verlauf der Vorlesungen sich nicht immer und nicht ganz mit der begrifflichen Gliederung der Wissenschaft der Logik deckt, muß zunächst die Möglichkeit erwogen werden, ob nicht die logischen Kategorien in Anbetracht der geschichtlichen Wirklichkeit einer gewissen Umgestaltung oder gar Änderung ausgesetzt sind (36-38, mit Verweis u. a. auf die Arbeiten von FULDA und A. Nuzzo). Dies ist nach der Ansicht des Verfassers nicht als ein Scheitern des „Systems" als solchen und ebensowenig aus Hegels Unzulänglichkeit, die Überfülle des historischen Materials zu bewältigen, sondern eher daraus zu erklären, daß Hegel die Vertiefung der religiösen Phänomene am Leitfaden des Geistesbegriffs (mit dessen reicheren und dynamischeren Anwendungsfähigkeiten) einer nur starren Bezugnahme auf das Gefüge der Logik vorgezogen hat (51). Darüber hinaus weist MONALDI mit Recht darauf hin, daß das Religionsgeschichtliche in den Vorlesungen nie als bloß systemstörendes Datum hingenommen sondern stets um eine jeweils verschiedene Leitidee gesammelt bzw. durch ein je verschiedenes „Bauprinzip" angeordnet wird (193,217). Die zentrale Stellung des Geistesbegriffes beim späten Hegel vermag auch die relative Selbständigkeit der Teilgeschichten des absoluten Geistes (Kunst, Religion und Philosophie) mit ihren unterschiedlichen Abläufen und Abstufungen verständlich machen: solche Unterschiedlichkeiten schließen nämlich eine begründete Einheit nicht aus, da in jeder von ihnen die Fortbewegung des Gei-

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stes als Steigerung der Freiheit eingesehen werden soll (78). Was das „Ende" der Geschichte anbelangt, so erweist sich eben darum nach MONALDI (übereinstimmend mit den Ausführungen von K. R. MEIST) die Annahme unhaltbar, es sei nach der Meinung Hegels kurz und bündig mit dem preußischen Staat zu identifizieren (9091). Im Hauptteil des Buches beleuchtet der Verfasser die hermeneutische Anlage von jeder der nacheinander folgenden religionsphilosophischen Vorlesungen der Berliner Jahre, soweit sich hierin Hegels Auffassung der vor- und nichtchristüchen Religionen in mehrfachen Variationen bekundet. Dabei ist die bereits erwähnte Arbeitsweise Hegels bemerkenswert, jedesmal aufgrund eines neuen Bauprinzips die geschichtliche Stellung der Volksreligionen zu verstehen, was eine ganz eigentümliche Offenheit und Plastizität seines „Systems" erkennen läßt. Da die Verschiedenheit der Vorlesungen an mehreren Stellen sehr eingehend und detailliert untersucht wird (44,127,187,191 f, 195 f, 221), kann sich der Rezesent kurz fassen und sich nur auf die Wesenszüge beschränken. Das Kollegsmanuskript 1821 steht der Wissenschaft der Logik ziemlich nah (wenn auch die Übereinstimmung nicht ins Einzelne geht), da die Gliederung der religiösen Begebenheiten nach den logischen Bestimmungen von Sein, Wesen und Begriff ausgeführt wird (122). Die Vorlesung 1824 weist indessen ein „phänomenologisches" Merkmal auf, indem die Dreiteilung der Religionsgeschichte auf den Grundbegriffen „Bewußtsein" und „Selbstbewußtsein" beruht: das Verhältnis zum Absoluten ist also immer als „Bewußtsein" vorhanden, und es geht Hegel darum, zu zeigen, wie dies in den verschiedenen Religionen entweder oberflächig oder tief ins „Selbstbewußtsein" eingeht (152), bzw. wie jedes phänomenologische Niveau die Selbstvermittlung des göttlichen Wesens zum Erscheinen bringt (159; 169): „Die der Religion als Offenbarung des Absoluten eigentümliche Beziehung zwischen Wesen und Erscheinung wird somit nicht anhand der logischen Begriffe artikuliert, sondern je nach den verschiedenen Weisen, wie sich die Erscheinung des Göttlichen dem Geist offenbart" (164). ln der Vorlesung 1827 konzentriert sich Hegel eher auf die Entwicklung des Geistes, welcher fortschreitend durch die Welt der Religionen als „Trennung von der Natürlichkeit" und als „Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen" erwächst. Nach MONALDI „ist er nicht mehr daran interessiert, die Art und Weise der Selbstbestimmung des göttlichen Wesens für das Bewußtsein d. h. sein Erscheinen zu fassen, sondern - über die phänomenologische Betrachtung hinaus - die Verweigerung der Natur als grundsätzliches Kennzeichen des geistigen Selbstbewußtseins, insoweit es frei ist, hervorzuheben" (194). Nach einem Eragment des Jahres 1831 kann man schließlich vermuten, die Vorlesung jenes Jahres hätte weitere Ansichten in Hegels Konzeption der Religionsgeschichte eingeräumt: zunächst eine erneute Verwendung der Beweise vom Dasein Gottes (zuerst 1821) in Entsprechung zu den verschiedenen Religionsformen (221), zweitens die Auseinandersetzung mit dem Problem des sogenannten „Pantheismus" (222), drittens die zentrale Stellung, die jetzt der Gedanke des „Todes Gottes", also der Menschwerdung, einnimmt (229).

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Innerhalb all dieser Wandlungen der Perspektive ist es zu erwarten, daß sich auch die philosophische Beurteilung der einzelnen Volksreligionen je nach dem gewählten systematischen Orientierungspunkt ändert. Wie oft Hegel seine Einordnung und Einschätzung der wichtigsten religionsgeschichtlichen Phänomene anders verstanden hat, wird von MONALDI genauestens beobachtet und der jeweils entsprechende Grund überzeugend erklärt. So werden z. B. die griechischen Göttergestalten 1821 zunächst negativ als Zeichen eines schlechten Individualismus bewertet, 1824 indessen positiv im Sinne der „geistigen Individualität" (143; 177) gesehen, wobei darüber hinaus das Motiv der göttlichen „Weisheit" hineinspielt (175). Ägypten wird allmählich ab 1824 dem Orient entzogen und 1827 zur Übergangsphase zwischen den östlichen Religionen und Griechenland bestimmt (133; 208). In ähnlicher Weise hat auch der Parsismus in den späteren Vorlesungen eine „fortgeschrittene" Stellung bekommen. Umgekehrt hat Hegel 1827, im Unterschied zu den früheren Vorlesungen, dem Brahmakult Indiens eine negativere Rolle zugewiesen, weil hier die gottmenschliche Identifizierung (dem Bauprinzip dieser Vorlesung gemäß) keine eigentliche „Erhebung" vom Endlichen zum Unendlichen unter Voraussetzung ihrer Verschiedenheit zuläßt (200). Nur in bezug auf die römische Religion hat Hegel fast immer noch wenig Sympathie gesprochen, was aber in gewisser Hinsicht der Tatsache zuwider steht, daß Rom als dem unmittelbaren Vorläufer des Christentums doch eine relativ hohe Stellung zugeschrieben werden müßte (146-147). Von außergewöhnlichem Interesse scheint m. E. die Feststellung zu sein, daß in der Vorlesung 1827 die jüdische Religion seltsamerweise der griechischen, dann aber 1831, wie sonst immer, die griechische wieder der jüdischen aufgestuft wurde (139; 204); ein Ausnahmefall in der ganzen Religionsphilosophie des deutschen Idealismus, wenn hier das Judentum als weiter reichende „Erhebung" des Geistes nach der „Versöhnung", die die Griechen darstellen, betrachtet wird. Aldo Magris (Triest)

Hegel: fenomenologia, logica e sistema. Hrsg, von Giovanni Matteucci. - In: Discipline filosofiche. Firenze: Vallecchi. 5 (1995), N. 1.160 S. Wie MATTEUCCI im Vorwort (7-12) erklärt, soll dieser Sammelband ein Inventar der Schwerpunkte der heutigen Auseinandersetzung mit dem Denken Hegels bieten. Der Leitfaden der in diesem Band zusammengefaßten Aufsätze ist der Versuch, die Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit von Hegels Auffassung des Systems der Philosophie durch die Auseinandersetzung mit dem Problem des Verhältnisses zwischen logischem Aufbau und historischer Mannigfaltigkeit darzustellen. Der erste Aufsatz O. PöGGELERS „Impostazione e costruzione della Fenomenologia" (13-46) ist die italienische Übersetzung der deutschen Fassung „Ansatz und Aufbau der Phänomenologie des Geistes", die im Journal of the Faculty of Leiters, The University of Tokyo (Bd 13 [1988], 11-36) erschienen ist.

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Aus der zeitgenössischen Wiederstellung der Frage über den Sinn der Geschichte, versucht H.-C. LUCAS im Artikel über „Die dialektische Deduktion der Kategorien und die sogenannte vormalige Metaphysik" (47-62) die Zwiespältigkeit zu durchdringen, in der bei Hegel das Problem der Beziehung des Logischen zu dem geschichtlichen Fortgang entsteht. Problematisch ist vor allem die Hegelsche Auffassung des Wahren als etwas Ewigen, das von der zeitlichen Dimension der Vergänglichkeit und der Vergangenheit gesondert aufgefaßt wird, aber ebensosehr immanent im Vergehen des geschichtlichen Daseins ist. LUCAS zeigt zuerst die verschiedenen Gestalten, die die Dialektik von logischer Wahrheit und Zeit an unterschiedlichen systematischen Stellen annimmt, wo Hegel sich mit dem Begriff der Zeit auseinandersetzt. Insbesondere unterstreicht er, wie der Zeitbegriff am Ende der Phänomenologie mit der Behandlung der Zeit in der Enzyklopädie übereinstimmt, sofern die negative Macht der Zeit weiterhin als ein Vergehen und ein Annihilieren der nur äußerlichen Seite der Wirklichkeit aufgefaßt wird. Danach stellt LUCAS die Frage, wie diese Problemstellung Hegels auf seine gesamte Auffassung der Geschichte der Philosophie zurückwirkt, insbesondere auf die Auseinandersetzung mit der vorkritischen Metaphysik und KANT. Der Aufsatz von K. J. SCHMIDT „Über den Ursprung und Struktur der Dialektik des Scheinens bei Hegel" (63-90) hebt Probleme hervor, die in der Forschung bisher außer acht geblieben sind. Die Hauptthese ist folgende: nur in der letzten Stufe der Entstehung der Wesenslehre hätte Hegel die eigentliche Dialektik des Wesens als Dialektik des Scheins entwickelt; diese Dialektik hätte er aus dem Eeld der Religionslehre aufgenommen. Nach SCHMIDT soll Hegel im Eebruar 1812 noch das meiste des zweiten Buchs der Wissenschaft der Logik geschrieben haben. Die GymnasialKurse über Rechts-, Pflichten- und Religionslehre von 1810 ff. für die Unterklasse und über die Religionslehre für die Mittel- und Oberklasse von 1811/12 und 1812/13 wären also vor Hegels endgültiger Eassung der Wesenslehre geschrieben worden und wären eine Vorverlegung deren eigentümlicher Dialektik. Diesen Hypothesen, auf die SCHMIDT die Hauptthese seines Aufsatzes gründet, sind mehrere Einwände entgegenzusetzen. Insbesondere muß man fragen, ob es unwahrscheinlich ist, daß Hegel bis Februar 1812 über keinen Entwurf zur Wesenslehre verfügte, deren Druck schon im folgenden Monat angefangen wurde (vgl. den Bericht Hegels am Abschluß der „Vorrede" zur Wissenschafl der Logik). SCHMIDT hält überhaupt die Logikkurse für vorläufige Entwürfe der Wissenschaß der Logik; dem muß man aber entgegenhalten, daß Hegels Arbeit an diesem Werk nicht später, sondern teils gleichlaufend zu den Kursen war. So können wir noch Hegels Nürnberger Hauptabwandlungen in seiner spekulativen Logikauffassung in diesen Kursen beobachten; aber die Wissenschaß der Logik ist nicht unmittelbar aus diesem, nach Paragraphen geordneten und zusammengefaßten Material entwickelt worden. Die Fragmente, die als Dokumente eines Vorentwurfs der Begriffslehre im Anhang des Bandes 12 der Gesammelte Werke herausgegeben worden sind, müßten vor solchen vorschnellen Erwägungen warnen. Die Analyse der Entstehungsgeschichte der Wesenslehre wird überhaupt durch das Studium des Vörkom-

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mens von Stichwörtern in der chronologischen Reihe der Schriften Hegels von SCHMIDT fortgeführt. Solche entwicklungsgeschichtliche Forschung über die Entstehung der Wissenschaft der Logik, die sich auf die alten Editionen der Nürnberger Schriften Hegels stützt, ist außerdem heutzutage unzulänglich und muß in Beziehung auf die in Berlin und in Nürnberg vorhandenen Nachschriften der Gymnasialkurse systematisch entwickelt werden. In ihrem Artikel über „Die Realität des Wesens und sein Begriff" (91-104) setzt sich G. BAPTIST mit dem letzten Abschnitt der Wesenslehre auseinander, der in der Sekundärliteratur über die Wesenslehre bisher am meisten vernachlässigt worden war. Im Gegensatz zu den Interpreten, die eine Revision oder sogar die Beseitigung dieses Systemteils für notwendig halten, will BAPTIST die systematische Kohärenz der Hegelschen Thematisierung der „Wirklichkeit" in dem gesamten Aufbau der Wesenslehre aufzeigen. Sie zeigt, wie die Hauptbestimmungen der Wirklichkeit, als „formelle Zufälligkeit", „reale Notwendigkeit" und „absolute Notwendigkeit" sich als Meta- oder Hyperkategorien erweisen; einerseits drücken sie in sich alle die vorhergehenden Grundbestimmungen nicht nur der Wesenslehre sondern auch der Seinslehre aus, andererseits weisen sie auf die freie Tätigkeit des Begriffs als wahrhafte Wirklichkeit hin. Wie Hegel FICHTES und SCHELLINGS Auffassungen der Anschauung auf eine neue spekulative Grundlage durchdenken will: dies ist das Thema des umfangreichen Aufsatzes von P. MASCIARELLI „Hegels Anschauungslehre" (105-140). Er betont, daß Hegels Bestimmung der Anschauung an Schellings Perspektive anzugleichen ist, nach der der Zugang zum Objekt an sich nur möglich ist, insofern das Objekt als an sich „tätig" gedacht wird. MASCIARELLI zeigt, wie die intellektuelle Anschauung in der Wissenschaft der Logik und in der Enzyklopädie dem Begriff als solchen angeglichen wird als das reine, absolute Wissen. In Hegels spekulativer Logik, dies ist die Hauptthese von MASCIARELLI, gibt es keine Ablehnung der intellektuellen Anschauung; sie wird im Gegenteil als begreifende Anschauung gedacht. Fraglich bleibt aber immer noch, ob man in Beziehung auf Hegels spekulative Logik eigentlich von einer „Anschauungslehre" sprechen kann oder ob wir dabei nicht vielmehr eine systematische Aufhebung der Anschauung, die als Form der Unmittelbarkeit begriffen wird, in dem absoluten Fortgang des Denkens feststellen. Außerdem wird hier auf die effektive Behandlung der Anschauungslehre Hegels, die als erste Stufe des theoretischen Geistes in der Psychologie dargestellt wird, kein Hinweis gegeben. Wie stellt Hegel das Problem des systematischen Zusammenhangs von der Form des Logischen und der Mannigfaltigkeit der Formen der Wirklichkeit? Von dieser Frage geht A. Nuzzo in „Denken und Realität in Hegels Idee der Logik als Grund des Systems der Philosophie" (141-160) aus, die sie durch die Auseinandersetzung mit Hegels Auffassung des Logischen als „objektives Denken" zu beantworten sucht. Die Idee kann „absolut" genannt werden, erst wenn sie als die vernünftige Seele der wirklichen Formen der Natur und des Geistes gewußt wird. Die Logik ist damit nicht nur die „erste" philosophische Wissenschaft, sondern ebensosehr die

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„letzte". Die Logik, wie sie von Hegel am Ende des enzyklopädischen Systems thematisiert wird, ist aber nicht dieselbe wie die methodische Grundlage, die als erstes, begründendes Moment des Systems dargestellt wurde. Am Ende der systematischen Entwicklung der Philosophie durch die reellen Formen der Natur und des Geistes, muß sich, so betont Nuzzo, auch das Logische irgendwie als „modifiziert" oder „erweitert" ergeben. Diese Modifizierung oder Erweiterung ist eine Bestimmung der logischen Form in der Realität; dies ist keine „Anwendung" oder „Wiederholung", sondern eine „Bewährung" und „Verwirklichung" des Logischen selbst. Die Verwirklichung einer logischen Form in verschiedenen reellen Gestaltungen ergibt sich nicht nur als eine Verkörperung, sondern auch als eine Veränderung dieser Form: die eigentliche Veränderung einer logischen Form in ihrer besonderen Manifestation in der Realität, das ist die Hauptthese dieses Aufsatzes, macht einen Bestandteil dieser logischen Form selbst aus. Hegel will nicht die Allgemeingültigkeit der logischen Form in der Realphilosophie erweisen, sondern zeigen, wie diese Allgemeinheit immer eine Selbstbesonderung ist, und nur auf diese Weise, kann sie sich als konkrete Allgemeinheit verwirklichen. Nuzzo betrachtet dann drei paradigmatische Einwände, die gegen die Hegelsche Auffassung vom „objektiven Denken" von SCHELLING, FEUERBACH und TRENDELENBURG formuliert worden sind. Nach Nuzzo treffen diese Einwände das Problem nicht, indem sie eine schlechthin andere Bedeutung der Begriffe von „Denken" und „Realität", „Abstraktion" und „Wirklichkeit" als Hegel annehmen und indem sie die Eigentümlichkeit von seiner spekulativen Logik im Vergleich mit der klassischen Logiklehre, der sie verbunden bleiben, nicht verstehen. Sieht man einmal von einigen Ungereimtheiten im Italienischen ab, die wahrscheinlich den Übersetzern zuzuschreiben sind, so geben die meisten Aufsätze dieses Bandes instruktive und anregende Interpretationen zu den philosophischen Hauptwerken Hegels. Daß die Aufsätze reich an bibliographischen Hinweisen sind, ist besonders hervorzuheben. Paolo Giuspoli (Bochum/Verona)

Politik und Geschichte. Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels ReformbillSchrift. Hrsg, von Christoph Jamme und Elisabeth Weisser-Lohmann. Bonn: Bouvier 1995.315 S. (Hegel-Studien. Beiheft 35.) Der vorliegende Band, der aus einem interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophen und Historikern hervorgegangen ist, dokumentiert eine Tagung mit Beiträgen von P. WENDE, W. STEINMETZ, A. WIRSCHING, G. LOTTES, M. J. PETRY, H. BRANDT, N. WASZEK, E. VOLLRATH, H. CHR. LUCAS, H. WILLIAMS, N. MADU, S. SKALWEIT, E. WEISSER-LOHMANN. Im folgenden werden die Beiträge, die C. JAMME mit einer Einleitung versehen hat, nicht einzeln besprochen, sondern es wird versucht, einen thematischen Gesamtüberblick zu geben.

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Hegels Schrift Über die englische Reformbill gehört zu denjenigen, in welcher spätere Generationen von Interpreten den konservativen, ja sogar reaktionären Philosophen ausfindig zu machen glaubten. Den wichtigsten Bezugspunkt dieser Auslegung und Argumentation bildete und bildet bis heute Hegels Stellungnahme zur Problematik der Revolution und/oder Reform als der Lösungsalternative für die in der modernen Zeit entstandenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen und Konflikte. England, wie in anderer Hinsicht Frankreich, spielte bekanntlich eine wichtige Rolle in Hegels Deutung der „neueren“, „modernen“ Zeit, ln seinen Tübinger Studienjahren war Hegel hauptsächlich an Frankreich und dessen politischer Entwicklung interessiert, während England bzw. Großbritannien seit der Berner Periode im Mittelpunkt stand (siehe die Beiträge von WASZEK und LuCAs). Auch die letzte von Hegel selbst publizierte Schrift von 1831 kann interpretiert werden als ein zeitgenössischer Versuch, um den durch den Modernisierungsprozeß eingeführten, umfassenden und tiefgreifenden Wandel in Großbritannien und im kontinentalen Europa zu analysieren. In dieser Hinsicht steht die ReformbillSchrift in einem immanenten Zusammenhang mit Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820, wo eine vergleichbare Problematik ausführlich und systematisch dargestellt wird, aber auch mit den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Jedoch von der systematischen Darstellung und den Begriffsstrukturen der Rechtsphilosophie abweichend, wird diese Problematik in der Reformbill-Schnit auf eine journalistische Art und Weise vorgeführt (PETRY), was dem Problem teilweise eine andere Akzentuierung gibt. Außer Zweifel steht allerdings eine inhaltliche Ähnlichkeit, sofern die Referenzländer für Hegel wie stets Frankreich, Preußen und England sind, das jetzt erneut in den Mittelpunkt tritt. Die Diskussion um Hegels poHtische Position entzündete sich unter anderem an seiner Beurteilung der Verhältnisse in England zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit seinem England-Bild sowie an der journalistischen Methode, wie Hegel seinen Standpunkt der Öffentlichkeit vorstellte. Den Diskurskontext strukturieren einerseits die politischen Strömungen und Probleme der Zeit (LOTTES), von deren Rekonstruktion der historische Ort und Hegels Position deutlicher gemacht werden kann, andererseits geht es um die entwicklungsgeschichtliche und systematische Einordnung dieser Schrift von Hegel (LUCAS, WASZEK, WEISSER-LOHMANN, WILLIAMS). Als Entstehungsumstände der Reformbül-Schnft sind die postrevolutionäre und die postnapoleonische Zeit zu nennen, die eine besondere Aufmerksamkeit auf politischen Einrichtungen und Institutionen sowohl in England als auch im kontinentalen Europa gelenkt haben. Der konkrete Gegenstand der vorliegenden Schrift ist die Wahlfrage und die Parlamentsreform in England. Die Beiträge zum historischen Umfeld behandeln die Problematik des Wahlrechts in bezug auf das englische Armenrecht, den Verlauf der Reform-Debatte, die Diskussion der Reformvorschläge im britischen Parlament. Hegels Schrift ist jedoch jenem großen Spannungsfeld zuzuordnen, in welchem der zum Gemeinplatz gewordene Standpunkt die erfolgreiche englische Parlamentsreform von 1832 als klassische Alternative zu den gescheiterten kontinentaleuropäischen Revolutionen der Jahre 1848/49

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bezeichnet. Hegel war über England regelmäßig und gut informiert; er bezog seine Informationen aus den „bisherigen Debatten des Parlaments", die ihm vor allem durch die Berichte des Morning Chronicle (PETRY, STEINMETZ) vermittelt wurden. Seine Einstellung dazu war eigentlich gar nicht ungewöhnlich, denn für die Publizistik der Zeit boten Schriften über England immer auch Gelegenheit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in Deutschland (WEISSER-LOHMANN). Hegel hat die konkreten Fragestellungen der Reformbill und der sich daran anschließenden Debatte (die Wahlreform, das Repräsentationssystem, die Verfassung) auf „höhere Gesichtspunkte" bezogen, die ihm eine scharfe Kritik erlaubten. Er ging von zahlreichen „Anomalien und Absurditäten der englischen Verfassung" aus und spricht empört über „Mißstände". Hegel macht dann in dem Sinne „höhere Gesichtspunkte" geltend, daß die Reform als die Anpassung politischer Institutionen an die Erfordernisse und Erwartungen der Zeit als neue Stufe in einem historischen Prozeß aufgefaßt werden soll. Das neuzeitliche Auseinandertreten von civitas und Societas civilis warf die Frage auf, wie normatives Allgemeininteresse und induktiv erfahrbares Einzelinteresse durch politische Repräsentation zu vermitteln seien (WIRSCHING), was für Hegel schon jahrelang ein Grundproblem seiner politischen Philosophie war. Im Einzelnen liegt für Hegel immer die Gefahr, den „Charakter des Positiven" als Beliebiges, Zufälliges und Subjektives anzunehmen, wodurch das Allgemeine als „recht und vernünftig" zu einem „unzusammenhängende(n) Aggregat" herabgestuft wird. Diese zweipolige Begriffsstruktur bildet den Horizont seiner Wahrnehmung und Einschätzung der politischen Institutionen und Zustände Englands. Im frühen 19. Jahrhundert war die durch die Vernünftigkeit bezeichnete Normativität noch nicht unbedingt eine philosophische Illusion, weil sie sich auf eine Mittelklasse bezog, die sich für Hegel ebensowenig wie für die britischen Utilitaristen auf die Bourgeoisie beschränkte, sondern die Züge der ARisTOTELischen Staatsbürgerschaft und dadurch die Möglichkeit der Repräsentation des Allgemeininteresses' trug. Hegel hat diese Idee bei seiner Kritik auch 1831 angewendet, obwohl die Interessenstruktur der englischen Gesellschaft begonnen hatte, sich zu verändern. Das Politische besteht bei Hegel nämlich nie in einer herrschaftskategorialen Dominanz, sondern in einer konstitutiven Partizipation der Gemeinde (VOLLRATH). Die entschiedene Ablehnung des Positiven zeigt sich besonders klar in Hegels Deutung der öffentlichen Meinung, die einen wichtigen Status in der Reformbill und in dem angloamerikanischen Raum im Vergleich zum deutschen Kulturkreis besaß. Die öffentliche Meinung enthält nach Hegel eine innere Spannung; sie ist unstrukturiert, widersprüchlich und desorientiert. Aus diesem Grund ist sie ungeeignet, etwas zur Lösung der existierenden sozialen Konflikte beizutragen. Während die öffentliche Meinung die allgemeine Basis eines demokratischen politischen Systems ausmacht, bildet sie für Hegel nur einen Teil davon, der vom Staat benötigt wird (MADU). In Hegels Konzept spielt nicht die in sich vielfältige öffentliche Meinung, sondern die Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft eine vermittelnde Rolle neben dem Staat; sie sind eine den Staat ergänzende Vermittlungsfunktion zwischen den auseinandergetretenen Sphären des modernen Lebens.

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Hegels normatives Vernunftprinzip basiert in dieser Hinsicht auf dem Prinzip des deutschen Staatsrechts, worin die öffentliche Meinung als zweitrangig angesehen wird. Mit der Zuordnung des Politischen zum Rechtlichen wollte Hegel auf einen Problemhorizont aufmerksam machen, der den ,englischen Zuständen' nicht angemessen ist. Seine Kritik am Positiven hat darüber hinaus die weiterhin vorhandene Wirksamkeit der überlebten Geschichte vor allem im Bereich der Verwaltung und der Rechtspflege betroffen; die Positivität enthält immer versteinerte historische Traditionen. Demgegenüber war und blieb Hegels Forderung in Übereinstimmung mit der Französischen Revolution, die die Befreiung von einem nur durch das Herkommen gerechtfertigten System von Privilegien erreichen wollte (LUCAS). Mit all diesen Überlegungen wollte Hegel sowohl die Vor- und Nachteile als auch die Risiken und Chancen der Reformbill theoretisch ausschreiten und ausmessen. Irreal war es jedoch, daß Hegel von einem deutschen Erfahrungsraum aus argumentierte, der den britischen Politikern nicht zur Verfügung stand, obwohl seine Intention in dem Sinne für England wichtig war, daß er für dieses Land eine „Stabilitätsprognose" stellte (STEINMETZ). „Der praktische Sinn" der Briten, der sich vor allem durch einen nüchternen Pragmatismus und durch Kompromißfähigkeit auszeichnet, so daß er den ganz formellen Prinzipien abstrakter Gleichheit und dem Negativen gegen die Wirklichkeit als Fanatismus bei den Franzosen gegenübersteht (LUCAS), bildet für Hegel einen umgreifenden Bezugspunkt, an den die deutschen Verhältnisse angemessen werden können. Preußen wird zwar dem englischen Modell entgegengesetzt, aber Hegel plädiert angesichts des antithetischen Verhältnisses, in das er Frankreich und England zueinander stellte, für eine staatsrechtliche Synthese, die er am ehesten in den zeitgenössischen Monarchien Deutschlands verkörpert sah (WIRSCHING). Dabei darf allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, daß sich Hegel das Funktionieren eines so verstandenen Staates durch eine gebildete Beamtenelite vorgestellt hat. Der deutsche Kontext von Hegels England-Auslegung scheint also wichtiger zu sein, als man bislang angenommen hat (WEISSER-LOHMANN, SKALWEIT). Hegels Interesse an einer neuen Städteordnung, die politisch nicht nur auf Preußen begrenzt war, gehört mit der Reformbill zu einem gemeinsamen Problemhorizont, in dem die wechselseitige Wahrnehmung unterschiedlicher Kulturen (VOLLRATH) eine wichtige Rolle spielt. So nimmt Hegel den politischen Charakter und die politische Verfassung anders wahr, als es dem Selbstverständnis der Engländer entspricht. Bei seinem differenzierenden Blick auf die Referenzländer hält Hegel aber letztendlich an der paradigmatischen Bedeutung der Französischen Revolution fest, sofern durch sie neue geschichtliche Prinzipien in die Welt gekommen sind. Gleichzeitig sieht er jedoch auch in der Reformation ein Grundelement der ,neueren' Zeit, das als Maßstab dient, inwieweit die Lage Englands mit anderen protestantischen Ländern parallelisierbar sei (LUCAS). Schließlich bleibt für Hegel der Weg zu Reformen das verbindliche Kriterium, nach dem er die Analyse der politischen Zustände und Ereignisse im Hinblick auf die Gegenwart seiner Zeit unternimmt.

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Das Bild, das sich Hegel von England macht, läßt sich als eine „Entmythologisierung" (LOTTES) der hier zu dem französischen und preußischen Modell gebotenen Alternative verstehen. Hegels eingehende Kritik bestimmter englischer Zustände erweist sich auch im Licht der heutigen Eorschung als zutreffend. Hierbei ist die Einstellung, die er gegenüber den Problemen seiner Zeit einnimmt, schon frühzeitig seit der Verfassungs-Schnft durch eine „kontemplative Grundhaltung" zur Politik geprägt worden. Hegels Haltung zwischen Revolution und Reform zeigt sich in seinem eigentümlichen „Liberalkonservativismus", in dem sowohl die paradigmatische Bedeutung der Französischen Revolution für die neuere Zeit als auch die an den Etatismus anknüpfende Betonung der wichtigen Rolle des Staates vertreten wird. Neben der politischen Grundoption Hegels macht die in diesem Band geführte Diskussion deutlich, daß Hegels Position ebenfalls in den englischen Diskurskontext eingebunden ist, wo nicht nur das elementare Muster einer „Reformkonstellation", sondern oft die rhetorischen Elemente der Reform aufzuspüren sind (WEND, STEINMETZ) und in der sich eine „Strategiedebatte" manifestiert, die auf einen beträchtlichen Fundus gemeinsamer Grundwerte verweist, die über eine Distanz zur Revolution hinaus eine Konvergenz politischer Positionen, eine Politik der Stabilisierung und des Grundkonsenses zwischen den Whigs und den Liberalen ausdrücken. Die journalistische Behandlung und die rhetorischen Züge der gesamten Debatte verleihen Hegels Position einen anderen Akzent. Man kann sie als liberalkonservative und kontemplative Einstellung zusammenfassen, die eine verfassungsmäßige Änderung des bestehenden Systems durch die Anpassung überholter Formen an neuere Bedingungen auf der Grundlage der Übereinstimmung des Reformkonzepts anstrebt. Dabei darf man auch nicht vergessen, daß die ReformbillSchrift aus einer deutschen Perspektive und für ein deutsches Publikum geschrieben worden ist, wo die diskutierten Probleme andere Konnotationen als in England hatten. Dieser aus einer Tagung hervorgegangene Band wird sicherlich viel dazu beitragen, daß Hegel noch weniger als bisher als der preußische Staatsphilosoph gelten kann und daß man seine britischen Quellen neben seinen französischen rehabilitieren sowie Englands Bedeutung für seine Philosophie überhaupt noch eingehender bearbeiten muß. Das im Band entworfene Gesamtbild liefert überzeugende Argumente und Überlegungen, um Hegels England-Deutung und Vorliebe mit der darin zum Ausdruck kommenden Interpretation der Moderne in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit umfassend zu begreifen. Erzsebet Rözsa (Debrecen/Münster)

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Friedhelm Nicolin: Auf Hegels Spuren. Beiträge zur Hegel-Forschung. Hrsg, und mit einem Vorwort versehen von Lucia Sziborsky und Helmut Schneider. Hamburg: Felix Meiner 1996. IX, 275 S. (Hegel-Deutungen. Bdl.) Den Mitherausgeber der Hegel-Studien gerade in diesem Jahrbuch detailliert vorzustellen, ist wohl überflüssig. Seine Verdienste als Herausgeber, Biograph und Interpret Hegels sind den Fachleuten seit Jahrzehnten vertraut. Zu seinem 70. Geburtstag (am 10. Februar 1996) wurden hier zwanzig Aufsätze von FRIEDHELM NICOLIN zusammengetragen, die einen gelungenen Querschnitt aus seinen Beiträgen zur Hegel-Forschung vermitteln. Eine von LUCIA SZIBORSKY bearbeitete Bibliographie am Ende des Bandes (S. 257-270) bietet darüber hinaus ein vollständiges Verzeichnis seiner Publikationen (Nummernangaben im folgenden Text beziehen sich auf diese Bibliographie). Der attraktive Band zeigt, wie aktuell die Aufsätze, von denen einige schon vor fünfundzwanzig Jahren erschienen sind, geblieben sind. Das Buch eröffnet gleichzeitig die neue Reihe „Hegel-Deutungen" im Felix Meiner Verlag, der es als gutes Omen dienen mag. Da die überwiegende Mehrzahl (16 von 20) der hier zusammengestellten Arbeiten ursprünglich in den Hegel-Studien erschienen sind, kann auf die Einzelbesprechung aller Aufsätze verzichtet werden. Statt dessen legt es der Anlaß nahe, hier wenigstens die Hauptstationen der Laufbahn NICOLINS ZU vergegenwärtigen. An den Beginn dieses kurzen Versuches, das Werk FRIEDHELM NICOLINS ZU würdigen, sei indessen eine persönliche Erinnerung gestellt. Die erste Gelegenheit einer näheren Bekanntschaft mit dem Mann, der mir bis dahin erst durch seine Publikationen, besonders als Herausgeber von Hegels Enzyklopädie und seiner Korrespondenz vertraut war, erhielt ich vor ca. fünfzehn Jahren, als ich die Editionen von Hegels Exzerpten aus der Edinburgh Review und der Quarterly Review, die im Umfeld meiner Studien von Hegels Auseinandersetzung mit der britischen Philosophie, Politik und Geschichte entstanden waren, den Hegel-Studien zur Publikation einreichte (sie erschienen in Bd 20, 1985 und 21,1986). Da die Publikation dieser Exzerpte diverse editorische Prinzipien berührte, hatte ich zwar mit Rückfragen der Redaktion gerechnet; wie angenehm überrascht war ich aber, als mich Herr NICOLIN selbst in dieser Angelegenheit anrief und sofort begann, Einzelheiten dieser Edition am Telephon zu erörtern. So erhielt ich ein lebendiges Beispiel der Akribie, der Aufmerksamkeit, ja, geradezu der Liebe zum Detail, die das ganze Werk von FRIEDHELM NICOLIN auszeichnen. Unprätentiös aber bestimmt zeigte der erfahrene Forscher dem Debütanten auf diese Weise, daß sich in den scheinbar unwichtigen Details oftmals entscheidende Elemente auch für die systematische Deutung von Texten verbergen: eine Lektion, an die ich mich dankbar erinnere. Am Anfang von NICOLINS Auseinandersetzung mit Hegel stand seine Doktorarbeit über die Bildungstheorie des Philisophen (1954 verteidigt, erschien sie 1955 bei Bouvier in Bonn - Nr 1). Das Thema dieser durch TEODOR LITT angeregten Disserta-

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tion markiert bereits die Schnittstelle von Philosophie und Pädagogik, also jenes Grenzgebiet, auf dem NICOLIN kontinuierlich weitergearbeitet hat und dem er sich später als Inhaber eines pädagogischen Lehrstuhls für „Philosophie der Erziehung" (zuletzt an der Universität Düsseldorf) besonders verpflichtet wußte. Er hat nicht nur die historischen Repräsentanten eines vergleichbar interdisziplinären Ansatzes, wie HERBART, PESTALOZZI und SCHLEIERMACHER, in Publikationen behandelt (z. B. Nr 30,98), sondern auch dessen moderne bis zeitgenössische Vertreter (z. B. MARTIN BUBER, Nr 67, EDUARD SPRANGER, Nr 19, und immer wieder TEODOR LITT, Nr 22,66,72, 76,81 u. ö.) sowie schließlich solche systematischen Berührungspunkte der genannten Disziplinen wie den Bildungsbegriff (Nr 15, 52, 70,92) oder die Frage nach dem Wissenschaftsverständnis der Pädagogik (Nr 39,61,78) eingehend erörtert. Das Thema der Dissertation führte NICOLIN aber wie von selbst auch zu editorischen Fragen und Aufgaben, war doch gerade im Hinblick auf Hegels pädagogische Texte die Quellenlage damals noch ziemlich schlecht, denn vielfach konnte nur die ungenügende, fehlerhafte Freundes-Vereins-Ausgabe und die auf ihr basierende Sammlung von GUSTAV THAULOW {Hegel's Ansichten über Erziehung und Unterricht, Kiel 1854) herangezogen werden. NICOLIN griff also, von JOHANNES HOFFMEISTER in diesem Sinne ermutigt und gefördert, bewußt auf die Manuskripte zurück, die älteren Ausgaben so teils korrigierend, teils deren Textgrundlage um noch ungedruckte Quellen erweiternd. Diesen ersten Umgang mit Hegels Manuskripten entwickelte NICOLIN in den folgenden Jahrzehnten stetig und systematisch weiter. Die Konsequenz aus der unzureichenden Editionslage ziehend, ging er daran, neue Funde von Manuskripten, Briefen und Dokumenten für die Publikation vorzubereiten. Viele dieser editorischen Pionierarbeiten erschienen in den Hegel-Studien. Der vorliegende Sammelband reproduziert mehrere von ihnen; in einigen Fällen wurden aus den Erstveröffentlichungen die begleitenden Studien, die die edierten Texte sachlich bestimmen und entwicklungsgeschichtlich einordnen, verselbständigt und in den Band aufgenommen. Dem Rezensenten - doch ein solches Urteil spiegelt die Interessen des Urteilenden wider - erscheinen die Mitteilung unbekannter Aphorismen Hegels aus Jena (Nr 33 - in vorl. Band: S. 105-117) und die der Fakultätsakten zu seinem Heidelberger Wirken (Nr 20 - in vorl. Band: S. 141-173) von hervorragender Bedeutung zu sein. Auf den Erfahrungen von Einzeleditionen aufbauend, hat NICOLIN auch früh Prinzipien und ein Programm für die kritische, entwicklungsgeschichtliche Ausgabe aller Texte Hegels artikuliert. Die diversen Aufsätze zur Editionspolitik (z.B. Nr 6,17,25,36,87,103,104), die sich über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren erstrecken, dokumentieren diesen Aspekt seines CEuvres reichhaltig. Aus diesem Teilbereich der Publikationen NICOLINS bietet der vorl. Band nur einen einzigen Text: die „Vorüberlegungen", wie sein Autor bescheiden formuliert, zur historisch-kritischen Ausgabe von Hegels Korrespondenz und amtlichem Schriftwechsel (Nr 103 - hier: S. 224-239); in Wahrheit handelt es sich um eine ausführliche und ausgewogene Darstellung des Arbeitsprogramms für die Neuerschließung dieses Werkteils, eines Werkteils zudem, welchen NICOLIN stets mit besonderer Liebe behandelte und worin seine fachliche Kompetenz wohl unerreicht ist.

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Beispielhaft eingelöst hat NICOLIN die in seinen methodologischen Aufsätzen entwickelten Grundsätze der Hegeledition in der Ausgabe von Hegels Enzyklopädie, die er 1959 gemeinsam mit OTTO PöGGELER für die Philosophische Biblilothek im Meiner Verlag besorgte (Nr 8; 1991 erschien diese Ausgabe in 8. Auflage: Nr 101), dann in seiner Fortsetzung der HoFFMEisxERschen Ausgabe der Briefe von und an Hegel, für deren vierten Band, in zwei Teilen (1977 und 1981), er allein verantwortlich zeichnet (Nr 62 und 74), schließlich in den ersten Bänden der Gesammelten Werke Hegels (GW 1,1989; GW 3,1991; GW 2, in Vorbereitung). Den entwicklungsgeschichtlichen Ansatz der kritischen Ausgabe wußte NICOLIN stets mit der biographischen Hegelforschung zu verknüpfen. In diesem Sinne ist er schon lange und mit nie ermüdender Ausdauer „auf Hegels Spuren", wie es der von den Herausgebern gewählte Titel des Bandes plastisch zum Ausdruck bringt und die inhaltliche Anordnung der Beiträge nach Bezügen zu Hegels Lebensorten es nochmals bekräftigt. Viele Einzelfragen zu Hegels Leben hat NICOLIN klären können. Unter den einschlägigen Beiträgen, die in dem vorliegenden Band aufgenommen sind, illustriert die Miszelle Welche Shakespeare-Ausgabe besaß Hegel? (Nr 88 hier: S. 27-34) seine Vorgehensweise exemplarisch. - Wenngleich NICOLIN biographische Forschungsbeiträge zu allen Lebensabschnitten Hegels vorlegte, hat er doch in seinen Arbeiten dem jungen Hegel eine gewisse Priorität eingeräumt. Dies ist sicher zum einen bedingt durch die lange editorische Beschäftigung mit Hegels Jugendschriften. Daneben dürften indessen persönliche Motive des Forschers NICOLIN mitgewirkt haben, der sich von seinen pädagogischen Fragestellungen her (s. o.) auch dem Bildungsgang Hegels besonders widmete. Wie der editorische verdichtete sich auch der biographische Forschungsstrang bei NICOLIN in methodologischen Aufsätzen (insbesondere Nr 55,56, 68), dann aber auch in der synthetischen Biographie: Von Stuttgart nach Berlin. Die Lebensstationen Hegels. Marbach 1991 (Nr 99 - vgl. meine Rezension in den Hegel-Studien, Bd 26, 1991, 284-286). Das kleine Buch entstand im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Betreuung der Dauer-Ausstellung im Hegel-Haus in Stuttgart (vgl. den Bericht von L. SziBORSKY, ebd. 228-234), die NICOLIN übernommen hatte, und erschien zu deren Eröffnung. Obwohl diese Lebensbeschreibung auf dem begrenzten Raum von knapp 100 Seiten entfaltet werden mußte und allgemeinverständlich formuliert ist, spürt man überall, wieviel Kenntnis und Erfahrung in sie eingeflossen sind: eine in jeder Hinsicht ausgereifte Darstellung. Für den Rezensenten - und dies wird er mit vielen Lesern teilen - war es ein Vergnügen, in dem Sammelband Auf Hegels Spuren Aufsätze wiederzuentdecken, deren erste Lektüre Jahre zurückliegt. Zugleich a^er gewinnen die einzelnen Arbeiten von dem Ganzen her, in das sie nun eingefügt sind, einen neuen Stellenwert. Dem Jubilar wie seinen Lesern ist es zu wünschen, daß seine Produktivität noch lange erhalten bleibt. Norbert Waszek (Paris)

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Martin Bondeli: Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803. Frankfurt a. Main: Klostermann 1995.445 S. (1757-1823) ist wohl nicht der genialste, zweifelsohne aber einer der kompetentesten und scharfsinnigsten Denker der nachkantischen Systemphilosophie" (13). Diese Worte, mit denen MARTIN BONDELI sein REiNHOLD-Buch beginnt, sind kennzeichnend für das Schicksal REINHOLDS in der philosophischen Literatur. Er war ja nicht der genialste Nachfolger KANTS, und deshalb wurde seine Philosophie auch bald vernachlässigt und von den Systemen des sogenannten „deutschen Idealismus" verdrängt. Aber er war einer der kompetentesten und scharfsinnigsten Nachfolger: darum haben FICHTE, SCHELLING und Hegel sich lange Zeit, und manchmal ohne es einzugestehen, mit ihm auseinandergesetzt. Die Forschung in Bezug auf die nachkantische Philosophie hat diese Sachlage mit wenigen Ausnahmen ständig ignoriert oder unterschätzt. Dieses Buch von BONDELI reiht sich in die wachsende Neubewertung der Philosophie REINHOLDS ein und stellt das Problem des Anfangs als Schlüsselthema ihrer Entwicklung vor, die von der KANiischen Phase bishin zur Übernahme und Erarbeitung des Realismus BARDILIS am Anfang des 19. Jahrhunderts betrachtet wird. „KARL LEONHARD REINHOLD

Das Buch ist dreiteilig gegliedert: 1. „Das Anfangsproblem während der Phase der Elementarphilosophie"; 2. „Das Anfangsproblem unter dem Einfluß der FICHTEschen Wissenschaftslehre"; 3. „Das Anfangsproblem während der Phase des Rationalen Realismus". Der erste Teil umfaßt die Entwicklung der RsiNHOLDschen Philosophie von der ersten Darstellung der Theorie des Vorstellungsvermögens bis zur Änderung der Elementarphilosophie im zweiten Heft der Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen (1794). Hier behandelt BONDELI als Hauptfrage das Verhältnis zum Kritizismus KANTS. REINHOLD versucht die KANiische Philosophie dadurch besser zu begründen, daß er die ganze Erkenntnistheorie KANTS auf den Begriff der ,Vorstellung' zurückführt. REINHOLD ist dieser Begriff jedoch hauptsächlich durch die Kritik der reinen Vernunft zugänglich. Da sich auch in der Kritik der reinen Vernunft ein dem von REINHOLD entsprechender Begriff der Vorstellung findet, erhebt sich die Frage, worin denn eigentlich ein Fortschritt der Begründungsfrage bestehe. BONDELis Antwort lautet folgendermaßen: „Mit dem analytischen Fortschreiten über den höchsten Punkt KANTS hinaus gelangt REINHOLD ZU einem Begriff der Vorstellung, der über den KANiischen hinaus die Struktur einer reflexiven Begriffsentwicklung in den Vordergrund zu stellen beabsichtigt" (52). Die reflexive Entwicklung der Vorstellung hat selbst das Stellen einer Begründungsfrage zur Folge und erfordert auch eine inhaltliche Bestimmung der Vorstellung, die eine Theorie des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins, also im Grunde eine Theorie der Subjektivität anstrebt. REINHOLD schließt sich an die transzendentale Apperzeption KANTS an, führt aber neue

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Forderungen für ein stichhaltendes Fundament der Philosophie ein. Die Deduktion im Sinne KANTS und die damit verbundenen Distinktionen zwischen verschiedenen Einheitsbedingungen verschwinden, und es kommt ein Evidenzbegriff in den Vordergrund, der wiederum ein CARTEsianisches Erkenntnisideal (vgl. 53) und demzufolge ein linearistisches Ableitungsmodell (vgl. 110) einführt. Man kann dazu bemerken, daß ein solches Ableitungsmodell im Vergleich zur KANrischen Deduktion als „quaestio juris" Nachteile zeige, ohne eine fraglose Evidenz zu erreichen. Eür diesen Einwand gibt dieses Buch eine umfassende Antwort: REINHOLD verlangt ein in sich begründetes Fundament, das nicht nur ein logisches sein kann; die Suche nach diesem Fundament überschneidet sich mit der Weiterentwicklung einer Subjektivitätstheorie, die KANT nicht zustandegebracht hat. Die Deutung BONDELIS nähert sich dabei der DIETER HENRICHS an. Bis zur Fundament-Schnft (1791) ist die Vorstellung ein vorreflexiver Grund, aus dem ein zweiteiliges strukturiertes Bewußtsein hervorgeht. Was REINHOLD „Satz des Bewußtseins" nennt, ist die Analyse der Vorstellung als ursprüngliche Synthese im Bewußtsein. Im Jahre 1792 stellt BONDELI eine bedeutende Wende fest: „Im 1792 verfaßten ersten Aufsatz des zweiten Bandes der „Beiträge" nimmt REINHOLD drei signifikante Veränderungen vor. Erstens wird das mit dem linearen, absteigenden Bestimmen kombinierte aufsteigende Auffinden, das REINHOLD in enger Anlehnung an KANTS ,reflektierende Urteilskraft' entwickelt hat, dominanter. Zweitens verschiebt sich das unitaristische Konzept der einen Tatsache des Bewußtseins in Richtung eines pluralistischen Konzepts von mehreren Bewußtseinstatsachen. Drittens wird im Rahmen des Versuchs, das Selbstbewußtsein mit der Tatsache des Bewußtseins anheben zu lassen, der Grundstein für ein grundlegend auf der Zirkularität aufgebautes Ableitungsmodell gelegt" (HO). REINHOLDS Philosophie entwickelt sich also von einem monistischen zu einem pluralistischen Verständnis der Tatsache des Bewußtseins und von einem linearen zu einem zirkulären Ableitungsmodell im Rahmen einer differenzierten Methodik. Mit Bezug auf den oben erwähnten Vergleich mit KANT kann man schließen, daß einerseits in diesen Veränderungen bei REINHOLD sich die KANiische Entdeckung der reflektierenden Urteilskraft spiegelt und daß aus dieser Perspektive der Vorwurf gegen eine REiNHOLDsche Vereinfachung der im Kritizismus die Erkenntnis rechtfertigenden Prozesse nicht mehr erhoben werden könnte; andererseits nimmt diese Entwicklung der Philosophie REINHOLDS die Subjektphilosophie PICHTES vorweg. Dem Vergleich der REiNHOLDschen und der EiCHTEschen Philosophien in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts ist der zweite Teil des Buchs gewidmet. Richtig behauptet BONDELI, daß von einem unmittelbaren und aus Verlegenheit verursachten Übergang REINHOLDS zur Wissenschaftslehre nicht zu reden ist: „Der Anschluß an die Wissenschaftslehre ist nicht nur, wie REINHOLD selbst es darstellt, das Ergebnis der plötzlich entstandenen Einsicht, die Elementarphilosophie sei mangelhaft. Er ist vielmehr auch das Ergebnis einer philosophischen Debatte, in der EICHTE als Verteidiger und Kritiker der Elementarphilosophie auftritt, sowie einer sich daraus entspannenden längeren philosophischen Auseinandersetzung REINHOLDS mit FICHTE" (156). Um die Frage zu beantworten, worin vermutlich die Grenze der Elementar-

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Philosophie bestehe, muß man nach BONDELI hinter die ausdrücklichen Zugeständnisse REINHOLDS und die Urteile FICHTES zurückgehen. Die Philosophien REINHOLDS und FICHTES haben die Suche nach einem einzigen Fundament und Ableitungsprozeß gemein, trennen sich aber bei der Verwirklichung eines Einheitssystems. Eine Streitfrage dreht sich um die empirische Voraussetzung der Elementarphilosophie, die REINHOLD selbst anzeigt und FICHTE bestätigt, was BONDELI jedoch besonders irritierend empfindet (vgl. 195-196). Die darüber in dieser Phase übereinstimmenden Standpunkte FICHTES und REINHOLDS sind m. E. plausibel, wenn man daran denkt, daß die erste Wissenschaftslehre (1794) vom Satz der Identität (A = A) bis zur Selbstsetzung des Ichs geht: die Subjektivitätstheorie, die die Struktur des theoretischen und praktischen endlichen Ichs bestimmt, wird dann als eine Konsequenz der allgemeingeltenden, jedoch unzureichenden Sätze der Logik abgeleitet; aber gleicherweise setzen die Sätze der Logik eine Handlung voraus. Daß FICHTE mit einer veränderten Bedeutung von „empirisch" operiert, läßt seine Kritik nicht ungerechtfertigt erscheinen. Vielmehr kann man einwenden, daß es auch bei FICHTE noch eine weitere gegenteilige Voraussetzung gibt: schon in der Grundlage muß FICHTE die bei der Konstruktion der Ich-Sätze wichtige Rolle der Einbildungskraft zugeben, die in den Einleitungen von 1797 die intellektuelle Anschauung einnimmt. Die größte Schwierigkeit für die Deutung der RsiNHOLDschen Position zu diesem Thema liegt darin, daß REINHOLD die Prinzipien der ersten Wissenschaftslehre merkwürdigerweise nicht diskutiert und dann in seiner Rezension der Schriften FICHTES die Lösung der Einleitungen annimmt, ohne irgendwie auf die Änderungen zwischen beiden Versionen hinzu weisen (vgl. 205, 226). Vom methodischen Gesichtspunkt aus kann die Wissenschaftslehre FICHTES auf die Entwicklung des zirkulären Ableitungsmodells REINHOLDS gewirkt haben, das in das hypothetische Beginnen der Beyträge von 1801 mündet (vgl. 244 - BONDELI betont dabei eine Kontinuität zwischen FICHTE und REINHOLD). Wird der Vorrang der praktischen Philosophie in der Entwicklung der Wissenschaftslehre 1797-1798 hervorgehoben, so findet man bei REINHOLD eine ähnliche Tendenz, die jedoch FICHTE gegenüber kritisch ist. Ein „Ableitungsskeptizismus" und ein „stärker aufkommendes Interesse für das praktische Fundament der Elementarphilosophie" laufen bei REINHOLD parallel; darin lassen sich die Einwirkungen wichtiger Gesprächspartner REINHOLDS, d. i. BAGGESEN und JACOBI erkennen (vgl. 240 u. a. 132, 232). REINHOLD stellt den Standpunkt des Menschen in Gegensatz zur Spekulation und wirft FICHTE vor, den Standpunkt des Menschen in seiner Philosophie vernachlässigt zu haben. Er stellt diese Kritiken in der Paradoxien-Schrift und in dem Sendschreiben an }. C. Lavater und }. G. Fichte (beide von 1799) insofern dar, als er eine Zwischenposition zwischen FICHTE und JACOBI, also zwischen Spekulation und Glauben, vertritt. Selbstverständlich hat REINHOLD inzwischen seinen ersten Evidenzbegriff, den er mit FICHTE gemein hatte, teilweise aufgegeben und ist zu einer überdiskursiven Evidenz gelangt: diese Evidenz ist eine „Tatsache des Gewissens", und darin vereinigen sich innere Erfahrung und intersubjektive Beziehung (vgl. 240 u. a. 207). Die vorsichtigen Stellungnahmen REINHOLDS gegen die Ich-Philosophie (vgl. 231, 233) haben nicht nur methodische, sondern auch praktische Grün-

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de; zur damaligen Zeit diskutiert REINHOLD diesen Aspekt der FiCHTEschen Philosophie jedoch nicht. ln der Rekonstruktion der philosophischen Entwicklung REINHOLDS wird die Deutung der realistischen Wende, die BONDELI im dritten Teil darstellt, von besonderer Wichtigkeit. Die realistische Wende ist das natürliche Ziel der Zwischenposition, denn REINHOLD vermeidet damit den blockierenden Gegensatz von Glauben und Wissen und bekommt eine Basis, um die Glieder jener Trennung zu vermitteln (vgl. 178). Einige Resultate der eng gefaßten Erforschung dieser Phase der REiNHOLDschen Philosophie werden nochmals wiederholt: der Realismus BARDILIS teilt mit dem Kritizismus einige Ziele, mißversteht aber viele Kernpunkte dieser Philosophie; im Realismus findet man auch keine sekundären Konvergenzen mit der idealistischen Philosophie SCHELLINGS und Hegels, obwohl sowohl SCHELLING, HEGEL wie FICHTE ausschließlich unbeseitigbare Differenzen hervorheben (vgl. 264,265); die REINHOLDsche Deutung hat den Realismus BARDILIS verbessert: dieser ist dadurch nämlich flexibeler und methodisch überzeugender geworden (vgl. 314-315). Das Verständnis des Anfangsproblems in der realistischen Phase ist das Ergebnis der schon in der Elementarphilosophie angehobenen Revision der Ableitungsthematik: die Erkenntnis fängt mit dem Hypothetischen an, das REINHOLD das „erste Wahre" nennt und mit dem „Urwahren" verbindet. Am Ende des Erkenntnisprozesses wird das Hypothetische zum Apodiktischen. Hinter der bekannten Kritik Hegels in der DifferenzSchrift gegen die „Ergründungs- und Begründungs-Tendenz" REINHOLDS als ausdauernde Einleitung zur Philosophie versteckt sich ein ähnliches Verständnis der Einleitungsproblematik, denn Hegel schreibt der Logik in seinen ersten Jenaer Vorlesungen eine einleitende Funktion zu; die Logik führt zur Metaphysik. Als die Phänomenologie in der späteren Jenaer Philosophie diese Funktion annimmt, läßt sie sich nicht nur dem Namen, sondern auch der Methodik nach durch die REiNHOLDsche Phänomenologie anregen (zur Ähnlichkeit beider Phänomenologien vgl. 330, 334, 410^11). Was REINHOLD nur geplant hat, hat Hegel dagegen in allen Stufen durchgeführt (vgl. 375). Diese Hauptthese des Verfassers ist berechtigt und besser als in früheren Forschungen begründet, dies auch dank den neuen Dokumenten zu Hegels Lehrtätigkeit in Jena. Ein Überblick über das Verhältnis zwischen Hegel und REINHOLD muß aber auch versuchen, das Hauptmotiv der Philosophie REINHOLDS in dieser Zeit zu deuten, ln völliger Kohärenz mit dem Thema des Anfangs weist BONDELI darauf hin. REINHOLD wäre zur ehemaligen Priorität der theoretischen Philosophie zurückgekehrt und hätte damit den Zirkel des Bewußtseins und Selbstbewußtseins auf der Ebene einer realistischen Theorie der Subjektivität gelöst. Daß alle Philosophie „als Erkenntniß, theoretisch sey, und als theoretisch wahre Erkenntniß zu allen sogenannten Praktischen schon vorausgesetzt werde: so daß die Praxis zur Wahrheit der Philosophie als Erkenntniß nichts heytragen kann" (276 - Zitat aus: C. G. Bardilis und C. L. Reinholds Briefwechsel. München 1804. 12), teilt REINHOLD am 1. Septefnber 1800 BARDILI mit. Dazu bemerkt BONDELI: „Mit dieser Erklärung ist der Punkt erreicht, an dem Reinhold seine Wende zum praktischen Vermögen der Elementarphilosophie und schließlich zur Wissenschaftslehre rückgängig macht und gleichsam

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zum frühen Standpunkt der Elementarphilosophie zurückkehrt. So wie damals das Begehrungsvermögen nur durch den Satz des Bewußtseins richtig gedacht werden konnte, so ist jetzt wiederum die praktische Vernunft von der theoretischen Vernunft abhängig" (276). Es handelt sich aber um einen anderen Begriff der Erkenntnis: „Der Begriff der Erkenntnis ist jetzt umfassender. Er kennzeichnet eine Rückkehr zur theoretischen Vernunft auf einer höheren Stufe der Vereinigung verschiedener Standpunkte" (277). Mit dieser „höheren Stufe der Vereinigung" ist wohl die Vernunftlehre gemeint, welche Logik, Metaphysik und Mathematik in sich faßt (vgl. 408). Man könnte also behaupten, daß REINHOLD sich dank seiner Verarbeitung des Denkens als Denkens, dank der Modifikationen der Anwendungstheorie und dank einer Ableitungstheorie, die das Denken als Denken zugänglich macht, eine die Erkenntnis umfassende Ontologie zueignet. Dennoch ist die Rückkehr zur theoretischen Philosophie fragwürdig. Die sittlichen und religiösen Gründe der realistischen Wende werden zwar von BONDELI nicht verkannt, aber er selbst läßt auch Zweifel aufkommen, daß REINHOLD seinen oben erwähnten Ableitungsskeptizismus eigentlich überwunden hat. Die aus dem Briefwechsel dokumentierte Auseinandersetzung zwischen REINHOLD und BARDILI über Idealismus und Realismus, über die Rolle der Sprache, über die Möglichkeit, die Existenz Gottes zu beweisen, unterstützt m. E. eine vorsichtige Haltung gegenüber dem theoretischen Wert der realistischen Wende in der philosophischen Entwicklung REINHOLDS. Vorsichtig scheint auch der Verfasser zu sein: wenn es möglich ist, wie er m. E. zu Recht behauptet, von einer „sprachphilosophischen Wende" schon für die realistische Phase REINHOLDscher Philosophie zu sprechen (vgl. 271), dann wird das Verhältnis der Sprache zum Denken ein Problem. Der Weg eines logischen Denkens bleibt „unklar" (ebd.), und es bleibt auch unklar, inwieweit die Konstruktion einer systematischen Philosophie erreichbar sei; BONDELI bemerkt, daß das Schweigen REINHOLDS über Systempläne ab 1803 symptomatisch für „eine Resignation in Sachen Systemphilosophie" (411) sein kann. Ich finde, daß Hegels Kritik gegen den Dualismus in diesem Pall einen versteckten Skeptizismus REINHOLDS treffen würde: für REINHOLD bleibt das Absolute jenseits des Wissens, und das Urwahre ist außer dem Verhältnis zum ersten Wahren unbegreiflich. Diese Differenz ist wichtiger als die unterschiedliche Verwendung der Negation und des Widerspruchs, die auch die reifen Philosophien Hegels und REINHOLDS trennt (klarer dazu die Diskussion des Vfs. im Aufsatz „Hegel und Reinhold" In: Hegel-Studien. 30 (1995), 45-87, bes. 65-72). Abschließend kann man Voraussagen, daß dieses Buch eine unersetzliche Hilfe für eine philologisch begründete Rekonstruktion der Methodik und der daran anknüpfende Subjektivitätstheorie REINHOLDS sein wird; das ist aber nur ein Stück eines vielseitigen Bilds dieser vernachlässigten Hauptfigur der nachkantischen Philosophie, das von einem anderen Blickwinkel aus und auch mithilfe einer ausführlichen Betrachtung seiner reifen Philosophie erreichbar ist. Pierluigi Valenza (Rom)

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Siegbert Peetz: Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzeption der Rationalität. Frankfurt a. M.: Klostermann 1995. 368 S. (Philosophische Abhandlungen. Bd 64.) Im Zentrum der breit angelegten Untersuchung des Verfassers steht das Verhältnis von Freiheit und Rationalität in SCHELLINGS Freiheitsschrift von 1809. Erst mit der Bestimmung dieses Verhältnisses kann auch die Frage nach der Möglichkeit eines „Systems der Freiheit" angemessen erörtert werden. Kernproblem der Freiheitsschrift ist für PEETZ nicht das Theodizeeproblem, sondern die Frage nach dem „epistemologischen Fundament" des Bösen. PEETZ zeigt, daß SCHELLINGS Versuch in der Freiheitsschrift, entgegen der vorherrschenden Verengungen der Rationalität auf „Diskursivität", „Reflexion", „Sprache", „Regelgebrauch" etc. den Freiheitsbegriff in seine Konzeption von Rationalität zu integrieren, in der Folge notwendig zu einer Sprengung des Identitätssystems führt. In einem einleitenden ersten Teil geht PEETZ auf die Bedeutung von JACOBIS Philosophie für SCHELLING, insbesondere für dessen Freiheitsschrift ein. Gegen die vorherrschende Tendenz der ScHELLiNG-Forschung sucht PEETZ ZU erweisen, daß SCHELLINGS Philosophie insgesamt maßgeblich von JACOBI geprägt ist, dessen Einfluß also keineswegs - wie oftmals angenommen - 1811/12 endet. Namentlich die Freiheitsschrift von 1809 kann sich nach Ansicht des Verfassers erst auf der Grundlage der jACOBischen Philosophie entfalten. Im eigentlichen Hauptteil seiner Untersuchung bemüht sich PEETZ in einem ersten Schritt, SCHELLINGS Freiheitsbegriff in der Freiheitsschrift als „Organisationsprinzip der Verfassung des Wissens" zu bestimmen; ein zweiter Unterabschnitt dieses Hauptteils widmet sich dann der „Weltalterphase" als dem Versuch, unter Rückgriff auf PLATON und KANT die Folgeprobleme dieser Fassung des Freiheitsbegriffs zu bewältigen. Der dritte Unterabschnitt geht schließlich auf SCHELLINGS Antwort auf JACOBIS Naturalismuskritik zwischen 1811 und 1819 mit der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie in der Fassung von 1827/28 ein. Das kurze Schlußkapitel faßt noch einmal das methodische Hauptproblem SCHELLINGS zusammen: Kennzeichnend für SCHELLINGS Konzeption der Rationalität ist die Duplizität von Ontologie und Selbstreferenz, die als solche bereits ein Grunddilemma der Rationalitätskonzeption in der Moderne offenbart. PEETZ' ausführliche Würdigung der Einflüsse der jACOBischen Philosophie auf SCHELLINGS Konzeption wie auch seine Analyse des „philosophischen Umfeldes" der Freiheitsschrift, und hier wiederum besonders der KANT-Kritik CARL LEONHARD REINHOLDS, kann sicherlich Vieles zur Erhellung der Gedankengänge SCHELLINGS beitragen. Umso mehr verwundert es, daß die Rolle Hegels nur an Einzelaspekten thematisiert und deren mögliche Einflußnahme auf SCHELLINGS philosophische Entwicklung kaum untersucht wird; eine in diesem Zusammenhang unerläßliche genaue entwicklungsgeschichtliche Differenzierung unterbleibt. Der Grund für diesen Mangel mag in PEETZ' These liegen, SCHELLINGS konstante Nähe zu JACOBI könne zugleich als Maßstab für seinen Abstand zu Hegel gelten. Es bleibt aber zu fragen, ob

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damit u. a. die Relevanz von Hegels Zusammenarbeit mit SCHELLING in Jena auch für das weitere Denken SCHELLINGS nicht voreilig herabgesetzt wird. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Hegel findet sich vor allem hinsichtlich des Identitätsbegriffs; dieser wird geradezu zum Diskrimen der Philosophie Hegels und FICHTES auf der einen und derjenigen SCHELLINGS auf der anderen Seite (179). Es ergibt sich jedoch ein Problem, wenn PEETZ auf der einen Seite behauptet, daß sich in Hegels Differenzsschrift von 1801 die Identität nur als eine Synthesis des Denkens unter der Bedingung der Negativität darstelle, bei SCHELLING aber als eine Tätigkeit des Seins (113 Anm.), und er auf der anderen Seite selbst betont, daß vornehmlich bei SCHELLING wie bei JACOBI im Gegensatz zu Hegel eine grundlegende Differenz zwischen Sein und Denken, gerade in Ansehung des Freiheitsbegriffs bestehe (246 f). Wie aber kann dann für Hegel Identität nur eine Synthesis des Denkens bedeuten, wenn es innerhalb der Hegelschen Konzeption eine so wesenhafte Differenz von Denken und Sein nicht gibt? Wenn PEETZ im weiteren Verlauf seiner Untersuchung SCHELLINGS Begriff der „Sehnsucht" mit dem „entzweitem Selbstbewußtsein" in Hegels Phänomenologie des Geistes zu parallelisieren sucht (139), so bleibt dies sicherlich ebenso fragwürdig wie seine - offenbar ganz auf KOJ£VES Hegel-Interpretationen zurückgehende - Erklärung der Genese des Selbstbewußtseins „im bewußten organischen Leben" aus dem Kampf um Anerkennung (249). Eher treffend charakterisiert PEETZ dagegen die wesentliche Differenz zwischen dem Hegelschen und dem ScHELLiNGschen System": SCHELLINGS offenes System schränkt die Rolle von Reflexion und Wissenschaft stark ein und bindet diese an das praktische Wissen zurück, während sich bei Hegel das Absolute gerade in der Reflexion offenbart (238 f). So ergibt sich für Hegel eine Unterwerfung des Seins unter die „Systemrationalität", während SCHELLINGS Alternative in der „Vorherrschaft des Seins in Form eines Überstiegs über Verfahren und Sprache" besteht (325). Ob der mit HöLDERLIN angezeigte „dritte Weg" im Sinne einer Entscheidung für den Übergang zwischen beiden „Wissensweisen" jedoch mehr Gültigkeit beanspruchen kann als die beiden ersten Alternativen, läßt PEETZ offen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß es dem Verfasser zweifellos gelingt, die Sonderstellung der Freiheitsschrift im ScHELLiNGschen Denken herauszuheben sowie die Gründe für deren Scheitern in äußerst pointierter Form durchsichtig zu machen, um so schließlich auch die Motive für den Übergang zu SCHELLINGS nachfolgenden philosophischen Bemühungen freizulegen. Ob indes der Terminus „Wissensweisen" als Schlüsselbegriff für eine Analyse der Konzeption der Freiheitsschrift geeignet ist, mag offen bleiben. Es bleibt vor dem Hintergrund der Freiheitsschrift schwer entscheidbar, ob die ontologische Option (für Gut oder Böse) bereits mit einer Wahlfreiheit im Wissen notwendig verknüpft ist, d. h. die Verfassung des Wissens selbst präformiert; da nach SCHELLING auch der Böse ja immer weiß, daß er böse handelt, könnte auch allein die individuelle personale Entscheidung nicht aber die Rationalität selbst, wie sie sich aus der Selbstoffenbarung Gottes ergibt, alterabel sein. EHes impliziert eine mögliche Dissoziation von Wissen und Willen, von Ratio-

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nalität und Faktizität, die in der Tat - wie von PEETZ proklamiert - zu einem offenen System bzw. einer Sprengung der Systemkonzeption selbst führt. Dietmar Köhler (Bochum)

Judith Jdnoska, Martin Bondeli, Konrad Kindle, Marc Hofer: Das „Methodenkapitel" von Karl Marx. Ein historischer und systematischer

Kommentar. Basel; Schwabe 1994.296 S. Die Autoren legen einen historisch analytischen Kommentar des als „Methodenkapitel" bekannt gewordenen und in der Diskussion um die MARXsche Methode in den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts viel zitierten dritten Abschnitts der „Einleitung" zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie vor. (Ein Abdruck dieses Textes aus der Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe liegt der Arbeit bei). Diesen Text hatte MARX ursprünglich als Einleitung zu seiner Kritik der Politischen Ökonomie entworfen, selbst aber nie publiziert, sondern als eine den Nachvollzug des Gedankengangs seiner politischen Ökonomie störende Vorwegnahme verworfen. Im Einleitungskapitel ihrer Arbeit skizzieren die Autoren - vorwiegend auf briefliche Äußerungen und andere biographische Indizien gestützt - MARX' Weg zu seiner Ökonomie wie die Etappen seiner Hegelrezeption. Es folgt eine knappe Interpretation der beiden ersten Abschnitte von MARxens „Einleitung"; im ersten Abschnitt zeige MARX, die Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit der ökonomischen Kategorie „Produktion" und entlarve die Illusion der ungeselligen Existenz des Individuums - wie sie etwa in den politischen und ökonomischen Theorien von ROUSSEAU, SMITH und RICARDO, CARRY und BASTIAN bis hin zu PROUDHON auftrete - als Schein und Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. Im zweiten Abschnitt untersuche MARX Distribution, Austausch und Konsum in ihrem Verhältnis zur Produktion, um den Schein ihrer Selbständigkeit aufzulösen und sie in ihrer Abhängigkeit von der Produktion herauszustellen. Bei dieser Argumentation bediene sich MARX der Figur des logischen Schlusses aus der HEGELschen Schlußlehre. Im Hauptteil der Arbeit, dem Kommentar des dritten Abschnitts der „Einleitung", versuchen die Autoren neben der semantischen Klärung schwer verständlicher Passagen die Aufklärung der geschichtlichen Hintergründe wie der wissenschaftsgeschichtlichen Quellen insbesondere der Philosophie und Ökonomie. Ferner sind Bezüge einzelner Passagen zu MARX' Gesamtwerk und schließlich Forschungsstand und -kontroversen Gegenstand des Kommentars. Seiner Natur nach ist dieses Material zu heterogen, als daß es hier zusammengefaßt werden könnte. Allerdings würde der Leser manchmal auch bei den Autoren wünschen, daß das so detailliert zusammengetragene Material wieder auf MARxens Argumentationsgang zusammengebündelt würde. Ich möchte mich im folgenden daher auf die Diskussion der zentralen Passage in MARxens Ausführungen, daß der richtige Weg der wissenschaftlichen Darstellung

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der des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten sei, und ihrer Beziehung zu Hegels Philosophie konzentrieren. Die Autoren unterscheiden drei Ebenen, auf denen die Begriffe „abstrakt" und „konkret" bei MARX agieren: eine Ebene des Denkbzw. Erkenntnisprozesses, eine wissenschaftsgeschichtliche Ebene, in der sie Stadien in der theoretischen Verarbeitung des politisch-ökonomischen Gegenstandes charakterisieren, und schließlich eine Realebene, in der diese Begriffe reale historische Daseinsformen bezeichnen. Obgleich letztere Eormen den Begriffen als Resultaten des Erkenntnisprozesses systematische entsprechen, besteht aber nach den Versicherungen der Autoren kein widerspiegelungstheoretisches Verhältnis zwischen ihnen (54). Während MARX in den 40er Jahren in den Arbeiten um die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und die Deutsche Ideologie in deutlicher Anlehnung an FEUERBACHS anthropologische Umkehrung des Hegelschen Weges vom Abstrakten zum Konkreten die Abstraktion hauptsächlich als unzulässige Abstraktion von bzw. als mystische Verselbständigung der Prädikate gegenüber den wirklichen Inhalten thematisiere, werde ihm besonders im Zusammenhang mit der theoretischen Aneignung der politischen Ökonomie in den 50er Jahren klar, daß Abstraktionen - materialistisch übersetzt als reale Verhältnisse zwischen Agenten (z. B. „das Kapital im Allgemeinen") - auch „verdammt real", „reelle Existenz(en)" seien. Obschon er bei der Transplantation der Aneignungsebene auf die Realebene äußerste Vorsicht walten lasse und gegen voreiliges Hypostasieren von Abstraktionen durchweg nominalistische Bedenken anmelde, wäre das Allgemeine oder Abstrakte danach durchaus real, jedoch nicht dinglich oder begriffsrealistisch gesehen, sondern real im Sinne realer sozialer Verhältnisse (54 ff, 60 f). Ebenso habe das Konkrete unterschiedliche Bedeutungen; es begegne in einer ersten Bedeutung als Gegenbegriff zum Abstrakten der theoretischen Aneignung, etwa wenn MARX von der „wirklichen Voraussetzung", „dem wirklichen Ausgangspunkt", dem „realen Subjekt" spreche. Diese Versicherung richte sich gegen die logifizierenden Tendenzen Hegels, den „Entstehungsprozeß des Concreten" vom Denken abhängig zu machen (61 f). Das Realkonkrete sei aber auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung, ln dieser Bedeutung sei es im Sinne von Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit eine leere Abstraktion, zwar reich von Seiten des Inhalts der Anschauung oder Vorstellung, aber ohne jegliche begriffliche Bestimmung. In einer letzten, am stärksten an Hegel orientierten Bedeutung, meine das Konkrete nicht mehr Einzelnes, sondern den begrifflichen Zusammenhang, „eine reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen" (62). Diese Bedeutungen zugrundegelegt, werden MARxens Ausführungen über den richtigen Weg der Darstellung vom Abstrakten zum Konkreten dann wie folgt rekonstruiert: In einer Konstellation, die den Gegenstand als von der Aneignung noch unterschieden unterstellt, ist es das nächstliegende, den Gegenstand als das „Concrete" zu nehmen. Gefragt wird nach den unmittelbar „wirklichen Voraussetzungen", der realen „Grundlage" oder dem tätigen „Subjekt". Dieser Ausgang vom Realen und Konkreten erweise sich als falsch, weil das Konkrete, Sinnliche, Gegebe-

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ne gar nicht als solches greifbar sei und seine wirklichkeitsversichernden Ansprüche nicht einlösen könne (64 f). Die kategoriale Bewegung, die MARX beschreibe, verlaufe daher auf zwei, durcheinander vermittelten Wegen. Der erste Weg verlaufe von der Abstraktion „Bevölkerung" zu den „dünnen Abstrakta" bzw. „einfachsten Bestimmungen", politischökonomisch gesehen: zur einfachen Bestimmung Wert. Der zweite Weg oder die „Reise", welche „rückwärts" verlaufen soll, beginne mit den „einfachsten Bestimmungen" und ende mit dem Erkenntnisresultat als einer „reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen". Dieses Gegenstandsbewußtsein erlaube es schließlich, das Ding „Ware" als ein - kaschiertes - soziales Verhältnis zu verstehen. Die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten korrigiere bzw. präzisiere MARX jedoch, indem er sie kritisch begrenze und durch die klare Ausrichtung auf das „Reproduzieren" des Gegenstandes im „Denken" erst eigentlich in materialistischen Zusammenhang bringe. Das Aufsteigen sei letztlich die Methode des „Denkens", des Aneignungsprozesses und nicht Methode der realen Bewegung des Gegenstandes. Der Hegelschen Ineinssetzung von Denken und Realbewegung der Illusion, das Reale oder Konkrete als „als Resultat des ... aus sich selbst sich bewegenden Denkens" zu fassen, werde eine klare Absage erteilt (111). Während bei Hegel das Real-Konkrete in die Entwicklung des Denkens vom Abstrakten zum Konkreten völlig aufgehoben werde, bleibe es bei MARX in seiner Selbständigkeit bestehen (116 f). Andererseits aber werden die Autoren nicht müde zu versichern, daß es sich bei der von MARX SO beschriebenen Methode um keinen epistemischen Realismus handle (113,132 u. ö.). ln diesem eigenartigen Oszillieren der Argumentation schlägt sich wohl eine allzu große Pietät gegenüber ihrem Autor nieder; dieselbe Ambiguität findet man nämlich auch in den Arbeiten von MARX selbst. Einerseits entwickelt er in seinem theoretischen Werk die Kategorien vom Wert zum Produktions- und Reproduktionsprozeß des Kapitals als sich verwertendem Wert durchaus nach dem Vorbild des sich entwickelnden Begriffs in der Philosophie Hegels, andererseits aber denunziert er in seinen methodologischen Überlegungen - etwa in besagten Methodenkapitel oder auch im Nachwort zum Kapital (vgl. MEW. Bd 23. 27) - diese Entwicklung als idealistische Illusion, in der die Idee versubjektiviert und das wirkliche Verhältnis als deren imaginäre Tätigkeit aufgefaßt oder die Methode der Darstellung für den Entstehungsprozeß der Wirklichkeit selbst gehalten werde. Er scheint sich dieses Zwiespalts auch durchaus selbst bewußt gewesen zu sein, etwa wenn er sich in seinen methodischen Selbstreflexionen in den Grundrissen immer wieder ermahnt, die idealistische Manier der Darstellung zu korrigieren, die den Schein hervorbringt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektik dieser Begriffe. Tatsächlich sind die - vielfach zu belegenden - Formulierungen MARxens über Zweck, Funktion und Trieb des Kapitals, sich verwertender Wert zu sein, keine bloßen Metaphern. Sie bestimmen vielmehr die dem Kapital zukommende eigentümliche und spezifische „Subjektivität", die sich alles andere, einschließlich seiner lebendigen Akteure zu Mitteln seiner Verwertung macht. Vielleicht ist dies auch einer

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der Gründe, warum MARX die „flüchtig dahingeworfenen Bemerkungen“ der „Einleitung" selbst verworfen hat. Trotz der erwähnten Schwächen ist der vorgelegte Kommentar aber sicher ein wichtiger Beitrag zur Neubelebung der Diskussion um die MARXsche Dialektik und ihr Verhältnis zu Hegel. Es bleibt zu hoffen, daß die Autoren mit ihrer im Vorwort geäußerten Erwartung Recht behalten, daß, da der politisch instrumentalisierte Marxismus in Europa seinem Ende entgegengebracht sei, MARX nun seinen ihm gebührenden Platz als einer der großen Klassiker des politischen Denkens einnehmen könne. Die Entwicklung der akademischen Diskussion der letzten Jahre scheint eher in eine andere Richtung zu weisen, daß man MARX behandelt, wie er einst Hegel behandelt sah: wie einen toten Hund. Franz Hespe (Bergen)

Der Mensch als homo pictor? Die Kunst traditioneller Kulturen aus der Sicht von Philosophie und Ethnologie. Hrsg, von H. Kämpf und R. Schott. Bonn: Bouvier 1995.140 S. Bedürfte es eines Nachweises für die Aktualität des hier zu besprechenden Sammelbandes, so könnte auf eine Auseinandersetzung in Frankreich verwiesen werden, die vor einiger Zeit um Ausstellungsstücke des alten Völkerkundemuseums entbrannte. Anläßlich einer Neukonzeption des Musee de Thomme wurde der Plan bekannt, etwa 150 „Spitzenstücke" der „art premier“ (der Kunst Afrikas und Ozeaniens) in den Louvre als sogenannte Weltkunst aufzunehmen. Dem Einwand vieler Ethnologen gegen diese „Dekontextualisierung" der Objekte wurde u. a. mit dem Hinweis widersprochen, der Vorwurf einer Deplazierung könnte dann auch für die Musealisierung antiker und christlicher Sakralkunst geltend gemacht werden. Um die Frage nach Rang und Bedeutung von Bildern für Menschen verschiedener Kulturen geht es in dem vorliegenden Sammelband Der Mensch als homo pictor? Als erster Band der neu gegründeten Reihe „Beihefte zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft" soll hier, der Intention MAX DESSOIRS folgend, ein Forum ästhetischen, kunstphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Forschens geschaffen werden, mit dem Ziel, die „Mauern zwischen den Fächern abzutragen" (DESSOIR). Kunstwissenschaft, Ethnologie und Philosophie haben je verschiedene Standpunkte, von denen aus sie die Kunst traditioneller Kulturen thematisieren, wobei die jeweilige Methode und Zielsetzung divergiert. Einen fruchtbaren Dialog zwischen den unterschiedlichen Fragestellungen in Gang zu bringen, ist das vorrangige Ziel der vorliegenden Beiträge. Wie gewinnbringend einst - in den Gründungsjahren der Ethnologie - das interdisziplinäre Gespräch zwischen Ethnologie und Philosophie war, scheint heute vergessen zu sein. Den aktuellen philosophischen Theorien scheint der Blick auf empirisches Material verstellt, was die Theorieverdrossenheit der Ethnologen nur noch zu forcieren vermag. Sollen Feld-

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forschung und Theoriebildung Hand in Hand gehen, so setzt dies eine Analyse der methodischen Grundsatzfragen der Ethnologie voraus. F. FELLMANN plädiert in seinem Beitrag für einen Abschied von den Hoffnungen romantischer Ethnologen in fremden Kulturen das „ganz Andere" zu finden. Zwei Modelle der Welterfahrung, CASSIRERS Philosophie der symbolischen Formen und Vicos Neue Wissenschaft, können unterschieden werden. CASSIRERS Versuch, gegen das Schema „vom Mythos zum Logos" den Mythos neben den Wissenschaften als selbständige Denkform auf zu werten und zu legitimieren, sind durch das begrenzt gültige Mythos-Modell Grenzen gesetzt. Reduziert CASSIRERS Mythosbegriff die mythische Welt doch auf eine bloß vorgestellte Welt. In der Tendenz zur Eiktionalisierung äußert sich für FELLMANN die konstitutionelle Schwäche des mentalistischen Ansatzes", der den Mythos rein kognitiv als Erfahrungsart begreift" (6). Gefordert ist dagegen ein kulturanthropologisches Modell, „das sowohl der pragmatischen als auch der symbolischen Seite des Mythos gerecht wird" (6). Dieser Forderung wird CASSIRERS Mythoskonzeption auch dann nicht gerecht, wenn, wie im dritten Abschnitt seines Buches, der Mythos als Lebensform gefaßt wird. Legt CASSIRER hier doch das Hauptaugenmerk auf die Herausbildung des Ichbegriffs. Die Trennung von Form und Funktion, die CASSIRER wesentlich als Einheit begreift, ist das spezifische Novum von B. MALINOWSKIS Mythen-Verständnis. Seine Eorderung, „alle kulturellen Erscheinungen im situationalen Kontext zu betrachten", mündet allerdings in einen Funktionalismus, der sich eine Differenzierung innerhalb der sozialen Bedeutungslehre verbaut, da er die „Funktion als Befriedigung von Bedürfnissen ausschließlich im biologischen Sinn interpretiert". Vor diesem Hintergrund muß es für die Ethnologie um eine philosophische Theorie gehen, die den „funktionalen Standpunkt unabhängig von einer Theorie der Bedürfnisse durchführt". Nur ein solcher Ansatz vermag für FELLMANN, den Mythos als „selbständige Lebensform verständlich zu machen" (7). Vicos Kulturphilosophie vermag hier Entscheidendes zu leisten. Vico macht gegen die Theologie geltend, daß die Menschen die gesellschaftliche Welt selbst hervorgebracht haben. Anders als für die revolutionäre Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts sind es bei Vico aber nicht die mit Willen und Bewußtsein hervorgebrachten Handlungen, sondern die „bewußtlosen Anfänge", die die geschichtsbildende Tätigkeit des Menschen ausmachen. „Machen von Geschichte" ist für Vico eine wesentlich „poetische" Tätigkeit, „in der die Menschen nicht als Täter, sondern als Autoren fungieren". (8) Für Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Völker (1725, letzte Fassung 1744) geht es um die „Rekonstruktion von Lebensformen": „So verschieden die Lebensformen der Urmenschen von denen der zivilisierten Welt auch sein mögen, ihre Erlebniswirklichkeit läßt sich doch aus den Erfahrungen rekonstruieren, die jedem Menschen aus seiner eigenen Entwicklung zugänglich sind." (9) Auf dieser Grundlage entwickelt Vico eine historische Anthropologie, für die die menschliche Tätigkeit sich vom tierischen Verhalten als durch Phantasie gebildet unterscheidet. Menschliches Verhalten hat immer zwei Aspekte, einen pragmatischen oder funktionalen sowie einen symbolischen oder formalen. Vicos Theorie des Mythos vereinigt erkenntnistheoretische und handlungstheoretische Momente,

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wodurch der Mythos als „Lebensform, als gesellschaftliche Institution" interpretierbar wird. Mythische Vorstellungen erhalten bei Vico den Rang von mitmenschlichen Mitteilungen, sind erlebbar und ermöglichen rituelles Verhalten, wobei der Inhalt der Mythen für Vico „objektiv-historischer Natur" ist, insofern die Einhaltung bestimmter Lebensformen angemahnt wird. Die Erfindung der mythischen Vorstellungen obliegt für Vico den „Dichtertheologen". „Damit sind zwei Seiten der mythischen Tätigkeit genannt: die poetische und die hermeneutische" (12). Denn der Mythos als Leistung der poetischen Phantasie bringt für Vico z. e. Allgemeinbegriffe hervor, z. a. sind diese Begriffe immer der Auslegung bedürftig. Letzteres, das Auslegungsmonopol etabliert Herrschaftsstrukturen und führt zu einer gesellschaftlichen Differenzierung, die nach institutioneller Absicherung verlangt. Vicos Theorie des mythischen Wissens ist als radikale Transformation der metaphysischen Ideenlehre zu begreifen. Die drei Ideen der metaphysica specialis, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, sind für Vico Produkte der natürlichen Phantasie des Menschen, sie sind im Prozeß der Vergesellschaftung entstanden. Die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes für das Verständnis der Kunst traditioneller Gesellschaften wird abschließend geprüft. In der Konfrontation mit dem ethnologischen Material zeigen sich die Vorzüge, aber auch die Mängel der Vicoschen Mythostheorie: Vico vernachlässigt für FELLMANN die spielerische Seite des Mythos. Auch der Beitrag von J. PLATENKAMP widmet sich den anthropologischen Grundfragen ethnologischen Forschens. Kritisch wird dabei die generelle Gültigkeit der homo-pictor-These befragt, z. e. hinsichtlich der regionalen Verbreitung, z. a. hinsichtlich der im Bild entfalteten „transanimalen" Natur des Menschen. Als Anthropologe plädiert PLATENKAMP für eine Begrenzung der Fragestellung auf einzelne Gesellschaften, denn „transanimal man necessarily expresses himself in the culture of a particular society". (21) Für eine Rückbindung der künstlerischen Produktion an die Gesellschaft plädiert auch MIKLAS SZALAY in seinem Beitrag „Die Einheit von Kunst und Gesellschaft in Afrika". Gegen die enge Begrenzung traditioneller afrikanischer Kunst auf einen „sakralen Wesenszug" (SCHMALENBACH) fordert SZALAY, die Verschränkung der Kunst mit anderen Kultur- und Gesellschaftsbereichen zu beachten. Hier ist es insbesondere die Sozialstruktur, die in den Werken in „konkreter, sichtbarer Weise vorgezeichnet ist". Kunst ist so „Teil der Repräsentationskultur einer Gesellschaft", in der sich diese als solche erkennt und nach außen als Einheit erfährt. Werden diese Zusammenhänge beachtet, so verbietet sich jene enge evolutionäre Kunstgeschichtsschreibung, die die europäische Kunst der Moderne als Produkt der Befreiung aus sakralen-religiösen Bezügen erkennt und ihr Autonomie zuspricht. Eine späte Folge dieses Befreiungsprozesses ist der Avantgardismus, der die Menge stilistischer Innovationen in einem einzigen Jahrzehnt (zwischen 1960 und 1970) um das Zehnfache größer werden ließ als in fünfzig Jahren des vorigen Jahrhunderts (etwa zwischen 1850 und 1900). LüBBE weist in seinem Beitrag nach, wie wenig das von ADORNO aufgestellte Diktum „Hotelbild oder Moderne. Es geht wirklich nicht mehr anders, Tertium non datur" der tatsächlichen Kunstrezeption ent-

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spricht. Z. e. vermag sich der ohnehin fragwürdige Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit innerhalb der Avantgarde nicht durchzusetzen, z. a. ist das, was sich den Avantgarde-Ansprüchen nicht fügt, damit nicht „eo ipso auf den Rang von Wandschmuck in Drittklasshotels" (75) degradiert, ln einer liberalen Kultur setzt die avantgardistische Orientierung vielmehr eine Vielzahl von Positionen frei, deren jeweilige „Spitze" gar nicht auszumachen ist. Der Rezipient wird zwangsläufig zum Eklektiker - dieser Eklektizismus der gegenwärtigen Kunstrezeption ist eine Konsequenz des überforderten historischen Sinns, denn eine Prüfung aller Positionen ist angesichts der Messehallen füllenden Masse von Relikten der avantgardistischen Kunstentwicklung gar nicht mehr möglich. Nicht länger ist die Urteilssouveränität Basis des Eklektizismus, sondern allein das Recht subjektiver Vorlieben. Für LüBBE liegt es „in der temporalen Natur der Sache", daß dieser Eklektizismus nicht nur die Zurückweisung der Zumutung, sich stets auf der Höhe der aktuellen Entwicklung befinden zu müssen, beinhaltet, sondern ein verstärktes Interesse für kulturelle Bestände weckt, „die komplementär zur avantgardistisch bewegten Gegenwartsszene sich durch eine größere Geltungskonstanz auszuzeichnen scheinen" (80). Mitnichten bleiben, so LüBBE, die Räume der Öffentlichkeit, aus denen die Kunst der Avantgarde sich zurückzieht, kunstfrei, sie werden von der Klassik besetzt. Das „Klassische" - hier als Kontrastbegriff zur „Moderne" gebraucht - zeichnet sich vor dem ephemer Neuen und Neuesten durch eine faktisch erwiesene größere Alterungsresistenz aus: „Relative Dauergeltung" ist das Signum des Klassischen. LüBBE geht es nicht um ein Ausspielen der Moderne gegen das Klassische, vielmehr gehören für ihn beide Erfahrungen zusammen: „Gerade wer die Avantgarde schätzt, schätzt um so mehr auch, wogegen sie kontrastiert." (83) Die Rezeption sogenannter Ethnokunst, die Aufnahme traditioneller, klassischer afrikanischer Kunst ins Kunstmuseum fordert sowohl Ethnologen als auch Kunsthistoriker auf, den Bild- und Kunstbegriff neu zu reflektieren. LYDIA HAUSTEIN-MüLLER geht in ihrem Beitrag diesen Zusammenhängen nach. Für sie kann es eine rein „ästhetische Betrachtung" von „ethnologischen Gegenständen", kulturhistorischen Objekten bzw. von Kunst nur als individuelle Betrachtung, nicht aber als verbindliche wissenschaftliche Interpretation geben. Letztere muß den Kontext des jeweiligen Werkes mit einbeziehen, d. h. die Intentionen des Künstlers sind hier ebenso zu beachten wie der kulturelle und soziale Zusammenhang. Die letztgenannte Aufgabe ist von Ethnologen und Kunsthistorikern nur gemeinsam zu lösen, denn nicht die Fakten allein sind für eine Wissenschaft relevant, sondern „die Erkenntnis ihrer Bedeutung in einem Zusammenhang". Dieser Aufgabe sind Ethnologie und Kunstwissenschaft nur dann gewachsen, wenn die professionelle Selbstdarstellung der einzelnen Geisteswissenschaften mit dem Drang zum geschlossenen System nicht länger den Vorrang vor dem offenen interdisziplinären Gespräch einnimmt. HUSSERLS Bildbegriff steht im Zentrum des Beitrags von A. HAARDT. Für HAARDT steht mit HUSSERLS Bildbegriff nicht die Frage „nach der Ähnlichkeit von Bild und bildhaft Dargestelltem, sondern diejenige des Widerstreits von bildhafter Fiktion und realem Kontext der Bildbetrachtung" (105) zur Debatte. Spätestens seit 1918

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müßte bei HUSSERL - aufgrund der philosophischen Rahmenbedingungen - an die Stelle einer Ästhetik der mimetischen Darstellung eine Ästhetik des Widerstreits treten. „Nicht die Freude an der gelungenen Darstellung des Bekannten, sondern das Befremden über eine verfremdete Wirklichkeit wäre die vom Künstler intendierte ästhetische Reaktion des Rezipienten" (112) - eine Reaktion, die auch die außereuropäische Kunst in einen neuen Kontext zu stellen vermag. K. SACHS-HOMBACH geht in seinem Beitrag der Bedeutung mentaler Bilder nach. HOMBACH zeigt, wie jedes Bildverständnis die „Fähigkeit der Wahrnehmung zu Abstraktion" voraussetzt, das mentale Bild hat somit Vorrang vor dem materiellen eine Problemstellung, die insbesondere für die ethnographische Erforschung kognitiver Systeme wichtig ist. Als „Dekonstruktion der Hegelschen Ästhetik" entwickelt abschließend H. KIMMERLE seine These, die ästhetische Dimension liege außerhalb der Geschichte. KIMMERLES Anspruch, eine kritische Reflexion auf den Fortschrittsbegriff zu leisten, ist allerdings nicht als einfache Antwort auf die Frage nach den Fortschritten innerhalb der bildenden Kunst zu verstehen, lediglich wird „einige Orientierung im vielfältig strukturierten Feld" der Fortschrittsfrage angestrebt. Hegels Deutung des Phänomens Kunst macht verschiedene Elemente geltend, hinsichtlich derer die Frage nach einem Fortschritt jeweils neu zu stellen ist: Erstens, die eigentlich ästhetische Dimension, zweitens die technischen Mittel, „die dem Kunstwerk nicht äußerlich sind, aber doch vom ersten Element unterschieden werden können", drittens ist jede Kunst in einen kulturellen Zusammenhang eingebettet und übernimmt dort eine spezifische Rolle und Funktion. Diese einzelnen Aspekte des Kunstwerks werden von KIMMERLE auf ihr Verhältnis zur Fortschrittsfrage geprüft. Eine abschließende Bündelung dieser Aspekte wird von KIMMERLE abgelehnt, „der Weg zurück [ist] abgeschnitten" (129). Die unterschiedenen Elemente des Kunstwerks brechen die Eindimensionalität des Fortschrittsbegriffs auf. KIMMERLE spricht daher von einer „Regionalisierung des Fortschritts", insofern als der Fortschritfsbegriff lediglich in der „allgemeinen Geschichte", der Entwicklung politisch-staatlicher Verhältnisse, seine durchgehende Verwendung findet. Die besonderen Geschichten der Kunst, Religion und Philosophie werden aber, so KIMMERLE, von Hegel nicht mit dieser allgemeinen Entwicklung vereinigt. Neben dieser „Regionalisierung" spricht KIMMERLE von einer „Elementarisierung" des Fortschritts, insofern als nur beim zweiten und dritten Merkmal der Kunst (technische Mittel und Rolle innerhalb des Lebenszusammenhangs) von einem Vor- und Rückschritt gesprochen werden kann. KIMMERLE lehnt es mit Verweis auf „das Übergewicht des Systematischen in Hegels Argumentation" ab, auch hinsichtlich des ersten Merkmals, dem „eigentlich Ausdrucksvollen", von Fortschritt und Entwicklung zu sprechen. „Es geht mir nur darum, im Blick auf die eigentlich ästhetische oder philosophische Qualität dem Gesichtspunkt des Fortschritts oder der Höherentwicklung so radikal wie möglich entgegenzutreten." (137) Gänzlich unbestimmt bleibt in diesem Zusammenhang die Grundfrage, wodurch sich Bilder in verschiedenen Kulturen auszeichnen. Auf die „rein ästhetische

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Bedeutung reduziert, wird die Höhlenmalerei zum Argument dafür, daß „das Vermögen des Menschen, wichtige Kunstwerke zu schaffen, von seinem Zivilisationsgrad unabhängig" ist. Als Ausgangspunkt mag man dieser JoNASschen These zustimmen, problematisch scheint allerdings die Schlußfolgerung, daß alle geschaffenen Werke unabhängig von ihren Entstehungsbedingungen in ihrer eigentlich ästhetischen Dimension erfahrbar sind, bzw. daß sich die Wichtigkeit eines Werks über diese eigentlich ästhetische Dimension erschließt. Mit Blick auf Hegel mag die Unterscheidung der drei Merkmale methodisch zunächst hilfreich sein, eine Isolierung der einzelnen Aspekte verfehlt aber nicht nur die Grundintentionen der HegeIschen Ästhetik. Im enzyklopädischen Aufriß der Philosophie des Geistes läßt Hegel auf den objektiven den absoluten Geist folgen. Letzterer verwirklicht sich in ,regionalen' Geschichten (Kunst, Religion, Philosophie). Nun ist es aber keineswegs so, daß Hegel das Verhältnis dieser Gestalten des absoluten Geistes zur Weltgeschichte unbestimmt läßt. In seiner Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte gibt er Auskunft über dieses Verhältnis. Kunst, Religion und Philosophie treten innerhalb der Weltgeschichte nicht in ihrer eigentümlichen und ganzen Bedeutung auf, sondern nur „nach der Seite, wie sie im menschlichen Bewußtsein erscheinen". Die jeweilige Funktion und Bedeutung für das menschliche Bewußtsein gilt es daher jeweils neu aus dem Gesamtzusammenhang der Lebensbezüge herauszuarbeiten. KIMMERLES Insistieren auf die „eigentlich ästhetische Kategorie" verfehlt dieses Anliegen. Es ist zu fragen, ob mit der Dimension des „eigentlich Ästhetischen" nicht eine Kategorie in Anwendung kommt, die ein spezifisches Produkt der europäischen Kunstgeschichte und dem ihr zugrundegelegten Fortschritt ist. Dann aber vermag diese Kategorie der außereuropäischen Kunst in keiner Weise gerecht zu werden. Die provokante These KIMMERLES verlangt geradezu nach einer Überprüfung am ethnographischen Material und zeigt so abschließend, daß nicht nur für die Ethnologie, sondern auch für die Philosophie der Dialog zwischen den Fächern unverzichtbar ist. Die Beiträge des Bandes haben diesem Dialog in überzeugender Weise den Weg geebnet. Elisabeth Weisser-Lohmann (Hagen)

BIBLIOGRAPHIE ABHANDLUNGEN ZUR HEGEL-FORSCHUNG 1995 Zusammenstellung und Redaktion: Christoph Bauer (Bochum)

In dieser fortlaufend fortgesetzten Berichterstattung wird versucht, das nicht selbständig erschienene Schrifttum über Hegel, also Abhandlungen aus Zeitschriften, Sammelbänden usw. möglichst breit zu erfassen und im einzelnen durch kurze Inhaltsreferate bekanntzumachen. Die Anordnung geschieht alphabetisch nach den Namen der Autoren. Nicht alle vorgesehenen Inhaltsreferate konnten bis Redaktionsschluß fertiggestellt werden. Sie werden im nächsten Band nachgeholt. Für diesen Band haben Berichte verfaßt: Andris Breitling (Bochum), Fabio Discendenti (Pisa), Anja Exner (Bochum), Antonio Gömez Ramos (Madrid), Paolo Giuspoli (Verona), Oliver Kalus (Bochum), Eyüp Ali Kili(;aslan (Ankara), Jeong-Im Kwon (Seoul), Mariano de la Maza (Santiago de Chile), I- Murray Murdoch (New York), Alain Olivier (Paris), Eduard Parhomenko (Tartu), Nikolaij Plotnikov (Moskau), Silvia Rodeschini (Bologna), M. Joseph Saman (Bochum), Frank Schlegel (Bochum), Etzel Schottky (Bochum), Laura Tomassetti (Roma), Frank Volkel dena), Lu de Vos (Leuven), Kenneth R. Westphal (New Hampshire), Elisabeth Weisser-Lohmann (Hagen) sowie Christoph Bauer, Wolfgang Bonsiepen, HansJürgen Gawoll, Andreas Großmann, Friedrich Hogemann, Dietmar Köhler, Helmut Schneider und Annette Seil vom Hegel-Archiv (Bochum). Die über Hegel arbeitenden Autoren sind freundlich eingeladen, durch Einsendung von Sonderdrucken die Berichterstattung zu erleichtern. Allen, die solche Hilfe bisher schon geleistet haben, sei besonders gedankt.

G.W. F Hegel und K. Libelt - Zwei Historiosophien. - In: Hegel-Jahrbuch 1993/94. Berlin 1995.228 - 230.

ANDRZEJEWSKI,

BOLESLAW:

Am Beispiel des polnischen Philosophen K. Libelt (1807-1875) beschreibt Verf. die Unterschiede zwischen deutscher Philosophie, die für Libelt ein „Kopfschwindel für die Jugend" war, und polnischer, die laut Verf. „eher praktisch orientiert" ist. Die Unterschiede bestehen demnach in der Frage nach der Realität Gottes - in Polen durch den Glauben an den persönlichen Gott geprägt - und der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Nation. Entgegen der Auffassung H.s ist bei Libelt der Ausgangspunkt der Erwägungen nicht der auf einer Idee beruhende Staat, vielmehr sind es „die Nationalitäten und Nationen, die die heilige, von Gott selbst gegebene Realität besitzen", auf der sich der Staat erst gründen kann.

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BIBLIOGRAPHIE

Der Begriff der Allgemeinheit in der Philosophie des Rechts. - ln: Hegel-Jahrbuch 1993/94. Berlin 1995. 89-97.

ARNDT, ANDREAS:

Dem Akkodomationsvorwurf gegen Hegels Rechtsphilosophie ist allein schon durch H.s Bestimmung des Rechts als Idee der Boden entzogen. Angreifbar ist dagegen die Bindung der Allgemeinheit des Rechts an die Allgemeinheit des Absoluten, „in dem das Recht seine Beschränktheit verliert und unmittelbar zur in sich konkreten Allgemeinheit wird". Zu klären ist daher die Frage, welche Allgemeinheit dem Recht zukommen kann. „Die Frage nach dem Begriff der Allgemeinheit in der Idee des Rechts läuft... auf die Frage nach einem Vernunftbegriff von Rationalität hinaus, von dem aus sich Recht als vernünftige Allgemeinheit begreifen ließe". Verf. klärt zunächst die Spannweite des H.schen Rechtsbegriffs hinsichtlich der mit ihm in Anspruch genommenen Allgemeinheit. Desweiteren wird gezeigt, inwieweit H.s Begriff der endlichen Rechtsverhältnisse nicht Elemente eines Begriffs von Allgemeinheit enthält, der auf Bindungen an ein Absolutes Verzicht leisten könnte, ohne die Vernunft preisgeben zu müssen. Im Rückgriff auf die Wissenschaft der Logik rekonstruiert Verf. diesen endlichen Vernunftbegriff.

ASMUS, VALENTIN E:

Dialektika neobchodimosti i svobody v filosofii istorii Gegelja

[Dialektik der Nofwertdigkeif und der Freiheit in Hegels Geschichtsphilosophie]. - ln: Voprosy filosofii. Moskva 1995. N. 1,52-69. Erörterung und Kritik der These von der Freiheit als erkannter Notwendigkeit.

S. F.: Die Zeit als Mitte der Philosophie Hegels. - ln: HegelStudien. Bonn. 30 (1995), 121-143. BAEKERS,

Staat und „Corpus Christi Mysticum". Religionspolitologische Aspekte der Hegelschen Philosophie des Staates. - In: Hegel-Jahrbuch 1993/94. Berlin 1995.256-259. BäRSCH,

CLAUS-E.:

Die Konjugation von Politik und Religion reflektierend, untersucht Verf. die gesellschaftliche Einheit und kollektive Identität stiftende Funktion der instrumentalisierten theologischen Rede vom „Corpus Christi mysticum". In H.s Staats- und Religionsphilosophie werden Strukturähnlichkeiten zum o. g. ekklesiologischen Modell aufgewiesen und politologisch hinterfragt.

Hegel: una inferprefadört del platonismo [Hegel: Eine Interpretation des Platonismus]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 29 (1995), 125-148. BARRIOS

CASARES,

MANUEL:

Verf. versucht, den entscheidenden Einfluß der Platonischen Dialektik auf den Ursprung der H.schen Dialektik und deren Bedeutung für dessen Selbstverständnis aufzuzeigen. Dabei bezieht er sich zunächst auf die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, ergänzt durch die Vorlesungen über Platon, wo H. die „mythischen" Formulierungen Platons über die Einheit von Subjekt und Objekt, Freiheit und Natur, Seele und Welt von deren spekulativen Inhalt trennt. Die Wurzeln der Platon-Interpretationen H.s findet Verf. einerseits im Jenaer Aufsatz über das Verhältnis von Skeptizismus und Philosophie, wo H. die Platonische Dialektik als eine wahrhafte

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Form des Skeptizismus darstellt, andererseits im Einfluß Hölderlins auf den jungen H. bezüglich seiner Auffassung von der Liebe als Vereinigungsprinzip, die eine Kritik der Reflexionsphilosophie und besonders der Urteilsstruktur einschließt.

Hegel, die Frauen und die Ironie. - In: Benhabib: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Aus dem Amerikanischen von Isabella König. Frankfurt a. M. 1995.258-340. BENHABIB, SEYLA:

Verf. stellt zunächst die methodologischen Probleme eines feministischen Zugangs zur Philosophiegeschichte dar, damit einhergehend fragt sie nach H.s Frauenbild sowie nach der These von der „natürlichen Ungleichheit" der Geschlechter. Besonders bezieht sie sich auf die Rechtsphilosophie, in der sie eine „Überlegenheit des Mannes" konstatiert. Ebenso stellt sie H.s Auffassung von Familie, sittlichem Leben und Sexualität (mit einem Querverweis auf Friedrich Schlegels Lucinde) in der Rechtsphilosophie dar. Zum Schluß zeigt ein Blick auf die Phänomenologie des Geistes, wie H. die Figur der Antigone gestaltet, so daß er sich als „Totengräber weiblicher Emanzipationsbewegungen" erweist.

Im Schatten von Aristoteles und Hegel. Kommunikative Ethik und Kontroversen in der zeitgenössischen praktischen Philosophie. ln: Benhabib: Selbst im Kontext. Frankfurt/M. 1995. 33 - 75,280 - 293. BENHABIB, SEYLA:

Verf. setzt sich mit zeitgenössischen Moral- und Politiktheorien auseinander und dies auch unter dem Blickwinkel der Geschlechterdifferenz. Eine universalistische Theorie wird verteidigt: „Sie ist als post-metaphysische Reformulierung einer praktischen Philosophie das Denken eines Universalismus als dialogischer Prozeß einer,erweiterten Denkungsart'" im Anschluß an Kant und H. Arendt. Die kommunikative Ethik oder Diskursethik werde durch einen neoaristotelischen und neuhegelianischen Standpunkt herausgefordert, der - bereits seit Aristoteles' praktischer Philosophie und H.s Kritik an Kant {Naturrechts-Aufsatz) - entgegen dem Formalismus und Universalismus das Konkret-Historische, die ,Sittlichkeit' betont. Die Einwände gegen eine kommunikative Ethik, die aber dialogisch neu formuliert werden soll, sollen ernst genommen werden.

De l'esprit: les philosophes allemands et 1'AM/klärung. - In: Revue Germanique Internationale. Paris. 2 (1995), 157-179. BIENENSTOCK, MYRIAM:

Die deutsche Tradition der Philosophie des Geistes erscheint einigen Interpreten als eine ablehnende, obskurantistische Reaktion auf die französische Aufklärung. Eine Untersuchung des Gebrauchs, den Philosophen wie Kant, Fichte und H. um 1800 vom Begriff des Geistes machen, zeigt indessen, wie unangemessen eine solche Deutung ist: Kant war, entgegen der Behauptung Jacobis, welcher die deutschen Philosophen in den Pantheismusstreit zu verwickeln suchte - der Streit über das Schicksal der Aufklärung in Deutschland -, kein Schwärmer. Ebenso falsch wäre es, aus Fichtes Wissenschaftslehre die Leistung eines Genies zu machen. Wenn schließlich H. betont, daß das Werk derjenigen, „welche Genies genannt werden" nur zu verstehen ist, wenn der Geist des Volkes, in welchem dieses Werk hervorgebracht wurde, d. h. die Geschichte, berücksichtigt wird, macht er sich nicht zum Apostel eines engstirnigen Nationalismus. Eher ver-

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BIBLIOGRAPHIE

sucht er, eine der grundlegenden Fragen der Aufldärung zu beantworten, nämlich wie das Volk zur Freiheit zu erziehen ist.

Hegels Lehre vom ,Begriff' in Marx' Grundrissen. In: Jahrbuch für Hegelforschung. Sankt Augustin. 1 (1995), 111 -120. BIENENSTOCK, MYRIAM:

Im Gegensatz zu Colettis Interpretation, die eine Kontinuität des Marxschen Denkens annimmt, zeigt Verf. die unterschiedlichen Beurteilungen des Begriffs der Abstraktion auf, den Marx aus der Wissenschaft der Logik übernommen hat. Wahrend Marx in seinen Frühschriften die Philosophie FI.s wegen ihrer Abstraktion als Heraustrennung aus einer begrifflichen Totalität kritisiert, sieht er darin seit den Grundrissen das entscheidende Definitionsverfahren der Wissenschaften, mit dessen Hilfe er die Identität von Denken und Sein aufgibt. Abstraktionen wie z. B. die der Arbeit vom Kapital, welche die spezifische Differenz einer Sache ausmachen, führen zu notwendigen Axiomen, die empirisch beobachtbare Phänomene erklären.

Was ist politischer Idealismus? Die Arttwort Hegels. - In: Revue de Synthese. Reihe 4, N. 1, Paris 1995. 5-25. BIENENSTOCK, MYRIAM:

Nach H. kann die Philosophie nichts anderes leisten, als „die Vorstellungen in Gedanken" und „den bloßen Gedanken in den Begriff" zu verwandeln. Dementsprechend sollte auch die politische Philosophie nichts anderes tun, als die Vorstellungen, die wir uns von unseren politischen Institutionen machen, aber auch diejenigen, die wir in unseren Handlungen als Ziele verfolgen, in „Gedanken" zu verwandeln. Darüber hinaus soll die politische Philosophie noch zeigen, daß in diesen Vorstellungen der „Begriff" und schließlich auch die „Idee" enthalten ist: die Idee der Freiheit. Die Bedeutung dieses politischen Idealismus wird im vorliegenden Artikel geklärt anhand der H.schen Unterscheidung zwischen einer Subjektivitäts- oder Bewußtseinsphilosophie und einem Idealismus des Geistes.

Die Positivität des christlichen Staates - die Umkehrung eines Hegelschen Jugendgedankens. - In: Hegel-Jahrbuch 1993/94. Berlin 1995.143-148. BONDELI, MARTIN:

Verf. versucht nachzuweisen, daß der junge H. ein „unerbittlicher Kritiker des christlichen Staates" gewesen ist, wohingegen der alte H. „zum Apologeten eines Vernunftstaates" wurde, welcher „dem christlichen Geist der Neuzeit entsprungen sein soll", wobei H. aber durchgängig am Ideal der griechischen Polis festgehalten hat. Entscheidend sei, laut Verf., daß H. nach 1800 die Geschichte „nicht mehr primär als Verfallsgeschichte", sondern aus christlicher Weitsicht heraus als „Geschichte des Aufstieges zur vernünftigen Freiheit zu begreifen" begonnen hatte. Verf. verweist diesbezüglich auf die Schwierigkeit, wie H.s „antikisierendes Staatsmodell zugleich aus dem Prinzip der christlichen Welt heraus begriffen werden kann".

BONDELI, MARTIN:

45-87.

Hegel und Reinhold. - In: Hegel-Studien. Bonn. 30 (1995),

Abhandlungen zur Hegelforschung 1995

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British Idealist International Theory. - In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Colchester. 31 (Spring/Summer 1995), 7389. BOUCHER, DAVID:

Boucher argues „that British idealists addressed the key issues of the possibility of extending the Community to the international sphere and the establishment of supranational institutions" in Order to present the theories of British idealists as a worthwhile source for the discipline of international relations theory. He States his principle thesis as follows: „All of the British idealists were much more intemationalist than is generally appreciated and therefore diverge considerablyfrom H."

Philosophie hegelienne de l'Actualite et Actualite de la Philosophie hegelienne. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 51 (1995), 229-238. BOURGEOIS, BERNARD:

H.s Philosophie der Gegenwart ist dergestalt, daß sie ihren Aktualitätscharakter nicht allein in ihrer Form, sondern zu einem guten Teil auch im Inhalt beibehält, und zwar so sehr, daß unser Zeitalter in seiner Wesensart fortfährt, sich zu hegelianisieren.

Die dialektische Natur der Vernunft. Über Hegels Auffassung von Negation und Widerspruch. - In: Hegel-Studien. Bonn. 30 (1995), 89-104. BRAUER,

DANIEL:

Hegel dans soi-meme comme un autre de Paul Ricoeur. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 51 (1995), 389-404. BRITO, EMILIO:

Ricoeur bleibt dem Versuch H.s sehr nah insofern er sich dem politischen Atomismus entgegenstellt. Aber der Widerspruch zwischen Sittlichkeit und Moralität wird seiner Meinung nach überflüssig, wenn man einerseits der Rechtsordnung einen weiteren Anwendungsbereich gibt, als den, welchen ihm der Lehrsatz H.s vom abstrakten Recht zuweist und wenn man andererseits die H.sehen Analysen der Sittlichkeit von der Ontologie des Geistes trennt, welche die institutioneile Vermittlung des Staates in eine sich selbst denkende Instanz verwandelt.

and PROKHOVNIK, RAIA: Hobbes, Hegel and Modernity. In: Hobbes Studies. Assen. 8 (1995), 88-104. BROWNING, GARY K.

Hobbes and H. are quite distinct from one another. Yet they share a modern view of the seif as self-defining, and replace the ancient and medieval perspective of a cosmic Order with an inherently modern one based on the seif. While both are modern in this respect, Hobbes viewed Society through radical individualism and materialism, whereas H. offered an „absolute idealism" and emphesized the role of the Community. Kraynack, Tuck, Goldie, Flathman, Brod, Houlgate, and Taylor are mentioned in sketching Hobbes' and H.'s views. The differences between Hobbes and H. „are significant in pointing up the complexity of distinctively ,modern' conceptions of the world which is often overlooked in post-modern critiques (Lyotard, Rorty, and Derrida) of ,modern' notions of reason and universalism."

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BIBLIOGRAPHIE

Hegel and America by Jose Ortega y Gasset. Translated with an introduction. - In: Clio. Kenosha, Wisc. 25(1995), 63-81. BUCHANAN, LUANNE/HOFFHEIMER, MICHAEL H.:

Ortega y Gasset studierte 1904-1908 Philosophie bei den Marburger Neukantianern. Erst später fand er zuH., als er 1928-1931 drei Essays über H. schrieb und seine Philosophie der Weltgeschichte in spanischer Sprache herausbrachte. Der Essay Hegel und Amerika ist hier zum ersten Mal in das Englische übersetzt. - H. rechtfertigte die Geschichte und erklärte die Gegenwart durch die in der Geschichte sich zeigende Vernunft. Ortega hält H. für einen einmaligen, naiven, gewalttätigen Denker, der in seinem geschlossenen System keinen Platz für die Zukunft hat. Da Amerika auch für H. das Land der Zukunft ist, muß man H.s Philosophie über die Zukunft am Beispiel Amerikas erörtern. Da die Geschichte für H. mit der Bildung von Staaten beginnt, gehört Amerika zur Vor-Geschichte. Dementsprechend zeigt Amerika Züge der Schwäche und Unreife. Ortega äußert sich zwar über manche Ansichten und Urteile H.s ironisch, erkennt aber an, daß H. das empirische Wissen seiner Zeit über Amerika durchaus besaß und daß selbst in seinen Irrtümern noch viel Wahrheit steckt.

La decisione all'origine del filosofare in Kant e in Hegel [Der Entschluß am Ursprung des Philosophierens bei Kant und bei Hegel]. - In: Archivio di Filosofia. Padova. 63 (1995), 377-387 CHIEREGHIN, FRANCO:

Am Ursprung des Philosophierens gibt es einen freien Entschluß des Menschen für einen bestimmten Lebensstil; ausgehend von dieser Überzeugung vergleicht Verf. zwei Vorbilder. Bei Kant muß der Mensch sich zwischen zwei Philosophie-Auffassungen entscheiden: einer Schulphilosophie, die durch ,Techniker des Wissens' fortgeführt wird und nur einem „System der Erkenntnis" gewidmet ist, andererseits einer kosmopolitischen Philosophie, in welcher der Mensch als „Lehrer im Ideal" und gleichzeitig als Bürger der Welt sich ganz in das Spiel des Lebens hineinziehen läßt. Bei H. muß das Subjekt, das in die Philosophie eindringen will, sich ebenfalls zwischen zwei Wegen entscheiden: dem Weg der Sicherheit vor den Entzweiungen, welche die Selbst- und Welterfahrungen durchqueren, der mit dem Rettungsring der Vorurteile und Voraussetzungen durchlaufen wird, und dem Weg des Zweifels und der Entzweiung, der nur durch den Entschluß für das reine Denken, für die vollständige Auseinandersetzung mit den Zweideutigkeiten, die in der Welt entstehen, durchlaufen werden kann. Grundlage beider Auffassungen ist die Einsicht, daß dieser Hauptentschluß des Menschen nur dann wesentlich frei sein kann, wenn es ein Entschluß für die Freiheit als „Endzweck seiner selbst" ist.

La dialettica del giudizio nell' Enciclopedia di Heidelberg: Hegel e Aristotele [Die Dialektik des Urteils in der Heidelberger Enzyklopädie: Hegel und Aristoteles]. - In: Giornale di Metafisica. Genova N. S. 17 (1995), 415-437. CHIEREGHIN,

FRANCO:

Der Aufsatz ist ein Kommentar zur Behauptung H.s {Enz. 1817, § 134, Anm.), Aristoteles habe das absolute Denken ausdrücklich von dem Denken desjenigen unterschieden, was ,wahr' oder,falsch' sein kann, d. h. von der allgemeinen Form des Satzes. Verf. erklärt, daß das Urteil als solches nach H. den Standpunkt der Endlichkeit ausdrückt, indem in ihm etwas nur durch die äußerliche, prädikative Beziehung auf etwas Anderes bestimmt und verstanden wird. In bezug auf die Ebene der bloßen Richtigkeit, welche dem diskursiven Verstand eigen ist, setzt das Problem der Wahrheit aber erst bei der höheren Auffassung des Denkens als &v&pysm, als reiner.

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freier Tätigkeit an, die die Sache durch ihr untrennbares aßata als einfaches 6X