Theologie als Streitkultur [1 ed.] 9783737013215, 9783847113218

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Theologie als Streitkultur [1 ed.]
 9783737013215, 9783847113218

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Wiener Jahrbuch für Theologie

Band 13/2021

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Die Bände des Wiener Jahrbuchs für Theologie sind peer-reviewed.

Uta Heil / Annette Schellenberg (Hg.)

Theologie als Streitkultur

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelisch-Theologischen Fakultät und des Rektorats der Universtät Wien. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Gerd Altmann auf Pixabay Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1607-4289 ISBN 978-3-7370-1321-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theologie als Streitkultur Stefan Fischer Streitkultur im Buch Hiob. Leiden im Horizont von Unschuld und Schuldzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Magdalena Lass »Streit ist Krieg«. Überlegungen zu den Gewaltformen in Psalm 35 . . . .

31

Hans Förster Zum Einfluss der Übersetzungen auf die Wahrnehmung der Dynamik von Auseinandersetzungen im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . .

63

Angela Standhartinger Streitkultur im Neuen Testament. Dargestellt am Konflikt um die Tischgemeinschaft in den paulinischen Homologumena . . . . . . . .

81

Uta Heil Streitende Heilige und heilsamer Streit. Zur christlichen Streitkultur in den ersten Jahrhunderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Michaela Durst Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters. Einige Bemerkungen zu Johannes Chrysostomos’ Dialog De sacerdotio . . . . . . 119 Christian Danz Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

6

Inhalt

Ulrich H.J. Körtner Christliche Sokratik. Emil Brunners Programm theologischer Eristik und das Problem der Apologetik bei Rudolf Bultmann . . . . . . . . . . . . . 155 Michael Hackl Pluralität des Denkens. Cassirers »new horizon« in Naturwissenschaft und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Manuel Stetter Predigt und Pluralität. Zur Bearbeitung kultureller Differenz im Rahmen religiöser Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Bernhard Lauxmann Bis die semantischen Fetzen fliegen! Auseinandersetzungen ums Christsein in spätmodernen Arenen christlich-religiöser Debattenkultur wie gutefrage.net, YouTube und Co . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Rainer Lachmann Theologie als Streitkultur in Geschichte und Gegenwart der Religionspädagogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Robert Schelander Streit um die Schule. Der »Schulkampf« in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Aus der Forschungswerkstatt Uta Heil zusammen mit Maria-Lucia Goiana und Sandra Kubicz Das Martyrium der Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Karl W. Schwarz »Sie haben […] geholfen, den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren.« Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Livia Wonnerth-Stiller Palästinensische Theologie als Streitkultur. Die Frage nach einem Dialog zwischen divergierenden kontextuellen Theologien . . . . . . . . . . . . . 341 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Namensregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Vorwort

Wo zwei oder drei Theologinnen oder Theologen zusammenkommen, ist Streit vorprogrammiert. Diese Aussage ist durch einen Rückblick auf die Geschichte des Christentums provoziert: Wie viele Auseinandersetzungen gab es hier schon (s. den Beitrag von Uta Heil zur Streitkultur in der Spätantike), inklusive solcher, die zu Verurteilungen und Schismen geführt haben! Bereits in der Bibel sind Streitgespräche nachzulesen (s. den Beitrag von Stefan Fischer zum Buch Hiob und den Beitrag von Angela Standhartinger zum antiochenischen Zwischenfall) und wird Streit als selbstverständlich vorausgesetzt (s. den Beitrag von Magdalena Lass zu Psalm 35 und den Beitrag von Hans Förster zu Auseinandersetzungen im Neuen Testament). Begleitet wurden solche Auseinandersetzungen von Überlegungen darüber, wie, wann, mit wem, vor welchem Forum, auf welcher Basis und zu welchem Zweck überhaupt eine Debatte zu führen sei: Tertullian hielt um 200 n. Chr. Streitereien mit Häretikern über Schriftauslegungen für sinnlos; Augustinus (gest. 430 n. Chr.) dagegen suchte solche Auseinandersetzungen und empfahl jedem Bischof beispielsweise eine rhetorische Ausbildung, um in Streitgesprächen siegen zu können (s. auch den Beitrag von Michaela Durst zu Johannes Chrysostomos); auch Peter Abaelard (gest. 1142) suchte den Streit und wurde dafür verurteilt, dennoch wurde sein kritisches Denken in die Disputationstechniken der entstehenden Universitäten des Hochmittelalters integriert, welche die Reformationszeit intensiv prägten. Waren und sind die Protestanten daher besonders streitfreudig? An Auseinandersetzungen untereinander und mit anderen Nicht-Evangelischen mangelte es jedenfalls nicht, auch die Einrichtung von Lehrstühlen zur Apologetik und Polemik an den protestantischen konfessionellen Fakultäten weisen darauf hin. Allerdings wandelte sich mit der Zeit die Haltung zu Andersdenkenden in der Moderne, somit auch die gepflegte Streitkultur (s. den Beitrag von Rainer Lachmann zur Streitkultur in der Religionspädagogik sowie den Beitrag von Robert Schelander zum Schulstreit im 19. Jh.), sodass in der Gegenwart eher Pluralität, Dialog und Diskurs die passenderen Stichworte zu sein scheinen (s. den Beitrag von Christian Danz, mit Überlegungen zur Unterscheidung von

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Vorwort

Theologie und Religion). Hinzu kommt die Entchristlichung der Gesellschaft, sodass der Gegenstand des theologischen Streits abhandengekommen zu sein scheint. Kann man heute noch über die Existenz Gottes oder die Wirklichkeit Gottes streiten (s. den Beitrag von Ulrich Körtner zu Emil Brunner und Rudolf Bultmann)? Stehen nicht die vielfältigen Perspektiven der Weltdeutungen (s. die Beiträge von Michael Hackl zu Ernst Cassirer sowie auch Manuel Stetter zur Pluralität und Predigtkultur) dagegen, mit- oder gegeneinander zu streiten? Allerdings ebben die Auseinandersetzungen nicht ab, sondern verlagern sich einerseits auf andere Themen (wie die Öffnung der Ehe für alle oder Freigabe der Abtreibung) oder in andere Foren wie die Social Media (s. den Beitrag von Bernhard Lauxmann). Daher ist weder den Christen der Vormoderne der Vorwurf zu machen, sie haben damals gar kein echtes Streitgespräch führen können, da sie, im angeblichen Besitz der Wahrheit, keinen Spielraum für ein gemeinsames Ringen um Erkenntnis der Wahrheit zugelassen hätten – auch damals wurden im Streit erst neue Einsichten gewonnen –, noch sind die Streitfälle der Gegenwart allein von gelassener Rationalität und friedlicher Suche nach Konsens geprägt, wie eklektisches Argumentieren und emotionalisierte »Wahrheiten« zeigen. Eine neue Verständigung über eine christliche Streitkultur auf einer Metaebene, wie, wann, mit wem, vor welchem Forum, auf welcher Basis und zu welchem Zweck überhaupt eine Debatte zu führen ist, wäre geboten. Die vorliegenden Beiträge sind eine Anregung in diese Richtung. Die Pläne für den Sammelband »Theologie als Streitkultur« gehen auf eine interdisziplinäre Diskussionsrunde im Rahmen der Erasmustage an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im März 2019 zurück. Wie üblich, enthält auch dieses Wiener Jahrbuch im hinteren Teil wieder Beiträge aus aktuellen Forschungsprojekten (siehe die Beiträge von Uta Heil und Mitarbeiterinnen, Livia Wonnerth-Stiller und Karl W. Schwarz), u. a. einen zur Heiligen Corona, passend für die Zeit, in der dieses Jahrbuch entstanden ist. Wir danken Sarah Herzog für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge, Elisabeth Oberleitner für die Mitarbeit beim Erstellen der Register und Oliver Kätsch von Vandenhoeck & Ruprecht für die verlegerische Betreuung des Bandes. Den Leserinnen und Lesern wünschen wir eine anregende Lektüre. Uta Heil und Annette Schellenberg

Wien, Februar 2021

Theologie als Streitkultur

Stefan Fischer

Streitkultur im Buch Hiob. Leiden im Horizont von Unschuld und Schuldzuweisung

Abstract This essay examines the culture of criticism in the Book of Job and places it in the context of eristic dialectics. It collects and considers the disputes in the Book of Job and shows that the argumentative atmosphere is constructed to favour one party over another, rather than finding a common answer. This is not only true for the wager between God and Satan that leads to Job’s test, but this argumentative construct also divides Job and his friends. As for God, Job challenges him to a legal battle and deplores his silence as unjust action. God’s speeches do not answer Job’s complaints and accusations but lead him to be in the right, while speaking of God what is right.

1

Streitkultur Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, dass man Recht behält, also per fas et nefas (mit Recht und mit Unrecht). Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten.1

Genau diesen Eindruck kann gewinnen, wer sich mit dem Buch Hiob auseinandersetzt. Beim Lesen der Gespräche zwischen Hiob und den drei Freunden (Hiob 3–31) sowie in der Erweiterung durch die Elihureden (Hiob 32–37)2 wird das ursprüngliche Ziel des Besuches der Freunde, nämlich Hiobs Schicksal zu beklagen und ihm Trost zu spenden (Hiob 2,11), aus den Augen verloren. Für Engljähringer hat »das Gespräch der vier Männer von Anfang an den Charakter

1 Arthur Schopenhauer: Die Kunst Recht zu behalten, Hamburg 102009, 10. 2 Auf die Reden Elihus wird in diesem Aufsatz nicht näher eingegangen. Sie sind zwar eine Reaktion auf die vorhergehenden Reden, bleiben aber selbst ohne Antwort. Als redaktioneller Einschub sind sie ein Fremdkörper, der eine jüngere Weisheit zu Wort kommen lässt. Vgl. Harald-Martin Wahl: Der gerechte Schöpfer. Eine redaktions- und theologiegeschichtliche Untersuchung der Elihureden – Hiob 32–37 (BZAW 207), Berlin 1993, 174.

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Stefan Fischer

eines Streitgesprächs«,3 welches sie durch Hiobs Rede (Hiob 3) ausgelöst sieht. Wird Hiobs Schicksal anfänglich auf eine unbekannte Verfehlung des ansonsten stets vorbildlichen Gerechten zurückgeführt (Hiob 4,3–8), so werden ihm später offensichtliche Verfehlungen (Hiob 22,5–9), für die es keinen Anhaltspunkt gibt, vorgeworfen. Es entsteht der Eindruck, dass Hiob durch sich steigernde Anschuldigungen in die Enge getrieben werden soll, es den Freunden in den Streitgesprächen4 letztlich nur noch um Schuldzuweisung und Rechtbehalten geht. Bereits Köhler stellt fest: Diese Reden sind Reden, wie sie vor der Rechtsgemeinde von den Parteien geführt werden, Parteivorträge würden wir sagen. Dafür ist schon der Aufbau bezeichnend. Vor der Rechtsgemeinde geht Rede und Gegenrede so lange hin und her, bis die eine Partei nichts mehr zu sagen weiss. […] Es soll ja nicht in Rede und Gegenrede […] ein Stück Wahrheit gefunden, sondern es soll mit die Zuhörer überzeugender, man darf wohl auch sagen überredender Kraft ein von vornherein festgelegter Standpunkt vertreten werden.5

Inhaltlich ist das Buch Hiob von einer Auseinandersetzung über das Leiden geprägt. Dabei ist es nicht die Theodizee-Frage »Warum lässt Gott es zu?«, obwohl diese mit Blick auf das Buch Hiob häufig gestellt wurde, sondern vielmehr die Fragen nach der Ursache des Leidens und wie mit dem Leiden umgegangen werden soll, die nicht nur im Gespräch mit den Freunden thematisiert werden, sondern das ganze Buch Hiob durchziehen, sodass die verschiedenen Blöcke einbezogen werden müssen. Diachrone Analysen nehmen intertextuelle Bezüge und Spannungen zum Anlass, Wachstumsschichten des Textes und verschiedene Redaktionsphasen herauszuarbeiten. Hier soll keine weitere redaktionsgeschichtliche Arbeit hinzugefügt werden, sondern eine synchrone Textanalyse erfolgen. Diese sieht den vorliegenden Text als »Resultat eines jahrhundertelangen theologischen Diskurses und nicht als einheitliches Werk eines Autors«6 an, sodass die unterschiedlichen intertextuellen Bezugspunkte dem Lesenden Freiräume einer eigenständigen Interpretation eröffnen. Diese berücksichtigt insbesondere das Verhältnis von der Rahmenerzählung, dem Prolog und Epilog, zum poetischen Hauptteil. Zwar können die Reden ohne die Rahmenerzählung gelesen werden, da sie diachron betrachtet nicht einheit3 Klaudia Engljähringer: Theologie im Streitgespräch. Studien zur Dynamik der Dialoge des Buches Ijob (SBS 198), Stuttgart 2003, 42. 4 Das Streitgespräch als Formelement des Hiobbuches wird eingeführt durch Claus Westermann: Der Aufbau des Buches Hiob (CThM 6), Stuttgart 1977, 40–51. 5 Ludwig Köhler: Die hebräische Rechtsgemeinde, in: Jahrbuch der Universität Zürich, Zürich 1931, (3–23) 11. 6 Nina Meyer zum Felde: Hiobs Weg zu seinem persönlichen Gott. Studien zur Interpretation von Psalmentheologie im Hiobbuch (WMANT 160), Göttingen 2020, 24.

Streitkultur im Buch Hiob

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lich entstanden sind, aber im vorliegenden Text ist die Rahmenerzählung durch die Einführung der Freunde mit dem Redenteil verknüpft. Das im Prolog gezeichnete Bild eines vollkommenen Gerechten (Hiob 1,1) entspricht seiner Haltung der Unschuld. Jedoch widersprechen sich die Reaktionen des fatalistisch anmutenden Sich-Ergebens und des Aufbegehrens gegen Gott grundlegend, sodass sich hier unterschiedliche Herangehensweisen ans Leiden im Horizont von Unschuld und Schuldzuweisung auftun.

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Ein himmlisches Streitgespräch

Setzt man zu Beginn des Buches Hiob an, so findet in der Rahmenerzählung, abgesehen von der kurzen Auseinandersetzung zwischen Hiob und seiner Frau, kein zwischenmenschliches Streitgespräch statt (Hiob 2,9.10). Stattdessen gibt es eines zwischen dem Satan7 und Jahwe. Der Satan hat Zugang zum Thronrat Jahwes. Jhwh ist stolz auf Hiob (Hiob 1,8). Daraufhin stellt der Satan die Integrität Hiobs in Frage und behauptet, seine Frömmigkeit sei nicht selbstlos, sondern eigennützig. Die divergierenden Ansichten zwischen dem Satan und Jahwe münden in die von Jahwe dem Satan gewährte Prüfung Hiobs. Diese kann als rechthaberische Wette8 zwischen den beiden angesehen werden, die auf dem Rücken Hiobs ausgetragen wird.9 In zwei sich steigernden Prüfungen erhält der Satan die Macht über alles, was zu Hiobs Besitz zählt, einschließlich seiner Familie (Hiob 1,12), und über Hiob selbst mit Ausnahme seines Lebens (Hiob 2,5.6).10 Hiob sieht sein Schicksal als in

7 »Satan« wird im Hiobbuch stets mit Artikel verwendet. Dieses geschieht, wenn das hinweisende Element betont und eine Figur als bekannt vorausgesetzt wird, ohne dass ihre Individualität betont wird. So auch »der Adam« (Gen 2,8), »die Sullamit« (Hld 7,1). Satan ist hier zwar (noch) kein Eigenname (vgl. Sach 3,1.2), aber doch personalisiert und damit mehr als eine generelle Bezeichnung eines Widersachers (vgl. Num 22,22.32; 1 Kön 11,23). 8 C.G. Jung: Antwort auf Hiob, Zürich 1953, 26–27 sieht die Ursache der Wette darin, dass Jhwh durch einen Zweifelsgedanken beeinflusst und in Bezug auf Hiobs Treue unsicher gemacht wurde und fragt, ob er nicht gegen Hiob einen geheimen Widerstand gehabt habe. 9 Diese Wette bot die Vorlage für Goethes Faust, wo es im Prolog im Himmel zu einer Wette zwischen Gott und Mephisto kommt und letzterem der Faust überlassen wird. Im Unterschied zu einer herkömmlichen Wette fehlt der Wetteinsatz. Nach meinem Verständnis ist das Rechtbehalten als Wetteinsatz eine Sache der Ehre und ausreichend, um die Prüfungen als Wette zwischen dem Satan und Jhwh anzusehen. Dass der Satan im Epilog nicht mehr auftritt, kann als unehrenhaftes Verschwinden nach der Wettniederlage verstanden werden. Ob der Begriff der Wette angemessen ist, ist umstritten. Vgl. Konrad Schmid: Das Hiobproblem und der Hiobprolog, in: M. Oeming, K. Schmid (Hg.): Hiobs Weg: Stationen von Menschen im Leid (BThSt 45) Neukirchen-Vluyn 2001, (9–34) 20 Anm. 32. 10 Hier bleibt eine Ehrfurcht vor dem Leben gewahrt, dass Gott als Schöpfer über Anfang und Ende des Lebens verfügt. Außerdem ließe sich über die Gottesfürchtigkeit eines Toten nichts

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der Hand Gottes liegend an, sodass er Besitz wie Verlust ursächlich mit Gott in Verbindung bringt (Hiob 1,21) und in der zweiten Prüfung das Böse annimmt, weil er auch das Gute von Gott empfangen hat (Hiob 2,10a). Beide Prüfungen werden vom Erzähler mit ähnlichen Worten als bestanden zusammengefasst: »Bei alldem sündigte Hiob nicht und tat nichts Törichtes gegen Gott.« (Hiob 1,22) »Bei alldem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen.« (Hiob 2,10b)

Da Hiob beide Prüfungen bestanden hat und keine weitere Prüfung vorgenommen wird, kann daraus geschlossen werden, dass der Satan die Wette verloren hat. Ein Eingeständnis des Satans gibt es nicht. Er verschwindet aus der Erzählung.

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Die Theologie der Rahmenerzählung

Wenn Prolog und Epilog unter Ausklammerung der Dialoge gelesen werden, so wird hier ein Tun-Ergehen-Zusammenhang aufrechterhalten, der die vollkommene Integrität Hiobs ins Zentrum rückt. Er wird vollständig restituiert und darüber hinaus mit doppeltem Besitz und langem Leben, dem alttestamentlichen Segen eines gottwohlgefälligen Lebens, belohnt (Hiob 42,12–13). Zwar ist die Rahmenerzählung für den modernen Leser anstößig, da der Mensch zum Spielball anderer Mächte wird, aber sie bietet eine in sich plausible Erklärung und eine ethische Haltung an, sich in Gottergebenheit zu üben. Da in der Erzählperspektive der Rahmenerzählung durch einen auktorialen Erzähler eine Nullfokalisierung eingenommen wird, erhalten die Leser einen Einblick in die Figur Hiobs und in die himmlischen Thronratssitzungen, der über das Wissen der beteiligten Figuren hinausgeht. Sie kennen Hiobs Gedanken (Hiob 1,5), welche dessen Handeln plausibel machen. Hiob hingegen bleibt das himmlische Geschehen zwischen dem Satan und Jahwe verborgen. Das Nichtwissen um die Wette zwischen Jhwh und dem Satan setzt sich in den Dialogen des poetischen Teils fort. Bei einer synchronen und fortlaufenden Leseweise geht der Lesende mit dem Wissen vom Prolog in die Streitgespräche und weiß mehr als jeder Redner. Dadurch wird Spannung aufgebaut, ob nämlich einer der Redenden die Wette zwischen dem Satan und Jhwh als Möglichkeit anführen oder ob diese völlig außerhalb des Horizonts bleiben wird.

mehr aussagen, wollte man nicht noch einen weiteren Horizont des Jenseits/der Unterwelt eröffnen. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Streitkultur im Buch Hiob

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Hiobs Freunde (Hiob 2,11–13; 42,7–9)

Die im Prolog skizzierten Umstände ohne regulierten Kult oder Tempel sowie die Verortung im Land Uz (Hiob 1,1) lassen Hiob als einen Frommen in vorstaatlicher Zeit erscheinen. Die drei Freunde Hiobs werden als Gesprächspartner eingeführt (Hiob 2,11–13), die ihm nach Herkunft und Rang ebenbürtig sind. In den Streitgesprächen geben sie sich als Vertreter verschiedener und doch ähnlicher weisheitlicher Theologien zu erkennen; sie sind repräsentative Vertreter eines Standes von Weisen.11 Ihre Herkunftsangaben »Elifas, der Temaniter, und Bildad, der Schuchiter, und Zofar, der Naamatiter« (Hiob 2,11) lassen sie als Vertreter internationaler Weisheit erkennen.12 Dass die Freunde aus aller Herren Länder stammen, zeugt von der Wichtigkeit der Person Hiobs sowie der seiner Freunde. Sie stehen aber auch für die Universalität der Fragestellung des Leidens und können mit der schlussendlichen Durchsetzung und Anerkennung Jhwhs, des Nationalgottes Israels, als Plädoyer für seine Vorherrschaft von Anfang an und über die Völker verstanden werden. Der fiktionale und didaktische Charakter des Hiobbuches zeigt sich im raffenden Erzählstil, der Unwahrscheinliches nicht hinterfragt, sondern plausibel zusammenfügt. So erfahren die Freunde von den Schicksalsschlägen Hiobs und treffen zeitgleich bei ihm ein. Ihre Reaktion beim Anblick des durch Krankheit, Schaben und Asche entstellten Hiob (Hiob 2,7.8) geschieht mit den üblichen Gebärden, um Entsetzen und Trauer auszudrücken (Hiob 2,12). Ihr siebentägiges Schweigen entspricht der Zeit für die Klage über einen Verstorbenen (Gen 50,10). So werden sie als anteilnehmende gute Freunde eingeführt.13 Hier ist nichts davon zu erkennen, dass sich bald heftige Streitgespräche zwischen Hiob und ihnen entwickeln werden, in denen es nicht mehr um Trost geht.

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Die Streitgespräche des poetischen Teils

Der Begriff Streitgespräch scheint passender als Dialog, da es sich einerseits nicht um ein Zwiegespräch handelt, als würden die Freunde immer mit einer Stimme reden, sodass eher von einem Polylog gesprochen werden müsste, und ande11 Josef Wehrle: Der leidende Mensch. Ein Beitrag zur Anthropologie und Theologie des Alten Testaments (Bibel und Ethik 4), Münster 2012, 148. 12 Elihu wird in den Horizont israelitischer Weisheit gerückt, da er als Busiter (Hiob 31,3) zu den Nachkommen eines Neffen Abrahams gehört (Gen 21,20–21). 13 Stefan Fischer: Hiobsbotschaften – von guten Freunden und schlechten Ratgebern. Theologische Existenz als Beitrag zu einer holistischen Weltsicht, in: Wilfried Engemann (Hg.): Glaubenskultur und Lebenskunst. Interdisziplinäre Herausforderungen zeitgenössischer Theologie (WJTh 10), Wien 2014, (69–84) 70–71.

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rerseits den Streitgesprächen inhaltlich die Dialogfähigkeit verloren geht. Es kommt zu keiner Annäherung, sondern die Streitgespräche eskalieren. Obwohl die Streitgespräche Poesie sind, fügen sie sich doch in den Endtext so ein, dass sie Teil der Handlung einer Erzählung sind. Dieses erfolgt durch die Einführung der Freunde am Ende des Prologs. Ebenso tauchen die Freunde am Übergang zum Epilog wieder auf.14 Sie nehmen eine Scharnierfunktion zwischen den beiden Teilen des Hiobbuches ein. Die Streitgespräche werden vom Erzähler nur durch die Rednerangabe durchbrochen (Hiob 3,1; 4,1; 6,1; etc.). Zusätzliche Zeit scheint nicht zu vergehen, sodass Erzählzeit und erzählte Zeit im Unterschied zur Rahmenerzählung deckungsgleich sind. Ortswechsel finden nicht statt. Eine Veränderung der äußeren Umstände gibt es erst bei der Antwort Gottes aus dem Sturm. Er antwortet Hiob, die Freunde verschwinden aus dem Blick (Hiob 38,1). Die Streitgespräche selbst kennen keinen äußeren Handlungsfortgang. Sie stehen dem Lyrischen Drama nahe, welches definiert wird als ein sehr handlungsarmes Schauspiel, das sich durch eine lyrisch-stilisierte Sprache auszeichnet und meist durch den Monolog einer Hauptperson tief in seelische Zustände blicken läßt.15

Hiob ist die Hauptperson. Seine Redeanteile sind deutlich größer als die seiner drei Freunde. Er gibt betont Einblick in sein inneres Geschehen.

5.1

Hiobs Monologe (Hiob 3; 29–31)

Der poetische Teil der drei Redegänge mit den Freunden wird durch Monologe Hiobs umrahmt.16 Auf die Anwesenheit der Freude wird kein Bezug genommen.17 Das einleitende »Danach« (‫ )אחרי‬schlägt eine Brücke zur vorhergehenden Szene des siebentägigen Schweigens und Trauerns in Gegenwart der Freunde. Was das siebentägige gemeinsame Schweigen betrifft, so kann dieses in einer psychologischen Exegese als Zeit des inneren Prozesses verstanden werden, der in der Figur des Hiob zu einem Stimmungsumschwung führt. Die siebentägige 14 Die Dialoge mit den Freunden sind demnach primär als kohärent zu lesen, auch wenn es sekundäre Umstellungen und Erweiterungen gegeben haben sollte. 15 Elke Reinhardt-Becker: Lyrisches Drama, 2009, verfügbar unter: http://www.einladung-zur-li teraturwissenschaft.de/index2328.html?option=com_content&view=article&id=355 [01. 10. 2020]. 16 Josef Wehrle: Der leidende Mensch (s. Anm. 11), 53. 17 Westermann: Der Aufbau (s. Anm. 4), 41, ist der Ansicht, hier würde die Kontroverse zwischen Hiob und Gott beginnen. Dem kann insofern zugestimmt werden, dass bei Hiob, auch wenn Gott hier nicht angesprochen wird, eine innere Entwicklung einsetzt, die in die Anerkennung Gottes nach den Gottesreden mündet.

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Trauer, die nicht nur den Gepflogenheiten entspricht, sondern auch symbolisch als vollkommene Zahl aufgefasst werden kann, weist darauf hin, dass es zu keiner plötzlich umschwenkenden Gemütsverfassung kommt, sondern dieser Umschwung in ihm gereift ist. In Hiob 3 ist er nicht mehr der fromme und gerechte leidende Dulder (Hiob 1,21; 2,10), der unerschütterlich alles hinnimmt und so in der prophetischen Überlieferung zusammen mit anderen urzeitlichen Gerechten als ein Vorbild der Gerechtigkeit (Ez 14,14.20) und im Neuen Testament als Vorbild des Glaubens rezipiert worden ist (Jak 5,11). Stattdessen schreit er seine Verzweiflung heraus.18 Im jetzigen Textzusammenhang kontrastiert sein Reden den Hiob des Prologs. Während dort die Aufforderung der Frau Hiobs »Fluche Gott und stirb!« (Hiob 2,9) als törichte Rede abgetan wurde (Hiob 2,10), nähert sich Hiob nun dieser Position an, denn er verflucht den Tag seiner Geburt (Hiob 3,3), also sein Leben, nicht aber Gott, wie der Satan es vorausgesagt hatte (Hiob 1,11). Hiob erscheint als eine Person, die unter ihrem Schicksal leidet und den Lebenswillen verloren hat. Programmatisch stellt er eine Fülle von Fragen (Hiob 3,11.12.20), mit denen er der Ursache seines Leidens auf den Grund gehen will. Es ist offensichtlich, dass diese Fragen ohne Antwort bleiben. Es wird kein Raum zum Antworten gelassen, sondern Frage an Frage gereiht. So sind sie vielmehr Ausdruck davon, in welcher Verzweiflung er steckt. Die anschließenden Reden der Freunde nehmen auf Hiobs einleitende Rede ebenfalls keinen Bezug. Ebenso scheint Hiob in seiner abschließenden Rede (Hiob 29–31) alles, was zwischenzeitlich gesagt wurde, zu ignorieren. Stattdessen spricht Hiob von seinem früheren Glück und jetzigem Unglück und bekundet mit einem Reinigungseid seine Unschuld und appelliert an Gott. Am Ende seiner einleitenden Rede spricht er von sich als einem Mann, dem Gott seinen (Lebens)weg verborgen hat und der sich von Gott eingezäunt fühlt (Hiob 3,23). Auf diese Metaphern des Dunkels und der Enge hin gewährt er tiefen Einblick in sein inneres Befinden und verleiht diesem Ausdruck, indem er am Ende des einleitenden Monologes Metaphern verwendet, welche Emotionen konzeptualisieren: »Denn vor meinem Brot mein Seufzen. Es ergießt sich wie Wasser mein Schreien.« (Hiob 3,24). Brot und Wasser sind Grundnahrungsmittel für den minimalen Lebensunterhalt.19 Als Wortpaar werden sie bei Menschen in elenden Situationen wie Gefangenen (1 Kön 22,27), Flüchtenden (1 Kön 17,6)20 oder sich wegen Kriegsgefahr Sorgenden (Ez 12,18–19) verwendet. Wenn Hiobs 18 An Hiob zeigen sich »typische Ausdrucksformen und Phasen eines Schwerkranken oder Trauernden. […] Im Verhalten von Leid stark betroffener Menschen sind starke Stimmungsumschwünge […] an der Tagesordnung.« Eva Jenny Korneck: Das Buch Hiob als pädagogisches Konzept. Die Rede von Gottes Allmacht in religiösen Bildungsprozessen (Altes Testament und Moderne 27), Berlin 2014, 40. 19 David Clines: Job 1–20 (WBC 17), Dallas 1989, 102. 20 Elia wird als Zeichen der Fürsorge Gottes zudem mit Fleisch versorgt.

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Seufzen sein tägliches Brot ist und seine Schreie aus ihm herausfließen wie Wasser (3,24), so stärkt ihn das Brot nicht (vgl. Ps 104,15). Seine schlechten Umstände sind wie schlechtes Essen und nicht mal dieses kann er halten. Deshalb ist seine Klage gerechtfertigt, wie van Loon ausführt: If the audience agrees that sighing is indeed bad food, they cannot blame Job for crying as they will recognize that crying is as inevitable and necessary as one’s rejection of bad food.21

Hiob setzt mit einer zweiten Begründung fort, in welcher Metaphern der Bewegung Hiobs Zustand der Unruhe als durch räumliche Ereignisse, die mit Gewalt auf ihn eindringen, verursacht erscheinen lassen:22 »Denn ich fürchtete mich sehr und wovor ich Angst hatte, drang zu mir. Ich war nicht ruhig geworden, ich war nicht still geworden, ich war nicht zur Ruhe gekommen und es kam Widrigkeit.« (Hiob 3,25–26).

Im Rückblick äußert Hiob, er hätte gefürchtet, ein Unglück könnte geschehen. In parallelen Sätzen spricht er von der Angst, die zu ihm drang und der Widrigkeit/ dem Unglück, das zu ihm kam. Auch wenn die Intention des Prologs offensichtlich ist, Hiob und sein Handeln als das eines Gerechten darzustellen, kann dieses nun anders beurteilt werden. Hiobs rechtschaffene, redliche Gottesfurcht, sein Wohlergehen und sein priesterliches Handeln (Hiob 1,1–5) waren von Verlustängsten getrieben.

5.2

Die Streitgespräche zwischen Hiob und seinen drei Freunden (Hiob 4–27)

Die Reden zwischen Hiob und seinen drei Freunden gliedern sich in drei Zyklen, in denen die Freunde in der jeweils gleichen Abfolge reden und Hiob auf jede einzelne Rede antwortet. Hiob führt parallel eine dreifache Auseinandersetzung, welche in einer szenischen Darstellung gleichzeitig stattfinden könnte. Die Streitgespräche wirken künstlich, da sich die Freunde in den langen Reden ausreden lassen und nichts über begleitende Gesten gesagt wird. Hier zeigt sich eine Gattungsmischung, denn der Begriff »Streitgespräch« gehört in den Umkreis des Rechts,23 der sich jedoch durch die poetische Gestalt mit der Gattung Poesie mischt. Da die Streitgespräche von Anfang an als schriftliche Rede konzipiert wurden, ist es literarisch schwierig, dem anderen ins Wort zu fallen, den 21 Hanneke van Loon: Metaphors in the Discussion on Suffering in Job 3–31. Visions of Hope and Consolation (BiInS 165), Leiden 2018, 73. 22 Vgl. van Loon: Metaphors (s. Anm. 21), 73–74. 23 Westermann: Der Aufbau (s. Anm. 4), 40.

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Satz fortzusetzen oder gleichzeitig zu reden. So entstehen längere Abhandlungen mit dem für ein Streitgespräch unnatürlichen Eindruck eines gepflegten Dialogs mit klarer Kennzeichnung der Sprecherwechsel, welcher erst im dritten Redezyklus verwässert. Dort werden die Reden kürzer, als ob die Freunde nichts mehr zu sagen hätten; ihre Argumente verpuffen. Schließlich fällt die dritte Rede Zofars aus; Zofar hat nicht mehr zu sagen. An seiner Stelle wird ein weisheitliches Lehrgedicht (Hiob 28) eingefügt. Es bildet einen vorläufigen Abschluss der Reden im Vorgriff darauf, dass der gesamte Redekomplex durch die Gottesreden abgeschlossen wird. Auch inhaltlich nimmt es einiges vorweg, was in den Gottesreden wieder aufgenommen wird: Weisheit und Einsicht in die Schöpfung bleiben dem Menschen letztlich verborgen (Hiob 28,1–22), sie erschließen sich nur Gott, der den Menschen belehrt (Hiob 28,23–28).24 Die Reden der Freunde sind didaktische, weisheitliche Lehrreden, in welche Elemente aus den Psalmen und dem Recht eingeflossen sind. Zu ihnen zählen u. a. Verhör, Schwur, Selbstverfluchung, Klage und Hymnus. Im Buch Hiob findet sich ein »Reichtum literarischer Gattungen, die miteinander verschlungen sind«.25 Durch die Gattungsmischung finden sich die verschiedenen Gattungen »in einer anderen als ihrer ursprünglichen Funktion, so daß die jeweilige Redeform zusätzlich aus den Rahmenversen zu bestimmen ist.«26 Gerade die Klage über die Abwesenheit Gottes ist ein häufiges Motiv in den Psalmen (Ps 13; 22; 28; 31; 35; 71; 143), da die Abwesenheit als strafendes Handeln Gottes empfunden wird, welches Hiob ebenfalls verwendet. Lindström fasst zusammen: Like the poet Job, the poet in Ps 39 uses prayer and complaint motifs from the individual complaint psalms for is reflection on human conditions in an apparently godless world. Experiences which have been preserved in the psalm’s depictions of affliction function in our psalm like the presentations of the dialogues, as a description of the reality of human existence on the whole.27

Da Hiob sich stets als unschuldig versteht, geht er von der Klage zur Anklage Gottes über. Bspw. sind es die Rahmenverse Hiob 21,2–5.27.34, welche die Schil-

24 Vgl. Martin Leuenberger: Die personifizierte Weisheit vorweltlichen Ursprungs von Hi 28 bis Joh 1. Ein traditionsgeschichtlicher Strang zwischen den Testamenten, in: ZAW 120 (2008), (366–386) 369. 25 Johann Hempel: Die althebräische Literatur und ihr hellenistisch-jüdisches Nachleben, Wildpark-Potsdam 21968, 179. 26 Markus Witte: Vom Leiden zur Lehre (BZAW 230), Berlin 1994, 57. Einen Überblick über literarische Gattung und Beispiele von Vertretern von Gattungsmischungen bietet er in ders.: Hiobs viele Gesichter. Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches (FRLANT 267), Göttingen 2018, 37–64. 27 Frederik Lindström: Suffering and Sin. Interpretation of Illness in the Individual Complaint Psalms (CB.OT 37), Stockholm 1994, 255.

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derung des Wohlergehens der offensichtlich unrecht handelnden Frevler zur Klage und Anklage werden lassen.28 Wenn eine traditionelle Form nicht nur in einem anderen Kontext verwendet wird, sondern auch mit einem anderen Inhalt gefüllt wird, tritt ein Verfremdungseffekt ein, der bis hin zur Parodie gehen kann. Katherine J. Dell unterscheidet hier zwischen »›misuse‹ of forms and the ›reuse‹ of forms«.29 Sie sieht eine missbräuchliche Verwendung dort als gegeben an, wo eine traditionelle Form nicht nur in einem anderen Kontext verwendet wird, sondern auch eine andere Funktion hat: Traditional forms from legal, cultic and wisdom spheres are deliberately misused by the author to convey his scepticism.30

Dies geschieht bspw. in der zweiten Antwort Hiobs an Zofar: 21:7–13 presents the prosperity of the wicked in a parody of wisdom poem which would normally have described the prosperity of the righteous.31

Und bereits Whedbee32 findet in der karikierenden Beschreibung der Freunde, den Reden Hiobs, Elihus und Gottes Elemente der Parodie. Dabei greift Hiob auf traditionelles Erbe zurück, um es neu zu interpretieren. Für Whedbee ist Hiob 7,17–18 ein Beispiel für eine Parodie, da hier Psalm 8 verdreht und lächerlich gemacht wird.33 Was ist der Mensch, dass du ihn groß machst und dein Herz auf ihn richtest. Aber jeden Morgen suchst Du ihn heim, prüfst ihn jeden Augenblick. (Hiob 7,17.18)

Mir scheint die Umgestaltung des Lobs auf den Schöpfer in Psalm 8 zu einer Klage ein typisches Beispiel für Verfremdung durch eine Gattungsmischung zu sein, welche mit Lindström als »perversion of psalm theology«34 bezeichnet werden kann. An die Stelle der Gottergebenheit tritt die Klage mit spöttischem Unterton, denn Hiob fühlt sich von Gott im negativen Sinn geprüft und gemustert. Anders als im Prolog, in dem das eigene Schicksal als Prüfung Gottes verstanden wird,35 spricht Hiob hier über Gottes ungerechtes Handeln mit Zynismus und Bitterkeit. Von den Freunden erfahren wir nur wenig Persönliches, gerade mal eine Angabe über ihre Herkunft und relative Altersangaben. Selbst durch ihr unter28 29 30 31 32 33 34 35

Witte: Vom Leiden (s. Anm. 26), 139. Vgl. Katherine J. Dell: The Book of Job as Sceptical Literature (BZAW 197), Berlin 1991, 110. Dell: The Book of Job (s. Anm. 29), 110. Dell: The Book of Job (s. Anm. 29), 114. William Whedbee: The Comedy of Job, in: Semeia 7 (1977), (1–39) 1. Whedbee: The Comedy of Job (s. Anm. 32), 15. Lindström: Suffering and Sin (s. Anm. 27), 464. Dieser Gedanke ist in der Hebräischen Bibel kein fremder, vgl. die Bindung Isaaks, Gen 22,1– 19.

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schiedliches Alter gewinnen die Figuren nicht an Tiefe. Bereits von der Form eines weisheitlichen Diskurses her sind flache Figuren zu erwarten. Als Vertreter traditioneller Weisheit sind Erfahrung und Alter Argumente dafür, dass sie mit ihrer Weisheit Hiob überlegen sind, wie besonders Elifas hervorhebt (Hiob 15,9– 10).36 Hawley37 hat die Streitgespräche unter dem Aspekt des Redens analysiert und stellt fest, dass Hiob seine eigene Rede und die der Freunde evaluiert und dass die Freunde ihn zwar ebenfalls evaluieren, aber nie in sich gehen. Sie kommen auch nicht miteinander über ihre unterschiedlichen Positionen ins Gespräch. Diese fehlende Selbstreflexion trägt dazu bei, dass die Freunde als flache Figuren erscheinen. Die Freunde treten als Vertreter einer konnektiven Gerechtigkeit auf. Hier unterscheiden sie sich nicht von Hiob. Es gibt keine sachlichen Missverständnisse zwischen ihnen. Ihre Differenz liegt in der unterschiedlichen Schuldzuweisung für die Ursache des Leidens. Hiob und seine Freunde gehen von der gleichen Voraussetzung aus, dass nichts zufällig in dieser Welt geschieht und somit auch das Leiden Hiobs nicht ohne Ursache ist. Die Freunde ziehen von Hiobs Leiden den Rückschluss, Hiob müsse irgendeine Schuld auf sich geladen haben, sodass Gott ihn nun straft und somit die Möglichkeit zur Umkehr ermöglicht. Da Hiob dies vehement verneint, sieht er sein Ergehen als ungerechtes Handeln Gottes an. Die Freunde unterscheiden sich in der Legitimation ihrer Positionen. Urmas Nõmmik hat die Freundesreden detailliert untersucht und hält fest: […], daß sich die Legitimationen der Freundesreden als sehr unterschiedlich erweisen. Die Erfahrung des alten Elifas, die Tradition der Väter und die »ewige«, wohl »göttliche« Wahrheit bei Zofar bilden keinesfalls zu unterschätzende Argumente gegenüber der existentiellen Erfahrung Hiobs.38

Die Figur des Hiob hat mehr Tiefe und dies nicht nur, weil er in der Rahmenerzählung beschrieben wurde, sondern auch, weil er in den Streitgesprächen spürbarer ist. Er zeigt Emotionen, wenn er Gott herausfordert und mit den Freunden streitet. Während die Freunde Hiob mit Argumenten überhäufen, sind seine Antworten von Klagen durchzogen.39 Die Streitgespräche mit den Freunden, die sich 36 Entsprechend hat Elihu wegen seiner Jugend seine Rede zurückgehalten. Als er schließlich spricht, äußert er scharfe Kritik, denn alte Menschen sind nicht zwingend weise (Hiob 32,6– 10). 37 Lance R. Hawley: Metaphor Competition in the Book of Job (JAJSup 26), Göttingen 2018, 73–77. 38 Vgl. Urmas Nõmmik: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie (BZAW 410), Berlin 2010, 234. 39 Westermann: Der Aufbau (s. Anm. 4), 40.

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von der zu erwartenden Anteilnahme zu heftigem Streit entwickeln, sind emotionsgeladen und voll von gegenseitigen Vorwürfen. Hiob quälen die Reden seiner Freunde. Sie verhöhnen ihn. Es setzt ihm zu (Hiob 19,2). Grundsätzlich wäre Hiob bereit gewesen, sich von den Freunden zurechtweisen zu lassen, sie als Lehrer zu akzeptieren, aber sie taugen dazu nicht, da seine verzweifelte Rede bei ihnen im Wind verhallt. Sie handeln gegenteilig zur Weisheit, wie er ihnen mit dem drastischen Bild vorwirft, sie würden über eine Waise das Los werfen und um ihren Freund feilschen (Hiob 6,24–27). Aus solcher Rede klingt Hiobs tiefe Verzweiflung. In seinen Reden adressiert Hiob nicht nur den einzelnen zuvor sprechenden Freund, sondern alle drei (Hiob 6,21.25–28; 12,2.3; 13,2–13; 16,2–5; 17,10; 19,2–6.22.28.29; 21,5.27–29.34; 27,5.11.12).40 Da die Freunde eine gemeinsame Grundüberzeugung teilen, ist dies gut möglich. Außerdem sind alle drei Freunde als jeweils anwesend zu denken. Dennoch muss sich Hiob mit allen drei Argumentationssträngen auseinandersetzen. Auch wenn es keine direkten Repliken auf Gesagtes gibt, so greifen die Reden doch durch Anspielungen auf zuvor Gesagtes zurück. So wehrt sich Hiob gegen die zehnfache Verhöhnung seitens der Freunde, die ihn mit vielen Worten peinigen (Hiob 19,2–4), so wie dies die Frevler tun. Er könnte darauf anspielen, dass Elifas ihn mundtot machen will, indem er ihm in weisheitlichen Lehrsätzen Bosheit, die zum Schweigen gebracht wird (Hiob 5,16), und eine geißelnde Zunge (Hiob 5,21) unterstellt. Hiob geht nicht direkt auf Elifas ein, aber er wirft ihnen vor, ihn mit Worten so niederzumachen, wie dies böse Menschen tun.41 Der wiederholte Rückgriff auf einzelne Metaphern fördert die Wiedererkennung von Anspielungen, so bspw. bei der Windmetapher. Hawley analysiert Hiob 6,26; 8,2; 15,2–3.30; 16,2.3 und hält fest: The WORDS ARE WIND metaphorical expressions demonstrate a basic disagreement between Job and his friends over the value of Job’s speeches. Job never admits to his speech being »wind« but readily perceives that the friends view his speeches as ephemeral.42

Hiob wird als Figur greifbarer, indem er viel von sich und dem Unrecht, das er erfährt, redet. Elfmal verwendet er zur Betonung das unabhängige Personalpronomen »Ich« (‫)אני‬, während es von den Freunden einzig Elifas (dreimal)

40 Elihu adressiert sie ebenfalls gemeinsam (Hiob 32,6–12). 41 Vgl. Hawley: Metaphor Competition (s. Anm. 37), 106. 42 Vgl. Hawley: Metaphor Competition (s. Anm. 37), 105.

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verwendet,43 ohne dabei Einblick in sein inneres Geschehen zu geben. Hiob hingegen gewährt Einblick in sein inneres Befinden. Er grenzt sich so von einer Rollenzuteilung seitens seiner Freunde ab, von denen er sich belehren lassen würde, wenn sie Recht hätten (Hiob 6,24). Er wehrt sich dagegen, in die Rolle eines Feindes, wie sie durch Metaphern von Meer und Drache symbolisiert werden, gedrängt zu werden (Hiob 7,11–12). Er betont seine Rechtschaffenheit (Hiob 9,20–21) mit dem Schlüsselwort »unschuldig/vollkommen/rechtschaffen«. Der Wurzel ‫תמם‬, mit welchem er in der Rahmenerzählung (1,1) eingeführt wird. Dort, wo er sich von seinen Freunden nicht verstanden, sondern niedergemacht fühlt, hebt er hervor, nicht geringer als sie zu sein (Hiob 13,2) und betont, in der Tat mit Gott reden zu wollen (Hiob 13,3), weil er überzeugt ist, recht zu behalten (Hiob 13,18). Schließlich bringt er damit seine Überzeugung zum Ausdruck, dass sein Löser lebt und er ihn sehen wird (Hiob 19,25–27). Die Freunde kamen, um Hiob zu trösten, aber sie verhärten sich in ihren Positionen immer mehr. Ihre Argumente erhellen sich nicht gegenseitig, sondern engen ein. Zusehends gehen sie in die Rolle von Verteidigern Gottes über und werden so zu Hiobs Gegnern. Bildads letzte Rede (Hiob 25) ist eine einzige Verteidigungsrede Gottes, in der er Hiobs Niedrigkeit, er sei weniger als eine Made oder ein Wurm (Hiob 25,6), drastisch vor Augen stellt und durch Motten und Würmer auch rasche Vergänglichkeit, Tod und Verrottung assoziiert (Hiob 7,5; 13,28; 27,18). Das Streitgespräch mit den Freunden hat zu keinen konstruktiven Lösungen geführt. Es endet seitens der Freunde mit vernichtenden Vorwürfen und seitens Hiobs mit einem entsprechenden Gegenangriff, sodass Hiob Bildad in einer rhetorischen Frage »Wessen Geist44 geht von dir aus?« (Hiob 26,4) spöttisch unterstellt, dass sein Reden keine Einhauchung Gottes und folglich nichtssagend ist. So wird Hiob in seinem Leid nicht getröstet. Im Gegenteil, die Streitgespräche laufen auf einen doppelten Kampf hinaus, den Hiob mit Gott und gegen seine ihn mit Vorwürfen überhäufenden Freunde führt. So entsteht ein verbaler Schlagabtausch, der aus dem Ruder läuft. Treffend fasst der Erzähler dies bei der Einführung der Figur Elihus zusammen. Dieser wird über Hiob zornig, weil »er sich gegenüber Gott im Recht betrachtete« (Hiob 32,2), was von außen betrachtet als eine Anmaßung erscheinen muss. Über die Freunde wurde er zornig, »weil sie keine Antwort gefunden und Hiob doch verdammt hatten« (Hiob 32,3). Dass Hiob sich gegen Gott wendet und ihn als ungerecht handelnd anklagt, ist das Neue und Provokative bei Hiob. Da steigert er sich immer mehr hinein, 43 Elifas verwendet »Ich« (‫ )אני‬zur Betonung seiner selbst gemachten Beobachtung (Hiob 5,3), seines Ratschlags, wenn er an der Stelle Hiobs wäre (Hiob 5,8), und um sich von Hiob abzugrenzen (Hiob 15,6). 44 Der verwendete Begriff ‫ נשמח‬wird sonst für den Atem Gottes (Schaddai) gebraucht, der den Menschen eingehaucht wird (Hiob 32,8; 33,4, vgl. Gen 2,7).

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sodass er Gott in seiner letzten Antwort in einer Selbstverfluchung anklagt, er würde ihm sein Recht verweigern und seine Seele bitter machen (Hiob 27,2). Hiob halte an seiner Gerechtigkeit (Hiob 27,6) und im Gegensatz zu Gott am TunErgehen-Zusammenhang fest (Hiob 27,7–23). Festzuhalten bleibt, dass Hiob, auch wenn er Gott anklagt, sich dabei doch an Gott wendet. Während er in seinem einleitenden Klagemonolog (Hiob 3) noch ganz auf sich selbst bezogen ist, ändert sich dies in den Streitgesprächen. Dort spricht er in seiner ersten Rede erst über (Hiob 6,6–10) und dann zu (Hiob 7,17– 21) Gott. Schließlich lässt der rasche Wechsel der Anrede Gottes in der dritten und zweiten Pers. Sing. beide Redeformen als eine anklagende Reflektion der eigenen Situation vor Gott erscheinen: »Gewiss, nun hat er mich müde gemacht. Du hast meinen ganzen (Familien)kreis45 vernichtet« (Hiob 16,7). Auf die bittere Anklage Gottes (Hiob 16,11–14) setzt die Suche nach Gott46 ein: »Unter Tränen blickt mein Auge zu Gott auf.« (Hiob 16,20). Hiob geht den Weg eines Beters in den Klagepsalmen, von der Klage (Hiob 3) mit dem Wunsch zu sterben (Hiob 6,8–10; 7,13–16), über die angesichts des bevorstehenden Todes vertrauensvolle Anrede Gottes unter Tränen (Hiob 16,20– 22) hin zu einem neuen Vertrauensbekenntnis. Meyer zum Felde beobachtet: In allen Buchteilen pflegt Hiob – wenn auch in heftigen Klagen und Anklagen – mit traditionsgesättigter Psalmensprache seine persönliche JHWH-Reaktion. An keiner Stelle lässt er den Gebetsfaden abreißen.47

Zwar folgen auf diese Rede Hiobs das Lehrgedicht der Weisheit (Hiob 28), der Schlussmonolog Hiobs (Hiob 29–31) und die Worte Elihus (Hiob 32–37), aber die eigentliche Antwort auf Hiobs Anklage wird erst in den Gottesreden gegeben.

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Gottesreden

Hiob hat eine Theophanie. Gott spricht aus dem Sturm zu ihm. Er redet, indem er fragt. Er antwortet, ohne auf Hiob direkt einzugehen. In den Gottesreden stellt Gott sich selbst dar. Er nimmt Hiobs Herausforderung, mit Gott einen Rechtsstreit zu führen an, während er die Reden der Freunde ignoriert.48 Er übergeht sie, 45 Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch, Berlin u. a. 182013, s.v. ‫עדה‬. 46 Vgl. Marlen Bunzel: Ijob im Beziehungsraum mit Gott. Semantische Raumanalysen zum Ijobbuch (BS 89), Freiburg 2018, 304. Für sie setzt die Suche des klagenden Hiob nach einem persönlichen Gott dort ein, wo Hiob zu Gott spricht. 47 Vgl. Meyer zum Felde: Hiobs Weg (s. Anm. 6), 17. 48 Vgl. Wehrle: Der leidende Mensch (s. Anm. 11), 177: »Die Gottesreden gehen auf die Theologie der Freunde in keiner Weise ein. Der von den drei Freunden zunächst nur angedeutete,

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sodass daraus geschlossen werden kann, dass ihre theologischen Konzepte versagen und nicht stichhaltig sind. Die erste Gottesrede ist geprägt von rhetorischen Fragen zur Größe und Undurchschaubarkeit der Welt. Diese Antworten sind nicht sofort ersichtlich, sondern sind voller Anspielungen und Bezugnahmen innerhalb des Hiobbuches. Gott spricht von der Weltschöpfung und Welterhaltung.49 Die Anfänge der Schöpfung, die Naturgewalten und der Kosmos (Hiob 38,1–38) erschließen sich Hiob ebenso wenig wie die Tierwelt (Hiob 38,39–39,30). Das Nachvollziehen dieser Realitäten rückt das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf zurecht, sodass seine Herausforderung Gottes zu einem Rechtsstreit obsolet wird.50 Hiob wird auf diese Weise von Gott dazu gebracht, darüber nachzusinnen, welche Rollen ihm und Gott zukommen. Wenn ihm der große Kosmos gezeigt wird, so soll ihn dies dazu bringen, dass er seinen auf sein eigenes Leid verengten Blick aufgibt und sich in einem veränderten Weltbild neu orientiert. In der zweiten Gottesrede weitet sich der Horizont auf Jhwh als den Vernichter der Frevler und Hochmütigen (Hiob 40,7–14) als auch den Bezwinger der zur Schöpfung gehörenden Chaosmächte Behemot und Leviatan (Hiob 40,15–41,25). Jahwe stellt sicher, dass sich die zerstörerischen Kräfte nicht verselbstständigen, ebenso wie er dem zerstörerischen Wirken des Satans eine Grenze setzt und ihm die Macht über das Leben Hiobs verwehrt (Hiob 2,6). Ebenso wenig wie der Hiob des Prologs Einblick in die Geschehnisse im himmlischen Thronrat hatte, erschließen sich ihm die der Schöpfung innewohnenden Mächte und Prozesse.51 Die Reden Gottes aus dem Sturm geben weder Antwort auf die Vorwürfe Hiobs noch nehmen sie auf den Prolog Bezug. Es findet keine Aufklärung über den wahren Grund des Leidens Hiobs, der Wette zwischen dem Satan und Jhwh, statt. Trotz allem Getöse des Sturms und den wortreichen Ausführungen Jhwhs bleibt die wahre Ursache verborgen. Sie wäre zu banal. In dieser Hinsicht herrscht Stille zwischen der himmlischen und der irdischen Sphäre.

aber dann offen ausgesprochene Verdacht, Ijobs Sündhaftigkeit sei der Grund für sein Leiden, wird vorerst mit Stillschweigen übergangen. Diese Beobachtung impliziert, dass die theologischen Argumente und Denkmuster der Freunde zurückgewiesen werden.« 49 Nina Gschwind: Kontingenzbewältigung, Sinnstiftung und Lebenssinn durch die JHWHRelation am Beispiel von Hiob 38,1–42,6, in: Distant Worlds Journal 1 (2016), (143–157) 145. 50 Vgl. Michaela Bauks: »Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst?« (Hiob 7,17). Überlegungen zur narrativen Funktion des Satans im Hiobbuch, in: dies. u. a. (Hg.): »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift für Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, (1–13) 4: »Es geht vielmehr um das langsame Nachvollziehen von Realitäten im Sinne einer Horizonterweiterung. Es geht um die Transformation des Gottesbildes durch Hiob.« 51 Insofern kann mit Bauks: Was ist der Mensch (s. Anm. 50), 10 gefragt werden, ob der Satan »als Metapher der dem Menschen abträglichen Bereiche der Schöpfungsordnung« gezeichnet wird.

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Gott spricht nicht nur zweimal zu Hiob, sondern wendet sich zu Beginn52 des Epilogs auch an Elifas, als primus inter pares der Freunde, und macht ihnen den Vorwurf, im Unterschied zu Hiob nicht recht zu53 ihm geredet zu haben (Hiob 42,7). Dies ist eine überraschende Umkehrung der Verhältnisse der vorhergehenden Reden, in welchen die Freunde meinten, das Wahre über Gott zu reden, und Hiob sich in schwere Vorwürfe gegenüber Gott steigerte. Aber genau darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Hiob und seinen Freunden. Hiob hat direkt zu Gott geredet, während die Freunde stattdessen objektivierend über Gott und Hiob gesprochen und ihr Weisheitssystem appliziert haben. Wenn Gott auch nicht direkt auf die Reden Hiobs eingeht, so wird in den Gottesreden doch offensichtlich, dass Gott sich von Hiob angegriffen fühlte, denn er verteidigt seine Rechtschaffenheit, bestreitet aber nirgends diejenige Hiobs.54 Hiob wird durch das Zurechtrücken des Autoritätsgefälles Gott-Mensch von Gott zurechtgewiesen (Hiob 40,2) und aufgefordert, ihm Antwort zu geben.

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Hiobs Antworten an Gott und die Kunst, nicht Recht behalten zu müssen

Hiob gesteht in seinen beiden Antworten (Hiob 40,3–5; 42,1–6) ein, zu gering zu sein, um zu antworten, und beschließt, zu schweigen. Dies ist keine Resignation Hiobs, weil Gott ihm den Rechtstreit verwehrt,55 sondern Anerkennung seiner Position als schweigender Gottesschüler (Hiob 40,4). Dieses kann zur wahren Rede gezählt werden, die Hiob von Gott zuerkannt wird (Hiob 42,7). Aber wo hat Hiob so geredet? Gott fühlt sich von ihm unter Umkehrung des Autoritätsgefälles Gott-Mensch zurechtgewiesen (Hiob 40,2). Insofern redete Hiob nicht recht von Gott. Somit bleiben die Optionen, dass Hiobs Antworten oder seine Reden aus den Streitgesprächen als »wahre Rede« aufgefasst werden. Es wäre zwar auch möglich, dass direkt auf den frommen Hiob des Prologs rekurriert wird, aber dies würde den Verlauf des Hiobbuches ausblenden und ihm die gesamte spannungsgeladene Auseinandersetzung nehmen. 52 42,7 leitet durch »und es geschah« einen neuen Erzählabschnitt ein. Vgl. Jürgen van Oorschot: Gott als Grenze. Eine literar- und redaktionsgeschichtliche Studie zu den Gottesreden des Hiobbuches (BZAW 170), Berlin 1987, 9. 53 Zur Übersetzung von Verb und Präposition als »zu jemandem reden« vgl. Meik Gerhards: Art. Gerechter, leidender, in: Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013, (188–193) 190. 54 Vgl. van Oorschot: Gott als Grenze (s. Anm. 52), 236: »In den Fragen der Entgegnung bestreitet Gott nicht Hiobs Rechtschaffenheit, sondern verteidigt vielmehr seine eigene.« 55 So jedoch David Clines: Job 38–42 (WBC 18B), Dallas 2011, 1224.

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Die zweite Antwort Hiobs führt an den Ausgangsort des poetischen Teils zurück. Der duldende, hinnehmende Hiob saß in der Asche (Hiob 2,8) und nun sitzt Hiob wieder (oder dem Erzählverlauf nach immer noch) in Staub und Asche (Hiob 42,6). Engljähringer formuliert treffend: Mit 42,6 kommt die Gestalt Ijobs, wie sie der Redeteil profiliert, genau dort an, wo der Ijob der Rahmenerzählung zu finden ist: Er ist mit Gott und seiner schrecklichen Lage versöhnt. Ijob, der mit seinen Freunden und mit seinem Gott ringt, »buchstabiert« mühsam den Weg, den sein anderes Ich im Rahmenteil scheinbar so einfach geht.56

Hiobs Selbst-, Welt- und Gottesbild haben sich verändert.57 Er anerkennt seine Hybris, Gott herausgefordert zu haben. Er erkennt, dass er nicht von seinem persönlichen Schicksal her die gesamte Weltordnung in Frage stellen kann und er erfährt eine neue Nähe des Gottes, der die Chaosmächte bändigt und in undurchschaubarer Weise diese Welt kontinuierlich erhält.

7.1

Zynismus der Rahmenerzählung

Auf die Ursache des Leides nach der Rahmenerzählung wird nicht mehr zurückgekommen. Die dort angegebene Ursache des Leidens ist für den modernen Leser schwer verdaulich, da sie ein zynisches Gottesbild zeichnet. Der Mensch ist ein Spielball der Rechthaberei Gottes. Leiden wird als göttliche Prüfung interpretiert, die auf dem zulassenden Willen Gottes beruht. Die Rolle des Satans bleibt Hiob stets verborgen, sodass er Jahwe als Ursache des Guten wie des Bösen ansieht und sich in sein von Gott gesandtes Schicksal ergibt. Diese Gottergebenheit wird als die vorbildliche Haltung angesehen (Hiob 1,21; 2,10). Somit gewinnt Jahwe die Wette und Hiob besteht die Prüfung. Eine Wette zwischen Jhwh und dem Satan wird in den Streitgesprächen sowie im Epilog nie in Erwägung gezogen und auch in den Gottesreden wird das Geheimnis der Wette nicht gelüftet.58 Selbst wenn dieses auf einen diachronen Wachstumsprozess der Texte zurückzuführen wäre, kann für die Endgestalt doch gefragt werden, ob dies vorsätzlich verschwiegen wird. Hat Gott seine Wette bereut und verschweigt sie nun?

56 Engljähringer: Theologie im Streitgespräch (s. Anm. 3), 195. Ähnlich sieht es Korneck: Das Buch Hiob als pädagogisches Konzept (s. Anm. 18), 40. 57 Gschwind: Kontingenzbewältigung (s. Anm. 49), 153: »In Hi 42,6 erst kommt der Rebell Hiob wieder dort an, wo er als Dulder bereits war. Beide Haltungen sind aber notwendige Aspekte der Auseinandersetzung mit Leid.« 58 Der Satan spielt keine Rolle, was in einer diachronen Leseweise die Frage aufwirft, ob die himmlische Thronratsszene aus einer späteren Zeit stammt.

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Reue wäre möglich. Sie gehört zu den anthropomorphen Eigenschaften Gottes (Gen 6,6; 1 Sam 15,35; Ps 106,45). Wüsste Hiob um diese Wette, so wäre dies eine weitere Dimension der Prüfung. Die Vorstellung, der Wetteinsatz Gottes zu sein, würde Hiobs neugewonnene Einsichten und anerkennende, aber nicht bedrohliche Nähe Gottes zumindest gefährden, wenn er nicht daran irre würde.59 Einen dazu passenden Dialog zwischen dem Satan und Gott entwirft Türcke: Und der Satan antwortete Jahwe und sprach: Solange ein Mann Gott nicht kennt, kann er wohl gottesfürchtig sein. Aber strecke deine Hand aus und rühre seine Augen an, dass ihm offenbar werde, was wir über ihn geredet haben. Wahrlich, er wird dir ins Angesicht fluchen. Da entbrannte der Zorn Jahwes gegen den Satan, und er verstieß ihn von seinem Angesicht.60

7.2

Hiob und die Kunst, von Gott recht zu reden

Wenn Schopenhauer die Möglichkeit einer vorsätzlichen Lüge in Betracht zieht, um Recht zu behalten, so findet sich Besagtes bei Elifas, welcher in seiner letzten Rede selbst zum Ankläger Hiobs wird, ihn mit eklatanten Anschuldigungen über moralisches Fehlverhalten und gotteslästerliche Rede überhäuft (Hiob 22,5–20) und dies mit einem Aufruf zur Umkehr zu Gott (Hiob 22,2–.23) verbindet.61 Die Instrumentalisierung Gottes ist ein weiteres Indiz gescheiterter Gespräche, insbesondere da Hiob stets betont hatte, dass die Ursache seines Leidens nicht in eigenem Fehlverhalten liegt. Elifas und die anderen Freunde reden, als ob sie Anwälte und Richter Gottes wären, die nicht nur den von Gott garantierten TunErgehen-Zusammenhang verteidigen, sondern auch Hiob wegen unrechter Rede verurteilen. Kommt man am Schluss nochmals auf Schopenhauer zurück, so kann für ihn eine Disputation gelingen, wenn die Disputanten an Gelehrsamkeit und an Geist ziemlich gleichstehn. Fehlt es Einem an der ersten, so versteht er nicht Alles, ist nicht au niveau. Fehlt es ihm an zweitem, so wird die dadurch herbeigeführte Erbitterung ihn zu Unredlichkeiten und Kniffen [oder] zu Grobheit verleiten.62

59 Die Prüfung Abrahams, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern (Gen 22,1–2) führt ebenfalls in ein schwieriges Gottesbild, gegen welches der aufgeklärte Mensch aufbegehren sollte. Vgl. Stefan Berg: Morija, in: HBl 1/2 (2011), 87–95. 60 Christoph Türcke: Umsonst Leiden. Der Schlüssel zu Hiob, Springe 2017, 47. 61 Vgl. Hawley: Metaphor Competition (s. Anm. 37), 146–147. 62 Schopenhauer: Die Kunst (s. Anm. 1), 92.

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Aus dieser Perspektive ist Hiob zwar seinen Freunden überlegen, aber die daraus resultierende Verhärtung fordert eine andere Lösung. Und diese erfolgt durch die Gottesreden. Schopenhauers letzter Kunstgriff beginnt mit: »Wenn man merkt, dass der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird« und setzt fort mit »so werde man persönlich, beleidigend, grob.«63 Im Kontrast dazu steht Hiobs Anerkennung Gottes. Hiob erkennt, es gibt mehr als Recht behalten zu müssen, nämlich recht von Gott zu reden (Hiob 42,7).

63 Schopenhauer: Die Kunst (s. Anm. 1), 89.

Magdalena Lass

»Streit ist Krieg«. Überlegungen zu den Gewaltformen in Psalm 35

Abstract This paper examines the violence described in Psalm 35 and associated body images. A close reading of the text shows how different forms of violence are addressed. Physical violence can be interpreted as an expression of the intensity of verbal and social violence. The entire text can be understood as an expression of the metaphor »argument is war« (Lakoff/Johnson). With its trivialization of violence, this hermeneutic is not unproblematic, though. Thus, it is suggested to see it in context with other possible hermeneutics.

Theologie als Streitkultur – dass in der Theologie viel diskutiert, gestritten und schwierige Fragen ausgefochten wurden, ist unbestritten. Dass ein Streit von den Beteiligten als sehr intensiv erfahren werden kann, zeigen die Metaphern, mit denen wir davon sprechen. Wir ringen um Argumente, wollen die Gegner mundtot machen, haben Totschlagargumente, führen rhetorische Finten aus usw. »argument is war« ist eine konzeptuelle Metapher, wie Lakoff/Johnson schon auf den ersten Seiten ihres viel rezipierten Buches feststellen. »Streit ist Krieg« wird von den beiden Autoren als plakatives Beispiel gewählt, um kurz zu erklären, was sie unter konzeptionellen Metaphern verstehen und wie diese unsere Wahrnehmung und unsere Handlungen prägen. Würde in unserer Kultur Streit nicht als Krieg, sondern als Tanz gesehen, würde unsere Wahrnehmung von Konflikten, aber auch unser Umgang mit Konflikten anders aussehen. Es gäbe keine Gewinner oder Verlierer und das Streitgeschehen als solches würde bewertet werden.1 Dass konzeptuelle Metaphern zum Verständnis von biblischen Texten beitragen, haben schon viele Autor/innen aufgezeigt. Dieser Artikel möchte zeigen, dass eine genaue Analyse der Gewalt und der Körperbilder zu einem tieferen Verständnis der Texte beitragen kann und damit beim Umgang mit den sogenannten »Rachepsalmen« hilfreich ist. Es wird die intensive Erfahrung von Streit anhand der genauen Auswertung der Gewalt- und 1 George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1981, 3–6.

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der Körperbilder in Psalm 35 analysiert. Auch Raummetaphern sind für eine tiefere Wahrnehmung der sprachlich dargestellten Gewalt wertvoll.2 In Klagepsalmen wird das physische und psychische Leiden des lyrischen Ichs oft mit Raummetaphern beschrieben und als Trennung von Gott und Abtrennung vom sozialen Gefüge dargestellt.3 Da Raummetaphern im ausgewählten Text nur sehr spärlich vorkommen, werde ich den Fokus auf Körper und Gewalt legen. Für diese Studie wurde Psalm 35 gewählt. Wichtig für die Auswahl war das Vorkommen von Körperbildern,4 das Vorkommen von Gewalt und eine gewisse Länge, um Gewaltdynamiken schildern zu können (»Storytelling«5). Der sogenannte »Rachepsalm« enthält unterschiedliche Arten von Gewalt (physisch, psychisch, verbal, sozial) und gilt in seinen Gewaltdarstellungen als problematisch. Für eine weitreichende Studie müssten weitaus mehr Texte behandelt werden, was aber den Rahmen eines Artikels sprengen würde. In einem ersten Schritt werde ich die Hermeneutik thematisieren, dann das Phänomen der Gewalt beleuchten, um dann den Psalm kurz vorzustellen. Es folgen Gewaltanalyse und Körperanalyse unter Beachtung der Metaphern. Dabei wird sichtbar werden, dass die konzeptionelle Metapher »argument is war« für das Verständnis von Psalm 35 erhellend sein kann. In abschließenden Bemerkungen werden die Ergebnisse zusammengetragen und nochmals mit dem großen Thema der Hermeneutik bei Gewalttexten verknüpfen.

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Zur Hermeneutik von sogenannten »Rachepsalmen«

Rachewünsche in Gebeten wirken für viele Betende heute abstoßend. Ebach6 zeigt mit einem Beispiel auf, dass nicht die Texte das Problem sind, sondern dass wir sie durch unseren Kontext in der westlichen Welt oft nicht mehr richtig verstehen. Eine Paraphrase des Psalms 5 sollte 1986 auf Wunsch des südafrikanischen Kirchenrates zum Jahrestag des Schüleraufstands von Soweto als Gebet gegen die Apartheid gelesen werden. Die Evangelischen Kirchen Deutschlands 2 Beispielsweise bei 2 Sam 22 (= Ps 18) sind die Raummetaphern und Bewegungen im Raum wichtig für die Darstellung von Macht und Gewalt. Vgl. Magdalena Lass: … zum Kampf mit Kraft umgürtet. Untersuchungen zu 2 Sam 22 unter gewalthermeneutischen Perspektiven (BBB 185), Göttingen 2018, 329–336. 3 Vgl. Gert Prinsloo: Suffering Bodies – Divine Absence. Towards a Spatial Reading of Ancient Near Eastern Laments with Reference to Psalm 13 and an Assyrian Elegy (K 890), in: OTE 26 (2013), 773–803. 4 Körperbilder kommen in 143 der 150 Psalmen vor. Vgl. Susanne Gillmayr-Bucher: Body Images in the Psalms, in: JSOT 28 (2004), (301–326) 301. 5 Sigrid Eder: Storytelling in the Psalter? Chances and Limits of a Narrative Psalm Analysis – Shown Exemplarily in Psalm 64, in: OTE 32 (2019), 343–357. 6 Vgl. Jürgen Ebach: Biblische Erinnerungen. Theologische Reden zur Zeit, Bochum 1993.

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lehnten den Entwurf wegen der Feindverwünschung ab. Die Bitte, dass die Feinde/innen durch ihre eigenen Fallstricke fallen mögen, drückte aber aus, dass die Apartheid sich durch ihr eigenes System zu Fall bringen soll. Derartige Gebete vertragen sich offenbar nicht mit dem Konzept der Volkskirche. Ebach fragt treffend, wer es sich leisten könne, auf Gebete zu verzichten, die um den Fall ungerechter Machthaber/innen flehen. Seine Schlussfolgerung ist: »Rachewünsche sind weniger der Ausdruck einer Gesinnung als einer Lage.«7 Es sind die Metapher »Gott ist Krieger« und die Verwünschung der Feinde, die in unserer westlichen, christlichen Auslegung als Stolpersteine wahrgenommen werden. Grohmann8 zeigt, dass das nicht immer so war. In der jüdischen Auslegung des Mittelalters gibt es die Tendenz, Feindbedrohung als normales Faktum des Lebens anzunehmen. Die Verwünschungen der Gegner sind Hoffnung der Machtlosen und somit auch die Zuwendung zu Gott, dem es überlassen ist, nach seiner Gerechtigkeit einzugreifen. Das hermeneutische Kapitel in Zengers Buch über die Feindpsalmen9 ist eine der ersten expliziten Auseinandersetzungen mit der Hermeneutik bei Gewalttexten. Er führt aus, dass oftmals göttliche Gewalt im Kontext des Gerichtes geschildert wird. Wenn man diese Gewalt unterbände, würde dem Unrecht nicht mehr Einhalt geboten. Zenger benennt die Schwierigkeiten, die das westliche Christentum mit den sogenannten »Fluchpsalmen« hat, und plädiert dafür, die Texte trotzdem nicht einfach zu »korrigieren«, »schön zu kürzen« oder ihnen durch die Interpretation den Stachel der Provokation zu ziehen. »Es sind Psalmen, die sich an der Erfahrung von Leid und Verfolgung, Haß und Not, […] abarbeiten, wobei dies nur in irritierender Sprach- und Bildgestalt möglich ist. Wer diese erklärt und auflöst, […] hat sie im Grunde schon verraten.«10 Afrikanische Auslegungen der Psalmen bergen interessante Perspektiven, die unsere westlich geprägte Hermeneutik aufbrechen und ergänzen können (vgl. auch Ebach oben). Einen spannenden Beitrag bietet etwa Ramantswana, wenn er Ps 137 mit der Tradition der »struggle songs« vergleicht. Dabei ist klar, dass die gewaltsamen Bilder Hoffnung aus der Position der Unterdrückten ausdrücken.11 Adamo betont, dass Afrikanische Hermeneutiken verstärkt eine von der Lebenswelt der Menschen geprägte Sicht einbringen. »What African biblical hermeneutic(s) is all about is bringing real life interest into the biblical text and then

7 Ebach: Biblische Erinnerungen (s. Anm. 6), 89. 8 Vgl. Marianne Grohmann: Jewish and Christian Approaches to Psalm 35, in: dies. u. a. (Hg.): Jewish and Christian Approaches to Psalms, Freiburg i.Br. 2009, (13–30) 18. 9 Vgl. Erich Zenger: Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994. 10 Zenger: Ein Gott der Rache? (s. Anm. 9), 71. 11 Vgl. Hulisani Ramantswana: Song(s) of Struggle. A Decolonial Reading of Psalm 137 in Light of South Africa’s Struggle Songs, in: OTE 32 (2019), 464–490.

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assign a very prominent role to this life interest.«12 Ein Aspekt der existenziellen Auslegung ist die Wahrnehmung der Bibel als machtvolles Instrument. Beispielsweise wird der Psalter als Schutz gegen böse Kräfte und Feinde gesehen; Texte können Heilung bringen für Krankheitsbilder, bei denen die Schulmedizin nicht helfen kann, oder auch Erfolg erbitten. Damit die Texte, die als Gottes Wort mächtig sind, ihre Kraft entfalten, werden sie rezitiert, Verse an bestimmte Stellen geschrieben oder angebracht oder in Wasser oder Öl gelesen. Die Perspektive der afrikanischen Hermeneutik kann oft gerade den Texten, die für unsere westlichen Interpretationsweisen schwierig erscheinen, einen besonderen Wert abgewinnen. Dabei wird meines Erachtens deutlich, wie geprägt die jeweiligen Auslegungen von den auslegenden Personen und deren persönlichem und kulturellem Umfeld sind. Der Umgang mit der Bibel als mächtiges Wort, welches als Schutz oder zu Heilungszwecken herangezogen werden kann, wird im westlichen Kontext oft als magisch oder archaisch (ab-)gewertet. Adamo weist darauf hin, dass dieses Phänomen einen zweiten Blick verdient. Dass das Wort Gottes als »potent und performativ« gilt, ist wahrscheinlich sehr nahe am altorientalischen, alttestamentlichen Verständnis. Auch die Israeliten haben die biblischen Texte als wirksame, wirklichkeitsverändernde Texte wahrgenommen wie die afrikanische Leseweise.13 Adamo zeigt, wie die christliche Yoruba-Tradition Ps 35 liest und er dort zu einem wichtigen und sehr beliebten Text werden konnte.14 Ich möchte dafür plädieren, Texte der Bibel, die Gewalt (welcher Art auch immer) beschreiben, nicht zu schnell abzulehnen, sondern sich auf die Suche nach deren Relevanz zu begeben. In der westlichen (Europa/Nordamerika) Theologie sind wir meines Erachtens oft zu schnell mit der Verurteilung dieser Texte und nehmen zu wenig wahr, welche wichtigen Funktionen diese haben können.

12 David Tuesday Adamo: The Task and Distinctiveness of African Biblical Hermeneutic(s), in: OTE 28 (2015), (31–52) 32. 13 Adamo: The Task (s. Anm. 12), 39. 14 Vgl. David Tuesday Adamo: Reading Psalm 35 in Africa (Yoruba) Perspective, in: OTE 32 (2019), (936–955) 937.

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Zur Struktur von Gewalt

Gewalt kann in ihrer formalen Struktur auf die drei Fragen »Wer, Was und Wem« herunter gebrochen werden. Imbusch15 erweitert dieses Schema und versucht, die Struktur der Gewalt über die bekannten sieben »W-Fragen« zu erschließen: Wer? Was? Wie? Wem? Warum? Wozu? Weshalb? Kategorie Bezugsdimension Wer? Subjekte Was? Wie?

Definitionskriterien Täter/innen als Akteure

Phänomenologie der Verletzung, SchädiGewalt gung, andere Effekte Art und Weise der Ge- Mittel, Umstände waltausübung

Definitionsbestandteile Personen, Gruppen, Institutionen, Strukturen Personen, Sachen physisch, psychisch, symbolisch, kommunikativ

Wem? Warum?

Objekte Opfer Ursachen und Gründe Interessen, Möglichkeiten, Kontingenzen

Personen, Sachen Begründungsvarianten

Wozu?

Ziele und Motive

Absichten

Grade der Zweckhaftigkeit Weshalb? Rechtfertigungsmuster Normabweichung, Normentsprechung

legal/illegal, legitim/illegitim16

Die Frage »Wer« blickt auf den Täter bzw. die Täterin. Hierbei kann es sich sowohl um eine Person als auch um eine Gruppe oder eine Institution handeln. Bei der Frage »Was« verweist Imbusch auf die Körperlichkeit der Gewalterfahrung und auf ihre Verortung in Raum und Zeit. Hier geht es um die konkrete körperliche Verletzung bzw. das körperliche Erleiden von Gewalt. Dabei ist zu beachten, dass der Körperaspekt der Gewalt im »Antun« genauso steckt wie im »Erleiden«. Im nächsten Punkt wird gefragt, »wem« Gewalt angetan wird, und somit werden die Personen, die zu Opfern werden, in den Blick gerückt. Die nächsten drei Fragen haben wiederum mehr die Täter/innen im Blick, wenn nach Ursachen (warum), Zielen (wozu) und Rechtfertigungen (weshalb) geforscht wird. Imbusch wirft unter der Frage »Wie« das Thema der »bystander« auf, der »unbeteiligten« Dritten, die Zeugen der Gewalt sind. Dieser in der Grundstruktur einfache Fragenkatalog ist hilfreich, um das Phänomen der Gewalt zu beschreiben, ohne diese gleich (weg-)erklären zu müssen oder zu schnell in eine Täter-Opfer- oder Ursachenhermeneutik zu verfallen.17 15 Vgl. Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, 26–57. 16 Tabelle übernommen von Imbusch: Der Gewaltbegriff (s. Anm. 15), 37. 17 Vgl. Imbusch: Der Gewaltbegriff (s. Anm. 15).

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Zur Körperlichkeit von Gewalt

Der Soziologe Trutz von Trotha entlarvt die Gewaltsoziologie seiner Zeit als »Ursachensoziologie« und bemüht sich wie Imbusch um eine Beschreibung des Phänomens. Um einen umfangreichen Blick einzuüben, definiert er zehn Tatsachen der Gewalt und macht so den Facettenreichtum deutlich.18 Für die Interpretation von Ps 35 möchte ich seinen Punkt zur Körperlichkeit von Gewalt hervorstreichen. Gewalt ist im »Antun« und »Erleiden« ein körperliches Geschehen. Physische Gewalt geschieht durch körperlichen Einsatz, das Erleiden von physischer, aber auch psychischer Gewalt hat konkrete körperliche Folgen. Sinnlichkeit und Körperlichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Besondere Beachtung bei der Körperlichkeit gebührt dem Schmerz.19 Popitz20 hebt hervor, dass sich Schmerzen zwar ertragen, aber nicht ignorieren lassen. Man kann sich aus dem eigenen Körper nicht zurücknehmen. Verletzungen wirken nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die sozialen Beziehungen. Opfer von Gewalt erleben die erlittene Unterdrückung meist ganzheitlich als »vitale-allgemeine« Unterwerfung. Der Körper wird aber nicht nur zum Opfer von Gewalt, er ist auch Täter und Waffe zur Gewaltausübung. Sofsky sieht den Körper als erste Waffe des Menschen und meint: »Der Körper dient als Werkzeug der Gewalt.«21 Aus diesen Gründen erachte ich es für wichtig, bei der Analyse von textlich dargestellter Gewalt den Fokus auch auf die Körperlichkeit des Erleidens und des Antuns von Gewalt zu legen. Sogar verbale Gewalt wird körperlich beschrieben und körperlich erlitten, wie in Ps 35 gesehen werden kann.

18 Diese zehn Tatsachen sind: Gewalt als »Jedermanns-Ressource, Dynamischer Prozess, Neuordnung der Struktur der Zeit, Erinnerungsmächtige Wirklichkeit, Wirklichkeit der Gefühle, Körperlichkeit, Faszination Gewalt, Politische und soziale Institutionalisierung von Gewalt, Kulturelle Normalisierung und Dramatisierung«. 19 Vgl. Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, 9–56. 20 Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986. 21 Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, 31.

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4.1

Übersetzung22

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1

Von David. Streite doch JHWH gegen die, die gegen mich streiten;23 Bekriege die, die mich bekriegen. 2 Ergreife Rundschild und Langschild; und steh doch auf als mein Helfer. 3 Und zücke Speer und Lanze um meine Verfolger zu treffen; sag zu meiner Nefesch: Deine Rettung [bin] ich. 4 Sie sollen sich schämen und sie sollen gedemütigt werden, die [nach] meiner Nefesch Trachtenden. Sie sollen zurückweichen und sie sollen beschämt werden; die mein Unheil Ersinnenden. 5 Sie sollen werden wie Spreu vor dem Angesicht des Windes; und der Bote JHWHs stoße [sie] weg. 6 Ihr Weg sei finster und glatt; und der Bote JHWHs verfolge sie. 7 Denn grundlos haben sie mir die Grube [mit] ihrem Netz versteckt; grundlos haben sie für meine Nefesch gegraben. 8 Es komme [über] ihn Verderben, er soll es nicht erkennen und sein Netz, das er versteckt hat, soll ihn [selbst] fangen; er soll ins Verderben fallen. 9 Und meine Nefesch wird frohlocken über JHWH; sie wird sich freuen über seine Rettung. 10 Alle meine Knochen werden sagen: JHWH, wer [ist] wie du? Herausreißend den Armen, von dem, der stärker [ist] als er; und den Armen und den Bedürftigen von ihren Räubern. 11 Gewalttätige Zeugen wollen aufstehen; sie wollen mich fragen, was ich nicht weiß.

22 Die Arbeitsübersetzung soll dazu dienen, der Argumentation im Folgenden gut folgen zu können. Der Text bietet einige übersetzungstechnische Schwierigkeiten, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird. Siehe dazu: Peter C. Craigie: Psalms 1–50 (WBC 19), Waco 1983, 282–289; Mitchell Dahood: Psalms I. 1–50 Introduction, Translation and Notes (AncB 16), London 1966, 208–216; Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 13–16; HansJoachim Kraus: Psalmen 1 (BKAT 15.1), Neukirchen-Vluyn 1972, 277. 23 An der Stelle des Atnach im Hebräischen wird in der Arbeitsübersetzung ein Strichpunkt (;) verwendet, um die Struktur des Hebräischen sichtbar zu machen.

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12 Sie vergelten Böses für Gutes,24 Kindsverlust für meine Nefesch. 13 Und ich: in ihrer Krankheit [war] Sack mein Kleid; ich erniedrigte mit Fasten meine Nefesch; und mein Gebet kehrte in meinem Schoß zurück. 14 Wie ein Freund, wie ein Bruder [war er] für mich, ich ging [trauernd umher]; Wie Mutter-Trauer [so] finster war ich gebeugt.25 15 Und mein Stürzen erfreute sie und sie versammelten sich, sie versammelten sich gegen mich [wie] Schläger, und ich erkannte [es] nicht; sie zerrissen und sie waren nicht leise. 16 Unter Gottesleugner spottend (Gebackenes/Vorrat26); um gegen mich mit ihren Zähnen zu knirschen. 17 Herr, wie lange noch wirst du zusehen? Bring meine Nefesch zurück aus ihrem Übel; meine Einzige aus den jungen Löwen. 18 Ich will dir in der Versammlung sehr danken; im zahlreichen Volk will ich dich preisen. 19 Es sollen sich nicht freuen meine Feinde der Falschheit; grundlos hassend zwinkern sie mit den Augen. 20 Denn nicht Schalom wollen sie reden und gegen die Ruhigen im Land; ersinnen sie Worte des Betrugs. 21 Sie reißen ihren Mund gegen mich auf, sie sagen: Hah, Hah; Unsere Augen haben es gesehen. 22 Du hast es gesehen, JHWH, schweig doch nicht; Herr, sei nicht fern von mir. 23 Erhebe dich, wach auf für mein Recht; mein Gott und mein Herr für meinen Streit. 24 Richte mich gemäß deiner Gerechtigkeit, JHWH, mein Gott; damit sie sich nicht freuen über mich. 25 Nicht sollen sie in ihrem Herzen sagen: Hah – unsere Nefesch! Nicht sollen sie sagen: Wir haben ihn verschlungen. 26 Sie sollen sich schämen und sie sollen beschämt werden allesamt, die sich freuen [über] mein Unheil, sie sollen sich kleiden in Schande und Schimpf; die sich gegen mich Großmachenden. 27 Laut rufen und sich freuen sollen sich die, die Gefallen haben an meiner Gerechtigkeit, 24 Der V. 12 ist der einzige Vers von Psalm 35 ohne Versteiler/Atnach. 25 Zu dieser Übersetzung siehe auch: Michael Barré: A Problematic Line in a Shamash Prayer and Psalm 35:14, in: JAOS 127 (2007), 195–197. 26 Das Wort (‫ )ָמעוֹג‬ist unklar, es kommt außer hier nur noch in 1 Kön 17,12 vor. Das dazugehörige Verb ‫ עוג‬wird mit »backen« wiedergegeben und kommt nur in Ez 4,12 vor.

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und sie sollen sagen allezeit: Groß [ist] JHWH; der Gefallen hat am Schalom seines Knechtes 28 Und meine Zunge soll murmeln deine Gerechtigkeit; alle Tage dein Loblied.

4.2

Aufbau

Der Psalm 35 ist ein komplexes Klagegebet eines Einzelnen mit 3 Redegängen V. 1–10.11–18.19–28.27 Oeming sieht den Psalm ohne strenge Gliederung. Der Text kommt in drei Anläufen mit kleinen Varianten immer zu demselben Endpunkt hin.28 Der Aufbau in drei Reden, jeweils mit Lob als Abschluss, kann als Konsens quer durch die Literatur gelten.29 Goldingay benennt die drei Teile nach ihrer Gewalt: V. 1–10 physical attack (military and hunting); V. 11–18 personal attack; V. 19–26 false accusation.30 Die Feingliederung des Textes ist weniger eindeutig. In der Mitte des Textes steht die kontrastive Schilderung des Verhaltens der Gegner und des Tuns des Beters.31 Das Vokabular aus dem Recht lässt den Psalm als Gebet eines unschuldig Angeklagten erscheinen. Dabei fallen aber die kriegerischen Zwischentöne auf, die Gott nicht nur als Richter, sondern auch als gut bewaffneten Krieger darstellen.

4.3

Stichwortverknüpfungen, Leitworte und Poesie

Die vielen Stichwortverbindungen schaffen interessante Kontraste und sind als Stilmittel der Poesie zu verstehen. Dabei setzen sie inhaltliche Kontrapunkte und Betonungen. Das programmatische erste Wort des Textes »Streite!« wird in V. 23 wieder aufgegriffen. So eindeutig der Kontext in V. 1 militärisch ist, so klar geht es in V. 23 um einen Rechtsstreit. In V. 2 soll Gott für den Beter aufstehen (‫)קום‬, in V. 11 stehen die Feinde gegen den Beter auf. Die Verfolger von V. 3 werden sehr schnell, nämlich in V. 11, zu Verfolgten. Die im Modus der Hoffnung formulierte 27 Vgl. Egbert Ballhorn/Erich Zenger: Die Psalmen, in: Christoph Dohmen (Hg.): Die Bibel – Einheitsübersetzung. Kommentierte Studienausgabe 1. Stuttgarter Altes Testament, Stuttgart 2017, 1280–1282. 28 Vgl. Manfred Oeming: Das Buch der Psalmen. Psalm 1–41 (NSK.AT 13), Stuttgart 2000, 199– 202. 29 Vgl. Beat Weber: Werkbuch Psalmen 1. Die Psalmen 1 bis 72, Stuttgart 2001, 68–72. 30 Vgl. John Goldingay: Psalms 1. Psalm 1–41 (Baker Commentary on the Old Testament Wisdom and Psalms), Grand Rapids 2006, 489. 31 Vgl. Weber: Werkbuch Psalmen 1 (s. Anm. 29), 168–172.

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Zusage der »Hilfe« wird in V. 9 wieder aufgegriffen aus der Perspektive der erhaltenen Hilfe. Besonders viele Verknüpfungen weist V. 4 auf. Dieser Vers ist durch verschiedene Worte des »Schämens« mit V. 26 verbunden. Außerdem verbindet das Ersinnen/Planen von Unheil oder Betrug den Vers mit V. 20. Die Wendung »meine Nefesch« kommt im Text so oft vor, dass ich sie eher als Leitwort denn als Stichwortverbindung werten möchte. Die Verse 5 und 6 sind durch einen ähnlichen Aufbau und die Verwendung des Verbs »sein« miteinander verbunden. Ebenfalls eng verknüpft sind V. 7 und V. 8 durch das Wort »verstecken« und durch die doppelte Verwendung eines Begriffs (grundlos/Verderben). Zum ersten Mal wird in V. 8 auch »wissen« bzw. »nicht wissen« verwendet, wie später noch in den Versen 11 und 15. Je nachdem, ob man das Verb (‫ )ענה‬mit »demütigen« oder »antworten« übersetzt, ergibt sich ein Zusammenhang zu V. 11. Die Gegner fragen, der Beter antwortet mit Fasten. Der V. 13 bringt das Bild des Sich-Kleidens als Selbstminderungsritus. Das Kleid der Gegner soll Schimpf und Schande werden (V. 26). Der V. 19 greift mit der Verwendung von »grundlos« auf V. 7 zurück und ist durch das Körperbild der »Augen« mit V. 21 verknüpft. Durch das Wort Schalom in V. 20 wird ein Kontrast zwischen den Gegnern und der Rede der »Gerechten« in V. 27 aufgebaut. Die Verse 21 und 22 sind durch das Verb des Sehens kontrastreich verbunden: Zuerst das feindliche Sehen der Feinde, dann das Sehen Gottes, das ein Eingreifen zur Folge haben muss. Der schon viel erwähnte V. 26 ist durch die Wurzel »groß sein« (‫ )גדל‬mit V. 27 verknüpft. Die Gegner machen sich selbst groß, doch groß ist allein nur JHWH. Basson weist noch auf das Wortspiel zwischen Schalom (‫ ) ָשׁלוֹם‬in V. 27 und Zunge (‫ )ָלשׁוֹן‬in V. 28 hin. Es streicht die Verbindung zwischen dem Wohlergehen des Beters und dessen Lobpreis hervor.32 Das Leitwort Nefesch bezeichnet immer den Beter – außer in V. 25. Als weiteres Leitwort kann das Verb »freuen« (‫ )שׂמח‬gelten. Die Schadenfreude der Gegner überwiegt im Text; sie wird aber am Ende durch die gerechte Freude derer, die sich am Beter erfreuen, gebrochen. Der erste Redegang wird durch das Stichwort »stark sein« (‫ )חזק‬gerahmt (V. 2 und V. 10). Weber weist auf einige lautliche Phänomene hin wie die Alliterationen mit »schin« in den Versen 4, 13 und 17 und die k-Laute in V. 14 (Vergleiche). Der Text bietet auch einige Lautpaare. Psalm 35 steht am Beginn der letzten Psalmengruppe im 1. Buch der Psalmen. Die Stichwortverbindungen sind daher stärker mit den darauffolgenden Texten als mit den vorhergehenden. Weber macht darauf aufmerksam, dass die Beachtung der Tempora wichtig ist, um die Aussagen des Psalms richtig einordnen zu können. Es scheint, als ob der 32 Vgl. Alec Basson: Divine Metaphors in Selected Hebrew Psalms of Lamentation (FAT 15), Tübingen 2006, 149.

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Beter seinen Gegnern bereits ins Netz gegangen ist und von ihnen verleumdet wurde (V. 7 und V. 15), das Verfahren aber noch nicht abgeschlossen ist (viele PK-Formen).33

4.4

Durchgang durch den Text

Verse 1–3 Gleich das erste Wort des Textes heißt »Streite!«. Der Beter hält sich nicht durch eine Einleitung auf, sondern bringt im ersten Wort sein Anliegen zum Ausdruck. Riv ‫ ריב‬bedeutet »Streit« und umfasst dabei je nach Kontext das Bedeutungsspektrum vom einfachen Streit (z. B.: Gen 13,7–8; Ex 21,18) über kriegerische Auseinandersetzungen (Ri 11,25; 12,2) bis hin zum Rechtsstreit (z. B.: Gen 31,26.44; Streit wird durch Vertrag gelöst).34 Zwischen Krieg und Rechtsverfahren bewegen sich auch die Schilderungen des Psalms. In den ersten Versen werden Bilder des militärischen Krieges beschrieben. Gott soll streiten, Krieg führen und sich wie ein Kriegsmann ausrüsten mit Schild (kleiner Rundschild und großer Langschild) und Speer (Speer und Lanze). Der kleine Rundschild wird in poetischen Texten häufig als Bild für oder Attribut von JHWH gebraucht. Fredriksson weist darauf hin, dass in manchen Bildern Gott nicht der Schild, sondern der Schildträger ist. Dies trifft etwa auf Ps 7,11, aber auch hier, in V. 2, zu. Auch der große Schanzschild gehört zur Ausstattung Gottes (Ps 5,13; 35,2 und 91,4).35 Der Rundschild gehörte zur Ausrüstung des Speerkämpfers, wurde aber genauso in Kombination mit Bogen, Schleuder oder Schwert verwendet. Er wurde in der Geschichte bedeutender, während der größere Langschild mit der Zeit nur noch zum Verschanzen verwendet wurde.36 Die Bewaffnung mit Speer und Lanze entspricht der Ikonographie der Kriegsgottheit Reschef.37 »This selection also demonstrates the poet’s conviction that God is the warrior par excellence.«38 Die militärische Sprache hat zum Ziel, Gott dazu zu bringen, zu handeln und den Beter zu retten. »It seems as if the Psalmist is saying, after all, the trouble is yours, God and it is time to act and fix it.«39

33 Vgl. Weber: Werkbuch Psalmen 1 (s. Anm. 29), 168–172. 34 Vgl. Helmer Ringgren: Art. ‫ריב‬, in: ThWAT 7, Stuttgart 1977, 496–501. 35 Vgl. Henning Fredriksson: Jahwe als Krieger. Studien zum alttestamentlichen Gottesbild, Lund 1945. 36 Vgl. David Noel Freedman: Art. ‫ָמ ֵגן‬, in: ThWAT 4, Stuttgart 1977, 646–659. 37 Vgl. Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger: Die Psalmen (NEB.AT 29), Würzburg 1993, 220. 38 Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 32), 157. 39 Adamo: Reading Psalm 35 (s. Anm. 14), 942.

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Der V. 3b gilt als »Musterbeispiel« eines Heilsorakels, möglicherweise als Rettungszusage des Orakels vor einer Schlacht.40 Dabei ist aber zu beachten, dass der sogenannte Stimmungsumschwung nicht eindimensional durch ein von außen kommendes Orakel erklärt werden kann.41 Flesher argumentiert, dass die Verse, die als Orakel oder Stimmungsumschwung gedeutet wurden, ein rhetorisches Mittel sind, um Gott zum Eingreifen zu bewegen.42 Diese Verse zeigen somit nicht die Veränderung im Inneren des Beters an, sondern sollen vor allem eine Veränderung im Inneren Gottes bewirken. Verse 4–8 Nach diesem kraftvollen Herbeirufen Gottes in voller Kriegsausrüstung folgt nun die Schilderung, was mit den Feinden geschehen soll. Man könnte erwarten, dass der Beter sich wünscht, dass die Feinde niedergestoßen werden, am Boden liegen, wie Staub zertreten werden oder ähnliches, doch wir werden vom Text überrascht. Die Feinde sollen sich schämen. Die Begriffe ‫ בושׁ‬und ‫ כלם‬können als fixe Kombination angesehen werden, die den Verlust der Ehre und öffentliche Demütigung ausdrücken.43 Weiters sollen sie sich drehen (‫)סוג‬, und zwar nach hinten oder rückwärts. Die Feinde sollen sich vor Scham abwenden müssen. Das Wort (‫ )ָאחוֹר‬findet im nächsten Vers sein Gegensatzpaar (das Angesicht ‫) ָפּ ֶנה‬. Der Beter hofft, dass seine Gegner beschämt umdrehen müssen und vom Angesicht des Windes noch zerstreut werden. Dieser Ruf nach Demütigung der Gegner ist nicht selten – »One of the common cries in the Psalms is for the shaming of enemies (for example, Ps 6:10; 40:15; 53:5; 57:3; 70:2; 71:13,24; 78:66; 83:16–17; 109:28–29).«44 Eine sehr verbreitete Reaktion auf Beschämung ist der Wunsch, die Gegner zu demütigen, um selbst das Gesicht zu wahren. Der Beter hofft auf das »counter-shaming« Gottes und impliziert, dass durch die Beschämung der Gegner Gott Lob von den Gerechten erhält.45 Die Verse 5 und 6 sind inhaltlich eng verknüpft und gleich aufgebaut. Zuerst wird mit dem Verb ‫ היה‬ein Wunsch gegen die Gegner ausgedrückt, dann mit einem Partizip gesagt, wie der Bote Gottes gegen sie vorgeht. Diese Formulierung

40 Vgl. Ballhorn/Zenger: Die Psalmen (s. Anm. 27), 1280–1282. 41 Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 16–23. 42 Vgl. LeAnn Snow Flesher: Rapid Change of Mood. Oracles of Salvation, Certainty of a Hearing, or Rhetorical Play?, in: Robert Foster/David Howard (Hg.): My Words are Lovely. Studies in the Rhetoric of the Psalms, New York 2008, (33–45) 44. 43 Vgl. Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 32), 152. 44 Lyn Bechtel: The Perception of Shame within the Divine-Human Relationship in Biblical Israel, in: Neil Richardson/Lewis Hopfe (Hg.): Uncovering Ancient Stones. Essays in Memory of Neil Richardson, Winona Lake 1994, (79–92) 86–87. 45 Vgl. Bechtel: The Perception of Shame (s. Anm. 44), 86.

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erinnert an den Boten JHWHs beim Schilfmeergeschehen (Ex 14,19). Dieser »Kampfengel« soll die Gegner des Beters vertreiben.46 Gleich zu Beginn von V. 5 findet sich ein Pflanzenbild: Die Feinde sollen werden wie Spreu47. Dabei wird ausgedrückt, dass sich die Gegner verflüchtigen und wehrlos zertreten werden sollen. In der Metapher mitgedacht ist die Wertlosigkeit der Spreu. Im AT wird die Spreu mehrfach mit den Feinden in Verbindung gebracht, die spurlos verschwinden bzw. sich als nichtig erweisen sollen (vgl. Jes 17,13; 29,5; Ps 1,4).48 Verse 7–8 Die dominanten Jussivformen werden im ersten Teil nur kurz unterbrochen, nur in V. 7 werden die tatsächlichen Angriffe der Feinde geschildert. Die Gegner erscheinen als Jäger, die Fallen stellen. Ihre Gewalt ist versteckt und trifft überraschend und für den Beter völlig grundlos (doppelte Betonung). Der V. 8 führt das Bild des Fallenstellens fort und bringt den Wunsch zum Ausdruck, die Feinde mögen doch an ihren eigenen Fallstricken ins Verderben gehen. Auffällig ist, dass nicht Gott eingreifen soll, sondern der »Tun-Ergehen-Zusammenhang« als weisheitliches Grundprinzip eingespielt wird (vgl. Spr 26,27). Verse 9–10 Obwohl der Beter sich ausführlich den Fall der Gegner ausgemalt hat, ist das Objekt seiner Freude in V. 9 nicht ihre Besiegung, sondern seine Rettung. Mit der rhetorischen Unvergleichlichkeitsfrage (V. 10) wird zugleich auf Gottes Macht und Erbarmen/Gerechtigkeit hingewiesen.49 Grohmann weist darauf hin, dass die Midrasch Tehillim den Ausdruck »alle meine Knochen sagen: Herr, wer ist wie du?« nimmt, um zu entfalten, mit welchen Körperteilen Gott gepriesen werden kann. Die lange Liste an Körperbegriffen wird jeweils mit biblischen Zitaten unterlegt.50 Dass die Knochen des Beters das Lob formulieren und Freude ausdrücken, findet sich in der Bibel selten.51

46 Vgl. Ballhorn/Zenger: Die Psalmen (s. Anm. 27), 1280–1282. 47 Spreu (‫מץ‬ ֹ ) ist das Abfallprodukt, das beim Dreschen anfällt. Durch das Worfeln auf der Tenne wird die Spreu vom Getreide getrennt. Die schwereren Getreidekörner fallen zu Boden und die Spreu wird vom Wind davon geweht. 48 Vgl. Peter Riede: Art. Spreu, 2019, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200800/ [05. 09. 2020]. 49 Vgl. Ballhorn/Zenger: Die Psalmen (s. Anm. 27), 1281. 50 Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 20. 51 Näheres dazu bei der Analyse der Körperbilder des Beters.

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Verse 11–14 Mit V. 11 beginnt der zweite Redegang. Wurde in V. 2 Gott hoffnungsvoll aufgerufen aufzustehen, so stehen nun die Feinde gegen den Beter auf. Die Gegner werden als gewalttätig charakterisiert, doch ändert sich das Bild von der kriegerischen Gewalt hin zur verbalen, da sie als Zeugen in einem Gerichtsverfahren auftreten. Die Verse 12–14 führen das Verhalten des Beters mit dem Ziel aus, die Ungerechtigkeit der Feinde weiter herauszustreichen. Der Beter drückt in V. 12 zunächst aus, dass ihm Gutes mit Bösem vergolten wurde. Dahinter steht für Janzen nicht eine bloße do ut des-Verbindung, sondern das soziale Gefüge einer verwandtschaftlichen Beziehung.52 Der Psalmenbeter ließ seinen ( jetzigen) Gegnern in der Situation ihrer Krankheit angemessenes Verhalten zukommen. Sein Beten und seine Trauerriten waren nicht nur mit den anderen, sondern auch für die anderen, da sein Tun das soziale Ausmaß der Krankheit vermittelte.53 Die teilnehmende Buße zeigt an, dass sich der Beter solidarisiert.54 Die Gegner vergelten nun das Gute aber mit Bösem, was vom Beter als »Kindsverlust meiner Nefesch« erfahren wird. Obwohl es keine Anhaltspunkte für andere Schreibweisen gibt, sehen manche den Ausdruck (‫ ) ְשׁ֣כוֹל ְל ַנְפ ִֽשׁי‬als Schreibfehler und verändern die Vokalisierung.55 Basson übersetzt beispielsweise »they are on the lookout for my life«.56 Einige Übersetzungen geben den Ausdruck allgemeiner und mit einem metaphorischen Verständnis wieder, z. B. als »Verlassenheit meiner Seele« oder »Vereinsamung«. Die Begriffe für Fasten im AT sind ‫ צום‬bzw. das Nomen ‫צוֹם‬. Ein weiterer Begriff ist ‫ ענה‬II »niedrig sein / sich demütigen«, der auch in der Redewendung ‫ ענה ֵאת ֶנֶפשׁ‬bzw. ‫» ענה ֶנֶפשׁ‬seine Nefesch demütigen« verschiedene Selbstminderungsriten einschließlich des Fastens abdeckt.57 Der Ausdruck in V. 13 »und mein Gebet kehrte zurück in meine Brust« kann laut Goldingay auf das immerwährende »auf die Brust Klopfen« als Gebetsgeste referieren (dazu führt er Nah 2,8 an). Die Formulierung kann aber auch einfach ausdrücken, dass das Gebet zuerst nicht erhört wurde.58 Anders interpretiert Oeming, er deutet die Wendung als Zurücknehmen der damals für die Feinde 52 In familiär strukturierten Beziehungen lässt man jedem Mitglied das zukommen, was er/sie gerade braucht bzw. der Situation angepasst ist. 53 Vgl. Gerald Janzen u. a.: When Prayer Takes Place. Forays into a Biblical World, Eugene 2012, 81. 54 Vgl. Kraus: Psalmen (s. Anm. 22), 277. 55 Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 22. 56 Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 32), 137. 57 Vgl. Corinna Körting: Art. Fasten / Fastentage (AT), 2012, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de /stichwort/18149/ [07. 09. 2020]. 58 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 495.

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ausgesprochenen Fürbitten.59 Grohmann versteht V. 13 im Kontext von V. 12. Das Gebet des Beters kehrt in seinen Schoß zurück und kann als fürbittendes Gebet der Hinterbliebenen gesehen werden.60 Der V. 14 spricht nicht von irgendeiner Trauer, sondern steigert das Bild innerhalb des Verses von Freund/Nächster hin zu Bruder und im letzten Schritt zur Mutter. Die Vergleiche kommen immer mehr in den familiären Intimbereich hinein und verdeutlichen so den Schmerz des Verlustes. Die meisten Übersetzungen verstehen die Wendung (‫ ) ַכֲּאֶבל־ֵאם‬als genetivus objectivus, also »trauernd um die Mutter«. Vom Hebräischen her ist aber gleichermaßen ein genetivus subjectivus möglich, also »wie eine Mutter trauert«. Grohmann61 weist darauf hin, dass schon Rashi diese beiden Möglichkeiten der Interpretation in Betracht zog. Der Beter kümmerte sich um die anderen nicht nur wie ein Freund oder Bruder, sondern wie eine Mutter um ihr krankes Kind. Hier wird ein früheres (freundschaftliches oder sogar familiäres) Nahverhältnis zu den Gegnern beschrieben. Dementsprechend wird der Verrat nun als gewaltsame Kinderlosigkeit der Seele wahrgenommen (‫ ) ְשׁכוֹל ְל ַנְפ ִשׁי‬und wie eine Mutterwehklage (‫ ) ַכֲּאֶבל־ֵאם‬betrauert.62 Verbindet man das Thema des Verlustes und der Trauer um ein Kind mit dem Hinweis, dass es sich um einen Psalm Davids handelt, kommen die Passagen 2 Sam 12,13–25 und 2 Sam 19,1–5 in den Sinn. Psalm 35 wird zwar an keiner bestimmten Stelle der Davidsgeschichte verortet und auch eindeutige Stichwortbezüge fehlen, doch ist eine gewisse thematische Passung nicht abzustreiten. Grohmann macht darauf aufmerksam, dass auch die Formulierung »mein einziges Gut« (‫ ) ְיִחי ָדִתי‬in V. 17 auf den Verlust eines Kindes hin gelesen werden kann.63 Verse 15–16 Der V. 15 bringt nun das Motiv der (Schaden-)Freude der Gegner. Basson64 und Grohmann65 sehen durch das Versammeln der Gegner in V. 15 bereits eine Vorbereitung auf die Löwenmetapher. Diese lässt an einen physischen Angriff der Gegner denken, der zweite Versteil konkretisiert dies aber auf einen verbalen Angriff hin. Goldingay versteht die Verse 11–16 als ausführliche Ausfaltung der

59 60 61 62 63 64

Vgl. Oeming: Das Buch der Psalmen (s. Anm. 28), 201. Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 24. Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 24. Vgl. Janzen u. a.: When Prayer Takes Place (s. Anm. 53), 77–90. Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 25. Vgl. Alec Basson: »Rescue me from the Young Lions«. An Animal Metaphor in Psalm 35:17, in: OTE 21 (2008), (9–17) 14. 65 Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 17.

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feindlichen Fallen von V. 7.66 Dabei setzt sie indirekt voraus, dass die physische Gewalt von V. 7 als Bild für die verbale Gewalt der Gegner fungiert. Diesen Gedanken möchte ich in der Gewaltanalyse noch weiter aufgreifen und entfalten. Verse 17–18 Nun wendet sich der Beter wieder direkt an Gott. Zuerst mit einem Hilfeschrei aus der Bedrohung durch die raubtierhaften Gegner, dann als Lob. Der Löwe ist eine häufige Feindmetapher in den Psalmen. Er hat fasziniert und verängstigt, seine Bedeutung zeigt sich auch in den vielen Lexemen, die diesen bezeichnen.67 Hier wird das Wort »Junglöwe« (‫ ) ְכִּפיר‬verwendet. Es bezeichnet den männlichen Junglöwen, im Unterschied zum »kleineren Löwenjungen« (‫)גּוּר‬. Mit etwa 3 Jahren, zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife, werden die männlichen Junglöwen aus dem Rudel ausgestoßen. Sie ziehen alleine umher oder schließen sich mit anderen Junglöwen zu kleinen Gruppen zusammen. Bis sie ein eigenes Rudel erobern, legen sie ohne Revier oft große Strecken zurück.68 Löwen lauern ihrer Beute auf und greifen dann aus dem Hinterhalt an.69 Auf die Schilderung der Sammlung der Feinde folgt die Löwenmetapher. Durch das Verb ‫ קרע‬und das Zusammenrotten (vgl. Jer 12,9) und das Knirschen der Zähne (vgl. Hiob 16,9) wird die Löwenmetapher vorbereitet. Auffällig ist, dass hier das versteckte Auflauern des Löwen nicht geschildert wird, sondern nur sein sichtbares Erbeuten. Das entspricht der Wahrnehmung der Feinde in der Schilderung zuvor, die nun auch nicht mehr im Verborgenen handeln (vgl. V. 7), sondern öffentlich gegen den Beter auftreten.70 Der Vers 18 schließt mit dem Lob den zweiten Redegang ab. Es fällt auf, dass das Lob in V. 9–10 stark die innere Perspektive des Beters zeigte. Im Unterschied dazu kommt nun die öffentliche Perspektive auf eine Gemeinschaft dazu. Verse 19–21 Der V. 19 bringt wieder das Motiv der Schadenfreude der Gegner, der der Beter entgehen will, und die Grundlosigkeit ihrer Gewalt (vgl. V. 7). Die Wortverbindung »Augenzwinkern« (‫ ) ִיְק ְרצוּ־ָע ִין‬ist im AT nur noch in Spr 6,13 und Spr 10,10 zu finden. Jedes Mal wird damit feindliches Verhalten beschrieben.71 Mit V. 20 66 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 495. 67 Vgl. Basson: »Rescue me from the Young Lions« (s. Anm. 64), 10. 68 Vgl. Peter Riede: Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn 2000, 184–185. 69 Vgl. Peter Riede: Art. Löwe, 2010, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/25081/ [15. 09. 2020]. 70 Vgl. Riede: Im Netz des Jägers (s. Anm. 69), 183–185. 71 Vgl. Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 19.

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wird die Sicht auf die Gegner erweitert. Sie haben es nicht nur auf den Beter abgesehen, sondern verhalten sich auch »den Ruhigen im Land« gegenüber feindlich. Das kurze Feindzitat in V. 21 bleibt im Bild der Zeugenschaft (vgl. V. 11). Als Augenzeugen behaupten diese, »etwas« gesehen zu haben. Worum es sich dabei handelt, bleibt offen. Goldingay gibt den Ausruf »Aha, aha« mit »Hurrah, hurrah« wieder, mit dem Hinweis, dass dieser Ausruf Freude ausdrücken soll.72 Möglicherweise wäre inhaltlich ein »Ha-ha« eine gute Zwischenlösung, denn dies hat den Aspekt der Schadenfreude wie auch die Nuance der Siegesgewissheit oder Überheblichkeit in sich. Verse 22–25 Die Verse 22–24 sind durch ihren Fokus auf Gott miteinander verknüpft. Die Dichte an Gottesbezeichnungen ist auffällig: In den 3 Versen findet sich zweimal JHWH, zweimal El und zweimal Adonai. Durch die Wortwahl in V. 22–23 erscheint Gott als der Augenzeuge des Beters (vs. V. 11, vs. V. 21), als Richter (‫ )ִמ ְשׁ ָפּט‬und als Krieger (‫)עור‬.73 Der V. 22 stellt Gottes Abwesenheit durch das Verb ‫ חרשׁ‬dar (»nicht kommunizieren«) und durch das Verb ‫»( רחק‬fern sein«). Die Formulierung »Erhebe dich und wach auf« in V. 23 lässt die Frage aufkommen, ob Gott schläft. »Primär verstehen aber diese Texte den Schlaf Gottes metaphorisch als Tatenlosigkeit (s. u.), die seine Fürsorge ausbleiben lässt und durch das menschliche Gebet beendet werden soll.«74 Jakobson zeigt, dass dieser Vers weniger als Weckruf vom Schlaf, sondern eher als Aufruf zum Eingreifen (vgl. V. 1–3) zu lesen ist. Die beiden Verben ‫ עור‬und ‫ ִריב‬sind zwar nicht sehr häufig im Psalter ( je neunmal), aber gehen immer mit einem ganz bestimmten Gottesbild einher: Gott als Krieger. Der Aufruf »Streite« steht am Beginn und am Ende des Psalms, sodass Jakobson dieses Motiv sogar als Grundmuster des Textes bezeichnet. Der Streit mit den Gegnern scheint physischer Natur zu sein (vgl. V. 1 und V. 7), doch stellt sich im Verlauf des Textes heraus, dass er im Grunde verbal ist (vgl. V. 11, V. 16). Die konkret genannte Kriegsausrüstung kann im Rückblick als Metapher gesehen werden, die Rettung geschieht bzw. soll durch das Nicht-Schweigen Gottes (V. 22) und den Rettungszuspruch (V. 3) geschehen.75

72 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 487–504. 73 Vgl. Kraus: Psalmen (s. Anm. 22), 279. 74 Jörg Lanckau: Art. Schlaf, 2010, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wib ilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/26737/ [15. 09. 2020], 3. 75 Vgl. Karl Jakobson: Perhaps YHWH Is Sleeping. »Awake« and »Contend« in the Book of Psalms, in: Nancy DeClaissé-Walford (Hg.): The Shape and Shaping of the Hebrew Psalter. The Current State of Scholarship, Atlanta 2014, (129–145) 138–140.

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Basson macht darauf aufmerksam, dass in den Versen 22 und 23 ein »obenunten-Schema« dem poetischen Ausdruck zugrunde liegt. Aktivität verbindet er mit »oben« (up), Inaktivität mit »unten« (down).76 Dabei ist meiner Ansicht nach nicht zu übersehen, dass der Aufruf des Beters ja darin besteht, dass Gott nicht inaktiv ist. Somit bedient sich der Beter zur Intensivierung seiner Bitte einmal der positiven (Steh auf!) und einmal der negativen (Sei nicht fern!) Formulierung. Der V. 24 bringt wiederum die Angst vor der Schadenfreude zum Ausdruck und leitet mit der »Nicht-Aussage« auch zum Feindzitat in V. 25 über. In der Rede der Feinde kommt nun (zum einzigen Mal) deren Nefesch vor. Vers 26 Dieser Vers ist eng mit V. 4 verknüpft und weist auch Stichwortverbindungen zu V. 13 und V. 20 auf. Das Thema der Schande wird nun nochmals und intensiver aufgegriffen. Die Intensität der Verben wird durch das Wort »allesamt« (‫) ַיְח ָדּו‬ nochmals gesteigert und unterstrichen.77 In den Psalmen wird oft das Ringen um die Wiedererlangung verletzter Integrität mit dem Schema »Beschämung – Wunsch nach Vergeltung – Vergeltungsverzicht zugunsten JHWHs« dargestellt. Die Feindklage schlägt hier aber in eine Feindschädigungsbitte um.78 Die Gegner sollen sich in ihrer Schande nun sogar kleiden, sie soll sichtbar sein wie Kleidung.79 Im Psalter sind Metaphern der Bekleidung mit Scham nicht selten (vgl. Ps 71,13; 109,29; 132,18). Obwohl Kleidung grundsätzlich den Menschen vor leiblicher Körperscham schützt, macht diese hier gerade die Ehrlosigkeit und den gebrochenen Status sichtbar.80 Verse 27–28 Auch der dritte Redegang wird durch ein Lob abgeschlossen. Waren zuvor die Gegner nicht leise (V. 15) und redeten gegen die Ruhigen im Land (V. 20), so werden nun die »Gerechten« aufgefordert, laut zu rufen und das Lob zu verkünden. Die Gegner machten sich in V. 26 zwar groß, aber im Lob wird klar, dass nur JHWH groß ist. Der Beter, genauer seine Zunge, murmelt das Lob alle Tage.

76 Vgl. Alec Basson: Divine Metaphors in Psalm 35 Explored from a Cognitive Anthropological Perspective, in: OTE 18 (2005), (9–21) 18. 77 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 501. 78 Vgl. Alexandra Grund-Wittenberg: Art. Scham / Schande (AT), 2015, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/26305/ [05. 09. 2020], 3.4. 79 Vgl. Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 32), 152. 80 Vgl. Grund-Wittenberg: Scham / Schande (AT) (s. Anm. 78), 3.4.

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Gewaltanalyse

Im Folgenden soll die textlich dargestellte Gewalt genauer analysiert werden. Nach Akteuren getrennt, wird nach der konkreten Ausübung der Gewalt gefragt (»W-Fragen«).

5.1

Die Gegner

Es fällt auf, dass keine Feindbezeichnung im Ps 35 zweimal vorkommt. »We find a high variety of terms for the enemies, each name occurring only once.«81 Die große Varianz wird durch die vielen Partizipien erreicht. Sieht man die Feindbezeichnungen durch, erscheinen die Gegner sowohl als »wortgewaltig« als auch als gewalttätig. In Ps 35 sind nur die Gegner des Beters durch aktive Gewaltausübung gekennzeichnet. Dabei erscheint ihre Gewalt zuerst als Hinterhalt (V. 7 Grube und Netz). Der Angriff der Feinde kommt nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern überrascht in Form einer gelegten Falle. Der Beter hofft, dass die Feinde Opfer ihrer eigenen Gewalttat werden (V. 8). Die Gegner agieren wie Jäger, die Fallen stellen, um Tiere zu erlegen (Bild physischer Gewalt). Der Text betont durch zweimalige Erwähnung (V. 7) die Grundlosigkeit der Gewalt. Für den Beter ist das Ziel der Gewalt nicht nachvollziehbar bzw. nicht legitim. Dieser Gedanke wird in V. 12 noch weitergeführt. In einer nächsten Phase treten die Gegner nicht nur von Angesicht zu Angesicht gegen den Beter auf, sondern sogar öffentlich als Zeugen gegen ihn (V. 11). Dabei werden sie eindeutig als gewalttätig charakterisiert. Ihre Aggressivität liegt in ihren Fragen, die der Beter nicht beantworten kann oder nicht kennt. Der Beter wird durch die Fragen öffentlich bloßgestellt und möglicherweise verleumdet. Es geht grundsätzlich um verbale Gewalt, doch im Kontext einer Zeugenaussage bzw. eines Gerichtsverfahrens kann diese schnell zu konkreten physischen Auswirkungen oder auch sozialer Ächtung führen. Die Verbindung der beiden Begriffe »Zeuge« (‫ )ֵעד‬und »Gewalt« (‫ )ָחָמס‬macht auf diese Tatsache aufmerksam. Zu Beginn wurde zweimal die Grundlosigkeit der Gewalt der Gegner betont, jetzt wird das Wort (‫ )ִח ָנּם‬zwar nicht verwendet, doch durch V. 12 wird klar gemacht, dass die Gegner keinen Anlass haben, dem Beter Schlechtes zu tun, ganz im Gegenteil. In einem weiteren Schritt tun sich die Gegner zusammen wie Schläger (V. 15) und erscheinen dem Beter wie junge Löwen, die sein einziges Gut rauben wollen (V. 17). Die Feindhandlung wird als eine Mischung von verbaler/gestischer Ge81 Grohmann: Jewish and Christian (s. Anm. 8), 17.

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walt und konkreter physischer Gewalt geschildert. Das Stürzen erfreut die Gegner und löst ihre Aktionen aus. Es wird doppelt erwähnt, dass sie sich versammeln und sich zusammentun. Dabei erscheinen sie dem Beter gegenüber wie unbekannte Schläger, die zerreißen und keine Ruhe geben. V. 16a ist schwer zu übersetzen und zu deuten, daher auch die Gewaltform nicht eindeutig zu bestimmen. In V. 16b ist wieder eindeutig von gestischer Gewalt – »Zähneknirschen« gegen den Beter – die Rede. Diese Geste soll seine soziale Schmähung ausdrücken. Grund und Ziel der Gewalt der Gegner werden hier nicht genannt. Es bleibt offen, welchen Vorteil diese vom Unglück des Beters haben. Am Beginn des dritten Redegangs werden die Gegner als »Feinde der Falschheit« benannt und mit dem Partizip »hassend« näher charakterisiert (V. 19). Im Unterschied zu den V. 15–16, in denen die Gewaltanwendung als spontane Reaktion auf das Stürzen des Beters geschildert wird, handelt es sich bei der folgenden Gewaltschilderung wieder um geplante Gewalt wie auch schon in V. 4 (ersinnen) und in V. 7 (Fallen stellen). Die Gewalt ist verbal (V. 20–21) und gestisch (»mit den Augen zwinkern«, V. 19). Betont werden die Falschheit der Gegner und ihre betrügerischen Worte, die nicht dem Frieden dienen, sondern sich gegen die Ruhigen im Land richten. Die Feinde reißen den Mund auf gegen den Beter – diese Formulierung spielt möglicherweise nochmals an die jungen Löwen von V. 17 an. Die direkte Rede lässt Fragen offen. »Unsere Augen haben es gesehen« evoziert die Frage »Was?«. Möglicherweise ist hier von einem Falschzeugnis die Rede (vgl. V. 19–20 und V. 11, Kontext Rechtsprechung). Wie schon in V. 7 wird auch in V. 19 wieder die Grundlosigkeit der Aggressivität der Gegner betont. Als Opfer der Gewalt treten nun neben dem Beter die »Ruhigen im Land« (V. 20) dazu.

5.2

Der Beter

Über die Gewalterfahrung des Beters erfahren wir wenig. Es wird weder sein körperlicher Schmerz (physische Gewalt) noch das Gefühl seiner Beschämung/ Verleumdung näher ausgefaltet. Einzig die Verse 12–14 geben uns ein beeindruckendes Zeugnis, wie hart sich der Beter durch die Aktionen der Gegner getroffen fühlt. Der erste Redegang ruft Gott auf gegen die zu kämpfen, die den Beter bekämpfen. Doch wie sich dieses Bekämpft-Werden auf den Beter auswirkt, erfahren wir vom Text nicht. Lediglich die Betonung der Grundlosigkeit lässt (indirekt) das Unverständnis und die Überraschung bezüglich der erfahrenen Gewalt durchscheinen.

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Dass die Gegner Gutes mit Bösem vergelten, wird vom Beter als »Kindsverlust meiner Nefesch« wahrgenommen. Das Verb ‫ שׁכל‬hat immer einen gewaltsamen Aspekt und meint den gewaltsamen Tod von geborenen wie auch ungeborenen Kindern. Grohmann analysiert die Metapher näher und hebt als generic space die »cruelty of both«82 hervor (input space 1: gewaltsamer Verlust von Kindern; input space 2: Taten der Feinde – Gutes mit Bösem vergelten). Die Trauer und das tiefe Gebeugtsein (V. 14) beziehen sich nicht auf die erfahrene Gewalt, sondern auf die solidarische Haltung der Kranken anderen gegenüber. Durch das intime Bild der »Muttertrauer« wird aber deutlich, wie er das unsolidarische, aggressive Verhalten als Kinderlosigkeit beschreiben kann. Er hat sich so sehr solidarisiert, dass das Abwenden der Gegner wie der gewaltsame Verlust von Kindern wahrgenommen wird. Die Metapher ist ein starkes Bild für Verlust. Übersetzungen von V. 12b mit »Einsamkeit« können diese Tragweite nicht widerspiegeln. Die Gewalt der Gegner trifft vor allem die Nefesch des Beters. Sie wird verfolgt, ihr wird eine Grube gegraben, sie wird ihrer Kinder beraubt, sie fastet und sie soll aus dem Verderben zurückgeholt werden. All diese Bilder zeigen, dass der Beter »am Boden« ist, durch Gewalt oder als Selbstminderungsritus. Die Nefesch ist aber auch der Ort, an dem Gottes Hilfe erwartet wird (V. 3), sie soll von Gott aus dem Verderben (V. 17) zurückgebracht werden und sie ist Ort der Freude über diese Hilfe (V. 9).

5.3

Gott – erhoffte Gewalt

Gottes gewaltiges, rettendes Eingreifen wird in Ps 35 im Modus der Hoffnung, also in Imperativen erzählt. Dass diese Aufforderungen einen positiven, hoffenden Tonus haben, lassen die Verse erahnen, die schon von Dank, Freude und Lob sprechen. Im Folgenden werde ich die Gewalt wie oben analysieren. Dabei ist aber ein wichtiger Unterschied im Auge zu behalten: Die Gewalt der Gegner wird vom Beter als geschehene oder von ihm erfahrene Gewalt beschrieben. Das gewaltsame Eingreifen Gottes ist noch nicht passiert; es handelt sich dabei um die Wünsche des Beters, wie Gott ihn aus seiner Lage retten möge. Es ist keine erzählte Gewalt, sondern erhoffte Gewalt. Der Psalmist kommt ohne Umschweife gleich mit dem ersten Wort zur Sache: »Streite«, JHWH. Gott soll für den Beter Gewalt ausüben und ihn gemäß der Angreifer verteidigen. Dazu soll sich Gott mit Kriegswaffen ausrüsten. Die vom Beter erhoffte bzw. formulierte Hilfe ist eine gewaltsame, kriegerische. Gott soll streiten, kämpfen (Krieg führen), Waffen ergreifen, aufstehen und der Seele des 82 Vgl. Marianne Grohmann: Metaphors of Miscarriage in the Psalms, in: VT 69 (2019), (219– 231) 222–225.

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Beters Rettung zusagen. Die Reihe an Imperativen wirkt wie ein »Stakkato-Effekt« gleich zu Beginn des Textes. Die Gewalt Gottes dient der Rettung (V. 3, V. 9) des Beters, es geht darum, ihm zu helfen (V. 2) und den Angreifern mit denselben Mitteln entgegenzutreten (bekriege die, die mich bekriegen). Der V. 4 beschreibt die vom Beter erhoffte Wirkung auf seine Gegner. Nach den ersten Versen würde man nur erwarten, dass diese niedergestoßen werden, im Staub liegen etc., stattdessen ist davon die Rede, dass sie sich schämen sollen. Hier wird deutlich – vor allem im Blick auf den ganzen Text: Der Beter wünscht sich nicht, dass seine Gegner getötet werden, sondern, dass Gott sie »mundtot« macht, ihnen den Status nimmt und so die Macht, weiter (verbale) Gewalt auszuüben. Eine (!) Hermeneutik83, den Text zu verstehen, besteht darin, ihn als Meisterwerk der konzeptionellen Metapher »Streit ist Krieg« zu sehen. Mit militärischer Sprache und Bildern aus der Jagd wird doch letztlich auf die verbale, gestische und soziale Gewalt der Gegner verwiesen (vgl. auch Gerichtskontext, Zeugenaussage, Betrug V. 11, V. 21–24). Der Beter wünscht sich, dass sich die Gegner schämen (3 verschiedene Verben) und umdrehen (V. 4), sie sollen in die eigene Grube fallen (V. 7), sich nicht freuen (V. 19 und V. 24) und nicht reden (V. 25). Am Ende werden Stichworte von V. 4 wieder aufgegriffen und die Hoffnung ausgedrückt, dass sich die Feinde in Schimpf und Schande kleiden müssen. »Kleidung bildet eine Art Nahtstelle zwischen dem Körper und seiner Umgebung und kommuniziert mit der Gesellschaft anhand kultureller Symbolsysteme. Kleidung bildet in gewisser Weise eine Erweiterung des Körpers, der Körperoberfläche und wird darin zur second skin.«84 Die Wünsche des Beters, die keine Imperative an Gott sind, sind weniger von physischer Gewalt geprägt als eher vom Wunsch, dass die Gegner soziale Ächtung erfahren und sich nicht über das Unglück des Beters freuen dürfen. Die Schadenfreude der Feinde wird viermal thematisiert; einmal wird beschrieben, dass sich die Feinde über das Unglück des Beters freuen (V. 15), und dreimal wird die Hoffnung des Beters ausgedrückt, dass sie sich nicht freuen mögen (V. 19, V. 24, V. 26). Die boshafte Freude der Feinde trifft den Beter offensichtlich stark.85 Ein weiteres Mal kommt

83 Textlich dargestellte Gewalt in der Bibel stellt uns vor viele Herausforderungen. Diesen ist am besten zu begegnen, indem man die Texte genau analysiert, die eigene Hermeneutik reflektiert und diese in der Fülle der Interpretationsweisen einordnet. Es gibt viele Hermeneutiken, wie durch die Hermeneutikbäume sichtbar gemacht wurde. Vgl. Lass: … zum Kampf mit Kraft umgürtet (s. Anm. 2), 81–120. 84 Vgl. Martina Weingärtner: Art. Kleidung / Verkleidung, 2018, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de /stichwort/15176/ [15. 09. 2020]. 85 Auch Dietrich führt Ps 35 als Beispiel für Schadenfreude in den Psalmen an. Er streicht heraus, dass das Verbot der Schadenfreude dem altorientalischen Verständnis von Gerechtigkeit entspricht. Vgl. Jan Dietrich: Schadenfreude und Rachegedanken in den Sprüchen und

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das Verb ‫ שׂמח‬in V. 27 vor; hier sollen sich die freuen, die Gefallen haben an der Gerechtigkeit des Beters. Weniger im Modus der Gewalt als eher im Modus der Hilfe oder des gerechten Gerichtsverfahrens sind die nächsten Imperative, die an Gott gerichtet sind, zu verstehen (V. 22–24). Gegen das Aufreißen des Mundes der Gegner soll Gott nicht schweigen. Er soll sich erheben (‫עור‬, nicht ‫ קום‬wie in V. 2) und aufwachen für das Recht und den Streit (vgl. V. 1) des Beters und ihn richten. Der Appell zielt darauf, dass Gott die Initiative ergreift und ein Urteil spricht. Dabei werden nicht wie in V. 1–3 kriegerische Bilder geweckt, sondern es entsteht der Eindruck, dass es sich um ein Gerichtsverfahren handelt. Gottes rettendes Eingreifen geschieht dadurch, dass er sich erhebt und nicht mehr schweigt. Es handelt sich um verbale, rettende Gewalt, wobei der Gewaltaspekt kaum mehr sichtbar ist. Gottes Eingreifen soll gemäß der Gerechtigkeit Gottes (nicht des Beters!) geschehen. Als Grund für das erhoffte Eingreifen gibt der Beter die Schadenfreude der Gegner an und führt diese noch weiter in V. 25–26 aus. Es scheint fast so, als ob das eigentliche Problem nicht das Unglück, das Stürzen (V. 15) ist, sondern die Freude der Gegner bzw. deren soziale Ächtung durch Worte und Gesten. Das trifft den Beter besonders hart.

5.4

Waffen

Gott erscheint bewaffnet wie ein Krieger (Schild und Speer) und auch die Gegner haben keine leeren Hände, sie sind mit Fallen bewaffnet, die jedoch versteckt sind. Vom Beter werden keine Mittel zur Verteidigung geschildert. Basson weist darauf hin, dass die Auswahl an Waffen, die Gott ergreifen soll, nicht zufällig ist. Seiner Ansicht nach wird in dem kraftvollen, bewaffneten Gottesbild schon vorweggenommen, was sich der Beter erhofft, nämlich einerseits die Verteidigung gegen die Feinde (Feindabwehr) und dann auch den Gegenangriff Gottes.86

6

Körperanalyse

In den 28 Versen werden 17-mal Körperbegriffe verwendet. Dabei handelt es sich um den Körper der Gegner, den des Beters und des Windes. Gott bleibt – betrachtet man nur die eindeutigen Begriffe – körperlos. Der Körper der Akteure wird aber auch über Verben angesprochen, so zum Beispiel »sprechen, sagen, Psalmen, in: Alexandra Grund u. a. (Hg.): Ich will dir danken unter den Völkern. Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur, Gütersloh 2013, (80–92) 86–89. 86 Basson: Divine Metaphors (s. Anm. 32), 157.

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Magdalena Lass

murmeln« (Mund), »sehen« (Augen) usw., aber auch »bekleiden« und »Sackgewand« rufen indirekt die Gestalt des Körpers auf. Durch die Analyse wird sichtbar, dass die Begriffe vor allem zur Beschreibung der Gewalterfahrung (Antun und Erleiden) verwendet werden.

6.1

Der Körper der Feinde

Der Körper der Feinde wird sechsmal erwähnt. Dabei ist er immer gegen den Beter gerichtet. Die Gewalt der Gegner geht vor allem von Augen und Mund aus. Sie zwinkern (V. 19) und behaupten mit ihren Augen gesehen zu haben (V. 21), sie knirschen mit den Zähnen (V. 16) und reißen den Mund gegen den Beter weit auf (V. 21). Zähneknirschen ist Zeichen von Ärger und Wut und kann auch Verachtung gegenüber schon besiegten Feinden ausdrücken (vgl. Klgl 2,16).87 Riede88 bemerkt, dass dieses Bild schon die Löwenmetapher vorbereitet. Das Bild des weit aufgerissenen Mundes wird in V. 25 weitergeführt, indem die Nefesch der Gegner den Beter verschlingen will. Die Erwähnung der Nefesch der Feinde drückt anders als beim Beter nicht die Bedrohtheit, sondern die Bedrohung aus und führt durch das Verb das Bild des gefährlichen Schlundes fort. Das Herz (‫)ֵלב‬ der Feinde erscheint als der Ort ihrer Gedanken (V. 25).

6.2

Der Körper des Beters

Der Körper des Beters fällt durch eine besonders häufige (7-mal) Erwähnung seiner Nefesch (‫ ) ֶנֶפשׁ‬auf. Der Begriff wird sechsmal (V. 3, V. 4, V. 7, V. 12, V. 13, V. 17) verwendet, um die Bedrohung und Verwundbarkeit auszudrücken (davon einmal im Zusammenhang mit Fasten). Im Kontext der Trauer bzw. Sorge um die anderen wird auch der Schoß als Ort des Gebetes erwähnt. Lediglich einmal geht es um die Freude der Nefesch (V. 9). Lob und Dankbarkeit wird vom Beter nicht nur mit der Nefesch ausgedrückt, sondern auch mit der Zunge (V. 28) und mit allen Knochen (V. 10). Eine Erwähnung wert sind auch die Körperteile, die der Beter zur Kommunikation verwendet bzw. die »sprechen« dürfen. Die Knochen des Beters »sagen« und die Zunge des Beters »murmelt«. Beide sind pars pro toto und werden im Kontext des Dankes verwendet, um Freude und Lob zu kommunizieren. In diesem Zusammenhang darf auch die Nefesch frohlocken. Diese 87 Vgl. Kathrin Müller: Art. Zahn (AT), 2013, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/14453/ [07. 09. 2020]. 88 Vgl. Riede: Im Netz des Jägers (s. Anm. 68), 183.

»Streit ist Krieg«. Überlegungen zu den Gewaltformen in Psalm 35

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erste Übersicht scheint nicht besonders auffällig, doch gibt es einige Körperbilder, die selten (Knochen V. 10) oder sogar einmalig (Kinderlosigkeit der Nefesch V. 12; Schoß als Ort des Gebetes V. 13) sind. Diesen möchte ich mich nun ausführlich widmen. 6.2.1 Knochen Neben dem V. 10 gibt es nur zwei weitere Bibelstellen, die »Knochen« mit der Emotion der Freude in Verbindung bringen (Ps 51,10 und Jes 66,14). Knochen begegnen biblisch um ein Vielfaches häufiger im Zusammenhang mit Furcht, Schmerz und Tod. Schroer/Staubli89 weisen auch darauf hin, dass die Knochen von Gen 2,21–25 her unverwechselbares Kennzeichen des Menschen sind und immer wieder zum Ausdruck enger Verwandtschaft oder Ähnlichkeit herangezogen werden. Wenn die Nefesch frohlockt und die Knochen die Unvergleichlichkeit Gottes aussprechen, dann kommt das Lob aus der eigenen Lebenskraft und der tiefsten Substanz. Bemerkenswert ist, dass die Knochen des Beters sogar in einer direkten Rede zu Wort kommen. 6.2.2 Kinderlosigkeit der Nefesch (V. 12) – Schoß (V. 13) – Muttertrauer (V. 14) Besonders behandeln möchte ich die im AT einmaligen und deshalb schwer zu deutenden Körperbilder in V. 12 und V. 13. Janzen bemüht sich um ein tieferes Verständnis der Wendung »Kindsverlust meiner Nefesch« in V. 12. Dazu fokussiert er nicht nur auf die besagte Wendung, sondern behält auch den näheren Kontext, konkret V. 14 (Muttertrauer) im Blick.90 Dieser Vorgehensweise möchte auch ich folgen, da es auffällig ist, dass in den Versen 12–14 Metaphern in Verbindung mit Mutterschaft vorkommen, die jeweils schwer zu übersetzen und zu verstehen sind. Sieht man die Stellen durch, in denen der Begriff ‫ ְשׁכוֹל‬in der Bibel verwendet wird, dann wird klar, dass es sich um den Verlust eines sehr »wesentlichen Gegenübers« (Mutter/Kind Jes 47,8–9 oder Zähne Hld 4,2) handelt, welcher auch Grund besonderer Aggressivität sein kann (Bärin ihrer Jungen beraubt 2 Sam 17,8; Spr 17,12; Hos 13,8). Das dazugehörige Verb bezeichnet Kinderlosigkeit, wobei es sich meist um den Verlust von schon geborenen Nachkommen handelt. Dieser Verlust geschieht nicht selten gewaltsam (Schwert Dtn 32,25; 1 Sam 15,33; Klgl 1,20; Pfeil Jer 50,9; wilde Tiere Ez 5,17). Goldingay91 weist darauf hin, dass der mitaufgerufene Kontext des Krieges wieder zurück auf die Verse 1–3 89 Vgl. Silvia Schroer/Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Gütersloh 2005, 167. 90 Vgl. Janzen u. a.: When Prayer Takes Place (s. Anm. 53), 77. 91 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 496.

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verweist. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich das Verb auch auf einen Mann beziehen kann (Jakob Gen 42,36; Gen 43,14). Der V. 13 beschreibt die Reaktion des Beters auf die Krankheit der anderen. Dabei solidarisiert er sich durch seinen körperlichen Ausdruck (Kleidung, Fasten, Gebet) mit dem körperlichen Leid der anderen und macht es so auch in der öffentlichen Sozialsphäre sichtbar. »… the psalmist suffered with them, and expressed that sympathetic identification both bodily (sackcloth and fasting) and in spirit (prayer)«.92 Das Gebet soll in den Schoß (‫ )ֵחיק‬des Beters zurückkehren. Diese Formulierung ist einmalig in der hebräischen Bibel. Arbeitet man sich durch die Belegstellen von Schoß (‫ )ֵחיק‬durch, wird sichtbar, dass es der Ort von Kindern und Säuglingen (z. B.: Num 11,12; Rut 4,16; 1 Kön 3,20; 17,19 → totes Kind) ist, von einem Lamm (2 Sam 12,3), aber auch der Ort der Gewandtasche (darin können die Lossteine, Bestechung aber auch Geschenke sein) und der untätigen Hände (Ps 74,11). Anatomisch wird der Schoß als Ort der Nieren (Hiob 19,27) angegeben und einmal sogar als Ort des Ärgers (Koh 7,9). Im Schoß wird auch die Schmach (Ps 89,51) verortet und man kann jemanden »in den Schoß vergelten« (Ps 79,12; Jer 32,18). Das Wort wird auch verwendet, um die Ehefrau bzw. Geschlechtspartnerin zu bezeichnen (Dtn 13,7). Es gibt keine Textstelle (neben Ps 35), an der der Schoß mit Gebet in Verbindung gebracht wird. Goldingay93 weist in diesem Zusammenhang auf die Gebetsgeste des sich auf die Brust-Schlagens hin, meint aber auch, dass die Formulierung auch ausdrücken kann, dass das Gebet nicht erhört wurde. Oeming94 und Hossfeld/Zenger95 deuten die Wendung als Zurücknehmen der Fürbitten. Janzen bringt den Ausdruck »Schoß« (‫ )ֵחיק‬mit den priesterlichen Gewändern in Verbindung. Zwölf Steine, die zwölf Söhne Israels symbolisierend, wurden an der priesterlichen Kleidung getragen, um das Volk vor Gott in Erinnerung zu rufen. Dieses kontinuierliche Erinnern verbindet er mit dem mitfühlenden Trost auf dem Schoß einer Mutter. Janzen verweist hier auf Ex 28,12.29. In diesem Zusammenhang kommt das Lexem Schoß (‫ )ֵחיק‬aber nicht vor. Als weiteren Schritt erhellt er den Ausdruck mit Ps 22,10–11. Dort wird im Bild der innigen Mutter-Kind-Beziehung gesprochen, doch auch hier werden andere Begriffe für Schoß/Mutterleib verwendet. Anhand dieser Verse arbeitet er heraus, dass die erste Trennung von der Mutter durch die Geburt und die weitere Trennung durch das Entwöhnen Krisen im Leben eines jeden Menschen darstellen, die zum Bild für schmerzhafte

92 93 94 95

Vgl. Janzen u. a.: When Prayer Takes Place (s. Anm. 53), 81. Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 495. Vgl. Oeming: Das Buch der Psalmen (s. Anm. 28), 201. Vgl. Hossfeld/Zenger: Die Psalmen (s. Anm. 37), 227.

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Erfahrungen werden können. Diese erste Trennung ist geprägt vom Gefühl der Trauer und kann als hermeneutische Matrix für Trennungserfahrungen gelten.96 In Bezug auf V. 14 weist Barré97 darauf hin, dass »gehen« in altorientalischen Sprachen oft im Zusammenhang mit Trauer spezifische Nuancen entfaltet. Dabei bringt er die Erkenntnis der Psychologie ein, dass ruheloses und zielloses Gehen ein Symptom von Trauer und Depression ist. Als biblisches Beispiel nennt er Ps 35,14. Auch hier meint das Verb »gehen« (‫ )הלך‬nicht die bloße Bewegung, sondern ist selbst Ausdruck der Trauer. Auf dieses Bedeutungsspektrum weist auch der Parallelismus mit »gebeugt sein« (‫ )שׁחח‬hin. Das Verb »verdunkeln« (‫ )קדר‬hat im Hebräischen wie im Akkadischen das ganze Bedeutungsspektrum von der Verdunklung des Himmels bis hin zum finsteren Gesicht als Zeichen der Trauer.98 Sieht man die biblischen Belege durch, fällt auch auf, dass die Verbindung mit »gehen« öfters vorkommt (vgl. z. B. Hiob 30,28; Ps 38,7). Die intensive Trauer einer Mutter um ihr Kind wird durch die Verben, durch die körperliche Haltung des Gebeugtseins und die Ruhelosigkeit des ziellosen Umhergehens verdeutlicht. Auffällig sind die vielen weiblichen (Körper-)Bilder in den Versen 12–14: Kinderlosigkeit der Nefesch, das Gebet kehrt in den Schoß zurück und die Trauer einer Mutter. Diese Anspielungen auf Mutterschaft vernetzen diese Verse und stellen so dar, wie eng er seinen jetzigen Gegnern verbunden war und wie schmerzhaft er das feindliche Verhalten nun empfindet. Alle drei Verse sind dazu da, V. 12a zu entfalten und die starken Gefühle des Beters auszudrücken. Der Verrat durch die Gegner (die einst Freunde waren) wird als Verlust von Kindern wahrgenommen, das Gebet kehrt in den eigenen Schoß zurück und die Trauerklage ist so tiefgreifend wie die Trauer einer Mutter um ihre Kinder. Dass diese Aussagen auch aus männlicher Sicht gemacht werden können, zeigt Janzen anhand von Jakob. In Gen 42,36 und Gen 43,14 wird das Verb »kinderlos machen« (‫ )שׁכל‬in Bezug auf Jakob angewendet.99 Danach geht das Bild in eine Feindbeschreibung über, die diese über ihr raubtierhaftes Verhalten charakterisiert ( junge Löwen).

96 97 98 99

Vgl. Janzen u. a.: When Prayer Takes Place (s. Anm. 53), 87. Vgl. Barré: A Problematic Line (s. Anm. 25), 195–197. Vgl. Barré: A Problematic Line (s. Anm. 25), 197. Vgl. Janzen u. a.: When Prayer Takes Place (s. Anm. 53), 88.

58 6.3

Magdalena Lass

Körper Gottes

Gottes Körper wird durch keine Körperbegriffe beschrieben. Der Körper ist nur über Verben der Bewegung bzw. über die Waffen, die er aufnehmen soll, beschrieben. Da das Eingreifen Gottes nicht geschildert, sondern durch die Imperative nur erhofft und erbeten wird, ist die Körperlosigkeit Gottes möglicherweise auch ein poetisches Stilmittel, um zu verdeutlichen, dass die Rettung durch ihn noch nicht greifbar ist. Die Körperlosigkeit Gottes korreliert damit, dass Gott noch nicht eingegriffen hat. Trotz der »Körperlosigkeit« ist Gott »bis auf die Zähne« bewaffnet. Wie Gott, so wird auch der Bote Gottes durch keine Körperbegriffe näher beschrieben.

6.4

Das Angesicht des Windes (‫)ְפנֵי־רוַּח‬

Diese Verbindung kommt in den Psalmen sonst nur noch an zwei weiteren Stellen vor, und zwar in Ps 18,43 und Ps 83,14. An allen drei Stellen geht es darum, dass die Gegner vom Wind verweht werden, wie Spreu (‫)מֹץ‬, Staub (‫ )ָעָפר‬oder Stoppeln (‫)ַקשׁ‬.

6.5

Die Funktion der Körperbilder

Die Körperbegriffe des Beters werden vor allem dafür verwendet, seine Bedrohtheit auszudrücken (7 von 10), nur drei werden zum Ausdruck von Lob und Freude verwendet (Nefesch, Knochen, Zunge). Die Körperbilder der Gegner haben die Funktion, ihre Gewalt und ihre Bedrohlichkeit für den Beter auszudrücken. Dies geschieht vor allem durch ihr Sehen und Reden (Mund und Augen + Verben). Gottes Körper ist durch Begriffe nicht präsent, sondern wird nur durch Verben der Bewegung und durch die Waffen mitgedacht. Die Rettung durch Gott ist im Modus der Hoffnung beschrieben, Gott somit noch nicht konkret »greifbar«. Die Körperanalyse macht somit deutlich, wie stark die Gewalt sowohl im Antun wie auch im Erleiden durch Körperbegriffe beschrieben wird. Das ist besonders im Hinblick auf die verbale Gewalt bemerkenswert. Auch verbale Gewalt wird körperlich ausgeübt und erlitten.

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Reden – Schweigen

Da der Text verbale Gewalt thematisiert, möchte ich nun noch auf die Kommunikation in Psalm 35 fokussieren. Beobachtet man den Text in Bezug auf »reden und schweigen«, werden manche Aspekte der Gewalt noch klarer sichtbar. Die Stimme des Beters führt durch den Text. Seine Zunge soll murmeln (V. 28) und seine Knochen kommen sogar direkt zu Wort (V. 10). Beide Körperbegriffe werden verwendet, um Lob und Dank für Gott auszudrücken. Den Gegnern des Beters wird gleich zweimal durch Feindzitate eine Stimme gegeben (V. 21, V. 25). Neuber100 charakterisiert die Feindreden in den Psalmen als kurz, dabei sind sie oft der Abschluss der Feindklage und der Wendepunkt des Psalms. In den Reden erscheint die Anfechtung des Beters in verdichteter Form. Sehr oft wird die Aussage der Gegner im Psalm widerlegt, wobei das Vokabular für gegenläufige Zwecke verwendet wird. Neuber betont, dass die Zitate nicht als reale Aussagen zu verstehen sind, sondern als typische Aussagen, die die Haltung der Feinde verdeutlichen. Auch die Feindreden in Psalm 35 (V. 21 und V. 25) sind kurz und geben als allgemeine Statements die aggressive Haltung der Gegner wieder. Der V. 21 kann als Abschluss der Feindklage gesehen werden, der V. 25 verwendet die direkte Rede aber nicht als Abschluss, sondern eher als neuerlichen Beginn nach der Rettungsaufforderung an Gott. Das Verb »sehen« wird in der Feindrede (V. 21) verwendet und in der darauffolgenden Rettungshoffnung (V. 22) wieder aufgegriffen. Das Reden und »Maul aufreißen« von V. 21 wird zwar nicht durch Verwendung gleicher Begriffe gespiegelt, doch die Aufforderung an Gott, nicht zu schweigen (V. 22), arbeitet mit demselben Bildmaterial. Auffällig sind die vielen Körperbegriffe, die in den sehr knappen Reden verwendet werden (V. 21: Mund, Augen; V. 25: Herz, Nefesch). In den anderen beiden Reden legt der Beter einmal Gott (V. 3) und einmal denen, die Gefallen haben an seiner Gerechtigkeit (V. 27), Aussagen in den Mund. Nicht nur durch die beiden Zitate, sondern auch durch die verwendeten Verben wird deutlich, dass die Gegner eine starke Stimme haben. Als Zeugen stehen sie auf und fragen (V. 11), sie sind nicht leise (V. 15), reden und ersinnen gegen die Ruhigen (V. 20) und sagen (V. 21). Zudem kommunizieren sie noch durch Gesten wie Zähneknirschen, Augenzwinkern und sie reißen den Mund weit auf. Gottes Stimme kommt im »Modus der Hoffnung« vor. Der Beter wünscht sich, dass Gott zu seiner Nefesch spricht und ihm Hilfe zusagt (V. 3), und weiters 100 Vgl. Carolin Neuber: Ins Gespräch gebracht. Referierte Rede der Gegenspieler im Kommunikationsraum der Teilsammlung Ps 3–14, in: Kathrin Liess/Johannes Schnocks (Hg.): Gegner im Gebet. Studien zu Feindschaft und Entfeindung im Buch der Psalmen (HBS 91), Freiburg i.Br. 2018, (213–233) 215.

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fordert er ihn in V. 22 auf, sein Schweigen zu brechen. Gottes Antwort auf die Bitten bleibt bis zum Ende des Textes aus. Auch der »Bote Gottes« (V. 4–5) sowie die »Ruhigen im Land« (V. 20) haben keine Stimme. Am Ende des Textes wird noch eine weitere Gruppe eingeführt. Der Beter dürfte nicht nur Gegner haben, sondern auch Freunde. Die, die Gefallen haben an seiner Gerechtigkeit, sollen dafür Gott preisen (laut rufen und sagen, direkte Rede). So wird der Text von zwei erhofften Zitaten gerahmt: ein erhofftes Gotteszitat am Beginn V. 3 und ein erhofftes Freundzitat am Ende V. 27.

8

Hermeneutische Schlussgedanken

Der Durchgang durch den Text mit dem Fokus auf Gewalt und Körper hat gezeigt, dass eine genaue Gewaltwahrnehmung hilfreich ist, um textlich dargestellte Gewalt zu verstehen und in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen. Die Gegenwart des Textes ist Zeit des Protestes, um Gott zum Handeln zu bewegen, aber die Zeit des dankenden Lobpreises wird kommen. Die Tatsache, dass der Beter in einer ernsthaften Bedrohungssituation steckt, ist genauso präsent im Text wie die Tatsache, dass JHWH ein starker Gott ist, der daraus retten kann und wird.101 Es wurde gezeigt, dass der Text wie die konzeptuelle Metapher »Streit ist Krieg« gelesen werden kann. Die kriegerischen Formulierungen sind starke Formen des Wunsches, dass Gott nicht schweigen und die (verbale/soziale) Gewalt, die den Beter trifft, beenden möge. Es scheint, als ob nicht sein Sturz an sich das Problem ist; der Beter leidet viel stärker unter der Schadenfreude seiner Gegner und wünscht diesen, um selbst das Gesicht wahren zu können, nun Schande. Der Beter beschwört Gott als Krieger herauf, doch was er bewirken soll, erscheint weniger kriegerisch, sondern auf Gott als Richter abzielend. Die Feinde sollen sich schämen (V. 4 und V. 26) und Gott soll vor deren Schadenfreude (V. 15, V. 19, V. 24, V. 26) bewahren. Der Aufruf des Beters an den Kriegsgott zielt nicht auf militärische Kämpfe, sondern darauf, die Zeugnisse der Gegner auszuhebeln (V. 11), ihre Finten sichtbar zu machen (V. 7) und ihre Strategie ins Leere laufen zu lassen (V. 20). Gott soll sich als gerechter Richter erweisen. Der ganze Text kann im Licht von »argument is war« gesehen werden. Die Metaphern um Krieg und Gewalt haben in dieser Hermeneutik die Funktion, die Intensität der verbalen und sozialen Gewalt darzustellen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass durch den Kontext des Gerichtsverfahrens die verbale Gewalt (falsche Zeugenaussage) zu konkreten physischen Auswirkungen führen kann. 101 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 504.

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Einen gefährlichen Schwachpunkt hat diese Auslegungsweise jedoch. Sie kann leicht dazu verwendet werden, die gewaltigen Bilder zu verharmlosen, der Gewalt den Stachel der Irritation zu ziehen und die tatsächliche Gewalterfahrung zu verharmlosen. Hinter jeder Gewaltmetapher steht in irgendeiner Weise eine reale Gewalterfahrung. Die Beschreibung von V. 12–14 zeigt sehr deutlich, dass, selbst wenn der Beter nicht von physischer Gewalt durch die Gegner bedroht ist, er zutiefst in der Nefesch getroffen ist, sich der eigenen Kinder beraubt fühlt. Die Erfahrung der Gewalt ist einschneidend, auch wenn die textlich dargestellte Gewalt als verbale Gewalt charakterisiert wird. Eine ganz andere Leseweise des Textes zeigt Adamo in der afrikanischen Yoruba-Tradition auf. Die meisten Exeget/innen und Christ/innen dieser Tradition sehen Ps 35 als Psalm des Schutzes, der Befreiung und des Siegs über Feinde. Manche sehen ihn als heilenden Text (Verwendung zu therapeutischen Zwecken) und als Psalm des Erfolgs. Auch Goldingay weist darauf hin, dass Ps 35 regelmäßig in Heilungsriten in Kenia verwendet wird.102 In der Yoruba-Tradition wird jedes Unglück auf Aktivitäten von Feinden oder bösen Mächten zurückgeführt. Um sich davor zu schützen, sind »potent words«, sogenannte »Ofo« wichtig.103 Die Bibel gilt als machtvolles Wort (potent word), da es sich um Gottes Wort104 handelt. Im Buch der Psalmen fanden sich für die Yoruba-Tradition viele Texte, davon viele sogenannte »Rachepsalmen«, die sich für Schutzzwecke in der Tradition von »Ofo« eigneten. Psalm 35 ist ein besonders beliebter und viel verwendeter Text. »[…] Psalm 35 became a talisman, and a psalm of protection, healing and success in Yoruba Christianity.«105 Worte sind in der afrikanischen Tradition nicht »leere Worte«, sondern sie sind wirksam, sie haben einen performativen Charakter. Psalm 35 gilt sogar als »irrevocable«. »Some verses of Psalm 35 are written on the doorpost to protect the house; on motor vehicles to prevent enemies from causing accident; and on parchment to ward off evil spirits. Some will also be read into water for healing.«106 Verse wurden zum Schutz sogar auf die Kleidung und den Körper geschrieben. Diese Lesart unterscheidet sich zutiefst von der hier vorgestellten, und gerade deshalb habe ich sie für die Schlussbemerkungen ausgewählt. Die Hermeneutik der Yoruba-Tradition bietet einen starken Kontrapunkt zu der vorgestellten Leseweise. Bei der Arbeit mit sprachlich dargestellter Gewalt in der Bibel ist es meines Erachtens von großer Wichtigkeit, verschiedene Lesarten zu kennen, 102 Vgl. Goldingay: Psalms (s. Anm. 30), 503. 103 Vgl. Adamo: Reading Psalm 35 (s. Anm. 14), 943. 104 Die Vorstellung, dass Gottes Wort ganz konkret wirksam ist, beruht auch auf Bibelstellen wie Gen 1; Ps 33,6 oder Hebr 4,12. 105 Adamo: Reading Psalm 35 (s. Anm. 14), 949. 106 Adamo: Reading Psalm 35 (s. Anm. 14), 950.

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wahrzunehmen und die eigene Hermeneutik als einen Ast eines großen Baumes zu sehen. Verschiedene Hermeneutiken ergänzen und korrigieren einander und machen die Stärken und Schwächen jeweils erst sichtbar.

Hans Förster

Zum Einfluss der Übersetzungen auf die Wahrnehmung der Dynamik von Auseinandersetzungen im Neuen Testament

Abstract Within established translations of the Gospels, Jesus’ interactions with representatives of the Jews are often perceived as hostile. Translational choices influence such perceptions and have seldom been questioned. In this paper, selected passages are used to point to semantically possible, alternative translations that would transform such seemingly hostile interactions into competitive dialogues of a form also observable in Talmudic literature. These alternatives have important implications for how discourse strategies should be understood in the New Testament.

1

Einleitung

Bei der Lektüre der Evangelien entsteht der Eindruck, als ob die verschiedenen Vertreter der jüdischen Autoritäten Jesus aus niedrigen Beweggründen Fragen stellen. Ihre Fragen werden als »Hinterlist« charakterisiert (Lk 20,23; Einheitsübersetzung 2016); sie wollen, so liest man, »ihn mit einer Frage in eine Falle […] locken« (Mk 12,13; Einheitsübersetzung 2016). Was hier in der narrativen Welt der Evangelien negativ qualifiziert wird, hat dazu beigetragen, ein entsprechendes Bild von »den« Juden zu zeichnen. In diesem Kontext wird bis heute in der exegetischen Diskussion ein Problem vernachlässigt, das wohl in entscheidender Weise zu diesem Eindruck beigetragen hat: die Wahl der lexikalischen Äquivalente, die für gewisse Wörter vorgeschlagen werden und die dazu führen dürften, dass die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des Judentums und Jesus möglicherweise in einer leicht verzerrten Form wahrgenommen wird. Hierfür ist einleitend zuerst grundsätzlich auf das Problem der Interdependenz zwischen Textverständnis bzw. inhaltlichem Vorverständnis und translatorischen Prozessen einzugehen, bevor der Vorschlag gemacht werden kann, dass die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Vertretern jüdischer Autoritäten gängigen Mustern einer jüdischen Streitkultur, die ihren Niederschlag im Talmud gefunden hat, folgen dürfte. Auch scheint man angesichts der erzählten

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Hans Förster

Welt, in der Jesus und die Vertreter des Judentums einander begegnen, grundsätzlich von einem jüdischen Milieu ausgehen zu dürfen. Eine jüdische Forscherin bezeichnete diese frühe Zeit des Christentums kürzlich in einem programmatischen Buchtitel folgendermaßen: »When Christians Were Jews«.1 Folglich wird man die Interaktionen zwischen Jesus und den Vertretern jüdischer Autoritäten als einen innerjüdischen Diskurs ansehen dürfen. Übersetzungen entscheiden darüber, wie die im Ausgangstext berichteten Vorgänge oder Sachverhalte wahrgenommen werden. Gleichzeitig sind jedoch Übersetzungen nie in der Lage, einen Ausgangstext ohne Verluste bzw. Veränderungen in eine andere Sprache zu übertragen. Vielmehr sind Übersetzungen immer Texte eigenen Rechts. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für Werke, die in heute »toten« Sprachen verfasst wurden. Die Unterschiede zwischen der erzählten Welt, in welcher die Geschichten spielen, und der erlebten Welt der modernen Leserschaft machen es in besonderer Weise notwendig, bei Übersetzungen Entscheidungen zu treffen, damit die Texte überhaupt verstanden werden. Ferner ist auf die zeitliche Distanz zwischen dem Entstehungskontext der übersetzten Erzählungen und dem Wirkungszeitraum der Übersetzer*innen hinzuweisen. Die Sprache, aus der übersetzt wird, ist eine fremde, »tote« Sprache, die erst erlernt und »zum Leben« erweckt werden muss; hierfür stützt man sich auf die gängigen Hilfsmittel. Ein unmittelbarer Zugang zur Sprachwelt der Entstehungszeit ist nicht möglich. Auch wenn der Eindruck besteht, dass es sich bei den Verfassern der erzählenden Texte des Neuen Testaments um »volkstümliche Erzähler« gehandelt habe,2 so darf doch einleitend festgehalten werden, dass diese »volkstümlichen Erzähler« ihre eigene Sprache, die in der Theologie meist einfach als volkstümliche Koine gesehen wird, doch so gut beherrschten, dass man die Feinheiten ihrer Nuancen nicht unterschätzen sollte. So könnte die Edition des griechischen Textes des Neuen Testaments davon profitieren, dass von theologischer Seite griechischer Syntax mehr Gewicht beigemessen wird.3 Gleiches gilt auch für semantische Vorentscheidungen, die den neutestamentlichen Wörterbüchern zugrunde liegen.4 1 Paula Fredriksen: When Christians Were Jews. The First Generation, New Haven 2018. 2 Vgl. Friedrich Blass/Albert Debrunner: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearbeitet von F. Rehkopf, Göttingen 182001, § 470.1. 3 Zu 1 Kor 7,17 bemerkt Charles K. Barrett: A Commentary on the First Epistle to the Corinthians (BNTC), London 1968, 168: »The construction of the verse is difficult, though its general drift is sufficiently clear.« Die Edition ist jedoch schlicht fehlerhaft interpungiert; vgl. Hans Förster: Bleibt alle vor Gott, worin Ihr berufen seid? Philologische Überlegungen zu 1 Kor 7,24 im Kontext, in: SNTU.A 44/45 (2019/2020), 33–56. 4 Vgl. John A. L. Lee: The Present State of Lexicography of Ancient Greek, in: Bernard A. Taylor u. a. (Hg.): Biblical Greek Language and Lexicography. Essays in Honor of Frederick W. Danker, Grand Rapids 2004, (66–74) 66, der bezüglich der neutestamentlichen Wörterbücher

Zum Einfluss der Übersetzungen

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Gerade bei Bibelübersetzungen wird im Zusammenhang des translationswissenschaftlichen Diskurses oftmals ein Gegensatz zwischen formal äquivalenten, »textnahen«, »wörtlichen« und damit »getreuen« Übersetzungen auf der einen Seite und »freien«, »textfernen« und »interpretierenden« Übersetzungen auf der anderen Seite konstruiert, also solchen, die zielsprachlich orientiert als »dynamisch äquivalente« bzw. »funktional äquivalente« Übersetzungen5 den »Sinn« des Ausgangstextes herausarbeiten. Zielsprachlich orientierte Übersetzungen fokussieren auf den erfassten Sinn, der in der Zielsprache deutlich zu machen ist. In diesem Kontext gilt gerade auch Martin Luther und seine berühmte Formulierung im Sendbrief vom Dolmetschen, man müsse dem Volk »auf das Maul sehen«,6 als eine Grundmaxime zielsprachlich orientierter Übersetzungsarbeit an der Heiligen Schrift. Im Gegenzug gelten konkordante, formal äquivalente Übersetzungen häufig als »zuverlässig« und »weniger interpretierend«. In diesem Zusammenhang wird nicht ausreichend thematisiert, dass – trotz aller Bemühungen, einen Text »getreu« zu übersetzen – Übersetzer*innen den Sinn des Textes erfassen müssen und damit immer auch ihr eigenes Vorverständnis in den zu übersetzenden Text hineintragen bzw. ihr Textverständnis in der Übersetzung transportieren. Dass der Sinn des übersetzten Textes vom Sinn des Ausgangstextes abweicht, kann sowohl bei einer formal äquivalenten wie auch bei einer zielsprachlich orientierten Übersetzung geschehen. Besonders tückisch ist jedoch, dass formal äquivalente Übersetzungen gerade auch bei einer strukturellen Äquivalenz durchaus eine hohe sachliche Distanz zwischen Ausgangstext und Zielsprache produzieren können. Die formale Treue kann also sachlichen Verrat verschleiern. Derartige Phänomene lassen sich auch für das Neue Testament belegen. Dabei ist hervorzuheben, dass es sich beim Neuen Testament um eine Textsammlung handelt, deren einzelne Werke einer völlig anderen Kultur (entweder Judentum des zweiten Tempels oder hellenistische Welt) und Zeit (erstes nachchristliches Jahrhundert) als unserer heutigen Welt und Zeit zuzuordnen sind. Zeit und Umwelt des Neuen Testaments sind selbstverständlich auch grundverschieden von der Zeit, in der Martin Luther die Bibel ins Deutsche übertrug.

bemerkt: »Yet this trust is misplaced. The concise, seemingly authoritative statement of meaning can, and often does, conceal many sins – indecision, compromise, imperfect knowledge, guesswork, and, above all, dependence on predecessors.« 5 Für die Terminologie der »dynamisch-äquivalenten« Übersetzung vgl. Eugene A. Nida/Charles R. Taber: The Theory and Practice of Translation (HeTr 8), Leiden 1969 (ND der Ausg. 1974); später wurde die Bezeichnung »functional equivalence« verwendet; vgl. Eugene A. Nida/Jan de Waard: From One Language to Another. Functional Equivalence in Bible Translating, Nashville 1986. 6 Vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 30/2, hg. v. Ulrich Köpf, Weimar 1909 (ND der Ausg. 2005), 637.

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Vielleicht noch entscheidender ist jedoch, dass der Entstehungskontext der normativen Schriften des Christentums nicht nur in großer zeitlicher und räumlicher Distanz zur Gegenwart zu verorten ist, sondern dass diese Texte gleichzeitig Auswirkungen auf das Hier und Jetzt haben, indem sie in entscheidender Weise zur christlichen Identitätskonstruktion beitragen. In konfessioneller Differenz besteht eine Interdependenz zwischen einem christlichen Selbstverständnis und einer (konfessionell durchaus unterschiedlichen) Rezeption des Neuen Testaments. Für alle Konfessionen handelt es sich beim Neuen Testament um das zentrale christliche Textkorpus, die norma normans non normata. Eine christliche Identitätskonstruktion hat selbstverständlich auch Implikationen für die entsprechenden translatorischen Entscheidungen. So kann beispielsweise für das Neue Testament eine Interdependenz zwischen der Etablierung von Frauenrechten in der Gesellschaft und der Wahrnehmung von Frauengestalten im Neuen Testament aufgewiesen werden. Während es für das Wörterbuch von Bauer/Aland in der 6. völlig überarbeiteten Auflage von 1988 noch undenkbar war, dass der in Röm 16,7 erwähnte »Apostel Junias« eine Frau sein könnte7 – sowohl die Lutherbibel 1984 wie auch die Einheitsübersetzung 1980 bieten »Junias« –, wählen beide Revisionen (Lutherbibel 2017, Einheitsübersetzung 2016) den Frauennamen »Junia« und votieren damit sachlich richtig für die Erwähnung einer »Apostelin« im Römerbrief. Der geänderte gesellschaftliche Kontext – auch Pfarrerinnen waren zur Zeit der Revision von 1984 in den evangelischen Kirchen noch selten – und die sich damit ändernde christliche Identität erleichtern eine sachlich zutreffende Übersetzung in Röm 16,7. Während nun die verschiedenen christlichen Traditionen hinsichtlich der Stellung der Frau bei Berufung auf einen gemeinsamen Text zu durchaus unterschiedlichen Konsequenzen für die konkrete Praxis kommen – im Gegensatz zu den Kirchen der Reformation kennt man beispielsweise in der katholischen Kirche bis heute keine Amtsträgerinnen –, kann mit Verweis auf die Geschichte Europas eine Tendenz zu einem sich konfessionsübergreifend über die Jahrhunderte immer wieder äußernden christlichen Antijudaismus konstatiert werden. Susannah Heschel konnte beispielsweise aufzeigen, dass ein christlicher Antijudaismus von Gegnern und Sympathisanten des Dritten Reichs geteilt werden konnte.8 Dies hat natürlich auch Implikationen für die neutestamentliche Philologie. 7 Vgl. Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. Kurt Aland u. Barbara Aland, Berlin 61988, s.v. Ἰουνιᾶς. 8 Vgl. Susannah Heschel: When Jesus Was an Aryan. The Protestant Church and Antisemitic Propaganda, in: Robert P. Ericksen/Susannah Heschel (Hg.): Betrayal. German Churches and the Holocaust, Minneapolis 1999, (68–89) 85: »Most striking in the Confessing Church opposition to German Christian measures is the negative attitude toward Judaism shared by both sides. For example, in a pamphlet issued by the Confessing Church in 1939 to repudiate the

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Eine konkrete Person muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden: Gerhard Kittel war seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP und beteiligte sich durchaus aktiv am politischen Leben dieser Zeit.9 Er bemühte sich nach dem Ende des Dritten Reichs mittels einer schriftlichen »Verteidigung«, in welcher er die Aussagen über sich selbst in der dritten Person formulierte, um die Entnazifizierung. Man wird nicht umhinkommen, die Selbstbeschreibung dieses für die neutestamentliche Philologie höchst einflussreichen Theologen als eine präjudizierende Vorentscheidung hinsichtlich eines konkreten hermeneutischen Vorverständnisses anzusehen, unter dem die neutestamentlichen Schriften von diesem Theologen rezipiert wurden: Kittel ist Vertreter eines christlichen Antijudaismus. Die daran entstehende sehr grundsätzliche Frage lautet: ob es in der christlichen Kulturwelt als Verbrechen gilt und mit Gewaltmaßnahmen verhindert werden muss, eine an die Weisungen Jesu Christi und seiner Apostel anknüpfende und von dort her normierte Stellung zur Judenfrage zu vertreten?10

Diese »normierende« Funktion der Schrift bezüglich der Judenfrage impliziert natürlich eine klare Aussage bezüglich der von Gerhard Kittel wahrgenommenen Streitkultur zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums: Es ist aus der Sicht Kittels eine als eindeutig feindlich zu bezeichnende Begegnung. Konsequent hat Gerhard Kittel mehrfach »das Neue Testament das antijüdischeste Buch der Welt […] und das Urchristentum die antijüdischeste Bewegung der Welt«11 genannt. Kittels Sicht des Urchristentums und sein Textverständnis bedingen sich wechselseitig. Im Sinne eines hermeneutischen Zirkels kann und muss sich eine derartige Sicht der historischen Situation auf die Übersetzungspraxis bzw. semantische Einzelentscheidungen auswirken und so auch Rückwirkungen auf die Einträge in dem von ihm herausgegebenen Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament haben. Man wird grundsätzlich Umberto Eco zustimmen können, wenn er auf die Notwendigkeit hinweist, gewisse grundsätzliche Vorannahmen über den »Sinn« eines zu übersetzenden Textes zu treffen: Institute, von Soden distinguished between the historical phenomenon of Judaism, which formed the basis of early Christianity, and a spiritual ›Jewishness,‹ which fails to understand religion because it ›confuses outward and inward.‹« 9 Vgl. Karl Schwarz: Rez. zu M. Gailus/C. Vollnhals (Hg.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel (Berichte und Studien 79), Göttingen 2020, in: Dialog-Du Siach 121 (Oktober 2020), (20–24) 24: »Er beschert eine anspruchsvolle Lektüre und illustriert die Verlockungen des Zeitgeistes, denen ein geachteter Wissenschaftler vom Rang Kittels ausgesetzt war und – so das Resultat dieser Untersuchung – erlegen ist.« 10 Zitiert nach der Edition der Verteidigungsschrift von Gerhard Kittel: Matthias Morgenstern/ Alon Segev: Gerhard Kittels Verteidigung/Gerhard Kittel’s Defense, Wiesbaden 2019, 150. 11 Gerhard Kittel: Die Entstehung des Judentums, in: WG 9 (1943), (68–82) 79.

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In order to translate one must make a series of hypotheses about the deep sense and the purposes of a text, then translation is certainly a form of interpretation – at least insofar as it depends on a series of previous interpretations.12

Für das Neue Testament lässt sich zeigen, dass sich die in den Aussagen Kittels zwar pointiert zugespitzten, jedoch über Jahrhunderte hinweg grundsätzlich vorhandenen christlichen Vorannahmen über das Verhältnis von Christentum und Judentum in der – teilweise durchaus interpretierenden – Übersetzung von Passagen niedergeschlagen haben, in denen von einer Auseinandersetzung zwischen Jesus und Vertretern des Judentums berichtet wird. Dies lässt sich beispielsweise sehr deutlich am vermeintlichen Tötungsvorsatz in Mt 12,14 (u. par.) ablesen. Die Einheitsübersetzung 2016 bietet hier: »Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen.«13 Kürzlich wies Michael Theobald unter Berücksichtigung einschlägiger neutestamentlicher Wörterbücher auf die philologisch scheinbar eindeutige Situation hin. Das verwendete Wort sei stark negativ konnotiert, man könne nicht anders, als so zu übersetzen. Schließlich sei der Sinn der Stelle offenkundig: Die »Pharisäer […] fassten den Beschluss, wie sie ihn zugrunde richten könnten.«14 Angesichts der Tatsache, dass bedeutende vorlutherische deutsche Bibelübersetzungen hier keinesfalls durch die Wortwahl eine Tötungsabsicht oder vergleichbar niedrige Motive insinuieren,15 sondern vielmehr ein Verb mit der Bedeutung »loswerden« bzw. »verlieren« als lexikalisches Äquivalent von ἀπόλλυμι an dieser Stelle verwenden, wird man Theobald nicht zustimmen können, der die sachlich notwendige semantische Korrektur als »gutmeinend« und »verharmlosend« kritisiert.16 Das hier begegnende Verb wird ja auch für den Verlust des Schafes in der Parabel vom verlorenen Schaf (Lk 15,1–7) verwendet. Ein breites Bedeutungsspektrum zu postulieren, das im Falle des Schafs einen einfachen »Verlust« und im Falle der Pharisäer einen unzweifelhaften Tötungsvorsatz einschließt, ist genau das, was als Vorverständnis angesehen werden muss. Angesichts der Wirkung des christlichen Konzepts eines jüdischen »Christusmordes« muss unverständlich bleiben, warum Theobald die sachlichen Argumente als »gutmeinend« und »verharmlosend« bezeichnet. Dass traditionell seit Martin Luther an dieser Stelle mit »umbringen« übertragen wird, während vorlutherische deutsche Übersetzungen noch das Verb »verliesen« als lexikalisches Äquivalent sowohl für das verlorene Schaf wie für den Umgang der jüdischen Autoritäten 12 Umberto Eco: Mouse or Rat? Translation as Negotiation, London 2003, 123. 13 Mt 12,14: ἐξελθόντες δὲ οἱ Φαρισαῖοι συμβούλιον ἔλαβον κατ᾿ αὐτοῦ ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν. Am Rande sei bemerkt, dass keine Handschrift hier den Personennamen »Jesus« bietet. 14 Michael Theobald: Dürfen wir Paulus glätten?, in: HerKorr 73/8 (2019), (38–41) 39. 15 Vgl. hierzu Hans Förster: Martin Luther und die Veritas Graeca – Eine Positionsbestimmung, in: KuD 66 (2020), 195–219. 16 Theobald: Dürfen wir Paulus glätten? (s. Anm. 14), 39.

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mit Jesus verwenden, trägt selbstverständlich dazu bei, dass das Neue Testament von Kittel als das »antijüdischeste Buch der Welt« wahrgenommen werden konnte. Dass dies möglicherweise eine rezeptionsgeschichtlich entstandene, jedoch unausgewogene Sicht der zentralen Texte des Christentums sein könnte, sind, wie bereits erwähnt, vorlutherische deutsche Bibelübersetzungen bezüglich dieser Stelle zu zeigen geeignet. Damit kann für die Übersetzung dieser Stelle festgehalten werden, dass das vorlutherische Mittelalter offensichtlich weniger judenfeindlich überträgt als maßgebliche Übersetzungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Mit diesen einleitenden Bemerkungen wäre aufgezeigt, dass ein Vorverständnis existiert, welches einzelne Übersetzungsentscheidungen zu präjudizieren in der Lage ist. Dass Kittel als zentrale Herausgeberpersönlichkeit auch sein Wörterbuch geprägt hat, erkennt die Einleitung des unveränderten Nachdrucks aus dem Jahr 2019 offen an.17 Derartige Hilfsmittel prägen dann mit ihrem Vorverständnis die Übersetzungen. Eben dieses Vorverständnis hat einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Streitkultur im Neuen Testament, wenn diese Streitkultur die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums betrifft. Dies ist im Folgenden aufzuzeigen.

2

Zur Streitkultur in den synoptischen Evangelien

2.1

»Versuchen« oder »Prüfen«: Zum Verhältnis zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten in den synoptischen Evangelien

In diesem Zusammenhang darf festgehalten werden: Wie beispielsweise Jeffrey Rubenstein aufgezeigt hat, stellte die öffentliche wechselseitige »Befragung« bzw. »Prüfung« unter jüdischen Gelehrten in talmudischer Zeit ein typisch jüdisches Diskursverhalten dar,18 das so wohl bereits in der Zeit und der erzählten Welt der Evangelien stattfinden konnte. Die öffentliche und sachlich erfolgreiche Auseinandersetzung über derartige Fragen war ein Mittel, sich eine entsprechende Autorität bei der Bevölkerung zu verschaffen. Wer die schwierigsten Fragen

17 Vgl. Lukas Bormann: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert. Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung, in: Gerhard Kittel/Gerhard Friedrich (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 1, Darmstadt 2019, (VII– XXII) XIII: »Gelegentlich wird in den zugänglichen Quellen fassbar, wie der Herausgeber Kittel auf die Autoren Einfluss zu nehmen suchte.« 18 Selbstverständlich stammt der Talmud aus weit späterer Zeit, die Frage ist jedoch aufzuwerfen, ob sich nicht gerade bei der Diskurskultur hier etwa ein halbes Jahrtausend nach den in den Evangelien geschilderten Ereignissen eine frühere Praxis niederschlägt.

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beantworten konnte, ging als Sieger hervor.19 Einander Fragen zu stellen, war also normal, es handelte sich somit letztlich um eine »Prüfungssituation« mit klaren Qualitätsurteilen. Als Jury fungierte das Publikum. Man wird nicht umhinkommen, dies letztlich als eine Form des öffentlichen Agons zu betrachten, der eben nicht mit Waffen, sondern mit Worten ausgetragen wurde. Damit gehören derartige Auseinandersetzungen, die zu einer Qualifizierung der einen Partei als »Sieger« und der anderen Partei als »Verlierer« führen sollen, klar zum Konzept jüdischer Streitkultur. Ferner sei darauf hingewiesen, dass diese Streitkultur in ihrem Ansatz gewaltfrei war. Es ging darum, mit Worten und nicht mit Waffen zu überzeugen. Falls man bereit sein sollte, Jesu Wirken im Judentum des ersten nachchristlichen Jahrhunderts zu verankern – und eben dies ist die erzählte Welt –, wird man die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass die Auseinandersetzung zwischen Jesus und Vertretern des Judentums über Fragen des jüdischen Lebens als ein typisches Verhalten zwischen jüdischen Gelehrten angesehen werden kann. Ein durchaus passendes Verb ist in diesem Zusammenhang das griechische Verb πειράζω. Wenn man sich nun die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums ansieht, so fällt auf, dass neuere Bibelübersetzungen dazu tendieren, dieses Verb nicht konkordant zu übersetzen. So auch die revidierte Einheitsübersetzung. Dies ist auffällig, nimmt diese Übersetzung doch für sich in Anspruch, eine bewusst konkordante Bibelübersetzung zu sein.20 Grundsätzlich weisen gängige Wörterbücher auf ein bestehendes semantisches Spektrum hin, das neben einem neutralen »prüfen« auch ein negatives »in Versuchung führen« umfassen könnte. Insgesamt scheinen Spezialwörterbücher des Neuen Testaments dazu zu tendieren, die Bedeutung schärfer zu sehen. So führt z. B. Montanaris Wörterbuch explizit an, dass das Wort als Grundbedeutung »to try, experiment, make an attempt, submit to trial«, sowie auch »to attempt, test« habe, während es nach Montanari im neutestamentlichen Kontext »to tempt, try to corrupt or seduce« bedeuten kann.21 Dies sagt natürlich weniger 19 Vgl. Jeffrey L. Rubenstein: The Culture of the Babylonian Talmud, Baltimore 2003, 40: »Once again the storytellers have Rav Kahana prove his mettle as a scholar through his dialectical skill rather than another aspect of Torah knowledge. His ability to propound objections and solutions earns the designation ›lion,‹ often used in the Bavli for a scholar of outstanding prowess. […] The position of both sages within the academic hierarchy depends on their capacity to object and respond. Rav Kahana is progressively relegated for failing to come up with objections and promoted when he objects, while R. Yohanan is demoted each time he cannot respond. […] We find this link between academic rank and dialectical proficiency played out consistently.« 20 Zur Einheitsübersetzung als konkordanter Bibelübersetzung vgl. kürzlich Theobald: Dürfen wir Paulus glätten? (s. Anm. 14). 21 Franco Montanari: The Brill Dictionary of Ancient Greek. English Edition Edited by Madeleine Goh and Chad Schroeder, Leiden 2015, 1603.

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über die semantische Bedeutung des Verbs im griechischen Text des Neuen Testaments aus als vielmehr darüber, wie die Semantik des Verbs in der neutestamentlichen Lexikographie wahrgenommen wird. Falls es sich nun beim Neuen Testament um das »antijüdischeste Buch der Welt« gehandelt haben sollte, dann ist so ein Urteil natürlich durch den vorgegebenen Interpretationshorizont des Textes erklärbar. Dies sollte jedoch nicht ausblenden, dass mit einem derartigen Vorverständnis die erzählte Welt natürlich voreingenommen wahrgenommen wird. Es muss also die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass ein christlicher Antijudaismus die Semantik des Verbs bis hinein in die Einträge in den entsprechenden Lexika beeinflusst haben könnte. Der semantische Effekt einer nicht konkordanten Übersetzung ist für das Textverständnis und damit für die Frage, wie die neutestamentliche Streitkultur wahrgenommen wird, von entscheidender Bedeutung: Jesus stellt seine Jünger »auf die Probe« (πειράζω), während die Vertreter des Judentums Jesus »versuchen« (πειράζω). Während im Griechischen ein einziges Verb dafür verwendet wird, um sowohl das Verhalten Jesu wie auch das Verhalten der Juden zu charakterisieren, ist das Abweichen vom Konkordanzprinzip von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung der Situation: Was Jesus macht, ist gut (»prüfen«), wenn es die Juden gegenüber Jesus so halten, ist dies schlecht (»versuchen«, wie auch der Teufel Jesus versucht). Quod licet Iovi non licet bovi.22 Die nicht-konkordante Übersetzung von πειράζω impliziert eine Wertung, die zahlreiche traditionell übliche semantische Vorentscheidungen im Rahmen der verschiedenen Versionen der Zinsgroschenfrage charakterisiert. Diese semantischen Vorentscheidungen haben ihren Niederschlag in den neutestamentlichen Wörterbüchern gefunden – in besonderer Weise, aber nicht nur, im »Kittel«.

2.2

Bosheit und Hinterlist

Die Wörterbücher wie das ThWNT beeinflussen moderne Übersetzungen, die sich dieses »Standardwerkzeugs« der neutestamentlichen Wissenschaft bedienen.23 In der Folge muss bei der Rezeption des übersetzten Textes der Eindruck bestätigt werden, dass es moralisch unzulässig sei, Jesus die Fragen zu stellen, die ihm von den Vertretern des Judentums gestellt werden. Der Titel meines kürzlich veröffentlichten Beitrags – »Der Versucher und die Juden als seine Vortruppen« – 22 Vgl. Hans Förster: Der Versucher und die Juden als seine Vortruppen. Überlegungen zum Einfluss der Rezeptionsgeschichte auf die Übersetzung einiger wirkungsgeschichtlich problematischer Passagen des Neuen Testaments, in: ZThK 115 (2018), 229–259. 23 Vgl. Bormann: Das Theologische Wörterbuch (s. Anm. 17), VI: »Nach wie vor ist das Wörterbuch eine unverzichtbare Grundlage der internationalen neutestamentlichen Wissenschaft.«

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spielt auf einen Lemma-Eintrag im Theologischen Begriffslexikon zum Neuen Testament an. Dort heißt es: »Daß er ohne Sünde ist, bringt immer wieder die satanische Macht in vielerlei Gestalt gegen ihn auf. Daß seine Gegner ihn mit Fangfragen ›hereinlegen‹ wollen, ist dafür nur ein Vorgefecht.«24 »Jemanden mit Fangfragen hereinzulegen«, ist semantisch eindeutig und kann nur einen negativen Eindruck bei der Leserschaft hinterlassen. Ein derartiger Eindruck ist natürlich von entscheidender Bedeutung dafür, wie dann die Streitkultur zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums wahrgenommen wird. Dass die »Gegner ihn mit Fangfragen ›hereinlegen‹ wollen«, wie auch durch den eben erwähnten Eintrag im Theologischen Begriffslexikon insinuiert wird, wird durch die Bewertung der Fragen der Vertreter des Judentums in den Übersetzungen der synoptisch bezeugten Versionen der Zinsgroschenperikope als »böse Absicht«25 und »Hinterlist«26 noch einmal bestätigt. Derartige Begriffe sind nicht dazu geeignet, eine Streitkultur als offen und fair zu charakterisieren. Aus der Sicht der klassischen Philologie wird man die Wahl der lexikalischen Äquivalente als präjudizierend und unausgewogen bezeichnen müssen. Der Begriff πονηρία ist – gegen ein theologisches Standardwörterbuch – in »unseren Texten« nicht nur als »Schlechtigkeit«, »Bosheit« oder »Sündhaftigkeit« zu verstehen.27 Ganz im Gegensatz zum neutestamentlichen Verständnis im Rahmen der lukanischen Version der Zinsgroschenperikope ist die πανουργία in der Septuaginta höchst positiv konnotiert, stellt also keinesfalls notwendigerweise eine »Hinterlist« (Einheitsübersetzung 2016) dar. Die positive Konnotation des Begriffs πανουργία wird allerdings in dem entsprechenden Eintrag im Bauer/ Aland verschwiegen,28 während die lexikographischen Vorgänger, auf denen das Wörterbuch von Bauer/Aland nachweislich aufbaut, diese positive Konnotation noch bezeugen.29 Man wird nicht umhinkommen, ein derartiges Phänomen als semantische Zensur zu bezeichnen, die in einem »modernen« Standardwörterbuch gegenüber den entsprechenden Vorgängern konstatiert werden kann.

24 Walter Schneider: Art. πειρασμός, in: Lothar Coenen/Klaus Haacker (Hg.): Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Witten 22010, (1790–1793) 1792. 25 Mt 22,18; Einheitsübersetzung 2016; Übersetzung von πονηρία. 26 Lk 20,23; Einheitsübersetzung 2016; Übersetzung von πανουργία. 27 Gegen Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch (s. Anm. 7), 1383. 28 Vgl. Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch (s. Anm. 7), 1230. 29 Vgl. hierzu Hans Förster: Translating from Greek as Source Language? The Lasting Influence of Latin on New Testament Translation, in: JSNT 43 (2020), 85–107. Man wird nicht umhinkommen, ein derartiges Phänomen – die Unterdrückung positiver Semantik bei einem Wort, das ein negatives Urteil über Vertreter des Judentums zu fällen scheint – in einem deutschsprachigen Lexikon angesichts der Ereignisse im zwanzigsten Jahrhundert als unangemessen zu empfinden. Schließlich wurden Zitate aus dem Neuen Testament im Rahmen der nationalsozialistischen Hasspropaganda verwendet.

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Man wird also festhalten müssen, dass bei einem weniger negativen Verständnis der Begriffe »schwierige Fragen« (πονηρία) gestellt werden, welche Rückschlüsse auf die »intellektuelle Gewandtheit« (πανουργία) der jüdischen Fragesteller zulassen. Folglich werden natürlich keine Fangfragen, sondern vielmehr Prüfungsfragen gestellt.

2.3

Die Zinsgroschenfrage als intellektuelle Herausforderung

Traditionell wird die Zinsgroschenperikope als eine der Passagen wahrgenommen und so auch in den Übersetzungen gewertet, in der sich zeige, dass die Vertreter des Judentums in einer unangemessenen Form mit Jesus umgehen. In der Tat wird das in der Zinsgroschenperikope des Matthäusevangeliums verwendete Verb traditionell mit »eine Falle […] stellen«30 übertragen; dieses Wort heißt jedoch erst einmal jemanden »aus der Reserve locken«.31 Ferner muss festgehalten werden, dass die Zinsgroschenfrage bzw. die Frage, wie diese zu beantworten ist, grundsätzlich durchaus berechtigt ist. Die religiöse Frage, ob es erlaubt sei, an die römische Besatzungsmacht Steuern zu zahlen, hatte bereits vor Jesu Auftreten zu Aufständen Anlass gegeben.32 Damit ist das grundsätzlich eine höchst berechtigte und durchaus auch wichtige religionspolitische Frage, bei der jeder Autorität eine »korrekte« Positionierung schwerfällt. Es ist, was man als typische Zwickmühle bezeichnen möchte. Mit einer Antwort kann Jesus es eigentlich nur »falsch« machen, weil entweder gesetzestreue33 Juden seine Antwort ablehnen oder er als Aufrührer wahrgenommen wird, der die Steuerzahlung verweigert und Aufstände legitimiert. Dass sich von den jüdischen Autoritäten ausgesandte Personen als »gesetzestreue« Juden ausgeben, macht diese Frage zu einer legitimen Frage im öffentlichen Diskurs. Die Frage betrifft ja eben solche religiös konservativen Personen, die religiöse Skrupel haben, eine derartige Steuer an Rom zu zahlen. Die Frage als solche ist berechtigt und sogar von hoher Relevanz, sie betrifft eine extrem problematische Frage, bei welcher ein Kenner des Gesetzes – und als solcher tritt Jesus ja auf – entweder mit dem jüdischen oder mit dem römischen Gesetz in Konflikt kommen muss. Damit ist die von den Vertretern des Judentums gestellte Frage nicht in erster Linie eine Bosheit oder 30 Mt 22,15; Einheitsübersetzung 2016; Übersetzung von παγιδεύω. 31 Förster: Versucher (s. Anm. 22), 246. 32 Vgl. Fredriksen: When Christians Were Jews (s. Anm. 1), 34: »With cries of ›No King but God!‹ Judah rallied Judean support. He thereby framed paying the tax – or, rather, not paying the tax – as a religious issue.« 33 Dass die Einheitsübersetzung in Lk 20,20 mit »die so tun sollten, als wären sie selbst gerecht« übersetzt, zeigt einmal mehr, dass der jüdische Kontext verkannt ist. Es geht um δίκαιος im Sinne des hebräischen ‫ צדיק‬und damit um strenggläubige Juden.

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Hinterlist. Vielmehr wird im vorliegenden Kontext die »Schwierigkeit« (πονηρία) der Frage anerkannt, die auf eine »Weltgewandtheit« und ein »strategisches Denken« (πανουργία) der Fragesteller hinweist. Wenn Jesus die Frage in einer Weise beantwortet, dass er im öffentlichen Agon der besten Köpfe besteht, hat er gewonnen. Wenn seine Antwort eine der beiden Seiten – gesetzestreue Juden oder römische Besatzungsmacht – verärgert, so hat er verloren. Die Problematik der im Text des Neuen Testaments mit griechischen Begriffen gekennzeichneten Frage, die man dahingehend verstehen kann, dass die Genialität der Frage anerkannt wird, verändert sich hierdurch grundlegend: Sie ist genial, weil der Einsatz für den Befragten groß ist. Wenn man berücksichtigt, dass die in der lukanischen Version von den Vertretern des Judentums ausgeschickten Personen – gegen die Vulgata und die revidierte Einheitsübersetzung – eben gerade keine »Spitzel«, sondern getreue Gefolgsleute der jüdischen Autoritäten sind,34 entsteht ein Verständnis der geschilderten Situation, das sich vom traditionellen Textverständnis in sehr grundsätzlicher Weise unterscheidet und die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums in völlig neuem Licht erscheinen lässt: Die Vertreter des Judentums befinden sich nach der Erzählung des Lukasevangeliums bereits in der Defensive. Mitten im Tempel hat Jesus eine »Fangfrage« gestellt, die sie in eine Situation bringt, bei der die Gefahr besteht, dass Steine ergriffen und geworfen werden. Ausdrücklich beschreibt der Evangelist die »Zwickmühle«, in der sich die Vertreter der jüdischen Autoritäten finden. Es ist gleichgültig, wie sie diese Frage beantworten, da beide Antworten Konsequenzen nach sich ziehen, die sie vermeiden möchten.35 Deswegen geben sie sich lieber die Blöße und verlieren diese »Runde« des öffentlichen Agons, indem sie auf ihr eigenes Nichtwissen hinweisen.36 Diese der Zinsgroschenperikope vorausgehende Auseinandersetzung Jesu mit den Vertretern der jüdischen Autoritäten zeigt jedoch deutlich auf, dass auch Jesus seinen Gesprächspartnern Fragen 34 Die Einheitsübersetzung folgt hier der Vulgata; dort wird ἐγκάθετος als insidiator übertragen. Dies ist natürlich der »Spitzel« bzw. »Wegelagerer«. Angesichts der Tatsache, dass im Griechischen ἐγκάθετος erst einmal den loyalen Gefolgsmann bezeichnet, ist die Wahl des lexikalischen Äquivalents in Vulgata und revidierter Einheitsübersetzung schlicht als sachlich problematisch zu werten; vgl. hierzu Hans Förster: Quod licet Iovi non licet bovi? Überlegungen zur Auslegung der Zinsgroschenperikope nach dem Lukasevangelium, in: SNTU.A 43 (2018), (33–59) 44–49. 35 Lk 20,5–6: οἱ δὲ συνελογίσαντο πρὸς ἑαυτοὺς λέγοντες ὅτι ἐὰν εἴπωμεν· ἐξ οὐρανοῦ, ἐρεῖ· διὰ τί οὐκ ἐπιστεύσατε αὐτῷ; ἐὰν δὲ εἴπωμεν· ἐξ ἀνθρώπων, ὁ λαὸς ἅπας καταλιθάσει ἡμᾶς, πεπεισμένος γάρ ἐστιν Ἰωάννην προφήτην εἶναι. (Einheitsübersetzung 2016): »Da überlegten sie und sagten zueinander: Wenn wir antworten: Vom Himmel!, so wird er sagen: Warum habt ihr ihm dann nicht geglaubt? Wenn wir aber antworten: Von den Menschen!, dann wird das ganze Volk uns steinigen; denn sie sind überzeugt, dass Johannes ein Prophet ist.« 36 Lk 20,7: καὶ ἀπεκρίθησαν μὴ ει᾿δέναι πόθεν. (Einheitsübersetzung 2016): »Darum antworteten sie: Wir wissen nicht, woher.«

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stellte, die diese in die Enge trieben. Beide Seiten verhalten sich, wie dies von Rubenstein für jüdische Gelehrte beschrieben wird: Im Rahmen eines öffentlichen Agons bestreitet man Fragerunde um Fragerunde.37 Die Zuschauer*innen bewundern gegebenenfalls schon die Schwierigkeit der Frage – im Falle der Zinsgroschenperikope wird diese Wertung in der Rahmenerzählung durch eine Verwendung von Begriffen wie πονηρία oder πανουργία vorgenommen – und am Ende entscheidet die Antwort darüber, wer Sieger ist. Im zwanzigsten Kapitel des Lukasevangeliums tritt Jesus als klarer Sieger hervor, er findet eine Antwort auf eine schwierige Frage, während die jüdischen Autoritäten Zuflucht zur Antwortverweigerung nehmen.

2.4

Die Streitkultur und die Zinsgroschenfrage im Lukasevangelium

Damit lassen sich die möglichen Alternativen, wie die Streitkultur zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums anlässlich der Zinsgroschenperikope beschrieben werden kann, folgendermaßen kurz zusammenfassen: Wenn traditionelle Übersetzungsentscheidungen zugrunde gelegt werden, nimmt man ein Klima der Bosheit und Hinterlist wahr; es stellen Spitzel Fangfragen, Jesus soll in eine Falle gelockt werden. Es muss der Eindruck entstehen, dass die Vertreter des Judentums letztlich kein Recht haben, Jesus eine Frage zu stellen, und dies nur aus niedrigen Beweggründen tun. Für die Streitkultur bedeutet dies, dass Diskussion und harte Auseinandersetzung letztlich nicht gewünscht sind. Vielmehr steht fest, dass die Vertreter der jüdischen Autoritäten sich ins Unrecht setzen, wenn sie Jesus eine schwierige Frage stellen. Jesu Sendung verlangt, so scheint es, nach einem unbedingten Glauben. Der Eindruck, dass sich die Fragesteller bereits mit ihren Fragen ins Unrecht setzen, muss auf der Basis traditioneller Übersetzungsentscheidungen entstehen. Bei einer semantisch vom Griechischen her möglichen und wohl auch gerechtfertigten Übersetzung, die ganz bewusst das »christliche« Verständnis der hier begegnenden Begriffe ausblendet,38 wie es auch in den modernen Wörterbüchern (es sei nur auf das oben angeführte Beispiel aus Montanari verwiesen) seinen Niederschlag gefunden hat – es sei noch einmal darauf verwiesen, dass sich das »christliche« Verständnis der Bedeutung der πανουργία in Lk 20,23 grundsätzlich von der Semantik dieses Begriffs in der Septuaginta unterscheidet –, entsteht ein völlig anderer Eindruck: Angesichts der aufgewühlten Situa37 Vgl. oben Anm. 19. 38 Am Rande darf die Frage aufgeworfen werden, ob es wirklich als »christlich« anzusehen ist, dass den jüdischen Gesprächspartnern Jesu durch eine semantisch verzerrte Übersetzung in unnötiger Weise niedrige Beweggründe unterstellt werden.

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tion – in Lk 20,6 wird berichtet, dass um ein Haar Steine im Tempel in Richtung der jüdischen Autoritäten geworfen worden wären, was letztlich einen drohenden Volksaufstand beschreibt – senden die offiziellen Vertreter des Judentums nach einem abgebrochenen Versuch, Jesus zu ergreifen, weil Jesu Anhänger offensichtlich Widerstand leisteten bzw. zu leisten drohten,39 treu ergebene Gefolgsleute, die Jesus eine strategisch klug gewählte Frage vorlegen. Sie selbst hätten sich wohl nach den Ereignissen im Tempel nicht mehr gut unter das Volk wagen können. Die Dramatik der geschilderten Situation sollte nicht unterschätzt werden: Die jüdischen Autoritäten hatten die volle Polizeigewalt im Tempel – und müssen befürchten, dass sich das Volk vor Jesus stellt und nach Steinen greift. Das Narrativ der Zinsgroschenperikope in der Version des Lukasevangeliums erwähnt, dass sich diese Gefolgsleute der jüdischen Autoritäten als strenggläubige Juden geben. Intratextuell beschreibt die gewählte Frage und die Schauspielerei der selbst wohl nicht so strenggläubigen Gefolgsleute der jüdischen Autoritäten natürlich erst einmal die verzweifelte Situation der Gesprächspartner Jesu: Nachdem sie nicht auf Jesu Frage bezüglich Johannes dem Täufer geantwortet hatten, gehen ihnen jetzt die Fragen aus. Sie sind so weit »liberal«, dass sie sich mit der Besatzungsmacht arrangiert haben und Steuern zahlen. Die Frage ist jedoch nur glaubwürdig, wenn sie von Personen kommt, für welche die Zahlung einer Steuer an die Besatzungsmacht ein Problem darstellt: Das sind strenggläubige Juden. Dies geht natürlich verloren, wenn beispielsweise die Basisbibel an dieser Stelle so überträgt (ὑποκρινομένους ἑαυτοὺς δικαίους εἶναι): »Die sollten so tun, als wollten sie nach Gottes Willen leben.« Dann steht einmal mehr die Täuschung im Vordergrund. Entgegen der Erwartung meistert Jesus die schwierige Frage. In der Folge fängt die Loyalität der Gefolgsleute der Pharisäer an zu wanken;40 sie schweigen, weil sie Jesus bewundern.41 Auch hier beschreibt das Lukasevangelium, was Jeffrey Rubenstein für die öffentlichen Auseinandersetzungen unter jüdischen Gelehrten als charakteristisch hervorhebt: Es ist 39 Für dieses Verständnis von Lk 20,19, vgl. Hans Förster: Antijüdische Polemik oder innerjüdischer Diskurs? Eine kritische Lektüre der Zinsgroschenperikope (Lk 20,[19]20–26) in der Version der revidierten Einheitsübersetzung, in: SNTU.A 42 (2017), (35–54) 43. 40 Die Einheitsübersetzung 2016 überträgt in Lk 20,26, als ob eine Parataxe dreier Hauptsätze vorliegen würde: »So gelang es ihnen nicht, ihn bei einer Äußerung vor dem Volk zu ertappen. Sie waren über seine Antwort verwundert und schwiegen.« Damit kann die im griechischen Text geschilderte Dynamik der Ereignisse natürlich nicht wahrgenommen werden. 41 Während die Einheitsübersetzung 2016 übersieht, dass in Lk 20,26 ein participium coniunctum vorliegt (καὶ οὐκ ἴσχυσαν ἐπιλαβέσθαι αὐτοῦ ῥήματος ἐναντίον τοῦ λαοῦ καὶ θαυμάσαντες ἐπὶ τῇ ἀποκρίσει αὐτοῦ ἐσίγησαν), kann eine sprachwissenschaftlich weniger paraphrasierende Übertragung folgenden deutschen Text vorschlagen (Übersetzung H.F.): »So gelang es ihnen nicht, ihn vor dem Volk auf ein Wort festzulegen. Weil sie ihn wegen seiner Antwort bewunderten, schwiegen sie.«

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die Fähigkeit, auf schwierige Fragen eine überzeugende Antwort zu geben, die von der beobachtenden Öffentlichkeit als die beste bzw. richtige Antwort gewertet wird. Alle Fragen sind erlaubt, die schwierigste Frage bzw. die beste Antwort gewinnt.42 Mit dem geänderten Textverständnis entsteht natürlich eine völlig andere Diskurssituation: Im öffentlich ausgetragenen Agon der intellektuellen Führungskräfte, denen jeweils das Recht zukommt, der anderen Seite Fragen zu stellen, wird Jesus durch den Ausgang der Zinsgroschenfrage als den Vertretern der jüdischen Autoritäten überlegen dargestellt. Die Szene ähnelt damit dem, was Rubenstein für das talmudische Judentum als charakteristische Form der öffentlichen Auseinandersetzung aufzeigt: Im Markt der Meinungen siegt, wer die besten Argumente hat. Die Fähigkeit zur geschickten Argumentation charakterisiert ja bereits den weisen Richter Salomo bei seiner Entscheidung, welcher der beiden Frauen das lebendige Kind zuzusprechen ist.43 Das weise Herz macht den guten Richter aus.44 Als Folge des weisen Urteils fürchtet Israel den König.45 Nach dem hier vorgeschlagenen Textverständnis ist es für die Verfasser der synoptischen Evangelien durchaus legitim und sogar erwünscht, einem theologischen Konkurrenten schwierige Fragen zu stellen, weil eben dadurch erst der Sieger ermittelt werden kann. Dass dieses Verständnis der in der Zinsgroschenperikope ihren Niederschlag findenden Streitkultur einem traditionellen Textverständnis zuwiderläuft, wird dadurch aufgehoben, dass das traditionelle Textverständnis einerseits als durch eine ganz eindeutig »christliche« Interpretation der Wortbedeutungen geprägt bezeichnet werden muss (derartige »christliche« Wortprägungen zu bieten, ist ja auch das erklärte Ziel des ThWNT), welche das semantische Bedeutungsspektrum gegenüber dem normalen Gebrauch einschränken und diesem teilweise sogar – wie zum Beispiel bei den »Spitzeln« – diametral widersprechen, und dass andererseits eine Streitkultur, die angesichts von Texten wie dem salomonischen Urteil oder der »Susanna im Bade« (SusLXX), wo nur die kluge Argumentation zählt, wohl als typisch jüdisch zu betrachten sein dürfte, da sie in viel späterer Zeit auch im Talmud zu sehen ist, durch das traditionelle Textverständnis verschleiert wird. Man wird nicht umhinkommen, es als wahrscheinlich zu betrachten, dass sich eine Person, die im ersten nachchristlichen Jahrhundert von seinen Schülern als »Rabbi« bezeichnet wird (vgl. auch nur Mk 9,5) und mit Vertretern des Judentums diskutiert, auch wie ein jüdischer Gelehrter verhält und der Diskurskultur zuzuordnen ist, die in ähnlicher Weise auch aus jüdischen Quellen abzuleiten ist. Dies bedeutet für die 42 43 44 45

Vgl. oben Anm. 19. Vgl. 1 Kön 3,16–27. Vgl. 1 Kön 3,8. Vgl. 1 Kön 3,28.

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Streitkultur, dass man gerne und kontrovers diskutierte, um die intellektuellen Grenzen des jeweiligen Gesprächspartners zu testen und sich im Rahmen des öffentlichen Streitgesprächs als Sieger oder gerechter Richter zu erweisen. Durchaus zu Recht hat nun Paula Fredriksen kürzlich erst wieder darauf hingewiesen,46 dass ein λῃστής erst einmal ein (politischer) Aufrührer ist, der einen Aufstand anzettelt. So wird der Begriff nach Fredriksen beispielsweise bei Flavius Josephus gebraucht.47 Wenn man dies für die Gefangennahme Jesu zugrunde legt, wie sie im Lukasevangelium berichtet wird, dann wird man dort eben die für die Zinsgroschenperikope des Lukasevangeliums beschriebene Politisierung der Situation noch einmal aus dem Munde Jesu hören. Traditionell wird die Frage Jesu bei seiner Gefangennahme so übertragen (Lk 22,52; Einheitsübersetzung 2016): »Zu den Hohepriestern aber, den Hauptleuten der Tempelwache und den Ältesten, die vor ihm standen, sagte Jesus: Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen.« Der griechische Text lautet: Εἶπεν δὲ Ἰησοῦς πρὸς τοὺς παραγενομένους ἐπ᾿ αὐτὸν ἀρχιερεῖς καὶ στρατηγοὺς τοῦ ἱεροῦ καὶ πρεσβυτέρους· ὡς ἐπὶ λῃστὴν ἐξήλθατε μετὰ μαχαιρῶν καὶ ξύλων. Auf dem beschriebenen Verständnis von λῃστής aufbauend, ist folgende Übersetzung möglich (Übersetzung H.F.): »Zu den Hohepriestern aber, den Hauptleuten der Tempelwache und den Ältesten, die vor ihm standen, sagte Jesus: Wie gegen einen Aufrührer seid ihr ausgezogen mit Messern und Hölzern.« Bei dieser Übersetzung wird noch einmal thematisiert, dass Jesu Überlegenheit im intellektuellen Diskurs und die damit einhergehende politische Infragestellung der Machtstrukturen in entscheidender Weise dazu beigetragen hat, dass er verhaftet wurde. Schließlich scheinen sich selbst die treuesten Anhänger der jüdischen Autoritäten nach der lukanischen Version der Zinsgroschenperikope von den jüdischen Autoritäten abzuwenden, da Jesu Antwort sie überzeugt (Lk 20,26; Übersetzung H.F.): »Und sie konnten ihn nicht auf ein Wort festlegen vor dem Volk, und weil sie ihn wegen seiner Antwort bewunderten, schwiegen sie.«48

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Ergebnis

Als Ergebnis der Untersuchung der Streitkultur zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums, wie sie sich am Beispiel vor allem der lukanischen Zinsgroschenperikope ablesen lässt, darf Folgendes festgehalten werden: Wäh46 So bereits Martin Hengel: Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., hg. v. Roland Deines u. Claus-Jürgen Thornton (WUNT 283), Tübingen 32011, 25–26. 47 Vgl. Fredriksen: When Christians Were Jews (s. Anm. 1), 173. 48 Lk 20,36: καὶ οὐκ ἴσχυσαν ἐπιλαβέσθαι ⸂αὐτοῦ ῥήματος⸃ ἐναντίον τοῦ λαοῦ καὶ θαυμάσαντες ἐπὶ τῇ ἀποκρίσει αὐτοῦ ἐσίγησαν.

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rend gemeinhin Fragen an Jesus durch nicht zwingend notwendige Übersetzungsentscheidungen, die letztlich als sachlich nicht gerechtfertigte semantische Veränderungen des Textes im Übergang von der Ausgangssprache zur Zielsprache aufgezeigt werden konnten, auf der Ebene des übersetzten Textes als »unerlaubt« und sogar »diabolisch« wahrgenommen werden, entspricht die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Vertretern des Judentums auf der Ebene des griechischen Textes einer typisch jüdischen Streitkultur: Fragen dürfen – und müssen! – gestellt werden, damit die beobachtende Öffentlichkeit die Möglichkeit bekommt, den Kontrahenten des Diskurses zuzuhören. Diese sollen sich durch einen öffentlichen Diskurs und im Rahmen eines »Spiels der freien Kräfte« profilieren. Wenn man nun die Zinsgroschenperikope in der Version des Lukasevangeliums in ihren direkten Kontext einordnet, ergibt sich folgendes Bild: Mit dem drohenden Aufstand im Tempel (vgl. Lk 20,1–8) und der Parabel vom Weinberg und den ungerechten Pächtern, mit der Jesus die jüdischen Autoritäten politisch klar und deutlich angreift (Lk 20,9–20), schlägt das Klima um. Die Vertreter der jüdischen Autoritäten müssen, so bemerkt der Evangelist im Rahmen eines redaktionellen Kommentars, die Parabel vom Weinberg und den ungerechten Pächtern als direkten Angriff verstehen (Lk 20,19b). Die Zinsgroschenfrage stellt die Antwort der jüdischen Autoritäten auf die Delegitimierung ihrer Autorität durch Jesu Rede dar. Gleichzeitig ist sie im Lukasevangelium eine Reaktion darauf, dass Jesus zuerst mit der Parabel vom Weinberg zum politischen Angriff übergegangen war. Dass Jesus im Rahmen der Zinsgroschenfrage als argumentativer Sieger hervorgeht, war so von den jüdischen Autoritäten nicht vorgesehen und verstärkt die Dynamik eines potentiellen Machtverlustes. Dies erkennt Jesus an, wenn er bei seiner Verhaftung bemerkt, dass man zu ihm komme wie gegen einen Aufrührer. Dies dürfte wohl tatsächlich der Sicht der jüdischen Autoritäten sehr nahegekommen sein und ist – angesichts des Gleichnisses vom Weinberg – wohl auch eine akkuratere Beschreibung der Situation als die Übersetzung mit »Räuber«. Für die Streitkultur des Neuen Testaments bedeutet dies, dass gerade die Konfrontation zwischen Jesus und den jüdischen Autoritäten, wie sie sich in den Evangelien niedergeschlagen hat, erst einmal ein argumentativ ausgeführter Streit war. Den Argumenten und nicht dem Ansehen der Person kam die entscheidende Bedeutung zu. Angesichts der Tatsache, dass die Zeitgeschichtler Gailus und Vollnhals kürzlich erst festhielten, dass die Person Gerhard Kittel – und auch, so darf man hinzufügen, die damit verbundene Problematik des von ihm als Herausgeber in das Wörterbuch hineingetragenen Antijudaismus – bis heute »ein Tabu« sei,49 darf man das hier vorgelegte Ergebnis der Analyse der 49 Vgl. Manfred Gailus/Clemens Vollnhals: Einführung, in: dies. (Hg.): Christlicher Antisemi-

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neutestamentlichen Streitkultur auch als Aufforderung verstehen, sich mit den hier aufgezeigten Problemen der Übersetzung des Neuen Testaments auseinanderzusetzen. Dies entspricht der im Neuen Testament zu findenden Streitkultur weit besser als eine Tabuisierung der Thematik, die oftmals mit der Begründung einhergeht, dass es sich bei Kittel um eine hoch angesehene Person gehandelt habe. Für die Streitkultur im Neuen Testament gilt ebenso wie beispielsweise für den jungen Richter Daniel in der Erzählung von »Susanna im Bade«: Sachliche Richtigkeit ist wichtiger als das Ansehen einer Person. Gerade deshalb sollte die nüchterne Einschätzung des ThWNT durch Martin Leutzsch als »philologisch unbrauchbar«50 den Anstoß geben, sich neu mit den philologischen Grundlagen des Neuen Testaments auseinanderzusetzen und die judenfeindlichen Irrtümer dieses Wörterbuchs zu widerlegen.

tismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel (Berichte und Studien 79), Göttingen 2020, (7–18) 10: »Seit vielen Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, war eine wissenschaftliche Tagung zum weithin beschwiegenen ›Fall Kittel‹ überfällig. Sie ist niemals gekommen. Und auch im Jahr 2017 kam der Anstoß nicht aus Kittels Fach selbst, also aus der evangelischen Theologie, die doch das Thema eigentlich am meisten anginge. Eine Tagung zum offenbar heiklen ›Fall Kittel‹, die für viele ähnlich gelagerte ›Fälle‹ stehen kann, hätte bereits in die wissenschaftliche Konjunktur der 1980er-Jahre gehört und der angemessene Ort wäre wohl eher Tübingen und nicht Dresden gewesen. Aber offensichtlich war das Thema sehr lange Zeit ein Tabu, und teilweise scheint es das noch heute zu sein.« 50 Vgl. Martin Leutzsch: Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums. Antijudaismus und Antisemitismus im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament«, in: Gailus/ Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 49), (101–118) 113: »Es ist dieser strukturelle moderne christliche Antijudaismus, der das ThWNT insgesamt als philologisches Instrument unbrauchbar macht.«

Angela Standhartinger

Streitkultur im Neuen Testament. Dargestellt am Konflikt um die Tischgemeinschaft in den paulinischen Homologumena

Abstract The history of the emerging Christianity can be described neither as the orthodox church’s successful campaign against manifold heresies nor as a dialectic movement from Petrine, to Pauline and finally to Luke-Acts’ Christianity, as F. C. Baur argued in the nineteenth century, but has to be analyzed by the variety of discourses by which people make sense of their lives in the context of ancient pluralistic religious practices. The test case discussed in this paper is the dispute about common meal practices of Jews and non-Jews at the socalled Antiochian incident in Gal 2:11–15. It will be shown that the question of eating and not eating with non-Jews is discussed in manifold ways in Hellenistic Judaism. Table fellowship can be established by selecting food, its allegorical interpretation, by choosing the cook, a special table, or by shared table-culture. Paul’s position at Antioch is one of many Jewish positions, as is his later, much more irenic position in Rom 14. Even for Paul, dispute is more than a test of his own position but leads into a deeper understanding of God’s kingdom.

Zur Rolle von Konflikt und Streit im entstehenden Christentum entwickelten neutestamentliche Wissenschaft und Kirchengeschichtsschreibung drei Meistererzählungen. Die älteste geht auf Irenäus im 2. Jh. zurück. Er behauptet, »sämtliche Häresien« seien mit Simon Magus entstanden, der Petrus und Johannes nach Apg 8,4–25 den Geist abkaufen wollte.1 Im 4. Jh. erweitert Euseb von Caesarea diese Theorie und datiert sie auf die Zeit des Kaisers Trajan ans Ende des 1. Jh. n. Chr. Nach Euseb überlieferten die Apostel die Lehre an die ersten Bischöfe und die Kirche blieb eine »reine und unbefleckte Jungfrau«, bis unter Trajan der Simon Magus auftrat und den Samen der Häresie säte, aus dem dann alle Häresien hervorgingen.2 Der Orthodoxie gelang es jedoch wirkungsvoll die 1 Irenäus, Adversus haereses 1,23,1–4 (SC 264, 312,1–320,3 Rousseau/Doutreleau). 2 Euseb, Historia ecclesiastica 3,32 und 4,22 (SC 31, 143–145 und 199–202 Bardy). Euseb vermischt hier Grundgedanken aus seinen Quellen. Alle Häresien führen neben ihm auch Irenäus und Justin, Apologiae pro Christianis 1,26,1–5 (OECT 9, 146,9–148,9 Minns) auf Simon Magus zurück. Für Justin ist Simon allerdings ein Werkzeug des Teufels, er datiert das Ereignis direkt

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Häresie zurückzudrängen, sodass die Wahrheit siegte. Noch immer gelten z. B. sogenannte gnostische Richtungen des entstehenden Christentums vielen als Sonderentwicklung gegenüber einem kirchlichen »Mainstream«, der sich in den kanonisch gewordenen Schriften und bei Kirchenvätern äußere.3 Die zweite Meistererzählung ist mit dem Namen des Hegelianers Ferdinand Christian Baur verbunden. Er entdeckt hinter den sogenannten Parteiungen in Korinth nach 1 Kor 1,10–13 einen die ersten beiden Jahrhunderte der Christentumsgeschichte grundlegend prägenden Antagonismus. Die Konfliktlinie verlaufe zwischen der Petruspartei, die einen juden-christlichen, in der Tradition der Tora stehenden Messiasglauben vertreten habe, und der Pauluspartei, die für die gesetzesfreie Heidenmission gekämpft habe.4 In der Apostelgeschichte habe ein »Pauliner« eine versöhnende oder auch harmonisierende synthetische Geschichtserzählung geschaffen. Bis heute wird zumindest für die paulinische Mission das Modell einer einheitlichen jüdisch geprägten Opposition vertreten.5 Sie verkörpert das Bild, nach dem Paulus die Wahrheit des Evangeliums gegen »Heuchler« (Gal 2,14) und »Falschapostel« (2 Kor 11,13) und »Feinde des Kreuzes« (Phil 3,18) verteidigt. Die dritte Meistererzählung geht auf Walter Bauers Monographie Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum zurück.6 Bauer bemerkte, dass es in den ersten drei Jahrhunderten keine Instanz gab, die eine Autorität mit entsprechendem Wirkungsgrad gehabt hätte, Positionen für orthodox und andere für häretisch zu erklären. Bauer versuchte außerdem nachzuweisen, dass die sogenannt häretischen Positionen in der Mehrheit waren. Wenn auch die Zahlenverhältnisse aller Gruppen in den ersten drei Jahrhunderten offenbleiben müssen, so ist doch inzwischen deutlich geworden, dass es sich auf keiner Seite der theologischen Konfliktlinien um homogene Positionen fester und einheitlicher Gruppen handelte. Mit den Worten von Karen King:

3 4 5

6

nach Ostern und er vertritt auch den Gedanken, dass Spaltungen aus den Sekten des Judentums und der Philosophie übernommen wurden, eine Theorie, die wohl auch von Hegesipp vertreten wurde. Euseb liest Hegesipp an dieser Stelle gegen den Strich. Vgl. Meike Willing: Eusebius von Cäsarea als Häreseograph (PTS 63), Berlin 2008, besonders 410–422. Siehe 1 Tim 6,20, zitiert in Irenäus, Adversus haereses 23,4,4 (320,2 R./D.). Ferdinand Christian Baur: Christuspartei in der korinthischen Gemeinde (1831), in: Klaus Scholder (Hg.): Ferdinand Christian Baur. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 1. Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament, Stuttgart 1963, (1–146) 1–76. Siehe für ein »moderat einheitliches Modell der Gegner des Paulus« z. B. Samuel Vollenweider: Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern, in: ders.: Antike und Urchristentum. Studien zur neutestamentlichen Theologie in ihren Kontexten und Rezeptionen (WUNT 436), Tübingen 2020, 201–226. Walter Bauer: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934. Viele von Bauers Details wurden kritisiert, vgl. z. B. die Rezension von Walter Völkel in der ZKG 54 (1935), 628–631. Die Grundthese entfaltete vor allem durch die englische Übersetzung durch Robert Kraft in den 1970er Jahren Wirkung.

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Social groups are constantly engaged in the processes of meaning-making and social formation, using the manifold valued resources at hand to think with. To understand these processes, it is critical to shift the perspective away from understanding »religions as ready-made systems of meaning awaiting interpretation,« as Ortner puts it, to the view that »people are spinning what Geerts called ›webs of meaning‹ all the time, with whatever cultural resources happen to be at hand.« […] Viewed this way, the focus is not upon identifying the essential characteristics of various homogeneous types of Christianity, but upon analyzing the variety of discourses, material and intellectual resources, processes, and practices by which people make sense of their lives in context of ancient pluralism, the governing regimes and institutions and further and constrain such practices, and the power relations that are at stake.7

Im Folgenden möchte ich nach der Bedeutung der dritten Meistererzählung für die Rekonstruktion von Positionen im 1. Jh. fragen. Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung ist dabei der Grundkonflikt der zweiten Meistererzählung, der Streit zwischen Menschen aus dem Judentum und Menschen aus anderen Völkern im sogenannten antiochenischen Zwischenfall (1.). Ich möchte zum einen zeigen, dass in Bezug auf das gemeinsame Essen und dabei mögliche Speisen keineswegs eine klare Konfliktlinie zwischen »dem Judentum« und »dem Heidentum« auszumachen ist, sondern dass verschiedene Texte vielfältige Modelle, Grenzlinien und ihre Überschreitung diskutieren. Paulus kann seine Position in Antiochien also mit Recht eine jüdische nennen (2.). Zum zweiten möchte ich die These vertreten, dass Paulus sich zu dieser Frage auch selbst durchaus flexibel und beweglich positioniert. Denn tatsächlich greift er auf die ganze Bandbreite von Strategien zurück, die in den Aushandlungsprozessen über gemeinsames Essen unter Wahrung der eigenen und der fremden Identität im Judentum des Zweiten Tempels diskutiert und gefunden wurden (3.).

1

Der antiochenische Konflikt nach Gal 2

Paulus stellt den antiochenischen Zwischenfall folgendermaßen dar: 11 Als aber Kephas nach Antiochia kam, bin ich ihm Auge in Auge entgegengetreten, denn er hatte sich ins Unrecht gesetzt. 12 Denn bevor einige von Jakobus kamen, aß er mit Menschen aus den Völkern; nachdem sie angekommen waren, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete. 13 Und mit ihm heuchelten auch die übrigen Juden, sodass auch Barnabas mitgerissen wurde durch ihre Heuchelei. 14 Jedoch als ich sah, dass sie nicht richtig wandelten in Richtung auf die Wahrheit des Evangeliums, sagte ich zu Kephas vor allen: »Wenn du, obgleich du ein

7 Karen King: Which Early Christianity, in: Susan Ashbrook Harvey/David Hunter (Hg.): The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford 2009, (66–84) 72.

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Jude bist, und nach Art der Völker und nicht der Juden lebst, wie kannst du die Völker zwingen, nach Art der Juden zu leben?« (Gal 2,11–14)8

Dieser Text ist so etwas wie der locus classicus in der Begründung christlichen Universalismus im Gegensatz zu jüdischem Exklusivismus in Bezug auf Tischund Essensgemeinschaft. Paulus, so die Auslegungstradition, verteidigt das gemeinsame Essen von Heiden und Judenchristen gegen die abgrenzende Tischpraxis von Judenchristen, genauer Jerusalemern gesandt vom Herrenbruder Jakobus (vgl. Apg 20,18), sowie Petrus und Barnabas.9 Dabei wird typischerweise »das Eigene« mit der paulinischen Meinung identifiziert. Die Mehrheit der hier genannten Apostel, Jakobus, Petrus und Barnabas folgen dagegen »der anderen«, »jüdischen« Praxis einer Selbstabgrenzung gegenüber den Heiden/Völkern. Worum in Antiochia genau gestritten wurde – um das Essen oder Nicht-Essen bestimmter Speisen, ihre Zubereitung oder um die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung bestimmter Riten oder Reinheitsregeln oder um die soziale Zusammensetzung der Tischgemeinschaft – lässt Paulus’ Beschreibung erstaunlicherweise offen, was zu zahlreichen Rekonstruktionsversuchen in der Forschung geführt hat.10 Jedenfalls aber habe allein Paulus für eine die Völker/Heiden inkludierende Praxis geworben. Die Auslegungstradition lässt sich jedoch erstaunlicherweise nicht davon irritieren, dass Paulus seine Position im nächsten Vers, Gal 2,15, und diejenige des Petrus und damit implizit aller anderen als die »jüdische« bezeichnet.11 Anders gesagt, worum immer sich der Konflikt gedreht haben mag – Essen, Reinheitsregeln, Tischmanieren oder die soziale Zusammensetzung der Essenden –, alle Positionen bewegen sich innerhalb einer jüdischen Vielfalt, die ich im Folgenden näher ausführen möchte. 8 Übersetzung A.S. 9 So jedenfalls die Darstellung des Paulus. Wilhelm Pratscher: Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139), Göttingen 1987, 77–102 bezweifelt allerdings, dass Jakobus und Petrus unterschiedliche Positionen vertraten oder dass er eine besondere Gegnerschaft zu Paulus pflegte. 10 Einen Überblick über Lösungsansätze bietet zuletzt Christina Eschner: Essen im antiken Judentum und Urchristentum. Diskurse zur sozialen Bedeutung von Tischgemeinschaft, Speiseverboten und Reinheitsvorschriften (AGJU 108), Leiden 2019, 429–435. Eschner selbst lokalisiert das Problem in einer aus Lev 20,24–26 erschlossenen, von Jüdinnen und Juden geforderten »Abgrenzung« (vgl. ἀφορίζω Gal 2,12; ebd., 435–466) von den Völkern. Wie sich gleich zeigen wird, lässt sich eine solch generelle Forderung nach Abgrenzung aus den Quellen nicht belegen. 11 Allerdings ist die Frage umstritten, ob der das Volk/Ethnos der Judäer bezeichnende griechische Begriff Ἰουδαῖος zur Zeit des Paulus bereits eine Religion in einem ethnisch-neutralen Sinn bezeichnen kann oder nicht. Für die erste Position vgl. Shaye D. Cohen: The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley 2000, 69–139. Für die zweite Position vgl. Naomi Janowitz: Rethinking Jewish Identity in Late Antiquity, in: Stephen Mitchell/Geoffrey Greatrex (Hg.): Ethnicity and Culture in Late Antiquity, London 2000, 205– 219; Steve Mason: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism. Problems of Categorization in Ancient History, in: JSJ 38 (2007), 457–512.

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Zu Tisch mit den Völkern im Judentum des Zweiten Tempels

Die Speiseregeln der hebräischen Bibel in Lev 11 und Dtn 14 beziehen sich auf den Ausschluss bestimmter Tiere, nämlich Kamel, Hase, Klippdachs und Schwein als Tiere, die nicht wiederkäuen und keine ganz durchgespaltenen Hufe haben, Fische ohne Schuppen und außerdem Aas.12 An anderer Stelle wird Blutgenuss verboten, was Auswirkungen auf die Fleischzubereitung hat.13 Gewarnt wird außerdem vor der Teilnahme an Opferfesten mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Kanaans.14 Mit Ausnahme des Buches Daniel enthält die hebräische Bibel jedoch kein Verbot von Speisen, die von Menschen aus anderen Völkern produziert oder zubereitet wurden.15 Auch Tischgemeinschaften mit ihnen sind durchaus üblich. Abraham empfängt Brot und Wein vom Priester von Salem, Melchisedek (Gen 14,18), Isaak lädt die Philister Abimelech und Pichol zum gemeinsamen Mahl (Gen 26,30), Aaron und die Ältesten Israels essen vom Schlachtopfer des Priesters von Midian, Jitro (Gen 18,20). Nicht einmal Esra und Nehemia, die mit dem Ausschluss interkultureller Ehen berühmt werden, formulieren Regeln über Speisen und Tischgemeinschaft. Dies ändert sich in der hellenistischen Zeit.16 Besonders gut lässt sich dies im Buch Esther beobachten. In der hebräischen Fassung lässt sich Esther mit den feinen Speisen aus dem königlichen Hause versorgen (Est 2,9), lädt den König und seine Freunde zweimal zum Bankett und Trinkgelage ein und teilt mit ihnen die Tafel (Est 5,4–8; 7,1–6). In der griechischen Fassung erklärt sie dagegen: »Deine Dienerin hat auch nicht vom Tisch Hamans gegessen, noch ein Symposium beehrt und von den Trankopfern getrunken.«17 Die griechische Esther lehnt Opfertrank, Libation und jegliches Essen vom persischen Tisch ab. Ähnlich verweigert auch Daniel als Gefangener am Hof des babylonischen Königs die ihm vom Tisch des Königs zugeteilten Speisen und den königlichen Wein und bittet um Hülsenfrüchte.18 Warum Daniel meint, sich durch das Mahl 12 Lev 11,2–23; Dtn 14,4–20. 13 Zum Folgenden vgl. David M. Freidenreich: Foreigners and their Food. Constructing Otherness in Jewish, Christian, and Islamic Law, Berkeley 2011, 17–28. Vgl. Gen 9,3–6; 17,10– 12; Ex 23,19 etc. 14 Ex 34,14–15; Num 25,2–3; Ps 106,28. 15 Freidenreich: Foreigners (s. Anm. 11), 31–46. 16 Vgl. zum Folgenden Freidenreich: Foreigners (s. Anm. 11), 58–95. Vgl. auch Jordan D. Rosenblum: Food and Identity in Early Rabbinic Judaism, Cambridge 2010, 36–45. 17 Est 4,17.24 LXX (C 28): οὐκ ἔφαγεν ἡ δούλη σου τράπεζαν Αμαν καὶ οὐκ ἐδόξασα συμπόσιον βασιλέως οὐδὲ ἔπιον οἶνον σπονδῶν. Der A-Text fügt hinzu: »Deine Magd hat nicht an ihren gemeinschaftlichen Tischen gegessen.« 18 Dan 1,5: ἀπὸ τῆς βασιλικῆς τραπέζης und ἀπὸ τοῦ οἴνου οὗ πίνει ὁ βασιλεύς. Die Speise Daniels nach Dan 1,12 und 1,16 ist allerdings in den Handschriften umstritten. Die LXX liest ἀπὸ τῶν ὀσπρίων (von den Hülsenfrüchten). Theodotos liest σπέρματα (Samenkörner).

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des Königs zu »verunreinigen« (Dan 1,8), wird nicht erklärt.19 Auch die Hülsenfrüchte stammen aus der Hand des königlichen Eunuchen, gelten aber vielleicht als unbearbeitet. Betont wird, dass Daniel trotz der eingeschränkten Kost körperlich aufblüht. Das Danielbuch stammt aus dem 2. Jh. vor unserer Zeitrechnung. Zur gleichen Zeit entstand vermutlich auch das Tobitbuch. Dessen gleichnamiger Held wird, so die fiktive Erzählung, mit den Exilanten des Nordreichs nach Ninive verschlagen, wo er sich jedoch im Gegensatz zu seinen mitverschleppten Volksgenossen weigert, »vom Brot der Völker« (ἐκ τῶν ἄρτων τῶν ἐθνῶν) zu essen. Auch sein Speiseverzicht wird von Gott mit »großem Ansehen vor dem assyrischen König Salmanassar« belohnt, das Essen der Mitverschleppten jedoch gar nicht getadelt.20 Im Ersten und Zweiten Makkabäerbuch, ebenfalls aus dem 2. Jh. vor unserer Zeitrechnung, verweigern sich die Frommen, Schweine- und Götzenopferfleisch zu essen.21 Lieber lassen sie sich foltern und hinrichten. Der Priester Eleasar lehnt sogar den Vorschlag ab, von ihm selbst zubereitetes Fleisch zu essen, mit der Behauptung, es sei Götzenopfer.22 Der Fleischverzicht dient hier zur Demonstration der eigenen ethnisch-religiösen Identität im Gegenüber zu den seleukidischen Invasoren auch um den Preis des Martyriums. Essen oder nicht essen unterscheidet die Frommen von den weniger Frommen.23 Jedoch allein das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) spricht ein generelles Verbot jeglicher Tischgemeinschaft mit Menschen aus anderen Völkern aus. Hier schärft Abraham seinem Sohn ein: Trenne dich von den Völkern und iss nicht mit ihnen und handele nicht nach ihrem Werk und sei nicht ihr Gefährte! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und alle ihre Wege sind befleckt und Nichtigkeit und Abscheulichkeit. (Jub 22,16)24

Im nächsten Vers werden unter den abscheulichen Praktiken dieser Menschen das »Opfern für Tote« und das »Essen in Gräbern« (Jub 22,17), also Praktiken des Totenkults, identifiziert, die in zeitgenössischen jüdischen Texten sehr unterschiedlich bewertet werden.25 Im Buch Judith dreht sich der Plot um die Spannung von Segregation und Tischgemeinschaft mit dem assyrischen Heerführer Holofernes. Judiths Segregationsstrategien – sie läuft zwar zum Schein über ins Lager der Assyrer, bedingt sich aber aus, nur die von ihrer Magd mitgebrachten und zubereiteten Speisen zu 19 Dan 1,8: ἵνα μὴ συμμολυνθῇ. Zu verschiedenen Deutungen vgl. Freidenreich: Foreigners (s. Anm. 11), 66–70. 20 Tob 1,12–13. 21 1 Makk 1,35–63; 2 Makk 6–7. 22 2 Makk 6,21. 23 1 Makk 1,62–63. 24 Übersetzung: Klaus Berger: Das Buch der Jubiläen (JSHRZ II/3), Gütersloh 1981, 437. 25 Kritisch: Ps 106,28; Sir 30,17; positiv: Tob 4,17.

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verzehren – und die Lüsternheit und Trunksucht des assyrischen Heerführers ermöglichen Judiths Befreiungstat.26 Wie Daniel und Tobit will auch Judith ausschließlich von jüdischen Menschen bereitete Speisen essen. Anders als Daniel und Tobit wählt sie jedoch nicht die Strategie des Speiseverzichts, sondern die Mahlgemeinschaft mit den von ihr selbst mitgebrachten und zubereiteten Speisen. Weil dies ihr ermöglicht, das Heerlager der Assyrer regelmäßig zu verlassen, kann sie unbemerkt mit dem Kopf des Holofernes entfliehen. Das Buch Judith arbeitet mit Humor, der an Selbstironisierung grenzt.27 Vielleicht kann man Ähnliches auch in der Josephsnovelle aus Gen 37–50 entdecken. Auch hier geht es um einen jüdischen Aufsteiger am Hof eines Großkönigs, hier der Pharao. Auch hier spielen Trinkgelange eine Rolle im Plot. So gehen die Träume des Mundschenks und des Oberbäckers beim Bankett des Pharaos in Erfüllung (Gen 40,20–21).28 Die Brüder setzen sich, nachdem sie Joseph in die Grube geworfen haben, zum Essen, so als wäre nichts geschehen (Gen 37,25), und Joseph lädt sie ehrenvoll zu Tisch (Gen 43,31–34). Man braucht allerdings drei Tische, einen für Joseph, einen für die Hebräer und einen für die Ägypter, denn »die Ägypter konnten kein Brot mit den Hebräern essen, es ist den Ägyptern ein Gräuel« (Gen 43,32). Die Bemerkung im Stil einer ethnografischen Beobachtung klingt wie eine abstrakte Negation einer antiken Wahrnehmung jüdischer Tischpraxis.29 Nichts hindert Josephs Tischgesellschaft allerdings daran, sich miteinander zu betrinken (Gen 43,34). Die Josephsnovelle wird in jüdisch-hellenistischer Zeit häufig nacherzählt. Philo von Alexandrien nutzt seine Nacherzählung, um die vernünftige Zurückhaltung bei Speise und Trank beim Mahl unter Weisen und Philosophen hervorzuheben.30 Den Gedanken aus Gen 43,32 formuliert Philo folgendermaßen 26 Jdt 10,5; 12,1–4. 27 Zur Ironie und Humor im Judithbuch zuletzt Lawrence Wills: Judith, a Commentary on the Book of Judith (Hermeneia), Minneapolis 2019, 78–108. 28 Nach Gen 40,20 veranstaltet der Pharao ein Trinkgelage mit seinen Sklaven. Josephus und Philo vermeiden in ihrer Erzählung solche Statusvermischung. Josephus streicht die Bemerkung zur Tischgesellschaft (Josephus, Antiquitates Iudaicae 2,73 [1,72,9–15 Niese]), Philo differenziert zwischen Pharaos Tischgesellschaft mit seinen Beamten und einer Volksspeisung für die Dienerschaft (Philo, De Iosepho 97 [4,76,3–7 Cohn]). 29 Vgl. Herodot, Historiae 2,41 (BSGRT, 1,164,19–156,19 Rosén) behauptet, dass die Ägypter niemals ein Messer, Bratspieß oder Kochgefäß der Griechen benutzten. Andere Historiker und Geographen entdecken bei den ägyptischen Königen dagegen das Ideal der Mäßigung und des Verzichts auf den Import von Luxusgütern (Diodor, Bibliotheca historica 1,70,11–12 [LCL, 1,244 Vogel/Fischer/Oldfather]). Zur Kritik an Judäern, die »als einziges unter den Völkern, die auf Gemeinschaft mit anderen Völkern verzichten, sich nicht vermischen und alle als Feinde betrachten« siehe Diodor, Bibliotheca historica 34/35,1 (12,52 V./F./O.) und Tacitus, Historiae 5,5,2 (LCL, 180,14–182,4 Moore/Jackson). Philos Darstellung scheint mir auf diesen Diskurs zu reagieren. 30 Philo, De Iosepho 201–206 (4,104,2–105,11 C.).

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neu: »die Bewirtung geschah für jede Gruppe nach dem (entsprechenden) väterlichen (Brauch), da er (sc. Joseph) es für hart erachtete, alte Gesetze zu missachten.«31 Unter Achtung und Wahrung der je spezifischen Traditionen und Gesetze, an einem gemeinsamen Tisch zu speisen, ist das von Philo präferierte Modell einer gelungenen Mahlgesellschaft. Essen am Tisch des ägyptischen Königs einschließlich des von ihm hergestellten Essens und Trinkens ist also keineswegs für alle ein unüberwindliches Problem. Als Antwort auf die Außenwahrnehmung jüdischer Speiseregeln führt der Aristeasbrief Erklärungen zu der biblischen Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren ein. Diese Erklärungen deuten die Speisegebote allegorisierend als Selbstvergewisserung des Verzichts auf die Laster anderer Völker.32 Am Gastmahl des Ptolemäus nehmen die Jerusalemer Gesandten gerne teil und genießen dort von einem Griechen zubereitete und aus der königlichen Speisekammer kommende Speisen und Getränke, jedoch »nach ihren Bräuchen«.33 Der Aristeasbrief vertritt also eine ähnliche Position wie Philo in seiner Version der Josephserzählung.34 Die (vermeintliche) Verweigerung von Tischgemeinschaft spielt eine entscheidende Rolle für die Anklage, die die Juden im Dritten Makkabäerbuch beinahe zur Vernichtung durch betrunkene Elefanten führt.35 Nachdem der König Ptolemäus jedoch mit Gottes Hilfe umgestimmt wurde, lassen seine jüdischen Untertanen beim Versöhnungsfest sich gerne von ihm sieben Tage lang aus seiner Speisekammer und seinem Weinkeller für ein festliches Bankett (εὐωχία) versorgen.36 Auch der hellenistisch-jüdische Roman Joseph und Aseneth erzählt von einer Transformation einer exklusiven zu einer inklusiven Tischgemeinschaft.37 Hier kommt Joseph in das Haus des Priesters von Heliopolis, der ein Satrap des Pharaos ist, um Rast zu machen bei seinen Reisen zum Sammeln des Korns der fetten Jahre. Im Haus des Priesters Pentephres erhält Joseph einen Extratisch, »denn er isst nicht mit den Ägyptern, denn dies ist ihm ein Greul«.38 Dass das 31 Philo, De Iosepho 202 (4,104,10–12 C.). Josephus, Antiquitates Iudaicae 2,123 (1,50,5–10 N.) streicht den Gedanken. 32 Arist 128–171. 33 Arist 181–182. 34 Philo, De Iosepho 202 (4,104,10–12 C.). 35 3 Makk 3,2–7. 36 3 Makk 6,30–36. 37 Vgl. zum Folgenden auch Angela Standhartinger: Meals in Joseph and Aseneth, in: Soham AlSuadi/Peter-Ben Smit (Hg.): T&T Clark Handbook to Early Christian Meals in the GrecoRoman World, London 2019, 211–223. 38 JosAs 7,1. Text: Christoph Burchard (Hg.): Joseph und Aseneth (PVTG 5), Leiden 2003, verbessert von Uta Fink: Joseph und Aseneth. Revision des griechischen Textes und Edition der zweiten lateinischen Übersetzung (FoSub 5), Berlin 2008. Der biblische Ausgangstext ist Gen 41,45.50; 46,20.

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Essen aus der Küche des Pentephres kommt, scheint ihn aber nicht zu stören. Der Satz klingt außerdem wie eine Umdrehung von Gen 43,32 über die Tischpraxis der Ägypter. Joseph ist nach JosAs außerdem nicht bereit, die Tochter des Hauses, Aseneth, mit einem Kuss zu begrüßen, denn: Es ziemt sich nicht für einen gottesverehrenden Mann, der mit seinem Mund den lebendigen Gott segnet und gesegnetes Brot des Lebens isst und den gesegneten Kelch der Unsterblichkeit trinkt und sich salbt mit der gesegneten Salbe der Unvergänglichkeit, eine fremde Frau zu küssen, die mit ihrem Mund tote und stumme Götzen segnet, und von ihrem Tisch Brot des Erwürgens isst und von ihren Trankopfern einen Kelch des Hinterhalts und sich salbt mit der Salbe des Verderbens. (JosAs 8,5 B./F.)39

Aseneth, die spätere Mutter von Ephraim und Manasse, bekehrt sich in den nächsten 8 Tagen zum Gott Israels. Als Joseph wieder ins Haus des Pentephres einkehrt, ist der Extratisch vergessen.40 Nun könnte man einwenden, dass ja nun alle jüdisch sind. Jedoch weit gefehlt. Am Tisch sitzen auch Pentephres, der nach wie vor ein ägyptischer Priester ist, und außerdem der ägyptische Pharao als Einladender. Das folgende Hochzeitsfest gerät zur ganz Ägypten umfassenden, wenn nicht sogar weltweiten, inklusiven Tischgemeinschaft, die alle zum Mitfeiern nötigt.

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Paulinische und andere jüdische Strategien zur Überwindung von Tischkonflikten

In der hebräischen Bibel essen Menschen aus verschiedenen Volksgruppen zusammen, ohne dass das Wie näher beschrieben ist. Gefordert ist der Verzicht darauf, an Opfermahlen für andere Götter teilzunehmen. In der sogenannt jüdischen-hellenistischen Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels lassen sich eine Reihe von Modifikationen dieser inklusiven Tischpraktiken beobachten. Die griechische Esther, Daniel, Tobit und Judith verzichten auf von Nichtjuden zubereitetes Essen und Getränke. Daniel wählt bestimmte, vermutlich nicht gekochte oder vegetarische Speisen aus, die er sich vom Speisemeister des babylonischen Königs geben lässt. Judith bringt ihre Speisen nebst Küchenhilfe mit. Die makkabäischen Märtyrer machen den Verzicht auf Fleisch – konkret Opferfleisch – zum Symbol ihres Widerstands. Joseph in JosAs 7–8 erhält zunächst einen Extratisch, isst aber aus der Küche des Pentephres. Acht Tage später feiert er mit Pharao, dem Priester von Heliopolis und ganz Ägypten ein Hochzeitsfest. Die Jerusalemer Gesandtschaft am Hof des Ptolemäus im Aristeasbrief und Jo39 Übersetzung A.S. 40 JosAs 20,8 (B./F.); 21,80 (B./F.).

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seph, Ägypter und Hebräer in der Darstellung des Philo versammeln sich gemeinsam in einem Raum, aber jeder erhält das für ihn nach den eigenen Bräuchen zubereitete Essen. Die Juden und Jüdinnen des Dritten Makkabäerbuchs und Joseph in JosAs 20–21 lassen sich vom König ein Bankett ausrichten und aus den königlichen Speisekammern versorgen. Schließlich kann man beobachten, dass alle hier vorgestellten Erzählungen in der Diaspora spielen. Besonders beliebt sind das Umfeld und der Hof der Großen und Mächtigen, an dem jüdische Weise in höchste Ämter und Ehren aufsteigen. Es geht in diesen Erzählungen um die Bewährung jüdischer Identität unter den griechischen, ägyptischen, persischen, babylonischen Eliten, wobei letztere sicher Chiffren für die Gegenwartskultur der Lesenden sind. In der griechischen und römischen Umwelt spielt das Bankett eine zentrale Rolle zur Pflege politischer Freundschaft und Demonstration gesellschaftlichen Status. Nicht nur die Frage des Mit-Wem und Wo, sondern auch das Was charakterisieren dabei kulturellen Status. Dies wird besonders in Abgrenzungsdiskursen deutlich. Philo von Alexandrien erklärt z. B. den jüdischen Verzicht auf Blutgenuss und Aas mit einer Abgrenzung zum Volk der Sardanapalloi: Einige Sardanapalloi steigern ihre unermesslich gierige Unmäßigkeit bis ins Grenzenlose und Unendliche und bereiten, unter Erfindung neuer Begierden, das nicht geopferte Fleisch so zu, dass sie das Wesen der Seele, die man frei und heilig belassen muss, ersticken und erwürgen (ἄγχοντες καὶ ἀποπνίγοντες) indem sie das Blut mit dem Körper begraben.41

In einer Art von ethnographischer Beschreibung dient das Beispiel eines barbarischen Volkes der »Sardanapalloi« und seiner unzivilisierten Bankettkultur als negatives Gegenüber, um den jüdischen Verzicht auf »erwürgte Tiere« als Kultur- und Zivilisationsgewinn zu profilieren. Dabei ist das Volk der Sardanapalloi selbst eine Konstruktion, nämlich eine Vervielfältigung der in der griechischen Literatur häufig zur Abgrenzung bemühten Figur eines letzten assyrischen Königs Sardanapalos, eines schwelgerischen Lustmenschen, der jeglichem Gaumengenuss nachgejagt sein soll und entsprechend dem Untergang geweiht war.42 Die Frage nach dem Wie, Was, Wo und Mit-Wem man gemeinsam isst oder auch nicht, ist also überall eine Frage, mit der die eigene Kultur gegenüber anderen ausgezeichnet werden soll. Sie ist aber nirgends ein für alle Mal und unflexibel festgelegt. Vielmehr geht es um Aushandlungsprozesse. In diesen Prozessen wird die jeweilige Praxis begründet und dabei als Kulturgewinn 41 Philo, De specialibus legibus 4,122 (5,236,22–237,5 Cohn). Übersetzung A.S. 42 Rainer Bernhardt: Sardanapal – Urbild des lasterhaften orientalischen Despoten. Entstehung, Bedeutung für die griechisch-römische Welt und Nachwirkung, in: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik 24 (2009), 1–25.

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qualifiziert und plausibiliert. Abgrenzungen in der jeweiligen Essens- und Tischpraxis demonstrieren die Vernünftigkeit, Tradition, Beziehung zur göttlichen Transzendenz und sittlich-moralische Exzellenz der jeweiligen Heldinnen und Helden inklusive ihrer ethnischen Herkunft. Auch Paulus vertritt in der Frage des Wer, Was, Wo und Mit-Wem mehr als eine einzige Position. Behauptet er in 1 Kor 10,21, man könne nicht am Tisch der Dämonen teilhaben noch mit den Götzen trinken, wolle man Gott nicht eifersüchtig machen, so führt er wenige Verse später in durchaus spitzfindiger Kasuistik aus, wie man doch eigentlich alles kaufen und essen kann, solange man es nicht zu offensichtlich als Götzenopfer verzehrt und dem eigentlichen Gott Israels dafür dankt (1 Kor 10,25–30). Später im Römerbrief vertritt Paulus eine dritte Position, die vor allem die Achtung auf die Verletzlichkeit des Gegenübers ins Zentrum stellt. 14 Ich weiß und bin überzeugt im Herrn Jesus, dass nichts an sich unrein ist, außer für jemand der etwas als unrein erachtet, für die und den ist es unrein. 15 Wenn aber deine Schwester oder dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, handelst du nicht mehr nach dem Maßstab der Liebe. Du darfst nicht mit deiner Speise jenen ins Verderben bringen, für den Christus gestorben ist. 16 Es darf doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt. 17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. (Röm 14,14–17)43

Auch wenn man selbst keinerlei Götzenspeise kennen möchte und sich sogar über Toragebote über essbare und nicht essbare Tiere, Pflanzen, Blut oder Aas hinwegsetzt, so darf man es nach dem Maßstab der Liebe nicht essen, solange irgendjemand davon bedrängt ist.44 Man fragt sich, wie die Geschichte wohl verlaufen wäre, hätte Paulus diese irenische Haltung auch damals in Antiochien verfolgt.45 Möglicherweise ist diese Frage allerdings falsch gestellt. Denn auch ohne den antiochenischen Zwischenfall hätten die vielfältigen, nicht nur in der jüdischen Kultur, sondern in der ganzen Antike geführten Aushandlungsprozesse um Tischgemeinschaft und Speiseverzicht zur gegenseitigen Profilierung und 43 Übersetzung A.S. 44 In V. 14 scheint Paulus eine radikal antik-makkabäische Position einzunehmen oder auch zu charakterisieren (vgl. 1 Makk 1,47.62). Dass diese Position nicht der generellen paulinischen Haltung entspricht, zeigt z. B. 1 Kor 10,21–30. Vgl. auch 1 Kor 11,27–34. Vor allem spricht Paulus im Kontext von »Gemüseessen«, also Vegetarierinnen oder Veganern und von solchen, die Tage beachten (Röm 14,2–7). Letzteres trifft in der Antike auf alle religiösen und viele politische Praktiken zu, ersteres, soweit nicht nur temporär, z. B. auf die Pythagoreerinnen und Pythagoreer. Anders Eschner: Essen (s. Anm. 8), 320–348. 45 Eschner fragt dies nicht, denn sie trennt zwischen einem Konflikt um Speisen in 1 Kor 8,1– 11,1 und Röm 14,1–15,13 und einer Auseinandersetzung um Tischgemeinschaft in 1 Kor 5,1– 13 und Gal 2,11–21 (Eschner: Essen [s. Anm. 8], 284–348 und 385–466). Die beiden Konfliktfelder lassen sich jedoch, wie oben gezeigt, kaum unterscheiden.

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Identitätsbildung geführt. Dabei geht es – wie die Beispiele von Judith, dem Joseph in der Genesis und in Joseph und Aseneth sowie Paulus besonders eindrücklich zeigen – nicht darum, eine einzige, festgelegte und konsistente Position einzunehmen und durchzuhalten. Es geht vielmehr darum, sich mit bewusstem Essen und Nichtessen, der Wahrnehmung der Anderen und der Demonstration der guten Sitten den eigenen und situativ notwendigen Beitrag zur Gemeinschaftsbildung zu profilieren.

Schluss Ich hoffe mit dieser kleinen Einordnung von paulinischen Positionen in das Umfeld der jüdisch-hellenistischen Diskussionen über das gemeinsame Essen von jüdischen und nicht-jüdischen Menschen gezeigt zu haben, dass es an der Zeit ist, die erste und zweite Meistererzählung zur Entstehung des Christentums hinter sich zu lassen und sich der dritten zuzuwenden. Dabei geht es vor allem um die Wahrnehmung der produktiven Rolle von Konflikten in der Geschichte und Vielfalt antiker Juden- und Christentümer. Streit ist mehr als die Bewährungsprobe für die eigene, als einzige wahre behauptete Position. Streit führt zu Aushandlungsprozessen, in denen – in den besseren Fällen – am Ende alle Seiten ihren Horizont erweitern und die komplexe Wirklichkeit Gottes neu wahrnehmen lernen.

Uta Heil

Streitende Heilige und heilsamer Streit. Zur christlichen Streitkultur in den ersten Jahrhunderten

Abstract The history of Christianity has been filled with disputes from the very beginning and has handed down many actual or literary staged disputes: namely an arranged public event in front of an audience, the course and outcome of which was recorded, in which two or more opponents engaged in a dispute with the aim of convincing the other of his or her position, with the participation of listeners as witnesses and usually also a judge figure. A special phenomenon not systematically researched so far are disputes in the context of hagiographic literature. The article presents some examples from Late Antiquity (Pseudoclementines, Acts of Philip, Acts of Silvester, Acts of martyr Athanasius of Clysma, Athanasius’ Vita of Antonius, Marcus Diaconus’ Vita of Porphyrius, Legend about Cyril of Alexandria) and tries to fathom why even in these genres theological disputations are incorporated.

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Streit in der Apostelgeschichte

Ein Streit kann eine zerstörerische Dynamik entwickeln und kaum überbrückbare Verwerfungen provozieren. Die 2000-jährige Geschichte des Christentums ist gut gefüllt mit Streitfällen, die zu Verurteilungen, Schismen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt haben.1 Ein gut geführtes Streitgespräch kann allerdings auch dazu beitragen, Konflikte zu überwinden oder wenigstens einen Lösungsweg aufzuzeigen. Hier hat die Geschichte des Christentums ebenfalls einiges Interessantes zu bieten, auch wenn manche idealisierende

1 Dieser Aspekt der Geschichte des Christentums bietet natürlich Angriffsfläche für Kritik, so schon für Celsus (vgl. die Fragmente in Origenes, Contra Celsum 5,61–64; 3,10; 3,12; 5,61–64) und in der Gegenwart beispielsweise für Karlheinz Deschner in ders.: Kriminalgeschichte des Christentums 1–10, Reinbeck 1986–2013.

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Darstellungen vor allem der Anfänge des Christentums keinen Raum für Konflikte zulassen wollen.2 Aber selbst der Autor der Apostelgeschichte, die gerne als Quelle für ein harmonisches Miteinander der sogenannten Urgemeinde herangezogen wird, berichtet bereits sowohl von Eintracht und Einmütigkeit als auch von Hader und heftigen Auseinandersetzungen. Seine bevorzugte Vokabel für die Eintracht ist das Adverb ὁμοθυμαδόν: Nach Apg 1,14 waren alle Apostel »beharrlich einträchtig im Gebet zusammen (ἦσαν προσκαρτεροῦντες ὁμοθυμαδὸν τῇ προσευχῇ) mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern«;3 nach Apg 2,46 waren alle Glaubenden »jeden Tag beharrlich einträchtig im Tempel (καθ᾿ ἡμέραν τε προσκαρτεροῦντες ὁμοθυμαδὸν ἐν τῷ ἱερῷ)«.4 Auch die Menge (οἱ ὄχλοι), die Philippus zuhört, wird in Apg 8,6 als einträchtig (ὁμοθυμαδόν) qualifiziert, allerdings ebenfalls diejenigen, die Stephanus steinigen (Apg 7,57), die jüdischen Kritiker des Paulus in Korinth (Apg 18,12) und die Gruppe der Empörten von Ephesus, die im Theater die Gefährten des Paulus ergreifen (Apg 19,29). Damit sind bereits einige Verwerfungslinien aufgezeigt, hinzu kommen natürlich Auseinandersetzungen unter den Christen selbst. Besonders heftig wurde über die Modalitäten der Bekehrung der Heiden (τὴν ἐπιστροφὴν τῶν ἐθνῶν Apg 15,3) gestritten – nur hier kommen in der Apostelgeschichte στάσις (Aufruhr, Apg 15,2) und ζήτησις (Wortgefecht, Apg 15,2.7) in einem binnenchristlichen Kontext vor.5 Beigelegt wurde der Streit nach dem Autor der Apostelgeschichte auf einer Art Generalversammlung mit Streitgesprächen als gerichtliche altercatio vor der Gruppe der Apostel und Ältesten (Apg 15,6) und der Gemeinde als Zuhörer (15,12.22). Geboten werden die Voten für die Heidenmission von Petrus (15,7–11), Paulus und Barnabas (15,12 summarisch) sowie Jakobus (15,13–21); die Gegenposition kommt in der Apostelgeschichte nicht zu Wort. Obwohl also ein langes Streitgespräch geführt wurde (πολλῆς δὲ ζητήσεως γενομένης Apg 15,7), heißt es im Ergebnis ausweislich des Schreibens der Versammlung an die Gemeinde von Antiochien, dass man einmütig eine Lösung gefunden habe (ἔδοξεν ἡμῖν γενομένοις ὁμοθυμαδόν […] Apg 15,25). Die Eintracht konnte also wiederhergestellt werden, was ein Hauptanliegen des Verfassers der Apostelgeschichte gewesen ist. Leider berichtet er nicht im Detail, wie es seiner Meinung nach zu der Über2 Vgl. dazu Ulrich Volp: Idealisierung der Urkirche (ecclesia primitiva), 2011, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. Institut für Europäische Geschichte (IEG), verfügbar unter: http://www.ieg-ego.eu/volpu-2011-de [20. 07. 2020]. 3 Vgl. auch Apg 2,1 (v.l.) und 4,24. Es ist eine für den Autor der Apostelgeschichte charakteristische Vokabel; im Neuen Testament verwendet sie sonst nur noch Paulus einmal in Röm 15,6. 4 Vgl. auch Apg 5,12: alle waren einmütig in der Halle Salomos. 5 Der Autor der Pastoralbriefe mahnt, sich genau davor zu hüten (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,23; Tit 3,9); s. Anm. 6.

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einkunft gekommen ist; der Eindruck, dass die Voten der Apostel überzeugt haben, muss genügen. Der einmütige Konsens gilt als Beweis für die richtige Entscheidung. Immerhin lässt der Verfasser erkennen, dass es für ihn selbstverständlich ist, das Ergebnis schriftlich festzuhalten, auch, um es anderen Gemeinden mitteilen zu können.

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Streitkultur und Streitgespräche

Der Verfasser der Apostelgeschichte kam also nicht umhin, von Differenzen und Auseinandersetzungen zu berichten. Es ist offensichtlich, dass einer Empfehlung wie in den Pastoralbriefen, Streit zu meiden,6 nicht immer gefolgt werden konnte. Seit dem zweiten Jahrhundert entstand im Christentum sogar eine eigene Streitkultur mit dem besonderen Phänomen der Streitgespräche: Gemeint ist ein verabredetes öffentliches Ereignis vor Publikum, dessen Verlauf und Ergebnis festgehalten wurde, bei dem zwei oder mehrere Gegner eine Auseinandersetzung führten mit dem Ziel, den anderen von seiner Position zu überzeugen, was gelingen oder fehlschlagen konnte, unter Anteilnahme von Zuhörern als Zeugen und meist auch einer Richterfigur.7 Derartige öffentliche Streitgespräche waren also für moderne Augen und Ohren außergewöhnliche Ereignisse: ein öffentlich ausgetragener Disput über das wahre Göttliche oder Weltanschauungen als Massen- und Medienereignis. Hier wurde eine vor allem in der »Zweiten Sophistik« neu aufblühende griechische Streitkultur aufgenommen und in Auseinandersetzungen über jüdische Traditionen, pagane Philosophie und christliche Häresie angewandt und weiterentwickelt, sodass Streitgespräche parallel zur Ausbildung einer christlichen Lehre einhergingen und der Konfliktlösung in einem theologischen Streit dienen konnten. Daher ging es nicht nur spielerisch um einen errungenen Sieg in einem geistigen Duell, sondern auch um die Feststellung und Durchsetzung einer Überzeugung und »Wahrheit«.8 6 S. Anm. 5. Die drei sog. Pastoralbriefe (1. Hälfte 2. Jh.?; 130–150 n. Chr.?; wohl aus Kleinasien) kritisieren Wortgefechte (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,14; Tit 3,9 v.l.: λογομαχία – Wortgefechte führen; 1 Tim 6,5: διαπαρατριβαί – fortdauernde Streitgespräche führen [hapax legomenon]; Tit 3,9: ἔρεις; μάχας νομικάς; vgl. auch Tit 3,2 unkämpferisch sein): Einerseits kennzeichne dies innerchristliche Häretiker, deren Verstand verdorben sei und die nicht bei der »paulinischen« Lehre bleiben wollen; andererseits sollen sich die Adressaten der Briefe selbst vom Streit um Worte fernhalten und nicht in eine derartige Debatte einsteigen. 7 Vgl. dazu Uta Heil: Art. Streitgespräche, in: RAC (im Druck). 8 Dass der Antike und Spätantike unser modernes Verständnis einer political correctness fremd waren, ist selbstverständlich. Angriffe auf die Person (ad hominem) und polemische Übergriffe/ Invektiven gehörten als wirkungsvolles »Showelement« dazu. Vgl. dazu Irene van Renswoude: Crass Insults. Ad hominem Attacks and Rhetorical Conventions, in: Uta Heil (Hg.): Das Christentum im frühen Europa. Diskurse – Tendenzen – Entscheidungen (Millennium-Studien 75),

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Uta Heil

In jener Zeit entstanden auch die kirchlichen Ämter mit dem Bischof an der Spitze der Gemeinde sowie das Instrument der bischöflichen Synode. Jedoch ist keinesfalls jede Debatte oder jede Verhandlung auf einer bischöflichen Synode als Streitgespräch zu betrachten,9 noch ist jedes Streitgespräch zugleich eine Synode, auch wenn auf einer Synode ein Streitgespräch zwischen zwei oder mehr Kontrahenten gesondert anberaumt werden konnte.10 Auf synodaler Ebene wurde aber nur verhandelt, soweit noch eine Möglichkeit für eine Kirchengemeinschaft bestand. Mit paganen,11 jüdischen12 und später vor allem manichäischen Kontrahenten13 wurden außerhalb einer Synode Streitgespräche geführt, soweit es sich nachweisen lässt. Überliefert sind sowohl Hinweise auf Streitgespräche, die stattgefunden haben, als auch publizierte Protokolle oder Nachschriften eines Streitgesprächs. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass solche Mitschriften meist von der siegreichen Seite gezielt veröffentlicht wurden, worin einseitig die eigene Überlegenheit in den Vordergrund gerückt wurde, sodass diese eine geglättete und einseitige Version eines komplexeren Kommunikationsgeschehens bieten. Dar-

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Berlin 2019, 171–194 und die Beiträge in Oda Wischmeyer/Lorenzo Scornaienchi (Hg.): Polemik in der frühchristlichen Literatur (BZNW 170), Berlin 2010. Vgl. dazu Thomas Graumann: Altkirchliche Synoden zwischen theologischer Disputation und rechtlichem Disput, in: Christoph Dartmann u. a. (Hg.): Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik, Berlin 2015, 35–60; ders.: Theologische Diskussion und Entscheidung auf Synoden. Verfahrensformen und -erwartungen, in: Uta Heil/Annette von Stockhausen (Hg.): Die Synoden im trinitarischen Streit. Über die Etablierung eines synodalen Verfahrens und die Probleme seiner Anwendung im 4. und 5. Jahrhundert (TU 177), Berlin 2017, 51–81. Wie z. B. die Disputation zwischen Basilius von Ankyra und Photin von Sirmium auf dem Konzil von Sirmium 351 (Athanasius Werke [=AW] III. Dokumente zur Geschichte des arianischen Streits, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Hanns Christof Brennecke, Annette von Stockhausen, Christian Müller, Uta Heil und Angelika Wintjes, Berlin 2014, Dok. 47). Z. B. Justin versus Crescens (Justin, Apologia secunda pro Christianis 8,4–7); Gregor Thaumatorgos versus Ailianos (berichtet von Basilius von Cäsarea, Epistula 210,5). S. u. die Hinweise für Origenes; s. den Anlass für Tertullian, Adversus Iudaeos (CChr.SL 2, 1339–1396 Kroymann): Der Text sei als ein Nachtrag zu einer tatsächlich vorausgegangenen Disputation zu lesen, bei der das Publikum letztlich den Juden zum Sieger gekürt habe (1,1 [1339,2/4]: proxime accidit: disputatio habita est Christiano et proselyto Iudaeo. Alternis vicibus contentioso fune uterque diem in vesperam traxerunt. / »Vor kurzem trug sich zu: Eine Disputation fand statt zwischen einem Christen und einem jüdischen Proselyten. Abwechselnd zog jeder von beiden an einem streitenden Tau den Tag hindurch bis zum Abend.«). Zu dem hohen Anteil der dialogischen Schriften an der Adversus-Iudaeos-Literatur vgl. Lawrence Lahey: Evidence for Jewish Believers in Christian-Jewish Dialogues Through the Sixth Century, in: Oskar Skarsaune/Reidar Hvalvik (Hg.): Jewish Believers in Jesus. The Early Centuries, Peabody 2007, 581–639. S. auch unten Anm. 41 (Silvesterakten). Berühmt sind die Debatten mit Augustinus (Contra Fortunatum disputatio; Contra Felicem), aber auch Aetius rühmt sich, erfolgreich gegen Manichäer wie Aphthonius (Philostorgius, Historia ecclesiastica 3,15b) Streitgespräche geführt zu haben.

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über hinaus gibt es viele literarisch inszenierte Streitgespräche, entweder als nachgestellte oder auch rein fiktive Ereignisse. Diese Literatur greift manchmal durchaus reale Debatten auf, macht diese erzählbar und bringt sie in Erinnerung (so z. B. die spätere »Nachdichtung« der brieflich bezeugten Disputation Augustins mit Pascentius in der Collatio Augustini cum Pascentio14). Es kann aber auch eine Autorität in einem neuen Kontext »aktiviert« werden (vgl. die pseudathanasianischen Dialoge wie Dialogus I et II contra Macedonianos15) oder sich um eine gänzlich fiktive Szenerie handeln.16 Die literarische Überlieferung bedingt selbstverständlich, dass kein überlieferter Text tatsächlich eine Disputation mit einem anfangs noch offenem Ausgang wiedergibt – es sei denn, man unterstellt einem Verfasser, zu Beginn nicht zu wissen, wie er sein Werk zu Ende führen wird. Interessanterweise kommen in vielen überlieferten Streitgesprächen auch Reflexionen darüber vor, was ein gelungenes Streitgespräch ausmache und welche Fehler zu vermeiden seien. Zusammengenommen ergeben sie eine Ethik des Streitgesprächs, weisen aber zugleich darauf hin, dass diese Maßstäbe durchaus auch nicht eingehalten wurden. Als besonders problematisch erweist es sich nämlich, ein Streitgespräch zu beenden. Es werden also nicht nur die Art und Weise der Gesprächsführung, sondern auch die Geltung und Verbindlichkeit des erreichten Ergebnisses kontrovers diskutiert. Daher weisen die vielen Quellen zwar auf eine Streitkultur und einen informellen Konsens über ein gelungenes Streitgespräch hin. Es ist aber zu berücksichtigen, dass es weder eine offizielle rechtliche Regelung dafür gegeben hat noch ein theoretischer Traktat über Streitgespräche überliefert ist.17 Auch obige Definition beruht daher induktiv auf 14 Hildegund Müller u. a. (Hg.): Collatio Augustini cum Pascentio. Einleitung, Text, Übersetzung, mit Beiträgen von H.C. Brennecke, H. Reichert und K. Vössing (SÖAW.PH 24), Wien 2008; Uta Heil: Augustin-Rezeption im Reich der Vandalen. Die Altercatio sancti Augustini cum Pascentio Arriano, in: ZAC 11 (2007), 6–29. 15 Patrick Andrist: Pseudathanasianische Dialoge, in: Peter Gemeinhardt (Hg.): Athanasius Handbuch, Tübingen 2011, 355–362. 16 Z. B. De recta in Deum fide bzw. Adamantius (CPG 1726; GCS 4 Bakhuyzen); De gestis in Perside (CPG 6968; TU 4,3 Bratke); Tropaea in metropoli Damasco (CPG 7797; PO 15,2 Bardy). Hinzuweisen ist natürlich auch auf die vielen weiteren Dialoge, die nicht gesondert als Streitgespräch konzipiert sind. Zu lat. Dialogen vgl. Peter L. Schmidt: Zur Typologie und Literarisierung des frühchristlichen lateinischen Dialogs, in: Manfred Fuhrmann (Hg.): Christianisme et formes littéraires de l’Antiquité tardive en Occident (EnAC 23), Genf 1977, 101–180; zu griech. Dialogen vgl. Alberto Rigolio: Christians in Conversation. A Guide to Late Antique Dialogues in Greek and Syriac (Oxford Studies in Late Antiquity), New York 2019. 17 Hingewiesen sei aber auf die Ausführungen zur notwendigen rhetorischen Kompetenz eines Bischofs, um in einem Streitgespräch bestehen zu können und sich keine Blöße geben zu müssen, bei Augustinus, Ad Cresconium grammaticum 1,2–25; Johannes Chrysostomus, De sacerdotio 4,5–6 (siehe auch den Beitrag von Michaela Durst in diesem Band); die einzige überlieferte Bemerkung über das Abfassen eines literarischen Streitgesprächs ist Basilius von Cäsarea, Epistula 135.

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einer Quintessenz der Beobachtungen an den vielen überlieferten Beispielen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Einschätzungen variieren und es leicht war, an einem unlauteren Streitgespräch Kritik zu üben – besonders, wenn sich die in der Überlieferung unterlegene Seite beschwert. Im Folgenden seien zwei unterschiedliche Beispiele aus dem dritten Jahrhundert vorgestellt, einmal aus einer theologischen Abhandlung eines Bischofs, einmal aus den apokryphen Apostelakten – zusammengenommen zeigen beide Texte, dass theologische Disputationen verbreitet waren, und lassen eine Art Verhaltenskodex erkennen.

2.1

Dionys von Alexandrien

Dionys, zwischen 248 und 265 Bischof von Alexandrien, berichtet18 von seinem öffentlichen mehrtägigen Streitgespräch mit christlichen Chiliasten in Arsinoe, das offenbar seiner Idealvorstellung davon entspricht: Es dauerte drei volle Tage (τριῶν ἑξῆς ἡμερῶν ἐξ ἕως μέχρις ἑσπέρας), geschah mit Beteiligung von Presbytern und Lehrern von dort (τοὺς πρεσβυτέρους καὶ διδασκάλους τῶν ἐν ταῖς κώμαις ἀδελφῶν, παρόντων καὶ τῶν βουλομένων ἀδελφῶν), war eine öffentliche Veranstaltung (δημοσίᾳ τὴν ἐξέτασιν ποιήσασθαι τοῦ λόγου προετρεψάμην), hatte als Diskussionsgrundlage ein umstrittenes Buch zur Apokalypse, wurde mit Ernsthaftigkeit, Wahrheitsliebe und Gelehrsamkeit (τὸ εὐσταθὲς καὶ τὸ φιλάληθες καὶ τὸ εὐπαρακολούθητον καὶ συνετόν) sowie in Ordnung und mit Bedacht geführt (ἐν τάξει καὶ μετ’ ἐπιεικείας). Strittiges wurde benannt, auf Fragen ließ man sich ein, ohne hartnäckig und streitsüchtig an Unhaltbarem festzuhalten (ει᾿ καὶ μὴ φαίνοιτο ὀρθῶς ἔχοντα, παραιτησάμενοι, μήτε δὲ τὰς ἀντιλογίας ὑποστελλόμενοι); beide Seiten waren zu Kompromissen bereit.19 Die Darstellung des Dionys fiel gewiss 18 Im zweiten Buch seines Werks De promissionibus, woraus wiederum Euseb von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte zitiert: Euseb, Historia ecclesiastica 7,24,6–9 (GCS Euseb 3,1, 688,9– 690,8 Schwartz/Winkelmann); die obigen Zitate sind aus diesem Abschnitt. Vgl. auch Charles L. Feltoe: Διονυσίου λείψανα. The Letters and Other Remains of Dionysius of Alexandria (CPT), Cambridge 1904, 108–125. 19 Dionys steht hier in der Nachfolge des außergewöhnlichen Gelehrten Origenes, der ebenfalls ein gefragter Disputant war: In Athen führte er eine Disputation mit Candidus (Rufin, De adulteratione librorum Origenis 7; Hieronymus, Adversus Rufinum 2,19; vgl. Euseb, Historia ecclesiastica 6,23,4); in Bostra disputierte er mehrmals mit Bischof Beryll über die Präexistenz Christi (Euseb, Historia ecclesiastica 7,33,3); ein Papyrus aus Tura (SC 67; BGL 5; vgl. Euseb, Historia ecclesiastica 6,37; Rigolio: Christians in Conversation [s. Anm. 16], 60–64) bietet eine redaktionell gestaltete Mitschrift einer Disputation zwischen Origenes und Heraclides über die Seele; in Origenes, Contra Celsum 1,45 erwähnt er eine Unterredung mit anerkannten jüdischen Gelehrten (GCS 2, 95,3–4 Koetschau: πρὸς Ἰουδαίων λεγομένους σοφοὺς διαλέξει) vor einem größeren Publikum, das auch über den Streit ein Urteil fällen solle (πλειόνων κρινόντων; vgl. auch Contra Celsum 1,55); in seinem Brief an Julius Africanus (SC 302, 523/73) spricht er

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auch deswegen so wohlwollend aus, weil er sich durchsetzen konnte und sein Gegner Korakion vor dem Publikum der mitanwesenden Christen zum Schluss bezeugte, dass er nicht mehr darüber disputieren und lehren werde (ἐν ἐπηκόῳ πάντων τῶν παρόντων ἀδελφῶν ὡμολόγησεν καὶ διεμαρτύρατο ἡμῖν μηκέτι τούτῳ προσέξειν μηδὲ διαλέξεσθαι περὶ τούτου μηδὲ μεμνῆσθαι μηδὲ διδάξειν). Deshalb diente der Bericht über die vorbildliche Disputation auch der Bewerbung und Verteidigung des Erreichten. Dionys hat genau das umzusetzen versucht, was auch von der Disputation des Origenes mit Heraclides20 überliefert ist: Ein Streitgespräch ziele letztlich auf eine Festlegung der wahren Lehre, die schriftlich niedergelegt werde und von den Beteiligten zu unterschreiben sei, damit darüber keine neuen Unruhen mehr entstünden oder weitere Untersuchungen notwendig seien.21 Damit das aber wohlüberlegt geschehe, sei erst gründlich und nicht oberflächlich zu debattieren.22 Wenn aber einmal ein Konsens erreicht worden sei, gelte das Ergebnis als verbindlich und keiner solle mehr nach einem Anlass zu weiteren Diskussionen suchen.23 Andernfalls sei derjenige aus der Gemeinde ausgeschlossen. Interessant ist die Verbindung von diskursiven Elementen bzw. rationaler Argumentation mit rechtlichen Konsequenzen: Weder bleibt also das Gespräch ohne Folgen noch verfügt Dionys einfach eine Verurteilung ohne Überzeugungsarbeit in einem Streitgespräch. Sowohl Origenes als auch Dionys legen aber Wert darauf, dass ein erreichtes Ergebnis auch zu gelten habe und nicht wieder hinterfragt werden dürfe. Diese Überzeugung hat eine unmittelbare kirchenrechtliche Konsequenz zur Folge: Wenn auf diese Weise unter Christen eine Häresie festgestellt wurde, gelten deren Anhänger als Häretiker und werden aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Dass genau darüber erneute Verwerfungen aufbrechen konnten, zeigt beispielsweise der Beginn des arianischen Streits, als Arius und seine Anhänger ihre Niederlage in einer von Alexander von Alexandrien veranstalteten Disputation nicht akzeptieren wollten und außerhalb Alexandriens Unterstützung suchten, mithin die allgemeinkirchliche Geltung des Ergebnisses

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ebenfalls von Debatten mit Juden über Schriftstellen, die offenbar häufiger geschahen (9 [534,12]: πρὸς Ἰουδαίους διαλεγόμενοι) und für die man sich dementsprechend vorzubereiten habe (534,12: τοιαύτης γὰρ οὔσης ἡμῶν τῆς πρὸς αὐτοὺς ἐν ταῖς ζητήσεσι παρασκευῆς). Dazu s. Anm. 19. Origenes, Disputatio cum Heracleida 4 (SC 67, 62,18–21 Scherer): Πολλάκις γράφουσιν ὑπογράψαι, καὶ τὸν ἐπίσκοπον ὑπογράψαι καὶ τοὺς ὑπονοουμένους καὶ ὑπογράψαι ἐπὶ τοῦ λαοῦ παντός, ἵνα μηκέτι περὶ τούτου γένηται στάσις ἢ ζήτησίς τις; 6 (68,5–6 S.): Ει᾿ ἀρέσκει ταῦτα, καὶ ταῦτα ἐπὶ διαμαρτυρίας τοῦ λαοῦ ἔσται νενομοθετημένα καὶ πεπηγμένα. Origenes, Disputatio cum Heracleida 3 (58,1–2 S.): Τὸ νῦν προκείμενόν ἐστιν οὐ λαβόντα πρόβλημα παρέρχεσθαι καὶ εἴρειν. Origenes, Disputatio cum Heracleida 5 (64,3 S.): ἀφορμὰς παρέχοι ζητήσεσιν.

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der alexandrinischen Disputation hinterfragten.24 Alexander wehrte sich gegen diese Infragestellung mit der Ankündigung, dass jeder, der Arius unterstütze, automatisch ebenfalls als Häretiker zu gelten habe.25 Außerdem warf Alexander dem Arius vor, wie Paul von Samosata zu denken – jener war nach einer Disputation auf einer Synode in Antiochien im Jahr 268 n. Chr. verurteilt worden26 –, und versuchte, ihn damit als eigentlich bereits mehrfach verurteilten Häretiker zu diskreditieren. Genützt hat das wenig, wie der weitere Verlauf des trinitarischen Streits zeigt. Einen Streit zu führen ist also eine Sache – ihn zu einem guten Ende zu führen, eine andere. Dieses Problem durchzieht viele Quellentexte. Dionys selbst bietet demnach folgende Lösung: Wenn ein Gespräch oder eine Disputation mit Umsicht und Verstand gründlich geführt wurde, dann müsste auch das Ergebnis für alle akzeptabel sein.

24 Nach Sozomenus, Historia ecclesiastica 1,15,4.6 begann der trinitarische Streit in Alexandrien mit einer ersten Verurteilung des Arius, eines geübten Dialektikers (Historia ecclesiastica 1,15,3 [GCS NF 4, 33,2–3 Hansen]: διαλεκτικώτατος δὲ γενόμενος), dem zwei Disputationen vorausgegangen seien, der Alexander zunächst als neutraler Schiedsrichter vorgesessen habe, um beide Seiten nicht durch Zwang, sondern Überzeugung zu versöhnen (1,15,4 [33,11–13 H.]: ὁ δὲ ὑπολαβὼν ἄμεινον εἶναι περὶ τῶν ἀμφιβόλων ἑκατέρῳ μέρει προθεῖναι λόγον, ὥστε μὴ δόξαι ἀνάγκῃ ἀλλὰ πειθοῖ τῆς ἔριδος αὐτοὺς παύειν, κριτὴς καθίσας σύν τοῖς ἀπὸ τοῦ κλήρου ει᾿ς ἅμιλλαν ἀμφοτέρους ἤγαγεν). Da beide Seiten sich als Sieger erklärten, sei eine weitere Disputation angesetzt worden (1,15,5 [33,16–17 H.]: συνεδρίου δὲ πάλιν γενομένου τοσαύτας διαλέξεις ἀνακινήσαντες οὐ συνέβησαν ἀλλήλοις), auf der Alexander schließlich Partei ergriffen habe. Arius und seine Anhänger weigerten sich aber, ihre Ansichten aufzugeben und die Entscheidung von Alexander zu akzeptieren. 25 Athanasius Werke III. Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites. 3. Lieferung: Bis zur Ekthesis Makrostichos, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Hanns Christof Brennecke, Uta Heil, Annette von Stockhausen und Angelika Wintjes, Berlin 2007, Dok. 14. 26 AW III (s. Anm. 25), Dok. 17,35. Euseb berichtet (Historia ecclesiastica 7,29 [GCS 6,2, 704,10– 18 Schwartz]) über eine Synode von Antiochien im Jahr 268, die Paulus von Samosata als Häretiker verurteilt habe. Entscheidend für das Urteil war offenbar eine gesondert anberaumte Disputation zwischen einem christlichen Gelehrten namens Malchion und Paulus, die von Schnellschreibern mitgeschrieben wurde, wovon Abschriften erstellt wurden (μάλιστα δ’ αὐτὸν εὐθύνας ἐπικρυπτόμενον διήλεγξεν Μαλχίων, ἀνὴρ τά τε ἄλλα λόγιος καὶ σοφιστοῦ τῶν ἐπ’ Ἀντιοχείας Ἑλληνικῶν παιδευτηρίων διατριβῆς προεστώς, οὐ μὴν ἀλλὰ καὶ δι’ ὑπερβάλλουσαν τῆς ει᾿ς Χριστὸν πίστεως γνησιότητα πρεσβυτερίου τῆς αὐτόθι παροικίας ἠξιωμένος· οὗτός γέ τοι ἐπισημειουμένων ταχυγράφων ζήτησιν πρὸς αὐτὸν ἐνστησάμενος, ἣν καὶ ει᾿ς δεῦρο φερομένην ἴσμεν, μόνος ἴσχυσεν τῶν ἄλλων κρυψίνουν ὄντα καὶ ἀπατηλὸν φωρᾶσαι τὸν ἄνθρωπον.). Euseb zitiert anschließend leider nicht aus diesem Bericht, sondern aus dem Rundschreiben der Synode (Historia ecclesiastica 7,30).

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2.2

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Pseudoclementinen

Der zweite Text aus den apokryphen Apostelakten, die sogenannten Pseudoclementinen,27 die in weiten Teilen selbst aus Disputationen zwischen Petrus oder Clemens und dem Heiden bzw. dem Magier Simon bestehen, bietet in gelegentlichen Zwischenbemerkungen ebenfalls eine Metadebatte über Streitgespräche. Relevant sind besonders recogn. 2,25;28 3,18–19 sowie Aussagen in re27 Edition der Recognitiones von Georg Strecker in GCS 51 (Berlin 21994); Edition der Homilien ebenfalls von Georg Strecker in GCS 41 (Berlin 31992). Die Texte gehen wohl auf eine gemeinsame Vorlage eines Clemens-Romans zurück, die anscheinend um 220 im syrischen Raum entstanden ist (eventuell mit Material aus dem 2. Jh. wie in Recognitiones 1,26–71). Der nur in wenigen Fragmenten überlieferte griech. Text der Recognitiones liegt teilweise in der syr. Übersetzung (Codex der British Library Add. 12,150 von 411 n. Chr. für Recognitiones 1,1– 4,1) und vollständig in einer lateinischen Übertragung durch Rufin von Aquileia vor. Die Homilien arrangieren das Material neu und entstanden wohl etwas später als die Recognitiones. Vgl. neben den Einleitungen von Strecker auch F. Stanley Jones: An Ancient JewishChristian Source on the History of Christianity. Pseudo-Clementine Recognitions 1.27–71 (SBLTT 37; SBLCAS 2), Atlanta 1995, sowie die Einleitung in ders.: The Syriac PseudoClementines. An Early Version of the First Christian Novel (Apocryphes 14), Turnhout 2014, 7–56, und Jürgen Wehnert: Pseudoklementinische Homilien. Einführung und Übersetzung (Kommentare zur apokryphen Literatur 1,1), Göttingen 2010. Zu den Dialogen in diesem Werk vgl. Meinolf Vielberg: Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur literarischen Form des spätantiken Romans (TU 145), Berlin 2000, 161–164; Bernd Reiner Voss: Der Dialog in der frühchristlichen Literatur (STA 9), München 1970, 60–78. 28 Diese aussagekräftige Passage Recognitiones 2,25 (66,24–67,13 S.) sei gänzlich zitiert: 1 nonnulli enim in disputationum certamine ubi errorem suum senserint confutari, causa perfugii conturbare continuo incipiunt et movere lites, ne palam fiat omnibus quod superantur; et propterea ego frequenter exoro, 2 ut cum omni patientia et quiete indago disputationis habeatur, ut et si forte aliquid minus recte dictum videtur, repetere id et apertius liceat explanare. 3 solet enim interdum aliter dici quid et aliter audiri, dum aut minus lucide profertur aut minus vigilanter advertitur, 4 et ob hoc patienter cupio haberi sermonem, ut neque subripiat alter alteri neque sermonem dicentis intempestivus sermo contradicentis inrumpat neque reprehendendi studium geramus, sed liceat, ut dixi, minus plane dicta repetere, ut examinatione iustissima clarescat veritatis agnitio. 5 scire enim debemus, quia si quis a veritate vincatur, non ipse vincitur, sed ignorantia quae in ipso est, quae est daemon pessimus, quam qui potuerit effugare, salutis accipit palmam. 6 propositum namque nobis est prodesse auditoribus, non ut male vincamus, sed ut pro agnitione veritatis bene vincamur. 7 si enim veritatis inquirendae studio sermo moveatur, etiam si quid minus plene pro humana fragilitate dicemus, deus pro ineffabili sua bonitate ea quae desunt latenter auditorum sensibus adimplebit. / »Bei einem Streitgespräch beginnen einige, wenn sie merken, dass ihr Irrtum widerlegt ist, sofort damit, um einer Ausflucht willen Unruhe zu stiften und Streit zu schüren, damit es nicht für alle offenkundig wird, dass sie besiegt sind; und deshalb ersuche ich häufig darum, dass das Erforschen bei einer Disputation mit aller Geduld und Ruhe durchgeführt wird, damit man, wenn vielleicht etwas nicht richtig ausgesprochen zu sein scheint, es noch einmal durchgehen und deutlicher erklären kann. Denn manchmal kann eine Sache auf die eine Weise gesprochen und auf eine andere gehört werden, während sie entweder weniger klar vorgetragen oder nicht sorgfältig genug behandelt wird; und aus diesem Grund wünsche ich, dass das Gespräch geduldig geführt wird, so dass weder der eine es dem anderen entreißt, noch dass eine unpassende Rede eines Widersprechenden die Rede

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cogn. 1,3; 3,1 und 2,69: Bei den endlosen Diskussionen der Philosophen gehe es nur um den Streit an sich, nicht um wahre oder falsche Überzeugungen, und es zähle allein die bessere Technik des Argumentierens, sodass eher der zufällig Clevere gewinne. Dennoch sei es auch für Christen selbstverständlich, dass Glaube und Vernunft, mithin Bekennen und Disputieren zusammengehören. Nur so werde auch eine größere Tiefe erreicht.29 Zu Beginn einer Disputation sei auch nicht nur eine Position darzulegen, die dann zerlegt werde, sondern beide Gegenpositionen seien eröffnend vorzustellen, um eine Grundlage für das Gespräch zu haben. Die Rollen in einer Disputation müssten außerdem klar definiert sein – ein Fragender sei kein Richter, und selbstverständlich seien Disputationen in Ruhe zu führen. Keiner solle sich, wenn er Widerspruch erfahre und keine Argumente mehr habe, nur auf Schmähungen verlegen oder anderweitig Unruhe stiften oder einfach das Thema wechseln, um von seinem Unwissen abzulenken, denn es gehe um die Sache an sich: Wenn jemand widerlegt werde, eines anderen unterbricht; und dass wir nicht vom Eifer getrieben werden, zurückzuweisen, sondern dass es uns, wie gesagt, erlaubt wird, das, was nicht deutlich genug gesagt wurde, noch einmal durchzugehen, damit durch fairste Prüfung die Erkenntnis der Wahrheit klarer wird. Denn wir sollten wissen, dass, wenn jemand von der Wahrheit besiegt wird, nicht er besiegt wird, sondern die Unwissenheit, die in ihm steckt, die der schlimmste aller Dämonen ist, so dass derjenige, der sie vertreiben kann, die Hand des Heils erhält. Denn unser Ziel ist es, den Zuhörern Nutzen zu bringen, nicht, dass wir schlecht siegen, sondern dass wir für die Anerkennung der Wahrheit gut besiegt werden. Denn wenn unsere Rede von dem Wunsch angetrieben wird, die Wahrheit zu suchen, so wird Gott in seiner unaussprechlichen Güte, auch was wir aus menschlicher Gebrechlichkeit weniger vollkommen aussprechen werden, insgeheim im Verständnis der Zuhörer das Fehlende ausfüllen.« Vgl. auch die englische Übersetzung des syrischen Textes bei Jones: The Syriac Pseudo-Clementines (s. Anm. 27), 143–144. 29 Recognitiones 2,69 (92,9–12 S.): Noli, inquit, putare nos quod haec fide sola recipienda esse dicamus, sed et ratione adserenda. neque enim tutum est nudae haec fidei absque ratione committere, cum utique veritas ratione non careat. 2 et ideo qui haec ratione munita susceperit, perdere ea numquam potest, qui vero absque adsertionibus ea suscipit simplicis sermonis adsensu, neque servare ea tuto potest neque si vera sint certus est, quia qui facile credit facile et recedit: 3 qui autem rationem quaesivit eorum quae credidit et accepit, quasi vinculis quibusdam rationis ipsius conligatus, numquam ab his quae credit, divelli aut separari potest. 4 et ideo quanto quis propensior fuerit in expetenda ratione, tanto erit firmior in conservanda fide. / »Glaube nicht von uns, dass wir sagen, dass diese Dinge nur durch den Glauben aufzunehmen sind, sondern dass sie auch durch die Vernunft geltend gemacht werden sollen. Denn in der Tat ist es nicht sicher, diese Dinge ohne Vernunft dem bloßen Glauben zu überlassen, denn die Wahrheit darf gewiss nicht der Vernunft ermangeln. Und deshalb kann derjenige, der diesen geschützten Weg in Vernunft auf sich nimmt, jene Wahrheit niemals verlieren; während derjenige, der sie ohne Beweise empfängt, durch die Zustimmung zu einer einfachen Aussage über sie, sie weder sicher aufbewahren kann, noch sicher ist, ob sie wahr sind; denn wer leicht glaubt, der gibt auch leicht nach. Wer aber die Vernunft für das, was er geglaubt und empfangen hat, gesucht hat, kann, wie durch Ketten der Vernunft selbst gebunden, niemals von dem, was er geglaubt hat, abgerissen oder getrennt werden. Und deshalb, je mehr jemand darauf bedacht ist, einen Grund zu fordern, umso fester wird er seinen Glauben bewahren.«

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beträfe es nicht seine Person, sondern seinen Irrtum, damit er zur Wahrheit geführt werden könne. Das ist natürlich leichter gesagt als getan bzw. akzeptiert: Wer gesteht schon gerne ein, nichts mehr entgegnen zu können! In diesem Roman wird dementsprechend eine weitere Möglichkeit erzählt, wie eine Disputation »beendet« werden kann: durch Abbruch oder Nichterscheinen eines Disputanten. So habe auch Simon Magus sich durch Flucht der offensichtlichen Niederlage entzogen (recogn. 3,63). Oder man vermeidet eine Disputation gänzlich. Auch diese Ansicht findet sich in einer Zwischenbemerkung des Petrus (recogn. 8, 58/62): Es sei lächerlich, in Disputationen, Fragen und Argumentationen (quaestionibus et disputationibus neque argumentis [255,11–12 S.]) Gottes Vorsehung begreifen zu wollen, denn das führe nur zu endlosen Debatten (ad nullum finem [256,11 S.]), da zu allem ein Gegenargument vorgebracht werden könne.30 Diese Einschätzung steht also eher in der Tradition der oben erwähnten Pastoralbriefe.

3

Streitende Heilige

Die vielen und langen Streitgespräche in den Pseudoclementinen sind gewiss eine Ausnahmeerscheinung. Dennoch weisen sie auf ein Phänomen hin: Streitgespräche in Apostelakten, Märtyrerliteratur und Viten. Es ist bemerkenswert, dass auch in diesen Literaturen Disputationen vorkommen, wo man sie auf den ersten Blick vielleicht nicht erwarten würde. Zusätzlich gibt es noch Texte wie die antimanichäischen Acta Archelai eines Hegemonius,31 in denen die Disputationen sehr sorgfältig in eine romanhafte Erzählung eingebettet werden, so dass sie Bezüge zur Gattung der Apostelakten aufweisen. Disputationen sind also nicht nur in der Form reiner Dialogschriften, sondern auch im Kontext anderer Gattungen überliefert. Die vielen Streitfälle sowie die hohe Bedeutung der Streitkultur führte offenbar dazu, auch Apostel, Märtyrer und Heilige in diesen Kontexten zu inszenieren und ihnen ein machtvolles Auftreten zuzuschreiben, sodass sie sich 30 Diese Zurückhaltung entspricht der Beschreibung Tertullians in De praescriptione haereticorum: Disputationen seien nutzlos (14,6); oft richte keine Seite gegen die andere etwas aus (18,1), da Schriftstelle gegen Schriftstelle und Fälschungsvorwurf gegen Fälschungsvorwurf stehe; auf einen Wettstreit, der keinen sicheren Sieg böte, solle man sich gar nicht erst einlassen (19,1) – obwohl er selbst durchaus streitlustig in Kontroversen Stellung bezogen hat. S. auch oben die donatistischen Gegner von Augustinus (s. Anm. 17). 31 Die Acta Archelai (CPG 3570; GCS 16 Beeson) fassen die Auseinandersetzungen mit den Manichäern in Form von Disputationen zusammen; sie entstanden in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts; es sind griechische Fragmente und eine lat. Übersetzung erhalten; das Werk wird bereits von Cyrill von Jerusalem herangezogen in Catecheses mystagogicae 6,20–35. S. auch De gestis in Perside (s. Anm. 16).

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ebenfalls auf diesem Feld als überlegene Autoritäten erweisen. Überdies könnte ausschlaggebend gewesen sein, dass in der Antike zu einem philosophischen Leben auch ein asketischer Lebenswandel gehörte32 – da lag es nahe, auch umgekehrt asketische Christen in einer philosophischen Disziplin vorzuführen. Hagiographische Literatur bot natürlich noch ganz andere Möglichkeiten, einen Sieg in einer Disputation zu erzählen, wenn rhetorische und wunderwirkende Fähigkeiten in einer Person zusammenkommen.

3.1

Philippusakten

In manchen Apostelakten wird dieser Sieg noch dadurch gesteigert, dass nicht eine Person als Kontrahent auftritt, sondern gleich Gruppen von mehreren Hundert in einer Disputation besiegt werden.33 In den griechischen Philippusakten34 beispielsweise, die den Jünger Philippus (Mk 3,18; Joh 1,43–46) mit dem Philippus aus der Apostelgeschichte (Apg 6,5; 8,4–40; 21,8–9) gleichsetzen, beginnt der Apostel einmal ein, wie es heißt, gewissenhaftes Streitgespräch frei von Missgunst (Acta 2,4 [45,4 B./B./A.]: ἐν συνέσει χωρὶς φθόνου) mit gleich 300 Philosophen in Athen.35 Das geht jedoch in ein antijüdisches Streitgespräch über mit Vorführung seiner Wunderkraft gegen den Hohepriester Hananias aus Jerusalem und dessen 500 Begleiter (Acta 2,9–24), welche die Philosophen zu Hilfe gerufen hätten, um Philippus zu widerlegen, da sie sich außer Stande gesehen hätten, selbst mit ihm zu disputieren (Acta 2,6 [47,6–7 B./B./A.]: οὐ δυνάμεθα πρὸς αὐτὸν διαλέγεσθαι). Auch in dem Erzählzyklus in Kap. 5–6 habe Philippus die Bevölkerung einer ganzen Stadt für sich gewinnen können durch ein in der

32 Askese – nicht nur als Verzicht, sondern mehr als Übung/Training auch des Körpers zu verstehen – wird auch von Philosophen praktiziert. Vgl. John M. Dillon: Rejecting the Body, Refining the Body. Some Remarks on the Development of Platonist Asceticism, in: Vincent L. Wimbush/Richard Valantasis (Hg.): Asceticism, Oxford 1995, 80–87; James A. Francis: Subversive Virtue. Asceticism and Authority in the Second-Century Pagan World, University Park 1995. 33 Vgl. Apg 2,41, wo berichtet wird, dass nach der Pfingstpredigt des Petrus sich gleich 3000 Personen taufen ließen (vgl. Apg 4,4: es waren 5000 Christen). 34 Edition in CChr.SA 11 (Acta Philippi, Bovon/Bouvier/Amsler) und 12 (Acta Philippi, Frédéric Amsler, Commentarius), Turnhout 1999; die Textkomposition stammt aus dem vierten Jahrhundert aus Kleinasiens enkratitischer Bewegung, durchaus unter Aufnahme von auch älterem Material. Frédéric Amsler u. a.: Actes de l’apôtre Philippe. Introduction et notes (Apocryphes 8), Turnhout 1996; François Bovon/Christopher R. Matthews (Hg.): The Acts of Philip. A New Translation from the Greek, Waco 2012. 35 Vgl. Paulus in Athen Apg 17,15–34. Vgl. Frédéric Amsler: Acta Philippi. Commentarius (CChr.SA 12), Turnhout 1999, 110–112; 85–127 zu Acta 2 insgesamt.

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Öffentlichkeit ausgetragenes Streitgespräch36 mit einer jüdischen Persönlichkeit namens Aristarchos (6,12–15).37 Vorab wird die große Bedeutung des Streitgesprächs in Abgrenzung zu Gewalt und Strafwundern hervorgehoben durch eine Bemerkung von Aristarchos selbst: Diskutiere mit mir über Jesus, den Gekreuzigten. Denn du sagst, er sei Gott, und dass du in seinem Namen die Wunder wirkst, die wir gesehen haben. Sei also nicht darauf aus, uns zu blenden. Denn ich weiß, dass du das kannst. Nimm lieber meine Worte auf und versuche nicht, uns durch Magie zu täuschen. Denn auch ich bin bedeutend unter den Juden und wenn ich es zulasse, werden sie dich und die, die mit dir sind, steinigen. […] Ich weiß, dass du sehr verärgert werden kannst, aber ich bitte dich beim Gekreuzigten, füge uns nicht erneut in deinem Ärger Schmerzen zu. Denn wie ich dir zuvor gesagt habe, gewähre mir deine Rede, denn ich möchte sorgfältig über Christus zusammen debattieren.38

Die Macht, Wunder zu vollbringen, wird mit dem Hinweis auf Magie als wenig überzeugend relativiert, und Gewalt auszuüben werde den Konflikt nicht lösen. Nur ein Streitgespräch über die Differenzen könne die Wahrheit ans Licht bringen. Diese Einschätzung wird mit einer weiteren Bemerkung gestärkt, die als Aufforderung der Bevölkerung die Disputation eröffnet: Wir bitten dich, Philipp, werde weder wütend, wenn du widerlegt werden wirst, noch sei in Furcht über deine Lehre. Denn wir, wenn wir die Ansichten von beiden Seiten gehört haben, werden Richter über die Wahrheit sein. Und wenn du siegen solltest, werden wir alle den durch dich verkündigten Christus glauben.39

36 Es wird bereits in 5,26 (173,4–5 B./B./A.) angekündigt: τὸν ἀγῶνά μου τὸν προκείμενόν μοι ἐν τῇ πόλει ταύτῃ. 37 Aristarchos will mit Philipp über Christus debattieren (6,12 [197,15–16 B./B./A.]: ἀκριβῶς θέλω συνζητῆσαι περὶ τοῦ Χριστοῦ). Literarkritische Beobachtungen zu den beiden Disputationen zeigen einen Zusammenhang der beiden Disputationen, ohne die Genese der Texte eindeutig klären zu können. Bovon/Matthews (Hg.): Acts of Philipp (s. Anm. 34), 17; Amsler: Commentarius (s. Anm. 35), 94–103, 248–249. Zur inhaltlichen Analyse der Disputation und ihren biblischen Bezügen ebd., 243–269. 38 Acta Philippi 6,9.12 (191,4–10; 197,13–17 B./B./A.): συνζήτησόν μοι περὶ τοῦ Ἰησοῦ τοῦ σταυρωθέντος. λέγεις γὰρ αὐτὸν θεόν, καὶ ὅτι ἐν τῷ ὀνόματι αὐτοῦ ποιεῖς ἅπερ εἴδαμεν θαυμάσια. μὴ οὖν σπεῦδε τυφλῶσαι ἡμᾶς· οἶδα γὰρ ὅτι δύνασαι. ἀπόδεξαί μου μᾶλλον τὰ ῥήματα, καὶ μὴ τῇ μαγείᾳ σου θέλε ἡμᾶς ἀπατᾶν. καὶ γὰρ ἐγὼ μέγας ει᾿μὶ ἐν τοῖς Ἰουδαίοις καὶ ἐὰν ἐπιτρέψω, λιθάσουσίν σε καὶ τοὺς μετὰ σοῦ. […] οἶδα ὅτι ὀργιζόμενος ᾿ισχύεις, ἀλλ’ ὁρκίζω σε κατὰ τοῦ σταυρωθέντος μὴ πάλιν ἐμβριμησάμενος ἐπιθήσῃς μοι ὀδύνας. καὶ ὡς εἶπόν σοι, ἀνάσχου μοι τὸν λόγον, ὅτι ἀκριβῶς θέλω συνζητῆσαι περὶ τοῦ Χριστοῦ. 39 Acta Philippi 6,12 (197,17–21 B./B./A.): καὶ οἱ ὄχλοι εἶπον· ἀξιοῦμέν σε, Φίλιππε, μὴ ὀργισθῇς ἐλεγχόμενος, μηδὲ πάλιν δειλιάσῃς περὶ τὴν διδασκαλίαν σου. ἀκούσαντες γὰρ ἡμεῖς τὰ περὶ ἀμφοτέρων κριταὶ ἀληθείας ἐσόμεθα, καὶ ἐὰν νικήσῃς, πάντες πιστεύσομεν τῷ διὰ σοῦ κηρυττομένῳ Χριστῷ. Letztlich werden die städtischen Autoritäten (6,15 [207,7–8 B./B./A.]: οἱ τῆς πόλεως ἄρχοντες) ein Urteil fällen.

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Es ist bemerkenswert, diese Aussagen in einem Text zu lesen, der eine Sammlung von Heilungswundern, Missionsansprachen, Gebeten, Visionen, Bekehrungen von Tieren, Siegen über Monster und Dämonen und anderes Wundersames bietet. Auch die hier vorgetragene Kritik an Strafwundern eines verärgerten Philippus ist nicht aus der Luft gegriffen, da der Apostel selbst tatsächlich so aufgetreten ist.40 Philippus auch als Disputant zu zeichnen, gehörte für den Verfasser offenbar zum Kanon apostolischer Tätigkeiten, die den Erfolg des Christentums ausmachen und nicht fehlen dürfen. Thematisiert wird in dieser zweiten Disputation, ob Christus tatsächlich Gottes Macht, Weisheit und Schöpfungsmittler sein könne. Der hagiographischen Erzählweise entsprechend wird der rhetorische Sieg des Apostels dennoch zusätzlich durch eine Christuserscheinung und Totenerweckung bestätigt (6,16–21), was den vorausgehenden Vorwurf, Philipp sei nur ein Magier, aufnimmt: Die Totenerweckung bezeuge, dass tatsächlich der wahre gute Gott durch ihn wirke. In der Folge werden, so die Erzählung, nicht weniger als 3000 Menschen zu Christen (6,21).

3.2

Silvesterakten

Die Kombination von Disputationen mit Wundern gibt es auch in den berühmten Silvesterakten, deren Überlieferung sehr komplex ist und die leider noch nicht in einer kritischen Edition vorliegen.41 Sie bieten – vorbereitet durch einen Brief von Konstantins Mutter Helena, die ihren Sohn angeblich zur Religion der Hebräer führen möchte, und Konstantins Antwortbrief, der daraufhin 40 Strafwunder des Philipp wurden gerade vorher in Abschnitt 6,10–11 berichtet. 41 Die Silvesterakten stammen aus dem vierten Jahrhundert nach Wilhelm Pohlkamp: Textfassungen, literarische Formen und geschichtliche Funktionen der römischen Silvester-Akten, in: Francia 19 (1992), 115–196; aus dem fünften Jahrhundert nach Tessa Canella: Gli Actus Silvestri. Genesi di una leggenda su Constantino imperatore (Uomini e mondi medievali 7), Spoleto 2006; vgl. auch Lahey: Evidence (s. Anm. 12), 599–603; Rigolio: Christians in Conversation (s. Anm. 16), 171–176. Nach Wilhelm Levison (Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende, in: Scritti di Storia e Paleographia. Miscellanea Francesco Ehrle, pubblicati sotto gli auspici di S. S. Pio XI in occasione dell’ ottantesimo natalizio 2. Per la storia di Roma [StT 38], Rom 1924, 159–247, wieder in: ders.: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, 390–465) sind sie in den lat. Fassungen A1, A2 [= A teilweise mit B kontaminiert], B1, B2 [= B teilweise mit A kontaminiert] und C [Mischtyp aus A und B] überliefert. Die Disputation (ohne Schaukampf) ist ediert in Fassung A (nach nur 2 Hss; Canella: Gli Actus Silvestri, 269–283); Fassung B (nach Hs München, Clm 14704; Canella: Gli Actus Silvestri, 284–292); Fassung C (nach C. Mombritius, Sanctuarium, Mailand um 1490; Canella: Gli Actus Silvestri, 293–309). Die Fassung B1 liegt auch in einer griech. Übersetzung vor: François Combefis: Sancti Silvestri Rom. Antistitis Acta Antiqua probatoria, Paris 1659, 253–336 (nach Pohlkamp wurden hier aber zwei HS mit zwei Fassungen in dieser Ausgabe vereint). PG 121,515–542 ist eine gekürzte Fassung C des Georg Cedrenus (11. Jh.); eine syr. Kurzfassung liegt vor bei Zacharius Rhetor; es gibt weitere syr. und armen. Übersetzungen.

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eine altercatio am Kaiserhof anberaumt habe – eine Art Verlaufsprotokoll über eine Disputation, die zwischen dem römischen Bischof Silvester und zwölf Rabbinen (pseudoapostoli genannt) am 15. März 315 (Fassung A) in der Lateranbasilika geführt worden sei. Anwesend war, so der Text, Kaiser Konstantin, seine Mutter Helena sowie der ganze Hof, und die Veranstaltung unterstand der Leitung von zwei heidnischen, somit neutralen Schiedsrichtern (ein Philosoph Craton und der Präfekt Zenophilus).42 Das Verfahren wird durch drei Ansprachen des Kaisers und der beiden Richter eröffnet. Festgelegt wird, dass nur die zwölf Rabbinen und Silvester in je zwölf Einzeldialogen disputieren, der Rest zuhört und nur die beiden heidnischen Schiedsrichter entscheiden werden. Geklärt werden sollte nichts weniger als die Frage, welche Religion den wahren Gottesglauben beanspruchen könne, wobei interessanterweise die Juden aus dem Neuen Testament heraus, die Christen aus dem Alten Testament heraus argumentieren sollten. In dieser Erzählung wird schließlich, nachdem über Beschneidung, Taufe, Trinität, Inkarnation des Gottessohnes und Schöpfung des Menschen debattiert und doch nichts entschieden worden war, ein Urteil herbeigeführt durch eine Demonstration göttlicher Macht, indem ein Rabbiner namens Zambri einen Stier durch Anrufung von Gottes Namen tötet, Bischof Silvester ihn aber ebenfalls in Gottes Namen, die Rabbinen überbietend, wieder zum Leben erweckt. Ausschlaggebend ist also letztendlich ein thaumaturgisches Gottesurteil: Es erweist sich für den Verfasser der Silvesterakten als effektiver als die vorangehende rationale Argumentation und habe zur Bekehrung von mehr als 3000 Juden sowie auch der paganen Richter geführt.43 42 In der späteren Fassung B (5. Jh.?) fehlen diese Richter; Kaiser Konstantin selbst fällt das Urteil. 43 Dieser Text ist ein gutes Beispiel für das Phänomen der Häresieübertragung auf die Juden: Christliche Lehren werden dadurch diffamiert, dass sie als vermeintlicher jüdischer Irrtum diskreditiert werden. So ist es nur ein weiterer Schritt, Juden in Disputationen auftreten zu lassen, die christliche Häresien vorbringen. Canella analysiert die dogmengeschichtlichen Zusammenhänge mit dem trinitarischen und christologischen Streit in den Silvesterakten (Gli Actus Silvestri [s. Anm. 41], 179–241). Zum Phänomen des »hermeneutischen Juden« vgl. Jeremy Cohen: Living Letters of the Law. Ideas of the Jew in Medieval Christianity, Berkeley 1999; David Nirenberg: Anti-Judaism. The Western Tradition, New York 2013. Trotzdem gehört dieser Text natürlich auch in den Kontext der wachsenden Übergriffe von Christen auf Juden und Synagogen seit dem Ausgang des vierten Jahrhunderts – auch wenn das Judentum erlaubte Religion seit Konstantin bleibt; vgl. Codex Theodosianus 16,8,9 (393): Iudaeorum sectam nulla lege prohibitam satis constat / »Es ist hinreichend festgelegt, dass die jüdische Gruppe in keinem Gesetz verboten wurde.« Im nächsten Satz des Gesetzes werden Synagogenzerstörungen bestraft. Vgl. Günter Stemberger: Zwangstaufen von Juden im 4. bis 7. Jahrhundert – Mythos oder Wirklichkeit?, in: Clemens Thoma u. a. (Hg.): Judentum – Ausblicke und Einsichten. Festgabe für Kurt Schubert zum siebzigsten Geburtstag, Frankfurt a.M. 1993, 81–114. Die vielen anti-jüdischen Traktate und Dialogschriften bleiben ein problematisches Erbe der christlichen Tradition.

108 3.3

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Märtyrerakten

In ganz anderen Kontexten stehen natürlich die Disputationen, die in den Märtyrerakten vorkommen. Hier bot das Verhör vor einem Richter oder Statthalter die Möglichkeit, das Gespräch zu einer Disputation über konkurrierende christliche und pagane Welt- beziehungsweise Gottesvorstellungen auszubauen. Das Bekenntnis des Märtyrers (»Christianus sum«) wurde sozusagen zu einem ausführlicheren Bekennen des christlichen Glaubens erweitert. Die Märtyrer gewinnen zwar nicht die Disputation, aber das ewige Leben durch die sofortige Auferstehung – so die Überzeugung der Verfasser der Märtyrerakten. Ein Abschnitt aus dem Martyrium des Athanasius von Klysma44 möge das illustrieren: […] Dann, in einem Wutanfall, sagte der Prokonsul zu ihm: Nun bringe endlich das Opfer dar und wende die Folter ab, die dich erwartet. / Τότε ὁ ἀνθύπατος πλησθεὶς θυμοῦ λέγει πρὸς αὐτόν· Θῦσον τὸ λοιπὸν καὶ ἀπαλλάγηθι τῶν μενουσῶν σε βασάνων. Der heilige Mann sagte zu ihm: Tu, was du willst. / Ὁ δὲ ἅγιος λέγει πρὸς αὐτόν· Ὃ βούλει, ποίει. Und der Prokonsul sagte: Belastet dich nicht einmal die Liebe zu deinen Eltern? / Ὁ δὲ ἀνθύπατος λέγει· Οὐδὲ τὸ πρὸς τοὺς γονεῖς σου φίλτρον κάμπτει σε; Der selige Athanasius sagte: Nein, denn die Liebe zu Gott ist größer. Denn die göttliche Schrift sagt: Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen und mit all deiner Kraft. (Dtn 6,5) / Ὁ δὲ μακάριος Ἀθανάσιος λέγει· Οὐχί, διότι ἡ πρὸς τὸν θεὸν φιλία μείζων ἐστί· λέγει γὰρ ἡ θεία γραφή· ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου καὶ ἐξ ὅλης ι᾿σχύος σου. Der Prokonsul sagte: Welchen Gott hast du oder sprichst du an? / Ὁ οὖν ἀνθύπατος λέγει· Ποῖον θεὸν ἔχεις ἢ λέγεις; Da streckte der heilige Athanasius seine Hand und seine Augen zum Himmel und sagte: Diesen, der den Himmel und die Erde und das Meer erschaffen hat, der allein existiert und ewig bleibt. / Τότε ὁ ἅγιος Ἀθανάσιος ἀνατείνας τὰς χεῖρας ει᾿ς τὸν οὐρανὸν καὶ τοὺς ὀφθαλμοὺς εἶπεν· Τοῦτον τὸν ποιήσαντα τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν, τὸν μόνον ὄντα καὶ διαμένοντα ει᾿ς τοὺς αι᾿ῶνας. Aber die Richter unterbrachen ihn mit den Worten: Warum widersprichst du dem Prokonsul? / Οἱ οὖν δικολόγοι ἐκώλυον αὐτὸν λέγοντες· Τί ἀντιτάσσῃ τῷ ἀνθυπάτῳ; Der selige Athanasius sagte: Ich habe ihm auf das, was er mich gefragt hatte, geantwortet. Denn seine Gedanken richten sich nicht auf Gott oder die Menschen, sondern auf die Dämonen. / Ὁ δὲ μακάριος Ἀθανάσιος λέγει· Πρὸς ἃ ἐπερωτᾷ με, ἀποκρίνομαι αὐτῷ· οὐ γὰρ φρονεῖ τὰ τοῦ θεοῦ, οὔτε δὲ τὰ τῶν ἀνθρώπων, ἀλλὰ τὰ τῶν δαιμόνων.

44 Vassilios Christides u. a.: The Martyrdom of Athanasius of Klysma, a Saint from the Egyptian Desert. Study, Edition & Translation of the Greek and Arabic Texts, Athens 2012. Dieser Athanasius war ein Märtyrer aus Nubien aus der Zeit der diokletianischen Verfolgung Anfang des vierten Jahrhunderts; der Text wurde aber wohl im Zuge eines Kirchenbaus unter Justinian im sechsten Jahrhundert verfasst. Der Text bezieht sich direkt und indirekt außerdem auf das Martyrium von Sergius und Bacchus. Das Zitat ist S. 77–79 entnommen; Übersetzung U.H.

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Da wurde der Prokonsul wütend und sagte zu ihm: Du hast mich beleidigt, wie es dir gefallen hat, obwohl du von mir nicht beleidigt worden warst. Aber ich werde dich ertragen, solange du nur unseren Göttern opferst. / Τότε ὀργισθεὶς ὁ ἀνθύπατος λέγει πρὸς αὐτόν· Ὅσα ἠθέλησας ὕβρισας, μὴ ὑβρισθεὶς παρ᾿ ἐμοῦ· ἀλλ᾿ ἀνέχομαί σου, μόνον θῦσον τοῖς ἡμετέροις θεοῖς. Aber der selige Athanasius sagte: Mach dir nichts vor. Kein Mensch, der wahrlich bei Sinnen ist, würde Dämonen opfern oder sie auf die Art und Weise, wie du es mir befiehlst, verehren. Denn wenn ich jemals im Namen Christi ausgepeitscht werde, wird der Ruhm bei mir sein. Denn in ihm werde ich gesegnet werden. / Ὁ δὲ μακάριος Ἀθανάσιος λέγει· Μὴ φρεναπάτα σεαυτόν· οὐδεὶς γὰρ ἀνθρώπων λογισμοῦ κύριος ὤν θύει δαίμοσιν, οὔτε μὴν προσκυνεῖ καθὼς σὺ κελεύεις ἐμὲ ποιεῖν· ἐὰν γὰρ μαστιχθῶ ὑπὲρ τοῦ ὀνόματος τοῦ Χριστοῦ, καύχημά μοί ἐστιν· ἐν τούτῳ γὰρ μακαριοῦμαι. Es sagte ihm der Prokonsul: Ich sehe, dass du entgegen der Würde und Ehre des Ansehens, das du bis vor kurzem besaßt, urteilen willst und dich weigerst, ein Opfer darzubringen. / Λέγει αὐτῷ ὁ ἀνθύπατος· Ὁρῶ σε ὅτι κατὰ τὴν προσοῦσάν σοι πρώην τῆς ὑπεροχῆς ἀξίαν καὶ τιμὴν δικαιώματα θέλοντα λέγειν καὶ μὴ βουλόμενον θῦσαι. Der heilige Athanasius sagte: Ich habe den seligen Apostel Paulus sagen hören, dass die Weisheit dieser Welt eine Torheit ist vor Gott. Denn es steht geschrieben: Ich zerschlage die Weisheit der Weisen und beseitige die Klugheit der Klugen. (1 Kor 1,18f.) / Ὁ δὲ ἅγιος Ἀθανάσιος λέγει· Ἥκουσα τοῦ μακαρίου Παύλου λέγοντος τοῦ ἀποστόλου ὅτι ἡ σοφία τοῦ κόσμου τούτου μωρία ἐστὶ παρὰ τῷ θεῷ· γέγραπται γάρ· ἀπολῶ τὴν σοφίαν τῶν σοφῶν καὶ τὴν σύνεσιν τῶν συνετῶν ἀθετήσω. Der Prokonsul sagte: Steht nicht in deinen Büchern geschrieben: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist? (Mt 22,21) / Ὁ δὲ ἀνθύπατος λέγει· Οὐ γέγραπται ἐν τοῖς βίβλοις ὑμῶν· ἀπόδοτε τὰ καίσαρος καίσαρι καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ; Der selige Athanasius antwortete: Du hast völlig recht. Er hat das gesagt, weil er geduldig mit dir ist und an dir festhält. / Ὁ δὲ μακάριος Ἀθανάσιος λέγει· Καλῶς καὶ ὀρθῶς εἶπας ταῦτα· εἶπεν διότι μακροθυμεῖ ἐφ᾿ ὑμᾶς καὶ ἀνέχεται ὑμῶν. Der Prokonsul sagte zu ihm: Wie lange wirst du noch ungehorsam sein? Komm nun zur Besinnung, du Elender, opfere den Göttern und wende dich ab von dem Schrecken, der dich erwartet! / Λέγει αὐτῷ ὁ ἀνθύπατος· Ἕως πότε ἐπιμένεις τῇ ἀπαθείᾳ; ἀνάνηψον ὀψέ ποτε, τρισάθλιε, καὶ θῦσον τοῖς θεοῖς καὶ ἀπαλλάγηθι τῶν μενουσῶν σε βασάνων. Der heilige Athanasius sagte: Ich werde nicht opfern, Prokonsul, denn ich sorge mich um meine Seele, und Du weißt sehr wohl, dass nicht nur die Christen, sondern auch die Heiden für ihre Seele sorgen. Große Persönlichkeiten unter den Heiden haben eitlen Götzendienst verachtet und würdigen die ewige Gnade, derer ich mir jetzt wünsche, gewürdigt zu werden, und ich bin auf deine Bestrafung vorbereitet. / Ὁ ἅγιος Ἀθανάσιος λέγει· Οὐ θύω, ἀνθύπατε, διότι τῆς ψυχῆς μου φείδομαι· ὅτι δὲ οὐ μόνον οἱ Χριστιανοὶ τῶν ψυχῶν αὐτῶν φείδονται, ἀλλὰ καὶ οἱ Ἓλληνες, οὐκ ἀγνοεῖς· πόσοι γὰρ ἐκ τῶν Ἑλλήνων καταφρονήσαντες τῆς ματαίας ει᾿δωλομανίας ἠξιώθησαν τοῦ αι᾿ωνίου χαρίσματος, οὗ ἐγὼ ἐπιθυμῶ ἀξιωθῆναι καὶ ἑτοίμως ἔχω διὰ τῶν σῶν κολάσεων. […]

Der Widerspruch des Prokonsuls bietet dem Märtyrer also Gelegenheit, zentrale Aussagen zum christlichen Gottesbegriff inklusive relevanter Bibelstellen vorzutragen – sogar der Prokonsul habe mit einer anderen Bibelstelle dagegenhalten können.

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Wie sehr das Verhör die Möglichkeit bot, eine Disputation zu gestalten, kann man auch am Vergleich der Versionen des Martyriums von Euplus erkennen: Während in der griechischen Rezension nur knapp formuliert wird, dass Euplus mit der Krone des rechten Glaubens ausgezeichnet werde (καὶ τῆς ὀρθοδόξου πίστεως τὸν στέφανον κομισάμενος [25,18–19 Murusillo]), ist in der lateinischen Rezension ein längerer Disput (unter Folter) gestaltet (314,24–316,24 M.). Eine weitere lateinische Fassung hat dies noch ausgeweitet und besonders um zwei eröffnende Plädoyers zu paganen versus christlichen Gottesvorstellungen erweitert.45 In den Acta disputationis sancti Acaii martyris gewinnt die Disputation sogar die Oberhand: Der Confessor Acacius habe so erfolgreich ein Streitgespräch über Monotheismus mit dem Konsul Marcianus geführt, dass er schließlich von Kaiser Decius begnadigt worden sei.46

3.4

Athanasius von Alexandrien, Vita Antonii

Für die Gattung der Heiligenviten boten natürlich die drei Gespräche des Einsiedlers Antonius mit verschiedenen Philosophen in der stilprägenden Vita Antonii des Athanasius von Alexandrien eine gute Vorlage.47 Athanasius hat mehrere Gesprächsgänge zusammengestellt: Einmal kamen zwei Philosophen zu ihm, um ihn zu testen (v.Ant. 72,2); einmal kamen andere, um ihn als ungebildet zu verspotten (73,1); schließlich kamen weitere Weise, die mehr vom christlichen Glauben erfahren wollten (74,1). Während die ersten beiden Gruppen mit einer kurzen Replik abgefertigt werden, präsentiert die Vita für die letzte Gruppe ausführliche Antworten des Antonius (74–80), die auch eine Kritik an sophisti45 Catalogus codicum hagiographicorum bibliothecae regiae Bruxellensis. Pars I, Tomus 2, Brüssel 1889, 309–314. 46 Hans Reinhard Seeliger/Wolfgang Wischmeyer (Hg.): Märtyrerliteratur. Herausgegeben, eingeleitet, übersetzt und kommentiert (TU 172), Berlin 2015, 273–290. Hier ruft innerhalb des Streitgesprächs der Konsul Marcianus aus: Quae te philosophiae disputatio vana decepit? (278,4 Seeliger/Wischmeyer). Vgl. auch die Beschwerde des Königs Karinos gegen Cosmas und Damian, dass sie nicht einbestellt worden seien für rhetorische Vorführungen (Römisches Martyrium 8 [213,8 Deubner]: οὐκ ἐκάλεσα ὑμᾶς ῥητορεύειν). Weitere Beispiele aus den Märtyrerakten sind: Martyrium Pionii (129–179 Wischmeyer/Seeliger); Apologia Phileae (223–271 Wischmeyer/Seeliger); vgl. auch Martyrium Apollonii; Passio Sergii et Bacchi; Passio Eustratii (bes. Kap. 21–22 in PG 116, 489–492); Acta Ignatii (BHG 814); Passio Ecaterinae (BHG 31). Vgl. dazu Hippolyte Delehaye: Les Passions des Martyrs et les genres litteraires, Brüssel 1921, 254–274. 47 S. die Textausgaben: Athanase d’Alexandrie: Vie d’Antoine, hg. v. Gérard J.M. Bartelink (SC 400), Paris 22004; Athanasius von Alexandrien: Vita Antonii. Leben des Antonius, hg. v. Peter Gemeinhardt (FC 69), Freiburg i.Br. 2018. Wie sehr dieser Abschnitt von Athanasius gestaltet wurde, kann man an den Parallelen zu gent./inc. von ihm erkennen, s. die Kommentierung von Bartelink zu den Kapiteln sowie in seiner Einleitung zum Werk, 36–37.

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scher Rhetorik enthalten (77,2–78,4; 80,1.6) – auch wenn Antonius selbst als klug, scharfsinnig, gebildet und ungebildet zugleich (72,1) sowie als überlegener Disputator, der die Philosophen mit Fangfragen in die Enge treibe, inszeniert wird: Ihre syllogistischen Kniffe (συλλογίζεσθαι 74,2 [SC 400, 324,4 Bartelink]), die nur dem Spott dienten, ihre beweisführenden Argumentationen (τοῖς ἀποδεικτικοῖς λόγοις ἐπερείδεσθε 77,2 [332,4–5 B.]; ἀπόδειξις λόγων [332,6.9.11.17–18 B.]), Dialektik (ἡ διαλεκτικὴ τέχνη 77,4 [332,15 B.]) und sophistischen Schlussfolgerungen (τῶν σοφιστικῶν ὑμῶν συλλογισμῶν 77,6 [332,21–22 B.]) und Wortstreitereien (λογομαχίαις 78,2 [334,9 B.]) führten zu keiner wahren Gotteserkenntnis oder Gottesverehrung. Ein machtvoller Exorzismus demonstriert die Überlegenheit des Antonius über die Philosophen, die jene Besessenen durch ihre logischen Schlussfolgerungen nicht heilen könnten (80,3). Die Vita bietet also ein doppeltes Bild: Einerseits sei Antonius ungebildet, andererseits kann er in den Auseinandersetzungen mit den Philosophen gut mithalten, ist ihnen sogar überlegen. Einerseits wird die rhetorische Kunst des Disputierens abgelehnt, andererseits sogleich souverän beherrscht; einerseits lässt sich Antonius auf eine Disputation ein, andererseits ist erst ein Exorzismus entscheidend.

3.5

Marcus Diaconus, Vita Porphyrii

Einen ähnlichen Eindruck vermittelt die Disputation des Porphyrius von Gaza († 420 n. Chr.) mit einer Manichäerin namens Julia aus Antiochien, wie sie Marcus Diaconus in seiner Vita Porphyrii 85–91 schildert:48 Porphyrius habe mit Julia, einer electa, die aus Antiochien nach Gaza gekommen sei, auf ihre Anregung hin (Vita 87 [168,8–9 Lampadaridi]: λέγε καὶ ἄκουε καὶ ἢ πείθεις ἢ πείθῃ) öffentlich debattiert; das Ganze sei schriftlich von drei Personen festgehalten worden.49 Julia habe vier Begleiter zur verabredeten Disputation (διάλογος, 48 Die Vita, wohl in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts entstanden, ist ediert von: Henri Grégoire/Marc-Antoine Kugener (Hg.): Marc le diacre: Vie de Porphyre. Texte établi, traduit et commenté (CBy), Brüssel 1930, und neu von: Anna Lampadaridi (Hg.): La Conversion de Gaza au christianisme. La Vie de S. Porphyre de Gaza par Marc le Diacre (BHG 1570). Edition critique – Traduction, Commentaire (SHG 95), Brüssel 2016. Vgl. die ausführliche Analyse von Madeleine Scopello: Julie, Manichéenne d’Antioche (d’après la Vie de Porphyre de Marc le Diacre, ch. 85–91), in: Antiquité Tardive 5 (1997), 187–209; Hagith Sivan: Between Gaza and Minorca. The (Un)Making of Minorities in Late Antiquity, in: Natalie B. Dohrmann/Annette Yoshiko Reed (Hg.): Jews, Christians, and the Roman Empire. The Poetics of Power in Late Antiquity (Jewish Culture and Contexts), Pennsylvania 2013, 121–136, in Anm. 6 zu Überlieferungs- und Echtheitsfragen. 49 Einem Diakon Cornelius, Marcus selbst und einem Barochas. Eine von Marcus erwähnte, gesondert veröffentlichte Niederschrift der Debatte ist nicht überliefert. Die Lokalität der Disputation bleibt in der Vita leider unklar. Eigentlich hätte auch Julia eigene Stenographen haben müssen – die erwähnten drei sind aus dem Klerus des Porphyrius.

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ζήτησις) mitgebracht, aber auch Porphyrius konnte Anhänger mobilisieren. Die stundenlange Debatte50 setzte nach der Vita mit einem Bekenntnis der Julia ein, die allerdings nur auf Basis weltlicher Weisheit argumentiert habe (Vita 88 [170,3–4 L.]). Porphyrius dagegen habe allein die Evangelien dabeigehabt. Beendet wurde das Ereignis jedoch durch ein Gottesurteil: Auf einen machtvollen, quasi magischen Spruch51 des Porphyrius hin sei Julia, in der er den Teufel wirken glaubte, verstummt,52 erstarrt und schließlich verstorben. Auf diesen Schrecken hin konvertierten ihre vier Begleiter. Es verwundert nicht, in einer Vita dieses Ende der Disputation zu lesen – es bezeugt einerseits die Wundermacht des rechtgläubigen Bischofs Porphyrius (auch wenn er der Vita nach kurz zuvor heidnische Zauberbücher beschlagnahmt hatte)53, andererseits exekutiert Porphyrius quasi antimanichäische Gesetzgebung persönlich.54 Das Binden der Zunge und des Mundes der Julia bringt sie darüber hinaus natürlich gewaltsam zum Verstummen – anders waren offenbar Julias Argumente nicht zu überwinden. Die Erzählung lässt somit durchscheinen, dass Porphyrius als Disputant wohl nicht gesiegt hatte, und das stützt die Einschätzung, dass der Darstellung in der Vita ein tatsächliches Ereignis zugrundeliegen dürfte. Umso wünschenswerter wäre es, wenn Akten davon überliefert wären, nicht nur diese Zusammenfassung in der Vita, nach der die Disputation so tragisch beendet wurde.55 Aber es ist bemerkenswert, dass das Streitgespräch überhaupt in der Vita einen Platz fand, außerdem mit einer disputierenden Frau. Auch in einer Vita konnte mithin der Konsens der christlichen Streitkultur, durch Argumente müsse überzeugt werden, nicht übergangen werden.

50 Marcus Diaconus bietet leider keine weiteren Informationen zum Inhalt des Gesprächs, nachdem er in Kap. 85–86 bereits eine häresiologische Zusammenfassung der manichäischen Lehre der Julia vorgestellt hatte. 51 Scopello: Julie (s. Anm. 48), 207–208 zu vergleichbaren Beispielen aus der spätantiken Magie. 52 Vgl. auch das Verstummen des Juden Karos in seiner Disputation mit dem Apostel Johannes nach den Johannesakten des Prochorus (Theodor von Zahn: Acta Ioannis, Erlangen 1880, 87– 89, hier 88). Neben diesem Strafwunder wirkt der Apostel Johannes in einer weiteren Disputation mit einem Juden namens Philo zwei Heilungswunder, die nach der Erzählung ebenfalls den Juden zur Konversion überzeugten (110–112). 53 Die Vita ist insgesamt auf das antiheidnische Engagement des Porphyrius in Gaza fokussiert. 54 Antimanichäische Gesetze vgl. Codex Theodosianus 16,5,7 von 381; 16,5,11 von 383; 16,5,18 und 20 vom 17. Juni 389 und 19. Mai 391; Codex Theodosianus 16,7,3 von 383 aus der Zeit des Kaisers Theodosius; Codex Theodosianus 16,5,35 vom 17. Mai 399 aus der Zeit von Arcadius 395–408 und Honorius 395–423; und die Gesetzgebung Justinians (Codex Iustinianus 1,5,12; 1,5,15; 1,5,18). 55 Diese Kapitel wurden daher auch aufgenommen von Iain Gardner/Samuel Nan-Chiang Lieu: Manichaean Texts from the Roman Empire, Cambridge 2004, 126–129.

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3.6

113

Cyrill von Alexandrien

Auf einer Kalksteinscherbe ist ein legendenhaftes Streitgespräch des Kyrill von Alexandrien überliefert, das er als Jugendlicher von 14 Jahren mit einer Reihe von Philosophen über Zeus, Apollon bzw. über die Macht der heidnischen Götter geführt habe.56 Anlass sei eine Auseinandersetzung mit einem Dionysos, dem Sohn eines Befehlshabers Ulpianos, gewesen, welche in eine mehrtägige Disputation mit mehreren Philosophen und Sophisten in einem Hörsaal vor vielen Gelehrten und Schiedsrichtern – man habe sich sozusagen in zwei Fraktionen gegenübergesessen – inklusive einer allgemeinen Öffentlichkeit überführt worden sei. Ein kleiner Auszug sei daraus zitiert: Am zweiten Tag aber versammelten sie sich (wieder). Dionysus sprach: »Apollon ist erhaben in seinen Taten, die er getan hat.« Kyrillos sagte: »Einstweilen wurde Zeus beschämt. Aber du sagst, dass Apollon rein sei, der doch ein Wüstling ist.« Philosophron, der Philosoph, sagte zu Kyrill: »Es ziemt sich sonst nicht, den zu schmähen, der nicht anwesend ist.« Kyrillos sagte: »Also ist er kein Gott, weil er nicht bei denen ist, die über ihn streiten. Unser Gott aber ist zu jeder Zeit bei uns.«

Kyrill habe demnach die Steilvorlage des Philosophron konsequent genutzt zur Widerlegung der Göttlichkeit des Apollon. Die Versammlung sei am dritten Tag noch weiter angewachsen; vor diesem großen Publikum habe Kyrill souverän anhand der alten Schriften der Heiden (?) sowie mit Aristoteles und Platon und auch Paulus die Philosophen widerlegt, sodass schließlich die Frage im Raum gestanden sei, ob es denn gar keinen Gott gebe. Das bot die geeignete Vorlage für Kyrill, die christliche Gotteslehre vorzustellen. Der Text ist trotz seiner Kürze eine außergewöhnliche und recht lebhafte Darstellung einer öffentlichen Disputation. Das Überlieferte endet mit der Einleitung, dass Kyrill öffentlich zu sprechen begann; da die Überschrift die ganze Episode mit »Bekehrung des Philosophron« einleitet, ist es wahrscheinlich, dass diese Disputation dementsprechend geendet hat, was aber nicht mehr erhalten ist. Die Legende knüpft gewiss einerseits an das Auftreten des 12-jährigen Jesus im Tempel von Jerusalem an (Lk 2,41–47) und bietet andererseits eine typologische Jugenderzählung, die Wichtiges aus seinem weiteren Lebensweg vorzeichnet, wie bei dem jugendlichen taufenden Athanasius von Alexandrien.57 Kyrills großes Werk Contra Iulianum, eine Entgegnung auf den antichristlichen Traktat des Kaisers Julian, Contra Galilaeos, markiert deutlich das antiheidni-

56 Fritz Hintze/Siegfried Morenz: Ein Streitgespräch Kyrills, in: ZÄS 81 (1956), 125–140. Es handelt sich um P. 14763 der Berliner Papyrussammlung und stammt wohl aus Theben. 57 Rufin, Historia Ecclesiastica 10,15.

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sche Engagement des Patriarchen.58 Darüber hinaus ergibt sich die zeitliche Koinzidenz der Disputation des 14-Jährigen – soweit sich sein Geburtsjahr ungefähr berechnen lässt – mit der Zeit der Zerstörung des Serapeions (391 n. Chr.), als sein Onkel Theophil Bischof in Alexandrien war. Außerdem ist überliefert, dass Kyrill im Jahr 414 einen neuen Wallfahrtsort in Menouthis geschaffen haben soll: Er ließ die Reliquien der Märtyrer Kyros und Johannes feierlich dorthin überführen, um in Konkurrenz zu dem dortigen Inkubations-Heiligtum der Isis ein neues christliches, überdies kostenloses Heiligtum anbieten zu können.59 Historisch möglich ist es auch, dass sich dies erst unter Petrus Mongos zugetragen hat (484 n. Chr.)60 – dann könnten die Ereignisse vielleicht ein Anlass gewesen sein, diese Legende über Kyrill zu erzählen, um das antiheidnische Engagement der alexandrinischen Patriarchen mit einer Kindheitserzählung auszuschmücken. Dieses Ostrakon ist ein außergewöhnliches Dokument für ein Streitgespräch. Es zeigt, wie populär diese Gattung war und wie kreativ sie auch hagiographisch verwendet wurde. Kyrill von Alexandrien wird als glänzender souveräner Disputant in früher Jugend vorgeführt. Die Abschrift der Legende auf einer Kalksteinscherbe, anscheinend in gekürzter Fassung, diente der Erinnerung an das antiheidnische Engagement Kyrills, auch wenn sich die Absicht und Umstände dieser Abschrift nicht mehr eruieren lassen.

58 Kyrill von Alexandrien: Contra Iulianum 1–2, hg. v. Wolfram Kinzig u. Thomas Brüggemann (Kyrill von Alexandrien Werke 1; GCS NF 20–21), Berlin 2016–2017. Vgl. auch Gerlinde Huber-Rebenich/Stefan Rebenich (Hg.): Interreligiöse Konflikte im 4. und 5. Jahrhundert (TU 181), Berlin 2020, darin bes. den Beitrag von Wolfram Kinzig: Structure and Sitz im Leben of Cyril of Alexandria’s Contra Iulianum, 111–129. 59 Kinzig: Structure (s. Anm. 58), 124. Quelle ist Sophronius von Jerusalem († 638 n. Chr.), Miracula sanctorum Cyri et Joannis 30 (PG 87/3, 3424–3676, hier 3518). Vgl. Sarolta Anna Takács: The Magic of Isis Replaced or Cyril of Alexandria’s Attempt at Redirecting Religious Devotion, in: Varia 5; Poikila Byzantina 13 (1994), 489–507; Johannes Hahn: Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.) (Klio.B 8), Berlin 2014, 104–105; David Frankfurter: Religion in Roman Egypt. Assimilation and Resistance, Princeton 1998, 71, 162–165. 60 Menouthis als Inkubationsheiligtum ist noch belegt in der Vita des Severus von Antiochien des Zacharias (Rhetor) von Mitylene (PO 2, 7–115 Kugener). Über die Zerstörung wird in PO 2, 14–39, bes. 27–33 berichtet. Vgl. Christopher Haas: Alexandria in Late Antiquity. Topography and Social Conflict, Baltimore 1997, 325–330; Edward Jay Watts: Riot in Alexandria. Tradition and Group Dynamics in Late Antique Pagan and Christian Communities (The Transformation of the Classical Heritage 46), Berkeley 2010, 234–243.

Streitende Heilige und heilsamer Streit

4

Abschließende Bemerkungen

4.1

Kein Ende der Streitgespräche

115

Die hier vorgestellten Texte bieten für moderne Leser ein ungewöhnliches Bild: in aller Öffentlichkeit ausgetragene Debatten über Religion, durchgeführt von rhetorisch gebildeten Persönlichkeiten, in der Absicht, die andere Seite von der besseren, mithin wahren Religion zu überzeugen. Auch die Passagen aus der hagiographischen Literatur belegen die Verbreitung und das öffentliche Interesse an diesen besonderen Wort-Wettkämpfen. Das Christentum hat somit bis zum Ausklang der Spätantike eine ansehnliche Zahl von tatsächlich geführten sowie literarisch inszenierten Streitgesprächen hervorgebracht. Das liegt natürlich einerseits an den vielen Konflikten, die sowohl innerhalb der christlichen Gruppen als auch mit Nicht-Christen ausgetragen wurden. Andererseits liegt dem Phänomen die Überzeugung zugrunde, dass christlicher Glaube grundsätzlich argumentativ vermittelbar sei.61 Es gab in der jüngeren Forschung eine Debatte über das angebliche »Ende des Dialogs«62 durch die Christianisierung des römischen Reichs, die inzwischen differenzierter geführt wird.63 Die Unterstellung eines Endes des Dialogs erlag vor 61 S. auch Anm. 28 und 29. 62 So provokant im Titel: Simon Goldhill: The End of Dialogue in Antiquity, Cambridge 2008. Diese Dekadenz-These ist nicht neu, geht im Grunde bis auf Rudolf Hirzel zurück (Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch 1–2, Leipzig 1895, z. B. Bd. 2, 379: Augustinus fordere, »die Vernunft […] unter die Autorität Christi und die Offenbarung [zu beugen]. Damit war der freien Bewegung des Dialogs das Todesurteil gesprochen.«), findet sich bei Hermann Jordan (Geschichte der altkirchlichen Literatur, Leipzig 1911, z. B. 262: »Überblicken wir diese ganze Entwicklung, so wird das deutlich, daß die zum Teil recht krampfhaften Versuche, in die an sich vornehme, aber doch nicht leicht zu handhabende Form des Dialogs christliche Gedanken zu kleiden, doch im allgemeinen gescheitert sind.«) und auch noch bei Manfred Hoffmann (Der Dialog bei den christlichen Schriftstellern der ersten vier Jahrhunderte [TU 96], Berlin 1966) sowie Bernd Reiner Voss (Der Dialog in der frühchristlichen Literatur [STA 9], München 1970). Zitiert sei die Kritik von Peter L. Schmidt: Zur Typologie und Literarisierung des frühchristlichen lateinischen Dialogs, in: Fuhrmann: Christianisme (s. Anm. 16), 101–180, hier 101 und 127–128 (zu Voss): Die Zeiten seien »eigentlich vorbei […] in denen antiklerikal getönte Ressentiments gegenüber der christlichen Literatur in dem ingrimmigen Aperçu sich entladen konnten, Christen hätten die Meisterwerke Platons entweiht.« »Es versteht sich, dass, wer sich derart festlegt auf einen historisch ziemlich genau fassbaren Kunst- und Literaturbegriff – nämlich den der anti-rhetorischen, von Zwecken absehenden Kunstphilosophie der deutschen Klassik […] – und diesen als inzwischen enthistorisiertes Dogma auf alle, auch vor 1770 produzierte Literatur anwendet, das Profil und die literarische Entwicklung einer von Anfang an zweckgebundenen Gattung kaum zutreffend wird einschätzen können.« 63 Es sei denn, man unterstellt einem Verfasser, zu Beginn nicht zu wissen, wie der Text enden soll. Zur Kritik an Goldhill und auch an Richard Lim (Public Disputation, Power and Social Order in Late Antiquity [The Transformation of the Classical Heritage 23], Berkeley 1995),

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Uta Heil

allem zwei Denkfehlern: erstens der Antike die moderne Diskurstheorie eines »offenen Dialogs« zu unterstellen, welche das Christentum untergraben habe, und zweitens der literarischen Überlieferung aller Dialoge nicht gerecht zu werden. Jeder publizierte Dialog, jede Debatte ist im Nachhinein konzipiert; kein schriftlich vorliegender Dialog kann also mit »offenem Ausgang« konzipiert sein. Die besondere Entwicklung einer christlichen Streitkultur mit den hier vorgestellten Streitgesprächen wurde ebenfalls nicht berücksichtigt. Die Diffusion des Streitgesprächs in hagiographische Literaturen, wie oben gezeigt, verweist auf die große Verbreitung und hohe Bedeutung solcher Disputationen – auch wenn sie in der Regel den Schluss einer Disputation auf »hagiographische« Weise konzipieren. Heilungen, Totenerweckungen und vor allem Strafwunder sind natürlich für unser Verständnis keine »Argumente«. Es wäre allerdings auch zu reflektieren, ob solche Wunder in einer Disputation mit einem Heiligen doch sozusagen als Beweismittel in der Spätantike zuzulassen sind. Für den Leser oder Hörer der Erzählungen war das jedenfalls als eine Art Gottesbeweis überzeugend.

4.2

Das Provozierende und Polarisierende der Streitgespräche

Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass nicht nur das Führen eines Streitgesprächs schwierig war, sondern auch das Beenden. Das ist natürlich besonders heikel, wenn ein Ergebnis einer Disputation kirchenrechtliche Konsequenzen hat. Überliefert sind alle möglichen Varianten: neben einer beiderseitigen Übereinkunft auch einfach ein Verstummen des Gegners, ein Abbruch, eine Flucht bzw. ein Nicht-Erscheinen, eine Bekehrung. Leider gibt die Literatur nur indirekt Hinweise auf eine Ethik eines Streitgesprächs. Für Dionys von Alexandrien bestand die Antwort darin, dass ein korrekt geführtes Streitgespräch an sich so überzeugend sein sollte, dass das Ergebnis auch für den besiegten Gegner akzeptabel sein müsste. Aus der Perspektive des Siegers lässt sich das leichter sagen als für den Besiegten. Deswegen ist die Äußerung in den Pseudo-Clementinen, dass eine Widerlegung nicht die Person, sondern nur ihren Irrtum beträfe, vgl. Averil Cameron: Dialoguing in Late Antiquity, Washington D.C. 2014; dt: Dialog und Streitgespräch in der Spätantike (SpielRäume der Antike 3), Stuttgart 2014; dies.: Can Christians do dialogue?, in: Studia Patristica 63/11 (2013), 103–120; Peter Van Nuffelen: The End of Open Competition? Religious Disputations in Late Antiquity, in: ders./David Engels (Hg.): Religion and Competition in Antiquity (Latomus 343), Brüssel 2014, 149–171; ders.: Penser la tolérance durant l’antiquité Tardive (Les conferences de l’École Pratique des Hautes Études 10), Paris 2018 (bes. 65–91); Katharina Heyden: Christliche Transformation des antiken Dialogs bei Justin und Minucius Felix, in: ZAC 13 (2009), 204–232; Robin Whelan: Surrogate Fathers. Imaginary Dialogue and Patristic Culture in Late Antiquity, in: EMEu 25 (2017), 19–37.

Streitende Heilige und heilsamer Streit

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wohl gut formuliert, aber schwer umzusetzen. Die hagiographische Literatur fand eine eigene Antwort in Wundererzählungen bis hin zu einem Strafwunder, die ihrerseits bei Lichte besehen den Finger in genau diese Wunde legt. Hier erweist sich auch die innere Dynamik eines Streitgesprächs als Problem: In so einem Disput werden die Positionen zugespitzt, sodass er einen polarisierenden Effekt entwickelt und durch kräftige Schwarz-Weiß-Zeichnung die differenzierenden Grautöne übertüncht. Nicht nur die Kontrahenten, auch die Zuhörer mussten sich entscheiden: Christen oder Juden? Heiden oder Christen? Manichäer oder Christen? »Arianer« oder Nizäner? Vielleicht blieb gerade deswegen ein öffentliches Streitgespräch weiterhin beliebt. Vor allem im Kontext des sogenannten arianischen Streits um die Trinitätstheologie war ein Streitgespräch neben Briefen, Traktaten und natürlich den Verhandlungen auf den Synoden ein gebräuchliches Mittel der Auseinandersetzung. Mittlere Positionen, die sowohl in der einen als auch in der anderen Seite ein Körnchen Wahrheit fanden, wurden dadurch ausgegrenzt. Dieses Polarisierende kann also die Gräben vertiefen und eine Spaltung provozieren. Dennoch setzt natürlich ein, sei es reales, sei es literarisches, Streitgespräch voraus, dass der Verfasser sich mit den Thesen des Gegners auseinandersetzt, und der Leser und Hörer bekommt die Chance, beide Seiten wahrzunehmen. Bei aller Zuspitzung und tendenziösen Gestaltung bieten die Streitgespräche daher einen durchaus lebhaften Einblick in die Debatten und die Streitkultur des spätantiken Christentums.

Michaela Durst

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters. Einige Bemerkungen zu Johannes Chrysostomos’ Dialog De sacerdotio

Abstract »Controversy« and »dispute« are a central feature of the dialogue De sacerdotio by the late antique preacher John Chrysostom. This applies both to the genre and to the discussed question of how the priest can argue for Christian truth in the daily agon. As far as genre is concerned, the controversy presented in the dialogue is well suited as a text for selfexamination of clerics. As for the competitive atmosphere, the dialogue seems to reflect the disputes within the priest himself, with his congregation, and with the outside world. These require personal and rhetorical skills that distinguish the public role of the priest from that of a monk in seclusion. Both perspectives are analysed in this article.

1

»Streit« in De sacerdotio

Das literarische Formenrepertoire der antiken Bildungstradition stand spätantiken Christen, häufig selbst ausgebildet bei berühmten Rhetoren, ebenso zur Verfügung wie ihren nichtchristlichen Zeitgenossen. Es wurde aber für religiöse Debatten adaptiert. Mit dem Dialog De sacerdotio des spätantiken Predigers Johannes Chrysostomos (ca. 349–407)1 liegt ein Text vor, der ein interessantes Beispiel für die literarische Präsentation einer Streitsituation bietet und im Dialog ein Priesteramt konturiert, dessen zentrales Charakteristikum der Agon, also Kampf und Streit ist. Johannes spricht meist vom Priester (ἱερεύς).2 Wie in 1 Zu Leben und Person vgl. allgemein John N.D. Kelly: Golden Mouth. The Story of John Chrysostom – Ascetic, Preacher, Bishop, New York 1995; Rudolf Brändle: John Chrysostom. Bishop – Reformer – Martyr (Early Christian Studies 8), Strathfield 2004 sowie Pauline Allen/ Wendy Mayer: John Chrysostom, in: Philip F. Esler (Hg.): The Early Christian World 2, London 2000, 1128–1150. Konzentriert auf die beiden Wirkungsstätten vgl. auch Frauke Krautheim: Das öffentliche Auftreten des Christentums im spätantiken Antiochia. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung der Agonmetaphorik in ausgewählten Märtyrerpredigten des Johannes Chrysostomos (STAC 109), Tübingen 2018 (zu Antiochien) und Claudia Tiersch: Johannes Chrysostomos in Konstantinopel (398–404) (STAC 6), Tübingen 2000. 2 Vgl. Michael Fiedrowicz: Einleitung, in: ders. (Hg.): Johannes Chrysostomos: De sacerdotio. Über das Priestertum. Mit einer Studie zu Werk und Rezeption, Fohren-Linden 2013, (9–119)

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vergleichbaren Texten anderer Autoren ist damit aber wohl keine Unterscheidung von Priester- und Bischofsamt gemeint, sondern allgemein das kirchliche Leitungsamt.3 Es scheint Johannes vor allem darum zu gehen, monastische Ideale mit dem öffentlichen Amt in der Gemeinde zu vermitteln, gleichzeitig aber auch kirchliches Leitungsamt und Mönchtum voneinander abzugrenzen. Der Dialog wird in diesem Beitrag aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen wird der erzählte Streit analysiert (Abschnitt 3): ein Streit unter Freunden, zwischen Johannes und einem »Basilius«4. Dieser als Dialog5 präsentierte Streit lässt sich als Instrument zur Selbstprüfung verstehen und damit als Beitrag zu einer Debatte über die Qualifikationen eines Priesters/Bischofs in der Spätantike. Zum anderen beschreibt Johannes den »vielgestaltigen« Agon genauer, für den eine solche Prüfung nötig ist (Abschnitt 4): Der Priester findet sich in einem ständigen (Wett-)Streit vor: um rhetorische Brillanz, um Überzeugung, über Glaubensmeinungen, mit seinen Affekten. Das »Setting« zu Beginn des Dialoges ist schnell erzählt: Der Text setzt ein mit dem Idealbild einer Freundschaft zwischen einem »Basilius« und Johannes, die lange Zeit von Einheit sowie einer frappierenden Gleichheit in Abstammung, Ausbildung und Geisteshaltung (γνώμη) geprägt war.6 Es geschieht, was geradezu topisch ist:7 Johannes verliert sich in der Welt und ihren Begierden (ἐπιθυμίαι). Basilius hingegen verschreibt sich dem mönchischen Leben, der »wahren Philosophie«.8 Gestört ist zunächst nicht die Freundschaft (φιλία),9 aber die

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38; Manfred Lochbrunner: Über das Priestertum. Historische und systematische Untersuchung zum Priesterbild des Johannes Chrysostomos (Hereditas 5), Bonn 1993, 29. Zum Priester- bzw. Bischofsamt in der Antike vgl. die Monographie von Claudia Rapp: Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition (The Transformation of the Classical Heritage 37), Berkeley 2005. Vgl. Rapp: Holy Bishops (s. Anm. 2), 42. Vgl. speziell zu Johannes ebd., 44–45; John H.W.G. Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom. Clerics between Desert and Empire, Oxford 2011, 167 (mit Anm. 4); Jutta Tloka: Griechische Christen – Christliche Griechen. Plausibilisierungsstrategien des antiken Christentums bei Origenes und Johannes Chrysostomos (STAC 30), Tübingen 2005, 228–229. Die Rede vom Priester ermöglicht außerdem alttestamentliche und christologische Analogien, bspw. in der Schilderung der Eucharistie. Zu Basilius vgl. unten Anm. 14. Zur Gattung vgl. Anne-Marie Malingrey: Introduction, in: dies. (Hg.): Jean Chrysostome. Sur le Sacerdoce (Dialogue et Homélie) (SC 272), Paris 1980, (7–25) 15–19; Fiedrowicz: Einleitung (s. Anm. 2), 40–42. Vgl. die Termini in Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,1, wie z. B. ὁμόνοια, ὁμότιμος usw. (SC 272, 62,16.21 Malingrey). Vgl. bspw. auch Augustinus, Confessiones 4,1. Dazu z. B. Jan Stenger: Where to Find Christian Philosophy? Spatiality in John Chrysostom’s Counter to Greek paideia, in: JECS 24/2 (2016), 173–198. Zum Freundschaftsdiskurs bei Johannes vgl. Maria Verhoeff: »More Desirable than Light Itself«. Friendship Discourse in John Chrysostom’s Soteriology, Diss., Leuven 2016. Vgl. zu den Charakteristika antiker Freundschaft auch Alfons Fürst: Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike (BzA 85), Stuttgart 1996. Im Dialog finden sich

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

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Gleichheit (ι᾿σότης).10 Zur maximalen Irritation der Freundschaft kommt es wenig später:11 Als Basilius von dem Gerücht erfährt, Johannes und er könnten ins Priesteramt (ἱερωσύνη) erhoben werden, möchte er sich mit seinem Freund abstimmen, um weiterhin einmütig in Wollen und Handeln zu sein. Johannes weiß, dass sein Freund ihm auch folgen würde, wenn er sich diesem Amt entziehen wollte. Er gerät in ein Dilemma: Johannes hält den Freund für das Amt geeignet, sich aber nicht. Um eine so fähige Leitungsperson der »Herde Christi« nicht abspenstig zu machen, greift Johannes zum Verschweigen seiner wahren Absichten, zur List. Basilius wird geweiht, ebenfalls dramatisch erzählt, mit weiteren Täuschungen und Zwang, nun von Seiten der Weihenden. Die beiden Freunde treffen wieder aufeinander, Basilius von »Mutlosigkeit« (ἀθυμία)12 gezeichnet und tränenüberströmt, Johannes überglücklich, dass sein Plan aufgegangen ist. Basilius ist zutiefst gekränkt. Hier beginnt der eigentliche Dialog zwischen den beiden: ein Streit über Freundschaft und ein Streit über das Priesteramt.

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Zur Funktion der Rahmenhandlung und Datierung des Dialoges

Was auf den ersten Blick wie eine Begebenheit aus Johannes’ Leben wirken könnte, wird etwa seit dem 20. Jahrhundert meist für literarische Fiktion gehalten.13 Bisher war es auch nicht möglich, die Gestalt des »Basilius« überzeugend

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zahlreiche Charakteristika, etwa: dass Basilius Johannes in allem folgt (Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,6), dass er ungefragt seine Hilfe anbietet (2,6) usw. Basilius sieht von Johannes die »Offenheit« in der Freundschaft verletzt, Johannes sei überdies nur an seinem Vorteil interessiert, deshalb sei die Freundschaft Makulatur (1,4). Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,2. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,3. Zur ἀθυμία bei Johannes vgl. z. B. Jessica Wright: Between Despondency and the Demon. Diagnosing and Treating Spiritual Disorders in John Chrysostom’s Letter to Stageirios, in: Journal of Late Antiquity 8/2 (2015), 352–367; Ulrich Volp: »That Unclean Spirit Has Assaulted you From the Very Beginning«. John Chrysostom and Suicide, in: Jane Baun u. a. (Hg.): Papers Presented at the Fifteenth International Conference on Patristic Studies Held in Oxford 2007 4. Cappadocian Writers, the Second Half of the Fourth Century (Greek Writers) (StPatr 47), Leuven 2010, (273–286) bes. 281–284. Zur Frage nach einem historischen Anhalt vgl. Malingrey: Introduction (s. Anm. 5), 19–22; Fiedrowicz: Einleitung (s. Anm. 2), 25–30. Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom (s. Anm. 3), 166–167, hält demgegenüber daran fest, dass die Rahmenhandlung »genuinely autobiographical« sei (167). Er betont aber ebenso den topischen Charakter der Flucht, mit der der Eindruck von Ruhmsucht verhindert werden solle (171). Zu ähnlichen Texten, etwa die Rede Gregors von Nazianz De fuga vgl. Rapp: Holy Bishops (s. Anm. 2), 41–55. Anders als in der Rede Gregors revidiert Johannes allerdings am Ende seine Entscheidung, das Amt abzulehnen, nicht.

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einer historischen Person zuzuordnen.14 Auf der literarischen Ebene, jenseits der historischen Frage, bilden Johannes und Basilius, wie bspw. Lochbrunner zeigt, zwei »Rollen« ab: Die Figur des Johannes repräsentiert mit der Flucht die »Unwürdigkeit«, Basilius mit der Anerkennung den »Gehorsam«.15 Ähnlich spricht Rapp von »rhetorical-role play«, akzentuiert aber stärker das Verhältnis zum Mönchtum, Basilius als ehemaliger Mönch, der Priester wird, und Johannes, der Mönch bleibt.16 Auf der Gesprächsebene darf aber nicht übersehen werden, dass Johannes keinesfalls einen primär apologetischen Gestus einnimmt, sondern gegenüber der Gestalt des Basilius letztlich auch pädagogisch agiert. Die langen monologischen Redeanteile des Johannes wären dann weniger ein missglückter Dialog, der eigentlich ein Monolog ist, oder rein apologetisch, sondern würden dieser mäeutischen Lehrerrolle entsprechen, Basilius zur richtigen Einschätzung des Amtes zu verhelfen.17 Aus dieser Perspektive können die beiden gegensätzlichen »Rollen« auch als Teil eines Textes zur Selbstprüfung für Priesteranwärter verstanden werden.18 Hat Johannes einen solchen Text bereits während seines Diakonats verfasst, also nicht lange, nachdem er aus dem Umland Antiochiens, in dem er ein asketisches Leben führte, zurückkehrte, oder erst als Priester? – Auch das ist in der Forschung umstritten. Hieronymus erwähnt in De viris illustribus 129, dass er den Dialog gelesen habe. Damit war zumindest ein terminus ante quem um das Jahr 392/3 gegeben, d. h. bevor Johannes 397 Bischof von Konstantinopel wurde. Die Bestimmung des terminus post quem gestaltet sich allerdings schwieriger.19 Hier gibt es v. a. zwei Tendenzen. Die eine Seite folgt prinzipiell der Notiz bei Sokrates Scholastikos (Historia ecclesiastica 6,3,10), Johannes habe den Dialog 14 Vgl. zu den verschiedenen Vorschlägen und deren Kritik z. B. Malingrey: Introduction (s. Anm. 5), 7–10; Fiedrowicz: Einleitung (s. Anm. 2), 26–27. 15 Vgl. dazu Lochbrunner: Über das Priestertum (s. Anm. 2), 105–106. 16 Rapp: Holy Bishops (s. Anm. 2), 45. Nach Rapp stellt das auch den autobiographischen Wert des Traktates in Frage. 17 Vgl. dazu Anm. 25 und Abschnitt 3. 18 Auch Hermann Dörries: Erneuerung des kirchlichen Amts im vierten Jahrhundert. Die Schrift De sacerdotio des Johannes Chysostomos und ihre Vorlage, die Oratio de fuga sua des Gregor von Nazianz, in: Bernd Moeller/Gerhard Ruhbach (Hg.): Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, Tübingen 1973, (1–46) 14, versteht den Dialog so, dort allerdings v. a. aufgrund des paulinischen Leitbildes und Röm 9,3: »Eben das, was Chrysostomos an denen, die sich zur Wahl stellten, vermißte, die Selbstprüfung, soll künftig verlangt werden. Mit ihr verbindet sich für ihn die andere Forderung, die Pflichten des Amts zu erwägen. De sacerdotio könnte dabei gewiß den Ratgeber machen und als Spiegel der Selbsterkenntnis dienen.« 19 Zur Datierung vgl. Malingrey: Introduction (s. Anm. 5), 10–13; Martin Illert: Johannes Chrysostomos und das antiochenisch-syrische Mönchtum (Studien zu Theologie, Rhetorik und Kirchenpolitik im antiochenischen Schrifttum des Johannes Chrysostomos), Zürich 2000, 18–21; Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom (s. Anm. 3), 168–171; Fiedrowicz: Einleitung (s. Anm. 2), 30–33.

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während seines Diakonats (d. h. ca. 381–386) verfasst. Auch Lochbrunner hält dies für wahrscheinlich, hat aber vorgeschlagen, dass ebenso eine Abfassungszeit zwischen der Rückkehr aus dem antiochenischen Umland und dem Diakonat, d. h. zwischen 378 und 381, denkbar ist. Auffällig sei etwa, dass im Dialog kaum auf das Amt des Diakons Bezug genommen wird. Er geht deshalb von einer fiktionalen Rahmenhandlung aus und argumentiert vor allem für einen »Sitz im Leben« als »Reformschrift«, d. h. vor dem Hintergrund der »Zeitumstände des Antiochenischen Schismas«.20 Zu dieser frühen Datierung würde auch passen, dass Hieronymus das Werk während seines Aufenthaltes in Antiochien (377– 379) kennengelernt haben könnte.21 Einen anderen Ausgangspunkt nehmen diejenigen, die den Dialog etwa zehn Jahre später datieren. Eine Bemerkung in der fünften Homilie zu Jesaja würde zu einer Datierung ins Priesteramt, nämlich um 390, führen.22 Schwierig daran ist, dass es in der Homilie lediglich heißt, Johannes wolle später noch einmal ausführlicher über das Priesteramt sprechen, was sich nicht unbedingt auf De sacerdotio beziehen muss.23 Die exakte Datierung bleibt somit hypothetisch. Die Annahme, Johannes habe den Dialog kurz vor oder während des Diakonats verfasst, würde jedenfalls gut erklären, dass Johannes, der sich vor kurzem noch dem asketischen Leben verpflichtet fühlte, darüber reflektiert, welche Voraussetzungen für das öffentliche Priester- und Bischofsamt nötig sind, und mit dem Text gleichzeitig eine literarisch anspruchsvolle Schrift zur Selbstprüfung und Seelenanleitung vorlegt. Er konnte hierfür auf Vorbilder wie Gregors von Nazianz Rede De fuga zurückgreifen und hat offensichtlich auch die Situation des antiochenischen Schismas vor Augen, ohne dass dies ins Zentrum der Schrift tritt.

20 Lochbrunner: Über das Priestertum (s. Anm. 2), 115. 21 Lochbrunner: Über das Priestertum (s. Anm. 2), 115–117. Auf mögliche Bezüge zum Schisma geht Lochbrunner in seiner Monographie ausführlich ein, hält aber fest, dass »einzelne historische Haftpunkte im Dialog« schwer auszumachen sind. Als Hypothese arbeitet er v. a. einen möglichen Bezug auf Vitalis heraus, was eine Frühdatierung stützen könnte (ebd., 102– 103, 117). 22 Vgl. In illud: Vidi Dominum homilia (Is. 6,1) 5,1. So bspw. Malingrey: Introduction (s. Anm. 5), 12–13. 23 Illert hat deshalb versucht, mittels einer Passage aus De sacerdotio 3,9 einen historischen Bezug auf die Wahl des Evagrius 388/9 auszumachen (vgl. Illert: Mönchtum [s. Anm. 19], 19– 21).

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Vom Streit unter Freunden zur Selbstprüfung der Seele

Der Leser wohnt demnach einem Streit unter Freunden bei, gestaltet im Stile platonischer Dialoge als Frage-Antwort-Gespräch24 und im Rückgriff auf Gerichtsvokabular; Basilius ist eher Stichwortgeber, Johannes erhält lange monologische Redeteile.25 Johannes verteidigt sich26 einerseits gegenüber Basilius und dessen Vorwurf, diesem als Freund Unrecht getan zu haben, und bietet andererseits Argumente gegen Anklagen von Außenstehenden, die Johannes aufgrund seiner Flucht vor dem Amt Hochmut vorwerfen.

3.1

List und Täuschung und deren »Gewinn« (κέρδος)

Im Zentrum der Rechtfertigung vor Basilius steht die Frage, ob die Täuschung und List, die Johannes ihm gegenüber angewandt hat, als destruktiver Vertrauensbruch oder als Teil der Freundschaft gedeutet werden kann. Zugespitzt: Hat Johannes seinem Freund »Unrecht« (ἀδικέω) zugefügt?27 Johannes führt hierfür im Dialog Argumente an, die zeigen sollen, dass eine List nicht in jedem Fall auch negativ zu bewerten ist, im Gegenteil sich als klug und nützlich erweisen könne. Dies sei bspw. der Fall in der Auseinandersetzung mit Feinden; hier könne die List ein scharfsinniges Instrument sein, etwa die List eines Feldherren, die ihm sogar Ruhm einträgt. Aber auch im Falle des Basilius, d. h. im »Frieden« und gegenüber einem Freund28, kann die List von Vorteil sein.29 »Gut« oder »schlecht« 24 Vgl. auch Alberto J. Quiroga Puertas: John Chrysostom. The Rhetorical Mechanisms of John Chrysostom’s On Priesthood, in: Averil Cameron/Niels Gaul (Hg.): Dialogues and Debates from Late Antiquity to Late Byzantium, London 2017, (32–42) 34. Zu den Unterschieden vgl. Malingrey: Introduction (s. Anm. 5), 18–19. 25 Das ist bereits ein Indiz dafür, dass es sich zwar um einen Dialog zwischen Freunden handelt, in dem Johannes sich (vermeintlich) verteidigen muss, tatsächlich aber Johannes’ Redeposition die desjenigen ist, der Basilius zur richtigen Beurteilung seiner Situation führt. Das Dialogische trägt damit Tendenzen eines Lehrcharakters (hilfreich hierfür sind die Unterschiede zwischen philosophischem und Lehrdialog bei Sabine Föllinger: Charakteristika des »Lehrdialoges«, in: dies./Gernot Michael Müller [Hg.]: Der Dialog in der Antike. Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischen Philosophie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung [BzA 315], Berlin 2013, 23–35). 26 Vgl. die durchgängige Verwendung von Termini wie κατηγορία in Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,4, ἀπολογέομαι in 1,4; ἀπολογία in 1,5; 2,5 u. ö., φιλόνεικος und ἔλεγχος in 2,6 usw. 27 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,6 (88,1 M.). 28 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,6 den Vorwurf des Basilius, Johannes rechtfertige sich ihm gegenüber wie vor Feinden. 29 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,6 (88,5–9 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 143): »Aber dies [das Verbergen der wahren Absicht] geschah sowohl zum Nutzen (ἐπὶ κέρδει) deiner Person, der die List galt, wie zum Nutzen derjenigen, denen ich dich mit Hilfe der List ausgeliefert habe. Wenn nämlich Täu-

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

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bemisst sich nach der »Absicht« (προαίρεσις).30 Worauf Johannes hier argumentativ zurückgreift, ist offensichtlich: die Tradition der sog. »Nutzlüge«.31 Die Täuschung bzw. List wurde mehrheitlich von christlichen wie paganen Autoren als unproblematisch eingestuft, wenn sie einem Nutzen folgt. Die griechische Tradition, und vermittelt durch Hieronymus u. a. auch die lateinische Tradition, ist reich an Beispielen sowie Reflexionen über die nützliche Lüge. Theologisch wird diese meist mit dem Prinzip der συγκατάβασις begründet, d. h. der Anpassung an das Fassungsvermögen des Gegenübers.32 Johannes bietet im Dialog Beispiele aus dem medizinischen Bereich. Zur Kunst des Arztes (τέχνη) kann die List (ἀπάτη) treten, wenn einem Patienten, der sich sträubt, Medizin verabreicht werden soll.33 Da Basilius den Konflikt auf der Ebene einer Freundschaftsbeziehung betrachtet, ist ihm der Vorteil resp. Gewinn (κέρδος) des (vermeintlich) wenig offenen und egoistischen Handelns des Johannes nicht sichtbar, wie seine Nachfrage zu Beginn des zweiten Buches signalisiert.34 Welchen Vorteil bringt die Täuschung demnach für Basilius?

3.2

Vom Dialog als Apologie zum Dialog als Selbstprüfung vor Gott – von der Freundschaft zum Amt

Johannes stellt Basilius einen (zukünftig erwartbaren) »Nutzen« in Aussicht, der ihm aus seinem Priesteramt erwachsen werde. Damit verschiebt Johannes die argumentative Ebene von den Kriterien einer Freundschaft und dem Streit darüber hin zum Amtsverständnis. Die argumentative Pointe besteht darin, dass

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schung (κλοπή) durchweg etwas Schlechtes ist und es nicht erlaubt ist, sich ihrer einmal im Notfall zu bedienen, so bin ich bereit, die Strafe abzubüßen, die du mir auferlegst.« Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,6 (90,13 M.). Vgl. auch 1,7. Vgl. dazu bereits Platon, Politeia 389b. Ein besonders prägnantes Beispiel bei Johannes ist die Tradition, den antiochenischen Streit zwischen Paulus und Petrus (Gal 2,11–14) als »Scheinstreit« zu erklären. Vgl. ähnlich zu Hieronymus und Johannes Alfons Fürst: Hieronymus über die heilsame Täuschung, in: ders.: Von Origenes und Hieronymus zu Augustinus. Studien zur antiken Theologiegeschichte (AKG 115), Berlin 2011, (275–292) 278–280, 286; vgl. auch ders./Horacio E. Lona: Gottes soteriologische Täuschungen, in: ders. (Hg.): Origenes. Die Homilien zum Buch Jeremia (Orig.WD 11), Berlin 2018, (88–106) 93–99. Es gibt hier freilich unterschiedliche Akzentsetzungen, vgl. etwa zur Einschränkung bei Origenes Fürst: Hieronymus, 288–289. Augustinus ist einer der wenigen, die eine solche Lüge ablehnen. Zur συγκατάβασις vgl. z. B. Tloka: Griechische Christen (s. Anm. 3), 130–133. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,7 (94,10 M.). Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,1 (100,11–13 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 151): »Und welcher Gewinn (κέρδος) erwuchs mir denn aus deinem klugen Vorgehen (τῆς οι᾿κονομίας) oder deiner Weisheit (ἢ σοφίας) oder wie du es auch immer nennen willst, so daß ich überzeugt sein könnte (πεισθῶμεν), nicht von dir hinters Licht geführt worden zu sein?«

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Johannes als Freund des Basilius bestens um dessen Qualitäten wisse und eine Eigenschaft des Freundes besonders hervorheben kann, die er für das Amt als unverzichtbar einstuft: die Liebe (ἀγάπη). Biblischer Beleg für diese Annahme ist Joh 21,17. Der Auftrag an Petrus »Weide meine Schafe« zeige den größtmöglichen »Liebesbeweis« (δείγματα τῆς ει᾿ς τὸν Χριστὸν ἀγάπης), dem unaussprechlicher Lohn (μισθός) verheißen ist, da sich der Priester um das bemüht, was Christus am wichtigsten ist (πολλοῦ τιμᾶται).35 Johannes belegt Basilius’ Liebe wenig später im Dialog mit einer berührenden Erzählung, in der Basilius sich selbstlos für einen anderen Freund eingesetzt hat, allein, weil es ihm die Freundschaft nahelegte.36 Da Johannes überzeugt ist, dass Basilius ihm in seinem Entschluss gefolgt wäre37 und sich dem Amt entzogen hätte, verhalf er ihm mittels dieser kleinen List zum Lohn vor Gott. Johannes hält seine Argumentation für schlüssig und den Streit in diesem Punkt für beendet: »Willst Du also noch bestreiten (ἀμφισβητήσεις), ob ich nicht in guter Absicht dich getäuscht hätte?«38 Basilius »errötet« am Ende des Argumentationsgangs – die ἀπολογία seines Freundes Johannes hat ihn offensichtlich überzeugt.39 Dass der Dialog aber mehr sein will als eine Erzählung über den Streit zweier Freunde und dessen Auflösung, darauf weist eine Passage im dritten Buch hin: Werde aber nicht müde, einen dir in echter Freundschaft verbundenen Mann anzuhören, der dich in den Punkten, wo du ihn anklagst, überzeugen (πείθειν) will! Dies ist dir nämlich nicht nur für meine Verteidigung (ἀπολογίαν) von Nutzen, sondern wird auch für die Verwaltung des Amtes selbst alsbald keinen geringen Gewinn (κέρδος) abwerfen. Es ist schließlich notwendig, dass derjenige, der vorhat, diesen Lebensweg einzuschlagen, zuerst alles gründlich in den Blick nimmt (διερευνησάμενον) und dann den Dienst (διακονία) antritt.40

35 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,1 (100,14–25 M.). 36 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,6 (126,42–128,45 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 171): »›Was hätte ich tun sollen?‹, sagtest du zu denen, die dich schalten. ›Anders verstehe ich nicht zu lieben (φιλεῖν) als unter Einsatz auch meines Lebens (τὴν ψυχὴν ἐκδιδόναι τὴν ἑμαυτοῦ), wenn es gilt, einen meiner Freunde, der in Gefahr schwebt, zu retten.‹« Johannes verweist auf die Parallele zu Joh 15,13. 37 Vgl. auch Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 1,3. 38 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,1 (104,57 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 153). 39 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,6 (128,62–64 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 173): »Hierüber errötete jener und, purpurrot geworden, sagte er: Mit meinen Angelegenheiten soll es nun sein Bewenden haben, verlangte ich doch von Anfang an hierüber kein Wort von dir!« 40 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,11 (200,156–163 M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 229).

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

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Der in einen Dialog gekleidete »Streit« will damit auch Anleitung zur Selbstprüfung sein41 – auf der Ebene der Erzählung für Basilius und als literarisch durchkomponierter Text für alle Lesenden.42 Als solcher stellt er auch einen Beitrag im Streit über das kirchliche Leitungsamt im 4. Jahrhundert dar.43 Auch das Ende des Dialoges folgt diesem Anliegen: Nicht Johannes stellt sich nun doch für das Amt zur Verfügung oder bittet den Freund um Verzeihung, sondern am Ende des Dialoges steht die Erkenntnis des Basilius: »Denn nun geht es mir nicht mehr darum, wie ich dich gegenüber jenen, sondern wie ich mich selbst und meine eigenen Fehler vor Gott rechtfertigen soll (πρὸς τὸν Θεὸν ὑπὲρ ἐμαυτοῦ καὶ τῶν ἐμῶν ἀπολογήσομαι κακῶν).«44 Wieder ist es Johannes, der dem verzweifelten, weinenden Basilius und damit auch den Lesenden Vertrauen auf Gott und die noch einzulösende Zukunft zuspricht: Ich vertraue (πιστεύω) auf Christus, sprach ich, der dich berufen und seinen eigenen Schafen vorgesetzt hat, dass du aus diesem Dienst (διακονία) eine so große Zuversicht (παρρησία) schöpfst, dass du auch mich, wenn ich an jenem Tage in großer Gefahr bin, in deine ewige Wohnung aufnehmen wirst.45

4

Streit(en) als Agon und Überzeugen: Zur Aufgabe des Priesters

4.1

Die Agon-Motivik

Johannes’ Verteidigungsstrategie beruft sich an vielen Stellen des Dialoges darauf, dass er dem Agon (ἀγών) des Amtes nicht gewachsen sei. Er entwirft das Bild eines Priesters, der sich im Dauerstreit befindet – bevorzugt wird das Vokabular »Kampf« (μάχη), »Agon« (ἀγών), »Ringkampf« (πάλη), »Krieg« (πόλεμος) usw.46 41 Vgl. etwa Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,1–2, die Mahnung, dass weder der Kandidat selbst noch diejenigen, die einen Kandidat aussuchen, sich darauf berufen können, dass sie sich dessen mangelnder Qualifikation nicht bewusst gewesen seien. 42 Vgl. auch Quiroga Puertas: John Chrysostom (s. Anm. 24), 37: Besonders die Bücher 4 und 5 widme Johannes »to teaching dialectical and dialogical strategies in order to provide preachers and bishops with an efficient tool to help Christian figures not be overcome by these flaws, consolidate their authority within their sees and churches, and negotiate in the ecclesiastical and theological arena.« 43 Vgl. Quiroga Puertas: John Chrysostom (s. Anm. 24), 33, der annimmt, dass die Dialogform »reflected the dynamics of a religious context in which opposing opinions on the nature and function of the priest or the bishop […] were debated.« 44 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 6,13 (360,77–79 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 357). 45 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 6,13 (362,96–99 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 357). 46 Vgl. z. B. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,10; 4,3–4; 6,7.12–13 u. ö.

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Diese agonistische Sprache ist ein Charakteristikum, das viele seiner Texte durchzieht und hinsichtlich ihrer Metaphorik in jüngster Zeit häufig untersucht wurde.47 In Theaterpolemik und -metaphorik ist der Agon in Johannes’ Texten ebenfalls präsent.48 Das homerische Ideal des Wettkampfes, als der Beste den Sieg zu erlangen, wird in der philosophischen Tradition adaptiert und modifiziert, etwa in der Sophistik zum verbalen, persuasiven Wettkampf oder als Lebens- und Wahrheitskampf und Seelenbildung, und geht in die Märtyrer- und Asketenliteratur ein.49 Dieses facettenreiche Agonistische zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Dialog: Der Priester bedarf einer fundierten Ausbildung seiner Redetechnik, da er zum einen vor ein Publikum tritt, das ihn unter den Kriterien des Redewettstreites beurteilt, zum anderen zu seinen zentralen Aufgaben die Überzeugung zählt. Die λόγοι stellen ein unverzichtbares Instrumentarium des Amtes dar.50 Der Priester muss außerdem in einem argumentativen Wettstreit mit Gegnern von »innen« und »außen« bestehen. Ein zentraler Grund hierfür liegt in seiner Orientierungsfunktion innerhalb der Gemeinde. Zuletzt: Für das Amt des Priesters qualifiziert überhaupt erst eine »ausgezeichnete Seele«, die dem ständigen Agon in der Seele gewachsen ist. Für dieses Anforderungsprofil, so argumentiert Johannes, sei er selbst nicht gewappnet und damit ungeeignet für das öffentliche Amt des Priesters. Die asketische Existenz, der Johannes nachgeht, die nur mit dem Kampf in der eigenen Seele befasst ist, wird der Seelsorge des öffentlichen Priesteramtes, das sich auf eine ganze Gemeinde, wenn nicht sogar die ganze Welt bezieht, kontrastiert.51 47 Zur Agon-Metaphorik vgl. Alois Koch: Johannes Chrysostomos und seine Kenntnisse der antiken Agonistik. Im Spiegel der in seinen Schriften verwendeten Bilder und Vergleiche, Hildesheim 2007; jüngere Arbeiten: Esther Verwold: Wettkämpfe der Tugend und himmlische Siegeskränze. Der antike Athlet als Vorbild für ein christliches Ethos, in: Michael Roth/Ulrich Volp (Hg.): Gut, besser, am besten. Ethische, theologische und historische Reflexionen zu Leistung und Erfolg in Sport, Kirche und Gesellschaft (Theologie – Kultur – Hermeneutik 20), Leipzig 2016, 52–64; Krautheim: Das öffentliche Auftreten (s. Anm. 1), 72–88; zur griechischen Metaphorik vgl. auch die Überblicke in Uta Poplutz: Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg i.Br. 2004 (Teil B zum Agon in der Antike), sowie Martin Brändl: Der Agon bei Paulus. Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik (WUNT 222), Tübingen 2006, 32–70. 48 Vgl. etwa Silke-Petra Bergjan: »Das hier ist kein Theater, und ihr sitzt nicht da, um Schauspieler zu betrachten und zu klatschen«. Theaterpolemik und Theatermetaphern bei Johannes Chrysostomos, in: ZAC 8 (2005), 567–592. 49 Zu letzterem vgl. Krautheim: Das öffentliche Auftreten (s. Anm. 1), 87–88. S. auch den Beitrag von Uta Heil in diesem Band. 50 Vgl. Jutta Tloka: Der Λόγος und die λόγοι. Die Bedeutung der Rhetorik für die Konstituierung der christlichen Elite in der Spätantike, in: Ferdinand R. Prostmeier/Horacio E. Lona (Hg.): Logos der Vernunft – Logos des Glaubens (Millennium-Studien 31), Berlin 2010, 301–321. 51 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 6,4 (314,22–25 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 319): »Denn wer als Vermittler (πρεσβεύοντα) für eine ganze Stadt, doch was sage ich Stadt, vielmehr für den ganzen Erdkreis (τῆς οι᾿κουμένης) auftritt und darum bittet, daß Gott sich gnädig gegen die Sünden aller

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

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Der Priester wird als christlicher Rhetor gezeichnet, als Vertreter der anspruchsvollsten »Kunst« (τέχνη) der Seelen-Sorge (ψυχῶν […] ἐπιμέλεια) mittels der Rede.52 Das wird nun im Fortgang genauer dargestellt.

4.2

Die Predigt als Agon? – der falsche Rezeptionsmodus des Publikums

Der Priester gerät nach Johannes in eine Position, die ihm eigentlich nicht zukommt: derjenigen eines Wettkämpfenden, über den das Publikum urteilt. Diese Wettkampfsituation widerspricht der Lehrerposition des Predigers, dessen Predigt die HörerInnen zum eigenen Nutzen anhören sollten und nicht, um diese zu beurteilen.53 Hieraus ergeben sich dann, durchaus ungewollt, zum einen Einfallstore, einer Sehnsucht nach Beifall und Lob,54 der berüchtigten κενοδοξία, zu erliegen,55 zum anderen die Notwendigkeit, dass der Prediger wie ein Rhetor für diesen rhetorischen Agon entsprechend kompetent ausgebildet sein sollte.56 Ein Blick auf das Publikum verdeutlicht dies: Er stehe der Kritik einer »Menge« gegenüber, die eher durch Neid geprägt ist. Die »Menge« hört ohne Prüfung an und erzählt es weiter, schwatzt alles heraus, ohne sich um Wahrheit (ἀλήθεια) zu

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Menschen zeige […], wie muß ein solcher geartet sein?« Zur Sorge für viele Seelen vgl. auch Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,2; im kultischen Kontext 3,4; zur Affektion anderer Seelen durch die eigene Seelenschönheit 3,10; in Anlehnung an Hebr 13,17 6,1. Zu einem ähnlichen Priesterkonzept bei Gregor von Nazianz Susanna Elm: Priest and Prophet. Gregory of Nazianzus’s Concept of Christian Leadership as Theosis, in: Guy Stroumsa u. a. (Hg.): Priests and Prophets Among Pagans, Jews and Christians (Studies in the History and Anthropology of Religion 5), Leuven 2013, (162–184) 176: »Once the philosopher has reached the highest possible degree of purity, he must then, according to the principles of oikeiosis, voluntarily accept the yoke of leadership, so that he can bring those farther away from the supreme good, God, closer to God also, thus making them, too, God.« Ausführlicher und im Vergleich zu Kaiser Julian, dies.: Sons of Hellenism, Fathers of the Church. Emperor Julian, Gregory of Nazianzus, and the Vision of Rome (The Transformation of the Classical Heritage 49), Berkeley 2012. Vgl. z. B. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,1 (238,177 M.); in Abgrenzung zum Mönchtum vgl. auch 6,5 (322,14 M.): καθαρὰ τῆς ψυχῆς ἡ τέχνη. Zur prominenten Definition von Psychagogie Platon, Phaidros 261a: ἡ ῥητορικὴ ἂν εἴη τέχνη ψυχαγωγία τις διὰ λόγων […]. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,1. Vgl. David Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy. The Coherence of His Theology and Preaching (OECS), Oxford 2014, 199– 200. Vgl. z. B. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,2.8. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,9. Zur κενοδοξία auch Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom (s. Anm. 3), 205–209. Johannes selbst war zweifelsohne rhetorisch gebildet, vgl. William A. Maat: A Rhetorical Study of St. John Chrysostom’s De sacerdotio, Diss., Washington, D.C. 1944; außerdem z. B. Wendy Mayer/Pauline Allen: John Chrysostom (The Early Church Fathers), London 2000, 26– 33; Tiersch: Konstantinopel (s. Anm. 1), 67–68; vgl. auch Sozomenus, Historia ecclesiastica 8,2.

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kümmern.57 Dennoch darf der Prediger diese solange als möglich nicht verachten, sondern muss seine »Ankläger« überzeugen, selbst wenn deren Argumente nicht vernünftig sind. Die HörerInnen, die Johannes im Blick hat,58 richten sich fälschlicherweise nach dem Ansehen des Predigers und nicht nach dem Inhalt der Rede,59 sie seien zu großen Teilen ungebildet und kaum urteilsfähig. Der Prediger kann einerseits davon ausgehen, dass eine mitunter notwendige παρρησία ihm gegenüber ausbleibt, er aber andererseits auch mit einer παρρησία konfrontiert ist, die uninformiert und unangemessen ist, und eher der Geschwätzigkeit gleichkommt; besonders Witwen attestiert Johannes eine solche.60 Das Verhältnis von Redner und Publikum ist infolgedessen in keiner Weise auf gleicher Ebene, sondern gleicht dem eines Vaters zu seinen Kindern, der sich weder auf das Lob seiner Kinder etwas einbildet noch sich darum kümmert, wenn sie frech sind;61 oder eines Malers, der sich – gerät er an einen offenkundig uninformierten Kritiker – sowohl der eigenen Schwäche wie Stärke bewusst sein müsse;62 oder dem eines Hirten zur Herde, der für die Herde und all ihre Krankheiten zuständig ist.63 Im Mittelpunkt steht nicht der rhetorische Sieg als solcher, wohl aber eine noch über die Sophisten hinausgehende Redekunst,64 um dem pädagogischen Anliegen Nachdruck verleihen zu können: das Publikum durch die Predigtrede zu erziehen und zu heilen.65 57 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,4. 58 Zum tatsächlichen Publikum von Homilien vgl. Wendy Mayer: John Chrysostom. Extraordinary Preacher, Ordinary Audience, in: Mary B. Cunningham/Pauline Allen (Hg.): Preacher and Audience. Studies in Early Christian and Byzantine Homiletics (A New History of the Sermon 1), Leiden 1998, 105–137 sowie Mayer/Allen: John Chrysostom (s. Anm. 56), 34–40. 59 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,5. 60 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,12. Vgl. zum παρρησία-Ideal für den Bischof Rapp: Holy Bishops (s. Anm. 2), 260–273; Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom (s. Anm. 3), 43–54; Tloka: Griechische Christen (s. Anm. 3), 197–199. Vgl. zum Priester, von dem eine größere παρρησία als von Mose und Elia gefordert wird Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 6,4. 61 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,4. 62 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,6–7. 63 Vgl. z. B. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,3. 64 Treffend spricht Tloka: Der Λόγος (s. Anm. 50), 315 davon, dass Johannes damit das Priesterbild auch dem »Bild des Intellektuellen« anpasse, der Glaubwürdigkeit verkörpere. Vgl. zum »great appetite for eloquence« auch Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy (s. Anm. 53), 209–210; zur Theaterpolemik und -metaphorik im Blick auf das Amt des Predigers außerdem Bergjan: »Das hier ist kein Theater« (s. Anm. 48), 585–592, bes. 586: »Was also unterscheidet die Kirche und das Theater? […] Die Antwort des Chrysostomos ist keine andere als die, die auch die Redner gaben. Chrysostomos weist auf den Gegensatz zwischen Nutzen und Vergnügen hin.« Eindrücklich ist eine Passage aus Homilia 1,1 in Ioannem, in der die ohne Maske verkündete Wahrheit, die keine Dichtung ist, dem Schauspiel im Theater kontrastiv gegenübergestellt wird. 65 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,1: Es geht darum, die »Menge« dazu zu bringen, »ein nützlicheres Ziel beim Zuhören zu verfolgen, so daß sich das Volk nach dem Prediger

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

4.3

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Überzeugung als Medizin – die λόγοι als φάρμακον

Die λόγοι, die Predigtworte, werden damit zum φάρμακον.66 Als ein solches hatte Johannes auch die Briefe des Paulus charakterisiert, die zwar nicht an die heidnische Redekunst heranreichen, dafür aber hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes vollständig zu überzeugen vermögen.67 Standen Paulus neben dem Wort auch noch andere Mittel zur Verfügung, etwa die Wundertätigkeit, so griff dieser dennoch ebenfalls auf das Wort zurück oder, mit 1 Petr 3,15, ist bereit »Rechenschaft« (ἀπολογία) abzulegen.68 Umso mehr bedarf der Priester der geschulten Überzeugungskraft, da ihm zur Berichtigung der »Fehler« der Sünder nur das Mittel der Überzeugung (πείθω),69 nicht dasjenige der Gewalt zur Verfügung steht.70 Anders als etwa einem Hirten, der seinen Schafen die »Medizin« (φάρμακον) notfalls auch mit Gewalt (πρὸς βίαν) verabreichen darf,71 kann der Priester nur auf den λόγος als Heilmittel zurückgreifen.72 Diese pädagogischmedizinale Fassung der Überzeugung bleibt an die »freie Wahl« der Zuhörer gebunden; der Grund ist ein theologischer: Gott belohnt nur die freie Wahl (προαίρεσις), sich von Fehlern abzuwenden:

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richtet und ihm Folge leistet, nicht aber, daß dieser sich von den Begierden jener Leute steuern läßt.« (284,34–36 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 293). Die Verbindung von Rhetorik und Medizin ist freilich gemeinantik. Vgl. dazu Johannes’ Ausführungen in Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,6–7 zum paulinischen Redetalent (i. S. der Erkenntnis). Vgl. auch Johannes Breuer: Rhetorik im Christentum, in: Michael Erler/Christian Tornau (Hg.): Handbuch Antike Rhetorik (Handbücher Rhetorik 1), Berlin 2019, (513–535) 522–524 zu Johannes; Tloka: Griechische Christen (s. Anm. 3), 9–11 allg. sowie 226–242 zu Johannes. Zu Paulus »as model priest« Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy (s. Anm. 53), 204–208. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,3. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,3 (112,61 M.). Interessant ist insofern die Rolle von Wundern im Beitrag von Uta Heil im vorliegenden Band. Zur Überredung anstelle von Gewalt vgl. Heinrich Niehues-Pröbstin: Überredung zum Glauben, in: Erler/Tornau: Handbuch Antike Rhetorik (s. Anm. 67), (13–44) 24–35. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,3–4. Zur Bedeutung des Überzeugens auch Augustinus, De doctrina christiana 4,3.33. Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,3. Vgl. auch Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy (s. Anm. 53), 196–201, hier 197: »Their teaching had a practical and pastoral purpose, namely, to train disciples to seek the wisdom that would enable them to live well. […] Philosophers […] were concerned not with providing purely abstract knowledge but with imparting training that would allow their disciples to orient themselves in the world, to look on life from a vantage point above the earth. Philosophers had wings which enabled them to rise up and view things as they really are and to live accordingly.«

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Deshalb ist große Erfindungsgabe vonnöten, um die Patienten zu überzeugen (πεισθῶσιν), dass sie sich aus eigenem Antrieb den Heilungsmaßnahmen (θεραπείαις) 73 seitens der Priester (ἱερέων) unterziehen […].74

Sich der θεραπεία zu unterziehen, bedeutet auch, sich wieder der Wahrheit (ἀλήθεια) zuzuwenden. Die Rhetorik versteht sich vollständig als therapeutische, d. h. der Wert aller Argumentation bemisst sich an dem Wert für die Heilung einer bestimmten Person mit ihren spezifischen seelischen Voraussetzungen.75 Dass die Predigt auch in einen rhetorischen Wettstreit gerät, wird damit eher als nicht zu vermeidendes Übel angesehen. Rhetorik hat demgegenüber the potential to persuade people toward salvation, and just as God was willing to adapt to people by taking on their language and customs, Chrysostom seems willing to appropriate the rhetoric prized by his culture.76

Die Position des Predigers als desjenigen, der Strafe erlässt und erteilt, macht ein argumentativ überzeugendes Auftreten noch vor einem anderen Hintergrund notwendig, dem der Autorität. Das Argument dahinter ist letztlich folgendes: In der Position eines Priesters ist Streit gefährlich. Ein unbedachtes Wort, eine 73 Eine Deutung dieser Passage i. S. einer privaten Buße ist abzulehnen, vgl. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio (s. Anm. 2), 158 (Anm. 2). 74 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,3 (112,66–68, M.; Übers. Ingo Schaaf, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 159–161). Vgl. auch: »Denn es gibt niemanden, der einen Unwilligen unter Zwang zu heilen vermöchte.« 75 Vgl. bspw. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,4: Dort greift Johannes auf medizinische Vergleiche zurück. Ein chirurgischer Eingriff kann bspw. fehlgehen, wenn die Wunde zu schonungslos behandelt wird, der Patient verweigert dadurch unter Schmerzen möglicherweise die Arznei und wirft den Verband weg. Wird sie allerdings zu zaghaft behandelt, wurde ein Teil der Wunde nicht entfernt. Ebenso verhält es sich mit der Strafe, die der Priester seinen »Patienten« verhängt – bleibt neben dem Maß der Vergehen das Motiv (προαίρεσις) des Sünders (τῶν ἁμαρτανόντων) unbeachtet, der Zustand (ἕξις) der Seele, kann er seine Gemeindemitglieder in Verzweiflung oder Nachlässigkeit stürzen. 76 Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy (s. Anm. 53), 209. Zur συγκατάβασις vgl. oben Anm. 32. Vgl. auch Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,8, wo das Ziel der Unterweisung (διδασκαλία) so beschrieben wird, dass auch die Schüler ein glückseliges Leben (πρὸς τὸν μακάριον βίον) führen sollen, wie es Christus fordert, belehrt durch Tun und Lehre bzw. Wort des Priesters; keines von beiden reiche für sich aus (278,33–37 M.). Vgl. auch die Monographie von Rylaarsdam: John Chrysostom on Divine Pedagogy (s. Anm. 53), die an zahlreichen Stellen die pädagogische Konzeption hervorhebt, vgl. bspw. 221: »A Christian must live on earth as a citizen of heaven by renouncing the world but yet teaching the world. Chrysostom is training students to become ascetic teachers in their everyday lives. All Christians had a pedagogical task in the world, not simply bishops and monks.« sowie 196: »When people’s vision of reality has been corrected in the school of the church, they can return to the world and educate others.« Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem die Schrift zur Erziehung De inani gloria et de educandis liberis, in der v. a. die christliche Familie als Ort der Erziehung bestimmt wird und die Eltern zur Rechenschaft vor Gott darüber ermahnt werden; Leitbegriffe sind auch hier die Seelenerziehung des Kindes sowie dessen Erziehung zu einem »Athleten«, vgl. dazu Tloka: Griechische Christen (s. Anm. 3), 145–175.

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leichtfertige Argumentation, und der Priester verliert durch den Tadel die Position, den Untergebenen Strafe zu erteilen oder zu erlassen.77 Der Priester muss, anders gesagt, gegenüber jedem Gegner als überzeugender Sieger hervorgehen, um seine Repräsentation der Wahrheit nicht zu gefährden. An dieser Stelle wird allerdings deutlich, dass sich der Prediger gegenüber seiner Gemeinde wie ein Pädagoge verhalten muss, gegenüber einem »Außen« aber tatsächlich in einen Agon eintritt, aus dem er als Sieger hervorgehen sollte.

4.4

Streit um »Glaubenslehren« (δόγματα)

Johannes benennt im Dialog selten konkrete Streitgegenstände.78 Zentral sind aber die »Glaubenslehren« (δόγματα). Dieser Agon zielt darauf, die »Zuversicht« (παρρησία) seiner HörerInnen in die Wahrheiten, »denen sie mit unerschütterlichem Glauben (μετὰ πίστεως) zugestimmt hatten«, nicht zu irritieren. Sonst besteht die Gefahr, dass die »Niederlage ihres Lehrers ihre Seele von einem solchen Sturm erfasst, dass das Übel schließlich mit einem Schiffbruch enden muss.«79 Die Gemeinde schreibt die Niederlage nicht dem »persönlichen Unvermögen (τὴν ἀσθένειαν), sondern der Unhaltbarkeit des betreffenden Glaubenssatzes (τοῦ δόγματος)« zu80 – damit wird die rhetorisch präzise Artikulation der Wahrheit unverzichtbar, nicht weil diese selbst sich als unwahr erweisen könnte, sondern weil die Erschütterung von πίστις und παρρησία bei der Gemeinde zur Seelenverwirrung führt. Der Bereich begründbarer Aussagen ist überdies begrenzt. Deshalb mahnt Johannes, dass »Angriffe« von innen ebenfalls pariert werden müssen. Diese beziehen sich v. a. auf wissbegierige Fragen oder Urteile Gottes, denen von vielen einiges an Aufmerksamkeit geschenkt wird, während gleichzeitig Glaube und rechter Lebenswandel vernachlässigt werden – damit wollen viele aber ergründen, was Gottes Zorn erregt. Der Priester sollte diese eigentlich autoritativ zum Schweigen bringen, muss aber auf seinen Ruf achten, um nicht anmaßend und

77 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,3 (286,13–16 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 295): »Denn erst dann, wenn er selbst für alle unangreifbar geworden ist, wird er auch mit voller Autorität (μεθ’ ὅσης βούλεται ἐξουσίας) allen ihm Unterstellten Strafen auferlegen oder erlassen können; zuvor ist dies aber nicht leicht durchsetzbar.« 78 Zahlreiche Streit- und Konfliktpunkte, denen er selbst im Laufe seines Lebens ausgesetzt war, lassen sich der Monographie von Tiersch: Konstantinopel (s. Anm. 1) entnehmen. 79 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,9 (280,23–27 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 289). 80 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,9 (280,19–20 M.; Übers. Claudia Barthold, in: Johannes Chrysostomos: De sacerdotio [s. Anm. 2], 287–289).

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unwissend zu erscheinen.81 Demnach geht der Streit auch darüber, über was man streiten kann und darf.82 Gegenüber anderen Glaubenslehren, Gegnern von »innen« und »außen«, entwirft Johannes die Bildlichkeit eines mannigfaltigen Krieges.83 Der Prediger muss über mehrere »Kampfesarten« und »Kunstgriffe« verfügen, sonst erkennt der Teufel die vernachlässigten Stellen. Vorausgesetzt sind die Geistesgegenwart und Umsicht des »Hirten«, sodass alle Kriege mit Gelächter und Schande für die Feinde enden.84 An einer Stelle konkretisiert Johannes: Es reicht nicht, nur gegenüber einer Gruppe zu siegen, etwa »Griechen« oder »Juden« oder beiden, wenn nicht gleichzeitig bspw. auch die Angriffe seitens der Manichäer oder der »Leute des Fatum« (Stoiker) zurückgewiesen werden können. Die Argumentation ist oft heikel: Wird zu sehr gegen die Juden argumentiert, findet man sich plötzlich auf der Seite Marcions wieder; wer zu sehr für »Arius« argumentiert, auf der Seite des Sabellius – beide stünden außerhalb der Wahrheit, obgleich sie den Namen »Christ« tragen. Der Streit mit anderen, christlichen und nichtchristlichen Gruppen wird demnach ausschließlich als agonistisch bestimmt und zielt nicht auf eine Einigung ab. Tierschs Beschreibung vermag treffend die Dringlichkeit solcher Rhetorik in der kompetitiven Lebenswelt und Situation des Schismas, gleichzeitig aber auch den mit ihr verbundenen apodiktischen Wahrheitsanspruch des Johannes einzufangen: Allein die engagierte, rhetorisch kunstfertige Verteidigung dieser alleingültigen christlichen Wahrheit in Glauben und Moral gewährleistete den Zusammenhalt der Gemeinde, da sonst deren Mitglieder möglicherweise, durch die bessere Rhetorik der Gegner verführt, zur Gegenseite abirren und dadurch ihr Seelenheil verwirken könnten.85

81 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,5. 82 Mit der Begrenzung des Wissens über das Göttliche zieht Johannes hier eine deutliche Grenze. Möglicherweise stehen anhomöische Positionen im Hintergrund. Vgl. die Argumentation bei Lochbrunner: Über das Priestertum (s. Anm. 2), 100–101, der v. a. auf das charakteristische Vokabular περιεργάζεσθαι bzw. πολυπραγμοσύνη verweist. 83 Vgl. De sacerdotio 2,3 mit Verweis auf Eph 6,12, bes. aber die eindrückliche ekphrasis in 6,12– 13. 84 Vgl. zum gesamten Abschnitt Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 4,4. 85 Tiersch: Konstantinopel (s. Anm. 1), 61. Dort auch zum klaren Bild von »der richtigen πίστις καὶ πολιτεία« bei Johannes (62–63). Zu beachten ist allerdings, dass Johannes im Dialog nicht explizit auf das antiochenische Schisma Bezug nimmt, sondern dieses eher als ein möglicher Erfahrungshorizont des Johannes mitzudenken ist. Zu den unterschiedlichen christlichen Gruppen Liebeschuetz: Ambrose & John Chrysostom (s. Anm. 3), 187–188 und die treffende Bemerkung 193: »Of course, the exclusiveness of Chrysostom’s Christianity was not his personal idiosyncrasy, nor restricted to his colleagues of the Nicene persuasion. The religious groups against whom he preached were just as convinced that they had a monopoly of truth as he was.« Vgl. zu diesen harten Kontrastlinien auch Uta Heil im vorliegenden Band.

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

4.5

135

Die agonistische Existenz des Priesters und ihre seelischen Voraussetzungen

Sowohl die Überzeugungskraft der λόγοι als »Heilmittel« als auch die Abwehr »feindlicher« δόγματα hängt davon ab, wie gut der Priester seine »Kunst« (τέχνη), analog der Fertigkeit im Handwerk, beherrscht. Als bedeutsamstes Eignungskriterium für den ἀγών des Amtes gilt Johannes die Tugend (ἀρετή) der Seele.86 Während dem Mönch die Möglichkeit eines zurückgezogenen Lebens offensteht, ist dem städtischen Priester ein solches verwehrt und er kann sich dem vielfältigen Streit nicht entziehen. Er steht in der »Öffentlichkeit«, muss seine Seele »enthüllen«. Ein untrainierter Wettkämpfer wird entlarvt, sobald er die Kleidung zum Kampf ablegt; ebenso der Priester.87 Im Unterschied zum zurückgezogenen Leben, das überdies die Seele wenig reizt,88 affiziert der Priester in der Öffentlichkeit auch noch andere, während er sonst nur für sich allein verantwortlich ist. Das macht es umso notwendiger, dass der Priester unangreifbar ist, sich keine Ankläger finden, keiner über ihn zu »Gericht« sitzt. Angesichts falscher Anschuldigungen, ständiger Beobachtung, ihn zu Fall zu bringen, bedarf der Priester nicht nur argumentativer Überzeugungskraft der Wahrheit, sondern auch einer Seele, die sich nicht durch »Mutlosigkeit« oder Sorgen brechen lässt.89 Aber nicht nur die ἀθυμία erweist sich als gefährlich, sondern ebenso destruktiv und wahrheitsgefährdend ist der »Zorn« (ὀργή).90 Johannes appelliert damit nicht einfach an den Priester als eine Art moralische Instanz, sondern spickt seinen Dialog mit einer informierten Psychologie. Er weiß um die »Stürme« und Unordnung in der Seele und ihre Folgen. Es geht weniger nur darum, dass die Wahrheit nicht auch im Mönchtum vertreten sei – sogar ganz im Gegenteil –, sondern um die Frage der Repräsentation und Artikulation der Wahrheit, sodass sie sich dem Publikum zur »Wahl« überzeugend anempfiehlt und zu deren παρ-

86 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 2,3. Hier schließt sich auch eine Kritik des Johannes an den Wahlen zu den kirchlichen Ämtern an, in denen die »Tugendhaftigkeit der Seele« als Kriterium wenig zähle, sondern häufig ganz andere Kriterien wie Reichtum, Ansehen usw. ausschlaggebend seien (ebd., 3,11; vgl. auch 4,2). Fasten usw. könnten nach Johannes auch Frauen, nicht aber der Kirche vorstehen und die Sorge über die Seelen übernehmen; auch die meisten Männer seien ungeeignet (2,1–2). Zur – aus Sicht des Johannes – zu dominanten Rolle der Frauen vgl. auch 3,9; s. auch Illert: Mönchtum (s. Anm. 19), 18–21; allgemein auch Hans-Ulrich Wiemer: Konkurrierende Geschlechterdiskurse in der Spätantike. Der Lehrer Libanios und der Prediger Johannes Chrysostomos, in: Christoph Ulf/Robert Rollinger (Hg.): Frauen und Geschlechter. Bilder – Rollen – Realitäten in den Texten antiker Autoren der römischen Kaiserzeit, Wien 2006, 403–379. 87 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,10. 88 Vgl. z. B. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 6,7; 6,12. 89 Zur ἀθυμία vgl. oben Anm. 12. Vgl. z. B. auch Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,4–6. 90 Vgl. Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3,14.

136

Michaela Durst

ρησία beiträgt. Nur eine widerständige, ausgezeichnete Seele kann ihre Seelsorge auf die Sorge für andere Seelen ausweiten.91

5

Die psychagogische und agonistische Qualität des Streite(n)s

»Streit« als argumentativer Austausch über einen Gegenstand ist im Dialog De sacerdotio nicht per se wertvoll oder von Interesse. Die im (Wett-)Streit verwendete Dialektik und geforderte Überzeugungstechnik erhält aber ihre Bedeutung: (a) einerseits für die Selbstprüfung des Priesteranwärters. Diese wird literarisch als Streit zwischen zwei Freunden gestaltet. Dieser Streit wirft Fragen nach den Qualitäten eines Priesters auf und bildet selbst einen Erkenntnisprozess ab. Adressat dieser Selbstprüfung ist vor allem Gott. Neben die externe Beurteilung tritt die Introspektion. (b) andererseits ist sie Grundlage für die notwendige Überzeugungstechnik, die wiederum sogar von den Gemeindegliedern selbst angeeignet werden soll. In der philosophischen und asketischen Tradition war die agonistische Motivik bereits eng mit Rede, Überzeugung und Tugend (ἀρετή) verbunden worden. Johannes greift darauf zurück, indem die Aufgabe des Priesters als agonistische charakterisiert wird. Im Zentrum steht die Überzeugungskraft der Wahrheit in einer durch den Agon geprägten Welt. Johannes entwickelt in Aufnahme und Abgrenzung zur asketischen Lebensweise und dem Mönchtum sowie dem antiken Freundschaftsdiskurs das Profil eines Priesters, der den Agon in der Welt führt und nicht außerhalb in Zurückgezogenheit. Anders gesagt: Den Rahmen für das Streiten bildet die Rhetorik, die durch das öffentliche Amt notwendig wird. Das unter den rhetorischen Prämissen geführte Streiten kann einerseits höchst aggressiv ausfallen und auf einen Sieg im Wettkampf abzielen, der mit der Ausschließlichkeit eines Sieges im Krieg vergleichbar ist; die gegnerische Position wird in der Perspektive eines »Feindes« betrachtet. Und der Streit kann andererseits einen dezidiert pädagogischen Charakter erhalten, der mehr dem Überzeugen i. S. eines Heilmittels der Seele ähnelt, um für das Seelenheil der Gemeinde Sorge zu tragen. Die λόγοι werden hier zwar dem agonistischen Rezeptionsmodus des Publikums angepasst, verlieren aber eigentlich ihren kompetitiven Charakter, da sie nicht im eigentlichen Sinne 91 Vgl. dazu bereits oben Anm. 51 sowie die Erzählung über die Liebe des Basilius, die bis zur Lebenshingabe für den Freund geht. Diese Qualität des Freundes hatte sich gerade nicht als nutzlos erwiesen, soll aber auf alle Gemeindeglieder, wenn nicht die ganze Welt, ausgedehnt werden.

Der Dialog als Selbstprüfung für den Agon des Priesters

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auf einen Wettstreit über die Wahrheit abzielen, sondern auf die »Wahl« und Festigung der HörerInnen in der Wahrheit. Diese Adaption der Rhetorik entspricht aber durchaus einem Selbstverständnis als Philosophie und ist auch nicht spezifisch christlich.

Christian Danz

Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung

Abstract The article thematizes the distinction between theology and religion that is constitutive for modern Protestant theology and explores the question of how theological science relates to the Christian religion at all. In contrast to one-sided dissolutions of the interrelationship between theology and religion, which are widespread in the current debate, the contribution pleads for understanding the systematic-theological description of the Christian religion as a transparent picture of it, which at the same time distinguishes it from religion.

Auf die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung von Theologie und Religion für die moderne protestantische Theologie hat zuletzt Martin Laube in einem Beitrag zur Entwicklung des Religionsbegriffs im 20. Jahrhundert aufmerksam gemacht.1 Bei dieser Differenzierung, eingeführt in die theologische Debatte von Johann Salomo Semler, gehe es nicht nur um den Religionsbegriff, sondern vor allem auch um die Frage, wie sich die Theologie bzw. die Dogmatik auf ihren »Gegenstand« bezieht, wie sie also von diesem weiß. Deshalb eigne sich diese Unterscheidung zur Strukturierung der Geschichte der Theologie der letzten einhundert Jahre. Anhand dieses Leitfadens ergibt sich für Laube folgendes Bild: Während in der religionsgeschichtlichen Theologie von Ernst Troeltsch die Unterscheidung von Theologie und Religion auf der einen Seite die Grundlage bilde, sie aber auf der anderen in seinem Dogmatikprogramm dynamisiert werde,2 habe Karl Barth diese Dynamisierung aufgenommen und ra-

1 Vgl. Martin Laube: Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Überlegungen zu einer umstrittenen Grundfigur in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, in: ZThK 112 (2015), 449–467. 2 Vgl. Laube: Unterscheidung (s. Anm. 1), 456–457: »Die Unterscheidung von Theologie und Religion dient Troeltsch mithin dazu, beide Seiten in einer – gerade nicht essentialistisch festschreibbaren – Balance zu halten. Seine Absicht lautet, die uneinholbare Selbständigkeit der Religion und ihre vernünftige Anschlussfähigkeit zugleich zur Geltung zu bringen. […] Troeltsch sucht die Theologie als eine kulturwissenschaftliche Reflexionstheorie auf die ge-

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dikalisiert. Mit der von ihm vorgenommenen Umstellung vom Religions- auf den Offenbarungsbegriff und der daraus resultierenden Konstruktion der Theologie als Auslegung der religiösen Selbstauslegung werde die Unterscheidung von Theologie und Religion zwar minimiert, aber zugleich die Eigenständigkeit und Besonderheit der christlichen Religion, ihr soteriologischer Kern, deutlicher zur Geltung gebracht als in dem Konzept von Troeltsch.3 In den nach dem Zweiten Weltkrieg ausgearbeiteten Theologien hingegen wurde die Unterscheidung von Theologie und Religion erneut thematisiert. Da aber nun die Absetzung von der dialektischen Wort-Gottes-Theologie gleichsam zum Aufbauelement eines neuen theologischen Religionsverständnisses wurde, ging auch die Dynamik und Spannung im Verhältnis Theologie und Religion verloren, die Troeltsch und Barth in den Fokus der theologischen Arbeit rückten. In der gegenwärtigen systematischen Theologie, so Laubes Beobachtung, werde die Spannung und Dynamik des Verhältnisses von Theologie und Religion ausgeblendet, was dazu führe, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehre. Die theologischen Konstruktionen der christlichen Religion werden für diese selbst ausgegeben und verlieren auf diese Weise die individuelle Religion, um deren Eigenständigkeit sie sich bemühen, aus dem Blick.4 Laubes Deutung der gegenwärtigen systematischen Theologie und ihres Bezugs auf die christliche Religion vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Theologie und Religion ist durchaus treffend. Unter den Bedingungen der Moderne haben sich beide ausdifferenziert. Die Theologie hat sich als eine Fachwissenschaft etabliert, die sich von der Religion als theologisch nichtkonstruierter Wirklichkeit unterscheidet.5 Auf die gegebene Religion und ihre inhaltlischichtliche Wirklichkeit des Christentums zu etablieren, die sich gleichwohl nicht auf den Standpunkt eines bloß akademischen Beobachters oder ›Zuschauers‹ zurückziehen kann.« 3 Vgl. Laube: Unterscheidung (s. Anm. 1), 461: »So betrachtet, macht Barth mit seiner Religionskritik auf den hohen Preis aufmerksam, den der Übergang zum modernen Religionsparadigma fordert. Die mit der biblisch-christlichen Symboltradition verbundene Verheißung, von Gott zu reden, heiße ›etwas Anderes […] als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen zu reden‹, sei unter seiner Voraussetzung nicht mehr erschwinglich. Der Religionsbegriff lasse den Menschen eben nur mit sich selbst befasst sein; er bleibe gleichsam soteriologisch allein und in diesem Sinn bloßer ›Zuschauer‹, den das ihn verwandelnde tua res agitur nicht erreicht.« 4 Vgl. Laube: Unterscheidung (s. Anm. 1), 466: »Denn zum einen etabliert die Theologie mit ihrem Modell reflexiver Selbstdurchsichtigkeit nun eine hochgradig elitär-normative Virtuosenfigur religiöser Praxis, zum anderen widerspricht sie mit ihrem übergriffigen Rationalisierungsanspruch gerade jener Uneinholbarkeit religiöser Individualität, deren Wahrung sie sich als liberale Theologie einst auf die Fahnen geschrieben hatte.« 5 Vgl. Laube: Unterscheidung (s. Anm. 1), 464: »Theologisches Reflexionsmoment und religiösindividuelles Vollzugsmoment sollten zwar in ihrer wechselseitigen Unaufhebbarkeit zur Geltung gebracht, aber gerade nicht gegeneinander separiert werden. Weder darf die Theologie auf den Status eines bloßen Beobachters beschränkt noch umgekehrt die Religion zu einem bloßen Beobachtungsobjekt degradiert werden.« Vgl. auch ders.: Die Beobachtung »gelebter

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chen Aussagen ist die systematische Theologie bezogen, die wiederum nur dann Wissenschaft in einem modernen Sinne sein kann, wenn sie ihren Gegenstand selbst produziert. Stellt also die systematische Theologie die Wahrheit der christlichen Religion gleichsam in eigener Regie her oder kann sie das nur dann, wenn sie die Selbstsicht der gegebenen Religion in sich aufnimmt und berücksichtigt? Was bedeutet das für das Verständnis der systematischen Theologie und wie muss ihr Gegenstandsbezug ausgearbeitet werden, wenn die Unterscheidung von Theologie und Religion als ein Wechselverhältnis von zugestandenermaßen selbständigen Polen sein soll, die sich weder aufeinander reduzieren noch separieren lassen? Damit ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt. Laubes Forderung, Theologie und Religion als ein unreduzierbares Wechselverhältnis zu verstehen, ist aufzunehmen. Über seine theologiegeschichtliche Problemskizze hinausgehend wird vorgeschlagen, die systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion auszuarbeiten, die den Glauben als deren symbolproduktive Wirklichkeit konstruiert. Aber indem die Dogmatik sich auf die christliche Religion bezieht, produziert sie selbst ein durchsichtiges Bild von ihr, das sie zugleich von ihr unterscheidet. Sie beschreibt in sich als Wissenschaft das selbstdurchsichtige Funktionieren der christlichen Religion, welches diese selbst bereits und unabhängig von der systematischen Theologie ist. Das vorgeschlagene Verständnis einer wissenschaftlichen systematischen Theologie und ihres Bezugs auf die christliche Religion wird in drei Abschnitten ausgeführt. Einzusetzen ist mit der Unterscheidung von Theologie und Religion in den gegenwärtigen Debatten über die Funktion der Theologie. Im zweiten Abschnitt ist die systematische Theologie als Konstruktion der christlichen Religion in den Blick zu nehmen. Abschließend wird das Bild der christlichen Religion skizziert, welches die Dogmatik in sich als Wissenschaft thematisiert.

1

Die Unterscheidung von Theologie und Religion in der gegenwärtigen systematischen Theologie

Den Ausgangspunkt jeder systematisch-theologischen Darstellung der christlichen Religion bildet in der Gegenwart die Unterscheidung von Theologie und Religion. Auch dann, wenn der christliche Glaube als Gegenstand der Dogmatik angesetzt wird, erfolgt das auf der Grundlage dieser Unterscheidung. Aber wie thematisiert und konzeptualisiert die Dogmatik ihren Bezug auf die christliche Religion«. Überlegungen zu einer theologischen Kategorie in systemtheoretischer Sicht, in: Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer (Hg.): »Gelebte Religion« als Programmbegriff systematischer und praktischer Theologie, Zürich 2002, 161–189.

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Religion? In der Debatte der letzten Jahre begegnen unterschiedliche Modelle. Eine weit verbreitete Auffassung ist, dass die systematische Theologie eine Funktion des christlichen Glaubens sei.6 Dieser, den es als eine von der Theologie unabhängige, also theologisch nichtkonstruierte Wirklichkeit bereits gibt, wird in der theologischen Wissenschaft, die sich auf ihn bezieht, ausgelegt. Funktion des christlichen Glaubens ist die Theologie, weil sie den von ihr unabhängigen Glauben auslegt bzw. dieser sich in ihr selbst erkennt.7 Theologie dient dem christlichen Glauben, indem sie seinen Wahrheitsanspruch überprüft.8 Vorausgesetzt ist dabei der Glaube als eine Wirklichkeit, mit der ein bestimmter Geltungs- und Wahrheitsanspruch verbunden ist, der inhaltlich als christliches Wirklichkeitsverständnis zu bestimmen ist.9 Aufgabe der Theologie ist es folglich, die mit dem Glauben verbundene Wahrheitsgewissheit zu verstehen und mit den Instrumentarien der Wissenschaft zu überprüfen.10 Wahr ist der christliche 6 Vgl. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin 22000, 10: »Theologie ist eine Funktion des Glaubens. Christliche Theologie ist folglich eine Funktion des christlichen Glaubens.« 7 Vgl. Eilert Herms: »Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens«. Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Phänomenologie. Über den Gegenstandsbezug der Dogmatik (MJTh 6; MThSt 38), Marburg 1994, (69–99) 94: Theologie ist »die reflexive Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung des christlichen Glaubens«. Vgl. auch Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin 2011, 3: »Wir verstehen die Systematische Theologie als wissenschaftliche Form der Selbstbesinnung [!] des Glaubens auf seinen Gegenstand, auf seinen Grund und schließlich seine lebenspraktische Gestalt in der Sphäre des Privaten wie in den öffentlichen Funktionsbereichen der Gesellschaft.« 8 Vgl. Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 10: »Christliche Theologie dient dem christlichen Glauben, indem sie ihn jeweils in ihrer Zeit zu verstehen versucht und auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft.« 9 Vgl. Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 195–232. Vgl. auch ders./Eilert Herms: Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980; Christoph Schwöbel: Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinität in der christlichen Dogmatik, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Trinität (MJTh 10; MThSt 49), Marburg 1998, 129–154. 10 In Wilfried Härles Konstruktion der Theologie obliegt es dieser, als Wissenschaft auf der einen Seite den vorausgesetzten Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu prüfen. Auf der anderen Seite darf jedoch diese Prüfung lediglich in einer Bestätigung der vorausgesetzten Wahrheit des Glaubens bestehen. Würde diese negativ ausfallen, würde die Theologie aufhören, Theologie als Funktion des christlichen Glaubens zu sein. Vgl. Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 19: »Doch christliche Theologie ist nur insofern und solange eine Funktion des christlichen Glaubens, als sie von der Wahrheit und Bedeutung des christlichen Glaubens überzeugt ist. Indem die christliche Theologie sich als Wissenschaft etabliert, übernimmt sie die Verpflichtung, diese (vorgefaßte) Überzeugung der wissenschaftlichen Prüfung auszusetzen.« Härle nimmt auf seltsame und widersprüchliche Weise das (selbst völlig unplausible) Hypothesen-Konzept von Wolfhart Pannenberg auf, um die Theologie als Wissenschaft zu verstehen. Aber anders als Pannenberg, der nicht von einer vorausgesetzten Wahrheit des Glaubens ausgeht, nimmt Härle eine solche bereits in Anspruch. Vgl. ebd., 22–23. Zu Pannenbergs Verständnis der Theologie als Wissenschaft vgl. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1987, 329–348.

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Glaube schon für sich selbst, sodass es der Theologie lediglich obliegt, diese ihr bereits vorgegebene Wahrheit gedanklich zu entfalten und zu klären. Das tut sie, indem sie das inhaltlich bestimmte Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens als Bedingung seines eigenen Zustandekommens ausarbeitet.11 Voraussetzung der Theologie ist der christliche Glaube. Ohne ihn würde es sie nicht geben. Die systematische Theologie setzt den Glauben sowohl als eine gegenwärtige Wirklichkeit als auch als ein inhaltlich bestimmtes, wahres Wirklichkeitsverständnis voraus. Wer aber setzt diese Voraussetzung? Der christliche Glaube selbst? Fassungen der Dogmatik, die diese als Selbstbesinnung oder Selbstauslegung des Glaubens verstehen, scheinen genau das nahezulegen zu wollen. Als eine von der Theologie unabhängige und dieser vorgegebene Wirklichkeit legt sich der christliche Glaube in der theologischen Wissenschaft gleichsam selbst aus und besinnt sich in ihr auf sein eigenes Wesen. Dogmatik wäre dann eine Verlängerung oder ein Ausfluss des Glaubens in die Wissenschaft hinein. Aber wie macht das der Glaube, der ja selbst eine nicht-theologische Wirklichkeit sein soll, dass er sich selbst in der Wissenschaft auslegt? Einen solchen Glauben, wie er in diesen Konzeptionen des Gegenstandsbezugs der systematischen Theologie postuliert wird, gibt es nicht. Wie sollte er sich auch feststellen lassen? Subjekt der Theologie ist also nicht der christliche Glaube, sondern der Theologe, der den Glauben als eine unabhängig von der Theologie gegebene Wirklichkeit, die deren Voraussetzung bildet, setzt. Theologische Konzeptionen, die sich als Funktion oder Selbstbesinnung des christlichen Glaubens verstehen, postulieren ihre eigene Konstruktion als Wirklichkeit und reklamieren auf diese Weise für sich, die wahre Auslegung des Glaubens zu sein. Konzeptionen der systematischen Theologie, die diese als Funktion des christlichen Glaubens verstehen, müssen die Unterscheidung von Theologie und Religion in Anspruch nehmen. Schon um die vorausgesetzte Wahrheit des christlichen Glaubens prüfen zu können, muss die Theologie unabhängig und von diesem unterschieden sein. Andernfalls könnte sie diese Funktion gar nicht erfüllen. Aber indem das theologische Konstrukt des christlichen Glaubens als dessen wahre Wirklichkeit ausgegeben wird, heben diese Konzeptionen die Unterscheidung von Theologie und Religion auf. Mit ihrem eigenen Konstrukt ermächtigt sich die Theologie als richtige Auslegung des richtigen Glaubens. Damit ist jedoch genau das revoziert, von dem das Modell ausgeht, nämlich der Glaube als eine nichtkonstruierte Wirklichkeit, die von der systematischen Theologie unabhängig sein soll. Anders verfahren hermeneutisch orientierte Theologien. Auch sie gehen von der Unterscheidung von Theologie und Religion aus und verstehen jene als

11 Vgl. Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 31.

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Nachdenken des christlichen Glaubens.12 In Weiterführung der hermeneutischen Theologie seines Lehrers Eberhard Jüngel hat Johannes Fischer vorgeschlagen, strikt zwischen wissenschaftlicher Theologie und christlichem Glauben zu unterscheiden.13 Theologie beziehe sich zwar auf den christlichen Glauben, aber dieser sei von ihr nicht nur zu unterschieden, ihr sei die Wahrheit des Glaubens auch gar nicht zugänglich.14 Fischer arbeitet sein Verständnis einer hermeneutischen Theologie in Absetzung von Konzeptionen wie der oben diskutierten aus, die die systematische Theologie als Funktion des christlichen Glaubens verstehen und von einem gegenständlichen Verständnis der Inhalte des Glaubens ausgehen, deren Wahrheit von der Theologie zu verifizieren sei. Ein solches Verständnis der Theologie und ihres Bezugs auf die Religion sei ebenso widersprüchlich, wie es die Eigenart des Glaubens verfehle, da es ein theologisches Konstrukt als Wirklichkeit postuliere und auf diese Weise ihre eigene theologische Konstruktionsleistung zum Verschwinden bringe.15 Aber der christliche Glaube und seine inhaltlichen Bestimmungen sind kein theoretisches Gegenstandsverhältnis, über dessen Wahrheit die Theologie zu entscheiden hätte. Vielmehr ist er ein Geschehen, in dem die Dimensionen Erleben, Artikulation und Verstehen verbunden sind.16 Glaube bezieht sich nicht auf Tatsachen, die es unabhängig von ihm als solche bereits gibt, sondern er ist ein hermeneutischer Vollzug, der sich in Bildern erlebter Wirklichkeit artikuliert, die an den Vollzug 12 Vgl. Eberhard Jüngel: »Meine Theologie« – kurz gefaßt, in: ders. (Hg.): Theologische Erörterungen 3. Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, München 1990, (1–15) 9: »Theologie denkt dem Kommen Gottes nach. Sie ist die dem Glauben entspringende Nachfolge des Denkens.« Vgl. auch ders.: Die Freiheit der Theologie, in: ders. (Hg.): Theologische Erörterungen 2. Entsprechungen. Gott – Wahrheit – Mensch, München 1980, 11–36. 13 Vgl. Johannes Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch und die Religionen, in: Christian Danz/Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 187–203; ders.: Pluralismus, Wahrheit und die Krise der Dogmatik, in: ZThK 91 (1994), 487–539; ders.: Glaube als Erkenntnis. Zum Wahrnehmungscharakter des christlichen Glaubens, München 1989. 14 Vgl. Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch (s. Anm. 13), 187: »Demgegenüber ist es die These der folgenden Überlegungen, daß weder der christliche Glaube einen derartigen [sc. christlichen Wahrheits-] Anspruch erhebt noch die wissenschaftliche Theologie einen solchen Anspruch für den christlichen Glauben erheben kann.« 15 Vgl. Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch (s. Anm. 13), 188: »Kritisch ist hier zu fragen, ob damit nicht ein Wahrheitsverständnis, das für die wissenschaftliche Theologie zweifelsohne angemessen ist, auf den christlichen Glauben projiziert wird.« 16 Vgl. Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch (s. Anm. 13), 188–189: »Denn ersichtlich unterscheidet sich der Glaube von wissenschaftlich-theologischer Reflexion. Er ist in seiner elementarsten Schicht im Erleben fundiert. Dieses Erleben findet seinen Ausdruck bzw. seine Artikulation in Riten, Bildern, Narrationen, Metaphern und begrifflichen Verdichtungen der christlichen Glaubenssprache. Diese wiederum fordern das Verstehen heraus, mit dem der Glaube sich Rechenschaft gibt hinsichtlich dessen, was er glaubt. Erleben, Artikulation und Verstehen sind die drei Ebenen, auf denen christlicher Glaube sich vollzieht.«

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des Glaubens gebunden sind und keine gegenständliche Funktion haben. Indem sich der Glaube selbst in seinen inhaltlichen Bestimmungen darstellt, kann die Frage nur sein, ob seine Bilder und szenischen Darstellungen angemessen sind, und nicht, ob er gegenständliche Tatsachen zutreffend beschreibt.17 Der christliche Glaube ist ein hermeneutisches Geschehen, das sich in Bildern artikulierter Erlebniswirklichkeit darstellt. Seine inhaltlichen Bestimmungen haben eine reflexive, aber keine gegenständliche Funktion. In ihnen stellt sich der Glaube selbst als eine eigene Sicht der Wirklichkeit dar, die in der Offenbarung Gottes gründet. Für die sich auf den Glauben beziehende Theologie heißt das, sie muss sich als eine hermeneutische Wissenschaft verstehen und nicht als eine Wirklichkeitswissenschaft. Aber als theoretische Wissenschaft ist sie zugleich von dem Glauben unterschieden. Dieser und die von ihm artikulierte Wirklichkeit ist an seinen Vollzug, nämlich die Offenbarung Gottes, gebunden. Da die wissenschaftliche Theologie nicht selbst Glaube ist, kann sie auch keinen Zugang zu diesem haben.18 Theologie, eben weil sie als Wissenschaft vom Glauben unterschieden ist, kann folglich auch gar nicht über die Wahrheit des Glaubens urteilen. Diese ist ihr als eine theologisch nichtkonstruierte Wirklichkeit entzogen. Zwischen der wissenschaftlichen Theologie und dem Glauben ist nicht nur zu unterscheiden, dieser ist jener auch gar nicht zugänglich. Denn der Glaube als hermeneutisches Geschehen artikulierter Erlebniswirklichkeit ist eine theologisch nichtkonstruierte Wirklichkeit. Er verdankt sich der Offenbarung Gottes. Die wissenschaftliche Theologie hingegen operiert auf einer Ebene, auf der Gegenstände durchgehend konstruiert und produziert werden. Damit wird in Fischers hermeneutischer Konzeption aus der Differenz von Theologie und Religion ein Dualismus beider. Mit diesem ist unweigerlich die Frage verbunden, woher der Theologe von dem ihm nicht zugänglichen Glauben und seiner Beschreibung als einer erlebten und artikulierten Wirklichkeit weiß. Auch die behauptete Theologie des Glaubens, die von der wissenschaftlichen Theologie unterschieden ist, bleibt eine theologische Konstruktion. Es ist nämlich nicht der Glaube, der sich selbst von der wissenschaftlichen Theologie unterscheidet, sondern der Theologe, der den Glauben als eine theoretisch nicht zugängliche Wirklichkeit als Voraussetzung setzt.19 17 Vgl. Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch (s. Anm. 13), 194. 18 Vgl. Fischer: Christlicher Wahrheitsanspruch (s. Anm. 13), 195: »Das bedeutet, daß die Wahrheit dieser Aussage [sc. ›Gott ist gut‹] nur der Erlebnisperspektive des Glaubens zugänglich ist, der Gottes Wirken in dieser Weise ansieht. Es gibt daneben keinen anderen, eigenen Zugang wissenschaftlicher Theologie zu dieser Wahrheit.« Vgl. auch ders.: Pluralismus (s. Anm. 13), 511–512. 19 Im Resultat entspricht Fischers Entgegensetzung von wissenschaftlicher Theologie und gelebtem Glauben solchen theologischen Ansätzen, die von einer gelebten Religion ausgehen

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Sowohl theologische Konzeptionen, die die Theologie als Funktion des Glaubens verstehen, als auch solche, die der Theologie einen Zugang zur Wirklichkeit des Glaubens absprechen, lösen die Unterscheidung von Theologie und Religion einseitig auf. Entweder behaupten sie ihre theologische Konstruktion des Glaubens für dessen Wirklichkeit oder sie postulieren eine der Theologie nicht zugängliche Wirklichkeit des Glaubens. In beiden Fällen ist es jedoch die wissenschaftliche Theologie selbst, die den Glauben konstruiert. Indem dies nicht durchsichtig gemacht wird, kann auch das unreduzierbare Wechselverhältnis von Theologie und Religion, von dem ausgegangen wird, nicht festgehalten werden.

2

Systematische Theologie als Wissenschaft von der christlichen Religion

Die systematische Theologie bezieht sich auf die christliche Religion, von der sie als Wissenschaft zugleich unterschieden ist. Sie ist nicht selbst Religion, obwohl sie diese beschreibt. Somit kann die Dogmatik weder ihre eigene Konstruktion des Glaubens mit der Aura der Wirklichkeit versehen noch kann sie behaupten, es gebe einen wahren Glauben, der ihr nicht zugänglich ist. Beide Fassungen des Verhältnisses von Theologie und Religion lösen deren Wechselverhältnis einseitig auf und mit ihm die Eigenständigkeit seiner Relate. Im ersten Fall wird die Theologie als Wahrheit der Religion behauptet und im zweiten der Theologie abgesprochen, Religion zu erfassen. Beides läuft auf eine Selbstabschaffung der Theologie als Wissenschaft hinaus. Wie ist aber dann der Bezug der theologischen Wissenschaft auf die christliche Religion zu verstehen? In beiden Fassungen des Bezugs der systematischen Theologie auf ihren Gegenstand wird der christliche Glaube in und von der Theologie konstruiert. Anders kann sich die Dogmatik auch in der Tat nicht auf ihren Gegenstand beziehen. Sie stellt ihn in sich als Wissenschaft her. Einen anderen Zugang zu ihrem Gegenstand hat die systematische Theologie ebenso wenig wie andere Wissenschaften. Diese können ihre Gegenstände nur konstruieren, da sie durchgehend selbstbezüglich operieren. Nur dadurch sind sie Wissenschaften. Von der systematischen Theologie ist ihre eigene Konstruktionstätigkeit transparent zu machen. Allein so kann sie es vermeiden, sich selbst an die Stelle der christlichen Religion zu setzen oder einen ihr vorgegebenen Glauben zu postulieren, der ihr selbst unzugänglich ist, von dem sie aber abhängig sein soll. Theologie konstruiert die christliche Reliund diese als eine theologisch nichtkonstruierte Wirklichkeit der theologischen Konstruktion entgegensetzen. Vgl. Falk Wagner: Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 167–241. Zur Debatte vgl. Grözinger/Pfleiderer: Gelebte Religion (s. Anm. 5).

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gion vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Theologie und Religion. Diese Unterscheidung ist eine, die von der Theologie gemacht wird. Erst indem diese die christliche Religion konstruiert, entsteht die Differenz von Theologie und Religion. Beides liegt also nicht bereits vor. Nur auf diese Weise kann die systematische Theologie in ihrer Darstellung der christlichen Religion diese als eine von ihr unabhängige und eigene Wirklichkeit anerkennen. Voraussetzung der systematischen Theologie ist somit nicht ein bestimmter Glaube, der sich gar nicht feststellen lässt und ein bloßes Postulat bleibt.20 Was sie voraussetzt, ist, dass es die christliche Religion als eine in der Kultur ausdifferenzierte Form der Kommunikation gibt. Würde es sie nicht mehr geben, da die christliche Religion ein Phänomen der Geschichte geworden ist, das in der Gegenwart nicht mehr praktiziert wird, dann wäre auch keine systematische Theologie nötig, die sie beschreibt. Eine historische oder religionswissenschaftliche Thematisierung der christlichen Religion würde dann ausreichend sein. Da es aber die christliche Religion noch gibt und sie in der Kultur als Religion weitergegeben wird, bedarf es auch einer systematischen Theologie, die sie beschreibt. An ihrer normativen Funktion ist festzuhalten, aber sie ist anders zu bestimmen als in den diskutierten Modellen. Was bedeutet das nun für die systematische Theologie und ihr Selbstverständnis als Wissenschaft? Sie ist zunächst eine hermeneutische Wissenschaft und keine Wirklichkeitswissenschaft.21 Es reicht nicht aus, wenn die Dogmatik auf die inhaltlichen Bestimmungen der christlichen Religion bezogen ist und diese in einen systematischen Zusammenhang zu bringen versucht.22 Dogmatik ist keine Darstellung, Zusammenfassung oder Evaluierung der inhaltlichen Aussagen der christlichen Religion. Freilich heißt das nicht, dass ihre inhaltlichen Bestimmungen bedeutungslos werden. Erkennbar ist die christliche Religion allein an ihren Narrativen, die es nur als konkrete und mithin inhaltlich bestimmte gibt. Aber an inhaltlichen Aussagen ist Religion nicht zu erkennen. Der Gebrauch von Wörtern wie Jesus Christus, Gott oder der Geschichte Jesu sagt selbst noch nichts darüber aus, ob sie in einem religiösen Sinne gemeint sind. Sie können jederzeit auch in einem nichtreligiösen Sinne gebraucht werden. Es muss also noch eine weitere Dimension hinzukommen, durch die die inhaltlichen

20 Vgl. hierzu Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede, Frankfurt a.M. 2016. 21 Der Vorschlag von Johannes Fischer sowie seine Kritik an den Konzeptionen von Wolfhart Pannenberg und Wilfried Härle wird damit aufgenommen und auf der Grundlage einer anderen Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Religion weitergeführt. Vgl. hierzu auch Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018, 20–28. 22 So auch Fischer: Pluralismus (s. Anm. 13), 505–506.

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Aussagen erst zur Religion werden.23 Diese Ebene »hinter« den inhaltlichen Bestimmungen der christlichen Religion lässt sich jedoch weder durch das Postulat von gleichsam vorgegebenen religiösen Gegenständen, die es an sich bereits gibt, noch durch eine religiöse Anlage im Subjekt verständlich machen.24 Es ist auch nicht der Vollzug oder eine bestimmte Erfahrung, durch die die religiöse Qualität der Inhalte zustande kommt. Vielmehr entsteht Religion allein in dem Gebrauch, der von Inhalten in der Kommunikation gemacht wird – und sie ist durchgehend an diesen Gebrauch gebunden. Weder durch bestimmte Aussagen noch durch Gegenstände, auf die sich die Kommunikation richtet, oder eine im Subjekt angelegte religiöse Potenz konstituiert sich die christliche Religion. Sie ist vielmehr ein an die religiöse Kommunikation gebundenes Verstehen und besteht in der religiösen Benutzung der Kommunikation, um die von den Kommunizierenden gewusst werden muss. Das Wissen, christliche Religion zu kommunizieren, ist ein Bestandteil der religiösen Kommunikation. Religion zeichnet sich selbst bereits durch Reflexivität aus. Diejenigen, die Religion praktizieren, wissen, dass sie dies und nicht etwas anderes tun. Genau das ist der Gegenstand der systematischen Theologie. Ihre Aufgabe besteht darin, das der christlichen Religion selbst bereits zukommende Wissen, Religion zu sein, darzustellen. In ihrem Fokus steht dasjenige Verstehen, in und durch das sich die christliche Religion im Gebrauch von Narrativen, Symbolen und Bildern herstellt und von dem die so Kommunizierenden wissen, dass sie Religion meinen, wenn sie diese Inhalte benutzen. Es geht also nicht darum, der christlichen Religion durch die Theologie ein Wissen zu implementieren, das ihr fehlt, sondern darum, in der Dogmatik die christliche Religion als ein selbstbezügliches und selbstdurchsichtiges Geschehen darzustellen, das an religiöse Kommunikation gebunden ist und sich in dieser erst herstellt. Die inhaltlichen Aussagen der christlichen Religion verweisen nicht auf eine Gegenstandssphäre hinter den Zeichen. Vielmehr sind diese zugleich Ausdruck und Reflexion der Religion in ihr selbst. Auf dieses reflexive, um sich als Religion wissende Selbstverhältnis der christlichen Religion bezieht sich die systematische Theologie. Indem diese das mit der christlichen Religion verbundene Wissen, Religion zu sein, thematisiert, ist sie auf die Selbstsicht der sie Praktizierenden bezogen. Die Einbeziehung und Berücksichtigung der Sicht der Glaubenden auf ihren Glauben unterscheidet die systematische Theologie von allen anderen Wissenschaften, die 23 Johannes Fischer bestimmt diese Dimension im Unterschied zur inhaltlichen Ebene der kognitiven Gehalte der christlichen Religion als Geist. Vgl. Fischer: Pluralismus (s. Anm. 13), 503. 24 Zur Auflösung dieser Voraussetzungen der Religionstheorie in der Entwicklung der theologischen und religionsphilosophischen Entwicklung der Moderne vgl. Christian Danz: Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen 2019, 101–130.

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sich mit Religion beschäftigen.25 Aber die Selbstsicht der christlichen Religion, die der Gegenstand einer wissenschaftlichen Dogmatik ist, ist und bleibt deren eigene Konstruktion. Sie entwirft in sich als Wissenschaft ein Bild der christlichen Religion. Allein dadurch, dass sie die Sicht der Glaubenden thematisiert, ist sie einerseits eine eigene Wissenschaft und andererseits an die christliche Religion, die von ihr unabhängig ist, anschließbar.26 Als Wissenschaft von der christlichen Religion konstruiert die systematische Theologie diese als ein um sich wissendes und selbstbezügliches Verstehen, welches in religiöse Kommunikation eingebunden ist. Ihr Bild der christlichen Religion bleibt eine selbstbezügliche Konstruktion, die sie selbst herstellt. Es ist weder eine Verlängerung der Religion in die Wissenschaft hinein noch die Wahrheit der christlichen Religion. Systematische Theologie ist auch nicht notwendig für die christliche Religion. Diese bedarf keiner Theologie, um Religion zu sein oder sich orientieren zu können.27 Dass es systematische Theologie als eine eigene Wissenschaft an Universitäten gibt, ist das Resultat eines kontingenten Ausdifferenzierungsprozesses des Wissenschaftssystems, aber keine im Wesen des christlichen Glaubens selbst angelegte Notwendigkeit.28 Gegenstand der systematischen Theologie ist die christliche Religion als ein selbstbezügliches und selbstdurchsichtiges Verstehen, das in die christlich-religiöse Kommunikation eingebunden ist und sich in dieser als Religion herstellt. Eine eigene Wissenschaft ist sie, die Dogmatik, dadurch, dass sie diese Selbstsicht der christlichen Religion konstruiert, von der sie als Wissenschaft zugleich unterschieden ist. Systematische Theologie muss erklären können, wie die christliche Religion als Religion funktioniert. Das tut sie, indem sie diese als durchsichtiges Selbstverhältnis darstellt. Aber solches reflexives Wissen muss sie der christlichen Religion selbst schon zuschreiben. Dieses theologische Bild der christlichen Religion ist nun in den Blick zu nehmen.

25 Die Einbeziehung der Selbstsicht der Glaubenden auf ihren Glauben, also die Berücksichtigung derjenigen Reflexivität des religiösen Aktes in der systematischen Theologie, durch den Religion als ein in Kommunikation eingebundenes Geschehen erst entsteht, ist die Pointe der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgenommenen Bestimmungen der Dogmatik als Glaubensakt. Vgl. Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik 1. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik 1, Zürich 81964, 16–23; Rudolf Bultmann: Theologische Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 166. 26 Vgl. hierzu Wittekind: Theologie religiöser Rede (s. Anm. 21), 5. 27 So Jüngel: Freiheit der Theologie (s. Anm. 12), 17: »Es gehört zum Wesen des Glaubens, daß er zwar wirklich werden, nicht aber wirklich bleiben kann ohne Theologie.« Vgl. auch Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg i.Br. 1991, 12; Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 15. 28 Etwa weil das Christentum »denkende Religion« sei. Vgl. Härle: Dogmatik (s. Anm. 6), 14.

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Erinnerung an Jesus Christus oder: das dogmatische Bild der christlichen Religion

Wie eben ausgeführt, konstruiert die systematische Theologie die christliche Religion vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Theologie und Religion. Mit ihrem Gegenstand bezieht sie sich auf ihr eigenes Konstrukt. Ihre Aufgabe besteht darin, alle Voraussetzungen der christlichen Religion in deren Bestandteile aufzulösen. Nur so kann sie Wissenschaft sein und sich an die christliche Religion anschließen. Darstellung der Selbstsicht der christlichen Religion meint somit, dass die systematische Theologie deren Gehalte als Selbstdarstellung der der Religion eigenen Reflexivität konstruiert. Mit ihren Gehalten beschreibt die christliche Religion in und für sich selbst, wie sie als Religion entsteht und in der Geschichte weitergegeben wird. Gegenstand der Dogmatik als Wissenschaft ist folglich die christliche Religion als Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus als Religion.29 Als Religion entsteht diese jedoch weder durch einen Bezug auf bereits vorgegebene Gegenstände, etwa Jesus Christus oder Gott und den Heiligen Geist, noch durch ein vorauszusetzendes religiöses Subjekt. Vielmehr konstituiert sich die religiöse Erinnerung an Jesus Christus allein in der religiösen Kommunikation. Religiöse Aneignung der Erinnerung an Jesus Christus ist zugleich ihre Herstellung als Religion. Wenn es die Aufgabe der systematischen Theologie ist, die christliche Religion als ein durchsichtiges und selbstbezogenes Geschehen zu konstruieren, das in Kommunikation eingebunden und in sich strukturiert ist, dann muss sie deren inhaltliche Bestandteile als ihr Wissen um ihr Sein als Religion verstehen.30 Gott, Jesus Christus und der Heilige Geist beschreiben folglich in und für die christliche Religion, wie diese als Religion funktioniert und in der Geschichte weitergegeben wird.31 Gott repräsentiert in der christlichen Religion ihr selbstbezügliches Sein als Religion, nämlich verstehende Aneignung von Kommunikation zu sein, in und durch die sie sich als Religion konstituiert.32 Mit der Christologie fügt die christliche Religion weder einem allgemeinen Gottesgedanken noch einem allgemeinen Religionsbegriff ein neues inhaltliches Moment hinzu, sondern der 29 Vgl. hierzu auch Fischer: Pluralismus (s. Anm. 13), 523, der den Glauben »als geistbestimmte Kommunikation und Lebensorientierung« als Gegenstand der Dogmatik benennt. 30 Vgl. hierzu Danz: Gottes Geist (s. Anm. 24), 118–130. 31 Fischers offenbarungstheologische Fassung des Glaubensbegriffs als in sich strukturierte Einheit von Erleben, Artikulation und Verstehen wird damit aufgenommen, aber als Konstrukt der systematischen Theologie durchsichtig gemacht. Nur so lässt sich seine Forderung aufnehmen, dass die theologische Deutung des Glaubens nicht an dessen Stelle treten darf. Vgl. Fischer: Pluralismus (s. Anm. 13), 517–518. 32 Vgl. Danz: Gottes Geist (s. Anm. 24), 130–139.

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Christusbezug steht in ihr für die Bindung der Religion an das individuelle Verstehen und Darstellen der Religion in einem Bild ihrer selbst. Jesus Christus ist in der christlichen Religion kein Gegenstand, sondern er repräsentiert in ihr, dass sie als Religion nur durch eine selbstbezügliche Bildproduktion funktioniert.33 Und der Heilige Geist symbolisiert schließlich in der Religion, dass sie abhängig ist von einer inhaltlich bestimmten Überlieferung, nämlich der Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus. Deshalb kann der Gottesgeist in der christlichen Religion nur als Geist Christi verstanden werden. Gott, Christus und der Heilige Geist repräsentieren in der christlichen Religion diese selbst als ein in die religiöse Kommunikation eingebundenes Geschehen. Mit ihren Gehalten stellt sie somit nicht nur sich selbst dar, sondern beschreibt in ihr, wie sie als Religion entsteht, nämlich als verstehende Aneignung und symbolische Artikulation der Erinnerung an Jesus Christus. Nur aus dem Wechselverhältnis der drei Elemente zusammen konstituiert sich diese als Religion, so dass sie sich nicht auf eines dieser Elemente zurückführen lässt. Seinen zusammenfassenden Ausdruck findet die christliche Religion im trinitarischen Gottesgedanken. Er beschreibt die reflexive Struktur, in der sie sich im religiösen Verstehen der überlieferten Erinnerung an Jesus Christus in symbolischen Formen herstellt. Auch der dreieinige Gott stellt somit keine Voraussetzung dar, aus der der christliche Glaube hergeleitet oder begründet werden könnte.34 Vielmehr ist der trinitarische Gott ein Bestandteil der christlichen Religion und repräsentiert in ihr diese selbst als ein durchsichtiges und in sich strukturiertes Selbstverhältnis. Allein in und durch das triadische Wechselverhältnis von verstehender Aneignung und symbolischer Darstellung der überlieferten religiösen Erinnerung an Jesus Christus entsteht die christliche Religion als Religion. Sie ist an deren religiösen Gebrauch gebunden. Darauf bezieht sich der Glaubensbegriff. Er bezeichnet das Gelingen und Wirklichwerden der Religion im Gebrauch, den Einzelne von der religiösen Kommunikation machen. Glaube meint folglich die symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion. Auch der Glaubensbegriff ist ein Konstrukt der systematischen Theologie. Er dient ihr zur Beschreibung der Eigenart der christlichen Religion. Aufgegeben und nicht weitergeführt wird damit die Entgegensetzung von Religion und Glaube, die für die Theologie des 20. Jahrhunderts signifikant war. Die Besonderheit der christlichen Religion liegt nicht darin, dass sie sich durch den Glauben von Religion unterscheidet. In jenem besteht ihre Wirklichkeit als Religion, also das Gelingen der religiösen Kommunikation. Diese ist mit ihrem bloßen Vollzug noch nicht ge33 Vgl. hierzu Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Eine christologische und religionstheologische Skizze, Tübingen 2020, 167–175. 34 So in den Konzeptionen von Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986; Dalferth: Kombinatorische Theologie (s. Anm. 27), 131–137; Schwöbel: Trinitätslehre (s. Anm. 9), 129–154.

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geben, wie in der Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,35 sondern allein im durchsichtigen Gebrauch der Kommunikation zur Darstellung von Religion. Aufzunehmen ist jedoch die Kritik an einer anthropologischen Verankerung der Religion, welche diese Theologengeneration vorgenommen hat, sowie – als Folge davon – die Einbeziehung der Reflexivität und Durchsichtigkeit des religiösen Akts in die systematische Theologie. Religion ist weder ein Bestandteil der conditio humana noch ist sie für das menschliche Leben notwendig. Sie entsteht unableitbar im sich als Religion wissenden Gebrauch der religiösen Überlieferung an Jesus Christus. Erkennbar ist die christliche Religion nur durch ihre inhaltlichen Narrative, in denen die Erinnerung an Jesus Christus weitergegeben wird. Das ist die Funktion der Bibel für die christliche Religion. Ohne konkrete Erzählungen könnte sie in der Geschichte weder bestehen noch weitergegeben werden. Denn um als Religion entstehen zu können, setzt sie religiöse Kommunikation voraus, die als solche erkennbar sein muss. Als kollektives Gedächtnis ist die Erinnerung an Jesus Christus erst mit den neutestamentlichen Schriften geschaffen worden.36 Dieses ist eine Identitätskonstruktion, die von der religiösen Weitergabe des erinnerten Jesus sowohl abhängig ist als diese auch erst hervorbringt. Religion kann nur aus bereits vorausgehender religiöser Kommunikation entstehen. Zur christlichen Religion wird die biblische Erinnerung an Jesus Christus jedoch allein in dem religiösen Gebrauch, der von der Schrift gemacht wird. Ihre Identität hängt nicht schon an der Bibel als solcher. Religiöse Anrede oder Autorität ist die Bibel ausschließlich in und für die christliche Religion, also in ihrer christlich-religiösen Verwendung, die Einzelne von ihr machen.37 Erst in und durch ihre religiöse Aneignung konstituiert sich die christliche Religion, ihre Identität und die Erinnerung an Jesus Christus als ihre Voraussetzung. Aber die Differenz zwischen einem religiösen und einem nicht-religiösen Verständnis der Schrift lässt sich nicht inhaltlich bestimmen. Inhaltlich unterscheidet sich die religiöse Benutzung der biblischen Erinnerung an Jesus Christus gerade nicht von einer historischen oder ästhetischen. Es ist allein der Gebrauch, der von diesen Texten gemacht wird, der darüber entscheidet, ob er religiös oder nichtreligiös gemeint ist. In der christlich-religiösen Kommunikation fungieren die Bibel und ihre inhaltlichen Ausführungen als Ausdruck von Religion und ihrer 35 Vgl. nur Bultmann: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 25), 157: »Der Glaube ist Tat und nur [!] im Vollzug seiner selbst sicher.« 36 Vgl. hierzu Sandra Huebenthal: Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, Göttingen 2 2018; Eve-Marie Becker: The Birth of Christian History. Memory and Time from Mark to Luke-Acts, New Haven 2017. 37 Vgl. Christian Danz: Autor und Autorität der Schrift. Anmerkungen zur Schriftlehre der Dogmatik, in: Uta Heil u. a. (Hg.): Autor und Autorität. Historische, systematische und praktische Perspektiven (WJTh 12), Göttingen 2019, 113–127.

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Abhängigkeit von der Geschichte Jesu.38 Glaube ist folglich das religiöse Verstehen der Erinnerung an Jesus Christus und deren Gebrauch zur eigenen religiösen Darstellung. So ist die christliche Religion auf der einen Seite ohne ihre inhaltlichen Narrative, in denen die Erinnerung an Jesus Christus weitergegeben wird, nicht zu erkennen und auf der anderen besteht sie gerade nicht in Inhalten, sondern in der religiösen Benutzung von diesen. Denn die inhaltlichen Aussagen der christlichen Religion können jederzeit nicht-religiös verwendet, wie umgekehrt nicht-religiöse Aussagen in die religiöse Kommunikation aufgenommen werden. Zu ihrer in die religiöse Kommunikation eingebundenen Entstehung setzt die christliche Religion jedoch nicht nur die in der Bibel überlieferte Erinnerung an Jesus Christus voraus, sondern auch eine religiöse Gemeinschaft, die diese religiös versteht und religiös weitergibt.39 Damit ist die Kirche als religiöse Kommunikationsgemeinschaft ein Bestandteil der christlichen Religion, ohne die sie nicht existieren kann. Kirche meint hier das in die christlich-religiöse Kommunikation eingebundene religiöse Verstehen und nicht primär eine Institution.40 Die christliche Religion entsteht in und durch das triadische Wechselverhältnis von Abhängigkeit von der Erinnerung an Jesus Christus, deren verstehender Aneignung und symbolischer Darstellung. Das durchsichtige Gelingen der christlich-religiösen Kommunikation wird als Kirche verstanden.41 Ohne dass die Erinnerung an Jesus Christus als Religion Wirklichkeit wird, kann sie nicht in der Geschichte existieren und weitergegeben werden. Hierzu ist die christlich-religiöse Kommunikation notwendig. Deshalb kann es ohne religiöse Kommunikation, also eine sichtbare Kirche, auch kein Gelingen der Kommunikation bzw. eine verborgene Kirche geben. Diese ist an die Weitergabe der Erinnerung an Jesus Christus gebunden. Wo diese nicht kommuniziert wird, da kann es auch keine christliche Religion geben. Allein in diesem Sinne ist der berüchtigte Satz »extra ecclesiam nulla salus« zu verstehen. Eine christliche Religion außerhalb 38 Wort Gottes ist die Bibel allein in und für die christliche Religion; beides entsteht zusammen. Vgl. nur Karl Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf 1. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, München 1927, 356: »Daran wird die Bibel als Wort Gottes erkannt, daß sie Wort Gottes ist. […] Es handelt sich um einen Kreis, in dem man sich von außen nicht hinein und von innen nicht herausdenken kann.« 39 Das ist die systematische Funktion des Rekurses auf die Kirche in den theologischen Neubestimmungen der Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Absetzung von religionsgeschichtlichen Bestimmungen der Besonderheit der christlichen Religion. Damit diese entstehen kann, muss nicht nur etwas erzählt, es muss auch religiös verstanden und weitergegeben werden. Für dieses religiöse Verstehen der christlich-religiösen Kommunikation steht in den Konzeptionen von Friedrich Gogarten, Karl Barth, Rudolf Bultmann u. a. die Kirche. 40 Wobei freilich ohne eine Institutionalisierung die Weitergabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus in der Geschichte nicht möglich wäre. 41 Vgl. hierzu Wittekind: Theologie religiöser Rede (s. Anm. 21), 225–244.

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des Christentums, also ein unbewusstes oder anonymes Christentum ist ein unter modernen Bedingungen nicht nachvollziehbares Allgemeinheitspostulat. Aufgabe der systematischen Theologie ist es, die Struktur der christlichen Religion und ihrer symbolproduktiven Wirklichkeit als Glaube zu entfalten. Aber dieses Bild der christlichen Religion ist eine theologische Konstruktion ihrer Selbstsicht. Es kann weder den Anspruch erheben, die Wahrheit der christlichen Religion noch ein Ausfluss von dieser zu sein. Wissenschaft in einem modernen Sinne ist die systematische Theologie nur dann, wenn sie selbst den Glauben als symbolproduktive Wirklichkeit der christlichen Religion konstruiert und dabei auf alle Voraussetzungen verzichtet, die nicht allgemein nachvollziehbar sind. Aber indem die systematische Theologie darauf beharrt, in sich die Selbstsicht des Glaubens zu beschreiben, bleibt sie an die christliche Religion und ihre Weiterentwicklung in der Moderne anschließbar, von der sie als Wissenschaft unterschieden ist.

Ulrich H.J. Körtner

Christliche Sokratik. Emil Brunners Programm theologischer Eristik und das Problem der Apologetik bei Rudolf Bultmann

Abstract Apologetics is not merely a sub-discipline of theology, but a basic feature of all theology. A strong reading understands Christian theology as an attack on a self-sufficient reason that denies God’s existence or declares itself the ultimate standard and judge in matters of faith and unbelief. This is also the basic idea of Emil Brunner’s »eristics«, whose theological program the article examines in comparison with those of Barth and Bultmann.

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Theologie im Streit um die Wirklichkeit

Was Wirklichkeit und wie wirklich die Wirklichkeit ist, bleibt strittig. Wissenschaft versucht mit Gründen zu klären, was wirklich und unwirklich, was möglich und unmöglich, was wahr und was falsch ist. Sie ist der institutionalisierte Streit um die Wirklichkeit auf dem Feld des Wissens. Auch die Theologie ist am Streit um die Wirklichkeit beteiligt. Als soteriologische Interpretation der Wirklichkeit legt sie diese als erlösungsbedürftig aus, das aber unter der Voraussetzung der biblisch bezeugten Wirklichkeit der Erlösung – und nicht etwa nur unter der Annahme ihrer Möglichkeit. Die Wirklichkeit der Erlösung hat ihren Grund in Gott als der »Alles bestimmenden Wirklichkeit«1, wie Rudolf Bultmanns klassische Gottesdefinition lautet. Dass alle Wirklichkeit von Gott bestimmt ist, bleibt jedoch eine höchst strittige Behauptung. Daher beginnt alle Theologie nicht mit dem fraglosen Sein Gottes, sondern mit seinem Strittigsein.2 Theologie ist, so gesehen, »primär Konfliktwissenschaft, nicht primär Integrationswissenschaft. Sie setzt darauf, daß sich erst durch den Streit hindurch die Einheit herstellt.«3 In ihr wird der Konflikt um das Strittigsein Gottes ausgefochten, und zwar so, dass zugleich die Strittigkeit der Wirklichkeit, ihrer Erlösungsbedürftigkeit und der 1 Rudolf Bultmann: Welchen Sinn hat es von Gott zu reden?, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze 1, Tübingen 71972, (26–37) 26. 2 Vgl. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens 1, Tübingen 21982, 169–173. 3 Vgl. Oswald Bayer: Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, 521.

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biblisch bezeugten Erlösungswirklichkeit thematisch wird. Zwar ist Theologie nicht denkbar ohne die Prämisse, dass Gott ist, was nur unter der Voraussetzung der Selbstoffenbarung Gottes gewusst werden kann. Gottes Offenbarsein, wie es das neutestamentliche Evangelium von der in Jesus Christus erschienenen Liebe und Erlösungswirklichkeit bezeugt, steht aber im Widerstreit zur »dem Evangelium radikal widersprechenden, erdrückend unbegreiflichen Verborgenheit Gottes«.4 Die Strittigkeit Gottes tritt also am Ort der Theologie selbst auf und nicht etwa nur zwischen ihr und anderen Wissenschaften. Der Streit um die Wirklichkeit Gottes wie um die Wirklichkeit der Wirklichkeit und um diejenige der Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungswirklichkeit hat ihren Ort freilich auch nicht bloß innerhalb der Theologie und unter Voraussetzung gläubigen Bewusstseins. Er findet auch innerhalb und zwischen den übrigen Wissenschaften statt, und zwar auch dort, wo von Gott und Religion gar nicht explizit die Rede ist. Der Geltungsanspruch theologischer Aussagen beschränkt sich also nicht auf eine abgegrenzte Provinz im Gemüte (Schleiermacher) oder auf das Gebiet der Religion. Und eben darum tritt die Theologie in die Auseinandersetzung mit den übrigen Wissenschaften ein. Es handelt sich dabei nicht bloß um einen wohlwollenden interdisziplinären Dialog, sondern um echten Streit, der wechselseitige Kritik einschließt, aber auch gemeinsame Diskursregeln voraussetzt. Wissenschaft im Allgemeinen wie auch die Theologie im Besonderen sind eine Form der Streitkultur. Theologische Streitkultur beschränkt sich nicht auf Regeln für den innertheologischen Disput. Sie hat auch zu klären, auf welche Weise und nach welchen Regeln der Disput mit anderen Wissenschaften zum Zweck der Wahrheitserkenntnis zu führen ist. Klassisch wird diese Aufgabe der Theologie als Apologetik bezeichnet. Apologetik bedeutet vom griechischen Wortfeld ἀπολογέομαι/ἀπολογία her soviel wie Verteidigung oder Rechenschaft des Glaubens. Apologetik ist nicht bloß eine Teildisziplin der Theologie – als solche wird sie klassischerweise der Systematischen Theologie zugeordnet –, sondern ein Grundzug aller Theologie. Als gedankliche Rechenschaft christlichen Glaubens hat die Theologie gemäß einer starken Lesart des Begriffs Apologetik die Aufgabe, die Denknotwendigkeit Gottes und des Glaubens aufzuweisen. Nach einer schwachen Lesart des Begriffs besteht die Aufgabe der Theologie darin, die Denkmöglichkeit Gottes zu zeigen. Eine schwache Lesart des Begriffs Apologetik sieht ihre Aufgabe in der Verteidigung des Glaubens vor dem Forum der Vernunft. Eine starke Lesart aber versteht die Theologie als Angriff auf eine selbstgenügsame Vernunft, welche Gottes Existenz bestreitet oder aber sich selbst zum letzten Maßstab und Richter in Fragen des Glaubens und des Unglaubens erklärt. 4 Bayer: Theologie (s. Anm. 3), 415.

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Die andere Aufgabe der Theologie

In diesem Sinne hat der evangelische Theologe Emil Brunner (1889–1966) ein Programm theologischer Apologetik vorgelegt, das er mit einem Begriff aus der antiken Philosophie und Rhetorik als Eristik bezeichnet hat. Programmatisch ist Brunners Aufsatz »Die andere Aufgabe der Theologie«.5 Mit seiner 1921 erschienenen Kampfschrift »Erlebnis, Erkenntnis und Glaube«6 wurde er zum Bundesgenossen Karl Barths und Friedrich Gogartens und somit einer der Wegbereiter der Dialektischen Theologie.7 Anders als Barth geht Brunner jedoch davon aus, dass die Selbstoffenbarung Gottes und das diese bezeugende Evangelium bzw. das Wort Gottes nur vernommen werden können, wenn es im Menschen einen Anknüpfungspunkt gibt, der auch durch die Sünde und den Unglauben nicht zerstört ist. Diesen Anknüpfungspunkt findet Brunner in der Anthropologie, genauer gesagt in der personalen Grundverfassung des Menschseins, wobei er diese aber von ihrer jeweiligen konkreten Verwirklichung unterscheidet. Während letztere immer nur unter dem Vorzeichen des Glaubens oder des Unglaubens steht, bleibt die formale Grundstruktur personaler Existenz auch im Stand der Sünde erhalten. Die dogmatische Voraussetzung der Brunnerschen Apologetik oder Eristik besteht in einer formalen Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Schöpfungshandeln Gottes ihren Grund hat. Aufgrund seiner formalen Gottebenbildlichkeit, die auch im Zustand der Sünde fortbesteht, ist der Mensch an sich in der Lage ein Wissen von Gott zu haben, wenngleich er ihn faktisch aufgrund der Sünde nicht erkennt. Die Aufgabe der Apologetik ist aber nicht, einen theoretischen Gottesbeweis zu führen, sondern die menschliche Vernunft zur Umkehr zu bewegen. Die gemeinsame Basis des Glaubens und des Unglaubens oder Nichtglaubens ist die Anthropologie. Der Mensch, welcher sich selbst zu verstehen versucht, soll zur Erkenntnis gebracht werden, »daß er nur im christlichen Glauben werden kann, wozu er bestimmt ist und was er selbst in verkehrter Weise zu werden sucht«.8 Theologie ist Angriff und hat einen polemischen Grundzug, weil auch das Evangelium »in solchem Maße polemisch« ist, »daß sein Sich-geltend-Machen ein Töten und sein Aufgenommen-Werden ein Sterben heißt«.9 In seiner dreibändigen Dogmatik definiert Brunner die Aufgabe der Apologetik oder Eristik als »Angriff der Kirche auf die gegnerische Position des Unglaubens, des Aber5 Vgl. Emil Brunner: Die andere Aufgabe der Theologie, in: ders.: Ein offenes Wort, eingeführt u. ausgewählt von Rudolf Wehrli, 1. Vorträge und Aufsätze 1917–1934, Zürich 1981, 171–193. 6 Vgl. Emil Brunner: Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, Tübingen 4/51933. 7 Vgl. Jürgen Moltmann: Einleitung, in: ders. (Hg.): Anfänge der dialektischen Theologie 1 (TB 17/I), München 1977, 258. 8 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 177. 9 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 171.

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glaubens, der wahnhaften Ideologien«,10 wobei er vor allem an den Nationalsozialismus und den Bolschewismus denkt.11 Wenn Brunner dem Terminus Eristik gegenüber demjenigen der Polemik den Vorzug gibt, so deshalb, weil er es für einseitig hielte, nur den Aspekt des Angriffs zu betonen, während der Begriff der Eristik darauf hinweisen soll, dass im Glauben doch auch zur Erfüllung kommt, wonach die menschliche Vernunft strebt. Eristik ist die Kunst des Disputierens. Brunner setzt sie synonym mit der sokratischen Methode. Sokrates und Platon haben den Begriff allerdings kritisch verwendet und auf die Sophisten gemünzt, welche den Meinungsstreit nicht um der Wahrheitserkenntnis, sondern um des bloßen Rechthabens willen führten. Mit ironischem Unterton verwendet auch Schopenhauer den Begriff in seiner posthum veröffentlichten »Eristischen Dialektik«, die den Untertitel »Die Kunst, Recht zu behalten« trägt.12 Brunner dagegen versteht unter Eristik eine »christliche Sokratik«.13 Sie soll das Gegenüber – nämlich den heutigen Menschen – auf dem Wege, ihn beharrlich ins Fragen zu ziehen, an den Punkt bringen, wo er sich vor die Entscheidung für oder gegen den christlichen Glauben gestellt sieht. Als große Eristiker in seinem Sinne würdigt Brunner Blaise Pascal, Johann Georg Hamann und vor allem Søren Kierkegaard.14 Auch die Dialektische Theologie ist wesensmäßig eristisch, wobei Brunner eine eigene Erklärung ihrer Bezeichnung gibt. Dialektisch bedeutet nach Brunner »den Widerspruch abbildend«, und zwar denjenigen, in dem das Wort Gottes steht, weil es »den Menschen in seinem Widerspruch treffen muß und trifft […]: der Gott-Mensch, die törichte Weisheit, die Freiheit als Gottesknechtschaft, das Kreuz als Offenbarung der Gottesherrlichkeit usw.«15 Während Brunner noch 1935 in seinem Aufsatz »Gesetz und Offenbarung«, der als erste Grundlegung seiner Eristik gelesen werden kann,16 vom »Absurde[n]« der Offenbarung Gottes, seinem Abstieg zum Menschen und ihrer Unbegreiflichkeit gesprochen hat,17 verwendet er 1929 in »Die andere Aufgabe der Theologie« den Begriff des Paradoxes. Das »echte Paradox« ist die »legitime Sprache« des Wortes Gottes.18 Sokratisch ist die Apologetik, wie Brunner sie konzipiert, darin, dass sie zunächst »nichts sagt, sondern bloß das, was der ›Gegner‹ sagt, kritisch zerpflückt und zersetzt, vielmehr ihn zwingt, es selbst zu tun.« Zudem sei diese christliche 10 Emil Brunner: Dogmatik 1. Die christliche Lehre von Gott, Zürich 1953, 107. 11 Vgl. Brunner: Dogmatik (s. Anm. 10), 108. 12 Vgl. Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten, Zürich 1996. 13 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 192. 14 Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 176, 189; ders.: Dogmatik (s. Anm. 10), 108. 15 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 183 (Anm. 1). 16 Vgl. Moltmann: Einleitung (s. Anm. 7), 258. 17 Emil Brunner: Gesetz und Offenbarung, in: Moltmann: Anfänge (s. Anm. 7), (290–298) 294, 295. 18 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 183 (Anm. 1).

Christliche Sokratik

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Sokratik »sokratischer […] als die ihres Erfinders, weil sie darauf verzichtet, aus dem Menschen heraus die Wahrheit zu erfragen, und sich darauf beschränkt, aus ihm das Geständnis der Unwahrheit herauszulocken«.19 Auf diese Weise wird die Vernunft nach Brunners Auffassung vom Wort Gottes ebenso fundamental kritisiert und gerichtet wie auch in Anspruch genommen. Die sokratische Methode wird im hermeneutischen Zirkel von Frage und Antwort vollzogen, freilich nicht so, dass die Frage des vorgläubigen Menschen die Antwort präjudiziert, sondern so, dass seine Frage von der durch das Wort Gottes gegebenen Antwort »theozentrisch«20 korrigiert wird. Im Licht der Antwort ist also die existentielle Frage des Menschen neu und anders zu stellen. Darauf legt Brunner größten Wert, um so den möglichen Vorwurf zu entkräften, die von Barth betonte Souveränität und Freiheit Gottes und seiner Selbstoffenbarung zu unterminieren und damit hinter die Grundeinsichten der Dialektischen Theologie gegenüber derjenigen Schleiermachers und der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Anthropologischer Anknüpfungspunkt der christlichen Verkündigung wie der Theologie ist die Ansprechbarkeit des Menschen. Mit ihr wird aber der Glaube nicht an eine menschliche Vorbedingung geknüpft. Ihre Ansprechbarkeit bedeutet nur, dass die Menschen auf Gottes Gnade angewiesen sind, nicht aber, dass sie von sich aus immer schon in der Lage wären, Gott und sein Wort hören zu können. Es heißt bloß: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Wort sich ihnen Gehör verschafft. Das Hörenkönnen ist nicht ihre Qualität.«21 In diesem Punkt unterscheiden sich katholische und reformatorische Theologie nach Brunners Urteil fundamental. Die Art und Weise, wie Brunner die sokratische Methode ins Theologische wendet, erklärt nun auch das besondere Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie. Als gedankliche Rechenschaft des Glaubens ist sie einerseits auf die Aufgabe der Predigt bezogen und andererseits im Gespräch mit der Philosophie. Theologie ist aber weder das eine noch das andere. Sie verkündigt nicht das Evangelium, sondern sie »redet über das Wort Gottes und […] über die Widerstände des Menschen«.22 Von der Philosophie unterscheidet sie sich darin, »daß sie, auch wo sie die Sprache der theoretischen Vernunft spricht, dabei immer vom Wissen um das Existentielle begleitet ist«23 und darin immer schon vom Glauben herkommt, wenngleich die Theologie »nicht selbst Glaubensakt, sondern Reflexion«24 ist.

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Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 192. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 177. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 185. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 186. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 186. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 186.

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Zwischen der Philosophie, die vom Menschen aus nach Gott fragen kann, wie es die Religionsphilosophie tut, und der Theologie, die vom Wort Gottes her über Gott nachdenkt und nach dem Menschen fragt, gibt es zwar »keine Vermittlung, keinen Übergang. Wohl aber gibt es eine Grenze, wo beide zusammentreffen«25 – besser gesagt: »zusammenprallen«.26 Das ist das vom Evangelium unterschiedene Gesetz, wie Brunner bereits 1925 in seinem Aufsatz »Gesetz und Offenbarung« ausgeführt hat. Die menschliche Vernunft erkennt wohl Gesetze, nicht aber den göttlichen Gesetzgeber. »Offenbarung ist der Gegensatz zum Gesetzesweg der Vernunft«.27 Zwar wäre die Philosophie »nicht wahr, wenn sie nicht etwas« vom theologischen Sinn des Gesetzes »merkte«,28 nämlich von der durch das Gesetz im Licht des Evangeliums gewirkten Erkenntnis der Sünde, des Gerichtes wie auch der Offenbarung der Gnade und des ewigen Lebens. »Aber sie wäre nicht Philosophie, sondern Offenbarung, wenn sie es wirklich verstünde.«29 Die Theologie wiederum erkennt die zweifache Bedeutung des Gesetzes, nämlich als »das entstellte Angesicht Gottes«30 in seinem Zorn über die Sünde und zugleich als Ausdruck seiner Gerechtigkeit, die in der Rechtfertigung des Sünders zum heilvollen Durchbruch gelangt. In ihrer beständigen Selbstprüfung, ob sie um diese zweifache Bedeutung des Gesetzes weiß, bleibt die Theologie »zugleich der Philosophie nahe und fern«.31 Das allerdings bedeutet, dass eine am Wort Gottes und seiner Selbstoffenbarung ausgerichtete Theologie »niemals Wissenschaft sein« kann, »weil sie das oberste Gesetz dieser Wissenschaft nicht anerkennt: die Vernunft als letzte Instanz in der Wahrheitsfrage«.32 Apologetik oder Eristik ist »die andere Aufgabe der Theologie«33 neben derjenigen der Dogmatik. Während Dogmatik nach Brunners Sprachgebrauch die Aufgabe hat, den christlichen Glauben darzustellen und lehrhaft darzulegen, besteht die Aufgabe der Eristik in der Auseinandersetzung mit den Positionen des Nichtglaubens, des Aberglaubens und des offenen Unglaubens. Zwar können Dogmatik und Eristik ineinander übergehen, wie sich am Beispiel der »Institutio« Calvins zeigt,34 sie sind aber im Sinne einer Arbeitsteilung voneinander zu unterscheiden. Barth wirft er vor, mit seiner Wende von der Eristik der frühen Dialektischen Theologie (»Römerbrief«) zur dogmatischen Theologie – Brunner

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 290. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 290. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 296. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 298. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 298. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 297. Brunner: Gesetz (s. Anm. 17), 298. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 172. Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), passim. Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 186.

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steht 1929 Barths »Christliche Dogmatik im Entwurf«35 vor Augen – dem theoretischen Missverständnis des Evangeliums Vorschub geleistet zu haben,36 worin auch der Kardinalfehler der bisherigen Apologetik bestehe.37 Keinesfalls sei es »in einer Zeit, wo alles Gottesbewusstsein schwindet«, zu rechtfertigen, »das auch dem sündigen Menschen als Schöpfungsgnade verbliebene Gottesbewußtsein als nicht vorhanden oder nichts bedeutend zu behandeln«.38 Zwar erkennt der sündige Mensch Gott nicht wirklich, wie er ist. Aber Gott ist ihm doch im Modus der menschlichen Frage nach ihm präsent. Die Frage nach Gott aber ist nach Brunner der entscheidende »Anknüpfungspunkt der göttlichen Botschaft im Menschen«39 und somit auch der Theologie.

3

Eristik im Widerstreit

Brunners Einwände haben Barth nicht überzeugt. Über die Frage des Anknüpfungspunktes und der mit ihr verbundenen Problematik natürlicher Theologie kam es zwischen Barth und Brunner zum endgültigen Zerwürfnis. Die Gründe sind nicht nur auf dem Gebiet der Anthropologie zu finden, sondern auch in der Gotteslehre und der Schöpfungslehre. Während Barths Christozentrik Gottes Schöpfungshandeln und sein Erlösungshandeln in Jesus Christus miteinander derart aufs engste verschränkt, dass das Handeln in Jesus Christus immer schon das Ziel des Schöpfungshandelns Gottes ist, unterscheidet Brunner beide Handlungsweisen Gottes. Das hat nun Folgen für die theologische Erkenntnistheorie und damit zugleich für das Verständnis der apologetischen Aufgabe der Theologie. Brunner teilt mit Barth die Auffassung, dass Gott nur aufgrund seiner Selbstoffenbarung wirklich erkannt werden kann. Er stimmt auch Barths Gedanken der Analogia fidei zu, kann aber in der Analogia entis keine katholische Irrlehre erkennen. Während die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf nach Barth erst durch Christus im Glauben konstituiert wird, ist sie nach Brunners Überzeugung bereits durch die Schöpfung gesetzt. Das aber bedeutet, »daß die Analogie in der Schöpfung selbst liegt, nicht im Glauben«.40 Brunner wirft Barth vor, mit seiner Christozentrik die Unterscheidung zwischen Seins- und Erkenntnisprinzip einzuebnen, indem er Christus zum Seins35 Vgl. Karl Barth: Christliche Dogmatik im Entwurf 1. Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik (1927), hg. v. Gerhard Sauter, Zürich 1982. 36 Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 188. 37 Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 176. 38 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 190. 39 Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 178. 40 Michael Roth: Gott im Widerspruch? Möglichkeiten und Grenzen der theologischen Apologetik (TBT 117), Berlin 2002, 477.

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prinzip erklärt.41 Allerdings weist Brunners Versuch, die Anthropologie zur Grundlage seiner Eristik zu machen, Schwächen auf, auf die schon Karl Barth hingewiesen hat. Dieser kritisiert, dass Brunners vermeintlich formaler Anknüpfungspunkt in Wahrheit ein materialer ist.42 Tatsächlich gelingt es Brunner nicht, zwischen einer formal-ontologischen Struktur menschlichen Personseins und ihrer ontisch-existentiellen Verwirklichung klar zu unterscheiden. Die formal-ontologische Struktur personaler Relationalität, die sich in der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und Lassen zeigt und von Brunner mit der formalen Gottebenbildlichkeit des Menschen gleichgesetzt wird, soll seine Offenheit für Gott beweisen. Wenn Brunner dann aber auf die ontisch-existentielle Verwirklichung der beschriebenen formal-ontologischen Struktur zu sprechen kommt, lässt er eigentlich nur ihre Verwirklichung in Gestalt gläubiger Existenz als echtes Personsein gelten, wogegen die sündige Verwirklichung nur als Verfehlung des Personseins und als Personsein im uneigentlichen Sinne bewertet wird.43 Michael Roth kritisiert außerdem, dass Brunners Weise, den Menschen als Freiheitswesen zu bestimmen, im Widerspruch zur reformatorischen Lehre vom unfreien Willen und der Alleinwirksamkeit Gottes beim Empfang des Glaubens steht.44 Brunners Anthropologie laufe auf eine Mitwirkung des Menschen beim Glaubensempfang hinaus. Um diesen Fehler zu vermeiden, reklamiert Roth die »Passivität als Strukturmerkmal humaner Personalität«,45 um auf diese Weise an Brunners Idee eines formal-ontologischen Anknüpfungspunktes für die theologische Apologetik gegenüber den Einwänden Barths festhalten zu können. Allerdings ist dann zwischen Passivität als Gegensatz zur Aktivität und einer von beiden kategorial unterschiedenen Grundpassivität zu differenzieren. Grundpassivität im Sinne von Schleiermachers schlechthinniger Abhängigkeit oder Luthers mere passiva als Bedingung menschlichen Daseins wie auch des Glaubens und der Erlösung liegt nicht nur in Erfahrungen des Erleidens, sondern auch den Möglichkeiten höchster Aktivität des Menschen zu Grunde. Im Übrigen mag es zwar sein, dass Brunner den Aspekt der Grundpassivität anthropologisch und rechtfertigungstheologisch unzureichend bedenkt und sich damit namentlich zu Luthers Lehre vom unfreien Willen in Widerspruch begibt. Jedoch betont 41 Vgl. Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 519–522. 42 Vgl. Karl Barth: Nein! Antwort an Emil Brunner, in: Walther Fürst (Hg.): Dialektische Theologie in Scheidung und Bewährung 1933–1936. Aufsätze, Gutachten und Erklärungen (TB 34), München 1966, (208–258) 221. Barth reagiert auf Emil Brunner: Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen 21935. Siehe auch Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 528–530. 43 Vgl. ausführlich Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 490–502. 44 Vgl. Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 550. 45 Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 556–562.

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auch Brunner, dass der Mensch auf das Wort der Gnade angewiesen ist und bleibt, über das er nicht selbst verfügt.46 Die von Roth betonte Grundpassivität kommt bei Brunner durchaus als Strukturmerkmal der formal-ontologischen Anthropologie zur Geltung, wenn es in »Gesetz und Offenbarung« heißt: »Das Geschöpf ist gesetzt durch die Selbstmitteilung Gottes. […] Das Urverhältnis ist ein indikatives, nicht ein Imperativ. Darum aber auch ein Geschenk Gottes und ein Inempfangnehmen des Menschen. Darin, in dieser Urungleichheit ist die Urgleichheit von Gott und Mensch gegründet.«47 Nun sucht Brunner zwar den Anknüpfungspunkt für das Wort Gottes im Menschen und damit auch für sein Programm theologischer Eristik in einer formal-ontologischen Struktur, wirft jedoch Rudolf Bultmann vor, dieser habe sich eine solche formale Ontologie durch Heidegger vorgeben lassen und dabei verkannt, dass es keine neutrale Ontologie gibt.48 Hier taucht einmal mehr die Frage auf, ob nicht schon Brunners eigene formale Ontologie materialiter durch seine dogmatischen Prämissen bestimmt ist. Vor allem aber ist Brunner wie auch anderen Kritikern Bultmanns entgangen, dass dieser in Anknüpfung und Widerspruch an Heidegger schon mit seinem Vortrag zum Problem der natürlichen Theologie (1931)49 in der damals zwischen Barth und Brunner sowie Gogarten geführten Kontroverse »eine ganz solitäre Position«50 eingenommen hat. Bemerkenswerterweise wird Brunner in Bultmanns Vortrag, den er erst in dem 1933 erschienenen Aufsatzband »Glauben und Verstehen« veröffentlicht hat, nicht genannt. Im Zusammenhang mit Feuerbachs Religionskritik verweist er auf Barth,51 und zustimmend bezieht er sich einmal auf Gogarten52 und an anderer Stelle auf Thurneysen.53 In der Durchführung seines Gedankengangs wird aber deutlich, dass Bultmann sich mitnichten in einseitige Abhängigkeit von Heideggers Ontologie begibt, wie Brunner unterstellt. Für Bultmann ergibt sich das Problem der natürlichen Theologie – und damit eines Anknüpfungspunktes – auch für eine Offenbarungstheologie, wie sie die Vertreter der Dialektischen Theologie verfochten haben, aus drei Umständen: 1. Aus der Tatsache des Verstehens, nämlich daraus, daß das christliche Kerygma vom Menschen, dem es begegnet, verstanden werden kann, und daraus, daß offenbar Aus46 Vgl. Brunner: Die andere Aufgabe (s. Anm. 5), 185. 47 Brunner: Gesetz und Offenbarung (s. Anm. 17), 296. 48 Vgl. Emil Brunner: Theologie und Ontologie – oder die Theologie am Scheideweg, in: ders.: Ein offenes Wort 2. Vorträge und Aufsätze 1935–1962, hg. v. Rudolf Wehrli, Zürich 1981, (227–238) 230–231. Siehe dazu Roth: Gott im Widerspruch? (s. Anm. 40), 522–526. 49 Vgl. Rudolf Bultmann: Das Problem der »natürlichen Theologie«, in: ders.: Glauben und Verstehen 1, Tübingen 71972, 294–312. 50 Konrad Hammann: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, 226. 51 Vgl. Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 308. 52 Vgl. Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 302. 53 Vgl. Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 305–306.

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sagen des Glaubens auch vom Unglauben als sinnvoll verstanden werden können. 2. Aus dem Phänomen der Religion, nämlich aus der Tatsache, daß auch außerhalb des Christentums und des Glaubens von Gott und zu Gott geredet wird. 3. Aus dem Phänomen der Philosophie, sofern diese beansprucht, das Dasein des Menschen verstehen zu können, so daß in gewisser Weise der Glaube als Bewegung des Daseins auch für sie sichtbar werden muß.54

Bereits in seiner 1930 erschienenen Antwort an Gerhardt Kuhlmann macht Bultmann geltend, dass die vorgläubige Existenz in die gläubige, welche das Thema der Theologie ist, »aufgehoben ist«.55 Zwar ist die vorgläubige Existenz im Glauben überwunden, sodass sich der Glaubende radikal neu als Geschöpf Gottes versteht. Das heißt aber »nicht, daß die existential-ontologischen Bedingungen von Existieren vernichtet sind. Theologisch ausgedrückt: der Glaube ist nicht eine inhärierende neue Qualität, sondern eine stets neu ergriffene Möglichkeit des Daseins, wenn Dasein im steten Ergreifen seiner Möglichkeiten existiert.«56 Der Begriff der Aufhebung dient Bultmann zur Interpretation der Formel Luthers, nach welcher der durch den Glauben gerechtfertigte Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist. »Der Glaubende ist kein Engel geworden, sondern simul peccator, simul iustus. Deshalb haben alle christlichen Grundbegriffe einen ontologisch bestimmenden vorgläubigen und rein rational faßbaren Gehalt.«57 Die Philosophie jedoch sieht gänzlich davon ab, ob im menschlichen Dasein überhaupt »so etwas wie Glaube oder Unglaube vorkommen kann«.58 Durch die Offenbarung findet für den von ihr Angeredeten zwar eine »endgültige ›Aufklärung‹ über die profane Existenz« statt, »die der Philosophie nicht sichtbar ist. Eine ›Aufklärung‹ nämlich, die […] die ›profane‹ Existenz als ›je immer schon begnadete‹ erscheinen läßt. […] Damit ist aber nicht«, wie Kuhlmann unterstellt, »›das humanum doch wieder zum Theos‹ geworden […], sondern das natürliche Dasein ist als Schöpfung wieder entdeckt«.59 Für die Schriftauslegung folgt aus alledem, dass der Interpret biblischer Texte sich keineswegs schon sicher sein muss, bereits gegenwärtig oder zumindest zukünftig zu glauben. Auch ist zu unterscheiden, ob jemand meine Interpretation verstanden hat oder ob er mit ihrer Hilfe sich selbst im Sinne des christlichen 54 Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 295. Zu Bultmanns Lutherrezeption siehe Ulrich H.J. Körtner u. a. (Hg.): Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik Rudolf Bultmanns, Hannover 2010. 55 Rudolf Bultmann: Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube. Antwort an Gerhardt Kuhlmann (1930), in: ders.: Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, hg. v. Andreas Lindemann (UTB 2316), Tübingen 2002, (59–83) 66. 56 Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 66. 57 Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 66. 58 Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 60. 59 Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 72.

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Glaubens neu verstehen lernt. Beides gleichzusetzen, hielte Bultmann für unsinnig. Es wäre das Ende aller Interpretationsversuche. »Mit einem Wort: die Exegese setzt jenes lumen naturale voraus; sonst ist sie sinnlos.«60 Unter theologischem Blickwinkel ist die philosophische Daseinsanalyse keineswegs neutral, sondern sie ist eine Erscheinungsweise des Unglaubens. Nach Bultmanns Auffassung kann aber gerade die Ontologie des Unglaubens bei der begrifflichen Explikation des Rechtfertigungsgeschehens dienlich sein, weil sich mit ihrer Hilfe verdeutlichen lässt, dass der Glaube »in seinem eigenen Sinne als das Dasein umgestaltend nicht wahrnehmbar« und »als das Ergreifen Gottes und als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins« ist.61 Eigenständig – auch gegenüber der Eristik Brunners – ist Bultmanns Verständnis von natürlicher Theologie darin, dass er keineswegs von einem vorgläubigen Vorverständnis aus den Weg zum gläubigen Daseinsverständnis beschreitet, sondern unter natürlicher Theologie die Interpretation der vorgläubigen Existenz vom Glauben aus versteht: Als eschatologisches Ereignis, in dem die Versöhnung wirklich wird, führt der Glaube zur ursprünglichen Schöpfung zurück; d. h. jene verlorene, sinnlose Möglichkeit des Glaubens als eines ursprünglichen Gehorsams, um die die Philosophie weiß, ist im christlichen Glauben verwirklicht. Man könnte deshalb sagen: der Unglaube, als der das Dasein begründende Entschluß zur Freiheit, ist von vornherein auf den Glauben angelegt. Enthält die vorchristliche Existenz ein nichtwissendes Wissen von Gott, so enthält sie damit ein Vorverständnis der christlichen Verkündigung; und arbeitet die Philosophie dieses Existenzverständnis aus, so arbeitet sie damit eben jenes Vorverständnis aus. Sofern dieses in die theologische Arbeit eingesetzt wird, wird es neu, sofern es in seinem Charakter als Vorverständnis aufgeklärt wird. Und eben die Interpretation der vorgläubigen Existenz und ihres Selbstverständnisses vom Glauben aus ist »natürliche Theologie«.62

Dass die Theologie und folglich auch ihre Schriftauslegung, indem sie die Bewegung der philosophischen Daseinsanalyse mit vollzieht, bewusst eine Bewegung des Unglaubens vollzieht, rechtfertigt Bultmann, wie wir bereits sahen, theologisch mit Luthers simul iustus et peccator. Es verhält sich nun aber keineswegs so, dass Bultmann in der Bewegung des Philosophierens ausschließlich Heidegger folgt. Zum einen rechnet Bultmann mit einem hermeneutischen Zirkel zwischen philosophischer und theologischer Daseinsanalyse, in dem nicht etwa nur die Sprache der Theologie durch die Philosophie geklärt und erweitert wird, sondern umgekehrt auch die philosophische Begrifflichkeit durch die Theologie. »So ist es auch möglich, dass Hei-

60 Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 72. 61 Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 311. 62 Bultmann: Natürliche Theologie (s. Anm. 49), 311.

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deggers ontologische Analyse durch das von Kierkegaard explizierte christliche Daseinsverständnis befruchtet wird, ohne daß damit Heidegger zum Theologen würde oder Kierkegaard als Philosoph erwiesen wäre.«63 Zum anderen stellt Bultmann der Daseinsanalyse Heideggers diejenige Friedrich Gogartens zur Seite. Der aber analysiert die Endlichkeit des Daseins nicht von der Unausweichlichkeit des Todes aus, wie es Heidegger in seiner Denkfigur des Vorlaufens zum Tod getan hat,64 sondern von der Begegnung mit dem Nächsten als »Du« aus, das bei Heidegger gar nicht vorkommt. Die Begegnung mit dem Du enthält für Gogarten zwei Möglichkeiten, die bei Heidegger ebenfalls keine Rolle spielen, nämlich Hass und Liebe. Gogarten spricht allerdings nicht als Philosoph, sondern als Theologe vom Ontischen, in dessen Sphäre er die Liebe im radikalen Sinn des christlichen Glaubens auffindet. Bultmann schätzt an Gogartens Theologie, dass sich in ihr »das ontologische Anliegen, den Begriff der Geschichtlichkeit zu klären, mit dem theologischen Anliegen« kreuzt, »zu zeigen, daß es Geschichte nur gibt, wo Glaube in der Liebe wirksam ist«.65 Die von Bultmann bemängelte Unklarheit der Ausführungen Gogartens beweist ihm allerdings nur noch einmal, »daß die theologische Arbeit auf die existentiale Analyse angewiesen ist«.66 Während die Heideggersche Entschlossenheit67 eine solche der Verzweiflung und somit im Kierkegaardschen Sinne eine Entschlossenheit der Sünde ist, ist die im Glauben vollzogene Wahl eine Entschlossenheit im Geist der Liebe, die zu wahrer Freiheit führt. Die Liebe aber überwindet nach Bultmann nun gerade die Begrenztheit des Daseins durch den Tod, ist doch der Tod Christi die letztgültige Offenbarung Gottes und darin zugleich die Überwindung des Todes. Die Heideggersche Entschlossenheit wandelt sich zur Liebe, welche die Situation ergreift; die sich vorweg seiende Sorge wandelt sich zur Hoffnung und die das Dasein bestimmende Angst zur Freude, in der alle Angst überwunden ist. So ist nun aber für Bultmann die Bestimmtheit, die das Dasein gemäß Gogarten »als liebendes durch das Du gewinnt, genau analog der dreifachen Bestimmtheit des Daseins durch den Tod, die« Heideggers »existentiale Analyse sichtbar macht«.68 Wie Brunner geht auch Bultmann davon aus, dass Gott im Menschen zumindest in der Form einer offenen Frage präsent ist. Das verbindet beide bei allen Unterschieden ihrer theologischen Programme auch mit Paul Tillich.69 Die 63 64 65 66 67 68 69

Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 72. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 151979, 235–267. Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 77 (im Original kursiv). Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 77. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit (s. Anm. 64), 267–301. Bultmann: Geschichtlichkeit (s. Anm. 55), 82. Siehe Paul Tillich: Systematische Theologie 1, Stuttgart 51977, 9–83; ders.: Systematische Theologie 2, Stuttgart 51977, 19–22.

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Theologie der Gegenwart kann freilich nicht mehr von der Gottesfrage als unverrückbarer anthropologischer Konstante ausgehen. Wohl fragen Menschen nach dem Sinn ihres Lebens oder dem Sinn der Welt im Ganzen. Aber die Sinnfrage darf nicht umstandslos mit der Gottesfrage gleichgesetzt werden, wie auch die Sehnsucht nach Heil und Erfüllung ganz diesseitsorientierte Antworten finden kann. Der hermeneutische Zirkel von Frage und Antwort wird dadurch gestört, um nicht zu sagen zerbrochen, dass die Gottesfrage in der Moderne nachchristliche Antworten gefunden hat, durch welche sogar die ursprüngliche Frage verdeckt wird. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit.70 Es gibt einen Gewohnheitsatheismus,71 für den nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst in Vergessenheit zu geraten scheint. Unter heutigen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern an der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung, so gewiss es keinen natürlichen oder evolutionären Weg von einem allgemeinen Religionsbegriff zum Geltungs- und Wahrheitsanspruch jedes wirklichen Monotheismus gibt. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen. Erst aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht die Frage nach Gott.72 Das in Erinnerung gerufen zu haben, bleibt theologiegeschichtlich das Verdienst Karl Barths. Nur vor dem Hintergrund des biblischen Offenbarungszeugnisses und der dieses wachhaltenden Erinnerung ergibt es einen Sinn, von Gottes Abwesenheit und Verlust in der Moderne zu sprechen. Soll die Gottesfrage nicht ins Leere laufen, so sind sowohl die eingangs aufgeführten negativen Gottesattribute als auch der Begriff einer negativen Theologie von den biblischen Texten aus zu bestimmen. Dann zeigt sich, dass der der Neuzeit abhanden gekommene oder fremde Gott ein auf ganz bestimmte, nämlich durch seine Offenbarung bestimmte Weise verborgen ist. Die Verborgenheit Gottes ist biblisch gleichermaßen als Modus seiner Anwesenheit wie seiner Offenbarung zu bestimmen. Die biblische Tradition bietet eine Möglichkeit, den der Moderne entschwundenen Gott nicht als abwesenden, sondern als verborgenen, das heißt 70 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966. 71 Vgl. Wolf Krötke: Wenn Gott bestritten wird. Der Glaube an Gott und die Argumente des neuen Atheismus. Vortrag beim Missionale-Treffen in Köln am 23. 2. 2008, verfügbar unter: https://www.reformiert-info.de/daten/File/Upload/doc-1986-1.pdf [14. 10. 2020], 1–2. 72 Vgl. Ernst Fuchs: Hermeneutik, Bad Cannstatt 31963, 70; Hans Weder: Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 45.

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aber, allem Augenschein zum Trotz gegenwärtigen und wirksamen zu denken, – vor allem aber: zu glauben. »Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, der Gott Israels, ein Erretter!« (Jes 45,15). Dies ist kein allgemeiner Grundsatz negativer Theologie, sondern im Kontext des Jesajabuches Ausdruck dankbaren Staunens darüber, dass der Gott Israels verborgen durch den Perserkönig Kyros an seinem Volk handelt und dass sich im äußeren Geschichtsverlauf ein Wandel des göttlichen Handelns an Israel vom Gericht zur Gnade und Erlösung vollzogen hat. Für Luther findet Jes 45,15 in der Menschwerdung und im Kreuz Christi seine endgültige Erfüllung.73 Hat die Rede von der Verborgenheit Gottes einen christologischen Sinn, indem sie auf das Kreuz Christi bezogen wird, dann ist sie nicht Ausdruck von Resignation oder Skepsis, sondern im Gegenteil assertorisch, d. h. das Amen des Glaubens auf die Zusage (promissio) des Evangeliums. Angesichts neuzeitlicher Erfahrungen der Abwesenheit Gottes ist es die Aufgabe heutiger Theologie, die biblische Rede von der Verborgenheit Gottes als Verheißung begreiflich zu machen, dass weder die moderne Skepsis noch ein um sich greifender Gewohnheitsatheismus das letzte Wort haben werden.

73 Luther: Werke (WA 1), Weimar 1883, 362,9–19 (Heidelberger Disputation, 1518, These XX).

Michael Hackl

Pluralität des Denkens. Cassirers »new horizon« in Naturwissenschaft und Religion

Abstract Our perspectives on the world are changing continuously. Such changes can be found within natural sciences as well as within theology. Natural science requires a re-interpretation of physical terms every now and then to conceive new phenomena. In Christian theology religious dogmas are continuously re-interpreted for specifying their meaning. Our culture-bound re-interpretation of nature as well as the absolute represents the plurality of human’s individuality and freedom. Each perspective reveals new aspects of humanity, and the plurality of thoughts thereby enriches the life in community. Die Kritik der Vernunft wird […] zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.1 Ernst Cassirer

1

Formungen des Denkens

In technischen und wirtschaftlichen Fragen findet eine weltweite Vernetzung statt, auf politischer, religiöser und kultureller Ebene hingegen haben wir es oft mit Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie zu tun, was das globale Miteinander enorm erschwert. Statt die Konflikte durch Aus- und Abgrenzungen anzuheizen, ist es längst an der Zeit, sich für eine diverse, multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft zu öffnen – auch wenn es den Menschen scheinbar viel abverlangt, ihre geistige Heimat zu verlassen. Ob die geistige Öffnung für andere Lebens- und Sichtweisen tatsächlich mit einem Verlust

1 Im Folgenden wird die Ausgabe Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe 1–25, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 1998–2007, zitiert als ECW mit der jeweiligen Bandnummer. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 11, 9.

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Michael Hackl

einhergeht oder ob ein »new horizon« zur Stärkung unserer Identität beiträgt,2 soll im Folgenden im Ausgang von Ernst Cassirers Kulturtheorie näher beleuchtet werden. Erst Ende des 19. Jahrhunderts rückt die Frage nach der Bedeutung unterschiedlicher Perspektiven im Erkenntnisprozess in den Fokus, wenngleich der Wandel bereits um 1800 eingeleitet wurde. Im Grunde ist es die Philosophie Immanuel Kants, welche die Möglichkeit der objektiven Weltbeschreibung, an der in der Naturwissenschaft bis zur Atomphysik festgehalten wird, neu thematisiert. Seine Philosophie impliziert die Abkehr vom objektiven Ideenreich, vom »platonischen Ideenhimmel«.3 Ob der Hinwendung zum Subjekt reflektiert Kants Theorie die lebensweltliche und kulturelle Einflussnahme nicht ausführlich. Zwar wurde der Subjektivität bereits bei René Descartes eine neue Rolle zuteil, allerdings wurde der Begriff der Subjektivität von David Hume und später von Immanuel Kant nochmals wesentlich erweitert. Ihnen ging es nicht bloß um Gewissheit, vielmehr erstreckt sich ihr Subjektbegriff auf das Begreifen der seienden Welt. Das Subjekt wird durch diese Verschiebung zum Ausgangspunkt aller Erkenntnisfragen, woraus sich, wie es Kant bezeichnet, eine »Umänderung der Denkart« ergibt.4 Als Folge der Kopernikanischen Wende steht fortan nicht mehr die Welt, sondern das vernünftige Subjekt im Mittelpunkt aller Erkenntnisfragen. Dies veranlasste Kant danach zu fragen, inwiefern »subjective Bedingungen des Denkens […] objective Gültigkeit haben, d.i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntniß der Gegenstände abgeben«.5 Damit schließt er an das von Hume gegebene Verständnis an; all unsere Einsichten »are in some measure dependent on the science of MAN«.6 Was wir von der Welt wissen, hängt von uns als Begreifende ab. In der Kritik der reinen Vernunft wird eindrucksvoll beschrieben, auf welchen Voraussetzungen unsere Erkenntnis steht und wo ihre Grenzen liegen. Was Kant in seiner theoretischen Philosophie beschreibt, hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Wissenschaft der Logik weitergeführt. Sein Programm geht über Kant hinaus und weist auf die erkenntnistheoretische Verwobenheit von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt hin. Diesbezüglich spricht er von der »Identität des Bewußtseins mit dem Gegenstand«, das

2 Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 244. 3 Vittorio Hösle: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München ³1997, 178. 4 Im Folgenden wird die Ausgabe Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., zitiert als AA mit der jeweiligen Bandnummer. Ders.: Kritik der reinen Vernunft, in: AA 3, 11 (B XVI). Zu Descartes vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 142–143. 5 Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: AA 3 (s. Anm. 4), 102 (B 122). 6 David Hume: A Treatise of Human Nature, London 1739, Book I, XIX.

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ist bestimmte Gewissheit, sohin Wissen.7 Ob des angedeuteten Mitwissens am Objekt findet sich bei Hegel keine ausführliche Reflexion auf das individuelle Erkennen.8 Unsere Auffassung von der Welt ist nicht objektiv; wir formen sie nach unseren Begriffen. Das betrifft Cassirer zufolge sowohl die Beschreibung der Natur als auch die religiösen Beschreibungen, sie sind zugleich »individuell und universell«.9 Da das lebensweltliche, sohin perspektivisch geprägte Subjekt mitkonstruiert, kann das dialektische Fortschreiten, der »gleichbleibende[] Rhythmus« der Hegelschen Philosophie, als absolute Methode nicht überzeugen.10 Hegels Kategoriensystem hält zudem an der einheitlichen Bestimmung der Welt fest,11 was aber ihre Vielfalt nicht ausreichend würdigt.12 Die idealistische Konzeption Hegels verzichtet außerdem darauf, den Erkenntnisgegenstand eingehend zu reflektieren. Aufgrund dessen werden alle Wissenschaften gleich gefasst, sodass die »unvergleichliche Eigenheit einer jeden von ihnen verloreng[eht]«.13 Die Aufgabe besteht nach Cassirer jedoch darin, die Variabilität und Pluralität der Deutungen durchsichtig zu machen. Sein symbolischer Idealismus klammert sich dementsprechend nicht an eine feste Seinsstruktur, denn sie »baut sich für uns geistig auf in der Stufenfolge der symbolischen ›Formen‹«. Dieser produktive Formbegriff verlangt nicht, im geistigen Tun der Religion, Kunst oder Wissenschaft ein alles umgreifendes und einendes Strukturprinzip finden zu müssen. Dass das gar nicht möglich ist, zeigt sich seiner Ansicht nach an den widerstreitenden Weltansichten, wie z. B. von Religion und Wissenschaft, von Glauben und Wissen. Jede Seite beansprucht für sich das wahre Sein zu geben. Es 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden 10, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Theorie Werkausgabe), Frankfurt a.M. 1986, 208, § 420. 8 Zur Bedeutung der Mitwissenschaft vgl. Michael Hackl: Freiheit als Prinzip. Schellings absoluter Idealismus der Mitwissenschaft als Antwort auf die metaphysischen und ethischen Problemhorizonte bei Hans Jonas, Vittorio Hösle und Klaus Michael Meyer-Abich, Göttingen 2020. 9 Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: ECW 22 (s. Anm. 1), (140–166) 156. 10 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 13. 11 Dass Hegels Kategoriensystem viel abverlangt, darauf weist auch Johann Wolfang von Goethe hin, er bemängelt, Hegel müsse seine Gedanken »immer nach den neuen Entdeckungen, die man doch stets machen würde«, »modifizieren«, wodurch sie »ihr Kategorisches verlören« (Eduard Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände, Berlin 1836, 311). 12 Vgl. dazu Cassirers Ausführungen in Essay on Man: »Reason is a very inadequate term with which to comprehend the forms of man’s cultural life in all their richness and variety. But all these forms are symbolic forms. Hence, instead of defining man as an animal rationale we should define him as an animal symbolicum. By doing so we can designate his specific difference, and we can understand the new way open to man – the way to civilization« (Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 [s. Anm. 1], 31). 13 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 11 (s. Anm. 1), 14, vgl. 11–14.

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ist also ein Umdenken vonnöten, denn das, was wahr ist, lässt sich nicht durch den Gegenstand bestimmen, es bedarf der Loslösung von der Vorstellung des »absoluten Gegenstandes«. Im Erkenntnisprozess stellt sich, so Cassirer weiter, die »geistige[] Energie […] in aller Verschiedenheit der ›symbolischen Formen‹« dar.14 Möglich ist das nur, weil sowohl der Erkennende als auch der Gegenstand reflektiert werden, nichts bleibt isoliert für sich. Unter einer »symbolischen Form« soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. […] Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.15

Das Prinzip der Erkenntnis bleibt stets dasselbe; was sich erneuert, das sind unsere »symbolischen Ansichten« von der Welt.16 Dass wir die Welt unterschiedlich beschreiben, mag einerseits einem wandelnden Kenntnis- und Informationsstand geschuldet sein, andererseits hängt die Beschreibung auch von unserem kulturellen Selbstverständnis ab. Unsere geistige Energie ist wesentlich kulturell, sie ist nicht bloß Ausdruck unserer Innerlichkeit, sie ist geprägt von der »›intersubjektive[n] Welt‹«.17 Wahrheit ist nichts Objektives, sie schreibt sich in der Vielfalt der Perspektiven fort: »[L]etzten Endes [tritt] ›derselbe‹ Mensch […] in tausend Offenbarungen und in tausend Masken« auf,18 diese Vielfalt entfaltet sich im intersubjektiven Miteinander: Die Gemeinschaft prägt den Menschen und der Mensch prägt die Gemeinschaft. Das Leben baut auf Interaktion auf.

2

Symbolische Umdeutungen

Wir Menschen partizipieren an der Seinsstruktur der Welt, in uns sind das Natürliche und das Geistige unzertrennbar vereint. Cassirer grenzt sich daher von Wilhelm Windelbands Versuch, die Urteile der Naturwissenschaft als nomothetisch (Gesetzeswissenschaften) und die der Geisteswissenschaft als idiogra14 Im Folgenden wird die Ausgabe Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte 1–18, hg. v. Christian Möckel, Hamburg 1995ff., zitiert als ECN mit der jeweiligen Bandnummer. Ders.: Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen, in: ECN 1, (261–271) 262; vgl. ders.: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 78. 15 Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ECW 16 (s. Anm. 1), (75–104) 79. 16 Cassirer: Symbolbegriff, in: ECN 1 (s. Anm. 14), 263. 17 Ernst Cassirer: Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24 (s. Anm. 1), (355–486) 433. 18 Cassirer: Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24 (s. Anm. 1), 434.

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phisch (Ereigniswissenschaften) zu lesen, ab.19 Denn diese Kategorisierung heißt hier, den Sphären einen unterschiedlichen Erkenntnisgrund und Erkenntniswert zuzusprechen. Die von Windelband eingeführte und von Heinrich Rickert20 weitergetragene abstrakte und künstliche Differenzierung stellt Natur und Geist unvermittelt gegenüber. Das kann nicht überzeugen, schließlich sind ihre jeweiligen Urteile »the synthetic unity of both moments«.21 Das eine ist auf das andere bezogen und umgekehrt. Bei beiden Sphären handelt es sich nicht um »für sich bestehende Teile, die sich […] zum Ganzen der Wirklichkeit ergänzen; sondern das eine ist von Anfang an nur mit dem andern und als Ausdruck des andern zu denken. Alles Innere ist ein Äußeres, wie alles Äußere ein Inneres ist.«22 Entsprechend muss das Verhältnis von Leib und Seele im Menschen als symbolische Relation gedacht werden.23 Auf diese Weise ist es möglich, die Seele auf den Leib zu beziehen, ohne dass sie auf eine Ding- oder Kausalbeziehung reduziert werden. Stattdessen werden sie als sinnhaftes Ganzes gefasst.24 Die symbolische Bezugnahme verdeutlicht, dass die Gegenstände eben nicht »fertig und starr« vor uns liegen, sie werden erst durch die synthetische Einheit des Bewusstseins konstituiert.25 Es liegt an uns, das Gegebene als »charakteristisches Sinnganzes« zu formen.26 Der Gegenstand besteht nicht vor und außerhalb der synthetischen Einheit, sondern er wird vielmehr erst durch sie konstituiert – er ist keine geprägte Form, die sich dem Bewußtsein einfach aufdrängt und eindrückt, sondern er ist das Ergebnis einer For-

19 Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft, in: ders.: Präludien 2, Tübingen 1919, (136–160) 145. 20 Vgl. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, 71, 76–77; ders.: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Erste Hälfte, Tübingen 1896, 251–256. 21 Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 201. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion vgl. Edward Skidelsky: Cassirer on Science and Religion, in: Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert, Hamburg 2021, 483–489. 22 Ernst Cassirer: Freiheit und Form, in: ECW 7 (s. Anm. 1), 87. 23 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 113–114, 116; ders.: Die Philosophie der Aufklärung, in: ECW 15 (s. Anm. 1), 69–70; ders.: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 31. Vgl. ebenso Ernst Wolfgang Orth: Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur, in: Recki: Philosophie der Kultur (s. Anm. 21), (323–336) 329. 24 Die hier angesprochene ideelle Verwobenheit beschreibt Cassirer als symbolische Prägnanz: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 [s. Anm. 1], 231). 25 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 12 (s. Anm. 1), 35. 26 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 231.

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mung, die sich kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des reinen Denkens vollzieht.27

In der Atomphysik wird die Bedeutung der symbolischen Relation besonders deutlich, schließlich zeigt sich in der Sphäre der Atome, dass die Gesetzmäßigkeiten nicht »von den Gegenständen ab[zulesen]« sind.28 So lassen sich die Bewegungsbahnen der kleinsten Teilchen – das Doppelspaltexperiment zeigt, dass sie sowohl die Bewegung von Wellen als auch von klassischen Teilchen aufweisen29 – nicht mehr kausal, also mit den Methoden der klassischen Mechanik beschreiben. Um die Bewegungsbahn des Atoms zu messen, muss dieses beleuchtet werden, was allerdings einen so starken Druck ausübt, dass es zerstört wird und somit keine exakte Messung desselben möglich ist.30 Es findet also ein Eingriff des Erkennenden (Subjekt) in das zu Messende, das zu Erkennende (Objekt) statt. Zwar findet sich dieser Eingriff ebenso im Makrobereich, doch dort hat er keinen nennenswerten Einfluss auf die Beschreibung des Objekts. Anders in der Quantenphysik: Die Störung führt nach Paul Dirac dazu, dass »die Unbestimmtheit bei der Angabe des Impulses eines Teilchens um so größer ist, je genauer die Lage des Teilchens bekannt ist und umgekehrt.«31 Aufgrund dieser Unbestimmtheit in Folge der Störung durch den Beobachter bedurfte es einer »sinngemäßen Umdeutung«,32 die es ermöglicht, das Objekt von der subjektiven Warte aus zu beschreiben. Die atomare Welt ist nicht unabhängig vom Beobachter bestimmbar, er bestimmt das Objekt mit. Weil nicht zwischen einer existierenden und einer erkannten Welt zu unterscheiden ist, kann selbst die Naturwissenschaft nicht mehr von der reinen Objektivität der Welt sprechen. Das Verhältnis des Beobachters zum Beobachteten musste dementsprechend neu bestimmt werden. Eine wirkmächtige Interpretation liefert Niels Bohr mit seiner Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Mittels der komplementären Beschreibung der Phänomene wird das Subjekt Moment der Beschreibung des Objekts. Erkenntnistheoretisch bedurfte es dieser Umdeutung, so lässt sich nämlich das Subjekt 27 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 12 (s. Anm. 1), 35. 28 Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, in: ECW 19 (s. Anm. 1), 160. Vgl. ders.: Symbolische Formen zu Band IV, in: ECN 1 (s. Anm. 14), (199– 258) 199. 29 Richard P. Feynman: The Character of Physical Law, M.I.T. Press 61975, 127–148. 30 Im Folgenden wird die Ausgabe Werner Heisenberg: Gesammelte Werke. Collected Works. Abteilung C: Allgemeinverständliche Schriften 5, München 1984–1989, zitiert als GWC mit der jeweiligen Bandnummer. Vgl. ders.: Erkenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik, in: GWC 1, 22–28. 31 Paul Adrian Maurice Dirac: Die Prinzipien der Quantenmechanik, übers. v. Werner Bloch, Leipzig 1930, 129. 32 Niels Bohr: Atomtheorie und Mechanik, in: ders.: Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Übersicht, Berlin 1931, (16–33) 24.

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als Moment des Objekts fassen, und umgekehrt. Beobachter und Beobachtetes greifen ineinander. Damit zeigt sich mit der Quantenphysik, dass Wissen auch in der Naturwissenschaft nichts Isoliertes ist, sondern das Begreifen und die Deutung der Welt stets von uns Menschen als mitwissende, als mitschöpfende abhängt.33 Die notwendig gewordene Umdeutung entspricht Cassirers Symbolverständnis. Die symbolischen Ansichten haben freilich »nur im ›Moment‹« Gültigkeit,34 nämlich in dem, in dem sie vollzogen werden. Stehen sie im Streit mit der sinnlichen Erfahrung, müssen wir uns neu orientieren. Die Verschiebung des Gegenstands- und Gesetzesbegriffs in der Quantenphysik hat jedenfalls deutlich gemacht, dass das Faktische noch keine Theorie gibt.35 Unser Wissen reicht – pointiert ausgedrückt – nur so weit, wie die »Herrschaft dieser Begriffe« reicht.36 Es gibt keinen »Nullpunkt des Geistigen«, jede Tat des Geistes liefert eine weiterführende Bestimmung.37 Während die Wissenschaft ein reflexiver Prozess ist, haben wir es in der Kultur mit einem produktiven Prozess zu tun. Dabei unterscheiden sich die symbolischen Formen Sprache, Mythos, Kunst, Religion, Geschichte und Wissenschaft dahingehend: Art gives us a unity of intuition; science gives us a unity of thought; religion and myth give us a unity of feeling. Art opens to us the universe of »living forms«; science shows us a universe of laws and principles; religion and myth begin with the awareness of the universality and fundamental identity of life.38

Der Sinndeutung kommt im Mythos und der Religion eine besondere Bedeutung zu. Obwohl beide, Mythos und Religion, in Bildwelten leben, unterscheiden sich ihre Formen doch sehr. Im Mythos erscheint das Bild der »›objektiven‹ Wirklichkeit und des objektiven Geschehens […] als integrierender Bestand von ihr«, 33 Zur Deutung des Problems und der Komplementarität in der Physik vgl. Hackl: Freiheit als Prinzip (s. Anm. 8), Kap. II.6.1 und II.8.1; ders.: »Kommet her zur Physik, und erkennet das Wahre!« Mitwissenschaft bei Schelling und Bohr, in: Uta Heil u. a. (Hg.): Autor und Autorität. Historische, systematische und praktische Perspektiven (WJTh 12), Göttingen 2019, 213–225. 34 Cassirer: Symbolische Formen zu Band IV, in: ECN 1 (s. Anm. 14), 199, Hervorhebung M.H. Vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 221. 35 Vgl. Cassirer: Symbolische Formen zu Band IV, in: ECN 1 (s. Anm. 14), 199; ders.: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 23, 188; ders.: Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaften der neueren Zeit, in: ECW 5 (s. Anm. 1), 168. Diesbezüglich verweist Cassirer auf Goethe: »Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Factische schon Theorie ist« (Im Folgenden wird die Ausgabe Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke I–IV/1–133, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919, zitiert als Werke mit der jeweiligen Abteilung und Bandnummer. Ders.: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, einzelne Betrachtungen und Aphorismen, in: Werke II/11, [103–141] 131). 36 Cassirer: Determinismus und Indeterminismus, in: ECW 19 (s. Anm. 1), 159. 37 Cassirer: Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen, in: ECN 1 (s. Anm. 14), 262. 38 Ernst Cassirer: The Myth of the State, in: ECW 25 (s. Anm. 1), 39. Zu Mythos und Religion vgl. ders.: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 12 (s. Anm. 1), 275–306.

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hier fehlt also die Differenzierung von Ideellem und Reellem. Erst die Religion überführt die mythischen Bilder in ideelle Sinnbilder. Sie gibt den Bildern und Zeichen »einen neuen Sinn.«39 Der Sinn wird nicht von außen gegeben, er ist Resultat des individuellen Vollzugs. Die religiösen Auffassungen sind nicht bloß Ausdruck spirituellen Erlebens, sie beruhen ebenso auf der Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition bzw. den tradierten Dogmen. Die Religion hat keine objektive Dogmatik, sie ist Resultat eines produktiven Prozesses. Daher gibt es nicht bloß unterschiedliche Religionen, sondern auch unterschiedliche Formen innerhalb einer Religion. In Essay on Man verweist Cassirer darauf, dass es eine »boundless multiplicity and variety« von religiösen Dogmen gibt; er erklärt aber zugleich, dass diese nicht beliebig sind: Sie unterliegen demselben Prinzip, »the symbolic activity as such, remains the same: una est religio in rituum varietate.«40 Im Christentum zeigt sich eine vielfältige Entwicklung der Dogmen(-geschichte).41 Die Tradierung der Inhalte ist vielschichtig, selbst das historisch vermittelte Bild Jesu Christi ist nicht einheitlich. Dieses ist, wie Ernst Troeltsch in Was heißt »Wesen des Christentums«? festhält, nicht unmittelbar gegeben, schließlich ist es »vermittelt und beeinflusst durch den Glauben der Gemeinde und vor allem durch den Glauben des großen Apostels«.42 Bereits die Darstellungen der vier Evangelien schaffen mit ihrer Erzählung eine Umdeutung, mit der sie sich gegenüber dem Judentum neu bestimmen.43 Die Vielfalt der Erzählung der Worte und Taten Jesu Christi ist bezeichnend für die unterschiedlichen Ansichten der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die Redaktionsgeschichte der vier Evangelien wird in der theologischen Forschung ausführlich besprochen. Dabei wurden insbesondere die synoptischen Evangelien auf ihre literarische Abhängigkeit und ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht.44 Obwohl sich die synoptischen Evangelien im Aufbau sehr ähnlich sind, weichen sie in ihren Darstellungen erheblich voneinander ab. Hier werden Bilder Jesu Christi geformt, die über die bloß historische Anschauung hinausweisen.45 39 40 41 42

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 12 (s. Anm. 1), 279–280. Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 79, 81. Vgl. Adolf von Harnack: Dogmengeschichte, Tübingen 81991. Ernst Troeltsch: Was heißt »Wesen des Christentums«?, in: ders.: Gesammelte Schriften 2, Tübingen 1913, (386–451) 415. 43 Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 233, vgl. bes. Kap IV. 44 Überblicksmäßig vgl. Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017, 205– 264, 555–557; Rudolf Bultmann: Die Erforschung der synoptischen Evangelien, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze 4, Tübingen 1933, 1–41; ders.: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 31958, 355–366, § 41; ders.: Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 51961, 348–400. 45 Vgl. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984, 30–32. Zur Frage der Hermeneutik vgl. Ulrich Barth: Hermeneutik der Evangelien als Prolegomena zur Christologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus

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Die Darstellung jedes Evangelisten verfügt über eine eigene Sprache und Bildwelt sowie über einen eigenen »Entwurf von Theologie«; es ist Udo Schnelle zufolge ihr eigener Versuch, ein den Gemeindetraditionen gemäßes Bild von Jesus zu »entwerfen«. Die Synoptiker waren demnach »bewusst konzipierende Theologen«.46 Schon aufgrund der unterschiedlichen Formen kann nicht von dem Christentum gesprochen werden, in seiner Geschichte finden immer wieder theologische Umdeutungen statt.47 Wilhelm Gräb weist in Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik mit Blick auf die verschiedenen Formen des Christentums darauf hin, dass es sich hierbei »um kulturelle Konstrukte von Weltdeutungen und Selbstbeurteilungen« handelt.48 Dem ist mit Cassirer zuzustimmen, schließlich sind unsere Begriffsbestimmungen, so heißt es in seiner Philosophie der symbolischen Formen, »nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes«.49

3

Pluralität und schöpferische Kraft

Die symbolischen Ansichten in der Naturwissenschaft und der Religion unterscheiden sich nicht bloß durch den Gegenstand, sie unterscheiden sich auch durch ihre Form: Dabei greifen Kultur und Natur sowie Kultur und Religion ineinander. Alles Kulturelle ist etwas »›Gewirktes‹ – durch Menschenhand und Menschengeist Hervorgebrachtes«.50 Das Hervorgebrachte ist ein geschichtliches Sein, in diesem wird das Vergangene fortgeschrieben. Jenes ist nicht bloß das Ergebnis unseres Wirkens, es ist das Ergebnis gemeinschaftlichen Wirkens. Kultur ist nichts Isoliertes, an ihr haben alle Menschen teil, alle können sich

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und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, (275–305) 284–290. Schnelle: Einleitung in das Neue Testament (s. Anm. 44), 198–199; vgl. ders.: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 32016, 361–363, 757. Troeltsch bezeichnet es sogar als »Wahn«, das »Absolute in der Geschichte auf absolute Weise an einem einzelnen Punkt haben zu wollen« (Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe 5, hg. v. Trutz Rendtorff, Berlin 1998, [81–244] 204. Vgl. Garry Dorrien: In a Post-Hegelian Spirit. Philosophical Theology as Idealistic Discontent, Waco 2020, 219–220). Wilhelm Gräb: Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, in: ders.: Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999, (118–143) 139. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in ECW 11 (s. Anm. 1), 256. Ernst Cassirer: Über Basisphänomene, in: ECN 1 (s. Anm. 14), (113–195) 155.

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einbringen.51 Das Zusammenwirken ist Ausdruck unserer Freiheit, unserer schöpferischen Energie. Aufgrund der vielfältigen Formen des Deutens können wir uns keiner »aufsteigende[n] Reihe« der Kulturformen gewiss sein.52 Zwar wirken die Geschichte und die Traditionen in der Zukunft fort, die Zukunft muss aber erst noch geschrieben werden. Wenn Cassirer von »[s]ymbolic memory« spricht, heißt das: »man not only repeats his past experience but also reconstructs this experience.«53 Es geht hierbei also um einen produktiven Schaffensprozess, der in Auseinandersetzung mit der Tradition, der Geschichte stattfindet. Anders als Platon, für den »unser Lernen nichts anderes […] als Wiedererinnerung« ist, was wiederum voraussetzt, dass unsere Seele schon da war, »ehe sie in diese menschliche Gestalt kam«,54 findet sich in Cassirers Kulturtheorie keine so voraussetzungsreiche Bestimmung. Sie ist auch nicht notwendig, denn ihm geht es nicht bloß um die »Kraft der Erinnerung«, er betont darüber hinaus die Bedeutung der »Kraft des Vergessens« für das Leben. Durch sie bleibt der Mensch »lebendig und produktiv«. Was wäre der Mensch, »wenn ihm nicht die Gabe zuteil geworden wäre, die Last des Vergangenen von sich zu wälzen«.55 Kultur ist eben nicht bloß Erinnerung an eine allen Dingen zugrunde liegende objektive Ideenwelt: Kultur ist von den Menschen »in der Zeit« hervorgebracht, sie ist eine Formung unserer »synthetische[n] Kraft«.56 Das heißt nicht, dass es keinen Streit zwischen den Perspektiven, zwischen den symbolischen Ansichten geben soll, der konstruktiv geführte Streit trägt vielmehr dazu bei, dass sich uns immer wieder neue Denkweisen und Perspektiven eröffnen. Die Welt ist kein bloßes Konstrukt, wir schöpfen aus dem, was vor uns ist – was als wahr gilt, ist durch unsere Formungen geprägt, nicht durch einen absoluten, außer uns liegenden Gegenstand. Das gilt für die Naturwissenschaft wie für die Religion. Zudem sind alle religiösen Ausdrucksformen Formen der 51 Vgl. Oswald Schwemmer: Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen. Zu Cassirers Konzeption eines vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1992), (226–249) 246–247. 52 Ernst Cassirer: Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in: ECW 4 (s. Anm. 1), 357. 53 Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 58. Die Ausführungen zur symbolic memory beziehen sich auf Goethe und dessen Darstellung in Dichtung und Wahrheit. 54 Platon: Phaidon, in: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Griechischer Text von Émile Chambry und die deutsche Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 3, Darmstadt 1971, (1–208) 72e–73a. 55 Ernst Cassirer: Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über »Lotte in Weimar«, in: ECW 24 (s. Anm. 1), (267–298) 298. An dieser Stelle verweist Cassirer hinsichtlich der Produktivität auf Goethe, dieser schreibt hierzu: »Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewußt« (Johann Wolfgang von Goethe: Brief an Karl Friedrich Zelter vom 15. Februar 1830, in: Werke IV/46 (s. Anm. 35), [241–244] 243). 56 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 11 (s. Anm. 1), 44.

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individuellen Aneignung. Die vielschichtigen Weltansichten und Sinndeutungen sind Ausdruck unserer Individualität und Freiheit. Wir leben zwar in einer Welt, allerdings »gestaltet sie sich uns […] nicht einheitlich zu einem in sich geschlossenen Sinn- und Handlungszusammenhang. Wir sprechen verschiedene Sprachen. Wir haben verschiedene Religionen.«57 Der Hinweis Gräbs macht deutlich, wie vielfältig die kulturellen Formen sind und wie bereichernd diese für das Leben sein können. Diversität impliziert keineswegs eine Aufhebung der eigenen Identität: Alle Kulturformen, das gilt auch für die Religionen, haben ihre »Form der ›Sicht‹«.58 Die symbolischen Formen sind individuelle Objektivierungen, die nicht hierarchisch übereinander, sondern nebeneinanderstehen. Der kulturtheoretische Ansatz Cassirers baut, so Christian Danz, auf einer »unveräußerlichen Pluralität der Weltperspektiven« auf, mit der wiederum auf eine »normative Weltperspektive« verzichtet wird. Mit der »Einsicht in die Partikularität der religiösen Weltdeutung korrespondiert eine Anerkennung von differenten Weltdeutungen.«59 Die Anerkennung des Fremden betont die Differenz der Weltdeutungen, aus dieser Anerkennung folgt wiederum, dass eine Überhöhung einer Kulturtradition über eine andere nicht zu legitimieren ist. Die Weltdeutungen stehen gleich gültig nebeneinander, so auch die verschiedenen Prägungen von Wissenschaft oder Religion.60 Im Unterschied zur Naturwissenschaft findet Werner Heisenbergs Bestimmung der abgeschlossenen Theorie in der Religion nur bedingt Geltung,61 schließlich haben wir es hier mit keinem eindeutig abgrenzbaren Gegenstand zu tun, der bloß zu entfalten wäre und ewig gilt. Religiöse Inhalte sind nämlich vollzugsgebunden, weswegen über sie von außen nicht in der Weise gesprochen werden kann wie von innen heraus. Während beispielsweise die Bewegungsbahnen der Atome aufgrund ihrer empirischen – wenn auch eingeschränkten – Messbarkeit äußerlich beschreibbar sind, wird der religiöse Gehalt erst im individuellen Vollzug bestimmbar. So 57 Wilhelm Gräb: Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluß an Ernst Cassirer, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, (229–248) 238, vgl. 232; Cornelia Richter: Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, Tübingen 2004, 25–27, 291–293. 58 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13 (s. Anm. 1), 150. Vgl. dazu Cassirers Hinweis auf Johann Wolfgang von Goethe: Wenige Bemerkungen, in: Werke II/6/1 (s. Anm. 35), (155–157) 156. 59 Christian Danz: Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: Korsch/ Rudolph: Prägnanz der Religion (s. Anm. 57), (201–228) 228. 60 Michael Bongardt deutet Cassirers Kulturphilosophie als Grundlage für den interreligiösen Dialog. Vgl. Michael Bongardt: Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000; Richter: Religion in der Sprache der Kultur (s. Anm. 57), 293–294. 61 Werner Heisenberg: Der Begriff »Abgeschlossene Theorie« in der modernen Physik, in: GWC 1 (s. Anm. 30), (335–340) 339.

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Michael Hackl

verstanden ist Religion nie abgeschlossen und ist ebenso wenig ein für alle Mal gültig. Doch trotz der empirischen Bestimmbarkeit und der damit verbundenen Eingrenzung ist auch die Naturwissenschaft wandelbar. Sowohl die symbolischen Ansichten in der Religion als auch in der Naturwissenschaft sind Konstituierungen eines »creative process«, der sich mit neuen Erkenntnissen, aber auch mit der eigenen Tradition beschäftigt: »In human experience we by no means find the various activities which constitute the world of culture existing in harmony. On the contrary, we find the perpetual strife of diverse conflicting forces.«62 Wenn wir vom strife der verschiedenen Kräfte sprechen, zeugt das vom individuellen Sein und der Freiheit des Menschen, was nur »in einer Kultur von Differenzen in den Weltauffassungen und Lebensformen […] gedeihen« kann.63 Die schöpferische Kraft zeigt sich uns in ihrer Vielheit, sie ist kein Schlussstein, sie ist Ausgangspunkt des gemeinschaftlichen Diskurses. Wie Garry Dorrien in Theology in a Liberationist Liberal Spirit hervorhebt, ist der intersubjektive Austausch für das menschliche Leben eine große Bereicherung; daher gilt: »what matters is to engage the world from multiple perspectives«.64 Mit Cassirers Kulturtheorie wird verständlich, dass die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Perspektiven in den Wissenschaften, aber auch in der Religion zum Leben dazugehören; sich dieser Öffnung zu entziehen, heißt die eigene schöpferische Kraft zu negieren. Erst im schöpferischen und produktiven Austausch, sohin im wissenschaftlichen wie auch im inter- und innerreligiösen Dialog, erfasst der Mensch seine Energie des Geistes, sich selbst und seine Zugehörigkeit zur intersubjektiven Welt. Hier zeigt sich seine »power to build up a world of his own, an ›ideal‹ world. […] They tend in different directions and obey different principles.« Frei zu sein, heißt schöpferisch tätig zu sein und sich für die Vielfalt der Welt zu öffnen. Jede Perspektive »opens a new horizon and shows us a new aspect of humanity«.65 An der Gestaltung der Welt teilzuhaben und am new horizon zu wachsen, das macht unsere wahrhafte Freiheit aus.

62 Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 78. 63 Gräb: Religion in vielen Sinnbildern (s. Anm. 57), 232. 64 Garry Dorrien: Theology in a Liberationist Liberal Spirit. A Post-Hegelian Perspective, in: Jörg Lauster u. a. (Hg.): Liberale Theologie heute – Liberal Theology Today, Tübingen 2019, (9–21) 16. 65 Cassirer: Essay on Man, in: ECW 23 (s. Anm. 1), 244.

Manuel Stetter

Predigt und Pluralität. Zur Bearbeitung kultureller Differenz im Rahmen religiöser Rede

Abstract This paper reconstructs preaching as a social practice in which cultural differences are processed. Its first attempt is to sharpen the notion of plurality that we are so familiar with and to outline a non-essentialist concept of cultural diversity within the framework of cultural sociology and practice theory. Against this background, four relevant issues of preaching in a pluralistic society are identified, describing different modes of dealing with difference. In doing so, it becomes clear that preaching does not simply encounter plurality. Rather, preaching reacts to plurality in an interpretative and evaluative way as well as it always generates diversity itself.

1

Einführung

Dass die Gesellschaft, in der wir leben, divers verfasst ist, ist ein Topos der aktuellen Gegenwartsanalyse. Seit Langem gehört der Begriff der Pluralität zu den Schlüsselkonzepten, in denen wir unsere kulturelle Situation zu erfassen versuchen. Das gilt auch für die Homiletik. »Predigt im Kontext eines unhintergehbaren Pluralismus«, so hat Albrecht Grözinger schon vor gut 15 Jahren die Aufgabe homiletischer Reflexion bestimmt.1 Dass damit eine bleibende Aufgabe beschrieben ist, zeigt nicht nur das anhaltende wissenschaftliche Interesse am Thema der Pluralität. Auch die regen zivilgesellschaftlichen Debatten dieser Tage machen deutlich, dass der uns so geläufig gewordene Begriff der Pluralität nach wie vor enorme Brisanz besitzt. Es ist alles andere als ausgemacht, was die Rede von einer pluralen Gesellschaft genauerhin meint, welche Erfahrungen wir hier machen, wie Pluralität zu denken ist und vor allem auch wie mit ihr umgegangen werden soll. Im Folgenden wird die religiöse Rede als eine kulturelle Praxis rekonstruiert, in der ein solcher Umgang Gestalt gewinnt. Die Predigt wird als eine der »ge1 Albrecht Grözinger: Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2004, 11.

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Manuel Stetter

lebten und bewährten Formen« sozialer Kommunikation vorausgesetzt, in denen in unserer Gesellschaft die »Verschränkung« divergenter Sinnwelten »interaktiv gestaltet« wird und kulturelle Differenz eine Bearbeitung erfährt.2 Dabei liegt der Fokus auf der rhetorischen Verfahrensgestalt der Predigt (3.1; 3.2; 3.3). Ihre materiale Seite und pragmatische Einbettung werden lediglich gestreift (3.4; 4). Seinen Ausgang nimmt der Überlegungsgang im Versuch, einige Konturen der Rede von Pluralität, wie sie hier zu Grunde gelegt wird, zu umreißen (2).

2

Kulturelle Vielfalt. Konzeptionelle Konturen der Rede von Pluralität

In Gesellschaften, die in sozialer und kultureller Hinsicht als vielfältig gelten, erhält Differenz die Form einer Erfahrung. Das Andere ist nicht »›dort draußen‹«,3 sondern wird vor Ort, in den verschiedenen Sphären des lebensweltlichen Alltags erlebt. Entsprechend tritt im Zeichen einer forcierten Pluralität auch das Fremde nicht mehr nur in »standardisierten« Rollen in Erscheinung, wie dem auswärtigen Händler, dem Eroberer, dem fremden Weisen, dem fremden Künstler, dem Flüchtling oder dem Heimkehrer, bei denen weitgehend sozial geregelt war, was man von einander zu halten hatte und was jeweils in welcher Bedeutung als »fremd« gelten konnte.4

In Kontakt mit dem Unvertrauten kommen wir auch jenseits solcher typisierter Sonderbegegnungen. Das Signum heterogener sozialer Formationen ist also nicht, dass Anderes und Fremdes existieren, sondern dass das Andere und Fremde in den geläufigen Erfahrungszusammenhängen des Lebens Präsenz gewinnt. Zur genaueren Kennzeichnung dieser pluralen Situation scheinen mir vier Überlegungen hilfreich.

2 Vgl. Thea D. Boldt/Hans-Georg Soeffner: Kulturverschränkungen – zur Diffusität von Kulturbegriffen, in: dies. (Hg.): Fragiler Pluralismus, Wiesbaden 2014 (E-Book), (6–22) 17–18. Im Sinne einer Rekonstruktion liegen im Folgenden deskriptive Bezugnahmen wie normative Beschreibungen insofern ineinander, als typische Implikationen der etablierten Praxisform »Predigt« auf ihr Potenzial, Differenzen produktiv zu bearbeiten, untersucht werden. Ob dieses Potenzial im Einzelnen ausgeschöpft wird, ist kontingent. Allerdings gehe ich nicht davon aus, dass dieses Potenzial nur verpasst wird. Unterstellt wird, dass der rekonstruktiven Analyse durchaus eine gelebte Praxis entspricht. 3 Vgl. Ulrich Beck: Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Leipzig 2008, 94. 4 Ortfried Schäffter: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders. (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, (11–42) 13.

Predigt und Pluralität

2.1

183

De-Essenzialisierung der Vielfalt

Die Rede von Pluralität steht immer wieder in der Gefahr, Differenz als Differenz zwischen mehr oder weniger eindeutig abgrenzbaren Entitäten zu deuten. Differenz meint dann den Unterschied zwischen verschiedenen »Kulturen«, »Religionen« oder »Milieus«; und plural wäre diejenige Gesellschaft, in der mehrere solcher »Kulturen«, »Religionen« und »Milieus« nebeneinander existieren. Unterstellt wird dabei, dass es einheitliche Weisen der Selbstverständigung, der Art, sein Leben zu leben und die Dinge zu sehen, gäbe, die relativ passgenau mit einem bestimmten Kreis von Akteuren zusammenfallen. Wie Andreas Reckwitz herausgearbeitet hat, liegt dieser Art, über Vielfalt nachzudenken, die Annahme einer Koinzidenz von »Sinngrenze« und »Personengrenze« zugrunde; sie gleicht der alten Idee des Kulturessenzialismus, wonach gleichsam monolithische soziale Gebilde einander gegenüberstehen – nur, dass diese nun in ein und derselben Gesellschaft verortet sind.5 Ein realistischeres Bild ergibt sich, wenn kulturelle Differenz anders moduliert wird: nicht als Differenz zwischen in sich homogenen Akteursgruppen, sondern zwischen verschiedenen »Komplexen sozialer Praktiken«, an denen unterschiedliche Akteure auf diverse Weise partizipieren. Gesellschaftliche Pluralität stellt sich vor diesem Hintergrund deutlich verschliffener dar. Die in den sozialen Praktiken eingelagerten unterschiedlichen Semantiken lassen sich nicht mehr automatisch auf verschiedene Akteure verrechnen, sondern »interferieren« auf »Ebene der Handelnden«.6

2.2

Pluralität als Wahrnehmungsphänomen

Während Vielfalt im Rahmen zeitdiagnostischer Gesellschaftsanalysen primär als sozialer Tatbestand thematisiert wird, zeigen neuere Untersuchungen, dass Pluralität immer auch als ein Phänomen subjektiver Wahrnehmung zu bedenken ist. Der Umgang mit Differenz kommt nicht einer unmittelbaren Reaktion auf gesellschaftliche Pluralität als solche gleich, sondern vermittelt sich über Deutungen und Wertungen, die komplex bedingt sind. Exemplarisch kann hier auf die aktuelle Studie von Gritt Klinkhammer und Anna Neumaier verwiesen werden.7 Anhand biographischer Interviews weisen 5 Vgl. Andreas Reckwitz: Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Inferenzen, in: ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 22010, (69–93) 85. 6 Vgl. Reckwitz: Multikulturalismustheorien (s. Anm. 5), 85. 7 Zum Folgenden vgl. Gritt Klinkhammer/Anna Neumaier: Religiöse Pluralitäten. Umbrüche in der Wahrnehmung religiöser Vielfalt in Deutschland, Bielefeld 2020, bes. 249–273.

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sie nach, welch große Bedeutung etwa »gesellschaftlichen Diskursen« für die Wahrnehmung religiöser Pluralität zukommt. Die persönliche Einstellung gegenüber religiöser Vielfalt bestimmt sich weniger aus der direkten Begegnung mit anderen Religionen; sie resultiert maßgeblich aus der Auseinandersetzung mit Diskursen über »den Islam«, »die Kirche« oder normative Ideale religiöser Vielfalt. Relevant sind ferner konkrete »gesellschaftspolitische Ereignisse« wie vor allem auch »biographische Bedingungen«, also z. B. Sozialisation, Geschlecht oder Generation, aus denen sich der persönliche Umgang mit Differenz aufbaut. Pluralität zeigt sich hier als Gegenstand einer Wahrnehmung, die lebensgeschichtlich, gesellschaftlich und medial eingebettet ist und über die sich die konkreten Reaktionsweisen auf die Präsenz des Anderen und Fremden allererst verständlich machen lassen. »Automatisch folgt aus Diversität« tatsächlich »nichts«.8

2.3

Steigerung der Kontingenz

Auf Basis solcher Studien lassen sich die Auswirkungen gesellschaftlicher Diversivität deutlich nuancierter beschreiben, als es globale Theorien über »die« Konsequenzen »der« Pluralisierung für gewöhnlich tun.9 Dies gilt es im Hintergrund zu behalten, wenn im Folgenden ein häufig diskutierter Effekt herausgehoben wird. Wiederholt werden Erfahrungen der Vielfalt mit einem gesteigerten Bewusstsein der Kontingenz in Verbindung gebracht. Unser Selbstverständnis büßt unter pluralen Bedingungen an Selbstverständlichkeit ein. Wie wir die Welt deuten und unser Leben darin einrichten, tritt als eine Möglichkeit unter mehreren in Erscheinung. »Wir können nicht mehr unhinterfragt, ungebrochen, selbstverständlich wir selbst sein«, so Isolde Charim.10 8 Martin Fuchs: Diversity und Differenz – Konzeptionelle Überlegungen, in: Gertraude Krell u. a. (Hg.): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze, Frankfurt 2007, (17–34) 18. 9 Zur religionssoziologischen Debatte um die Folgen vor allem religiöser Diversifizierung vgl. Manuel Stetter: Die Predigt als Praxis der Veränderung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik, Göttingen 2018, 306–360. 10 Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Wien 3 2018, 47–48. Charim kann damit auf eine Interpretation der Pluralisierungsfolgen zurückgreifen, wie sie etwa auch Charles Taylor ins Zentrum seiner Analyse der aktuellen conditions of belief gestellt hat. Demnach führe die Erfahrung des Pluralen zu einem »breach of naïveté«. Die eigenen moralisch-spirituellen Intuitionen werden nicht mehr als realitätsverbürgte Einstellung, sondern deutende Anschauung erlebt, womit eine charakteristische Verdopplung des Selbstbezugs einhergeht: »We all learn to navigate between two standpoints: an ›engaged‹ one in which we live as best we can the reality our standpoint opens us to; and a ›disengaged‹ one in which we are able to see ourselves as occupying one standpoint among a

Predigt und Pluralität

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Das ist sicherlich eine zugespitzte Analyse, gibt aber doch vielleicht auch einen Erklärungshintergrund für die regressiven Tendenzen, die uns gesellschaftlich momentan so bewegen: retraditionalistische Versuche, Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit herzustellen und Differenzen nach außen klar zu befestigen und innen zu tilgen.11 Damit ist deutlich, dass die Behauptung zunehmender Pluralität kulturelle Schließungsprozesse nicht ausblenden muss. Im Gegenteil: Indem die Bildung homogener Gemeinschaften und die Prozesse fundamentalistischer Absicherung nicht als Relikte einer eigentlich überholten Zeit begriffen werden, sondern als spezifisch spätmoderne kulturelle Strategien des Umgangs mit Vielfalt in den Blick kommen, werden sie gerade als analysebedürftiges Problem markiert, das es auf seine konkreten Praktiken der Homogenisierung, Kontingenztilgung und Selbstessenzialisierung zu befragen gilt.

2.4

Doing/Undoing Differences

Ist damit kulturelle Einheitlichkeit als ein Effekt sozialer Praktiken angedeutet, gilt es, diese Einsicht auch für plurale Konstellationen in Anschlag zu bringen. Wie gesehen, ist Pluralität nicht ein pures soziales Faktum, sondern immer auch ein Phänomen der Wahrnehmung. Aber auch als gedeutete Größe liegt Pluralität nicht einfach nur vor. Pluralität wird gemacht, im Medium sozialer Praktiken hervorgebracht. Sie basiert auf »Differenzhandlungen«12. Unter dem Titel Un/doing Differences hat Stefan Hirschauer ein Forschungsprogramm skizziert, das diese Praktiken der Differenzierung in eine interessante Optik rückt.13 Die Pointe ist, dass Humandifferenzierungen wie etwa range of possible ones, with which we have in various ways to coexist« (ders.: A Secular Age, Cambridge 2007, 12–13). Ähnlich auch Peter L. Berger: Toward a New Paradigm for Religion in a Pluralist Age, in: Anna Körs u. a. (Hg.): Religious Diversity and Interreligious Dialogue, Cham 2020, 21–26. 11 Vgl. exemplarisch Hans-Georg Soeffner: Fragiler Pluralismus, in: ders./Boldt: Pluralismus (s. Anm. 2), (207–224) 219: »Bezeichnenderweise erfährt die Betonung sowohl der individuellen als auch der kollektiven Identität als einer Art sozialer Substanz immer dann eine Konjunktur, wenn es in relativ traditionellen Gesellschaften zu einer spürbaren Veränderung von Vergesellschaftungsformen kommt: Die Suche nach innerem und äußerem Halt erzeugt hier immer wieder nahezu reflexhaft Substanzfiktionen. Diese erhalten jedoch dadurch, dass sie für wirklich gehalten werden, insofern einen verhängnisvollen Realitätsakzent, als sich sowohl politische Rhetoren und Akteure als auch Teile der ›öffentlichen Meinung‹ real an ihnen orientieren – mit entsprechend dysfunktionalen Folgen.« 12 Fuchs: Diversity (s. Anm. 8), 17 (i. Orig. teils hervorgehoben). 13 Vgl. Stefan Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in: ZfS 43 (2014), 170–191; ders. (Hg.): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017; ders.: Undoing Differences Revisited. Unterscheidungsnegation und Indifferenz in der Humandifferenzierung, in: ZfS 49 (2020), 318–334.

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die Geschlechterdifferenz oder auch religiöse Zugehörigkeit nicht allein soziale Konstrukte sind. Sie werden, einmal hervorgebracht, situativ auch ganz unterschiedlich in Gebrauch genommen. Das heißt: Es könnte sein, dass die Geschlechterzuweisung in bestimmten Situationen in den Hintergrund gespielt oder gänzlich ruhen gelassen wird, während sie in anderen sozialen Situationen reproduziert und verstärkt wird. Rückt man Differenz in dieser Weise in einen praxeologischen Frame ein, ist deutlich, dass auch Pluralität nicht einfach vorliegt, sondern dynamisch und situativ enaktiert wird. Bezogen auf die Predigtpraxis hieße das: Auch sie reagiert nicht nur auf Vielfalt, deutet und wertet sie, sondern stellt sie immer auch mit her, indem sie bestimmte Differenzen überspielt oder berücksichtigt, ruhen lässt oder aktualisiert.

3

Religiöse Rede. Rhetorische Modi der Bearbeitung von Differenz

Nähert man sich der Rede von Pluralität in dieser Weise an, muss auch die Predigt als ein Praxiszusammenhang beschrieben werden, der konstitutiv auf Differenz bezogen ist. Sie lässt sich als eine derjenigen Praktiken in unserer Gesellschaft beobachten, in der sich die Verschränkung verschiedener Sinnwelten artikuliert und Differenzen bearbeitet werden. Begreift man Diversität nicht als Divergenz zwischen einheitlichen sozialen Entitäten, dann ist klar, dass man auch im Blick auf das Publikum einer Predigt von einfachen »Homogenitätsannahme[n]« absehen sollte.14 Selbst dort, wo sich um die Predigt eine »soziale Welt« etabliert hat, an der Menschen routiniert teilnehmen, bleibt diese Welt eine »Teilzeitwelt«.15 Sie schließt die Zugehörigkeit zu anderen sozialen Welten, den Zugang zu anderen Praktiken und den in ihnen eingelagerten Sinnelementen nicht aus, wodurch sich der Adressatenkreis der Predigt diversifiziert. Damit erweist sich auch für das religiöse Sprechen im Gemeindegottesdienst als virulent, was im Blick auf andere Predigtanlässe, wie etwa die kirchliche Kasualpraxis oder die »riskanten Liturgien«16, die dezidiert eine breitere gesellschaftliche Öffentlichkeit adressieren, sofort einsichtig ist: 14 Im Folgenden schließe ich eng an Überlegungen von Kristin Merle an. Vgl. dies.: Pluralität gestalten. Das Politische als Dimension der Homiletik, in: Sonja Keller (Hg.): Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt, Leipzig 2017, (37– 51) 42–44. 15 Vgl. Dariusˇ Zifonun: Die interkulturelle Konstellation, in: Soeffner/Boldt: Pluralismus (s. Anm. 2), (189–206) 194–196. 16 Kristian Fechtner/Thomas Klie (Hg.): Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, Stuttgart 2011.

Predigt und Pluralität

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dass Predigt auf ein heterogenes Publikum bezogen ist. Dies wird dann nur nochmals deutlicher, wenn man den spezifischen Öffentlichkeitsanspruch bedenkt, der der Predigt theologisch zugesprochen wird. Demnach ist sie immer auch an einer »intendierten Öffentlichkeit« ausgerichtet, die über die »faktische Öffentlichkeit« der versammelten Zuhörerschaft hinausreicht.17 Ihrer theologischen Programmatik zufolge ist die Predigt also geradezu per se auf Differenzsteigerung angelegt. Indem sie auch den unwahrscheinlichen Hörer in den Blick nimmt, entwirft sie ihre Adressatenschaft als plural. Folglich sollte man im Blick auf die Praxis religiöser Rede von vorschnellen Konsensfiktionen Abstand nehmen. Die Predigt sollte als ein Interaktionsprozess in Betracht gezogen werden, der Verstehen, Relevanz und Plausibilität nicht zur Grundlage hat, sondern zum Problem. Unter pluralen Bedingungen geht sie nicht in der Suggestion eines immer schon geteilten Sinns auf, sondern wird zu einem Ort, an dem Sinndifferenzen bearbeitet werden. Einige Modi dieser Bearbeitung werden im Folgenden herausgearbeitet.

3.1

Die Inszenierung des Individuellen

In der Geschichte der protestantischen Homiletik wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die Predigt ein eminent persongebundenes Sprechen sei – und zwar nicht nur deshalb, weil sich die Predigt ihres Subjektbezugs ganz grundsätzlich gar nicht entledigen könne, sondern auch in dem deutlich offensiveren Sinne, dass es gerade die »spezifische Stärke«18 und kommunikative Chance der Predigt sei, dass sie die Predigenden als individuelle Personen exponiert. Erst wo die Hörer*innen den Eindruck gewinnen, dass hier nicht jemand wie ein Funktionär teilnahmslos über die Sicht des Glaubens informiert, sondern eine Person ihre Sicht im Glauben artikuliert, entfalte die Predigt ihr Potenzial als religiöse Rede. »[W]hat is suggested […] is that preachers participate in their own sermons, not just deliver them.«19 17 Vgl. Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011, 449–454. 18 Jan Hermelink: Öffentliche Inszenierung des Individuellen. Praktisch-theologische Beobachtungen zu den politischen Implikationen der Praxis evangelischer Predigt in der Gegenwart, in: Keller: Predigt (s. Anm. 14), (105–124) 122. 19 Robin R. Meyers: With Ears to Hear. Preaching as Self-Persuasion, Cleveland 1993, 15. Dass der prägnante subjektive Verweisungsbezug der Predigt nicht zufällig zu eigen ist, sondern als Implikation ihrer spezifischen Praxisgestalt betrachtet werden kann und zugleich in den allgemeineren Strukturen aktueller religiöser Kommunikation verankert ist, habe ich in Stetter: Predigt (s. Anm. 9) zu zeigen versucht (vgl. etwa 369–373). Vgl. dazu auch Armin Nassehi: Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, (113–132) 121: »Wer im Medium des Glaubens spricht, setzt sich selbst in eine Position des authentischen Sprechers.«

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Fragt man nach der Predigt als einer sozialen Praxis, in der sich heterogene Sinnwelten verschränken, kommt diesem subjektiven Vektor religiöser Rede eine elementare Bedeutung zu.20 Er erlaubt zum einen, Differenz anzuerkennen. Wo die Predigt als Kommunikation erlebbar wird, in der sich etwas von ihrem Subjekt und seiner Sicht auf die Welt mitteilt, wird Differenz nicht überspielt, sondern als Möglichkeit offengehalten. Als Rede, die in ihrer spezifischen Perspektivität und individuellen Signatur erkennbar wird, eröffnet die Predigt einen Spielraum des Selbsterdenkens, in dem sich die Adressat*innen zu dem, was sie vernehmen, verhalten können. Zum anderen wird dadurch aber auch ein rednerisches Engagement möglich, durch das Kommunikationen häufig allererst interessant werden. Der Eindruck, dass hier jemand von etwas spricht, das für sie oder ihn von Belang ist, dass hier jemand nicht nur etwas, sondern auch sich mitteilt, dürfte wesentlich zur Lebendigkeit der Predigtinteraktion gehören.21 Dass damit für die Frage des Pluralen ein wichtiger Punkt berührt ist, wird ersichtlich, wenn man ihn im Zusammenhang der rhetorischen Idee des ἦθος weiter vertieft.22 Das Einbringen der eigenen Subjektivität zeigt sich in dieser Optik als Faktor der Aufrichtigkeit (ἀρετή) und dient damit nicht nur einer Steigerung des Publikumsinteresses, sondern der Glaubwürdigkeitspräsentation. Gerade im Zeichen der Differenz ist Vertrauensevokation aber ein basales kommunikatives Erfordernis. Fragt man, wie unter Bedingungen heterogener Wirklichkeitsdeutung und zugespitzt im Fall von Streit, Unverständnis und Aversion Interaktionen aufrechterhalten und Konflikte human ausgestaltet werden können, wird der Glaubwürdigkeit im Allgemeinen und der Aufrichtigkeit im Besonderen eine entscheidende kommunikative Bedeutung zukommen. Anders gesagt: Die Subjektivität der Predigt sichert unter Bedingungen der Differenz den kooperativen Modus des Sprechens.23

20 Vgl. dazu auch Grözinger: Toleranz (s. Anm. 1), 174–181. 21 Vgl. Engemann: Einführung (s. Anm. 17), 15. 22 Dazu ausführlich Manuel Stetter: Wie sagen, was gut ist? Überlegungen zu drei Verfahrensweisen ethischer Predigt, in: Helmut Schwier (Hg.): Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung, Leipzig 2015, (157–183) 179–183; Stetter: Predigt (s. Anm. 9), 251–255. 23 Vgl. Joachim Knape: Image, Prestige, Reputation und das Ethos in der aristotelischen Rhetorik, in: Birgit Christiansen/Ulrich Thaler (Hg.): Ansehenssache. Formen von Prestige und Kulturen des Altertums, München 2012, (105–128) 119–122.

Predigt und Pluralität

3.2

189

Das Problem des Topischen

Neben der Subjektivierung ist die religiöse Rede durch zwei Verfahren bestimmt, die theoretisch häufig voneinander separiert und nicht selten auch unterschiedlich bewertet werden, in praxi aber komplex zusammenspielen.24 Die Predigt »vereinigt in sich Elemente bildhafter Sinnkonstitution und rationaler Sinnrechtfertigung«.25 Beide Elemente erweisen sich für eine Bearbeitung von Sinndifferenzen als relevant. Die rhetorische Kultur des Christentums ist eine visuelle Kultur. Sie pflegt einen anschaulichen Ton, der in seinen diversen Varianten von der Beispielschilderung bis zur ausgestalteten Narration, vom Vergleich bis zur lebendigen Metapher an der sprachlichen Bebilderung des Religiösen mitwirkt. Dass es dabei nicht bloß um eine ornamentale Ausgestaltung religiösen Sprechens geht, haben die neuere Metapherntheorie und die Narrationsforschung vielfältig herausgearbeitet. Als Darstellungsformate sind die Techniken der Evidenzerzeugung immer auch Erkenntnisformate, epistemische Instrumente, die ihre Gegenstände hermeneutisch zu erschließen helfen.26 Die verschiedenen Strategien der Vergegenwärtigung können allerdings auch als rhetorische Operationen betrachtet werden, die sich als besonders produktiv erweisen, wenn es darum geht, auf Heterogenität zu reagieren. Wo die Rede mit einem »gemischten Publikum« zu tun hat, bedarf es der »Evidenz der Augenscheinlichkeit«.27 So gibt die subiectio sub oculos ein probates Mittel, um auch im Zeichen eines »brüchig« gewordenen »kommunikative[n] Zusammenhalt[s]« sprachliche Interaktionen zu gestalten; die evokative Fähigkeit, etwas so zur Darstellung zu bringen, dass es die Phantasie der Adressierten anregt und vor ihrem inneren Auge zur Aufführung kommt, ist in der Lage, Menschen »trotz widerstreitender Meinungen und Wertevorstellungen« kognitiv zu versammeln und eine »gemeinsame Basis für die weitere Reflexion« zu gewinnen.28 Die rhetorische Antwort auf Pluralität lautet also: Konkretion, nicht die Flucht in den 24 Zur homiletischen Skepsis gegenüber argumentativen Redeweisen vgl. Manuel Stetter: Predigt und Argumentation. Zur Rolle diskursiver Sprachformen in der gegenwärtigen Homiletik, in: Ulrich Nembach (Hg.): Internetpredigten. Zur Sprache der Predigt in der globalisierten Welt, Frankfurt a.M. 2013, 159–179. 25 Peter Oesterreich: Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 125. 26 Vgl. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Münster 22013, 18. Vgl. dazu auch Manuel Stetter: Oratio et ratio. Homiletische Erwägungen zum Rationalitätspotenzial religiöser Rede, in: Elisabeth Gräb-Schmidt u. a. (Hg.): Transzendenz und Rationalität, Leipzig 2019, 371–388. 27 Vgl. Brigitta Fuchs: Vico über rhetorische und szientifische Evidenz, in: Olaf Kramer u. a. (Hg.): Rhetorik und Ästhetik der Evidenz, Berlin 2020, (67–82) 74. 28 Olaf Kramer: Narrative Evidenz, in: ders. u. a.: Rhetorik (s. Anm. 27), (83–98) 84.

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allgemeinen Ausdruck – wobei das kommunikative Versprechen der Anschaulichkeit eben gerade nicht nur einer Bearbeitung der Differenz zwischen Experten und Laien gilt, sofern Veranschaulichung als »Mittel der Belehrung« für die Unverständigen eingesetzt wird;29 ihr Versprechen gilt vielmehr der Überbrückung kultureller Differenz, indem im Akt der Rede ein Raum mentaler Begegnung etabliert wird. Dieser Raum kann dann auch argumentativ ausgestaltet werden. Es ist ein Topos der Argumentationsforschung, dass argumentative Praxis Differenz konstitutiv voraussetzt. Erst wo etwas als »fraglich« oder »strittig« wahrgenommen wird, bedarf es der Argumentation.30 Argumentation meint dabei nicht den von den Problemlagen der Lebenspraxis abgekoppelten formallogischen Schluss, sondern die vielgestaltige Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen, in der Akteure im Rahmen konkreter sozialer Interaktion mit der Plausibilisierung ihrer Ansichten und Auffassungen befasst sind.31 Insofern lautet das kommunikative Versprechen des Argumentativen nicht, ein kulturell heterogenes Publikum in die universale Sphäre reiner logischer Stringenz zu entführen und dort zu vereinen. Ihre Überzeugungskraft beziehen Argumente vielmehr aus einer Rückführung des Fraglichen und Strittigen auf geteilte Gewissheiten und lebensweltlich bewährte Plausibilitätsannahmen. Die erfolgreich Argumentierende gleicht demnach weniger der versierten Logikerin als der lebenskundigen Hermeneutin menschlicher Erfahrung, die die Vertrautheitshorizonte ihrer Hörerschaft aufzuschließen vermag, um etablierte Wertsetzungen, geteilte Sinnmuster oder sonstige Erfahrungsschemata, die in unseren Alltagskommunikationen und kulturellen Praktiken aufgerufen und symbolisiert werden, ausfindig zu machen. Rhetorische Argumentation ist ein topisches Unterfangen. Nun wird dieser topische Hintergrund mit der Rede von einer gesteigerten gesellschaftlichen Pluralisierung gerade zum Problem und es dürfte zu den bedeutsameren Fragen eines plausiblen religiösen Sprechens gehören, wie damit umgegangen werden kann. Dazu drei Anmerkungen: (1) Zunächst ist festzuhalten, dass den formalen Mustern alltagsweltlicher Argumentationen, die die rhetorische Topik zu rekonstruieren versucht, wohl tatsächlich ein Grad von Allgemeinheit zugesprochen werden kann, der über 29 Vgl. Bernhard Asmuth: Anschaulichkeit. Varianten eines Stilprinzips im Spannungsfeld zwischen Rhetorik und Erzähltheorie, in: Gert Ueding/Gregor Kalivoda (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, Berlin 2014, (147–184) 151–156. 30 Vgl. exemplarisch Josef Kopperschmidt: Argumentationstheorie zur Einführung, Hamburg 2 2005, 43. 31 Zur Argumentation als einer vitalen lebensweltlichen Praxis vgl. Stetter: Oratio (s. Anm. 26), 376–380; ders.: Predigt und Argumentation (s. Anm. 24), 169–174; ders.: Predigt (s. Anm. 9), 275–293.

Predigt und Pluralität

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verschiedene kulturelle Sinnwelten hinausreicht. Die Anführung von Beispielen etwa oder Argumentationen über Ursache-Wirkung-Zusammenhänge oder analogische Schlüsse dürften in sehr verschiedenen Plausibilisierungssituationen eine Rolle spielen.32 Sollte diese Intuition zutreffen, wäre sie durchaus insofern ernst zu nehmen, als es auch im Horizont kultureller Differenz ein Set von in lebensweltlichen Kommunikationen eingelagerten gedanklichen Mustern gibt, denen Angehörige diverser sozialer Welten implizit33 eine grundsätzliche Plausibilisierungsfunktion beimessen. Freilich bleiben diese Muster ob ihres Formalisierungsgrades doch wenig informativ, was die Reflexion auf kulturelle Diversität anbelangt, können sie doch zur Stützung ganz verschiedener Weltsichten in Gebrauch genommen werden.34 Als entscheidender erweisen sich hier die materialen Topoi. Im Blick auf diese wird man (2) konstatieren müssen, dass die inventio, also die Suche nach lebensweltlichen Bezügen, existenziellen Erfahrungen und Wirklichkeitsdeutungen, in denen das Predigtanliegen Plausibilität gewinnen kann, angesichts kultureller Differenz zu einer dezidierten Kunst avanciert – und zwar zu einer Kunst, die bestenfalls dazu bereit ist, sich auf die Pluralisierung der Lebenswelten überhaupt erst einmal einzulassen und nicht nur die engeren Zirkel des eigenen Sinnraums abzuschreiten. Gute Predigerinnen kennen etwas von der Vielfältigkeit des Sinns in der Gesellschaft und sie tauchen ihre Gegenstände bewusst in das kritische Licht der Auffassungen Andersdenkender. Zur »topischen Durchmusterung« gehört der »Einschluss fremder Perspektiven«.35 Damit gilt unter pluralisierten Bedingungen mehr denn je, was Rüdiger Bubner zu einem Kernmerkmal des topischen Denkens erklärt hat: Die Aufforderung zum Argumentieren entspringt […] nicht dem Verfügen über Gründe, sondern im Gegenteil dem Mangel daran. Die Suche nach Gründen gleicht eher einer Rückführung des Problematischen auf etwas, das man noch nicht hat, statt der Ableitung aus etwas, das man hat. Konstitutiv wird die Aufgabe des Entdeckens.36

(3) Liegen die topischen Elemente also nicht offen zu Tage, verlangen sie auch im Akt der Rede eine sprachliche Inszenierung, die sie präsent zu machen erlaubt. 32 Zum Versuch einer Zusammenschau typischer Schemata der Alltagsargumentation vgl. Manfred Kienpointner: Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern, Stuttgart 1992. 33 In der Regel verfügen soziale Akteure über die Techniken des Argumentierens nicht reflexiv. Sie sind Teil eines praktisch eingeübten tacit knowledge. 34 Es wäre freilich interessant, genauer zu erforschen, ob die Predigt im Vergleich zu anderen Redepraktiken ein signifikantes Set an typischen Argumentationsmustern aufweist, ob sich diese historisch verändern oder auch kontext- oder medienbezogen variieren. 35 Fuchs: Vico (s. Anm. 27), 75–76. 36 Rüdiger Bubner: Dialektik als Topik. Bausteine zu einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt a.M. 1990, 67–68 (Hervorh. i. Orig.).

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Damit ist eine der zentralen Stellen berührt, an der die Techniken der sinnlichen Evidenzerzeugung mit den Verfahren argumentativer Plausibilisierung eine Kopplung erfahren und die Argumentation zu einer Kunst der Darstellung avanciert.37 Was tentativ als gemeinsam, plausibel, unstrittig unterstellt wird, gilt es im Horizont des Pluralen immer wieder neu zu vergegenwärtigen, evokativ hervorzurufen und rednerisch vor Augen zu malen – kurzum: kommunikativ allererst herzustellen. Die Etablierung einer »gemeinsamen Basis« (s. o.) wird zum performativen Akt: Der topische Hintergrund ist nicht einfach gegeben; er wird rednerisch erzeugt;38 man greift nicht auf fertige Argumente zurück, sondern kreiert sie im Vollzug. Predigen im Kontext gesellschaftlicher Pluralisierung lässt sich vor diesem Hintergrund als eine topische Kunst rekonstruieren, die nicht mit einem immer schon geteilten Sinnhintergrund rechnet, sondern einen solchen rednerisch für die Zeit der Predigt performativ hervorzubringen hat. Sofern sie im Modus der inventiven Erschließung in die Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden führt und die darin ausfindig gemachten Anschlussstellen im Akt der Rede plastisch zu vergegenwärtigen weiß, kann sie immer wieder zu einem Raum werden, in dem Sichtweisen aus verschiedenen Erfahrungskontexten und Teilöffentlichkeiten »beispielhaft in eine[n] diskursiven Zusammenhang«39 gebracht werden.

3.3

Die Repräsentation des Anderen

Im Licht einer solchen Rekonstruktion wird die religiöse Rede als eine Praxis sichtbar, die notorisch mit der Repräsentation von Alterität zu tun hat. Dass Predigen heißt, fremde Erfahrungen zu inszenieren, ist offensichtlich zunächst natürlich im Zusammenhang der Kasualien. Bei einer Trauung oder Bestattung ist das religiöse Sprechen per definitionem mit dem Problem konfrontiert, an37 Es war Chaim Perelman, der dieses wechselseitige Aufeinanderangewiesensein von ästhetischer Anschaulichkeit und argumentativer Rede mit Nachdruck herausgearbeitet hat. Vgl. etwa ders.: Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980, 41–48. Vgl. ferner Lutz Koch: Argumentation und Evidenz in der Rhetorik, in: Karl Helmer u. a. (Hg.): Bild, Bildung, Argumentation, Würzburg 2009, 151–156; Michael Pielenz: Argumentation und Metapher, Tübingen 1993. 38 So auch Hubert Knoblauch: Topik und Soziologie. Von der sozialen zur kommunikativen Topik, in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposion, Tübingen 2000, (651–667) 665–666. Während Knoblauch allerdings dazu tendiert, den aus dem »Zerfall an Traditionen und Selbstverständlichkeiten« resultierenden Bedarf an Kommunikationen, in denen »die Vielzahl der unterschiedlichen Perspektiven inszeniert« und »präsentiert« wird, von Praktiken der Argumentation abzukoppeln, scheint mir beides vielmehr gerade komplex ineinander zu liegen. 39 Merle: Pluralität (s. Anm. 14), 50.

Predigt und Pluralität

193

deres Leben adäquat zur Darstellung zu bringen. Unter pluralen Bedingungen weitet sich dieses Bezugsproblem nun auf den gesamten Bereich lebensweltlicher Rekurse aus. Was homiletisch als Situationsbezug der Rede oder Hermeneutik der Lebenswelt diskutiert wird, wäre generell im Horizont des Problems von Fremdverstehen zu begreifen. Im Bereich der Homiletik sind es dabei insbesondere die international breit diskutierten Ansätze einer postkolonialen Predigtforschung, die für eine Untersuchung der rhetorischen Kultur des Christentums auch im deutschsprachigen Raum instruktive Reflexionschancen bereithalten.40 Sie leiten dazu an, den Lebensbezug der religiösen Rede als unhintergehbar perspektivisch gebundenen Konstruktionsprozess durchsichtig zu machen, der kritisch zu begleiten bleibt:41 Wird die Perspektivität der Wirklichkeitsbeschreibung kommunikativ kaschiert oder kenntlich gemacht? Welchen rednerischen Zwecken unterliegt die Darstellung Anderer? Welche Stereotypisierungen werden vorgenommen? Werden Personen als Repräsentanten einer Kategorie behandelt oder scheint etwas von ihrer uneinholbaren Individualität durch? Markiert die Beschreibung Ambiguitäten, Gegenperspektiven, Offenheiten? Für eine für solche Fragen sensible Predigtpraxis reicht die bloße Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden nicht aus; es kommt vielmehr darauf an, diese Auseinandersetzung im Sinne einer Hermeneutik anzugehen, die sich gegenüber allzu schnellen Verstehensbehauptungen skeptisch hält und in die Kultivierung einer Kunst der »cautious representation«42 einweist. Wie schwierig ein solches Unterfangen ist, haben unlängst Tone Kaufman und Theo Pleizier im Rahmen einer Analyse von Predigten, die auf die Flüchtlingsthematik eingehen, aufgezeigt.43 Sie machen deutlich, dass auch eine wohlwollende, parteiergreifende und zugewandte Haltung nicht per se vor einem Sprechen über Andere schützt, das pauschalisiert, Menschen auf eine Erfahrung reduziert, für die eigenen kommunikativen Zwecke vereinnahmt oder mit Stereotypen arbeitet.44 40 Impulse wären auch aus der Debatte um die Interkulturelle Seelsorge zu beziehen, mit der, verstanden als poimenischer Modellfall, die seelsorgliche Interaktion generell auf Fragen einer Hermeneutik des Fremden behaftet wird. Vgl. Kristin Merle: Kulturwelten. Zum Problem des Fremdverstehens in der Seelsorge, Berlin 2013. 41 Vgl. hier und zum Folgenden: Sarah Travis: Decolonizing Preaching. The Pulpit as Postcolonial Space, Eugene 2014, 90–107. 42 Travis: Preaching (s. Anm. 41), 95–97. 43 Theo Pleizier/Tone Stangeland Kaufman: Reforming Preaching. Refugees in European Sermons from the Perspective of Space, Body and Politics, in: Auli Vähäkangas u. a. (Hg.): Reforming Practical Theology. The Politics of Body and Space (International Academy of Practical Theology Conference Series 1), Oslo 2019, 121–128. 44 So wenn etwa von den Geflüchteten die Rede ist, die generell und nur als Opfer thematisch werden und durch die wir neu aufmerksam werden können, wie gut es uns doch eigentlich geht.

194 3.4

Manuel Stetter

Die Kontexte des Redens

Standen bisher bestimmte kommunikative Optionen der Differenzbearbeitung im Fokus, wie sie sich im Verlauf der Herausbildung aktueller Predigtpraxis historisch stabilisiert haben, ist der Blick zuletzt auf die pragmatischen Kontexte des Predigens zu richten. Pluralität wird im Rahmen der Predigtpraxis auch insofern bearbeitet, als die Vollzugskontexte religiöser Rede eine Ausdifferenzierung erfahren. Die rhetorische Kultur des Christentums ist selber vielfältiger geworden. Evident ist dies im Blick auf das gottesdienstliche Leben. Neben Sonntagsgottesdienst und den Kasualien existiert eine nur schwer zu überschauende Fülle an liturgischen Vollzügen, in denen die religiöse Rede in je unterschiedliche Praxisarrangements eingebunden ist.45 Aber auch abseits gottesdienstlicher Vollzüge nimmt religiöse Kommunikation Formen an, die für eine Theorie der religiösen Rede, wie sie die Homiletik anstrebt, relevant sind. Aktuell mag man hier vor allem an die digitalen Medien denken, durch die nicht nur anderen Orts gehaltene Predigten verbreitet oder Predigtmanuskripte geteilt werden, sondern eigenständige Formate genuin religiöser Rede entstehen. Pluralitätsrelevant ist diese Auffächerung zum einen, weil sie die homiletisch häufig nur marginal beachtete Frage des Zugangs zur Sprecherrolle berührt. Wem im Rahmen der aktuellen Predigtkultur die »Macht zur Deutung« in Form einer Besetzung der privilegierten Oratorenrolle zukommt, variiert je nach Kontext.46 Wenn im Zusammenhang etwa von Jugendgottesdiensten oder Predigtslams, bei Kasualien, die Angehörige beteiligen, oder auf YouTube ganz selbstverständlich nicht allein die theologisch ausgebildeten Redeexperten »›[d]as Sagen haben‹«,47 geht mit der Ausdifferenzierung der Predigtkultur auch eine zunehmende »personelle Pluralität«48 einher, die zu einer »Perspektivendezentrierung«49 beitragen kann und die »agency der LaiInnen als Produzen-

45 Vgl. Julia Koll: Pluralität. Drei Perspektiven, in: PTh 107 (2018), (230–235) 233–235. 46 Vgl. dazu Manuel Stetter: Deutungsmacht und Predigtpraxis. Zur Materialität und Diskursivität rhetorischer Überzeugungskraft, in: Thomas Klie u. a. (Hg.): Machtvergessenheit. Deutungsmachtkonflikte in praktisch-theologischer Perspektive, Berlin 2021, 135–154. Zur analytischen Unterscheidung zwischen einer »Macht zur Deutung« und einer »Macht der Deutung« vgl. Philipp Stoellger: Deutungsmachtanalyse. Zur Einleitung in ein Konzept zwischen Hermeneutik und Diskursanalyse, in: ders. (Hg.): Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014, (1–85) 35–41. 47 Philipp Stoellger: Einleitung. Zwischen Machtwort und Wortmacht. Was heißt ›das Sagen‹ oder ›etwas zu sagen‹ haben?, in: ders./Martina Kumlehn (Hg.): Wortmacht/Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion, Würzburg 2017, (1–43) 2. 48 Hermelink: Inszenierung (s. Anm. 18), 111. 49 Vgl. Travis: Preaching (s. Anm. 41), 99–102.

Predigt und Pluralität

195

tInnen und ›ManagerInnen‹ religiösen Sinns«50 auf dem Feld der Predigt artikuliert. Zum anderen dokumentiert sich in der Auffächerung der Gottesdienstkultur auch ein spezifisch organisatorischer Umgang mit Pluralität, der den religiös Redenden eine Einhegung oder zumindest Ordnung der diffusen Pluralitätsproblematik verspricht. So beziehen Zielgruppengottesdienste auch die Rede programmatisch auf eine bestimmte, mehr oder weniger als einheitlich insinuierte Akteursgruppe. Dass damit vor dem Hintergrund der Überlegungen unter Punkt 2 durchaus Schwierigkeiten verbunden sind, hat Ulrike Wagner-Rau am Beispiel multireligiöser Feiern herausgearbeitet.51 So zeigt ein Blick auf kirchliche Dokumente und liturgische Handreichungen zum Thema, dass nach wie vor um eine angemessene Haltung gegenüber multireligiösen Ritualen gerungen wird, wenn man sich »tastend[-]« zwischen »Abgrenzung und Öffnung« bewegt; dass insgesamt besehen aber doch eine deutliche »Sorge« zu erkennen ist, religiöse Differenzen könnten »verwischt« werden.52 Dabei dominiert ein Religionsverständnis, das Religionen als weitgehend »monolithische Größen«53 auffasst, die dann nach Maßgabe eingespielter religionstheologischer Modelle ins Verhältnis gesetzt werden. Diese Theoriemodelle sind klar an der Idee von »Lehrauseinandersetzungen« orientiert, weniger an Erfahrungen der alltäglichen Religionspraxis.54 So wird man mit diesen Modellen die Erfahrungen von bireligiösen Paaren etwa kaum treffen, wo das Miteinander der Religionen wohl eher im oben von Reckwitz genannten Sinne eines dynamischeren Aushandlungsprozesses zu interpretieren ist, als in der Begegnung abgeschlossener Identitäten. Insofern zeigt sich hier ein exemplarischer Fall, in dem kirchlich und liturgisch Differenzen markiert und aktualisiert werden, die in der Erfahrung vieler Menschen so vielleicht gar nicht oder in ganz anderer Form relevant sind.

50 Klinkhammer/Neumaier: Pluralitäten (s. Anm. 7), 270; vgl. dazu auch Berger: Paradigm (s. Anm. 10), 22. 51 Vgl. Ulrike Wagner-Rau: Ritual- und Festpraxis in multireligiösen Familienkonstellationen. Ein Prospekt, in: Hans Gerald Hödl u. a. (Hg.): Christliche Rituale im Wandel. Schlaglichter aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht, Göttingen 2017, 177–191. 52 Vgl. Wagner-Rau: Familienkonstellationen (s. Anm. 51), 180. 53 Wagner-Rau: Familienkonstellationen (s. Anm. 51), 188. 54 Vgl. Wagner-Rau: Familienkonstellationen (s. Anm. 51), 183.

196

4

Manuel Stetter

Fazit

Zum Ende wird damit nochmals deutlich, dass die kirchliche Praxis und mit ihr die Predigt Pluralität nicht lediglich vorfindet, sondern deutend wie wertend auf sie reagiert und zugleich situativ immer auch praktisch mit hervorbringt. Mit ihren pragmatisch jeweils spezifisch eingebetteten Verfahren der Subjektivierung, der topisch eingebundenen Argumentation, der präsenzerzeugenden Rede und der Darstellung des Anderen nimmt die religiöse Rede Teil am Prozess der Pluralisierung und gestaltet die Verschränkung divergenter Sinnwelten mit. Ob sie dabei zur kulturellen Schließung, der Befestigung von Grenzen oder fundamentalistischer Absicherung tendiert oder Differenz so zu bearbeiten weiß, dass sie anerkannt und als Möglichkeit offengehalten wird, ohne dabei den kommunikativen Faden preiszugeben, sondern noch in der Kontroverse Interaktion aufrechtzuerhalten, wird nicht zuletzt auch daran liegen, ob sie ihrer eigenen Funktion als religiöse Rede gewahr wird. Wie Thomas Bauer dargelegt hat, eignet Religion aufgrund ihres Transzendenzbezugs ein genuiner Sinn für »Ambiguität«, Offenheit und Vielfalt.55 Er formuliert damit, was Friedrich Schleiermacher unter ganz anderen Bedingungen in seinen Reden ausgeführt hat und dort gerade zum Grund des Predigens erklärt: Es ist die »Unausschöpflichkeit« des Sinns, mit der der Mensch in der Frage nach dem Grund seines Daseins konfrontiert ist, die ihn zur Kommunikation mit anderen antreibt und auf die Auseinandersetzung mit Alterität angewiesen sein lässt.56

55 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 72018, 34. 56 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Günter Meckenstock, Berlin 2001, 135–136.

Bernhard Lauxmann

Bis die semantischen Fetzen fliegen! Auseinandersetzungen ums Christsein in spätmodernen Arenen christlich-religiöser Debattenkultur wie gutefrage.net, YouTube und Co

Abstract The concept of »being a Christian« has lost clarity and self-evidence overall. There are intense disputes about it. Even today, many contradictory interpretations are produced online and offline. After probing this late-modern field of debate, the problem is examined in terms of the sociology of religion and culture and analyzed in more detail by using a concrete individual phenomenon (a video by Jana Highholder). The results make it clear that Practical Theology must take up the challenge of supporting people who want to find out more about their own way of being a Christian because they are striving for clarity. Wir können nicht mehr so richtig sagen, was es bedeutet, ein christliches Leben zu führen. Als Lehrer oder als Ärztin können wir am Freitag zur Klimademo gehen oder für Seenotrettung demonstrieren. Aber jenseits des kurzfristigen punktuellen Aktionismus haben wir echte Schwierigkeiten, zu sagen, was ein christliches Leben bedeutet.1 Reiner Anselm

Vorbemerkung Die Frage danach, ob es im gegenwärtigen Christentum eine Streitkultur gibt und wie eine solche zu beurteilen sei, steht im Zentrum dieses Jahrbuchs. Wenn ich mich in diesem Artikel der Auseinandersetzung ums Christsein widme, bejahe ich die Eingangsfrage ausdrücklich. Die zu entfaltende These umfasst zwei Aspekte: Einerseits gehe ich davon aus, dass es im Verlauf der Moderne zunehmend unklar geworden ist, was Christsein meint. Während offenbar über die längste Zeit hin den Zeitgenoss*innen in Mitteleuropa klar gewesen ist, was ein Christ bzw. eine Christin sei und zu tun habe, fragen sich spätmoderne Menschen zunehmend, worin solches Christsein 1 Rieke C. Harmsen: Quo vadis Christentum? Der Theologe Reiner Anselm über Kirche, Theologiestudium und Protestantismus, 2019, verfügbar unter: https://www.sonntagsblatt.de/reineranselm-interview [03. 09. 2020].

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Bernhard Lauxmann

eigentlich konkret bestehen solle; dazu zählen auch solche, die sich bereits Christ*innen nennen und auf verschiedene Weise mit der christlichen Glaubenskultur vertraut sind. Andererseits nehme ich an, dass zugleich mit dieser Unklarheit auch eine intensivierte Auseinandersetzung über das Christsein einhergegangen ist. Diese produziert bis heute vielfach konfligierende Deutungen, wobei das Konfliktpotential solcher Deutungen in der Spätmoderne einen Höhepunkt erreicht hat. Die Auseinandersetzung ums Christsein hat sich in der christlich-religiösen Glaubenskultur verschärft und die Stimmung ist teilweise überhitzt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Christsein als Lebensform verstanden wird.2 Ich spreche im Folgenden bewusst nicht von einem Streit ums Christsein, sondern von Auseinandersetzungen, Debatten und Konflikten, da dies den spätmodernen Hör- und Lesegewohnheiten besser entspricht. Die kirchenhistorischen Konfliktfeldern eigentümliche und vom Streitbegriff geprägte Semantik steht heute nicht mehr allzu hoch im Kurs.3

Abb. 1 – Häufigkeit der Begriffsverwendung im Wortfeld »Streitkultur« im Textpool von Google Books4 2 Vgl. Burkhard Liebsch: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin 2001, 123–151; ferner David Käbisch: Religionsunterricht und Konfessionslosigkeit. Eine fachdidaktische Grundlegung (PThGG 14), Tübingen 2014, 121–144. 3 Es fällt auf, dass Kirchenhistoriker*innen unbeirrt vom »Abendmahlsstreit« oder »Prädestinationsstreit« sprechen, obwohl sie die damit bezeichneten Sachverhalte häufig gar nicht als Streit begreifen. Der Fokus auf den Streitbegriff ist eingeübt, doch Alternativbegriffe werden längst korrigierend in die Diskussion eingebracht. Folgendes Zitat belegt dies: »Außerordentlich breit werden […] zwei Debatten der karolingischen Streit [sic!] dargestellt, der Abendmahlsstreit (eigentlich kein Streit, sondern eine Folge von Wortmeldungen, bei denen […] man sich zwar gegenseitig kritisierte, aber niemand daran dachte, andere in den Bann zu tun) und der Streit um Gottschalk und die Prädestinationslehre.« – Simon Gerber: Wie reformiert ist Schleiermachers Kirchengeschichte?, in: Anne Käfer u. a. (Hg.): Der reformierte Schleiermacher. Prägungen und Potentiale seiner Theologie, Berlin 2020, (183–193) 188. 4 Die Visualisierung wurde mit Google Ngram Viewer generiert. Das Werkzeug stellt die Häufigkeit des Vorkommens von Begriffen im Google–Buchbestand dar. Für unseren Zweck wurde der deutschsprachige Textcorpus herangezogen. Vgl. Google: What does the Ngram Viewer do?, verfügbar unter: https://books.google.com/ngrams/info# [30. 09. 2020].

Bis die semantischen Fetzen fliegen!

199

Zwar wird in der Literatur konstant von »Streit« gesprochen, die Begriffe »Konflikt«, »Debatte« und »Diskurs« gewinnen jedoch in den letzten Jahrzehnten gegenüber solcher Rede an Bedeutung. Gemessen an der Häufigkeit der Verwendung, hat der Begriff »Auseinandersetzung« in den 1950ern, der Begriff »Konflikt« Mitte der 1970er und der Begriff »Debatte« seit den 2000ern den Streitbegriff überholt (s. Abb. 1).

1

Sondierungen im Feld

1.1

»Christsein« – gefragt, aber unklar und strittig!

»Kann man Katholik und Christ sein?«5 – »Wie passt Reichtum und Christsein zusammen?«6 – »Darf man als Christ/in Traumdeutung betreiben?«7 – »Gehören Liebe und Christsein zusammen?«8 – »Wie sollte ein richtiger Christ sein?«9 – »Kann man gleichzeitig Muslim und Christ sein?«10 Solche Fragen werden von Zeitgenoss*innen gestellt. Alle hier genannten Fragen wurden der Plattform gutefrage.net entnommen. Es handelt sich bei gutefrage.net um die größte Online-Ratgebercommunity im deutschsprachigen Raum. Es gibt dort eine Vielzahl an Fragen zum Christsein – und noch weitaus mehr Antwortversuche. Genau 119-mal haben sich Menschen die Mühe gemacht, die sechs genannten Fragen zum Christsein zu beantworten. Das Christsein scheint insofern auch heute durchaus ein Thema zu sein – allen Klagen über Säkularisierung,11 religiöse Indifferenz12 und die Erosion christlicher Glaubens5 deusvult95 (Pseud.): Kann man Katholik und Christ sein, 2019, verfügbar unter: https:// www.gutefrage.net/frage/kann-man-katholik-und-christ-sein [30. 09. 2020]. 6 Hallo7384628 (Pseud.): Wie passt Reichtum und christsein zusammen?, 2011, verfügbar unter: https://www.gutefrage.net/frage/wie-passt-reichtum-und-christsein-zusammen [30. 09. 2020]. 7 berenice (Pseud.): Traumdeutung+christsein, 2011, verfügbar unter: https://www.gutefrage. net/frage/traumdeutungchristsein [30. 09. 2020]. 8 Wahosi321 (Pseud.): Gehören Liebe und Christsein zusammen?, 2019, verfügbar unter: https:// www.gutefrage.net/frage/gehoeren-liebe-und-christsein-zusammen [30. 09. 2020]. 9 Alexandr10 (Pseud.): Wie sollte ein richtiger Christ sein?, 2018, verfügbar unter: https:// www.gutefrage.net/frage/wie-sollte-ein-richtiger-christ-sein [30. 09. 2020]. 10 caner1 (Pseud.): Kann mann gleichzeitig Muslim und Christ sein?, 2020, verfügbar unter: https://www.gutefrage.net/frage/kann-mann-gleichzeitig-muslim-und-christ-sein [30. 09. 2020]. 11 Zur Deutung der Säkularisierung als Gefühl von Heimatverlust vgl. Dagmar Hänel: Heimat – Anmerkungen aus der kulturwissenschaftlichen Praxis, in: Dana Bönisch u. a. (Hg.): Heimat Revisited. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen umstrittenen Begriff, Berlin 2020, (69–83) 71. 12 Der Begriff religiöse Indifferenz gilt als das Schreckgespenst kirchlicher Zeitdiagnostik. Er hat Eingang in den Titel der KMU 5 gefunden. Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.): Engagement und

200

Bernhard Lauxmann

kultur13 zum Trotz. Auch insgesamt war vom Christsein zuletzt häufiger explizit die Rede gewesen als noch in der Vergangenheit. Die relative Häufigkeit der Verwendung des Begriffs »Christsein«, d. h. das prozentuale Auftreten des Begriffs in der Literatur der jeweiligen Zeit, hat sich zwischen 1900 und 2000 verzehnfacht (s. Abb. 2).14

Abb. 2 – Häufigkeit der Verwendung des Begriffs »Christsein« im Textpool von Google Books15

Zu einigen Problembereichen des Christseins existieren auf gutefrage.net gleich mehrere Fragestellungen. Dies ist etwa der Fall, wenn es um das Verhältnis des Christseins zum personalen Gottesglauben geht: 1. DasDuelon will etwa am 24. 10. 2016 wissen, ob man gläubiger Christ sein könne, ohne an Gott zu glauben. Liest man die Ausführungen zur Frage, so wird Folgendes deutlich: Hier schreibt (vorgeblich) ein Mensch, der zu einer folgenschweren Selbsterkenntnis gelangt ist. Er glaubt nicht an Gott. Er kann den biblischen Aussagen nicht trauen. Das erlebt dieser Mensch als inneren Konflikt. Die Skepsis gegenüber Gott und der Bibel ist nämlich nur die eine Seite. Die andere ist, dass dieser Mensch gern die Kirche besucht, regelmäßig in der Bibel liest, an das Gute in Jesus Christus glaubt und die christliche Weltanschauung insgesamt schätzt. Was also tun? DasDuelon wendet sich an die Community von gutefrage.net und erhält 31 Antworten. Das Spektrum der

Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hannover 2014. Der Begriff hat viel Widerspruch provoziert. Vgl. Georg Raatz: Konfessionslosigkeit – religiöse Indifferenz? Kritische Erwägungen zu einer Reflexionskategorie der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, in: PTh 103 (2015), 518–541; Wilhelm Gräb: Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie, Tübingen 2018, 226, 233; anders: Gert Pickel: Religiöse Indifferenz – Freundliche Beschreibung für eine drastische Entwicklung?, in: Detlef Pollack/Gerhard Wegner (Hg.): Die soziale Reichweite von Religion und Kirche. Beiträge zu einer Debatte in Theologie und Soziologie, Würzburg 2017, 165–182. 13 Vgl. Hans-Georg Ziebertz (Hg.): Erosion des christlichen Glaubens?, Münster 2004. 14 Vgl. hierzu die Überlegungen in Anm. 4. 15 Darstellung von Google Ngram Viewer (https://books.google.com/ngrams). Vgl. hierzu Anm. 4.

Bis die semantischen Fetzen fliegen!

201

Antworten reicht von »Ja, natürlich!« über »Durch die Tat wirst du automatisch Christ, ob du willst oder nicht!« bis hin zu »Das ist Selbstbetrug!«16 2. Jon22 fragt am 04. 09. 2011, was er denn nun eigentlich sei, wo er doch Christ sei, aber nicht an Gott glaube. Die Ausführung der Fragestellung weist auf eine gewachsene Unsicherheit in Bezug auf eine adäquate Selbstbezeichnung hin. Hier schreibt ein Mensch, der nach einem angemessenen sprachlichen Ausdruck für die eigene christlich-religiöse Identität sucht. Es handelt sich (vorgeblich) um eine 17-jährige Person. Sie ist getauftes und konfirmiertes Kirchenmitglied, das aber seit einem Jahr nicht mehr an Gott glaubt. Die Person hegt Zweifel daran, ob sie sich »Atheist« nennen dürfe. Die Frage rief 35 Antwortversuche hervor. Sie reichen von »Natürlich darfst du das!« über »Rechtlich gesehen bist du ›Christ‹!« bis zu »Du widersprichst dem Bild eines ›Katholiken‹ überhaupt nicht!«17 3. Neb036 fragt am 18. 10. 2017, ob der Glaube an Gott Voraussetzung für das Christsein sei. Im Hintergrund steht ein Arbeitsauftrag im Religionsunterricht. Hier schreibt ein Mensch, der ein Meinungsbild einholen will, ehe er sich selbst positioniert. 24 Antworten wurden verfasst. Sie reichen von »Natürlich!« über »Streng genommen ja!« bis zu »Nein – der Glaube an (einen) Gott ist weder theoretisch noch praktisch die Vorrausetzung!«18 4. Axbxcxx stellt am 13. 05. 2016 die Frage, ob man auch ein ungläubiger Christ sein könne. Der Formulierung der Fragestellung nach zu urteilen, schreibt hier (vorgeblich) ein junger Mensch. Er hat Taufe und Erstkommunion hinter sich, kann aber mit Sätzen wie »Gott wird dir helfen« nichts anfangen. Es ist der ausgeprägte Gottesglaube der eigenen Eltern, der diesen Menschen um eine adäquate Selbstbezeichnung ringen lässt. Der Schlusssatz der Fragestellung legt nahe, dass die Person – neben der Antwort auf die titelgebende Entscheidungsfrage – konkrete Lösungsvorschläge für die eigene christlichreligiöse Selbstdeutung erbittet. 11 Antworten erhielt axbxcxx als Reaktion.19 Das Spektrum reicht von »Nein, das geht eigentlich nicht!« über »Es gibt meines Erachtens 2 Arten von Christsein.« bis zu »Ja, das kann man!«

16 Vgl. DasDuelon (Pseud.): »Kann man gläubiger Christ sein ohne an Gott zu glauben?«, 2016, verfügbar unter: https://www.gutefrage.net/frage/kann-man-glaeubiger-christ-sein-ohne-an -gott-zu-glauben [30. 09. 2020]. 17 Vgl. jon22 (Pseud.): Ich bin Christ glaube aber nicht an Gott – was bin ich nun?, 2011, verfügbar unter: https://www.gutefrage.net/frage/ich-bin-christ-glaube-aber-nicht-an-gott± was-bin-ich-nun [30. 09. 2020]. 18 Vgl. neb036 (Pseud.): Ist der Glaube an Gott Voraussetzung für das Christ sein?, 2017, verfügbar unter: https://www.gutefrage.net/frage/ist-der-glaube-an-gott-voraussetzung-fuerdas-christ-sein [30. 09. 2020]. 19 Vgl. axbxcxx (Pseud.): Kann man ein Ungläubiger Christ sein?, 2016, verfügbar unter: https:// www.gutefrage.net/frage/kann-man-ein-unglaeubiger-christ-sein [30. 09. 2020].

202

Bernhard Lauxmann

Der Befund zeigt deutlich: So selbstverständlich innerkirchlich festgehalten wird, dass »am Verständnis Gottes als Person die Identität des christlichen Glaubens hängt«,20 so umstritten ist ein solches Verständnis außerhalb innerkirchlicher Debatten. Das Thema wird kontrovers diskutiert. Aus empirischer Sicht mag es zwar stimmen, dass ein Christ bzw. eine Christin, der/die »am Gottesdienst regelmäßig teilnimmt, sich auch außerhalb des Gottesdienstes in der Kirche engagiert und Bindungen zur Kirche pflegt, […] sich Gott mit hoher Wahrscheinlichkeit als ein personales Gegenüber vorstellt«,21 doch die Verbindung von Christsein und personalem Gottesbild ist aus empirischer Sicht keinesfalls zwingend. Studien belegen vielmehr, dass evangelische Christ*innen seltener an einen »persönlichen Gott« glauben als an ein »höheres Wesen«.22 Aus glaubenskulturell-historischer Sicht lässt sich feststellen, dass in der christlichen Tradition neben personalen Gottesbildern stets auch nicht-personale anzutreffen waren.23 Angesichts der skizzierten Fragen und Antwortmöglichkeiten verwundert die jüngst von Reiner Anselm getätigte Aussage zum Christsein kaum. Der Münchner Theologe und Ethiker ließ mit folgender Einschätzung aufhorchen: Die größte Herausforderung für die christliche Glaubenskultur der Gegenwart bestehe darin, dass Christ*innen weithin nicht mehr wüssten, was ein christliches Leben ausmache. Selbst den Akteur*innen innerhalb von Theologie und Kirche sei unklar geworden, was man als Christ*in zu tun habe und wie man dem je eigenen Christsein einen adäquaten Ausdruck und passende Konturen verleihen könne. Konkret beklagt Anselm das Fehlen christlicher Verhaltenskonventionen, nach denen man sich richten könne: »Was uns fehlt, ist ein christliches Ethos, das uns sagt, wie man als Christ lebt.«24

20 Michael Beintker: Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes, verfügbar unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/101109_pm_281_UEK_Einf_Beintker. pdf [30. 09. 2020]; vgl. ders./Heimbucher Martin (Hg.): Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes. Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD, Neukirchen-Vluyn 2011. 21 EKD: Engagement und Indifferenz (s. Anm. 12), 46. 22 An einen persönlichen Gott glaubt nur knapp ein Drittel der Befragten mit evangelischer Konfession, wohingegen fast die Hälfte der Befragten an ein höheres Wesen glaubt; der Rest ist sich nicht sicher oder glaubt nicht. Dies legen die von Detlef Pollack und Gert Pickel erhobenen Daten nahe. Vgl. hierzu Anja Gladkich/Gert Pickel: Politischer Atheismus – Der »neue« Atheismus als politisches Projekt oder Abbild empirischer Realität?, in: ders./Oliver Hidalgo (Hg.): Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013, (137–163) 152–153. 23 Vgl. Hans-Georg Ziebertz: Religiöse Signaturen heute. Ein religionspädagogischer Beitrag zur empirischen Jugendforschung, Gütersloh 2003, 325. 24 Harmsen: Quo vadis (s. Anm. 1).

Bis die semantischen Fetzen fliegen!

203

Dass Anselm als evangelischer Ethiker den Fokus primär auf das christliche Ethos richtet, verwundert nicht. Ethos ist ein Zentralbegriff der ethischen Debattenkultur. Der Begriff verweist ganz allgemein auf die Üblichkeit bestimmter Verhaltensweisen.25 Will man den Fokus auf ethische Diskurse verlassen und den Blick weiten, so kann man den Problembefund auch folgendermaßen darstellen: Menschen, auch solche, die sich innerhalb der christlichen Glaubenskultur bewegen – sei es in kirchlichen, den privaten, den öffentlichen oder den rituellsozialen Sphären26 –, haben in der Spätmoderne ein religiöses Problem. Dieses besteht darin, dass ihnen vielfach nicht mehr klar ist, was ihr eigenes »Christsein« ausmacht. Sie haben Schwierigkeiten, ihr Christsein zu konkretisieren, lebensweltlich zu realisieren und über solche Realisierungen und Konkretisierungen vor anderen auskunftsfähig zu sein. Was »Christsein« für sie meint, bleibt also vielfach eine offene Frage. Dass die Frage aber als solche virulent bleibt, kann angesichts des Eingangsbefundes angenommen werden. Die Sichtung legt nahe, dass dort, wo (noch) ein echtes Bemühen um Klärung anzutreffen ist und daher externe Instanzen involviert werden, dennoch eine abschließende Klärung in vielen Fällen ausbleiben muss. Die Klärungs- bzw. Antwortversuche weisen schließlich allzu stark in unterschiedliche Richtungen und verfehlen in vielen Fällen die lebensweltliche Situation der Fragenden.

1.2

»Christsein« – gesucht, aber oft (zu) hardcore!

Nach den Sondierungen auf gutefrage.net soll nun mit YouTube ein Videoportal Aufmerksamkeit erhalten. Dass YouTube das bedeutendste Videoportal der Gegenwart ist und hohe Umsatzzahlen erzielt, ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist, dass YouTube nach Google die bedeutendste Suchmaschine ist. Sucht

25 Vgl. Hans-Richard Reuter: Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Wolfgang Huber u. a. (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (9–123) 15 (ferner zur Definition Anm. 148). 26 Vgl. zur Unterscheidung Ulrike Wagner-Rau: Praktische Theologie als Theorie der christlichen Religionspraxis, in: Kristian Fechtner u. a.: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch (ThW 15), Stuttgart 2017, 19–28; Wagner-Rau erweitert damit die Dreigliederung von Dietrich Rössler (ders.: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin [1986] 21994, 89–106) um den Bereich »Lebensformen«. Vgl. auch Albrecht Grözinger: Die dreifache Gestalt des Christentums. Dietrich Rössler, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker (APrTh 12), Leipzig 1999, 471–500; ferner das weithin an Rösslers Unterscheidung orientierte Modell bei Christian Albrecht/ Reiner Anselm: Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums (Theologische Studien Neue Folge 4), Zürich 2017.

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man auf YouTube nach dem Schlagwort »Christsein«, werden häufige Suchanfragen gelistet. Aktuell27 sind dies Folgende: – christsein heute – christsein kosten nutzen – christsein eine kosten nutzen betrachtung – christsein im alltag – christ sein für einsteiger – christ sein und scheidung – christ sein ist schön – christ sein bedeutung – christ sein und yoga Bereits diese knappe Liste zeigt an, was Zeitgenoss*innen über das Christsein in Erfahrung bringen wollen. Relevant erscheinen Videos, die – konsequent auf den gegenwärtigen Alltag bezogen sind, – auch in christlich-religiösen Belangen die Frage nach dem Zweck oder Nutzen nicht ausklammern oder diskreditieren, sondern sich ihr vielmehr als Gretchen- bzw. Kardinalfrage unumwunden stellen,28 – in der Lage sind, die Schönheit bzw. Attraktivität des Christseins auszuweisen, – das Verhältnis zu nicht genuin christlichen Praktiken erörtern, – und grundsätzliche bzw. einsteigertaugliche Überlegungen zum Christsein beitragen. Wer so – oder so ähnlich – nach christlichem Content sucht, stößt rasch auf eine Vielzahl an Videos zum gefragten Themenkreis: »Challenge Christsein«,29 »Was heißt es Christ zu sein?«,30 »Wie kann ich mutig zum Christsein stehen«,31 »Wie weit kann ich gehen als Christ?«,32 »Dürfen Christen rauchen?«,33 »Bikinis und

27 Zuletzt abgefragt am 30. 09. 2020. 28 Vgl. hierzu Bernhard Kirchmeier: Glaubensempfehlungen. Eine anthropologische Sichtung zeitgenössischer Predigtkultur (APrTh 67), Leipzig 2017, 25–40, 51–53, 80–83. 29 Es handelt sich hierbei eigentlich um eine mehrteilige Videoreihe. Vgl. dazu exemplarisch JESUSHOUSE: Challenge Christsein – alles erlaubt oder alles verboten?, 2020, verfügbar unter: https://youtu.be/6pjiNNxaee0 [30. 09. 2020]. 30 Paul Enseling: Was heißt es CHRIST zu sein? / #Glaubensfragen010, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/M1rnqkjqQ8k [30. 09. 2020]. 31 GVC Global Video Church – Youth GER: Wie kann ich mutig zum Christ sein stehen?, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/1yG_hnx-hPw [30. 09. 2020]. 32 GVC Global Video Church – Youth GER: Wie weit kann ich gehen als Christ? | Schön sein, 2017, verfügbar unter: https://youtu.be/ukl8qt77t9k [30. 09. 2020]. 33 Evangelium Konkret: Dürfen Christen rauchen?, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/5S u0-nzaDek [30. 09. 2020].

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Bikini-Fotos als Christ [sic!]«,34 »Was bedeutet Christ sein?«,35 »Darf ein Christ reich sein?«,36 »Wie politisch sollen Christen sein?«,37 »Schluss mit langweiligem Christ sein!«,38 »Christsein im Alltag«,39 »Warum Marienverehrung zum Christ sein gehört«40 oder »Christ sein im 21. Jahrhundert«.41 Viele YouTube-Kanäle bieten Videos mit derartigen Titeln. Die Zusammenstellung lässt erkennen, dass Video Creators unmittelbar auf die FAQs ihrer User*innen abzielen, wohl auch um Klickzahlen zu genieren (Clickbaiting). Die Titel versprechen, konkrete Probleme der christlichen Lebensführung zu bearbeiten bzw. die Attraktivität des Christseins auszuweisen. Jene, die nach relevanten Themen für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Christsein suchen, finden jedenfalls eine reiche Palette an christlich-religiösem Videocontent zum Thema vor, die auch in konfessioneller Hinsicht bunt ist: katholisch, orthodox, freikirchlich, charismatisch, pfingstlerisch, volkskirchlich, evangelisch-lutherisch, evangelisch-reformiert. Es gibt kaum eine Bekenntniskultur, die nicht auf YouTube mit einschlägigem Inhalt vertreten wäre. Obwohl sich im Feld christlich-religiöser Rede auf YouTube viele kirchliche Akteur*innen bewegen und während der Corona-Krise neben den bekannteren Christ- bzw. Sinnfluencer*innen in hohem Maße landeskirchliche Pfarrer*innen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückten,42 erschöpft sich christlich-religiöse Rede auf YouTube nicht in den Beiträgen jener, die nachweislich kirchlich gebunden oder gar für eine Tätigkeit im Bereich #DigitaleKirche bestellt sind.43 Das Image der Plattform und seine innere Logik garantiert vielmehr, dass grund34 Wesely’s – by Kirche U30: Bikinis und Bikini-Fotos als Christ | Wie weit darfst du gehen?, 2020, verfügbar unter: https://youtu.be/fg-zeO20d54 [30. 09. 2020]. 35 katholisch.de: Was bedeutet Christ sein? Glaube.Leben., 2018, verfügbar unter: https://you tu.be/myhGqhEovak [30. 09. 2020]. 36 crosstalk – deutsch: Darf ein Christ reich sein? | Christ und Geld | crosstalk ᴴᴰ, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/Ib_rtgVNycQ [30. 09. 2020]. 37 Gebetshaus: Wie politisch sollen Christen sein? – 90 Sekunden Hardfacts mit Johannes Hartl, 2018, verfügbar unter: https://youtu.be/Bp2tev_5mQY [30. 09. 2020]. 38 crosstalk – deutsch: Schluss mit langweiligem Christ sein! | Live-Fragen | crosstalk ᴴᴰ, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/1kpCmj3EzmA [30. 09. 2020]. 39 DieZeltas: Christsein im Alltag, 2012, verfügbar unter: https://youtu.be/M6HqUa720OU [30. 09. 2020]. 40 Kirche in Not Deutschland: Warum Marienverehrung zum Christsein gehört, 2017, verfügbar unter: https://youtu.be/yCm2mM3y-iI [30. 09. 2020]. 41 Anatoli Lichii: Christ sein im 21. Jahrhundert – Priestermönch Paisios, 2016, verfügbar unter: https://youtu.be/yH3G7xzmQm4 [30. 09. 2020]. 42 Vgl. Daniel Hörsch: Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise. Eine Adhoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin 2020; ferner auch Heidi A. Campbell: The Distanced Church. Reflections on Doing Church Online, College Station 2020. 43 Vgl. zum Thema #DigitaleKirche exemplarisch das Sonderheft der Schriftenreihe des evangelischen Bundes in Österreich: StPu 236 (2019).

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sätzlich jeder/jede das Wort ergreifen und Gehör finden kann, sofern der Content überzeugt. Personen, die erkennbar im kirchlichen Auftrag auf YouTube agieren, bleiben einer Vielzahl an Usern suspekter als andere Akteur*innen, die augenscheinlich in eigener Sache das Wort ergreifen.44 Wenngleich nicht wenige Creators im Feld einen kirchlichen Hintergrund haben,45 sind die Gate Keeper der Plattform keiner Glaubenskultur zuzuordnen. Das erlaubt Freiräume und Nischen, die auch von Einzelpersonen gefüllt werden, aber auch spannende wie spannungsvolle Nachbarschaften von christlich-religiösem Content unterschiedlicher glaubenskultureller Herkunft, die für die User*innen – man denke an die automatische Wiedergabe-Funktion! – oft nicht mal mehr einen Click voneinander entfernt liegen. Wer sich über das Christsein auf YouTube informiert, um seinem Christsein genauer auf die Spur zu kommen, wird mit wenigen Clicks rasch in verschiedenste Glaubenskulturen eintauchen – und nicht bloß vertraute Gewässer vorfinden. In vielen Fällen lässt sich angesichts des konkreten Videomaterials eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Glaubens- bzw. Bekenntniskultur selbst mit den Augen von Expert*innen nicht zweifelsfrei vornehmen. Dass im Videomaterial zum Christsein moralische Fragestellungen insgesamt eine große Rolle spielen, mag daran liegen, dass die Herkunft des Videocontents in glaubenskultureller Hinsicht zwar weit gestreut ist, am Ende jedoch ein Überhang an evangelikalen und fundamentalistischen Angeboten besteht. Dazu gehört z. B. die Frage, ob man sich als Christ*in »schön machen« darf, sei es durch einen anzüglichen Kleidungsstil – LiMarie spricht konkret von Hotpants und aufreizenden Klamotten – oder durchs Schminken, was eine Reihe von kontroversen Comments provoziert. Das Spektrum reicht von »Ich finde, es ist eine Sünde sich zu schminken!« und »Das ist Blasphemie!« über »Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist eine kurze Hose anzuziehen.« bis »Ich zeige das, was ich habe und bin trotzdem mit Gott!«46 Es bleibt festzuhalten, dass Christsein auf YouTube ein Thema ist, das auf verschiedensten Kanälen verhandelt und zugleich von Menschen aktiv gesucht wird. Solche Menschen dringen in Glaubenskulturen vor, die ihnen zuvor womöglich fremd waren. Mit großer Wahrscheinlichkeit stoßen sie auf Videocontent zum Christsein, der evangelikal-charismatisch geprägt ist und/oder von kirchlichen Akteur*innen produziert wurde, wenngleich der Pool groß genug ist, 44 Dies hängt damit zusammen, dass sich Menschen im Modus religiöser Rede zunehmend konfessionellen Konsistenzzumutungen entziehen und Authentizität an Bedeutung gewinnt. Vgl. Armin Nassehi: Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.): Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, (113– 132) 120. 45 Vgl. hierzu Kap. 3.1. 46 Vgl. die Diskussion zu GVC: Wie weit kann ich gehen (s. Anm. 32).

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um auch in glaubenskulturelle Nischen vorzudringen. An divergierenden Vorstellungen mangelt es nicht.

1.3

»Christsein« – gekauft, aber kaum gelesen!

Nachdem gutefrage.net und YouTube als kulturelle Informationsspeicher zur Frage nach dem Christsein erörtert wurden, soll nun der Blick auf den Buchmarkt gelenkt werden. Hier versammeln sich nicht nur theologische Publikationen, sondern auch populäre Titel zu christlich-religiösen Themen. In den vergangenen Jahren haben einerseits in der Wissenschaft beheimatete Theolog*innen literarische Neuerscheinungen vorgelegt, die sich explizit dem Christsein widmen. Dazu zählen der kath. Religionspädagoge Norbert Scholl mit seinem um Konkretion und Verständlichkeit bemühten Plädoyer für ein zukunftsfähiges Christsein,47 die fundierte Studie des kath. Dogmatikers Otmar Meuffels über das zivilbürgerschaftliche Engagement von Christ*innen und die Bedeutung ihres trinitarischen Glaubens,48 oder die Theologischen Berichte zum Thema »Christsein in der Welt«,49 die ausgehend vom Zweiten Vaticanum die Bedeutung gegenwärtigen Christseins verhandeln, und andere mehr. Darüber hinaus wurden andererseits in deutscher Sprache auch Titel zum Thema publiziert, die nicht aus der Feder theologischer Expert*innen stammen, aber als denkerischer und damit in weitem Sinne theologischer Ausdruck gelebten Christseins durchaus zu würdigen sind. Dazu zählen etwa der evangelische Physiker Albrecht Kellner, der in »Christsein ist keine Religion« als Naturwissenschaftler für den Glauben an den Gott der Bibel das Wort ergreift,50 oder der freikirchliche Prediger Stefan Dambröck mit seiner jüngsten Predigtsammlung, die sich ausdrücklich als Glaubenshilfe ausgibt und sich thematisch dem Anfang und dem spirituellen Wachstum des Christseins verschreibt.51 Zwischen den beiden, nicht trennscharf zu unterscheidenden Gruppen kommen Autor*innen wie die Beiträger des Sammelbands »Christsein und die

47 Norbert Scholl: Anders in die Zukunft gehen. Warum Christsein sinnvoll ist, Paderborn 2018. 48 Otmar Meuffels: Christsein im demokratischen Handeln. Trinitarische Einsichten – gesellschaftliche Interessen, Tübingen 2018. 49 Michael Durst/Margit Wasmaier-Sailer (Hg.): Christsein in der Welt (ThBer 40), Freiburg i.Br. 2020. 50 Albrecht Kellner: Christsein ist keine Religion. Ein Physiker entdeckt die Antwort, Witten 2018. 51 Stefan Damböck: Der Weg des Glaubens. Der Weg zu einem erfüllten und lebendigen Christsein, Saarbrücken 2018.

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Corona-Krise«, das von Papst Franziskus mit einem Geleitwort bedacht wurde,52 oder auch der Hochschulpfarrer Burkhard Hose mit seiner Streitschrift für ein neue Vision von Christsein zu stehen.53 Aus der Masse herausheben möchte ich zwei Titel, die der ersten Gruppe zuzurechnen sind und aus der Feder Praktischer Theologen stammen: 1. Mit »Christsein als Lebensform« hat Christian Grethlein ein 253 kleinformatige Softcover-Seiten umfassendes Büchlein geschrieben, in dem er ausgehend von der Kommunikation des Evangeliums das Christsein als ein attraktive Lebensform ausweist.54 Grethlein bemüht sich darin, den Leitbegriff der Kommunikation des Evangeliums,55 wie er seiner Praktischen Theologie zugrunde liegt,56 »auf die Menschen hin [zu] konkretisieren, die das Evangelium kommunizieren, also die Christen.«57 Die Frage nach dem Christsein als eine attraktive Lebensform bedeutet für ihn, »das zu eruieren, was Christen in der Unterschiedlichkeit ihrer Lebenssituationen und -stile gemeinsam ist und damit auch verbindet bzw. verbinden kann.«58 Auffällig ist, dass Grethlein den mimetischen Handlungen des Taufens und Mahlfeierns besondere Bedeutung zubilligt. Für ihn würde gerade von ihnen her die christliche Lebensform auch heute Gestalt gewinnen.59 Es ist bemerkenswert, dass Grethlein 52 Walter Kardinal Kasper/George Augustin (Hg.): Christsein und die Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterblichen Welt. Mit einem Geleitwort von Papst Franziskus, Ostfildern 2020. 53 Burkhard Hose: Warum wir aufhören sollten, die Kirche zu retten. Für eine neue Vision von Christsein, Schwarzach a.M. 2019. 54 Vgl. Christian Grethlein: Christsein als Lebensform. Eine Studie zur Grundlegung der Praktischen Theologie (ThLZ.F 35), Leipzig 2018. Darin zeigt sich Grethlein überzeugt, dass die »Theologie die Aufgabe hat, […] die christliche Lebensform zu bestimmen und deren Attraktivität zu erweisen« (252). Damit rückt die Aufgabenbestimmung der Theologie aber doch allzu deutlich in die Nähe dessen, was er zuvor als Zielperspektive der Predigt beschreibt, nämlich »die christliche Lebensform darzustellen und für sie zu werben« (241). 55 Vgl. Michael Domsgen/Bernd Schröder (Hg.): Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der praktischen Theologie (APrTh 57), Leipzig 2014. 56 Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin 22016. 57 Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 18. 58 Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 20. 59 Vgl. Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 23–48. Grethlein hält fest: »Der von Jesu Auftreten, Wirken und Geschick ausgehende Grundimpuls fand seinen deutlichsten und unmittelbarsten Niederschlag in zwei mimetischen Handlungen, die bis heute signifikant für die christliche Lebensform sind: das Taufen und das gemeinschaftliche Mahlfeiern.« (42). An anderer Stelle betont Grethlein nicht zwei mimetische Handlungen, sondern nennt drei – neben dem Taufen und dem Mahlfeiern auch das Predigen: »Überall, wo Christen leb(t)en, tauf(t)en sie, feier(t)en das Mahl und predig(t)en […]. Die Universalität der drei genannten Vollzüge verdankt sich dem Auftreten, Wirken und Geschick Jesu« (204). Man könnte anstelle verschiedener Handlungsformen auch von einer Funktion sprechen. Vgl. den Vorschlag bei Bernhard Kirchmeier: Drei Kommunikationsmodi – eine Funktion? Erwägungen zum Zweck der Kommunikation des Evangeliums, in: Domsgen/Schröder: Kommunikation des Evangeliums (s. Anm. 55), 33–48.

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bereits Jahre zuvor einen Artikel vorgelegt hat, dessen Pointe darin bestand, Christsein als Hauptziel religiöser Bildungsbemühungen zu verstehen.60 Er setzt also mit dem Buch eine ältere, kontrovers diskutierte Spur fort. 2. Michael Herbst geht es im 287 Seiten starken Buch »Lebendig!« laut eigener Auskunft darum, »wie lebendiges, mündiges Christsein im Alltag aussieht – in den Entscheidungen, die wir treffen, im Beruf, in Beziehungen, im Umgang mit Geld, im Umgang mit Scheitern.«61 Sein Zugang ist normativer angelegt als jener Grethleins und zeigt durchgängig Charakteristika religiöser, nicht theologischer Rede. Zunächst steht für Herbst fest, dass »Christ ist, wer zu Christus gehört, wer ihn kennt und ihm vertraut.«62 Christsein ist für ihn eine begriffliche Annäherung an das, was »Discipleship« bedeutet. Es geht um lebendige und mündige Jesusnachfolge, die sich in Glaubenswahrheiten63 und einer Gottesbeziehung ausdrückt. Klar ist für ihn, dass eine distanzierte, punktuelle Kirchenmitgliedschaft kein Zeichen für ein lebendiges Christsein sein kann.64 Eine intensive, ausgeprägte Gemeindebindung ist hingegen Kennzeichen des Christseins.65 »Mündigkeit« meint bei Herbst, das eigene Urteilen, Entscheiden und Wollen der Leitung Jesu Christi anheimzustellen: »Es geht darum, so zu leben, als ob Jesus ungehinderten Einfluss auf uns hätte. Ja, als ob er an unserer Stelle lebte.«66 Bemerkenswert ist, dass Herbst wiederholt von seinem eigenen Christsein berichtet, um Pointen zu illustrieren: Er schildert, wie Gott seine Frau Christiane als Sprachrohr nutzte, als seine Arbeitslast überbordend wurde.67 Er beschreibt, welche Bibeln in seinem Arbeitszimmer stehen.68 Er berichtet von einer früheren Lebensphase, in der er andere Menschen für seinen Glauben gewinnen wollte, sie aber eher verprellte als überzeugte.69 Die Zugänge von Grethlein und Herbst sowie die konkrete Füllung dessen, was Christsein für sie meint, könnten unterschiedlicher kaum sein: Geht es bei Herbst 60 Vgl. Christian Grethlein: Befähigung zum Christsein – ein lernortübergreifendes religionspädagogisches Ziel, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 5/2 (2006), 2–18. 61 IEEG – Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung: Buch: Lebendig!, 2018, verfügbar unter: https://youtu.be/JadpWZlURGE [30. 09. 2020]. 62 Michael Herbst: Lebendig! Vom Geheimnis mündigen Christseins, Holzgerlingen 2018, 14. 63 Mit einem absoluten Wahrheitsbegriff hat Herbst kein Problem: »Geholfen wird den Menschen erst, wenn sie die Wahrheit erkennen und zu Jesus finden, der Wahrheit in Person.« – Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 121. 64 Vgl. Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 121. 65 »Ein Leben als mündiger und lebendiger Christ ohne Gemeinde ist unmöglich und völlig sinnlos.« – Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 122. 66 Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 61. 67 Vgl. Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 107–108. 68 Vgl. Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 100. 69 Vgl. Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 86.

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um ein klar konturiertes, normativ ausgerichtetes Modell eines lebendigen, mündigen Christseins,70 so betont Grethlein die Pluriformität des Christseins.71 Grethlein macht den Biografie- und Kontextbezug stark,72 sieht jedoch ein einendes Moment verschiedener Modelle des Christseins in spezifischen Kommunikationsformen wie dem Segnen, Beten und Erzählen einerseits73 und dem Taufen, Mahlfeiern und Predigen andererseits.74 An Novitäten zum Thema am Buchmarkt mangelt es nicht. Ziehen Menschen, wie sie in Kap. 1.1 zum Vorschein kamen, solche Literatur heran, um ihrem Christsein auf die Spur zu kommen? Vielleicht. Mit aller Vorsicht darf jedoch angenommen werden, dass Fachbücher primär von wenigen Fachleuten gelesen und überwiegend von Bibliotheken gekauft werden; Titel der Ratgeber- und Selbsthilfeliteratur werden gerne gekauft, jedoch kaum gelesen. Menschen, die Predigtsammlungen zur Glaubenshilfe erwerben, erscheinen weithin einer aussterbenden Spezies anzugehören.75 Um zu verstehen, was es im Post-GutenbergZeitalter heißt, Christ oder Christin zu sein, muss daher der eingeübte Blick auf den christlich-religiösen Buchmarkt gegenüber Sondierungen im Feld von Blogs, Online-Plattformen und einschlägigen Betätigungsfeldern der Cultural Creatives zurücktreten.76 Das Problem mangelnder Attraktivität des Christseins und der verbreiteten Unklarheit über dessen adäquate Realisierungsform beginnt aber nicht damit, dass sich Menschen einschlägige Literatur nicht mehr aneignen: Das Problem fängt […] schon damit an, dass wir unsere Botschaft in Formen gießen, die noch aus dem Gutenberg-Zeitalter stammen, wovon auch die Art und die Inhalte unseres Denkens geprägt sind: Bücher, akademische Artikel, Predigten u.s.w. Man muss sich ja nur einmal ansehen, wie vieles von einem typischen Mainline-Gottesdienst daraus besteht, gedruckte Texte zu lesen.77 70 Am Ende seines Buches fasst er die Eckpfeiler seines Modells so zusammen: »Unser Christsein kann und soll lebendig bleiben und zunehmend mündig werden. Das schließt nicht nur Kenntnisse ein, hat aber durchaus mit vertieften Einsichten in die Bibel und das [sic!] Verständnis des Glaubens zu tun. Das […] hat aber auch mit einem zunehmenden Zutrauen zu Gott zu tun, mit Freude an seinem Wort und Willen und innerem Einverständnis mit seinen Wegführungen.« – Herbst: Lebendig (s. Anm. 62), 280. 71 »Christsein als Lebensform äußert sich […] in großer Pluriformität.« – Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 168. 72 Vgl. Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 246–250. 73 Vgl. Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 168–203. 74 Vgl. Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 204–242 (ferner Anm. 59). 75 Derartige Einschätzungen waren während meiner Arbeit im Programmbereich eines großen Verlagshauses häufiger zu hören und wurden gern auch mit (internen) Zahlen belegt. Eine ausführlichere Studie zu diesem Zusammenhang liegt, soweit ich sehe, bisher nicht vor. 76 Vgl. Philip Clayton: Theologie und Kirche im Google-Zeitalter. Thesen und Beobachtungen im Google-Zeitalter, in: Tobias Braune-Krickau u. a. (Hg.): Das Christentum hat ein Darstellungsproblem. Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 2016, (26–43) 31–36. 77 Clayton: Theologie und Kirche (s. Anm. 76), 33.

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Selbst wenn jemand aus jener Personengruppe, die oben mit konkreten Fragen zum Christsein in Erscheinung trat (s. Kap. 1.1), die besagten Buchtitel tatsächlich heranziehen würde, so wäre damit längst noch keine Lösung des unterstellten Problems erfolgt. Selbst wenn das zum Christsein in Büchern Publizierte von Menschen, die ihrem Christsein auf die Sprünge kommen wollen, vielfach gelesen würde, wäre damit ihre Frage nach dem Christsein nicht schon beantwortet. Das hängt mit den umfassenderen Problemhorizonten zusammen, die im Hintergrund stehen.

2

»Christsein?« – Hintergründe des Problems und Linien zur Erklärung des Befundes

Es ist deutlich geworden, dass sowohl im Print- als auch im Digitalbereich eine immense Fülle an Material zu finden ist, die sich der Frage, was Christsein meint, widmet. Ob derartige Publikationen als Reaktion auf das Problem fraglich gewordenen Christseins oder – was angesichts der divergierenden Positionen eher naheliegt – als Ausdruck desselben zu verstehen sind, kann nicht abschließend beantwortet werden. Es lohnte jedoch, sich die Vielfalt und Heterogenität dessen, was zum Christsein in diversen Informationsspeichern unserer Kultur zu finden ist, vor Augen zu führen, ehe jetzt im Rückgriff auf Theorien und Modelle die allgemeineren Hintergründe für das Problem benannt werden (Kap. 2.1–2.3). So fällt es leichter, theoretischen Befunden einen angemessenen Stellenwert zuzumessen: Die Theorie kann vieles verstehbar machen – aber nicht alles, was empirisch »da« ist, aufklären und einordnen. Es gibt zahlreiche Erkenntnisse zur allgemeinen Großwetterlage, die den Befund Reiner Anselms (s. o.) stützen. Darunter fallen nachfolgende Themen- und Problembereiche: – das Fehlen objektiv-verbindlicher Wahrheiten, das wahrheitsbezogene Positionierungen verdächtig erscheinen lässt und eine grundlegende Krise des Konfessionellen mit sich bringt, sodass aus konfessioneller Sicht orthodoxe Spielarten des Christseins für Zeitgenoss*innen kaum mehr attraktiv erscheinen; – die Fragilität religiösen Wissens und die Probleme der Zugänglichkeit desselben; – die zeitlose Gleichzeitigkeit historischer Fragmente, die Praktiken des Konsums vorfindlicher Angebote, wie z. B. die Aneignung von traditionell-kirchlichen Standardmodellen des Christseins, deutlich erschwert und Praktiken des Designs bedeutsam werden lässt, wodurch stetig relativ neue Formen des Christseins hervorgebracht werden.

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All diese Problemhorizonte tragen auf je spezifische Weise dazu bei, dass das Christsein den Zeitgenoss*innen heute weithin unklar geworden ist und selbst am Ende einer erfolgreichen Auseinandersetzung derselben mit ihrem Christsein weiterhin strittig bleiben muss.

2.1

Das Fehlen objektiv-verbindlicher Wahrheiten

Was das Christsein ausmacht, kann heute nicht mehr objektiv für alle Christ*innen verbindlich ausgesagt werden – so dies denn überhaupt je möglich gewesen ist. Wer glaubt, irgendeine objektive Wahrheit zu »haben« oder zu »kennen«, erscheint heute geradezu verrückt. Die Einsicht, dass »das Haben und Glauben der objektiven Wahrheit ein ebenso subjektiver Zustand [ist], wie jeder ›Subjektivismus‹ es ist«,78 muss man den Zeitgenoss*innen nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Längst ist man es gewohnt, »jede An-sich-Aussage durch den Rückbezug auf den Sprecher zu relativieren.«79 Der Gedanke, es gäbe objektivverbindliche Wahrheiten über das Christsein, hat in der Spätmoderne keine Plausibilität mehr. Eine religiöse Instanz, die solche Wahrheitsaussagen machen zu können glaubt, erscheint verdächtig, unglaubwürdig oder aus der Zeit gefallen. Mit der kirchlichen Autoritätskultur ist es zweifellos vorbei.80 Schon in der Moderne haben die Zeitgenoss*innen begonnen, sich mit der Kontextualisierung,81 Pluralisierung82 und Individualisierung von Wahrheit83 zu 78 Otto Haendler: Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, Berlin 3 1960, 52. 79 Annemarie Pieper: Das grösste Ereignis. Nietzsches narrative Dekonstruktion der Metaphysik, in: Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hg.): Nietzsche – Macht – Größe. Nietzsche – Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe, Berlin 2012, (75–88) 81. 80 Wilhelm Gräb: Die Präsenz des Religiösen und die »Religions(un)fähigkeit der Volkskirche«. Volker Drehsens Praktische Theologie des neuzeitlichen Christentums, in: PTh 103 (2014), (294–306) 304. 81 Natürlich wurde über die Kontextualität und die damit einhergehende Pluralisierung von Wahrheit bereits in der Antike nachgedacht, wenngleich sich das Problem erst in der Moderne vollends auf die Lebensführung der Menschen niederschlug. Vgl. hierzu das Urteil bei Eva Seidlmayer: Über Denken und Handeln. Universalismus und Partikularismus in Stoa, antiker Skepsis und Gegenwart, Wiesbaden 2018, 183. 82 Wolfhart Pannenbergs Wahrheitsbegriff belegt die These, dass man sich auch innerhalb der protestantischen Theologien nur gegen Widerstände zur Einsicht durchringen kann, dass Wahrheit nur mehr im Plural existiert. Pannenberg lehnt die Pluralisierung der Wahrheit grundsätzlich ab, wenngleich sich auch in seinem Konzept der Gedanke einer Pluralisierung der Wahrheit nicht vermeiden lässt. Vgl. hierzu Thorsten A. Leppek: Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung (FSÖTh 159), Göttingen 2017, bes. 477. 83 Die Individualisierung von Wahrheit stellt die Theologien vor große Reflexionsanstrengungen. Vgl. Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens.

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arrangieren. Damit, dass uns Wahrheit heute primär in einer Vielzahl an Wahrheitsansprüchen mit nur relativem Wahrheitswert begegnet, haben wir umzugehen gelernt. Wenn wir Aussagen zum Christsein treffen, ist kein fundamentaler, absoluter Referenzpunkt mehr vorauszusetzen, sondern viel eher die konkrete Situation und der eigene, biografische Kontext.84 In der Spätmoderne lernen Christ*innen nun auch den Umgang mit der Eklektizierung, Kulturalisierung und Emotionalisierung von Wahrheiten. Dass Wahrheiten wie alle Kulturgüter der Spätmoderne aus der Kombination einzelner, affizierender Versatzstücke zusammengestellt und mit dem Anspruch relativer Neuheit hervorgebracht, dabei emotional aufgeladen und nicht selten nur mehr innerhalb bestimmter Kreise angeeignet (und außerhalb derselben teils schroff abgelehnt) werden,85 fordert auch die Glaubenskulturen heraus; umso mehr als damit zwar weiterhin eine harte Grenze zwischen Wahrheit und Unwahrheit gezogen wird, zwischen beidem aber nicht mehr zweifelsfrei unterschieden oder ein relativer Wahrheitswert festgestellt werden kann.86 An die postfaktische Signatur unserer Zeit hat man sich noch nicht gänzlich gewöhnt,87 obwohl die im Englischen Post Truths genannten Falsch- und Fehlinformationen seit längerer Zeit boomen.88 Die Gewöhnung daran, dass die Ruhebank fester Wahrheiten verlassen ist, scheint gegenüber der Empörung darüber, dass tra-

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Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916) (BHTh 113), Tübingen 2000, wo es heißt: »Die Kritik an allen vorgegebenen und weltlichen inhaltlichen Bestimmungen dieser Wahrheit [des Glaubens] führt zu einer Verschärfung der Individualisierung der Theologie« (12). Vgl. hierzu allgemein Seidlmayer: Über Denken und Handeln (s. Anm. 81), 9; spezieller Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54), 246–250, wo der Biografie- und Kontextbezug betont wird. Im Hintergrund steht hier die soziale Praxis der Singularisierung, die ein Praxisbündel aus vier Einzelpraktiken ist. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 52018, 64–71; ferner Bernhard Lauxmann: Wir müssen den Blick auf Spiritualität/Religiosität neu justieren! Das Singularisierungstheorem als Herausforderung der interdisziplinären Religionsforschung, in: Annette Haußmann u. a. (Hg.): Die Entdeckung der inneren Welt. Enzyklopädische Verständigungen über Frömmigkeit zwischen Theologie und Religionspsychologie, Tübingen 2021 (in Druck). Im Hintergrund steht der Befund, dass Singularitäten (gegenüber anderen Singularitäten) absolute Differenzen provozieren – d. h. harte, nicht graduelle. Singularitäten polarisieren, wobei die Logiken der Hyperkultur diese Tendenz gar verstärken. Das erschwert den Vergleich. Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (s. Anm. 85), 67; ders.: Der Vergleich des Unvergleichlichen. Singularisierungprozesse und Vergleichspraktiken, 2018, (als YouTube-Video) verfügbar unter: https://youtu.be/TrAfj1j0isY [30. 09. 2020]. Die Verbreitung offensichtlicher Lügen, die als solche nicht deklariert sind, treibt Menschen regelrecht in den Wahnsinn. Vgl. hierzu Susan Neiman: Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten, Salzburg 2017, 12. Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018, 39.

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ditionelle Wahrheiten öffentlich demoliert werden, vergleichsweise gering ausgeprägt.89 Die Rede von einer »Totalimplosion realer Bezüge« (Bernhard Pörksen) mag überzeichnet sein, bringt das Problem jedoch in seiner emotionalen Tragweite auf den Punkt. Man wird dennoch davon ausgehen können, dass der Grad der Empörung nicht endlos steigen, sondern allmählich sinken wird. Es werden Gewohnheits- und Lerneffekte eintreten und am Ende werden Kompetenzen des Umgangs mit der Kulturalisierung von Wahrheiten etabliert sein: »Der Mensch gewöhnt sich an alles, was öfter wiederholt wird. Entrüstung ist ja schließlich anstrengend.«90 Auch im Kontext von christlich-religiösen Wahrheitsansprüchen haben Praktiken der Singularisierung an Bedeutung gewonnen, was die Theologie wie die interdisziplinäre Religionsforschung gleichermaßen herausfordert.91 Weil gerade konfessionelle Bekenntniskulturen christlich-religiöse Wahrheitsansprüche mit sich führen und Deutungsmachtansprüche in Bezug auf die recht verstandene, christlich-religiöse Lebensführung stellen,92 sind sie von dieser Entwicklung stark betroffen. Bekenntnisbildung als Konstruktion von intellektuellen Wahrheiten oder als Bildung von Lebensorientierungen erscheint zunehmend problematisch.93 Die wahrheitsbezogene Positionierung religiöser Subjekte gilt vielen als überholt, obsolet oder als Ursache für Intoleranz und Konflikte.94 Dass man konfessionelle Semantiken in der Spätmoderne zunehmend mit doktrinärem Starrsinn oder einer reaktionären Haltung assoziiert, verwundert kaum.95 Der Befund des Fehlens objektiv-verbindlicher Wahrheiten und die um sich greifende Konzeptionalisierung einer postkonfessionellen Gesellschaft96 oder postkonfessioneller Identitäten97 gehen letztlich Hand in Hand.

89 90 91 92 93

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Vgl. hierzu Pörksen: Die große Gereiztheit (s. Anm. 88), 44. Neiman: Widerstand (s. Anm. 87), 14. Vgl. Lauxmann: Wir müssen (s. Anm. 85). Vgl. Philipp Stoellger (Hg.): Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten (HUTh 63), Tübingen 2014. Hans-Günter Heimbrock/Felix Kerntke: Evangelisches Profil im Widerspruch. Gelebte Konfessionalität von Religionslehrern in der EKHN. Eine empirische Untersuchung, in: Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Taking Position. Empirical Studies and Theoretical Reflections on Religious Education and Worldview, Münster 2017, (23–79) 72. Vgl. Heimbrock/Kerntke: Evangelisches Profil (s. Anm. 93), 25–27. Vgl. das Urteil bei Marco Hofheinz: Konfessionalität – Theologische Überlegungen zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht im Lichte der Leuenberger Konkordie, in: Theo-Web 16 (2017), (131–161) 131. Vgl. Edgar Wunder: Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft. Ein Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung in der Religionsgeographie, Stuttgart 2005. Vgl. Arne-Florian Bachmann: Postkonfessionelle Identitäten? Eine Begehung der PostEvangelikalen Landschaft, 2017, in: Cursor_. Zeitschrift für explorative Theologie, verfügbar unter: https://cursor.pubpub.org/pub/div-landkarten-2018 [30. 09. 2020].

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Das hat naturgemäß auch Rückwirkungen auf die theologische Arbeit.98 Wer heute ein Modell fürs wahre, rechte Christsein präsentiert oder in konfessioneller Hinsicht allgemeine Aussagen übers Christsein machen will, verfehlt an mehreren Punkten die Zeichen der Zeit.

2.2

Die Fragilität des Wissens

Infolge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme ist es auch innerhalb der christlichen Glaubenskulturen zu einem Rückgang des Anteils an Wissen im Allgemeinwissen und zu einer Ausdehnung des Sonderwissensbereichs gekommen, der weithin im Besitz von Expert*innen ist. Die Wissensbestände über das, was z. B. »Christsein« ausmacht, waren einst noch »routinemäßig« an alle vermittelt worden, während sie heute vielfach zum Sonderwissen gehören, über das einzelne engagierte Christ*innen, Theolog*innen, kirchliche Funktionsträger*innen oder Nerds verfügen.99 Wenn ich recht sehe, ändern gegenläufige Phänomene der Gegenwart wie z. B. frei zugängliche Podcasts zu christlich-religiösen Fragen,100 die Arbeit an Open-Access-Bibelübersetzungen101 oder die Verbreitung religiösen Wissens im Ratgeber-, Selbsthilfe- und Sachbuchbereich nichts Grundlegendes daran. Die Ausweitung des christlich-religiösen Sonderwissens und der Rückgang des Allgemeinwissens schreitet voran, was auch seitens der Theologie erkannt wurde.102 Die Ausbildung theologischer Disziplinen und Subdisziplinen, innerhalb derer bis heute gesteigerte akademische Spezialisierungsbemühungen zu beobachten sind, illustriert diesen Befund ebenso wie die Professionalisierung des Pfarrberufs, bei dem zunehmend Spe-

98 Vgl. exemplarisch für die theologische Ethik Daniel Bogner/Markus Zimmermann (Hg.): Fundamente theologischer Ethik in postkonfessioneller Zeit. Beiträge zu einer Grundlagendiskussion (SThE 154), Basel 2019. 99 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 22017, 425– 427. 100 Der Boom christlich-religiöser Podcasts-Angebote wie Hossa Talk, Offenbart oder Wortkollektiv hält an, harrt aber noch einer homiletischen Aufarbeitung. Es bleibt ein Desiderat, Podcasts als Formate christlich-religiöser Rede nach allen Regeln homiletischer Kunst aufzuarbeiten. 101 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang das mittlerweile als Verein organisierte, ökumenische Mitmach-Projekt »Offene Bibel« (offene-bibel.de), das insgesamt drei Bibelübersetzungen (Studienfassung, Lesefassung und Bibel in Leichter Sprache) in freier Lizenz erarbeitet. 102 Vgl. Johann Hinrich Claussen: Die 101 wichtigsten Fragen. Christentum, München 22007, wo es heißt: »Zurückgegangen ist ganz offensichtlich die religiöse Allgemeinbildung. […] Elementare Fragen, fast möchte man sie Kinderfragen nennen, und doch bringen sie viele Erwachsene ins Stottern« (11).

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zialist*innen benötigt werden, die einschlägiges Wissen für die religiöse Kommunikation in spezifischen Handlungsfeldern mitbringen.103 Entgegen anderslautender Annahmen führt das durch Spezialisierung und Professionalisierung insgesamt gesteigerte Wissen aber nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu einem Zuwachs an Optionen, Alternativen und divergierenden Deutungen und damit zu mehr Unsicherheit.104 Es ist bezeichnend, dass Religionslehrer*innen (ein Berufsstand, dem weithin christlich-religiöses Wissen zugestanden wird) im konfessionellen Religionsunterricht (ein Bildungskontext, von dem sich viele religiösen Wissenstransfer erwarten) nicht mehr als Native Speaker ihrer Glaubenskultur erkennbar werden, sich in konfessioneller Hinsicht mit Statements zurückhalten und die wenigen, beobachtbaren Aussagen über christlich-religiöse Lehrbestandteile »eklektisch« und »zusammenhanglos« erscheinen.105 Es verwundert ebenso nicht, dass kaum noch auf etablierte Semantiken der Glaubenskulturen zurückgegriffen wird,106 wenn Menschen heute religiöse Erfahrungen machen und diese in entsprechenden Praktiken zumeist privat, zu einem kleineren Teil auch gemeinschaftlich kultivieren.107 Thomas Luckmann und Alfred Schütz haben neben den veränderten Proportionen im Verhältnis des Allgemeinwissens zum Sonderwissen auf die Versionisierung der Wissensbestände im Allgemeinwissen aufmerksam ge-

103 Aufschlussreich ist hierzu die Einschätzung von Michael Beintker, der angesichts der hohen Anforderungen ans Spezialwissen von Pfarrer*innen verkürzte Studiengänge für Theologie und neue Möglichkeiten für Quereinstiege für bedenklich hält. Vgl. ders.: Pfarrer in vier Semestern. Theologie im Schnelldurchlauf, 2020, verfügbar unter: https://bit.ly/3l0LQMV [30. 09. 2020]. 104 Vgl. hierzu Thomas Pister/Nico Stehr: Einführung: Fragile Welten aus Wissen, in: Stephan A. Jansen u. a. (Hg.): Fragile Stabilität – stabile Fragilität, Wiesbaden 2013, (9–18) 16–17, wo festgehalten wird: »Statt Quelle von gesichertem Wissen und Gewissheit zu sein, ist Wissenschaft damit vor allem Quelle von Ungewissheit« (17). 105 Vgl. hierzu Rudolf Englert: Warum konfessioneller Religionsunterricht?, in: KatBl 139 (2014), (368–375) 371; ferner ders. u. a.: Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele, Analysen, Konsequenzen, München 2014; Matthias Gronover/Andreas Obermann: Von der Konfessionalität des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen zur Pluralität im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen?, in: Theo-Web 13/2 (2014), 218–234. 106 Vgl. Constantin Klein u. a.: »Spirituality« and Mysticism, in: Heinz Streib/Ralph W. Hood (Hg.): Semantics and Psychology of Spirituality. A Cross-Cultural Analysis, Heidelberg 2016, 165–185. 107 Laut den Erhebungen des Bertelsmann-Religionsmonitors 2012 machen 90,5 % der Befragten »religiöse« Erfahrungen. Eine religiöse Praxis lässt sich nur bei 76,2 % (im Privaten) bzw. 69,6 % (im Öffentlichen) belegen. Vgl. Constantin Klein: Gefühl ist alles, Namen sind Schall und Rauch? Religiöse Erfahrungen im Spiegel der Religionspsychologie, in: Alexander Grau/Gerson Raabe (Hg.): Religion. Facetten eines umstrittenen Begriffs, Leipzig 2014, (174–202) 179.

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macht.108 Die Echo Chambers und Filter Bubbles der Spätmoderne sind als besondere Spitzen dieser Entwicklung anzusehen.109 Die Fragilität religiösen Wissens hängt mit dem zuvor dargestellten, eher erkenntnistheoretisch-philosophischen Problem des Fehlens objektiv-verbindlicher Wahrheiten zusammen, lenkt den Fokus aber stärker auf soziale Weichenstellungen: Es geht einerseits um die Reduzierung der Wissensbestände im Allgemeinwissen sowie die Versionisierung der entsprechenden Wissensbestände und andererseits um das Anwachsen der Wissensbestände im Spezialwissen, das Unsicherheit in Bezug auf die Zuverlässigkeit christlich-religiöser Wissensbestände auslöst und für breite Bevölkerungsgruppen gar nicht zugänglich ist. Dass all dies auch fürs Wissen ums Christsein zutrifft, stellt jene Menschen vor eine große Herausforderung, denen ihr Christsein weithin unklar ist, die diesem aber genauer auf die Spur kommen wollen.

2.3

Die zeitlose Gleichzeitigkeit kultureller Fragmente

In der Moderne ist es zu einer durchgängigen Beschleunigung des gesamten Lebens gekommen, an die sich Menschen z. B. durch Multitasking angepasst haben. Die Spätmoderne zeichnet aber nicht mehr primär die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus, die zum Problem der Synchronisierung geführt hat, sondern vielmehr die ordnungs- und zeitlose Gleichzeitigkeit historischer Fragmente,110 die Praktiken der klugen Auswahl, der Aneignung von passenden Einzelelementen und der überzeugenden Zusammenstellung, d. h. Praktiken des Designs und des Arrangements, an Bedeutung gewinnen lässt.111 Was die ordnungs- und zeitlose Gleichzeitigkeit historischer Fragmente im Gegenüber zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bedeutet, soll nachfolgender Gedankengang klären: Wer nach dem Christsein fragt, trifft auch heute immer noch traditionellkirchliche Standardmodelle an. Dazu gehört das auf uns gekommene Modell des kasualen Standardchristseins. Dieses Standardmodell folgt dem pastoralen Leitspruch »Von der Wiege bis zur Bahre«. Es ist an der Vier-Schritt-Normal-

108 Versionisierung des Wissens bedeutet, dass »nicht jedermann in das ›gleiche‹ Allgemeinwissen eingeführt wird, sondern sich die Version jener Schicht aneignet, in die er hineingeboren wurde« (Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2 2017, 437). 109 Vgl. Eli Pariser: Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2012. 110 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, 449. 111 Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (s. Anm. 85), 295–297.

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biografie mit einschlägigen, konfessionell gefärbten Wegmarken orientiert. Konkret gehören dazu folgende Elemente: 1. die Taufe als Beginn des Christseins mit Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft, sei es in Form einer Säuglings-, Kinder oder Erwachsenentaufe; 2. die Konfirmation im Sinne einer bewussten Entscheidung zum eigenen Christsein als Schritt in die religiöse Mündigkeit; während der Ausdruck Konfirmation der protestantischen Glaubenskultur volkskirchlicher Prägung zuzuschreiben ist, gibt es im katholischen Bereich das funktionale Äquivalent der Firmung, und in baptistischen und freikirchlichen Glaubenskulturen geht die besagte Entscheidung häufig unmittelbar mit dem Taufgeschehen einher; in vielen Fällen ist damit ein Akt gesetzt, aus dem z. B. die Wählbarkeit in kirchliche Gremien resultiert; 3. die Trauung (oder: kirchliche Segnung anlässlich einer Eheschließung) als Schritt in ein christliches Beziehungsleben, das traditionell mit der Offenheit für Nachwuchs verbunden ist, und so einen Raum für christlich-religiöse Sozialisation im Familienkreis eröffnet; 4. die Bestattung als von der kirchlichen Gemeinschaft rituell begleitetes Ende des individuellen Christseins mit der symbolischen Einbettung des verstorbenen Christen bzw. der verstorbenen Christin in das spezifische Deutungssystem der Glaubenskultur. Ein anderes traditionell-kirchliches Modell besteht darin, Christsein über einzelne Praxisformen des Christentums zu erschließen wie (1.) das Beten zu einem personalen Gott, (2.) das Lesen von biblischen Texten, (3.) den sonntäglichen Kirchgang und (4.) das Singen mit dem Gesangbuch. Gleichzeitig zu solchen »traditionellen« Standardmodellen gibt es auch andere, kultur- bzw. sozialgeschichtlich »neuere« Modelle fürs Christsein. Dazu gehört z. B. das Modell des spirituellen Wanderers112 mit folgenden Charakteristika: 1. die grundsätzliche, glaubenskulturelle Offenheit für alles Vorfindliche, d. h. sowohl für genuin christliche als auch für nicht-christliche spirituelle Traditionsbestandteile und Techniken bzw. deren eigenverantwortliche Verarbeitung, Kombination und Aneignung;113 2. die Prämierung des eigenen christlich-religiösen Erlebens und solcher Glaubensaussagen, die man auch selbst überprüft hat, bzw. – via negationis –

112 Winfried Gebhardt u. a.: Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der »spirituelle Wanderer« als Idealtypus spätmoderner Religiosität, in: ZfR 13 (2005), 133–151. 113 Vgl. Gebhardt: Selbstermächtigung (s. Anm. 112), 143–144, wo es heißt: »Der ›Wanderer‹ ist ›offen für alles‹« (143).

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die Skepsis gegenüber nicht selbst gemachter religiöser Erfahrung und christlich-religiösen Autoritäten;114 3. die Orientierung an Alternativen zum personalen Gottesbild.115 Wenn Hartmut Rosa im ersten Schritt eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen annimmt, so bedeutet dies für unser Beispiel Folgendes: Wir haben mehrere Modelle des Christseins gleichzeitig vorliegen. Das 4-Schritt-Standardmodell ist einer der »Klassiker«, während das Modell des spirituellen Wanderers neueren Ursprungs ist. Daneben gibt es viele andere Modelle. Wenngleich diese und andere Modelle schwerpunktmäßig bestimmten soziokulturellen Entwicklungsphasen (und Milieus) zugeordnet werden können, so überlagern sie sich zeitlich doch derart, dass es nicht zu einer Ablösung einzelner Modelle durch andere gekommen ist (oder kommt), sondern verschiedene Modelle zur gleichen Zeit zur subjektiven Aneignung vorliegen. Diese Sichtweise impliziert, dass das moderne Subjekt die Wahl hat, zwischen einzelnen Modellen auszuwählen. Eine solche Sicht auf das christlich-religiöse Subjekt, das es zum relativ freien Konsumenten bzw. zur relativ freien Konsumentin vorfindlicher Angebote macht, ist in der Theologie bis heute verbreitet.116 Wenn Rosa hingegen von einer ordnungs- und zeitlosen Gleichzeitigkeit historischer Fragmente ausgeht, so weist er auf folgenden Sachverhalt hin: Es gibt für die spätmodernen Zeitgenoss*innen nicht mehr bloß verschiedene Modelle, die verschiedenen zeitlichen Phasen entsprungen sind und die sie gleichzeitig vor die Wahl stellten, sondern ihnen begegnet nunmehr ein kulturelles Chaos aus fragmentarischen Einzelelementen. Wenn in der Theologie oder der Soziologie zuletzt wiederholt vom »Zwang zur Erfindung des eigenen Lebens«,117 vom »Anspruch an den […] Menschen, sich selbst zu bestimmen, sich selbst zu kreieren, sich selbst zu entwickeln«118 o.Ä. die

114 Vgl. Gebhardt: Selbstermächtigung (s. Anm. 112), 144–145, wo es heißt: »Der ›Wanderer‹ lehnt für sich jede religiöse Erfahrung, die er nicht selbst gemacht hat und damit auch jede Form von Autorität, die er nicht selbst überprüft hat, entschieden ab« (144). 115 Vgl. Gebhardt: Selbstermächtigung (s. Anm. 112), 145–146, wo es heißt: »Der ›Wanderer‹ hat sich nicht nur weitgehend vom christlichen Gottesbegriff gelöst, er denkt Gott in der Regel auch nicht mehr als Person« (145). 116 Vgl. Detlef Pollack: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009, 48; Hubert Knoblauch: Spiritualität und die Subjektivierung der Religion, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.): Individualisierung – Spiritualität – Religion, Berlin 2008, (45–57) 56. Aufschlussreich ist auch die jüngste Studie zum Kundenhabitus von Gottesdienstbesucher*innen. Vgl. Folkert Fendler: Kundenhabitus und Gottesdienst. Zur Logik protestantischen Kirchgangs (APTLH 94), Göttingen 2019, 208–211. 117 Albrecht Grözinger: Homiletik. Lehrbuch Praktische Theologie 2, Gütersloh 2008, 26. 118 Waltraud Posch: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt, Frankfurt a.M. 2009, 47.

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Rede war und dabei betont wurde, wie schwer und mühsam dies sei,119 scheint man eine solche die subjektive Wahlfreiheit wohl überfordernde Situation bereits im Blick gehabt zu haben. Man ließ das Leitbild des Konsumenten bzw. der Konsumentin fahren und rief das Leitbild des Künstlers bzw. der Künstlerin aus.120 Doch dieser Schluss war vorschnell. Das Chaos gleichzeitig vorliegender, kultureller Fragmente fordert keineswegs dazu heraus, etwas völlig Neues zu erfinden. In der Spätmoderne geht es darum, dem chaotischen Zeichenreservoire mehrere Einzelelemente abzuringen und diese für die eigene Aneignung zusammenzustellen. Es geht nicht mehr primär um die Wahl einzelner, bereits vorfindlicher Modelle und deren Aneignung (→ Konsumparadigma), auch nicht um die Produktion von völlig Neuem (→ Kunstparadigma), sondern um das Hervorbringen von relativ Neuem durch die gekonnte Zusammenstellung angetroffener Einzelteile (→ Designparadigma): Leitbild hierfür ist der Kurator bzw. die Kuratorin.121 Christsein realisiert sich nicht durch die Aneignung eines angebotenen Modells. Es realisiert sich auch nicht im genialen Vorgriff auf ein völlig neues Modell. Zu Modellen des Christseins kommt es in der Spätmoderne vielmehr dadurch, dass im Hier und Jetzt aus einzelnen, kulturellen Fragmenten, die dem Chaos des kulturellen Zeichenuniversums, in dem sich Güter jedweden zeitlichen Ursprungs und aus unterschiedlichsten Kulturen tummeln, abgerungen werden, durch geschickte Kombination und kluges Arrangement etwas relativ Neues hervorgebracht wird. Menschen bedienen sich, auch wenn es ums »Christsein« geht, verschiedener, ihnen passend erscheinender, interessant anmutender und für die eigene Aneignung konkret zur Verfügung stehender Elemente aus dem kulturellen Zeichenreservoire, das sie umgibt. Sie generieren daraus durch Kombination, Arrangement und Zusammenstellung, d. h. durch kurative Praktiken, relativ neue und potentiell singuläre Modelle fürs Christsein in der Gegenwart. Die kulturelle oder historische Herkunft der zugrundeliegenden Elemente, also ihr ursprünglicher Ordnungszusammenhang, bedeutet fürs eigene Tun dabei keinerlei Einschränkung. Hier kommt die These von der Globalisierung der Religion122 in kultureller Hinsicht zu einer besonderen Pointe: 119 Vgl. Wilhelm Gräb: Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 13; ferner Grözinger: Homiletik (s. Anm. 117), 26. 120 Praktisch-Theologisch einschlägig sind die Debatten zur Lebenskunst sowie zur Predigt als Kunstwerk. Beiden liegt das Leitbild des Künstlers bzw. der Künstlerin zugrunde. 121 »Das spätmoderne Subjekt […] lebt ein kuratiertes Leben« – Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (s. Anm. 85), 295. 122 Vgl. Peter Beyer: Religion and Globalization, in: George Ritzer (Hg.): The Blackwell Companion to Globalization, Malden 2006, 444–460; Johanna Pink/Nicola Westermann: Religiöse Identität und Globalisierung, in: Jens Badura u. a. (Hg.): »Globalisierung«. Problemsphären eines Schlagwortes im interdisziplinären Dialog, Wiesbaden 2005, 45–62; José

Bis die semantischen Fetzen fliegen!

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Spätmoderne Menschen orientieren sich vermehrt am Kulturalisierungsregime der kosmopolitischen Öffnung. Damit bezeichnet Andreas Reckwitz jenen wirkmächtigen Prozess in der spätmodernen, globalen Gesellschaft, der die radikale Öffnung von Lebensformen in Gestalt von Lebensstilen vorantreibt123 und dabei auch vor dem Christsein nicht Halt macht. Kosmopolitische Öffnung bedeutet, dass die Herkunft der kulturellen Güter, d. h. ihr regionales, nationales oder kontinentales, gegenwärtiges oder historisches, hochkulturelles oder populärkulturelles Woher, keine Rolle mehr spielt, sondern vielmehr jedes Kulturgut, ganz gleich welcher Herkunft, Ressource individueller Selbstverwirklichung werden kann.124 Christsein speist sich demzufolge längst nicht mehr nur aus dem Traditionsbestand christlich-religiöser Glaubenskulturen. Anstatt von einer ordnungs- und zeitlosen Gleichzeitigkeit historischer Fragmente spricht Reckwitz von Hyperkultur.125 Die Befunde von Reckwitz und Rosa verweisen, soweit ich sehe, in letzter Konsequenz auf dasselbe Problem, das ich für die Frage des Christseins für sehr bedeutungsvoll halte.126 Dass die besagten Veränderungsprozesse im Umgang mit Zeit und Kultur durch die Möglichkeiten des Informationsaustausches des Internets, die Verbreitung von Individualreisen und den Aufstieg der Cultural Creatives regelrecht befeuert wird, liegt auf der Hand.127

2.4

Zwischenfazit

Auf verschiedenen Ebenen kämpft die christliche Glaubenskultur immer noch mit den Spätfolgen der Modernisierung. Mit den spezifischen Herausforderungen der Spät- bzw. Postmoderne hat sie sich in vielen Feldern noch kaum arrangiert. Es liegt der Schluss nahe, dass auch die spätmoderne »Gesellschaft ›ihre Religion‹, daß sie eine für sie passende Religion noch nicht gefunden hat und folglich immer noch experimentiere.«128 Angesichts der Dynamiken im Zusammenhang mit religiösen Wahrheitsansprüchen, der Verschiebungen im Bereich

123 124 125 126 127 128

Casanova: Religion in Modernity as Global Challenge, in: Michael Reder/Matthias Rugel (Hg.): Religion und die umstrittene Moderne, Stuttgart 2010, 1–16. Vgl. Andreas Reckwitz: Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus. Die Spätmoderne im Widerstreit zweier Kulturalisierungsregime, in: Ulrike Blumenreich u. a. (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18, Bielefeld 2018, 81–90. Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (s. Anm. 85), 145. Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten (s. Anm. 85), 145–147, 417–423. Ich verweise auf mein Habilitationsprojekt, das den Arbeitstitel »Christsein in der Spätmoderne. Doing Singularity und die Einzigartigkeit des Christenmenschen im 21. Jahrhundert« trägt und sich diesen Zusammenhängen noch ausführlicher widmen wird. Vgl. hierzu das Urteil bei Pink/Westermann: Religiöse Identität (s. Anm. 122), 59. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, 307.

222

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christlich-religiösen Wissens und der Veränderungen im Umgang mit dem kulturellen Zeichenreservoir ist es für viele Menschen schwierig geworden, ihrem Christsein auf die Spur zu kommen, wenngleich es an Bemühungen, Christsein als attraktive Lebensform auszuweisen, keineswegs fehlt.129 Es wäre zu kurz gegriffen, das Problem der zeitgenössischen Unklarheit darüber, was »Christsein« meint, allein über das Paradigma der Säkularisierung zu erklären und die Erosion der christlichen Glaubenskultur zu beklagen. Das Problem führt einen Rattenschwanz an gesamtgesellschaftlichen Problemen und Transformationsaufgaben mit sich, der auch abseits der Glaubenskulturen Anpassungen provoziert, die durchaus zu bewerkstelligen sind. Ich teile den Befund, »dass der Bedeutungsverlust [von Religion] nicht für alle Formen von Religiosität gleichermaßen gilt, sondern insbesondere für jene, die eine Unterordnung unter kirchliche Dogmatik und Autorität beinhalten bzw. das Für-wahr-Halten bestimmter Glaubensaussagen verlangen.«130 Außer Frage steht, dass (1.) in der Spätmoderne keine verbindlich-objektiven Wahrheiten über das Christsein mehr greifbar sind, dass (2.) auch religiöses Wissen über das Christsein fragmentiert ist, stärker zum Sonder- als zum Allgemeinwissen gehört und angesichts des generellen Wissenszuwachses unsicherer geworden ist, und (3.) traditionelle Standardprogramme insgesamt an Bedeutung verlieren, sodass auch Standardmodelle des Christseins kaum mehr überzeugen, während die eigenwillige Zusammenstellung relativ neuer Modelle aus vorfindlichem Kulturmaterial hoch im Kurs steht.

3

»Christsein« bei Jana Highholder

Nachdem das Problem des Christseins bereits unter dem Aspekt seiner zunehmenden inhaltlichen Unklarheit bei gleichzeitig steigender Auseinandersetzung um seine Gestalt umrissen, durch Sondierungen in drei gegenwärtigen Kontexten (gutefrage.net, YouTube, Buchmarkt) erläutert und hinsichtlich dreier einschlägiger Problemfelder im Hintergrund (Veränderungen in Bezug auf die Wahrheit, das Wissen und den Zugriff auf die Kultur) umrissen wurde, soll zuletzt im Sinne einer Tiefenbohrung ein konkreter Beitrag in den Fokus der Auseinandersetzung rücken: ein Video von Jana Highholder zur Frage »Was darf ich als Christ tun?«.

129 Ich verweise erneut auf Grethlein: Christsein als Lebensform (s. Anm. 54). 130 Sebastian Murken: »Mein Wille geschehe …«. Religionspsychologische Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Wunscherfüllung, in: ZfR 17 (2009), (165–187) 182.

Bis die semantischen Fetzen fliegen!

3.1

223

Wer ist Jana Highholder?

Jana Highholder gehört zu den bekanntesten christlichen Influencer*innen131 – auch »Christfluencer*innen«132 oder »Sinnfluencer*innen«133 genannt – des deutschsprachigen Raums. Wiederholt wurde ihr die Bezeichnung »Influencerin Gottes« zu Teil, ein Titel, den sie auf Instagram auch als Selbstbezeichnung wählte.134 Highholder geriet in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil die EKD sie zum Gesicht ihrer Digitalstrategie machte, ihren YouTube-Kanal »Jana« professionell produzieren ließ und auf großen Zuspruch der Community stieß. Was im Jahr 2018 als Experiment begonnen hatte, »ob Glaube als Thema in den sozialen Medien funktioniert«,135 wie es Thomas Dörken-Kucharz, der zuständige Beauftragte im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP), formulierte, hatte Erfolg. Am 13. 04. 2018 wurde das erste Video hochgeladen; darin widmete sich Highholder der programmatischen Frage, warum man glauben solle. Das letzte Video wurde am 17. 06. 2020 bereitgestellt; darin verabschiedet sich Highholder, verweist vage auf neue Projekte und erklärt, dass sie die Arbeit für #janaglaubt »so geprägt, so geschliffen, so verändert und so zu der Jana gemacht hat, die ich heute bin, dass ich dafür wieder und wieder nur dankbar sein kann.«136 Zum aktuellen Zeitpunkt hat der Kanal, obwohl keine Videos mehr erscheinen, immer noch 22.500 Abonnent*innen.137 In 24 Monaten wurden 185 Videos produziert und fast 2 Millionen Clicks erzielt. Nach dem Ende einer einjährigen Experimentierphase wurde das Projekt verlängert, ehe – nach einigem Unmut über das Skandalvideo zum Weltfrauentag138 – am 16. 06. 2020 in

131 Vgl. Maya Goetz: Die Selbstinszenierung von Influencerinnen auf Instagram und ihre Bedeutung für Mädchen. Zusammenfassung der Ergebnisse einer Studienreihe, in: TelevIZIon 32/1 (2019), 25–28, wo Influencer*innen definiert werden als »Personen, die aus eigenem Antrieb Inhalte (Text, Bild, Audio, Video) zu einem Themengebiet in hoher und regelmäßiger Frequenz veröffentlichen und damit eine soziale Interaktion initiieren« (25). Influencer*innen gelten als die wichtigsten Vorbilder für Preteens und Jugendliche, wobei ihre Attraktivität vor allem im von ihnen selbst vermittelten Bild liegt, das sich durch Authentizität auszeichnet. 132 Vgl. Viera Pirker: Digitalität als ›Zeichen der Zeit‹?, in: ThPQ 168/2 (2020), (147–155) 153. 133 Das evangelische Contentnetzwerk vereint ausdrücklich »(christliche) Sinnfluencer«. 134 Vgl. hiighholder: Profilseite, 2019, verfügbar unter: https://www.instagram.com/hiighhol der/ [30. 09. 2020]. Mittlerweile wurde das Profil geändert, Screenshot liegt dem Vf. vor. 135 Christine Büttner/Franziska Hein: Christfluencerin Jana. Smart und fromm – Influencerin Jana erzählt auf Youtube über ihren Glauben, 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/36j63tc [30. 09. 2020]. 136 Jana: LAST CALL | ICH sage TSCHÜSS | JANA, 2020, verfügbar unter: https://youtu.be/Ak 4StmcZEw4 [30. 09. 2020], 08:28–08:39. 137 Zuletzt abgerufen am 27. 09. 2020. 138 Vgl. Jana: Müssen sich Frauen unterordnen? Diskussion mit Pfarrerin Hanna | Wir zum Weltfrauentag #32, 2019, verfügbar unter: https://youtu.be/LUPwelfej54 [30. 09. 2020].

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einer Presseinformation das Ende des Kanals bekanntgegeben wurde.139 Nach dem Ende des Projekts #janaglaubt trat Highholder mit dem neuen Kanal »Hier« in Erscheinung, den sie für den Versicherer im Raum der Kirchen (VRK) moderiert.140 Kerstin Söderblom beurteilt das Profil Highholders als wertekonservativ, fromm, nicht altbacken oder langweilig, sondern cool, witzig und freundlich.141 Sie lasse einen unbedarft christlich-religiösen Fundamentalismus anklingen und ihre freikirchliche Prägung sei unverkennbar, urteilt hingegen Hannes Leitlein.142 Als eine junge, sympathische und zugleich höchst problematische Vertreterin der Generation Lobpreis und als Teil einer Gruppe hochreligiöser Jugendlicher mit ausgeprägter Gebets- und Bibelfrömmigkeit ohne kirchliche Anbindung charakterisierte sie Anne Lemhöfer.143 Die Medizinstudentin und Poetry-Slammerin war für die EKD als Laiin auf YouTube angetreten und zählt unter der Schar christlicher Influencer*innen bis heute zu den wenigen Akteur*innen, die nicht als kirchliche Amtsträger*innen fungieren und kein Theologiestudium absolviert haben. Damit unterscheidet sie sich von vergleichbaren YouTube-Angeboten wie denjenigen von Theresa Brückner (@theresaliebt), Gunnar Engel (@Pastor Gunnar Engel) oder Stefanie und Ellen Radtke (@Anders Amen).

3.2

»Was darf ich als Christ tun?« (Video-Analyse)

Am 22. 06. 2018 wurde auf dem YouTube-Kanal Jana ein Video zur Frage »Was darf ich als Christ tun?« veröffentlicht.144 Der Videotitel enthält mit den großgeschriebenen Worten »Disco«, »Sauna« und »Bikinifotos« zusätzliche Ausdrücke, welche einerseits die Funktion eines Teasers erfüllen und anderseits die Fragestellung thematisch erweitern und moralisch akzentuieren. 139 Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik: Contentnetzwerk yeet entwickelt nach Vertragsende mit Jana evangelische Social-Media-Arbeit weiter, 2020, verfügbar unter: https:// www.presseportal.de/download/document/678710-02-06-16-pm-ende-jana.pdf [30. 09. 2020]. 140 Letzter Kanalaufruf vom 28. 09. 2020. Das erste Video des neuen Kanals widmet sich dem Thema »Glaube und Nachhaltigkeit«. Vgl. Hier: Wir sind Hier! Passen Glaube und Nachhaltigkeit zusammen?, 2020, verfügbar unter: https://youtu.be/v3aK1UXCqfA [30. 09. 2020]. 141 Kerstin Söderblom (@SoeKe): Social Media und Kirche, 2019, verfügbar unter: https://kers tin-soederblom.de/no30/ [30. 09. 2020]. 142 Hannes Leitlein: Jana Highholder. Ist sie die Antwort?, 2019, verfügbar unter: https://bit. ly/36mcw6D [30. 09. 2020]. 143 Anne Lemhöfer: YouTube kann mehr als eine Rolle rückwärts, 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/3n5fx1j [30. 09. 2020]. 144 Vgl. Jana: Disco, Sauna, Bikinifotos – Was darf ich als Christ tun | Wir | #11 | Jana, 2018, verfügbar unter: https://youtu.be/LgFd8Da1THU [30. 09. 2020].

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Abb. 3 – Jana Highholder auf YouTube übers Christsein (Thumbnail zum Video vom 22. 06. 2018)

Der Thumbnail verkürzt die Frage auf »Darf ich das?« – diese drei Worte bringen das Thema geradewegs auf den Punkt. Mit dem hier eingeführten »Ich« wird sowohl die Bedeutung der Fragestellung für Highholder persönlich (»biografisches Ich«) impliziert wie auch eine repräsentative Funktion bezweckt, die die Bedeutung der von Highholder beantworteten Frage für ihre Zuseher*innen und ihr Leben antizipiert (»repräsentatives Ich«). Das Video ist eines von fünf Videos auf dem Kanal, das zum Stichtag 06. 07. 2020 mehr als 40.000 Aufrufe erzielte. Konkret waren es 49.246 Aufrufe, womit das Video – in der Sprache der Plattform – als das viertbeliebteste Video des Kanals zu bezeichnen ist. Zum Vergleich: Das vielfach diskutierte Video zum Weltfrauentag vom 08. 03. 2019, das sich im Titel der Frage »Müssen sich Frauen unterordnen?« widmete, war zu diesem Zeitpunkt das am siebthäufigsten aufgerufene. Die meisten Clicks erzielte der Kanal Jana durch Highholders Vorstellungsvideo mit knapp 79.000 Aufrufen. Der am wenigsten aufgerufene Videobeitrag mit konkreter Frage- bzw. Problemstellung erreichte 2.260 Clicks. Wenngleich auf YouTube die Orientierung an der Watchtime an Bedeutung gewonnen hat, gelten Clicks für viele YouTuber*innen, User*innen und externe Berichterstatter*innen als ein wesentlicher Gradmesser für die Beliebtheit und den Erfolg eines Videos. Wir widmen uns also in diesem Text einem äußerst beliebten und erfolgreichen Video, das sich explizit Fragen des Christseins annimmt. Methodisch basiert die nachfolgende Analyse auf semantischer Analy-

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se145 mithilfe eines FOLKER-Videotranskripts146 und einem Fokus auf der Audiospur. Auf der Ebene der Mikrocodierung wird der Signifikant /Christsein/ über die Interpretanten »etwas, das sich super unattraktiv anhört«, »etwas, das mit Glaube zusammenhängt«, »etwas, das mit Religion zusammenhängt«, »etwas, wozu ich etwas sage« und »etwas, wo sich mir die Frage stellt, warum ich das sein sollte« erschlossen. Damit trägt das Video auf der Ebene der Mikrocodierung noch kaum zur Klärung dessen bei, was »Christsein« meint. Vielmehr steht das Video auf der Ebene der Mikrocodierung geradezu exemplarisch für die oben herausgearbeitete Fraglichkeit und Unklarheit des Christseins, die Unattraktivität üblicher Modelle fürs Christsein und das Bemühen, sich der offenen Frage nach dem Christsein anzunehmen. Anders verhält es sich, wenn man den Signifikanten /Christ/ hinzunimmt. Der Signifikant /Christ/ in seinen verschiedenen Derivaten (z. B. /Christin/, /Christen/ oder /Christinnen/) wird durch etwa dreißig Interpretanten zu verstehen gegeben. Zum einen begegnen Interpretanten wie »etwas, als das ich [Jana] mich qualifiziere bzw. bezeichne«, »etwas, das wir sind« oder »etwas, als das du dich qualifizierst bzw. bezeichnest«. Sie verweisen auf die Selbstdarstellung Highholders als Christin, ihrer Hörer*innen als Christ*innen und der inszenierten Community als Gemeinschaft von Christ*innen. Sodann begegnen Interpretanten wie »jemand, der das Gefühl hat, nicht in die Sauna gehen zu können«, »jemand, der das Gefühl hat, nicht tanzen zu mögen«, »jemand, der das Gefühl hat, nicht tanzen zu sollen«, »jemand, der das Gefühl hat, nicht in die Sauna gehen zu sollen«, »jemand, der das Gefühl hat, dies und jenes nicht tun zu sollen« und »jemand, für den es okay ist, das Gefühl zu haben, etwas nicht zu sollen«. In einer gewissen Nähe hierzu stehen Interpretanten wie »jemand, der bestimmte Dinge nicht öffentlich tun darf« und »jemand, der sich etwas sagen lassen darf«. Die Zusammenstellung macht deutlich, dass Christsein mit internalisierten, emotionsbehafteten Ver- und Geboten zu tun hat, da begrifflich das Nichtsollen, das Nichtdürfen, das Nichtkönnen, das Nichtmögen und das SichSagen-Lassen dominant erscheint. In diese Richtung verweisen auch Signifikanten wie »jemand, der trotzdem etwas tut«, »jemand, der trotzdem jemanden mit Worten bespuckt« oder »jemand, der trotzdem sonst irgendetwas tut«, in 145 Vgl. zur Methode Wilfried Engemann: Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen, Tübingen 1993, 68–78; ders.: Einführung in die Homiletik, Tübingen 32020, 482–489; Stefanie Wöhrle: Predigtanalyse. Methodische Ansätze – homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen, Berlin 2006, 145–159; ferner die Durchführung bei Kirchmeier: Glaubensempfehlungen (s. Anm. 28), 123–139, 149–159, 180–188. 146 Vgl. hierzu Wolfgang Imo/Jens Philipp Lanwer: Interaktionale Linguistik. Eine Einführung, Berlin 2019, 107–108.

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denen sich ein Konflikt gegenüber solchen Ver- und Geboten artikuliert. In eine andere Richtung verweisen Interpretanten wie »etwas, als das man eine repräsentative Funktion erfüllt«, »Menschen, die das Christentum repräsentieren«, »Menschen, die die Religion, für die sie stehen, repräsentieren« oder auch »etwas, worüber ich [Jana] etwas sage, weil es mir wichtig ist«, »Menschen, die sagen ›Hey, wir stehen für den Glauben!‹«, »Menschen, die sagen ›Wir stehen dafür, dass Jesus uns liebt!‹« und »Menschen, die sagen ›Wir sind geliebt und wir lieben dadurch weiter!‹«. Sie verweisen auf eine mit christlich-religiösen Überzeugungen verknüpfte Repräsentations- und Darstellungsfunktion bzw. -aufgabe des Christseins. Einen weiteren Bedeutungshorizont eröffnen Interpretanten wie »Menschen, die von allen Nicht-Christen betrachtet werden«, »Menschen, die von allen Nicht-Christen angeguckt werden«, »Menschen, über die andere (nichtchristliche) Menschen kritisch nachdenken« oder »etwas, worüber Menschen sich (stutzend) wundern, dass es jemand ist/sein kann«. Hier wird auf der Ebene der Zeichenbildung der Aspekt einer wechselseitigen, primär kritischen Beobachtung zwischen Christ*innen und Nicht-Christ*innen eingeführt. Auf der Ebene der semantischen Strukturcodierung kann auf Basis der bisherigen Analyseergebnisse zur Zeichenbildung ein logisches Muster festgehalten werden.147 Das Interpretationsmuster ist folgendermaßen strukturiert: Wir sind Christ*innen → Daher stehen wir für Gott und für die Liebe Jesu ein → Wir suchen dabei das Verbindende und denken viel nach → Trotzdem werden wir (von außen) kritisiert und beschämt → Dabei spielen konkrete äußere Erwartungen an Christ*innen eine Rolle, aber auch (implizite) Verbote, an denen wir uns selbst abarbeiten → Vieles davon betrifft ethische/moralische Fragen → Alles was Spaß macht, erscheint als potentielle Gefahr → Oft erscheint es uns daher selbst so, als sei alles, was wir tun, verboten → Dann erleben wir uns unfrei → Das macht das Christsein unattraktiv → Dabei geht es beim Christsein auch ums Freiwerden → Christsein kann auch Spaß und Freude machen → Gott freut sich schließlich, wenn wir uns freuen → Es gibt zu ihm eine Verbindung im Herzen → Richtig ist aber trotzdem, dass wir uns (vor ihm) verantworten müssen → Richtig ist, dass wir (öffentlich) nicht alles tun können, weil wir etwas repräsentieren → Manche Verbote gehen aber doch zu weit → Verbote sind in der Regel dann okay, wenn sie nicht als Verbote erlebt werden (sondern als Nicht-Wollen) → Wir sollten daher immer erst nachdenken und das eigene Herz befragen → Projektionen von Einzelwertungen auf andere sind grundsätzlich falsch → Wir sollten respektvoll sein und

147 Der Rekonstruktion des Interpretationsmusters liegt neben den bisherigen Interpretanten auch eine detaillierte Analyse der Interpretanten /dürfen/, /Entscheidung/ bzw. /entscheiden/, /Frage/ bzw. /fragen/, /frei/, /Gedanken/, /Gefahr/, /Glaube/ bzw. /glauben/, /Gott/, /Herz/, /Jesus/, /Leben/, /Meinung/, /Person/, /persönlich/, /Religion/, /Sauna/, /schämen/, /sollen/, /Spaß/, /ungöttlich/, /Verbot/ bzw. /verboten/, /Wahrheit/ bzw. /wahr/ und /wir/ zugrunde, die aus Platzgründen hier nicht umfassend dargelegt werden kann.

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bei anderen das Bessere im Blick haben → Das kann natürlich auch eine Mahnung sein → Wir stehen ja unter Beobachtung.

Auf der Ebene der Systembildung wird deutlich, auf welchen semantischen Achsen die dem Gedankengang zugrundeliegende Argumentation liegt. Highholder ergreift das Wort dafür, für den Glauben einzustehen, etwas zu repräsentieren und dabei die eigene Verantwortlichkeit zu kennen. Hierfür sei es unerlässlich, sich fundamentalen Fragen zu stellen und sich um gemeinsame Antworten zu bemühen. Als Instanz, die verantwortungsvolle, repräsentative und nachdenkliche Christ*innen befragen sollten, ist das Herz im Sinne einer inneren, mit Gott in Verbindung stehenden und unberührbaren Instanz im Blick. Insgesamt geht es bei alledem darum, andere nicht zu qualifizieren und eigene Ansichten auf andere zu projizieren, sondern von Herzen her etwas Besseres für sie zu wünschen. Diese grundsätzliche Empfehlung liegt auf einer Achse, die mit »christliche Haltung« überschrieben werden kann und auf so etwas wie ein subjektives christliches Ethos148 verweist. Mit ihr geht eine – weithin implizite – Abgrenzung von »Nicht-Christen« einher. Diese korrelieren semantisch mit »jenen, die Jesus, die Bibel oder den Glauben grundsätzlich ablehnen«. Sie bilden die primäre Negativfolie und stehen semantisch der Projektion eigener Meinungen, der Disqualifizierung anderer Menschen und dem Verbleiben in Angst und Unsicherheit nahe. Ferner korrelieren diese negativ konnotierten Elemente semantisch mit dem Tun solcher Dinge, über die man öffentlich lieber keine Auskunft geben will, sowie mit Standpunktlosigkeit. Positiv verhandelte Elemente Für den Glauben einstehen

christliche Haltung (Ethos) vs.

Negative Abgrenzung kein Christ sein

als Christ etwas repräsentieren um eigene Verantwortung wissen

vs. vs.

(noch) keinen Standpunkt haben Dinge tun, die man nicht erzählen will

sich fundamentalen Fragen stellen

vs.

gemeinsame Antworten finden

vs.

Jesus/Bibel/Glaube grundsätzlich ablehnen eigene Meinungen projizieren

Das Herz befragen und nachdenken anderen etwas Besseres für sie wünschen

vs. vs.

unsicher und verängstigt bleiben andere respektlos disqualifizieren

148 Wenn Ethos ganz allgemein »eine eingelebte Üblichkeit des Verhaltens« meint, so verweist das objektive Ethos im Speziellen auf die Summe der »Vorstellungen des Guten, die in bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften verbindlich sind und von ihnen tradiert werden«, wovon das subjektive Ethos als »die individuelle Haltung der solchen Gruppen zugehörigen Einzelnen« unterschieden werden kann. Zitate bei Reuter: Grundlagen und Methoden (s. Anm. 25), 15.

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In eine ähnliche Richtung verweisen die Pole auf der Achse zur Moral bzw. Moralität, die auch konkretere Fälle aufgreift, die innerhalb des Videos positiv oder negativ qualifiziert werden. Während das verantwortliche Handeln von Christ*innen, die durch stetiges Reflektieren zu begründeten Schlüssen kommen, ausdrücklich positiv qualifiziert wird, rücken jene, die solche Christ*innen mit abfälligen, prüfenden Blicken aus eigener Unsicherheit heraus abwerten, in ein negatives Licht. Mit Letzteren korreliert ein allzu starker Fokus auf Verbote und eigene Meinung, wie sie sich in Forderungen zum Kleidungsstil oder der Körperkultur konkretisieren. Der »Rollkragenpulli«, der am Strand zu tragen ist, taucht auf dieser Achse ebenso als negatives Element auf wie die Verführung zum Kopfkino, sobald an Sauna gedacht wird. All das hat semantisch mit Unfreiheit zu tun, die am Ende selbstverschuldet erscheint und negativ qualifiziert wird. Positiv ist die Freiheit – negativ die Unfreiheit. Während man sich auf der negativen Seite unfrei macht, so geht es auf der positiven Seite um das Freiwerden; man wird zur Freiheit freigesetzt. Wer solche »christliche« Freiheit kennt, kann durchaus auch Bikini und Sportklamotten tragen und muss kein Problem mit Nacktheit haben. Ein solch freier Umgang steht der Frage nach Bibel, Glauben und/oder Jesus semantisch nahe, ist jedoch auch – so wird implizit nahegelegt – Folge von Reflexion auf die eigene Lebensführung und Ausdruck von Verantwortung. Diese Polarität soll nachfolgende Tabelle verdeutlichen: Moral / Moralität Positiv verhandelte Elemente als Christ*in verantwortlich handeln vs.

Negative Abgrenzung Christ*innen kritisch(er)/ abfällig(er) beäugen

begründete Schlüsse zur eigenen Lebens- vs. Angstbesetzte Themen aus einer Position führung durch umfangreiche Reflexion der eigenen Unsicherheit »verteufeln« Fokus auf Verantwortung und Reprävs. Fokus auf Verbote und Meinung sentation Frage nach Bibel/Glauben/Jesus

vs.

möglich: Bikini und Sportklamotten

vs.

kein Problem mit Nacktheit haben

vs.

Freiwerden / freigesetzt werden

vs.

Frage nach Tattoos/Haar/Kleidung/ Sauna/Tanzen gefordert: Rollkragenpulli durch Sauna zu Bildern im Kopf verführt werden sich unfrei machen

Zwei nachfolgend zu erörternde Achsen sind ebenfalls semantisch ähnlich gelagert: Die eine verhandelt Offenheit, die auch vor der Öffentlichkeit nicht Halt macht, während es auf der anderen um Grenzen geht, wie sie durch Erwartungen und Sanktionen markiert werden. Auf der ersten Achse wird nahegelegt, aus Freiheit Schönes zu teilen, etwa Bilder. Das konvergiert durchaus mit der Empfehlung, etwas öffentlich zu repräsentieren oder jemandem etwas zu zeigen, z. B.

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dem eigenen Vater das eigene Instagram-Profil oder sich selbst auf der Tanzfläche – selbst dann, wenn man sich dort gehen lässt. Es erscheint grundsätzlich positiv, eigene Erfahrungen, Darstellungen und Überzeugungen freizugeben, zu teilen, in aller Offenheit öffentlich zu machen. Das Motto, dass der Mund reden will, wovon das Herz voll ist, lenkt den Blick ebenso in diese positiv qualifizierte Richtung. Entsprechend negativ erscheint die angstbesetzte Zurückhaltung, etwas z. B. aus Scham nicht zu posten, aus Scheu zurückzuhalten, für sich zu behalten oder gar keine Positionen zu beziehen. In solch negatives Licht rücken auch das Disqualifizieren anderer, die etwas von sich sehen lassen, sowie deren Beschämung und offener Spott. Offenheit & Öffentlichkeit Positiv verhandelte Elemente Negative Abgrenzung schöne Bilder aus eigener Herzensfreiheit vs. einzelne Bilder aus Angst nicht posten teilen etwas öffentlich repräsentieren Papa das eigene, öffentliche Insta-Profil zeigen

vs. vs.

ohne Standpunkt bleiben heimlich (falsche) Dinge tun und für sich behalten

allein auf der Tanzfläche »abgehen« und Spaß vs. haben offen reden, wovon das Herz voll ist vs.

vor anderen Menschen jemanden verlachen sich beschämen lassen und vor »hate speech« zurückschrecken

anderen etwas Besseres für sie wünschen

vs.

andere respektlos disqualifizieren

Bei aller Offenheit zur Öffentlichkeit ist, das illustriert die Achse zum Themenfeld Erwartung & Sanktionierung, das Einholen von elterlichen Ratschlägen durchaus auch positiv qualifiziert. Es spreche also nichts dagegen, z. B. Veröffentlichungen mit dem eigenen Vater zu besprechen. Negativ wäre vielmehr das Geheimhalten oder eine – von Eltern so grundsätzlich nicht zu erwartende – Beschämung, wie sie nicht selten auch christlich motiviert ist. Es erscheint positiv, dem eigenen Gefühl, etwas doch sein zu lassen und nicht zu tun, sein Recht zuzubilligen, wohingegen es negativ wäre, aus dem eigenen Erleben allzu strenge und absolute Forderungen abzuleiten, an die auch andere sich zu halten hätten. Das eine hängt semantisch mit der Möglichkeit, Spaß und Freude zu erleben zusammen, lässt aber auch genügend Raum für Mahnungen zum Wohl anderer, wohingegen das andere regelrecht zu einer Verbotskultur mit pauschalen Abwertungen und radikalen Sanktionierungen führen könnte – zumindest hängen die besagten Elemente semantisch eng zusammen. Die semantische Polarität auf dieser Achse könnte demzufolge wie folgt dargestellt werden:

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Erwartung & Sanktionierung Positiv verhandelte Elemente religiöser, elterlicher Rat vs.

Negative Abgrenzung christlich motivierte Online-Beschämung

die Instagram-Veröffentlichung mit vs. eigenes Tun vor den Eltern geheimhalten Papa bereden Legitimität d. Gefühls, etwas (entschieden) vs. subjektives Erleben allgemeiner zu lassen Soll-Forderungen eigenes, überlegtes Nicht-Wollen

vs.

Möglichkeit, Spaß und Freude zu erleben vs. einzelne Mahnung zum Wohl des anderen vs.

allgemeine, allumfassende Verbotskultur Sanktionierung von allem, was ich tue / will pauschale Abwertung von Personen

Die letzte rekonstruierte Achse betrifft das Themenfeld Diskursivität und Debattenkultur. Positiv erscheinen hier eigene Meinungen und Positionierungen, zu denen man nach gründlicher Selbstreflexion kommt und die anderen durchaus Besseres zutrauen und wünschen. Solche Positionen, die offen geteilt werden können, konvergieren semantisch auch mit Menschen, die viel nachgedacht und ihr Herz befragt haben, wodurch sie Autorität besitzen. Demgegenüber erscheinen das unreflektierte Verharren, Verabsolutieren und Projizieren eigener Meinungen bei allzu großer Selbstsicherheit negativ. Dies korreliert mit Beschämung, Hate Speech und der respektlosen Disqualifizierung anderer sowie mit einer mit Angst bzw. Unsicherheit zusammenhängenden Fremdbestimmung. Diskursivität & Debattenkultur Positiv verhandelte Elemente Negative Abgrenzung zu eigenen Meinungen kommen vs. bei eigenen Meinungen verbleiben gemeinsame Antworten suchen / finden vs. Autorität jener, die viel nachgedacht haben

eigene Meinungen verabsolutieren / projizieren vs. Selbstsicherheit unreflektierter Menschen

wovon das Herz voll ist, offen reden

vs.

Eigene Positionierung nach Selbstreflexion

vs.

anderen etwas Besseres für sie wünschen vs.

sich schämen / beschämen lassen und vor »hate speech« zurückschrecken Fremdbestimmung aus Unsicherheit/ Angst andere respektlos disqualifizieren

232 3.3

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»Christsein«, wie es Jana Highholder empfiehlt

Die semantische Analyse des Videos »Was darf ich als Christ tun?« von Highholder illustriert an einem konkreten Beispiel, wie bestimmte Elemente aus dem nahezu unerschöpflichen Zeichenpool der Kultur, hier nicht erst zuletzt der christlichen Glaubenskultur, herausgegriffen und kombiniert werden und in ihrem Zusammenspiel doch auf eine spezifische Empfehlung hin zulaufen. Das Video impliziert unmittelbar ein favorisiertes Verständnis vom Christsein, das wie folgt gefasst werden kann: Christsein solle bestenfalls nach »Draußen« wirken, realisiere sich im verantwortlichen Handeln, in der Repräsentation eigener christlich-religiöser Überzeugen oder im Teilen von dem, wovon das Herz voll ist. In folgender Textpassage tritt diese grundsätzliche Stoßrichtung deutlich zu Tage: {01:51} {01:52} {01:54} {01:55} {01:58}

0036 0037 0038 0039 0040

genau so ist das bei uns christen wir sagen hey wir stehen für DEN GLAUBEN wir stehen dafür dass JESUS !UNS! liebt wir geliebt sind und wir dadurch weiter lieben und wir werden betrachtet von allen menschen die nicht christen sind und kucken okay

Die Empfehlung macht deutlich, dass die Darstellung der eigenen christlichreligiösen Überzeugung vor der Außenwelt im Idealfall nicht so viel von dem sichtbar machen soll, was das Christsein womöglich unattraktiv erschienen lässt. Zuallererst gehe es um die Inszenierung von Offenheit und Freiheit und um die Artikulation des Bemühens um Gemeinsamkeit und den Wunsch nach Besserem für andere. Dass auch in Bezug auf das Christsein manchmal mit Ermahnungen durch Mitchrist*innen zu rechnen ist oder Gefühle innerer Zurückhaltung bzw. Hemmung auftreten können, ist nicht ausgeschlossen. Es wird von Highholder nahegelegt, durch Nachdenklichkeit, Herzensbefragung und Selbstreflexion Klarheit über eigene Meinungen zu gewinnen, begründete Positionen zu teilen und für diese auch außerhalb des engeren Kreises vor deutlich kritischeren Beobachter*innen offen einzustehen, weil Christ*innen eben etwas zu repräsentieren haben und der Mund nicht schweigen soll, wovon das Herz übervoll ist. Klar ist, dass es eine einzelne Videoanalyse nicht leisten kann, das vollumfänglich zu erhellen, was für Highholder »Christsein« ausmacht. Zugleich zeigt aber der Vergleich des Analyseergebnisses mit einem Kurzinterview, in dem sie sich im Kontext eines Jugendfestivals dazu äußerte, was Christsein für sie bedeute, deutliche Parallelen. Der erste Satz ihrer spontanen Antwort beinhaltet ausnahmslos solche Elemente, die auch in der Videoanalyse prominent zum Vorschein kamen. Sie hielt fest:

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Christsein ist für mich so eine absolute Entschiedenheit für ein Leben mit Gott und dieser Entschiedenheit folgen meiner Meinung nach Taten. Das ist eine Herzenshaltung – du merkst schon, ich brenne davon, ich kann gar nicht anders quasi als das zu leben, sozusagen, und meinen Mitmenschen auch so zu begegnen.149

Das Herz als zentraler Ort spielt da wie dort eine große Rolle. Das im Video wiederholt begegnende Motiv des übervollen Herzens, das unabwendbar zum religiösen Ausdruck führt, wird in ihrem Statement auch durch die Schilderung aufgegriffen, dass sie »davon brenne« und gar nicht anders könne, als das zu leben. Der Verweis auf den Aspekt der Entschiedenheit, der im InterviewStatement konkret als Entschiedenheit für ein Leben mit Gott begegnet, war im Video ebenso als Entschiedenheit im Glauben, als eigene Positionierung und im Bemühen, zu einer nach außen vertretbaren Meinung zu finden, anzutreffen. Zudem durchzieht der Gedanke eines Sichtbarwerdens vor anderen bzw. vor Mitmenschen beide Texte: Im Video ging es konkret um das Wohl des Gegenübers, darum, sein »Besseres« im Blick zu haben, und um Repräsentation vor anderen. Im Interview betont Highholder die »herzliche« Begegnung mit ihren Mitmenschen. Die ausführliche Auseinandersetzung im Video mit Handlungen und moralischen Problemen konvergiert mit der im Interview artikulierten Sichtweise, dass Taten für sie entscheidend seien. Der Befund der Videoanalyse weicht also nicht grundlegend von dem ab, was Highholder andernorts übers Christsein ausführte.

Zusammenschau Die verschiedenen eingangs angeführten Sichtungen zum Christsein in der Gegenwart haben deutlich gemacht, dass einiges für den Befund Reiner Anselms spricht: Wo nach dem Christsein gefragt wird und Positionen zum Christsein dargestellt werden, begegnet vielfach Unsicherheit und Unklarheit. Es gibt eine Reihe an offenen Fragen und eine Vielzahl divergierender Antworten zum Thema. Die skizzierten Sondierungen zur Plattform gutefrage.net sowie die einschlägigen Videos auf YouTube belegen dies ebenso wie die kontroversen Herangehensweisen und Positionen der Fachkollegen Christian Grethlein und Michael Herbst. Selbst bei Jana Highholder, die nach ihrem Christsein gefragt umgehend Aussagen dazu trifft und im analysierten Video eine klare Empfehlung für eine spezifische Form des Christseins gibt, lässt sich ein hohes Maß an Unsicherheit und Unklarheit erkennen. Überzeugt von einem Christsein, das sich primär im entschiedenen Auftreten in der Außenwelt realisiert, macht es sie doch 149 PromisGlauben: Jana Highholder über kreatives Christsein, 2019, verfügbar unter: https:// youtu.be/z0p7GHVY8PA [30. 09. 2020], 00:51–01:05.

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äußerst nachdenklich, wenn das von ihr Gezeigte den Widerspruch anderer Christ*innen provoziert und im Kern verworfen wird. Folgende Passage im analysierten Video macht das beispielhaft deutlich: {04:07} {04:09} {04:11} {04:12} {04:14} {04:15} {04:17} {04:19} {04:22} {04:24} {04:25} {04:26}

0087 0088 0089 0090 0091 0092 0093 0094 0095 0096 0097 0098

{04:32} 0099 {04:34} 0100 {04:37} 0101 {04:38} 0102

ich hab auch STORIES gemacht und so und hab mir eines abends auch überlegt so HM postest du ein bild vom strand ich hab so ein bild von so nem schiff gemacht und ich fands ↑↑SUPER SCHÖN hab ich so zum papa gesagt so ich glaub ich mach das nicht nicht dass ich DAFÜR nachher gehatet werde und DAS war ein moment da war ich NICHT frei etwas zu tun was von meinem herzen aus völlig OKAY war ↑ich habs nicht gemacht und obwohl ich dieses bild !NICHT! gepostet habe kam am nächsten tag ne ↑super ↑super krass fiese nachricht in MEINEN PRIVAT MESSAGE ORDNER quasi ALLES was ich gerade mache ich nicht machen da::rf und das total ungöttlich ist und ich mich schämen sollte und so weiter und so fort und ich habe diese nachricht gele:sen und ich habe auch darüber nachgedacht

Highholder berichtet hier von einem Foto, das ihrer eigenen christlich-religiösen Überzeugung zufolge durchaus geteilt werden hätte können, dann aber aus Angst vor Hate Speech von ihr durch eine weniger anstößig erscheinende Version getauscht worden war; trotz dieser Entschärfung rief ihr Upload derart heftigen Widerspruch hervor, dass Highholder nachdenklich wurde und als Reaktion darauf ein eigenes Video zur Frage, was man als Christ oder Christin tun dürfe, produzierte – jenes Video, das hier analysiert wurde. Zur Unklarheit des Christseins und der damit zusammenhängenden Unsicherheit kommt ein weiterer Aspekt: Christsein erscheint strittig. Die Positionen auf gutefrage.net gehen teilweise in diametral entgegengesetzte Richtung. Antworten, die die Unklarheit über das Christsein beseitigen wollen, führen vielfach nicht zur Klarheit, sondern zu einer Masse an kontroversen Positionen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Auch im analysierten Video Highholders wird mehrfach Widerspruch im Verständnis des Christseins antizipiert, vor allem in moralischen Fragen (Saunagang, Nacktheit, etc.). Dazu kommt, dass es auf Highholders Positionierungen zum Christsein wiederholt öffentliche Kritik hagelte: Ich erwähne erneut die hitzige Debatte um ihr Frauenbild eines Videos zum Weltfrauentag. Dass mit Highholders Verständnis des Christseins eine führende Rolle des Mannes gegenüber der Frau einhergehe, konnten viele andere Christ*innen nicht akzeptieren. Man attestierte Highholder ein antiquiertes

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Frauenbild,150 eine »ultraalte-konservative Haltung«151 sowie »biblizistische und evangelikale Positionen«, die »theologisch weit weg vom evangelischen Mainstream«152 seien, sah in ihr eine Gefahr und forderte die Einstellung ihres Kanals. Den Kritiker*innen Highholders wurde ihrerseits »Mobbing«153 und »extrem schlechter Stil«154 vorgeworfen. Man hatte in der Debatte den Eindruck, dass »alle Flügel der evangelischen Kirche gleichzeitig auf ganz unterschiedliche Palmen«155 gebracht waren. Auf Twitter wurde daher die für unseren Zusammenhang aufschlussreiche Frage aufgeworfen, »ob die gut protestantische Streit- und Diskussionskultur auch unter digitalen Vorzeichen/auf neuen Medien funktioniert.«156 In der Tat scheint es eine Herausforderung für die gesamte christliche Glaubenskultur der Spätmoderne zu sein, Menschen zu unterstützten und zu begleiten, die ihrem Christsein genauer auf die Spur kommen wollen und um mehr Klarheit bemüht sind. Einschlägige Überlegungen hierzu wurden etwa im Bereich der Aszetik und der Theologie der Spiritualität bereits angestellt: Das Konzept der Geistlichen Begleitung scheint etwa durchaus gefragt zu sein,157 muss jedoch, um attraktiv zu bleiben, der spezifischen Art spätmoderner Auseinandersetzungen mit dem Christsein gerecht werden, was eine konfessionelle oder kirchliche Einhegung ausschließt. Innerhalb und außerhalb der institutionellkirchlichen Sphäre gilt es, eine bereits beobachtbare Kultur der Auseinandersetzung ums Christsein konstruktiv zu befördern. Zugleich geht es darum, in eine christlich-religiöse Debattenkultur einzuüben, die auch mit verschärften Konfliktlinien und heftigen Polarisierungen zwischen verschiedenen Modellen des Christseins umzugehen weiß. Dies gilt umso mehr, als nicht nur mit kosmopolitischen Öffnungen, sondern auch mit kulturessenzialistischen Schließungen zu 150 Merle Schmalenbach: Wen begeistert dieses Frauenbild?, 2019, verfügbar unter: https://bit. ly/36mcw6D [30. 09. 2020]. 151 Friederike Nordholt/Svenja Nordholt: Denn sie wissen nicht, was sie tun? Die EKD und das Projekt Janaglaubt, 2019, verfügbar unter: https://wortkollektiv.de/664/ [30. 09. 2020], 08:36– 08:40. 152 Hanna Jacobs: Die trojanische Influencerin, 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/2HH3U0d [30. 09. 2020]. 153 Jo (Pseud.): Tweet vom 02. 04. 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/2G4aPjP [30. 09. 2020]. 154 Niklas Schleicher (@megadakka): Tweet vom 01. 04. 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/36m yvL4 [30. 09. 2020]. 155 Erik Flügge (@erik_fluegge): Tweet vom 04. 04. 2019, verfügbar unter: https://bit.ly/3ij3GJe [30. 09. 2020]. 156 Dominik von Allmen (@Dominik_vAllmen): Tweet vom 03. 04. 2019, verfügbar unter: https:/ /bit.ly/2S9WV21 [30. 09. 2020]. 157 Vgl. Dorothea Greiner u. a. (Hg.): Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011; Klaus Kießling (Hg.): Geistliche Begleitung. Beiträge aus Pastoralpsychologie und Spiritualität, Göttingen 2010; Thomas Dienberg: »Geh deinen Weg vor mir …«. Geistliche Begleitung und Wegbegleitung, Münster 2020.

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rechnen ist.158 Wenn das Christsein wie andere Kulturgüter der Spätmoderne zunehmend singularisiert wird, damit den Logiken von Singularitätsgütern unterliegt und verstärkt auch in Social-Media-Kontexten verhandelt wird, ist zweifellos mit einer Emotionalisierung der Debatten und auch mit absoluten Differenzen zwischen den glaubenskulturellen Realisierungen bzw. Konkretisierungen des Christseins zu rechnen. Mehr denn je liegen Lebensformen im Widerstreit – dazu gehört auch die Auseinandersetzung um die Frage gelebten Christseins. Es gilt daher nicht nur Ambiguitätstoleranz, die Schlüsselkompetenz im Umgang mit Mehrdeutigkeit, einzuüben159 – sondern auch Konfliktmanagement im engeren Sinn.160 Ferner sind die Herausforderung einer Theology after Google konsequent anzugehen.161 Dazu gehört es, dass die zeitgenössische Theologie die christlich-religiöse Rede im digitalen Raum, wo Cultural Creatives die Singularisierung des Christseins vorantreiben, als zeitgenössischen Analysegegenstand mehr denn je ernstnimmt. Das bedeutet etwa für die Homiletik, die Engführung der Disziplin auf die kirchliche Kanzelrede zu überwinden. Was Christsein meint, wird nicht mehr primär auf den Kanzeln der Kirchen diskutiert. Die Arenen der Glaubenskultur, in denen man sich mit dem Christsein auseinandersetzt, liegen vielfach auch außerhalb kirchlich-gottesdienstlicher Kommunikationssettings. Modelle des Christseins werden zudem längst nicht mehr ausschließlich über kulturelle Elemente christlicher Glaubenskulturen hervorgebracht. Da fürs Christsein mimetische Kommunikationsformen jedoch weiterhin von Bedeutung sind, wäre es gewiss ratsam, die Christfluencer*innen und Sinnfluencer*innen der Spätmoderne stärker in den Blick zu nehmen. Zuletzt ist anzuerkennen, dass Christ*innen auch ohne institutionell-kirchliche Angebote und ohne konkrete Hilfestellungen durch professionelle Akteur*innen vielerorts bereits neue Modelle des Christseins hervorbringen und eine intensive Auseinandersetzung übers Christsein pflegen – durchaus auch mit Erfolg.

158 Vgl. Reckwitz: Zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus (s. Anm. 123). 159 Vgl. hierzu Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (Was bedeutet das alles?), Ditzingen 2018. 160 Vgl. Lauxmann: Wir müssen (s. Anm. 85). 161 Vgl. Clayton: Theologie und Kirche (s. Anm. 76), 26–43.

Rainer Lachmann

Theologie als Streitkultur in Geschichte und Gegenwart der Religionspädagogik?

Abstract In academic Religious Pedagogy (RP), theology as a culture of dispute is always mediated and dependent on its status in concrete concepts and contexts of RP. Historically, theology has always been particularly dispute-relevant in the history of RP, when in phases of crises and turning points it was attacked and questioned and, as supposedly outdated, had to give way to a new theology. As such, the culture of dispute was never a topic in RP, yet RP itself was again and again the scene of theological disputes, which sometimes could degenerate into a completely uncultivated terror of quarreling. Where theology still plays a role in RP today, its dispute and its culture of dispute take place in the multiple context of religious teaching, learning, and education, which is linked with the cultural sciences. Thus, theology is more or less suitably and cultivatedly exposed to the didactic claim of mediation. If it allows itself to do so, its dispute in content and form is ultimately subject to the RP basic measure of »communication of the gospel«.

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»Definitive« Annäherungen

Die Frage »Theologie als Streitkultur?« erlaubt religionspädagogisch keine direkte Antwort; ihr Weg führt immer über die Frage nach Stellung und Stellenwert der Theologie im jeweiligen Konzept oder Verständnis von Religionspädagogik, die, wo nicht anders vermerkt, immer auch den inhaltlichen Kernbereich der Religionsdidaktik miteinschließen. Angesichts der Realsituation des Religionsunterrichts am Lernort Schule, wie er in Deutschland und Österreich verfassungsrechtlich geregelt ist, setzen wir bezugswissenschaftlich voraus, dass es sich bei der Themafrage religionspädagogisch um Evangelische bzw. Katholische Theologie handelt, wobei vorliegender Artikel wie auf den Evangelischen Religionsunterricht so auch auf die Evangelische Theologie konzentriert ist. Des Weiteren nehmen wir an, dass aufgrund der Wortverbindung »Streitkultur« die Frage positiv konnotiert sein will und sie deshalb in gewisser Weise eine ideale Perspektive markiert, die auch religionspädagogisch von Belang sein dürfte. Gegebenenfalls könnte sie sich deshalb auch als durchaus kritischer

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Rainer Lachmann

Diskurs konstruktiv, kultiviert und zivilisiert im ideal perspektivierten Raum »herrschaftsfreier Kommunikation« abspielen. Nicht getrennt, aber unterschieden sei dieser idealen Hochform theologischer Streitkultur die Theologie als Streit an die Seite gestellt, was als das Normale dem theologischen Streiten faktisch, funktional und auch essentiell eigen ist und den theologischen »Alltag« ebenso bestimmen darf wie die wissenschaftliche Reflexion. Sie ist eher differenzorientiert und positionsbestimmt und findet ihre Streit-Grenze an Absolutsetzungen, die auch beim theologischen Wahrheitsstreit anzuerkennen ist. Beim normalen Streiten dominiert für gewöhnlich der innertheologische Streit, der freilich außerdisziplinären Streit nicht ausschließt, dann aber klar von apologetischem oder missionarischem Streit abgesetzt werden muss. Religionspädagogik dürfte es primär mit der normalen Ebene theologischen Streitens zu tun kriegen; in diesen Streit wird sie nicht zuletzt in didaktischer Hinsicht ihre eigenen Belange, Bedürfnisse und Maßgaben einzubringen suchen. Dabei wird sie nicht nur gelungene Streitkultur-Impulse religionspädagogisch fruchtbar machen, sondern auch vor streittheologischen Abartigkeiten, Gefährdungen und Verführungen auf der Hut sein. Denn neben der Theologie als Streitkultur und theologischem Streiten ist die Religionspädagogik noch einer hoch gefährlichen Ab-Art theologischen Streits ausgesetzt, die der Religionspädagogik ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit raubt und sie in und mit der Absolutheit unstrittiger Streittheologie zu fremdbestimmter Abhängigkeit »verdammt«, die ihr nur noch den Status praktischer Methodik belässt: In diesem Fall wird die Theologie als Streit oder Streit-Kultur gleichsam zum »Streit-Terror«, der andere, ihm fremde Auffassungen, Konzepte und Positionen nur noch bekämpft, verketzert und letztendlich vernichten will. Da zählt nur noch die eigene absolut gesetzte Wahrheit; ihr gegenüber fruchtet und lohnt kein Streit; er ist immer vergeblich und schon »ausgestritten«, bevor er überhaupt begonnen hat. Solcher »Streitterror« ist gefährlich, ja lebensgefährlich und, wie die Geschichte zeigt, immer erwachsend aus Absolutsetzungen von Ideologien und Religionen bzw. (fehlgeleiteten) Glaubensüberzeugungen. Die grausamen Ketzerverfolgungen in der Geschichte der Kirchen sind hier ein erschütternder Beleg vernichtenden Streitterrors, an dem auch bei bestem Willen kein Funke gelingender Streitkultur mehr zu entdecken ist. Als Teil des Systems haben die Kirchen und ihr Unterricht bis heute Anteil an den verschiedenen Spielarten theologischen Streits. Das müsste auch für die Religionspädagogik, die Theorie religiösen Lernens und Lehrens, und ihr Konkretum – in unserem Fall: den evangelischen Religionsunterricht an der Schule – gelten, vorausgesetzt die Theologie spielt für ihn und seine Didaktik überhaupt noch eine Rolle. Um die Titelfrage kompetent beantworten zu können, lohnt sich

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ein Durchgang durch die Geschichte des Religionsunterrichts und seine markanten Streitigkeiten im Wechsel und Wiederholung von den didaktischen Anfängen bis hinein in die theologisch-religionspädagogische Gegenwart und, daraus folgernd, eine religionspädagogische Antwortsuche auf die Themafrage.

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Theologischer Streit im Gründungsprozess wissenschaftlicher Religionsdidaktik

Wir beginnen nicht ohne Grund in der Zeit der Aufklärung, denn in ihr liegen die Wurzeln einer Religionsdidaktik im eigentlichen Sinne. Das verdankt sie einer Theologie, die offen und anschlussfähig ist für die Ansprüche und Erwartungen der neu erwachsenen pädagogischen Wissenschaft. Diese sinnigerweise »Neologie« genannte Theologie definierte Religion nach Joachim Spalding, einem ihrer Hauptvertreter, als »Angelegenheit des Menschen« und setzte damit ein theologisches Maß, das sich eindeutig gegen die ausschließlich dogmatisch ausgerichtete herkömmliche Theologie richtete. Theologischer Streit war hier vorprogrammiert, der umso heftiger ausfiel, als die herrschende orthodox lutherische Theologie so gut wie unbestritten war. Sie dominierte in der Wissenschaft ebenso wie in den Konsistorien und Schulstuben und orientierte ihr »Herrschaftswissen« ausschließlich am Maß der reinen lutherischen Lehre mit ihren Dogmen und konfessionellen Unterscheidungslehren. »Elementarisiert« nach lutherischem Genius fand das seinen maßgeblichen Ausdruck für den Religionsunterricht an den Schulen im »Kleinen Katechismus«, der auf allen Stufen regelrecht traktiert wurde.1 Für die Neologie wurde denn auch gerade der Katechismus symbolkräftiger Streitpunkt und vielsagende Angriffsfläche. Die dogmatisch abgeschottete »Katechetik« wurde von der Neologie aufgebrochen und über Sittenlehre, natürliche Theologie, Jesusethik und entdogmatisierten bzw. dogmatisch entkernten christlichen Unterricht geöffnet für Lebenswelt und menschliche Erfahrungen der Schüler und – durch aufgeklärte Predigten – der Christenmenschen insgemein. Die kirchlichen Dogmen mit ihrer diffizilen Dogmatik blieben aus neologisch verantwortetem Unterricht verbannt; sie passten nicht in ein »Bildungsbemühen«, das das religiöse Lehren und Lernen pädagogisch am Kind orientieren wollte und den Menschen ein »brauchbares« Christentum zu ver-

1 Vgl. Hans-Jürgen Fraas: Katechismustradition. Luthers kleiner Katechismus in Kirche und Schule (APTh 7), Göttingen 1971; Heidi Schönfeld: Bücher für den Evangelischen Religionsunterricht. Ein Beitrag aus den bayerischen Volksschulen im 19. Jahrhundert (AHRP 1), Jena 2005.

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mitteln suchte. Traditionelle Dogmen konnten dabei, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen. Die orthodox lutherische Theologie war traditionell beheimatet im Einflussund Machtbereich der verfassten Kirche und begrenzt, markiert und profiliert durch die Bekenntnisschriften und ihre theologischen Auslegungen systemkonformer Wissenschaft. Religionspädagogisch schlug sich das dogmatisch nieder im berühmten »Hutterus« und, wenn biblische Geschichten zum Unterrichtsgegenstand gehörten, vielleicht auch in den weit verbreiteten »Zweymal zweyundfünfzig Biblischen Historien« von Johann Hübner (1714ff.), die mit ihren Fragen und Antworten den dogmatischen Ansprüchen der Kirche genügten. Gradmesser theologischer Korrektheit und Botmäßigkeit war und blieb aber für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen Luthers »Kleiner Katechismus«. Wo dieser in seiner theologischen Wahrheit bestritten oder auch nur angefragt wurde, wie etwa bei den Philanthropen, gab es keine theologischen Diskussionen mehr, geschweige denn auch nur annähernd so etwas wie eine theologische Streitkultur oder auch nur normales Streiten; hier gab es nur Trennung und unversöhnlichen Ausschluss, wäre doch mit der Absage an den Katechismus gleichsam die gesamte lutherische Lehre und Dogmatik in ihrer absoluten Wahrheit verleugnet. Hier konnte es dann durchaus vorkommen, dass ein in seinem Amt sehr angesehener Stadtpfarrer, der eine im neologischen Geist verfasste Religionspädagogik geschrieben hatte, von seinen Amtsbrüdern der theologischen Ketzerei verdächtigt wurde. Das bedeutete theologischen Streit mit schlimmer Tendenz zum Streitterror, was letzten Endes dazu führte, dass dieser Pfarrer – es handelt sich um den berühmten Philanthropen und Religions-Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) – seinen Dienst quittierte und an Basedows Dessauer Philanthropin überwechselte.2 Dabei zeigte sich auch, dass die Kirchenleitungen und Konsistorien in der Regel mit dogmatischen Traditionalisten besetzt waren, die über Examina und Einstellung dafür sorgen konnten, dass kein »Bekennender« Neologe eine der so knappen wie begehrten Pfarrstellen bekam. Für die Schule galt das erst recht den »einfältigen Schulmeistern«, die dank der geistlichen Schulaufsicht und mangelnder Ausbildung ganz der berechnenden Geistlichkeit und ihrer, was den Unterricht betrifft, dogmatischen Katechismus-Fixierung ausgeliefert waren.3

2 Rainer Lachmann: Die Religions-Pädagogik Christian Gotthilf Salzmanns. Ein Beitrag zur Religionspädagogik der Aufklärung und Gegenwart (AHRP 2), Jena 2005, 55–64. 3 Heidi Schönfeld: Allerlei für einfältige Schulmeister/Pfaffen. Zwei Quellenschriften aus dem Jahr 1825 (AHRP 6), Jena 2008.

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So standen sich in der Aufklärung aus religionspädagogischer Sicht »unstreitbar« zwei Lager gegenüber, in der eine echte Gesprächskultur im Streit unterschiedlicher theologischer Auffassungen nicht einmal in bescheidenen Ansätzen möglich war. Wo ein theologisches Lager meint, mit seiner Dogmatik, seinen Lehrsätzen und Bekenntnisschriften auf der Seite der einzig richtigen Theologie zu stehen, kann es aus hoher Warte nur Verteidigung und Verurteilung geben. Dagegen konnte auch eine so mächtige Geistesströmung wie die Aufklärung wenig ausrichten, auch wenn sie ihr Maß der Vernunftgemäßheit ins Feld führte und als gesellschaftlicher Mainstream auch die Theologie nicht unberührt ließ. Als Neologie zeigte sie in den nicht-öffentlichen Schulen, Philanthropinen und Erziehungsanstalten zwar durchaus didaktische Wirkungen und Umsetzungen, blieb aber in der Regel aus dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen radikal verbannt. Die »Katechismus-Bastion« widerstand allen Versuchen neologischer »Didaktisierung«. Die kirchlich-konfessionelle Schulaufsicht vereitelte im Letzten jeden didaktisch gedeihlichen Streit um die »richtige« Theologie für gelingenden Religionsunterricht. Und wer, wie die Philanthropen, eine religionspädagogische Nische in beschränkter geistlicher Schulaufsicht gefunden hatte, der wollte diese Freiheit nicht gefährden und verzichtete auf einen laut geführten Streit mit der theologischen Schulmeinung und verwirklichte seine religionspädagogischen Vorstellungen in seinem Religionsunterricht vor Ort, wofür er dann, wie z. B. Chr. G. Salzmann, die entsprechenden Schulbücher selbst schrieb.4 Dabei konnte sogar eine kleine neologisch elementarisierte »Dogmatik« »Unterricht in der christlichen Religion« (Schnepfenthal 1808) herauskommen, sicher eine religionsdidaktisch höchst interessante, aber bereits späte Frucht im Dämmerlicht der Aufklärung.

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Verhinderter Streit in »verordneter« Theologie und Katechetik

Die theologischen Streitverhältnisse im religionspädagogischen Licht der Aufklärung zeigen die typische Konstellation einer widerstreitenden »Streitkultur«, die sich in wechselnden Dominanzen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verfolgen lässt. Mit der Spätaufklärung und letzten neologischen »Zuckungen« etwa in der Religionspädagogik eines Fr. A. W. Diesterwegs, der in seiner Elberfelder Zeit und Schule die fest gefügte Front reformierter Theologie und Erweckungsbewegung erfahren musste,5 versiegte der Aufklärungs-mächtige Strom neolo4 Rainer Lachmann (Hg.): Christian Gotthilf Salzmann. Religionsbücher (Schulbücher vom 18. bis 20. Jahrhundert für Elementar- und Volksschulen 6), Köln 1994. 5 Horst F. Rupp: Religion und ihre Didaktik bei Fr. A. W. Diesterweg. Ein Kapitel einer Geschichte der Religionsdidaktik im 19. Jahrhundert, Weinheim 1987, 93–97.

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gischer Theologie und Religionspädagogik immer mehr und verkümmerte zu einem kaum mehr wahr- und ernstgenommenen Rinnsal. Mitlaufend mit der politischen Restauration dominierte im Feld religiöser Erziehung und Unterweisung eine »kirchliche Katechetik« in unangefochtener und unhinterfragter Souveränität und theologischer Autarkie. Der unheilvoll schwelende Streit mit einer Theologie und Religionspädagogik, welche die Feste bekenntnistreuer konfessioneller Theologie und Kirchlichkeit zu bestreiten wagte, war siegreich ausgestanden und erlaubte eine relativ unbestrittene Herrschaft mit einem Unterricht, der endlich wieder mit »kirchlichem Geist« getauft war.6 Dass damit natürlich auch die Bekenntnisschriften und die konfessionskonforme Dogmatik und Theologie und – selbstredend für den Religionsunterricht – Luthers Kleiner Katechismus zum wesentlichen Maß theologischer Lehre und kirchlichen Unterrichts wurden und sich damit letzten Endes jeder theologische Streit erübrigte, war für Wissenschaft, Lehre und Leben Vorzug und Garantie ihrer kirchlichen Gebundenheit in Verbundenheit und Beheimatung. Diese gerade für den real existierenden Religionsunterricht, seine Lehrer und Ausbilder nicht nur kirchlich, sondern auch staatlich verordnete »Kultur« theologischer Streitlosigkeit (vgl. die berüchtigte Stiehlsche Regulative 1854) 7 fand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihr Ende, als sich mit der liberalen Theologie und in ihrem Gefolge der liberalen Religionspädagogik eine so mächtige Gegenbewegung und Neuorientierung auf dem theologischen und religionspädagogischen Markt entwickelten und vollzogen, dass die bis dato allein herrschende bekenntnisfixierte kirchliche Theologie und Katechetik aus ihrer absoluten Herrschaft an den Rand theologischer Bedeutsamkeit verbannt wurden.

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Religionspädagogisches Streiten in liberaltheologischer Offenheit

In der Wellenbewegung theologischer und religionspädagogischer Entwicklung gewannen jetzt wieder die aufklärerisch liberalen Kräfte die Oberhand und bescherten der Religionspädagogik – jetzt auch so benannt8 – einen geradezu radikalen Neuanfang, der ihr von der liberalen Theologie ermöglicht wurde. Befreit 6 Christian Palmer: Evangelische Katechetik, Stuttgart 61875, IV. 7 Horst F. Rupp: Vom Reichsdeputationshauptschluss bis zur Reichsgründung, in: Rainer Lachmann/Bernd Schröder (Hg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 2007, (128–166) 134–137, 158–160. 8 Vgl. Gerd Bockwoldt: Religionspädagogik, Stuttgart 1977, 9–11.

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aus den dogmatischen Fesseln und kirchlichen Rücksichten konnte sie jetzt wieder dem didaktischen Pol der Kindbeachtung und Gesellschaftsbezogenheit des religionspädagogischen Geschäfts wesentliche Aufmerksamkeit widmen. Einen nennenswerten Streit um die liberale Neukonzeption der Religionspädagogik gab es nicht; die Zeit war einfach reif für Wechsel, Aufbruch und Neuanfang, nicht nur auf dem Gebiet der Theologie und Religionspädagogik. Die religionspädagogischen Arbeiten der beiden namhaftesten liberalen Religionspädagogen Richard Kabisch und Friedrich Niebergall bestätigten das und entfalteten tatsächlich eine solche Wirkmächtigkeit, dass die kirchliche Katechetik scheinbar streitlos das Feld räumte und die liberale Religionspädagogik sich jetzt, gleichsam unbestritten, den Fragen religiöser Bildung und Vermittlung von »Religion« zuwenden konnte. Kabischs Werk »Wie lehren wir Religion?« (1910) trifft hier den Kernbereich liberaler Religionspädagogik, indem sie die »objektive Religion« qua »Lehrstoff des Religionsunterrichts« im Einklang mit der liberaltheologischen Auffassung inhaltlich reduzierte, dogmatisch entkernte und – das Wichtigste – dem Ziel aussetzte und unterstellte, auf Seiten der Schüler »Erlebnisse zu schaffen«, um »im evangelisch-christlichen Sinne« an den gelehrten Inhalten »subjektive Religion zu erzeugen«.9 Das lässt nicht nur den fundamentalen Unterschied zur herkömmlichen Katechetik deutlich werden, indem es gleichsam einen didaktischen Herrschaftswechsel anzeigt, sondern es demonstriert zugleich die konzeptionelle Offenheit der liberalen Religionspädagogik für andere Wissenschaften, die religionsunterrichtlich Gewinn versprechen: hier für die junge Wissenschaft der Psychologie, die sich der inzwischen gedeihlich weiterentwickelten Pädagogik (Spätherbartianer!) bereichernd beigesellt. Beziehen wir in dieser Hinsicht gleich das religionspädagogische Werk von Friedrich Niebergall mit ein, so ist mit seiner praktisch-theologischen Orientierung am »modernen Menschen« und seiner Welt sowie dem Interesse an der Großstadtjugend in Ansätzen auch die Soziologie schon im Blickfeld liberaler Religionspädagogik. Und hier gewinnt die Frage nach Theologie als Streitkultur dann eine ganz eigene religionspädagogische Dimension. Sie sucht im strittigen Miteinander mit der Bezugswissenschaft nicht zuerst nach dem, was vielleicht grundsätzlich kontrovers ist, sondern nach dem, was didaktisch anschlussfähig ist und die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen und Meinungen der fremden Wissenschaft überhaupt erst lohnt. Für die liberale Religionspädagogik wäre demnach »Streitkultur« primär didaktisch buchstabiert und auf Vermittlung angelegt, nicht aber auf Konfrontation, Ausgrenzung und Verurteilung. Dass in diesem didaktischen Vermittlungsprozess bei Kabisch die »gebrauchte« Psy9 Richard Kabisch/Hermann Tögel: Wie lehren wir Religion?, Göttingen 71931, 99.

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chologie weit mehr ist als eine bloße Hilfswissenschaft, ist unstrittig und schuldet sich der Menschen- und Welt-offenen Grundstruktur liberaler Theologie, die dogmatisch weniger scharf profiliert ist und sich deshalb schwer tut mit theologisch klarer Begrenzung oder gar Ausgrenzung. Signifikant wird das z. B. an dem liberalen Religionspädagogen Hermann Tögel, der Kabischs Werk 1931 in »siebenter, gänzlich neu gestalteter Auflage« herausbringt und dabei letztendlich bei einem »Deutschen Religionsunterricht« landet, der nicht nur in der Behandlung bestimmter (»germanophiler«) Stoffe besteht, sondern im »Grundsatz« den »ganzen Unterricht durchdringen soll«.10 Auch Friedrich Niebergalls religionspädagogisches Werk ist nicht ganz frei von Spuren der Anpassung an deutschchristliche Religionspädagogik, bleibt aber im Wesentlichen seinem liberaltheologischen Konzept treu.11 Trotzdem hätte man sich von ihm und seinen Mitstreitern in der Reihe liberaler Religionspädagogik im Streit um »Germanenglaube« und deutschchristlichen oder deutschvölkischen Religionsunterricht, der in den 20er Jahren z. B. in den »Monatsblättern für den Evangelischen Religionsunterricht« ausgetragen wurde, eine theologisch weit entschiedenere Abgrenzung von solch gefährlichen religionspädagogischen Entwicklungen gewünscht. Dies aber verhinderte eben gerade die dogmatisch so niederschwellig offene Position und Konzeption der liberalen Religionspädagogik, die mit ihrem an (An-)Passung interessierten, freiheitlichen Wesen immer in der Gefahr stand, sich im theologischen Streit zu verlieren und unterzugehen.

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Streit als radikaler Abbruch im Umbruch

Doch nicht dieser Streit besiegelt den recht abrupten Abgang der liberalen Religionspädagogik von der religionspädagogischen Bühne. Nein, kein schleichend infektiöser Streit, sondern ein völlig überraschender Streit überfällt die liberale Religionspädagogik und provoziert auf ihrer Seite zunächst nur radikale Ablehnung, Abgrenzung, Verwerfung – gepaart mit einer gehörigen Portion Überheblichkeit und Herablassung und gespeist aus der festen Überzeugung, theologisch und religionspädagogisch ein gut bestelltes Konzept aufweisen und vertreten zu können. Es ist der Neuaufbruch der Dialektischen Theologie, der in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts der liberalen Religionspädagogik einen massiv theologisch bestimmten Streit geradezu aufzwingt. Und damit vollzieht sich im theologi10 Kabisch/Tögel: Wie lehren wir Religion? (s. Anm. 9), 284–302. 11 Vgl. Rainer Lachmann: Religionsunterricht in der Weimarer Republik. Zwischen liberaler und deutscher Religionspädagogik (STh 12), Würzburg 1996, 75–87.

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schen Streitgeschäft tatsächlich ein bemerkenswerter Rollentausch: Nicht mehr ein theologisch orthodoxes Modell »verketzert« ein liberales, sondern umgekehrt ein liberales religionspädagogisches Konzept »verketzert« die Anfänge neoorthodoxer Theologie und Religionsdidaktik. Dieser Rollentausch müsste die liberale Religionspädagogik eigentlich an ihren eigenen Ursprung erinnern. Auch deshalb brandet in der wissenschaftlichen Diskussion ein Streit auf, wie ihn die liberale Theologie und Religionspädagogik in den Jahren ihrer beinahe unangefochtenen religionspädagogischen Theorie und Praxis noch nicht erlebt hat. Er trägt zwar so gut wie alle Facetten theologischen Streits an sich, entwickelt aber sehr bald ein Maß an Heftigkeit und Kompromisslosigkeit, welches die Grenzen ausgewogener Streitkultur und theologischen Streitens gelegentlich in Richtung verketzernder Verunglimpfung zu überschreiten droht. Vor allem die liberale Religionspädagogik steigert sich hier hinein in StreitVoten von übertreibender Schärfe und Einseitigkeit. Da kann es etwa heißen: »Entweder Barth oder Religionspädagogik!«, »Rückfall in theologische Barbarei«, »Erledigung des Religionsunterrichts«, »eine für die psychologische Pädagogik unfaßliche Rücksichtslosigkeit dem Kinde gegenüber« und vor allem »völlig ungeeignet für den realen schulischen Religionsunterricht!«12 Letzteres ist denn auch das Fazit Tögels nach gründlicher Auseinandersetzung mit »dialektischer Theologie« und ersten Versuchen »dialektischer Religionspädagogik« bzw. »dialektischen Religionsunterrichts«13 und da ist er sich völlig einig mit seinem »Kollegen« Friedrich Niebergall, der die Dialektische Theologie anfangs in arroganter Überheblichkeit als typische »Nachkriegstheologie«, ja »Nachkriegspsychose« meinte abtun zu können,14 sich dann aber in einem ganz frühen Produkt argumentativen Streits mit einer »an der dialektischen Theologie orientierten Religionspädagogik« intensivst auseinandersetzte und eine Entgegnung präsentierte, die in Argumentation und Streitkultur vom Feinsten ist, was liberale Religionspädagogik zu bieten in der Lage war:15 Kompromisslos wird vor allem die inhaltliche Beschränkung des Religionsunterrichts auf die »Gnade Gottes in Christus … samt der furchtbaren Weltsünde« kritisiert, wird im demonstrativ-liberaltheologischen Verweis das viele Gute in der Menschennatur herausgestellt und wird, darauf bezogen, die Weite und Vielfalt der religionsunterrichtlichen Inhalte betont und deshalb die exklusive Festlegung auf »den Weg der Verkündigung an die Schüler« »als völlige 12 Käbisch/Tögel: Wie lehren wir Religion? (s. Anm. 9), 312–314. 13 Käbisch/Tögel: Wie lehren wir Religion? (s. Anm. 9), 318–319. 14 Friedrich Niebergall: Der Neue Religionsunterricht 4. Pädagogische Religionsphilosophie, Langensalza 1930, 127. 15 Vgl. Andrea Schulte: Welt als Thema der Religionspädagogik. Der Beitrag Friedrich Niebergalls (ThST 12), Waltrop 2002. Hier ist die ursprünglich in MERU 23 (1939), 134–141 veröffentlichte Entgegnung Niebergalls neu abgedruckt und kommentiert.

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Verkennung der Aufgabe der Schule« entschieden abgelehnt. Natürlich durfte und konnte in diesem Streitdokument auch die psychologische Komponente liberalen Religionsunterrichts nicht ausgeklammert bleiben, die gegen die Unterstellung einer Psychologisierung des Unterrichts »ganz einfach« als »methodische Sache« relativiert und abgetan wird. Dieses glänzende »Leuchtfeuer« liberaler Streit-Argumentation, das uns Friedrich Niebergall zwei Jahre vor seinem Tod geboten hat, bildet gewissermaßen das »Schluss-Licht« dieser religionspädagogischen Konzeption. Noch einmal wehrt sie sich stolz gegen »die rein deduktiv und mit großem Pathos« erhobenen Forderungen einer neu am Horizont auftauchenden katechetischen Konzeption, die »weder in dem Wesen des Christentums, noch in dem der Schule, noch in dem der Jugend« einen Grund hat!16 Wie ein »Credo« werden hier noch einmal die drei für die liberale Religionspädagogik tragenden Säulen benannt, die uns Nachgeborene nicht nur an die neologischen Vorstellungen erinnern, sondern in verblüffender Ähnlichkeit auch an die Argumente, die uns dann im Prozess unserer Ablösung und Abwendung von der dialektischen, bzw. kerygmatischen Religionspädagogik bestimmt hatten. Ab 1930 aber wurden diese Argumente liberaler Religionspädagogik erst einmal in unfassbarer Schnelligkeit und Mächtigkeit geradezu hinweggefegt. Es genügte ein Jahrzehnt Streit und die religionspädagogische Seite liberaler Theologie, die etwa ein halbes Jahrhundert relativ unstrittig die religionsunterrichtliche Szene beherrschte, war gestürzt. Im Zuge der pädagogischen, didaktischen und psychologischen Integration in die liberale Religionspädagogik war kein grundsätzlicher Streit entbrannt; sie wurde von Friedrich Niebergall als methodische Hilfe erklärt und ausgegeben, die den Wesenskern des Christentums, dem sie theologisch-inhaltlich in ihrem Unterricht verpflichtet war, nicht berührte und nichts anhaben konnte. Vielleicht waren die liberalen Religionspädagogen hier zu naiv oder so »wesentlich« gebunden, dass sie schon die ganz frühen Vorwürfe gegen die Pädagogisierung, Didaktisierung und Psychologisierung nicht ernst genug nahmen. Mit voller Wucht und Breitseite neuorthodoxer Theologie wurden sie getroffen und die Theologie als Streitkultur, die Niebergall in seinem Streit noch sehr stolz und selbstbewusst als liberaler Theologe pflegte und argumentativ verkörperte, fand jetzt keinen Widerhall mehr. Inskünftig wurde die liberale Religionspädagogik keines echten theologischen Streites mehr gewürdigt. Wo überhaupt noch erwähnt, war sie schwarze Folie, auf der die kerygmatische Religionspädagogik umso mehr erstrahlte; diese allein wähnte sich im Besitz der theologischen Wahrheit, der sich auch das katechetische Geschäft in Theorie und Praxis zu fügen hatte. In der Wellenbewegung religionspädagogischer Entwicklung war die kirchliche Katechetik in der Gestalt 16 Schulte: Welt als Thema der Religionspädagogik (s. Anm. 15), 141.

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der Verkündigungskonzeption aus dem tiefen Tal der Bedeutungslosigkeit und Nichtachtung oder gar Verachtung wieder durch die dialektische Theologie auf den Wellenkamm gefragter Bedeutsamkeit und unumgänglicher Beachtung gespült worden.

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Streitlosigkeit dank theologischer Absolutsetzung und Autarkie

Unter den unmissverständlichen Namen bzw. Firmierungen Verkündigungskonzeption, Evangelische Unterweisung oder Kerygmatische Religionspädagogik erschien in der Folgezeit der 30er Jahre eine Vielzahl katechetischer Werke, die sich alle auszeichneten in ihrer Abhängigkeit von der Dialektischen Theologie und dabei besonders in ihrer Barthschen Prägung. Und hier wiederholte sich in strukturell konzeptioneller Hinsicht eine Entwicklung, die wir schon im 19. Jahrhundert beim religionspädagogischen Herrschaftswechsel von der aufklärerischen Religionspädagogik zur kirchlichen Katechetik beobachten konnten: Wechsel zur absoluten Dominanz einer (neu) orthodoxen Theologie und daraus abgeleitet und darin begründet eine in allen Belangen theologisch abhängige kirchliche Katechetik. Für die Evangelische Unterweisung bedeutete das Reduktion der Inhalte auf Bibel, Katechismus und Gesangbuch, Betonung des kirchlichen Charakters, Nichtbeachtung der Schule als eigenständigen Lern- und Erziehungsort, Vernachlässigung der Bezugswissenschaften bzw. ihre Degradierung zu bloßen Hilfswissenschaften und schließlich – als Bündelung und Versiegelung des Ganzen – die Verkündigung des Wortes Gottes im Unterricht als Ruf und Entscheidung zum Glauben. Und wie stand es in diesem katechetischen Konzept mit der Theologie als Streitkultur? Wie bei der orthodoxen Theologie und Katechetik vor etwa 100 Jahren erübrigte sich auch bei dem Verkündigungskonzept das theologische Streiten und Rechten um die Wahrheit, denn die war unbestreitbar vorgegeben und erlaubte höchstens in diesem Rahmen so etwas wie eine domestizierte Streitkultur im Unterricht, die gute und gekonnte Evangelische Unterweisung in den Oberklassen der Schule ab und an wohl auch erreichen konnte.17 Ansonsten blieb der Religionsunterricht fixiert auf die Bibel und ließ in der Regel keinen Platz für echte Streitgespräche. Die waren aus dem Unterricht ausgeklammert, sieht man von gelegentlichen Anwandlungen ausgrenzenden oder verketzernden Streitterrors ab, die sich in konfessioneller Beziehung oder bei der (seltenen) Beschäftigung mit Fremdreligionen durchaus auch einmal einschleichen konnten. 17 Vgl. Gerhard Büttner (Hg.): Die Praxis der Evangelischen Unterweisung. Neue Zugänge zu einem »alten Konzept« (AHRP 3), Jena 2004.

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Als würde sich Geschichte wiederholen, war die Theologie wie in der orthodoxen so auch in der neuorthodoxen Religionspädagogik so unbestritten, dass in ihr Streit keinen wesentlichen Platz inne hatte. Als sog. Theologisches AutarkieModell genügte die dialektische Religionspädagogik sich selbst, ist abgegrenzt, ja abgeschottet gegenüber der Welt und Gesellschaft, in der die Kinder und Jugendlichen lebten und ihre Erfahrungen machten. Deshalb spielen auch die Humanwissenschaften in diesem religionspädagogischen Konzept nur eine untergeordnete, sehr randständige Rolle. Hier überwiegt – und das ist typisch für dieses theologisch dominierte Konzept – die Angst vor einer Pädagogisierung oder Psychologisierung des Evangeliums. Auch von daher war keine Wahrnehmung der Ansprüche und Rechte des Kindes im Jahrhundert des Kindes zu erwarten.

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Verkündigungs-Streit im Vorfeld religionspädagogischen Streitkarussells

Die unbestrittene Herrschaft der Dialektischen Theologie in der Kerygmatischen Religionspädagogik, die im Wesentlichen theologische Streitlosigkeit beschert hatte, schien auch im sog. Hermeneutischen Religionsunterricht ihre Fortsetzung zu finden, hielt dieser doch noch wie selbstverständlich am bibelorientierten Religionsunterricht fest. Doch das täuschte, denn das neue hermeneutische Konzept war eine erste Absatzbewegung von der Verkündigungskonzeption und ihrer Theologie, die leise und ohne großen Streit und offenen Bruch über die hermeneutische Schiene neue religionspädagogische Bahnen erschloss. Streitobjekt des hermeneutischen Wandels wurde ausgerechnet der Verkündigungsbegriff, der für die Kerygmatische Religionspädagogik nicht etwa nur methodische Relevanz hatte, sondern hochgradig theologisch aufgeladen war, weil er wesentlich der Wort Gottes Theologie entsprach, die er didaktisch-methodisch passgenau umzusetzen versprach. Deshalb war die Infragestellung, ja Ablösung und Aufkündigung des Verkündigungsbegriffs durch Martin Stallmann 1958 durchaus kein religionspädagogisches »Adiaphoron«, sondern traf einen Kernbereich der Kerygmatischen Religionspädagogik und eröffnete einen ersten echten und lebhaft geführten Streit um »Kerygma und Katechese«, der hermeneutisch dimensioniert war und mit seinem didaktischen Programm »Auslegung und Verstehen« statt »Verkündigung und Glauben« eine neue Konzeption entstehen ließ.18 18 Martin Stallmann: Christentum und Schule, Stuttgart 1958; Wolfgang Langer: Kerygma und Katechese. Theologische und didaktische Neubegründungen des Bibelunterrichts (SK 7), München 1966.

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Im gleichen Jahr wie Stallmann erweckte und erschreckte Hans Stock die bibeltreue Katechetik, indem er für den Religionsunterricht mit der historischkritischen Bibelexegese ernst machte und Bultmanns Programm existentialer Interpretation an den neutestamentlichen Evangelien didaktisch so überzeugend wie anstößig vorstellte.19 Hier holte er gleichsam den erbittert geführten Streit dieser Jahre um die sog. Entmythologisierung in die Religionsdidaktik hinein und partizipierte mit seiner propagierten Bultmannschen Bibelinterpretation am Streit »Kein anderes Evangelium«. Gert Otto glättete hier scheinbar noch einmal die sich auftürmenden Wogen im Streit um bibelgläubige Auslegung, indem er sie hermeneutisch und didaktisch beredt ummantelte und daraus eine religionspädagogisch so stringente bibelorientierte Konzeption entwickelte, dass der radikale Bruch und Streit mit der Kerygmatischen Religionspädagogik noch ausblieb.20 Wie es die Geschichte religionspädagogischen Streitens so schreibt, war es dann gerade Gert Otto, der diesen Bruch am entschiedensten vollzog. Aber mit seiner sanften Wandlung von der Evangelischen Unterweisung zu einem Hermeneutischen Religionsunterricht war Otto noch knapp ein Jahrzehnt entfernt von diesem radikalen Bruch mit seinem Streit um Stellung und Stellenwert der Theologie für die Religionspädagogik. Jetzt 1961 öffnete er mit seiner Reflexion über die »Grundfragen des Unterrichtens« das Tor, um der Pädagogik und Didaktik Wolfgang Klafkis religionspädagogischen Eingang zu gewähren. Noch ganz behutsam und eifrigst bemüht, die dominierende und regulierende Sachexegese nicht an die Didaktik zu verraten, wird dann von Hans-Werner Surkau Klafkis bildungstheoretisch begründete »Didaktische Analyse« als »Didaktische Meditation« religionsunterrichtlich integriert, ohne dass sich dagegen nennenswerter Protest erhoben hätte.21 So konnte denn auch bald der Pädagoge Hans-Karl Beckmann die Frage stellen »Exegese oder didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung?«, um dann als Antwort der »Didaktischen Analyse« im religionspädagogischen Auslegungsprozess Priorität einzuräumen.22 Hier hat sich gegen die bibeldidaktisch unbestrittene Dominanz der Evangelischen Unterweisung – fast unwidersprochen oder eher unbemerkt – der erste

19 Hans Stock: Studien zur Auslegung der synoptischen Evangelien im Unterricht, Gütersloh 1959. 20 Gert Otto: Schule, Religionsunterricht, Kirche. Stellung und Aufgabe des Religionsunterrichts in Volksschule, Gymnasium und Berufsschule, Göttingen 1961. 21 Hans-Werner Surkau: Vom Text zum Unterrichtsentwurf (HGA 31/32), Gütersloh 1965, 48– 55. 22 Hans-Karl Beckmann: Exegese oder didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung für den Religionsunterricht, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 21 (1969), 397–607.

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Zug einer »Didaktisierung« des Evangeliums vollzogen, der alle Streit-Glocken hätte läuten lassen müssen. Wehret den Anfängen! Und tatsächlich: Es wird vor »einem Rückfall in einen historisierenden, psychologisierenden und moralisierenden Religionsunterricht kulturprotestantischen Stils« – also vor dem Schreckgespenst liberaler Religionspädagogik – gewarnt und als »Abwehr die Evangelische Unterweisung als Lehrgestalt der Verkündigung« beschworen, um dazu den jungen Religionsphilologen Karl-Ernst Nipkow auf den Plan zu rufen. Dieser präsentiert dann auch – als erstes Produkt seiner berufslänglich erfolgreichen Vermittlungskunst – eine Streit-schlichtende und ausgleichende Lösung für einen gefühlten religionspädagogischen Schwelbrand, der zu entflammen droht: »Er sieht Evangelische Unterweisung und Religionsunterricht in einem dialektischen Einschränkungs- und Ergänzungsverhältnis. Jede Seite ist das Korrektiv des anderen«.23 Immerhin geben die Herausgeber des 1962 erschienenen Büchleins zu, dass Nipkow »mit Recht das Augenmerk der Verantwortlichen auf das vernachlässigte Gebiet der Psychologie und Soziologie lenkt« und, wie zu ergänzen, der Pädagogik, der religionspädagogischen Bezugswissenschaft, für die Nipkow als studierter Experte auch steht. Ungewöhnlich ist, dass Nipkow den von ihm favorisierten »evangelischen Religionsunterricht« definiert als »evangelischen Glaubensunterricht«, in dem das »Thema des Glaubens« im Zentrum steht. Denkt hier der Vermittler und Streitschlichter vielleicht schon über den rein bibelorientierten Unterricht hinaus und zentriert ihn zukunftsorientiert in Richtung eines Glaubensunterrichts in unserer säkularen Welt?

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Theologischer Streit im religionspädagogischen Wechselfieber

Mit der religionspädagogischen Krise und Wende Ende der sechziger Jahre bricht der Damm und die Kerygmatische Religionspädagogik und der Hermeneutische Religionsunterricht werden hinweggeschwemmt. Sie tun einen tiefen Fall ins Tal der historischen Wellenbewegung, aus dem vor allem die Verkündigungs-Konzeption mit ihrem absoluten theologischen Herrschaftskonstrukt nie wieder herausfinden dürfte. Sie wird wie auch der Hermeneutische Religionsunterricht abgelöst durch eine religionsunterrichtliche Phase, in der alles Herkömmliche radikal in Frage gestellt und allenthalben Streit provoziert wird: Streit überall und über alles, ja, Streit wird geradezu zum bezeichnenden Signum zweier Jahrzehnte evangelischer Religionspädagogik in der Bundesrepublik Deutschland.

23 Karl Ernst Nipkow: Evangelische Unterweisung oder evangelischer Religionsunterricht? (Neue pädagogische Bemühungen 4), Essen 31967, 5–6.

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Und was da losbrach an Streit, war in vielen Fällen weit entfernt von gepflegter wissenschaftlicher Streitkultur und das besonders dann, wenn die Theologie mit im Spiel war, auf dem Spiel stand. Denn diese und der von ihr dominierte Religionsunterricht mussten nicht zu Unrecht herhalten als Hort und Muster überholter Tradition und beliebtes Feindbild, an dem sich die neuen leitenden Interessen und Ideen der Emanzipation und herrschaftsfreien Kommunikation abarbeiten konnten und gütlich taten. Und diese bestimmten nicht zuletzt auch den Streit in Theologie und Religionspädagogik. Als ein wichtiges Fanal religionspädagogischer Wende und kritischen Streits kann der Vortrag »Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen« gelten, den Hans-Bernhard Kaufmann 1966 in Loccum erstmals hielt.24 Hier war allein mit der Frage schon ein religionsunterrichtliches Tabu gebrochen und die unhinterfragt selbstverständliche bibelorientierte Religionspädagogik in Frage gestellt. Nicht etwa, dass Kaufmann die Theologie als wesentliches Elementum evangelischen Religionsunterrichts angezweifelt hätte. Nein, er wollte nur die Dominanz der Biblischen Theologie und der Biblischen Geschichte(n) reduzieren und öffnen für Inhalte aus der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen und, damit verbunden, für eine Systematische Theologie plädieren, die diese Inhalte dogmatisch und ethisch bedenkt und unterrichtlich elementarisiert. Dass mit dieser Einbeziehung von Gegenwartsfragen und -problemen natürlich auch eine Öffnung hin zu den Humanwissenschaften gegeben und gefordert war, steht außer Frage und verlangt eine Systematische Theologie, die nicht wie die herkömmliche Dogmatik primär an den Bekenntnisschriften und religionsunterrichtlich am Katechismus orientiert ist, sondern die aktuelle Lebensthemen und -probleme im Lichte christlicher Dogmatik und Ethik bedenkt und so bearbeitet und vorbereitet, dass daraus didaktisch verantwortete Inhalte des Religionsunterrichts werden konnten. Dieser vielfach veröffentlichte Vortrag, dem bald eine Fülle an streitlustigen und streitbaren Aufsätzen, Verlautbarungen, Proklamationen, Vorträgen und Diskussionen folgen sollten, wirkte fast wie eine Erweckung der Religionspädagogik und beflügelte sie zu einer kreativen Phantasie, die neue religionsunterrichtliche Konzepte wie Pilze – essbare, ungenießbare und giftige – aus dem Boden schießen ließ – etwas, was in der langen Geschichte der Katechetik und Religionspädagogik einmalig sein dürfte. Doch diese Vielzahl neuer konzeptioneller Kreationen kam in seiner ersten Phase dem Religionsunterricht nicht unbedingt zugute, sondern provozierte Streit, in dem die Theologie immer mehr oder weniger involviert war. »Religi24 Hans-Bernhard Kaufmann: Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen?, in: Gert Otto/Hans Stock (Hg.): Schule und Kirche vor den Aufgaben der Erziehung. Festschrift für Martin Stallmann, Hamburg 1968, 79–82.

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onsunterricht wohin?« fragte Klaus Wegenast 1971 und ließ ein reiches Panoptikum neuer religionsunterrichtlicher Vorstellungen antreten und sich vorstellen.25 Und hier wurde dann wirklich gestritten, weil alles strittig war und jeder in der Euphorie der konzeptionellen Gründerjahre auch überzeugt war, den einzig richtigen Weg zur Neubelebung schulischen Religionsunterrichts gefunden zu haben. Hier dominierte in den ersten Jahren nach der Wende einmal mehr das Prinzip der »Ausschließlichkeit«, wie es die Geschichte der Religionspädagogik – nicht zu ihrem Vorteil – immer begleitet hatte und von dem man sich offensichtlich auch im Lichte kritischer Relativierung und Emanzipation nicht so einfach befreien konnte. In der akuten Streitphase der religionspädagogischen Krise und Wende der Endsechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde religionspädagogisch die vorgängige Frage nach Stellung und Stellenwert der Theologie akut, denn um sie als Bezugswissenschaft des Religionsunterrichts erstreckte sich der Streit bis hin zu Konzeptionen, in denen die christliche Theologie keine oder nur noch eine marginale Rolle spielte. Dass hier gerade der Streit um die »Theologie als Streitkultur« besonders intensiv ausfallen konnte, das zeigte sich etwa am gesellschafts- und religionskritischen Religionsunterricht«, jenem Konzept, mit dem – wie gesagt – Gert Ottos religionspädagogische Karriere endete. Hier wurde z. B. heftig und zeitweise auch giftig um Ottos Religionsverständnis gerungen und nach theologischen Ansätzen oder Resten gesucht, die diesem Konzept noch einen Platz im Rahmen christlichen Religionsunterrichts an unseren Schulen ermöglicht hätte, was G. Otto in geschliffener »Streitkultur« und behaupteter Kontinuität mit seiner einstigen Hermeneutischen Religionspädagogik behauptet haben würde.26 Theologisch anders lag das religionsunterrichtliche Streiten bei der Konzeption, die Kaufmann mit seinem Vortrag in Loccum ins religionsdidaktische Rollen gebracht hatte. Daraus entwickelte sich neben anderem der sog. Problemorientierte Religionsunterricht, der eine Theologie brauchte, die möglichst passgenau den Problemen und Erfahrungen der Schüler und Schülerinnen entspricht, um damit theologisch und pädagogisch ausgewiesen zu sein. Das erinnert an die Anfänge moderner Didaktik in der Aufklärung, als sich Ansprüche der Pädagogik mit der Neologie zu einem in ihrer Weise erfolgreichen religionspädagogischen Konzept vereinigten.

25 Klaus Wegenast (Hg.): Religionsunterricht – wohin? Neue Stimmen zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Gütersloh 1971. 26 Rainer Lachmann: Religionspädagogische Wandlungen als wissenschaftliches und ethisches Legitimationsproblem, in: EvErz 33 (1981), 88–94; vgl. auch ders.: Es ist nicht »alles ganz eitel«, spricht der Weise. 50 Jahre Religionspädagogik – autobiographisch dokumentiert und kommentiert (AHRP 12), Gera 2019, (127–140) 135–140.

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Zwei Jahrhunderte später heißt das Zauberwort »Korrelation«, das mit dem problemorientierten Religionsunterricht der Religionsdidaktik und damit der Theologie aufgegeben war. Gesucht ist eine Theologie, die ohne Verrat am Evangelium bzw. bei Wahrung christlichen Wesensgehaltes anschlussfähig ist zu den Themen und Fragen, die im Religionsunterricht angesprochen werden sollen. Hier ist dann die Theologie gefordert und muss ihre Dogmatik und Ethik so elementarisieren, dass sie an Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ihre theologischen Inhalte verifiziert und so auf Augenhöhe die Fragen und Probleme mit ihren christlichen Antworten und Lösungen vermittelt. Dass einer solchen didaktisierten Theologie eine sehr anspruchsvolle Aufgabe zufällt, steht außer Frage und machte denn auch die »Korrelation« zu einem nicht nur didaktisch, sondern auch theologisch so unverzichtbaren wie umstrittenen oder gar bestrittenen Leitbegriff theologisch verifizierter Didaktik. Unter dieser Prämisse war es nicht damit getan, in hilflosem Rückgriff auf das Erbe der religionsunterrichtlichen Bibelorientierung die biblische Tradition zum Steinbruch für die Lösung der Probleme zu degradieren. Gegen eine solcherart missverstandene Korrelation müsste sowohl theologisch wie didaktisch entschieden protestiert werden und im gemeinsamen Interesse einer theologischen Didaktik und didaktischen Theologie eine Korrelation propagiert werden, die wesentliche Inhalte christlichen Glaubens mit menschlichen (Grund-)Erfahrungen, Problemen, Fragen, Nöten und Freuden passend in Beziehung zu setzen weiß und darüber theologisch wie anthropologisch verifizierte Voraussetzungen schafft für einen korrelativ gelungenen problemorientierten Religionsunterricht. Hier waren Weichen gestellt und Forderungen erhoben für die Zukunft eines Religionsunterrichts, für den sich didaktisch sensibilisierter gepflegter Streit von Systematischer Theologie mit im weitesten Sinne pädagogischen Ansprüchen, Wahrnehmungen und Voraussetzungen lohnt und auszahlt. War so mit der aus der religionspädagogischen Krise erwachsenen problemorientierten Konzeption eine zukunftsweisende Perspektive eröffnet und angestoßen, so entwickelte sich ein anderer Neuansatz aus einer engen Bindung an die Didaktik der sog. Curriculumtheorie27, die Ende der sechziger Jahre eine didaktische Kehrtwendung brachte, die Klafkis Bildungstheorie für Jahre vergessen ließ und bis in die Lehrplanarbeit hinein die Dominanz der Lerninhalte durch die Orientierung an Lernzielen ablöste: Nicht mehr »Was«, sondern »Wozu« soll man lernen! Dieser didaktischen Prämisse und Devise lieferte sich die curriculare Religionspädagogik – beheimatet vor allem im PTI Kassel – in einem Maße aus, dass die Theologie Mühe hatte, sich im Umgang mit solch übermächtiger Didaktik noch zu behaupten. Die christlichen Inhalte des Religionsunterrichts standen 27 Saul B. Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum, Neuwied 1967.

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einmal mehr in der Gefahr, ihr theologisches Eigengewicht zu verlieren und sich im Letzten für »fremde« Erziehungsziele instrumentalisieren zu lassen. Im ausgereizten Klartext: gesellschaftlicher Nutzwert verdrängt den theologischen Eigenwert. Das heißt: Die Befreiung aus der theologisch autarken Bastion der Evangelischen Unterweisung führte hier in die neue Abhängigkeit von einer herrschenden Didaktik, was langfristig zum theologischen Streit führen musste, wollte sich die Religionsdidaktik nicht unkritisch angepasst einer »systemkonform« nützlichen Lernzielprogrammatik ausliefern, wie das zweifelsohne in Saul B. Robinsohns Curriculumtheorie angelegt ist. Hier ist theologischer Streit mit der didaktischen Bezugswissenschaft unumgänglich und sollte auch, solange er im Rahmen wissenschaftlicher Streitkultur bleibt und wechselseitig fruchtbaren Austausch und ergänzende Kooperation ermöglicht, durchaus gesucht werden, sollte aber Grenzen setzen und Kritik einbringen, wo die Bezugswissenschaft übergriffig wird und dem wesentlichen theologischen Anspruch nicht mehr gerecht wird. Hier ist sachdienliches Streiten unverzichtbar, sollte aber möglichst nicht zum Verketzern übergehen und sich vor allem auch theologisch nicht zur Verabsolutierung der eigenen Meinung und Wahrheit verführen lassen. Es ist bezeichnend, das sich mit Siegfried Vierzig später ein Hauptvertreter der curricularen Religionspädagogik von diesem Konzept abwandte und unter dem gesellschaftlichen Einfluss von Emanzipation und Ideologiekritik einen emanzipatorisch »ideologiekritischen Religionsunterricht« forderte, der im Grunde dem religions- und gesellschaftskritischen Religionsunterricht Gert Ottos entsprach.28 In beiden Konzeptionen bestimmte und beherrschte der Wert und die Grundnorm der Emanzipation den Bildungsbereich in einem kaum vorstellbaren Maße. Das ging so weit, dass sogar im Hessischen Kultusministerium eine Kommission eingesetzt wurde, die die Lehrpläne aller Fächer unter das Globalziel der Emanzipation stellen sollte. Vierzigs Konzeption hätte dem schon entsprochen, hätte aber noch die Zustimmung der Kirchen gebraucht, die federführend für die religionsunterrichtlichen Bildungspläne verantwortlich waren. Ob er diese allerdings gefunden hätte, ist mehr als zweifelhaft, obwohl er mit Modellen Politischer Theologie (D. Sölle, J. Moltmann, J.B. Metz) für seinen ideologiekritischen Ansatz und die ihn leitende Grundnorm der Emanzipation durchaus theologische Begründung und religionsdidaktische Anschlussfähigkeit meinte gefunden zu haben und dafür auch bereit und fähig war zu streiten. Dass hier also theologischer und religionspädagogischer Streit vorprogrammiert war, steht außer Frage; zu offensichtlich war die Anpassung an den ideo28 Siegfried Vierzig: Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zur Theorie und Praxis eines kritischen Religionsunterrichts, Zürich 1975; Gert Otto u. a.: Neues Handbuch des Religionsunterrichts, Hamburg 1972.

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logischen Mainstream dieser revolutionären Jahre gesellschaftlichen Einbruchs, Umbruchs und Aufbruchs und, damit verbunden, der Unterwerfung unter diesen damals gesellschafts- wie bildungspolitisch fast absolut herrschenden Wert der »Emanzipation«. Das war jetzt kein innertheologischer Streit mehr, sondern ein interkultureller Prinzipienstreit, dem sich die Religionspädagogik ausgesetzt sah, als sie den theologisch autarken Schutzraum kerygmatischer Religionspädagogik verließ. Wäre man dann etwa der damals hoch im Kurs stehenden »revolutionären« Habermasschen Maxime herrschaftsfreier Kommunikation gefolgt, hätte daraus wie selbstverständlich eine theologische Streitkultur im Bereich kultureller Werte, Normen und Prinzipien erwachsen können, die ein großes Überschneidungsfeld an gemeinsamen Werten auftun würde, im Letzten aber different blieb, weil Religionsdidaktik wie Religionsunterricht fremd bestimmt wären durch Werte, die rein gesellschaftlich begründet wären, nicht aber in der Theologie mit ihrem biblisch-ethischen Wertkonzept aus Freiheit und Liebe. Während es im Streit mit den religions-, gesellschafts- und ideologiekritischen Konzepten immer zugleich um den Stellenwert der Theologie überhaupt ging, weil diese als religionsunterrichtliche Leitwissenschaft in Frage gestellt bzw. aufgekündigt wurde und sie so gleichsam ein theologisches »Exitus-Modell« verkörperten, so handelte es sich beim letzten erwähnenswerten Streitfall der religionspädagogischen Wendezeit um ein Konzept am Rande der Szene. Sein Name »Therapeutischer Religionsunterricht« ist hier umstritten und entschieden bestrittenes Programm, das sich vom traditionell-stofforientierten Religionsunterricht abkehrte und ein »Interaktionsmodell« vertrat, das den Schüler in seiner ganzheitlichen Gegebenheit zum therapeutischen »Thema« erklärte und dabei, wenn überhaupt, nur höchst indirekt und randständig den christlichen Charakter dieses Unterrichts andeutete: Dieser bestehe nicht wie üblich in den rein verbalen, kognitiv bestimmten Inhalten, sondern in einem therapeutischen Handeln »in der Kontinuität zu Jesus« und seiner therapeutischen und emanzipatorischen Intention.29 Auch hier ein Anklang kritischer Theologie, der aber untergeht in dem damaligen Machtstrom von Sozialisations- und Interaktionstheorie und einer stark gruppendynamisch orientierten Sozio-Psychologie. Das wäre für die Theologie und Religionspädagogik das dominierende wissenschaftliche Streitfeld in der Auseinandersetzung mit diesem therapeutischen Konzept (gewesen). Wenn diese Art Religionspädagogik überhaupt zur Kenntnis und ernst genommen wurde, dann zunächst auch hier nur in der Frage, ob die untergeordnete Stellung der Theologie und der Frontalangriff gegen jegliche Stoffvermittlung noch die Bezeichnung »christlicher Religionsunterricht« rechtfertige. Al29 Dieter Stoodt: Die Praxis der Interaktion im Religionsunterricht, in: EvErz 23 (1971), (1–10) 5.

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lerdings war in diesem therapeutischen Konzept eine didaktische Tendenz angelegt, die im »Performativen Ansatz« gegenwärtiger Religionsdidaktik auf einmal wieder spruchreif und diskussionswürdig wird. Mindestens dessen ganzheitliche, gefühlsbetonte, körperbewusste Ausrichtung bei gleichzeitiger »Textarbeitsallergie« und kognitiver »Beschränkung« könnte hier nicht nur Erinnerungen mobilisieren, sondern diese vielleicht auch theologisch und didaktisch so rehabilitieren, dass sich theologisch didaktischer Streit lohnt. Wie dem auch sei, ein weiteres nachwirkendes oder gar nachhaltiges Element in der religionsdidaktischen Theorie und Praxis eine Generation nach den bahnbrechenden religionspädagogischen Entwicklungen des Wende-Jahrzehnts begegnet heute, sicher weil auffälliger, in der Kompetenz-Orientierung gegenwärtiger Religionsdidaktik, in der man durchaus eine Wiederbelebung der einstigen curricularen Lernzieldidaktik sehen könnte; theologisch würde sie jedenfalls mit ähnlichen Argumenten bestritten und erstritten wie heute die Didaktik der Kompetenzorientierung. Fragen wir rückblickend nach den Errungenschaften der religionspädagogischen Krise und Wende, so kann wohl das Konzept des Problem- und Erfahrungsorientierten oder später: Schüler- bzw. Subjektorientierten Religionsunterrichts als das nachhaltigste gelten und dabei vor allem sein didaktisches Prinzip der Korrelation; denn das bleibt Anspruch und Aufgabe, solange ein theologisch und pädagogisch begründeter christlicher Religionsunterricht noch vertreten wird. Hier liegt für die Theologie eine entscheidende Naht- und Schlüsselstelle für ihre didaktische Anschlussfähigkeit. Hier lohnt sich deshalb allemal sowohl der Streit im innertheologischen Bereich wie auch der Streit mit den Bezugswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften und da nicht zuletzt auch der interkulturelle Streit mit den je herrschenden geistigen Strömungen und Werten der Gegenwart. Überall steht die Theologie mit auf dem Spiel und muss sich so wegweisend erweisen, dass sie mit ihrem Kerngehalt, dem lebensförderlichen Evangelium von Jesus Christus, für einen christlichen Religionsunterricht unentbehrlich überzeugend wird. Will die Theologie da bestehen, braucht sie heute eine Streit- und Argumentationskultur, die sie vor einem rein apologetischen Streiten ebenso bewahrt wie vor einem wahrheitsabsoluten Rechten verketzernder Rechthaberei. Vielleicht ist damit letzten Endes auch der Weg bereitet zu kultivierter Kommunikation in Verstehen und Verständigung. So definierte Streitkultur braucht es im innertheologischen Bereich ebenso wie auf interkulturellem Gebiet und sie gewinnt darüber hinaus zunehmende Bedeutung im interreligiösen Austausch religiöser Wahrheiten: Dieser war in den Wendejahren nur ansatzweise angelegt, etwa dann, wenn für einen objektiv neutralen Religionskunde-Unterricht über die sog. Fremdreligionen plädiert

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wurde.30 Der Streit der Religionen und Kulturen begann sich erst ab den 80er Jahren zu entwickeln und ist heute ein ganz wichtiges Streit- und Bewährungsfeld theologischer Streitkultur. In der fiktiv gedachten Wellenbewegung religionspädagogischer Geschichte hat sich die offenere, liberal gestrickte Richtung mit der Wende wieder bis auf die Spitze getrieben, wo es grenzwertig auch zu theologischen Exodusmodellen kommen konnte. Im Streit und Ranking um die beste der neu kreierten Konzeptionen ging es weniger um den Streit der jeweiligen Theologie in ihnen, sondern primär um Stellung und Stellenwert von Theologie im multiplen Bedingungsgeflecht von Religionsunterricht. Dabei war ohne Zweifel ein starker Bedeutungsverlust von Theologie zu verzeichnen. Das bedingte die Abnahme von ausgesprochen theologisch bedingten Streitigkeiten unter den Konzeptionen. Einzige Ausnahme hier vielleicht noch das streitbare Festhalten am »Bibelunterricht«, wie ihn Ingo Baldermann und Gisela Kittel tapfer zu behaupten suchten.31 Sie legten ihre theologischen Finger durchaus klarsichtig auf Schwachstellen in der neuen liberalen Religionspädagogik, fachten damit aber kein neues Feuer religionspädagogisch-theologischen Streitens an; zu sehr waren sie doch Vertreter eines überholten Systems, dem keine Verheißung zum Wiedererstehen aus dem Wellental religionspädagogischer Bedeutungslosigkeit mehr beschieden sein dürfte. Unbestrittene Theologie im eingefriedeten Raum »weltloser« Abschottung gehörte endgültig der religionspädagogischen Vergangenheit an. Und das war und ist gut so, auch wenn die Zugluft aus der Erfahrungs- und Problemwelt die religionspädagogische Theologiekultur erheblich herausforderte und nach dem Jahrzehnt religionsunterrichtlicher Krise und Wende die Früchte für ein gedeihliches Fortkommen der Religionspädagogik klug herausgefiltert werden wollten.

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In ruhigerem Fahrwasser: Religionsdidaktik auf der Suche nach geeigneter Theologie

Nach dem Jahrzehnt religionspädagogischen Zusammenbruchs, Umbruchs und Aufbruchs begannen sich in den 80er Jahren Religionspädagogik und Religionsdidaktik in realistischer Bescheidung wieder einzurichten und zu etablieren 30 Vgl. Rainer Lachmann: Von der Fremdreligionen-Didaktik zum Interreligiösen Lernen, in: ders. u. a. (Hg.): Christentum und Religionen elementar. Lebensweltlich – theologisch – didaktisch (TLL 5), Göttingen 2010, (26–40) 34–35. 31 Ingo Baldermann/Gisela Kittel: Die Sache des Religionsunterrichts. Zwischen Curriculum und Biblizismus, Göttingen 1975.

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im Raum, der ihnen von Art. 7,3 GG gewährt wurde. Das hieß: Ordentlicher Religionsunterricht in der Schule, der nach den »Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« respektive Kirchen zu erteilen ist. Daraus folgt scheinbar selbstverständlich – und zwar ob nun katholischer oder evangelischer Religionsunterricht –, dass die Theologie Leit- und Streitkultur bleibt. Damit waren die Modelle gesellschafts- und religionskritischen Religionsunterrichts ausgeschlossen und landeten wie etwa Gert Otto beim Berliner »LER Modell« oder in anderen Bundesländern beim Ethikunterricht. Der »Lernzielorientierte Religionsunterricht« Ende der 60er Jahre verlor in dem Maße an Bedeutung als die Curriculumtheorie ihre führende didaktische Rolle einbüßte und Bildungsbegriff und -verständnis wieder die Didaktik bestimmten. Übrig blieb in vielen Schattierungen ein problem-, erfahrungs-, schüler- oder subjektorientierter Religionsunterricht, der – je fortschrittlich diese Konzepte sich auch gaben – an den Schulen der BRD weiterhin konfessionell getrennt erteilt wurde. An einen christlich-ökumenischen oder gar interreligiösen Unterricht war in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch nicht gedacht. Als didaktische Gabe und Aufgabe hatte sich nach dem religionspädagogischen Scherbengericht über die Verkündigungskonzeption die Theologie erhalten, die im Kontext der religionsunterrichtlichen Bezugswissenschaften ihren Stand und Stellenwert finden musste. Und hier stellte sich dann die entscheidende Frage, an welcher Theologie soll sich denn die Religionsdidaktik beim Bedenken und Bearbeiten der religionsunterrichtlichen Inhalte orientieren? Geschlossene theologische Systeme, Schulen, Richtungen und Theologien wie die orthodox-lutherische Theologie, die Neologie, liberale Theologie und Dialektische Theologie waren nicht mehr zu haben. Die Religionsdidaktik brauchte für ihre Arbeit eine »schülergerechte« Theologie. Diese zu finden und auszumachen, war das erste, was zu leisten war, bevor überhaupt ans theologische Streiten untereinander und miteinander und mit den Nachbarwissenschaften gedacht werden konnte! Relative Einigkeit herrschte darüber, dass die Systematische Theologie mit Dogmatik und Ethik die Leitdisziplin für einen erfahrungsorientierten Religionsunterricht sein müsse und nicht mehr die bis zur Wende herrschende Bibeltheologie.32 Hier erwartete die Didaktik Entgegenkommen und Vorarbeit seitens der Systematischen Theologie, die ja schließlich das Evangelium qua Christentum zeitgemäß zu bedenken hatte! Aber hier bot sich keine Systematik an, geschweige denn, dass sie überhaupt ein Streitgespräch in innerdisziplinärer 32 Rainer Lachmann: Systematische Theologie als Bezugswissenschaft religionsunterrichtlicher Fachdidaktik, in: ZEE 26 (1982), 400–429; Martin Rothgangel: Was ist Religionspädagogik? Eine wissenschaftstheoretische Orientierung, in: ders. u. a. (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 72012, (17–34) 30–33.

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Streitkultur mit der Religionspädagogik gesucht hätte. Hier blieb die Religionsdidaktik im Wesentlichen auf sich selbst gestellt und musste die angebotenen Systematischen Theologien auf ihre Brauchbarkeit, Anschlussfähigkeit und Passgerechtigkeit für den Unterricht abklopfen. Das war insofern noch besonders schwierig, als sich die Didaktik vor jedem Versuch oder besser: jeder Versuchung durch die Systematische Theologie hüten musste, die sie zu einer Abbilddidaktik degradieren wollte, in der die Theologie unstrittig vorschreiben würde, was die Didaktik »brav« weiterzugeben hätte. Hier war die Religionsdidaktik theologisch in höchstem Grade gefordert: zur Theologie als Leitkultur »verpflichtet« und, wenn man so will, zur Streitkultur als theologisch und pädagogisch begründeter Wissenschaft angehalten! Ein erster wichtiger und weiterführender Versuch zur didaktischen Integration der Systematischen Theologie war das Programm der »Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden«, das Anfang der 70er Jahre im Comenius-Institut bearbeitet wurde, um über das »Elementare« als Schnittpunkt zwischen christlicher Theologie und pädagogischen Ansprüchen eine eigene didaktische Theologie bzw. vice versa theologische Didaktik zu entwickeln. Sie war auf kein theologisches System festgelegt, sondern war grundsätzlich offen für »alle theologischen Konzepte«, denn – so die scheinbar befreiende Feststellung des Projektleiters Hans Stock – »Theologie gibt es nur als eine Vielfalt von kontroversen Ansätzen, Intentionen und Aussagesystemen.«33 Unter dieser Prämisse wäre theologische Streitkultur gleichsam ein Filterungsvorgang unter dem Raster des »Elementaren«, wobei das Streiten – soll es gelingen – letzten Endes zu lebensförderlichen christlichen Inhalten führen müsste, die sowohl den theologischen wie den pädagogischen Ansprüchen zu genügen hätten. Theologische Streitkultur, didaktisch buchstabiert, hieße dann: zentrale Suche nach den »Elementaria« christlichen Glaubens! Ein früher religionspädagogischer Entwurf, der sich an einer »elementaren Theologie« festzumachen suchte, waren Heinz Schmidts »Religionspädagogische Rekonstruktionen« (1977), die eine elementartheologisch begründete »Dialektische Religionspädagogik« konstruierten.34 Schmidt arbeitete sich dabei an allen wichtigen theologischen Systematiken seit Karl Barth regelrecht ab; außer Barth waren das Rudolf Bultmann, Gerhard Ebeling, Wolfhart Pannenberg, Paul Tillich und Jürgen Moltmann. Sie wurden von Schmidt elementartheologisch gefiltert und kritisiert und dann in ein eigenes 33 Comenius-Institut (Hg.): Elementarisierung theologischer Inhalte und Methoden im Blick auf die Aufgabe einer theologisch zu verantwortenden Lehrplanrevision und Curriculumentwicklung in den wichtigsten religionspädagogischen Praxisfeldern 1. Zwischen-Bericht zum Stand der Untersuchung vorgelegt von Hans Stock, Münster 1975, 220–226. 34 Heinz Schmidt: Religionspädagogische Rekonstruktionen. Wie Jugendliche glauben können (CThM 3), Stuttgart 1977, 7–9.

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religionsdidaktisches Programm gebracht. Bezeichnend ist bei diesem Konzept, dass es keiner Systematischen Theologie verpflichtet und von keiner theologischen Schule abhängig ist. Schmidts Religionsdidaktik baut sich ihr System theologischer Inhalte selbst, indem sie auswählt, was theologisch elementar wichtig ist, bzw. was offen und passend ist, um es mitteilen und vermitteln zu können. Bei diesem theologisch-didaktischen, eklektizistisch ausgelegten Didaktisierungs-Akt ist theologischer Streit nicht ausgeschlossen, wenn etwa dogmatische Positionen meinen allein der theologischen Wahrheit verpflichtet sein zu müssen. Die Angst vor einer Pädagogisierung, Vergesellschaftung oder Politisierung des Evangeliums ist in der Dogmatik auch heute noch weiter verbreitet, als sich der Didaktiker das denkt und wünscht. Dessen ungeachtet ist der mit Ernst Theologie treibende Religionsdidaktiker auf seine wissenschaftlichen Recherchen in den einschlägigen Systematischen Theologien angewiesen. Zwar findet er keinen Systematiker, der ausgewiesenermaßen ihm, dem Religionsdidaktiker, zuarbeiten würde, aber sehr bald dürfte er die Dogmatiken und Ethiken entdeckt haben, deren Theologie didaktisches Vermittlungspotential bietet und von daher auch den Disput um strittige Theologie lohnenswert macht. Wie oben schon angesprochen, ist neben dem didaktischen Kriterium der »Elementarisierung« die Korrelationsfähigkeit ein weiteres Suchelement, mit dem sich die Eignung der je präsentierten und angebotenen Systematischen Theologie für die Religionsdidaktik erschließen lässt. Das ist bei ethischen Stoffen einfacher als bei dogmatischen Inhalten und fordert aufmerksames religionsdidaktisches Bedenken passender Relationen, das mehr sein muss als bloße Stichwortassoziation. Hier ist besonders die Theologie in der Pflicht, auf eine gepflegte Kooperationskultur mit den Gegenwartsfragen zu achten! Ein weiteres weites und wichtiges »Anknüpfungs«-Feld, um einem alten »verrufenen« Begriff die Ehre zu erweisen, verdankt die didaktische Theologie Rudolf Bultmann und seinem hermeneutischen Programm der »existentialen Interpretation«. Für die Bibeldidaktik hatte bereits in den Jahren der hermeneutischen Religionspädagogik Hans Stock dieses Auslegungskonzept fruchtbar gemacht.35 Besonders für den erfahrungsorientierten Religionsunterricht eröffnete jetzt eine existential dogmatisch angelegte Didaktik vielfältige Möglichkeiten der Erschließung dogmatischer Inhalte, Symbole und Wahr-Zeichen, indem sie an menschlichen Grunderfahrungen und Grundgegebenheiten elementare Inhalte christlichen Glaubens verifizierte. Wichtiger und geeigneter noch als das Korrelations-Paradigma ist in religionsdidaktischer Hinsicht das »Verifikationsprogramm«, dem es um »die Bewahrheitung christlicher Glaubensaussagen«

35 S. Anm. 9.

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an »der jedermann zumutbaren Wirklichkeitserfahrung« geht.36 Hier werden Alltagserfahrungen, Grundbefindlichkeiten und Grundfraglichkeiten der Kinder und Jugendlichen im Religionsunterricht mobilisiert und, wie in einem didaktischen Kreisel, mit Erfahrungen christlichen Gottesglaubens »konfrontiert« oder je nach dem auch an ihnen bewahrheitet. Solchem kritischen Verifikationsfilter müssen sich christliche Glaubensvorstellungen und überlieferte Dogmen aussetzen, wollen sie nicht dem Ruch orthodoxer Dogmatik verfallen, die sich gegen lebensförderliche Bewahrheitung des christlichen Glaubens dogmatistisch sperrt oder gar verweigert. Immerhin bot der aus der Bultmannschen Tradition stammende Gerhard Ebeling mit seiner Theologie und »Dogmatik des christlichen Glaubens« für den Religionsdidaktiker reiches dogmatisches Verifikationsmaterial, freilich ohne Religionslehrern bzw. dem Religionsunterricht ausdrücklich entgegenzukommen.37 Das tat dann Wenzel Lohff mit seiner verifikationsdidaktisch einmaligen Arbeit »Glaubenslehre und Erziehung« (1974), in der ein Systematiker vorexerziert, was seine theologische Disziplin der Religionsdidaktik an fruchtbarer Vorarbeit und Vorleistung zu bieten vermag.38 Hier verdient die Systematische Theologie ihren Namen als didaktische Leitkultur und kann die Religionsdidaktik als Integrationswissenschaft zwischen Theologie und Humanwissenschaften ihrer Vermittlungsaufgabe, theologisch gut vorbereitet, nachgehen. Denselben Dienst leistet auch Heinz Zahrnt mit seinen allgemein verständlichen theologischen Bestseller-Werken,39 dem genau das existentiell ungemein ansprechend gelungen ist, was das erfahrungsorientierte Verifikationsanliegen verspricht. Wenn auch von der dogmatischen Wissenschaft bisweilen »scheel« angesehen, sind Zahrnts Bücher didaktisch äußerst brauchbare Früchte solider Verifikations-Theologie, die zum konstruktiven Verstehen überlieferter Dogmatik im Religionsunterricht viel beitragen können. Auf katholischer Seite ist es besonders Hans Küng, der in ökumenischer Weite und Tiefe theologische Arbeiten anbietet, die offen und geeignet sind, um dogmatischen Vorstellungen aktuelles und existentielles Potential zu »entlocken«.40 Solche Dogmatik steht nicht im Streit mit der Religionsdidaktik, sondern ist Partner im gemeinsamen Anliegen der »Kommunikation des Evangeliums«. 36 Gerhard Ebeling: Wort und Glaube 2. Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 187. 37 Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens 1–3, Tübingen 1979. 38 Wenzel Lohff: Glaubenslehre und Erziehung, Göttingen 1974. 39 Vgl. u. a. Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott, München 1966; ders.: Gott kann nicht sterben, München 1970; ders.: Wozu ist das Christentum gut?, München 1972; ders.: Warum ich glaube, München 1977; ders.: Leben als ob es Gott gibt, München 1992; ders.: Das Leben Gottes, München 1997. 40 Hans Küng: Christ sein, München 1974.

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Diese Definition Ernst Langes wurde gleichsam zum religionspädagogischen Konsensbegriff, unter dem sich die religionsdidaktischen Konzepte des ausgehenden 20. Jahrhunderts versammelten, für die die Theologie wesentliche Leitwissenschaft geblieben war bei gleichgewichtigem Vermittlungsauftrag im Vorfeld des Glauben-Lernens.41 Die Darstellung der »nachwendischen« Religionspädagogik und theologisch verantworteten Religionsdidaktik bliebe unverzeihlich unvollständig, wenn wir den »großen« Artikel des Bonner Systematikers Gerhard Sauter übergehen würden. Denn er steht mit seinem Titel »Zur theologischen Revision religionspädagogischer Theorien« für eines der ganz seltenen Dokumente, in dem sich ein systematischer Theologe mit gepflegter Streitkultur in religionspädagogische Belange und Entwicklungen »einmischt« und sie unter seinem theologischen Anspruch kritisiert.42 Zielgenau greift er sich den »neuralgischen Punkt« der »Beziehung der Religionspädagogik zur Theologie« heraus, die seiner Meinung nach »in den meisten führenden Konzeptionen neuerer Religionspädagogik strittig, angezweifelt oder gar ganz abgelehnt werde, um sich dadurch von einer »Bevormundung durch die Theologie« und Dogmatik zu befreien. Diese Analyse des religionspädagogischen »Außenseiters« ist sicher in vieler Hinsicht korrekt, geht aber in seinem Streit und Angriff gegen die Vermittlungsaufgabe von Religionsdidaktik und Religionsunterricht zu weit und droht diese didaktische Kernarbeit wieder undifferenziert aufzugeben an eine unvermittelbare evangelische Theologie und Dogmatik, deren Inhalte lediglich mitgeteilt bzw. verkündigt werden können, niemals aber im dargestellten Sinn vermittelt oder gar von den Schülerinnen und Schülern selbständig angeeignet werden können. Hier droht die Theologie mit ihrer einseitigen Ausrichtung an der Eigenart des Glaubens als »Gottes Werk in uns« – »sozusagen das pädagogische Handicap evangelischer Theologie« – die Religionsdidaktik so zu bestimmen, dass sie in der Gefahr steht, wieder da zu landen, wo sie vor der religionspädagogischen Wende war, nämlich bei einem theologischen Autarkiemodell und einer Abbilddidaktik, die als Glauben-Lernen vorgibt, was an »Glaubenslehre« im Religionsunterricht der Schule weitergegeben werden soll: Katechismus und Biblische Geschichte in kirchlichem Lernhorizont. Damit wäre der aus der religionspädagogischen Wende erwachsene religionspädagogische wie religionsdidaktische Fortschritt

41 Rainer Lachmann: Verständnis und Aufgaben religionsunterrichtlicher Fachdidaktik, in: ders./Gottfried Adam (Hg.): Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 51997, (17–36) 30–33. 42 Gerhard Sauter: Zur theologischen Revision religionspädagogischer Theorien, in: EvTh 46 (1986), (127–148) 146.

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besonders im Bereich didaktischer Vermittlung pauschal zunichte gemacht und das Verkündigungsmodell würde wieder fröhliche Urständ feiern!? Dagegen müsste gerade eine theologisch und pädagogisch begründete Religionspädagogik lauthals protestieren und im Namen einer didaktischen Theologie bzw. theologischen Didaktik den Streit mit einer so fehlgeleiteten Theologie aufnehmen und argumentativ führen. Nicht noch einmal darf ein Streit zwischen kirchlich-katechetischer und schulisch-didaktischer Theologie »ohne Kultur« dahingehend ausarten, dass ein Ketzerhut verpasst wird und einer erneuten reaktionären Welle in der Geschichte der Religionspädagogik Vorschub geleistet würde. Wo Sauters Ende des 20. Jahrhunderts geäußerte religionspädagogische Revisionsgedanken konsequent weitergedacht und umgesetzt würden, dürfte das über kurz oder lang den endgültigen Auszug bzw. Ausschluss evangelischen Religionsunterrichts aus den öffentlichen Schulen bewirken, zumal wenn sie meinten, ihre katechetische Theologie auch noch konfessionell profilieren zu müssen. Das wäre gleichsam ein Rückfall in theologisch inzüchtiges Streiten und letzten Endes auch die Aufkündigung und der Abbruch gedeihlichen Streitens mit Religionspädagogik und Religionsdidaktik. Außerdem würde es den Verlust des großen Potentials bedeuten, das die Religionspädagogik als Integrationswissenschaft aus ihrem Streiten mit den Bezugswissenschaften angesammelt, integrativ verarbeitet und vermittelt hat. Daran wird noch einmal deutlich, an welcher strittigen und komplexen Nahtstelle die Theologie steht, wenn sie sich als Leit- und Streitwissenschaft der Religionspädagogik verstehen will. Gerade deshalb gehört förderliches Streiten nach innen wie nach außen zum Wesenselement didaktischer Theologie im Wissenschaftsverbund christlicher Religionspädagogik unumstritten dazu.

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Religionspädagogik unter interkonfessioneller und interreligiöser Herausforderung

Mit dem neuen Jahrtausend änderten sich unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels die Herausforderungs- und Bewährungsfelder theologischer Streitkultur auch für die Religionspädagogik in beachtlichem Maße. Das betraf vor allem den interreligiösen Bereich, wo die Fremdreligionen zu beachtenswerten Nachbarreligionen geworden waren, und daneben – fast im Schatten – den interkonfessionellen Bereich, wo der immense Mitgliederschwund in katholischer und evangelischer Kirche auf knapp unter 50 % unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft den hergebrachten konfessionellen Religionsunterricht fundamental in Frage stellte.

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Maßregelndes Zauberwort sowohl für interreligiöse wie für interkonfessionelle Streitkultur wurde hier dann bald der beinahe inflationär gebrauchte Slogan »Auf Augenhöhe«, der ein Streiten im Gefälle von oben und unten, überlegen und unterlegen, besser und schlechter überwinden sollte. Damit könnten beim interreligiösen Disput oder Diskurs noch Spurenelemente der Barthschen Unterscheidung von Offenbarung und Religion getilgt und überwunden werden, beim interkonfessionellen Streitgespräch der absolute Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche, die es auch nach der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre« nicht einmal fertigbrachte, der Evangelischen Kirche die Bezeichnung »Schwesterkirche« zuzubilligen. Bemerkenswert ist in interkonfessioneller Hinsicht, dass der Streit um einen interkonfessionell christlichen bzw. ökumenischen Religionsunterricht eher nur ein religionspädagogisches Randphänomen ist und gleichsam übergangen wird zugunsten der scheinbar wichtigeren interreligiösen Streitdimension. Der theologische Streit um einen christlich-ökumenischen Religionsunterricht findet wohl deshalb nur marginal statt, weil er von den Kirchen abgeblockt wird, und das wohl nicht unbedingt nur aus theologischen Gründen. Ehe sich die Religionspädagogen in einen zermürbenden Streit mit den verfassten Kirchen ziehen lassen, lassen sie doch lieber das heiße Eisen »praktischen« Religionsunterrichts vor Ort un-bestritten und »schwadronieren« lieber über interreligiöse Projekte der Zukunft. Immerhin hat die EKD den »konfessionell-kooperativen Religionsunterricht zum Religionsunterricht für die Zukunft« erklärt43 und dadurch ein Tor geöffnet, um langfristig einen ökumenischen Religionsunterricht vorzubereiten. Begünstigt durch die konfessionellen Verhältnisse sowie diplomatisch geschicktes und gekonntes Agieren ist es in Baden-Württemberg sogar gelungen, den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht mit Zustimmung der beiden großen Kirchen an den Schulen zu etablieren. Dabei ist unübersehbar, dass die Argumente zur Einrichtung eines solchen Religionsunterrichts im Wesentlichen denen zur Einführung eines christlich-ökumenischen Religionsunterrichts ähneln, allerdings mit zwei wichtigen Ausnahmen: Erstens muss es unter dem Dach gelegentlicher Kooperation unbedingt konfessionell unterscheidbarer Unterricht bleiben und zweitens darf auf keinen Fall von gemeinsamem christlichen Religionsunterricht geschweige denn von ökumenischem Religionsunterricht gesprochen werden. Und gerade das sind die »Knackpunkte«, an denen theologischer Streit bitter notwendig wäre. Hier müsste auf Augenhöhe – und nicht 43 Kirchenamt der EKD: Identität und Verständigung, Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh 1994, 88; vgl. zur neuen Denkschrift der EKD (Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014) Rainer Lachmann: Religionspädagogische Zeitansage ohne Zukunft?, in: ZPT 67 (2015), 187–193.

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unter hierarchischem Wahrheitsanspruch – um das gemeinsam Christliche, die Elementaria christlichen Glaubens theologisch gestritten und gerungen werden, um in einer zunehmend konfessionsloser werdenden Welt überhaupt noch Gehör und Beachtung zu finden. Da muss der Ruf nach konfessioneller Profilierung und religionspädagogischer Differenzkompetenz ins zweite Glied treten und muss – gleichsam als theologische Konsens-Kompetenz – das unumstritten ökumenisch Gemeinsame den Vorrang haben. Aber statt, dass im Zeichen der Globalisierung Ökumene zum richtungsweisenden Stichwort würde, wird es religionspädagogisch zum Unwort im Streit um den Religionsunterricht der Zukunft. Hier versteigt sich die kirchliche Ablehnung ökumenischen Religionsunterrichts bis dahin, zu leugnen, dass es überhaupt eine ökumenische Theologie gäbe.44 Konfessionelles Profil wird hier gegen Ökumene ausgespielt und zur theologisch massiven Bestreitung christlich-ökumenischen Religionsunterrichts in Theorie und Praxis. Echte theologische Streitkultur in argumentativer Auseinandersetzung sucht man hier vergeblich, weil institutionelle Interessen theologisches Streiten verhindern. So bleibt es derzeit noch bei religionspädagogischen Einzelkämpfern, die aber inskünftig viele Mitstreiter erwarten können, die sich aus theologisch religionspädagogischer Überzeugung für einen christlich-ökumenischen Unterricht als Religionsunterricht der Zukunft einsetzen. Theologie als Streitkultur ist hier immer auch religionspädagogisch ummantelt und durchsetzt von einem großen Streitpotential und Argumentenschatz aus den Humanwissenschaften als den Bezugswissenschaften der Integrationswissenschaft Religionspädagogik. Auf einem anderen Blatt theologisch-religionspädagogischen Streitens steht die nicht weniger umstrittene Beschäftigung mit den nichtchristlichen Religionen in unserer gegenwärtigen Welt. Von einem Fremdreligionen-Unterricht über eine Weltreligionen-Didaktik entwickelte sich hier ab den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts das Programm des Interreligiösen Lernens, was bis in die jüngste Gegenwart die religionsdidaktische Diskussion bestimmt und ein eigenes Kapitel verdient hätte. Hier nur so viel, wie es unsere Fragestellung nach Theologie als Streitkultur tangiert und problemsichtig bereichert.45 Als erstes fällt dabei die Häufigkeit und Wichtigkeit von »Begegnung« im Prozess Interreligiösen Lernens auf, sie signalisiert die Achtung der anderen Religion und Person und bietet auch bei strittigen Themen Kommunikation auf Augenhöhe an. Aus den Zeiten der Fremdreligionen-Didaktik hat sich zweitens das Element des Fremden im Gegenüber zum Eigenen seine didaktische Dignität 44 Rainer Lachmann: »Wir können keine neue ›ökumenische Konfession‹ ausrufen«. Das Bamberger Märchen vom Ökumenischen Religionsunterricht, in: Konstantin Lindner u. a. (Hg.): Erinnern und Erzählen (BaThF 14), Berlin 2013, 463–475. 45 S. Anm. 30.

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bewahrt und muss als beachtenswertes Moment ehrlicher Streitkultur gegen eine zu schnelle und glatte Nivellierung des Differenten und Andersartigen beachtet werden. Drittens geht es fundamental um den rechten Umgang mit der Wahrheit der eigenen im Gegenüber zur anderen Religion, wo der interreligiöse Begegnungs- und Lernprozess theologisch an seine Grenzen kommt und aufpassen muss, dass seine Streitkultur nicht missionarisch, apologetisch oder verketzernd aus dem Ruder läuft. Viertens darf die im christlichen Religionsunterricht gepflegte Begegnungs- und Streitkultur auf Augenhöhe nicht zur Verleugnung des eigenen christlichen Glaubens führen. Die christliche Perspektive wie das inhaltliche Profil müssen beim interreligiösen Lernen unbestritten klar sein und dürfen nicht verwässert werden. Konfessorisches Reden und Bekennen sind damit nicht ausgeschlossen, soweit sie nicht einhergehen mit Diffamierung und Herabsetzung der anderen Religionen und Meinungen. Bei allen Profilierungsnotwendigkeiten im interreligiös thematisierten Religionsunterricht sollten fünftens alle Religionen im gemeinsamen Bekenntnis zusammenstehen, dass die absolute Wahrheit ganz allein bei Gott zu finden ist. Das schenkt der interreligiösen Streitkultur gerade in theologischen Auseinandersetzungen bescheidene Demut, relativiert den Streit auf Augenhöhe auf sein menschliches Maß und lässt vielleicht in dieser unumstrittenen Einsicht sogar den göttlichen Funken finden, der allen Religionen gemein ist und sie alle eint. Schließlich wird sechstens die Religionsdidaktik mit der sie leitenden Theologie durch die Rede und Forderung interreligiösen Lernens daran erinnert, dass schon heute die religionsunterrichtliche Beschäftigung mit einer nichtchristlichen Religion nicht mehr nur auf eine Unterrichtseinheit begrenzt sein kann, sondern in theologischer Hinsicht den Unterricht insgesamt interreligiös bestimmen sollte. Theologie als Streitkultur in der Religionspädagogik müsste sich dabei siebtens darauf verlassen können, dass es eine Dogmatik gibt, in der christlicher Glaube im Kontext der Weltreligionen, und dabei zuerst des Judentums und dann des Islams, kritisch bedacht und verantwortet worden ist. Welche interreligiös streiterprobte Theologie bietet sich da der Religionsdidaktik an, damit sie – zwar in kleiner Münze, dafür aber an vorderster Front religionspädagogischer Praxis – diesem Streit in theologisch kultivierter Kommunikation auch gewachsen sein kann?

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»Verdunstung« der Theologie in der Religionspädagogik der Gegenwart?

Sind wir mit dieser interkonfessionellen und interreligiösen Perspektive mitten im Problem- und Aufgabenbereich gegenwärtiger Theologie und Religionspädagogik gelandet, so müssen wir bei einer theologisch-religionspädagogischen

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Umschau in wichtigen Werken der Religionspädagogik der Jetztzeit feststellen, dass zwar die Theologie in der evangelischen bzw. christlichen Religionspädagogik als (mit-)bestimmende Größe im Wissenschaftskonzept vorausgesetzt und zum Teil auch bedacht ist und auch den theologischen Inhalten mehr oder weniger Beachtung geschenkt wird, dass ihr aber in ausgesprochen streitkultureller Hinsicht nirgends ein streitwerter ausführlicher Raum, geschweige denn so etwas wie eine bedachte Streitkultur gewidmet ist.46 Da mag es dann nach 30 Seiten historischen »Schwadronierens« über die Theologie als Streitkultur nachgerade als »Abgesang« anmuten, wenn in einer jüngst erschienenen höchst interessanten Schrift »Religionsunterricht neu denken« (2012) die Theologie nirgends ausdrückliches Thema ist. In 17 vorgestellten »Innovative(n) Ansätze(n) und Perspektiven der Religionsdidaktik« kommt selbst der Begriff »Theologie« nur ganz vereinzelt vor. Nähmen wir dieses »Arbeitsbuch« als pars pro toto ernst, hätte die Theologie in der gegenwärtigen und zukünftigen Religionspädagogik, wenn überhaupt, nur noch einen sehr marginalen Stellenwert; sie wäre gleichsam aus der Religionspädagogik ausgezogen und wäre wohl auch in der Didaktik der einseitigen Übermacht der Subjektorientierung und »Kindertheologie« erlegen. Der Sprachgebrauch ist durchgängig bestimmt durch die inflationäre Rede von Religion und religiös; von christlichem Glauben, Christentum, christlicher Tradition, evangelischem Religionsunterricht wird auch im didaktischen Inhaltsbereich kaum gesprochen. Nicht der Rede wert scheint dann allerdings die Tatsache, dass all die klugen Neuansätze eigentlich im oben zitierten gesetzmäßig vorgeschriebenen Rahmen konfessionellen Religionsunterrichts stattfinden, der nach kirchlich und staatlich verantworteten Lehrplänen zu erteilen ist. Aber selbst die Frage eines konfessionell-kooperativen oder christlich-ökumenischen Religionsunterrichts ist diesen neuesten religionspädagogischen Vorschlägen keinen Gedanken wert. Interreligiöses Lernen ja, auch Korrelations- und Elementarisierungskonzepte, aber schon da begegnet die Theologie nur in Spurenelementen. Das alles deckt sich mit der »Verdunstung« jedweden religiösen Wahrheitsanspruchs qua christlicher Normativität eines evangelischen/katholischen/christlichen Religionsunterrichts und wabert im Dunstkreis religiöser Neutralität, Unverbindlichkeit oder Beliebigkeit herum, vielleicht ab und an durchsetzt von der Wahrnehmung und Ernstnahme von Bekenntnissen in der Vereinzelung rein subjektiven Glaubens. Die parteiische Positionalität für das Christentum und seine dogmatischen Traditionen scheint für einen evangelischen bzw. katholischen 46 Günter R. Schmidt: Christentumsdidaktik. Grundlagen des konfessionellen Religionsunterrichts in der Kirche, Leipzig 2004; Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012. – Eher theologisch-defizitär, die religionsunterrichtlichen Inhalte betreffend: Christian Grethlein: Religionspädagogik, Berlin 1998 (vgl. aber ders.: Fachdidaktik Religion, Göttingen 2005); Joachim Kunstmann: Religionspädagogik. Eine Einführung, Tübingen 2004.

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Religionsunterricht aufgegeben. Theologische Auseinandersetzungen mit dogmatischen und ethischen Vorstellungen und Inhalten christlichen Glaubens sucht man vergeblich und das bedeutet religionspädagogisch letzten Endes den völligen Verlust der Theologie als Leit- und Streitkultur mit der Folge definitiver Verbannung echten theologischen Streits aus Religionspädagogik und Religionsunterricht. Damit dürfte sicher nicht zufällig die auffällige Vernachlässigung der kognitiven Dimension des neu gedachten Religionsunterrichts zusammenhängen. Christlicher Glaube als denkender Glaube verliert sich in ganzheitlichen Umgangsformen und eventhaften Methoden und diffamiert die theologische Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition in gedanklicher Durchdringung, die bis hin zur Ablehnung jeglichen Streits kontroverser Auffassungen und didaktisch kultivierter Vermittlung im theologischen Streit geht. Wo auf diese Anstrengung und Aufgabe des Denkens im Umgang mit den elementaren Inhalten und Traditionen christlichen Glaubens verzichtet wird, bedeutet das Kapitulation und Verlust der Theologie als ernst genommener Wissenschaft im universitären Diskurs, im Studium, im Religionsunterricht und nicht zuletzt auch im Alltag. Es liegt auf der Hand, dass bei solch theologischer Verlustanzeige im religionspädagogischen Geschäft die Theologie ihren Stellenwert im Wesentlichen verloren hat und sie – sei sie nun als Streitkultur, Streit oder Verketzerung – uninteressant und bedeutungslos geworden ist. Mit dem Aufgeben theologischer Positionalität und normativen Profils geht dem Religionsunterricht aber nicht nur das theologisch vermittelte Gedankenspiel mit den christlichen Unterrichtsinhalten verloren, sondern mangelt es ihm zunehmend an der Unterscheidbarkeit vom Philosophie-, Ethik- oder Religionskunde-Unterricht. Was dabei herauskommen kann, demonstriert beispielhaft der Berliner LER-Unterricht. Es nimmt nicht wunder, dass gerade dieses religionspädagogische Modell von einem Religionspädagogen konstruiert wurde, der gerade die Theologie als religionsdidaktische Leit- und Streitkultur aus seinem Konzept verabschiedet hatte.47 Sollten diese neu gedachten religionsunterrichtlichen Ansätze religionspädagogisch konsens- und zukunftsfähig werden, dürfte es für die Bundesrepublik Deutschland berechtigterweise nicht mehr lange dauern, bis eine DreiviertelMehrheit im Bundestag den überholten Artikel 7,3 GG streicht. Schon provozierte im traditionell konservativen Bayern der unübersehbare Mitgliederschwund der Kirchen zwei Anträge an den Landtag, wo einmal seitens der FDP gefordert wird »Religions- und Ethikunterricht neu denken – Dialogunterricht 47 Bernhard Grümme u. a. (Hg.): Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012.

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umsetzen« (15. 10. 2019) – vgl. den Titel mit dem oben vorgestellten Buch »Religionsunterricht neu denken«! – und zweitens die Grünen beantragen »Interreligiöse und religionskundliche Angebote an den Schulen stärken« (23. 10. 2019). Bei solchen Zeichen aus dem politischen Raum täten die beiden großen Kirchen gut daran, sich auf einen gemeinsam verantworteten christlich-ökumenischen Religionsunterricht zu verständigen. Darum sollte es in der religionspädagogisch-theologischen Streitkultur jetzt vorrangig gehen, um auf der Basis bereits geleisteter gründlicher wissenschaftlicher Vorarbeiten und kirchlicher Konsensvereinbarungen (wie etwa der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre«) endlich einen theologisch begründeten ökumenischen Religionsunterricht am Lernort Schule zu ermöglichen, der die kirchlichen Unterschiede nicht verleugnet, aber dem gemeinsamen Elementar-Christlichen theologische und didaktische Priorität einräumt. Das heißt, dass im Religionsunterricht theologisch vor allem Konsenskompetenz angestrebt ist, nicht aber zuerst Differenzkompetenz. Hier braucht die Religionspädagogik Ökumenische Theologie im streitfähigen Kontext Systematischer Theologie, die in fruchtbarem Streit religionsdidaktische Kompetenz generiert und diese dann auch inhaltlich im Religionsunterricht zum Tragen bringt. »Verdunstete Theologie« kann sich hier kein konfessioneller, kein christlicher und erst recht kein ökumenischer Religionsunterricht leisten.

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Theologie als Streitkultur im Kommunikationsprozess der Religionspädagogik – historisch signiert und aktuell definiert

Ehe wir uns im Problemdschungel aktueller Religionspädagogik verlieren und die Fragestellung »Theologie als Streitkultur« vollends aus den Augen verlieren, halten wir hier inne und versuchen rückblickend zusammenzufassen, was der historische Streifzug durch die theologisch fokussierte evangelische Religionspädagogik gebracht hat. Für die Religionspädagogik ist die Themafrage grundsätzlich nachgeordnet und abgeleitet: Zunächst wird gefragt, welche Rolle die Theologie überhaupt spielt, dann wird nach ihrem Stellenwert gefragt, danach, was für eine Theologie in Frage steht und dann erst sind wir bei der Themafrage »Theologie als Streitkultur« bzw. theologisches Streiten in der Religionspädagogik angelangt. Bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Rolle der Theologie als Leitwissenschaft der Religionspädagogik relativ unbestritten. Erst in den letzten 50 Jahren begann die Emanzipation der Religionspädagogik aus den »Fängen« fraglos herrschender Theologie. Das ging einher mit einem Bedeutungsverlust

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bzw. einer Marginalisierung der Theologie, die bis zum Exitus bzw. Exodus der Theologie aus der Religionspädagogik führen konnte. Ein weiteres Novum in der jüngeren Geschichte der Religionspädagogik ist die Pluralität der Theologien und theologischen Ansätze mit der Folge theologisch unterschiedlich begründeter religionspädagogischer Konzepte. Bis zur Kerygmatischen, ja auch noch Hermeneutischen Religionspädagogik war das anders und hatte man es theologisch mit einer relativ geschlossenen Systematik zu tun, die noch dazu für ihre »Herrschaftsperiode« im Grundsätzlichen unumstritten war. Der historische Rückblick zeigte hier im beinahe regelmäßigen Wechsel von eher orthodoxer zu eher liberalerer Theologie auf, wie die jeweils herrschende, aber angegriffene und infrage gestellte Theologie in Gestalt der aus ihr erwachsenen Religionspädagogik darauf reagierte, bestritten zu werden und sich streiten zu müssen. In gewisser Weise wurde damit die Religionspädagogik zum Schauplatz theologischen Streits und focht diesen auf ihre Weise gleichsam stellvertretend aus für die Theologie, die sie bestimmte und aus der sie erwachsen war, bzw. die sie in Zukunft bestimmen sollte und mit der sie sich zu neuer Konzeption verbinden und verbünden wollte. War im ursprünglich unvermittelten wie in diesem abgeleiteten und vermittelten religionspädagogischen Sinne Streit/Streiten oder gar Streitkultur überhaupt je Thema für die Theologie gewesen? Wohl kaum, gehörte doch Streiten seit den Streitgesprächen Jesu gleichsam wesenhaft zur Theologie dazu und war deshalb theologischer Streit so selbstverständlich, dass es keiner großen thematischen Überlegungen bedurfte. Die Streitgeschichte der Kirche, die Kirchenund Dogmengeschichte und, wie gesehen, die Geschichte der Religionspädagogik beweist das zur Genüge. Theologie als Streit war also überhaupt keine Frage, auch nicht in der Religionspädagogik, wo besonders ihre Wechsel- und Wendezeiten zu Knotenpunkten echten theologischen Streitens wurden, in denen die Theologie die treibende, leitende und begleitende Kraft war, die den Wechselfall bewirkte und motivierte und zu neuen religionspädagogischen Vorstellungen und Konzepten anstiftete. Erst in der jüngsten Geschichte wurde »Theologie als Streitkultur« für die Religionspädagogik interessant und relevant vor allem über die wissenschaftstheoretische Definition als Integrationswissenschaft zwischen Systematischer Theologie, anderen theologischen Disziplinen und Humanwissenschaften sowie über die Religionsdidaktik mit ihren theologisch belichteten und bedachten Inhalten unter wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und kirchlichen Ansprüchen. Religionspädagogik wie Religionsdidaktik erfahren, suchen und brauchen von ihren Anfängen her den Streit mit anschlussfähigen und passgerechten Theologien, die als idealiter gesittete und gepflegte Streitkultur die multiplen Ansprüche der Religionspädagogik elementar miteinander zu vereinbaren wissen, ohne verketzert zu werden oder verketzern zu

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müssen und damit den Abschied der Theologie aus der Religionspädagogik zu provozieren. Und hier haben sich bei unserem streitkulturell sensibilisierten Gang durch die theologisch-religionspädagogische Geschichte doch immer wieder Ansätze, Momente und – zeichenhaft – »Signa« herausgebildet, wie man sie von einer »Theologie als Streitkultur« erwarten und wünschen würde. Heute sind diese Ansätze angekommen und integriert in einem reich ausgeprägten und bearbeiteten didaktischen und methodischen Zusammenhang der Religionspädagogik, der die in Frage kommende Theologie als wesentlichen Teil der komplexen religionspädagogischen Kommunikation definiert. Damit wird theologisches Streiten, wird Theologie als Streit wie als Streitkultur den kommunikativen Maßgaben ausgesetzt, die als »Kommunikation des Evangeliums« (E. Lange) Verstehen, Verständnis und Verständigung ermöglichen sollen. Im grundsätzlich propädeutischen Feld der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Theologie und ihrer Vermittlung gibt es dazu inzwischen ein ergiebiges Repertoire kommunikativ verifizierter didaktischer Möglichkeiten, die »Theologie als Streitkultur« im religionspädagogischen Kommunikationsgeschehen bestens aufgestellt und aufgehoben sein lassen. Voraussetzung ist dabei allerdings eine Religionspädagogik, in der Theologie noch eine wesentliche Rolle als Leit- und Streitkultur spielt und die sich in Verlust und Gewinn zu ihrer Geschichte bekennt. Fassen wir unter dieser Voraussetzung noch einmal abschließend wichtige »Signa« zusammen, welche die Theologie als Streitkultur im Kontext der Religionspädagogik und ihrer Geschichte wesentlich markieren und charakterisieren: 1. Theologie als Streitkultur in der Religionspädagogik ist immer vernetzt im multiplen Faktorenkomplex religiösen Lehrens und Lernens und erfährt von daher die Dominanz der Didaktik und ihres umfassenden Vermittlungsanspruchs; 2. sie ist im religionspädagogischen Zusammenhang didaktisch vermittelte Kultur, die sich dem Einfluss unterschiedlichster Ansprüche aus Wissenschaft, Gesellschaft, Kultur und Kirche ausgesetzt sieht und dabei die eigene Identität in der Religionspädagogik bewahren sollte; 3. sie sollte als religionsdidaktisch vermitteltes Streitgeschehen in allen Streitfällen zivilisiert, gesittet und kritisch bedacht ablaufen und niemals in theologisch verketzernden Streitterror entarten; 4. sie sollte der kognitiven Dimension in geordneter Reflexion, kritischer Argumentation und verständlicher Diktion unabdingbare Akzeptanz und Dominanz einräumen und die Anstrengung theologischen Denkens nicht in meditativ performativen »Kulturen« verdunsten lassen;

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sie sollte theologie-didaktisch anschlussfähig und möglichst passgenau sein, um bildungsmäßig gelingende Korrelation, Verifikation und Elementarisierungen zu ermöglichen und unvermittelte Konfrontation zu vermeiden; sie sollte sich nicht dogmatistisch abschotten, sondern sollte offen sein für Adressaten und Lernorte und deshalb in gutem Sinne praktisch-theologisch; sie sollte gegenüber anderen wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Auffassungen und Positionen die eigene Meinung mit ihren theologisch wesentlichen Ansprüchen deutlich, verbindlich und, wo möglich, vermittelnd vertreten und »streitkulturell« ins Gespräch einbringen, ohne sich an billige theologische Kompromisse und falsche Anpassung zu verlieren; sie sollte in Reflexion, Argumentation und Diskussion ermutigt werden und verpflichtet sein, an der normativen Positionierung der Theologie festzuhalten und gleichzeitig auf eine absolute Wahrheitssetzung zu verzichten; sie sollte nicht vergessen, dass es ihr theologisch im Letzten und Wichtigsten um die Gottesfrage geht, die ihr inhaltliches Alleinstellungsmerkmal im schulischen Fächerkanon wie ihr Proprium im Wertediskurs ist; sie sollte freies Streiten auf Augenhöhe unter der unstrittigen Voraussetzung Gott geschaffener Menschenwürde bei Achtung aller Mitstreiter sein und auch Andersdenkende nicht diffamieren oder gar verketzern; sie sollte bei allem didaktischen Adaptionsbemühen nie die Sperrigkeit und im Letzten Unvermittelbarkeit und Unverfügbarkeit christlichen Gottesglaubens vergessen, überspielen oder gar verleugnen; sie sollte sich unter didaktischer Prämisse gegenüber dem pluralen Angebot an Systematischer Theologie nicht einem Auswahlprozess verweigern, der die didaktisch geeignetsten und passendsten Theologien herausfiltert und damit seiner theologischen Streit- und Prüfkultur nachkommt; sie darf sich – wie in der theologisch-religionspädagogischen Streitgeschichte immer wieder angeklungen und dokumentiert – als Ausdruck und Frucht lebendiger Theologie feiern lassen, die mit, über und durch die angewandte Religionspädagogik und -didaktik, wo gelungen, anspruchsvolle Befreiung aus lebensferner Theologie und selbstgenügsamer Dogmatik erfährt.

Robert Schelander

Streit um die Schule. Der »Schulkampf« in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts

Abstract The article deals with a long-standing historical dispute between church and state. At the end of the 19th century, the so-called »Schulkampf« was a struggle concerning the issue of how much influence the church should have on schools and on education. Detailed analyses show a range of viewpoints on this issue on the part of different confessions. In Austria, the position of Protestant educators and the Protestant Church diverged significantly from that of the Catholic Church. These disputes are made tangible in polemics between the denominations. Contemporary religious education must keep these historical fault lines in mind when seeking ecumenical cooperation in the field of religious education.

»[…] man nötigt uns den Kampf auf; wir müssen kämpfen«,1 so zitiert Franz Stauracz am Ende des 19. Jahrhunderts aus den Schriften seiner Gegner, um seinerseits mit seinen Beiträgen den Kampf »durch Wort und Schrift« aufzunehmen. Das Thema der Auseinandersetzung ist die Schule: »Einer der heftigsten Kämpfe, der in unseren Tagen entbrannt ist, ist der Kampf um die Schule«.2 Streitthemen haben ihre Konjunktur. Es gibt Zeiten intensiver Auseinandersetzungen und Zeiten, da ist das Interesse an ihnen gering. Das Thema Religion und Schule spielt in aktuellen theologischen und gesellschaftlichen Diskursen in Österreich eine wichtige Rolle. Kulturkampf im Klassenzimmer (Susanne Wiesinger) und Generation haram (Melisa Erkurt), zwei populäre Publikationen, erhielten viel Aufmerksamkeit und wurden breit diskutiert. Die Frage des pädagogischen Einflusses der Kirchen auf die öffentliche Schule findet demgegenüber kaum Aufmerksamkeit. Dies war nicht immer so. Am Ende des 20. Jahrhunderts stellt Hermann Schnell, ein Vertreter sozialdemokratischer Bildungspolitik, nach der Lektüre des aktuellen Schulprogramms der SPÖ verwundert fest, »dass es darin keinen Abschnitt über das 1 Franz Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes und sein Generalstab oder ein Jammerbild österreichischer Schulzustände, Wien 21889, VII. 2 Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes (s. Anm. 1), VIII.

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Verhältnis von Schule und Kirche gibt. Kirche und Religion kommen in einem sozialistischen Schulprogramm gar nicht mehr vor.«3 Dies sei bisher anders gewesen. Die Auseinandersetzungen um die Schule bewegten sich entlang des Religionsthemas bzw. der Frage des Verhältnisses von Kirche und Schule. Als zentrale Position der konservativen Gegenseite nennt er den »Anspruch auf die öffentlich-katholische Schule«.4 Für und gegen sie wurde im Schulkampf 5 gestritten. Hermann Schnell war aktiver Gesprächspartner in diesen Auseinandersetzungen und berichtet u. a. von seinen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg als Obmann des Wiener Sozialistischen Lehrervereins: »Der Schulstreit der Fünfzigerjahre erinnerte mich stark an Otto Glöckel, als er in Lehrerversammlungen gegen die öffentlich-katholische Schule auftrat, die auch noch in meiner Jugendzeit ein Schreckgespenst darstellte.«6 Damit ist eine erste Konfliktlinie des Themas Kirche und Schule benannt: die Diskussion um die Schule (nicht nur Religion in der Schule) zwischen verschiedenen parteipolitischen und kirchlichen Positionen. Der Gegensatz wurde im 20. Jahrhundert durch das Gegenüber eines sozialistischen und eines konservativen Bildungsprogramms, letzteres mit deutlichem Bezug zur katholischen Kirche, greifbar. Auffällig ist das Fehlen von Hinweisen auf eine evangelische Position. Wie hat sich die evangelische Kirche, die evangelische Theologie und Religionspädagogik zu diesem Thema positioniert? Die Frage der konfessionellen Schule schien sich für die evangelische Religionspädagogik in Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erledigt zu haben. Es wurde kaum zum konfessionellen Schulwesen publiziert. Gut lässt sich dieses Pausieren in den ersten Reaktionen auf den für die Religionspädagogik unerwarteten Boom der Neugründungen von Schulen in kirchlicher Trägerschaft (in Österreich als konfessionelle Privatschulen bezeichnet) ersehen. Ein vergessenes Kapitel der Religionspädagogik wurde wiederentdeckt, und zu den Schulen in konfessioneller Trägerschaft wird wieder geforscht und publiziert. Bemerkenswert ist, dass diese jüngeren Darstellungen die älteren konfliktreichen Diskussionen um Kirche und Schule kaum thematisieren.7 Schon vorhin wurden die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts als Zeit einer intensiven Debatte über die Konfessionalität der staatlichen Schule genannt. Von katholischer Seite wurde eine staatliche katholische Schule gefordert und dabei 3 Oskar Achs/Karl Sretenovic (Hg.): Hermann Schnell. Erinnerungen und Lebenswerk, Wien 1999, 12. 4 Achs/Sretenovic: Hermann Schnell (s. Anm. 3), 49. 5 Achs/Sretenovic: Hermann Schnell (s. Anm. 3), 25. 6 Achs/Sretenovic: Hermann Schnell (s. Anm. 3), 26. 7 Robert Schelander: Religion und Schule – alte Beziehungen neu entdeckt, in: Revista Ecumenica˘ Sibiu 2/3 (2010), 97–110.

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auf deutsche und niederländische Beispiele verwiesen. 1952 veröffentlichten die katholischen Bischöfe einen Fastenhirtenbrief, in welchem sie diese Frage zu einer zentralen Forderung machten.8 Auch von evangelischer Seite erschien eine Aufforderung, ein Bekenntnis zur evangelischen Schule abzulegen.9 Die Diskussion um die Mitte des 20. Jahrhunderts hat selbst eine Vorgeschichte: die Auseinandersetzung zum Verhältnis von Schule und Kirche in der ersten Republik und den Schulkampf um die liberale Schulgesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Das Streitthema

Mit der Thematisierung dieses ersten Schulkampfes wollen wir einen Beitrag zum Jahrbuchthema, der Frage nach der Streitkultur, leisten. Mich interessieren Zeiten, in denen sich die Auseinandersetzung um die Schule zugespitzt hat und neue Formen annahm und aus der Diskussion ein Streit wurde. In den Darstellungen zur Geschichte der Schule in Österreich wird der Begriff des Schulkampfes für zwei Zeitepochen verwendet: die Bildungsreform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Schulreform in der ersten Republik.10 In den Darstellungen zur Schulgeschichte erscheint der Streit um die Schule als Kampf zwischen Kirche und Staat. Dies ist insofern plausibel, als sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Prozess der Verstaatlichung des Schulwesens und eine Trennung der Schule bzw. Schulaufsicht von der Kirche auch in Österreich vollzogen hat. Es ist dennoch bemerkenswert, dass die Schulgeschichtsforschung diese frühe Phase des österreichischen Schulwesens nicht als kirchliche, sondern als staatlich-obrigkeitliche Phase bezeichnet. Es war der Staat, der sich kirchlicher Strukturen und Institutionen – nicht zuletzt aus finanziellen Erwägungen – bediente. Den spezifisch katholischen Charakter der österreichischen Schule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärt Engelbrecht durch einen »Teil-

8 Vgl. Wilhelm Sacher: Die katholische Schule. Ein Beitrag zur österreichischen Schulfrage, Innsbruck 1954. 9 »In der evangelischen Presse unseres Landes erschien in der Aprilfolge 1951 der vom Landespressverband herausgegebenen evangelischen Monatsblätter ein Aufruf mit dem Titel ›Bekenntnis zur Evangelischen Schule‹.« Bernhard Hans Zimmermann: Carl Ferdinand Kühne. Erster Rektor der Lehranstalten in Oberschützen. Ein Beitrag zur evangelischen Schul- und Erziehungsgeschichte in Österreich und Ungarn, in: JGGPÖ 68/69 (1953), (265– 279) 165. 10 Hermann Schnell verwendet den Begriff sowohl für die Auseinandersetzungen um das Reichsvolksschulgesetz 1869 als auch für den schulpolitischen Streit in der ersten Republik. Vgl. Hermann Schnell: Bildungspolitik in der Zweiten Republik, Wien 1993.

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rückzug des Staates infolge fehlender Mittel und begrenzter Erfolge«.11 Entscheidende Entwicklungen finden in diesem übergeordneten staatlichen Rahmen statt. Markante Zäsuren sind die Revolution von 1848, das Konkordat von 1855 und schließlich die liberalen Schulgesetze am Ende der 60er Jahre.12 Damit ist die erste Konfliktphase benannt: die Auseinandersetzungen um die liberale Schulgesetzgebung in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts mit ihren Nachwirkungen. Die enttäuschten Hoffnungen von 1848, welche im Konkordat von 1855 einen massiven Rückschlag in der Schulentwicklung diagnostizierten, haben das Schlagwort von der Konkordatsschule, welches uns bis in das 20. Jahrhundert begegnet, geprägt. Schulische Missstände wurden hinfort dem Konkordat und dem kirchlichen Einfluss der katholischen Kirche angelastet. »Es wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen, dass die Kirche im Grunde nur ein Ausführungsorgan des Staates vor Ort war und dessen Anordnungen zu vollziehen hatte.«13 Mit der sog. liberalen Schulgesetzgebung vollzog sich eine radikale Änderung im österreichischen Schulwesen. Es ist die Rede von einer Bildungsrevolution.14 Zentrales schulisches Dokument dieses Prozesses ist das Reichsvolksschulgesetz (RVG) von 1869.15 Damit zog der Staat die Konsequenzen für das Schulwesen aus den vorangegangenen Neuregelungen seines Verhältnisses zu Kirche(n) und Religion(en) im Staatsgrundgesetz bzw. dem Gesetz über das Verhältnis der Schule zur Kirche, dem sog. Schule-Kirche-Gesetz. Letzteres hat den Einfluss und die Mitwirkung der Kirche im Bereich des Schulwesens auf den Religionsunterricht und die religiösen Übungen beschränkt. Das Schulwesen ist »unabhängig

11 Helmut Engelbrecht: Schule in Österreich. Die Entwicklung ihrer Organisation von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 2015, 98. Die sog. Politische Schulverfassung von 1805, welche kirchliche Strukturen für die Schulaufsicht einsetzte, bewirkte eine Rückkehr zu einem staatlichen katholischen Schulwesen. »Wirklich von Gewicht war jedoch die Übertragung der pädagogisch-didaktischen Aufsicht über die schulischen Einrichtungen auf der unteren und mittleren Ebene an die Amtskirche.« Engelbrecht: Schule in Österreich, 99. 12 Vgl. Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs 4. Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986. 13 Engelbrecht: Schule in Österreich (s. Anm. 11), 101. 14 »In erstaunlich kurzer Zeit wurden in der nachrevolutionären Zeit die Grundlagen für ein zeitgemäß erneuertes Bildungssystem geschaffen, das bis zum Ende der Monarchie Bestand hatte, das sogar in seinen wesentlichen Strukturelementen bis in die Gegenwart hinein wirksam und prägend blieb – in der Republik Österreich ebenso wie in den meisten Nachfolgestaaten.« Margret Friedrich u. a.: Die Bildungsrevolution, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 9. Soziale Strukturen 1. Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft 1. Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution, hg. v. Helmut Rumpler u. Ulrike Harmat, Wien 2010, (67–107) 68. 15 Reichsvolksschulgesetz (RVG) = Gesetz vom 14. Mai 1869, durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgestellt werden, RGBl. Nr. 62/1869.

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von dem Einflusse [sic!] jeder Kirche oder Religionsgesellschaft«.16 Zugleich wurde das elementare Schulwesen neu geordnet, das RVG verfolgte ein Modell der Interkonfessionalität und war europaweit ein modernes Gesetz.17 Auch diese Schule erhielt in den schulkämpferischen Auseinandersetzungen ein Etikett: die Neuschule. Die gegensätzlichen Forderungen prallten hart aufeinander: Hier die liberale Unterstützung für die interkonfessionelle Neuschule mit scharfer Begrenzung jeglicher kirchlichen Einflussnahme und da die Forderung der katholisch-kirchlichen Seite, welche sich zunehmend politisch formierte, nach einer Rückkehr zu einem kirchlich-konfessionellen Schulwesen (Konkordatsschule). Der Schulhistoriker Engelbrecht stellt fest: »Als die Gegensätze immer stärker aufbrachen, entstand ein kulturkämpferisches Klima ohne Gesprächsbereitschaft und mit verhärteten Fronten.«18 Wir wenden uns diesen ersten Auseinandersetzungen um die Schule zu, da sie eine deutliche, bisher wenig beachtete, konfessionelle Dimension haben. Wenn es um das Gegenüber von katholischer Kirche und Staat im Einfluss auf das Schulwesen geht, welche Rolle spielte hier die kleine evangelische Minderheit? Die evangelische Kirche erhielt eigene konfessionelle Schulen und könnte daher – so wäre zu vermuten – ein natürlicher Verbündeter der Forderung nach öffentlich getragenen konfessionellen Schulen sein. Wir werfen, bevor wir uns diese Auseinandersetzungen um die Schule genauer ansehen, einen Blick auf eine Untersuchung zur theologischen Streitkultur, der theologischen Polemik am Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich.

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Die Polemik eines Franz Stauracz

Gustav Reingrabner hat die theologische Polemik als Handlungsfeld der Theologie in der Geschichte der evangelischen Kirche in Österreich untersucht. Er stellt fest: Am Ende des 19. Jahrhunderts hat die Polemik Konjunktur.19 Er konzentriert sich in seiner Darstellung dieser Epoche auf den publizistisch tätigen Katholizismus, welcher nicht nur den politischen Liberalismus und Sozialismus, sondern auch das Judentum und den Protestantismus als Gegner 16 Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch grundsätzliche Bestimmungen über das Verhältniß [sic!] der Schule zur Kirche erlassen werden, RGBl. Nr. 48/1868, §2. 17 »[…] damals in Europa modernste, spätere Entwicklungen vorwegnehmende Gesetz […]« Engelbrecht: Schule in Österreich (s. Anm. 11), 131. 18 Engelbrecht: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie (s. Anm. 12), 117. 19 »Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es in Österreich dann eine durchaus ausgeprägte und heftige Polemik, die man indessen selbst als notwendige Apologetik verstand.« Gustav Reingrabner: Polemik als Handlungsfeld der theologischen Arbeit, in: JGPrÖ 127/128 (2011), (262–280) 264.

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identifizierte. Einen neuen Impuls im Hinblick auf die evangelische Kirche erhielt diese Kontroverse am Ende des Jahrhunderts durch die Los-von-Rom Bewegung. Reingrabner erwähnt neben Sebastian Brunner und Josef Deckert vor allem Franz Stauracz als führenden Polemiker auf katholischer Seite in Wien jener Zeit. Während Reingrabner die Auseinandersetzungen von Stauracz mit dem protestantischen Pfarrer Paul von Zimmermann20 in den Blick nimmt, interessieren uns seine Polemiken in Schulfragen. Er bezieht sich auf die liberale Schulreform, welche einen kirchlichen Einfluss auf den Schulunterricht (mit Ausnahme des Religionsunterrichts) ausschließt. Für ihn stellt das Reichsvolksschulgesetz eine Fehlentwicklung dar, welche es rückgängig zu machen gilt. Reingrabners Artikel legt uns die Spur zu unserer Fragestellung nach der evangelischen Position in diesen Auseinandersetzungen. Wir nehmen unseren Ausganspunkt bei den Polemiken des Franz Stauracz zu Schulfragen. Uns ist dabei bewusst, dass damit nur ein bestimmter Ausschnitt der damaligen Debatten zur Schule in den Blick kommt. Neben religiös-konfessionellen Themen spielten auch nationale Fragen und die Sprachenfrage eine entscheidende Rolle. Franz Stauracz (1855–1918) war katholischer Priester, Pädagoge und Publizist. Er gründete die christliche Arbeiter- und Jugendbewegung, war politisch vor allem in Fragen der Jugend und der Schule sehr aktiv, publizierte in Zeitschriften, der Tagespresse und veröffentlichte eine Reihe von programmatischen Kleinschriften zu aktuellen Fragen, vor allem der Schule. Er unterstützte die christlichsoziale Partei und stand in enger Verbindung zu Karl Lueger, zu dem er 1907 eine Biographie veröffentlichte.21 Für Stauracz hat der Konflikt zwischen Kirche und Staat um die Schule eine deutlich konfessionelle Konnotation: »Protestanten [im Original gesperrt, RS] sind es zumeist, die den Katholizismus an der Wurzel, das ist in der Schule treffen wollen«,22 schreibt er. Namentlich macht er hier zwei Personen aus, die mit diesem Ziel agieren: Friedrich Dittes23 und (Asmus) Christian Jessen.

20 Franz Stauracz: Pastor v. Zimmermann’s Theologie, Philosophie und Historie, Wien 1898. Paul von Zimmermann war erster Pfarrer der Wiener evangelischen Kirche A.B. und Privatdozent für Religionsphilosophie an der Fakultät und ist später in die Kirchenleitung berufen wurden. Vgl. Karl-Reinhart Trauner: Von Jena nach Erlangen. Zum Wechsel theologischer Schulen an der evangelisch-theologischen Fakultät in Wien, in: JGPrÖ 117/118 (2002), (48–83) 73. 21 Franz Stauracz: Dr. Karl Lueger. Zehn Jahre Bürgermeister, Wien 1907. 22 Stauracz: Pastor Zimmermann (s. Anm. 20), 15. 23 »Einen Mann glaubte ich besonders ›festnageln‹ zu sollen, der den Schulkampf bei uns inaugurirte [sic!], der die Lehrer gegen die Priester verhetzte, die Kirche angriff. In ihm glaube ich den Repräsentanten der neuen Schulära [sic!] gefunden zu haben.« Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes (s. Anm. 1), VIII. Gemeint ist Friedrich Dittes.

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Stauracz empfindet die Haltung des Protestantismus in der Schulfrage als widersprüchlich, da dieser eigene konfessionelle Schulen fordere und zugleich dieselben bei den Katholiken ablehne. »Warum aber das Zetern gegen die konfessionellen Schulen der erdrückenden katholischen Majorität.«24 Diese protestantische Agitation sei mitverantwortlich für das Jammerbild, welches die österreichischen Schulzustände kennzeichnet. Jammerbilder österreichischer Schulzustände lautet auch der Titel seiner bekannten Reihe polemischer Schriften zur Schulfrage. Es handelt sich um eine Fortsetzung seines erfolgreichen Buches zu seinem Erzfeind: Friedrich Dittes. Zentraler inhaltlicher Angriffspunkt ist die konfessionslose Neuschule. Stauraczs Anliegen ist es, der übergroßen Mehrheit der katholischen Bevölkerung Österreichs zu helfen, ihr Elternrecht auf Erziehung ihrer Kinder in einer katholischen Schule durchzusetzen. Ein Recht, um welches sie durch die konfessionslose Schule betrogen würden.25 Wie geht Stauracz bei seinen Polemiken vor? Sehen wir uns das Titelblatt auf der folgenden Seite an. Stauracz greift das Bild des Kampfes auf: Es tobt eine Schlacht zwischen Gegnern und Unterstützern der österreichischen Schule. Ausländische importierte Schulkünstler gaukeln der Öffentlichkeit ihre unglaublichen Leistungen (gewonnene Schlachten) vor. Sie werden durch ihre eigenen Aussagen überführt, indem Stauracz ihre wahren Intentionen aufdeckt und öffentlich macht (festnageln). Er macht die beteiligten Personen (Dittes und seinen Generalstab) kenntlich, dabei zeichnet er das Bild am Beginn einer Schlacht, in welchem sich die gegnerischen Reihen gegenüberstehen. Die eigene Kampfesgruppe bezeichnet er hier mit dem Namen der Vereinigten Christen, eine Vereinigung um Dr. Karl Lueger, welche später zur christlich-sozialen Partei wurde. Der Gegensatz zwischen liberalen und konservativen politischen Anschauungen und politischem Lager steht bei Stauracz auf dem Titelblatt. Friedrich Dittes ist zu dieser Zeit schon Pensionär; er hatte sein Amt als Direktor des Wiener Pädagogiums, einer Lehrerfortbildungsanstalt, welche 1868 als Frucht einer liberalen Bildungspolitik des Wiener Gemeinderates gegründet wurde, bereits 1881 zurückgelegt. Wegen dieser Tätigkeit sowie der Herausgabe der gleichlautenden Zeitschrift (Pädagogium. Monatsschrift für Erziehung und Unterricht 1879–1896) wird er für Stauracz zu jener Person, welche den Schulkampf inaugurierte. Stauracz will mit seiner Kampfschrift vor der modernen Pädagogik warnen, vor den Lehrerbildnern und ihren Lehrbüchern, aber auch vor den Reden, welche auf 24 Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes (s. Anm. 1), 16. 25 »Die mehr als 90 Prozent Katholiken Österreichs haben ein Anrecht darauf, dass ihre Schule christlich sei, dem Namen nach und in der That [sic!].« Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes (s. Anm. 1), III.

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den Lehrertagen gehalten und in Lehrerzeitschriften abgedruckt werden. Er sieht die Lehrerschaft zum Teil als Verführte.26 Die Reihe der Verführer ist auch bei den Protestanten (neben Juden, Freimaurern usw.) zu suchen. Neben Dittes wird immer wieder Asmus Christian Jessen von ihm zitiert. Dieser ist Herausgeber der Freien Pädagogischen Blätter und zugleich Lehrer an einer evangelischen Schule. Er betätigt sich – mehr als Dittes – in der Selbstorganisation der Lehrerschaft in den Lehrervereinen. Auch er ist für Stauracz ein wichtiger Gegner. Ich möchte diesen ersten Einblick in die Konfrontation einer (polemischen) katholischen Position mit der Neuschule, der liberalen Schulgesetzgebung und in diesem Zusammenhang mit ausgewählten protestantischen Positionen eines Dittes und Jessen nicht mit den Texten und Positionen seiner Kontrahenten27 ausbauen, sondern der Frage nachgehen, ob diese Gegnerschaft, welche Stauracz hier zeichnet, als Position der evangelischen Kirchen repräsentativ war. Dittes und Jessen haben, an unterschiedlichen Stellen im österreichischen Bildungswesen stehend, schul- und religionspolitische Positionen vertreten, welche nicht einfach für die protestantische Position bzw. jene der evangelischen Kirche übernommen werden kann. Stauracz hat sich Gegner ausgesucht, welche möglichst weit von seiner Position entfernt sind. Es ist Stauracz wichtig, seine Aufdeckungen über die wahren Ziele der modernen Pädagogik durch Zitate aus den Schriften der Gegner zu untermauern und seinen Warnungen vor einer Öffentlichkeit Plausibilität zu verleihen. Es ist daher zu vermuten, dass die Nähe des Protestantismus zu liberalen Positionen Teile der Leserschaft nicht überrascht hat, sondern auf eine entsprechende Erwartungshaltung gestoßen ist. Das methodische Vorgehen von Stauracz, die Sammlung vieler Zitate aus gedruckten Schriften, lässt sich m. E. damit erklären, dass bildungspolitische Fragen jetzt von breiten gesellschaftlichen Gruppen diskutiert werden. Reden auf Lehrerversammlungen oder Beiträge in pädagogischen Zeitschriften haben eine bestimmte Zielgruppe und einen engen Kreis von Lesenden. Seine schmalen, kleinformatigen und damit günstig zu verbreitenden Schriften können und wollen solche pädagogischen Konfliktthemen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.28 26 Vgl. seine Bemerkung zum Hainfelder Parteitag der Sozialdemokratie »wo die von den Juden geführten Arbeiter ›Trennung des Staates von der Kirche‹ und die konfessionslose Schule verlangten«. Stauracz: Der Schlachtengewinner Dittes (s. Anm. 1), 10. 27 Vgl. Josef Pircher: Politische, religiöse und wissenschaftliche Auseinandersetzungen um den Pädagogen Friedrich Dittes in Wien zwischen 1867 und 1896. Eine historische Diskursanalyse, Diss., Klagenfurt 2017. Leider gibt es keine Untersuchung zu A. Christian Jessen. 28 Vgl. zur entsprechenden Publikationsoffensive auf evangelischer Seite: Karl-Reinhart Trauner: »Wo werden die Geisteskämpfe ausgefochten? In der Presse.« (H. Hartmeyer). Zu den Anfängen evangelischer Medienarbeit in Österreich, in: JGPrÖ 119 (2003), 135–153.

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Evangelische Diskussionsbeiträge zum Reichsvolksschulgesetz

Auf der Suche nach schulpolitischen Positionen, welche auch innerhalb der evangelischen Kirche konsensfähig waren, greifen wir auf Debatten zu der Beschlussfassung des Reichsvolksschulgesetz im österreichischen Reichsrat29 zurück. Von evangelischer Seite war Superintendent Carl Samuel Schneider (Bielitz) im Ausschuss zur Vorbereitung des Gesetzes vertreten und hat den Entwurf, welcher im Plenum präsentiert wurde, mitgetragen, allerdings mit dem Ziel, noch Abänderungsanträge zu stellen. Der Gesetzesentwurf vertritt die liberale Position in Schulfragen, die öffentliche Schule hat sich in konfessionellen Fragen neutral zu verhalten, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und der Unterrichtsinhalt sind im Lehren und Lernen in keiner Weise konfessionell gebunden. Schneider vertritt – so wird es von den anderen Mitgliedern des Reichsrates verstanden – den Standpunkt der evangelischen Kirche.30 Seine Position ist nicht leicht zu verstehen, da sie zwei Zielrichtungen hat. Er begrüßt einerseits das Gesetz,31 weil es seiner eigenen liberalen Überzeugung und dem Profil evangelischer Schulen entgegenkommt, andererseits möchte er gerne für die evangelischen Gemeinden ihre unter großen Mühen errichteten konfessionellen Schulen erhalten. Inhaltlich streicht er die einheitliche staatliche Steuerung des Schulwesens, das Ende der katholischen Schule als Staatsschule, die verbesserte Lehrerausbildung und damit einhergehend die soziale Hebung des Lehrberufs32 heraus. Er begründet seine Argumente mit der Situation evangelischer Gemeinden in Österreich als Minderheit, mit einer besonderen Geschichte der Unterdrückung sowie dem gerade erst erlassenen Protestantenpatent von 1861, welches ihnen ermöglicht, »dass sie eigene Schulen errichten, Lehrer dazu berufen, den Religionsunterricht bestimmen und die weltlichen

29 Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates 4 (1867/69) 5, (135.–175. Sitzung) 4181–5303; ebd. 6, (176.–202. Sitzung) 5305–6313. Redebeiträge von Superintendent Schneider zum Schulgesetz finden sich an folgenden Stellen: Stenographische Protokolle 6, 5733–5737 und 5786–5787. 30 Vgl. die Bemerkung des Abgeordneten Karl Bauer, evangelischer Pfarrer aus Kärnten: »Ich will nicht die Bedenken wiederholen, welche gestern ein sehr geehrter Vorredner, Herr Superintendent Schneider, vom Standpuncte [sic!] der evangelischen Kirche in Oesterreich im Hinblick auf den vorliegenden Gesetzesentwurf, mit dessen Principien [sic!] im Ganzen und Großen auch er sich einverstanden erklärte, bereits geltend gemacht hat.« Vgl. Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5744. 31 Auch bei ihm finden wir die Kampfesmetapher. Er nennt den Entwurf ein »geistiges Wehrgesetz, welches die Macht der Finsterniß [sic!] abwehren und dem Volke die Waffen des Lichtes anlegen soll«. Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5733. 32 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5733.

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Gegenstände unter der allgemeinen Unterrichtsgesetzgebung aber mit Wahrung des konfessionellen Charakters behandeln«33 können. Wir sehen, dass die evangelische Position in zwei verschiedene Richtungen zielt: Einerseits unterstützt man den liberalen Grundzug des Gesetzes und damit die Abschaffung der katholischen Staatsschule, andererseits plädiert man für die Unterstützung der eigenen evangelischen Schulen. Daher erhält Schneider für seinen Beitrag Zurufe und Unterstützung aus verschiedenen politischen Lagern. Je nachdem, welche evangelischen Argumente vorgetragen werden, vermerkt das Protokoll: »Bravo! im rechten Centrum« bzw. »Ruf im linken Centrum: Hört!«34 Aus den Redebeiträgen Schneiders wird nicht deutlich, welche Abänderungsanträge er in der zweiten Lesung stellen wollte. Er hat, wie manche anderen auch, da sich abzeichnete, dass Änderungen keine Mehrheit mehr finden würden und zudem jede Diskussion die Gefahr der Vertagung der Verabschiedung auf unabsehbare Zeit bedeuten würde, seine Anträge zurückgezogen. Das Gesetz wurde schließlich im Wesentlichen in der eingebrachten Entwurfsfassung verabschiedet. Die Mitglieder des rechten Zentrums stimmten nicht mit, sondern haben das Plenum vorher verlassen. Superintendent Schneider kann auf eigene Erfahrung im Schuldienst zurückgreifen. Er war Lehrer an evangelischen Schulen und Rektor der evangelischen Musterschule in Bielitz, aus welcher später die evangelische Lehrerbildungsanstalt hervorgegangen ist. Es ist bezeichnend, dass Schneider die Gründung der Lehrerbildungsanstalt und das Engagement der evangelischen Gemeinde für sie mit dem Einsatz des liberalen Wiener Gemeinderates für die Errichtung des Pädagogiums in Wien, dessen erster Direktor Friedrich Dittes wurde, vergleicht.35 Superintendent Schneider positioniert hier das evangelische Bildungswesen sehr deutlich im Umfeld liberaler Bildungsbestrebungen. Er spricht auch von bestimmten Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche, welche mit »fliegenden Fahnen« in die staatliche interkonfessionelle Schule wechseln wollten. Schneider hegt die Befürchtung, dass aus finanziellen Erwägungen evangelische Gemeinden es sich nicht werden leisten können, doppelte Schulstrukturen in ihren Gemeinden zu finanzieren. Die Kosten für die öffentliche interkonfessionelle Schule sind größtenteils auch von den einzelnen Gemeinden zu tragen. Dies würde daher – und im Wesentlichen hat er damit Recht behalten – zum Ende vieler evangelischer Schulen führen. Ein anderer Abgeordneter, Karl Bauer, evangelischer Pfarrer aus Kärnten (und späterer Superintendent in Wien), steht ihm in der Argumentation bei und 33 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5734. 34 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5734. 35 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5734.

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versucht die Bedeutung dieser konfessionellen Schulen für den Protestantismus deutlich zu machen.36 Er äußert Bedenken hinsichtlich möglicher Diskriminierung von religiösen Minderheiten: Ein Lehrer als Angehöriger einer religiösen Minderheit würde wohl nicht als Lehrer für die Mehrheit berufen werden. Das Differenzkriterium Mehrheit und Minderheit macht gleichberechtigtes Zusammenwirken unmöglich. Trotz dieser Bedenken kündigt auch er an, für den Gesetzesentwurf zu stimmen. Die Gründe, warum in der Abwägung dieser dilemmatischen Situation sowohl Schneider als auch Bauer für den Gesetzesentwurf stimmen, liegen offenbar in der Furcht vor einer katholischen Staatsschule, welche die Minderheit »prädominieren«37 würde. Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen hat es Plausibilität, wenn Stauracz den Protestantismus mit liberalen schulischen Positionen in Verbindung bringt. Werfen wir noch einen weiteren Blick auf einen protestantischen Beitrag im Umfeld der liberalen Schulgesetzgebung, welche diese positionelle Nähe unterstützt.

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Eine evangelische Stimme zu den religiösen Übungen

Auf der Suche nach evangelischen Stellungnahmen zum Thema Religion und Schule stoßen wir auf Heinrich Röck. Er hat eine sehr prononcierte Stellungnahme zur Frage der religiösen Übungen verfasst.38 Während er den Bestimmungen zum Religionsunterricht, wie sie im RVG formuliert sind, zustimmt, lehnt er die Regelungen zu den religiösen Übungen ab, da sie seiner Überzeugung nach dem Geist der liberalen Schulgesetze widersprechen.39 Heinrich Röck ist Lehrer an der evangelischen Schule in Bielitz mit den Unterrichtsfächern Französisch und Evangelische Religion. Ihm kommt insofern eine gewichtigere Stimme innerhalb der evangelischen Kirche zu, da er die of36 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5744–5746. 37 Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5735. Bemerkenswert ist, dass ein Vertreter einer anderen religiösen Minderheit, der griechisch-orthodoxe Priester Sylvester Morariu-Andriewicz, ebenfalls für die Annahme des Gesetzes stimmt. Vgl. Stenographische Protokolle 6 (s. Anm. 29), 5820. 38 Heinrich Röck: Religiöse Übungen in der Schule, Wien 1874. Sein Beitrag bekommt durch die »Bobies Affäre« größere Aufmerksamkeit. Der Bezirksschulinspektor und Schuldirektor Franz Bobies wurde »seiner Stellung [als Bezirksschulinspektor] 1873 enthoben, weil er das Vertrauen des Ministers durch Unterzeichnung einer Eingabe verletzt habe, in der die Regierung gebeten wurde, einen Erlaß zurückzunehmen, der die Lehrer zur Teilnahme an den bischöflicherseits angeordneten obligatorischen Religionsübungen verpflichtete.« Otto Wilhelm Beyer: Deutsche Schulwelt des neunzehnten Jahrhunderts in Wort und Bild, Leipzig 1903, 24. 39 § 5 des RVG erwähnt neben dem Religionsunterricht auch die religiösen Übungen als Teil der von der Kirche zu besorgenden Aktivitäten in der Volksschule.

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fizielle Darstellung des evangelischen Religionsunterrichts an österreichischen Schulen anlässlich der Wiener Weltausstellung verfasste. Für Röck sind die religiösen Übungen aus pädagogischen Gründen abzulehnen. Er plädiert für deren Abschaffung. Sein Beitrag kann als Beleg dienen, dass zumindest Teile der protestantischen Lehrerschaft nicht nur die Position der interkonfessionellen staatlichen Schule vertreten haben, sondern darüber hinaus auch in Fragen des Verhältnisses von Kirche und Schule eher auf Seiten der liberalen Position zu finden waren. Sein Beitrag wirft noch zwei weitere Schlaglichter auf diese Auseinandersetzung: – Er zeigt den radikalen Bruch, den die liberalen Schulgesetze für das Verhältnis von Kirche und Schule bedeuten: »Gestern die Kirche noch allmächtig, heute entthront! […] verbannt in einen kleinen Winkel des Schullebens, in den Religionsunterricht!«40 – Er macht die anders gelagerten Interessen von religiöser Mehrheit und Minderheiten deutlich und beschreibt die rechtlich benachteiligte Situation der Minderheiten. Mit der Gleichberechtigung von religiösen Gruppierungen wird die Frage, wie mit multireligiösen Situationen umzugehen sei, virulent.41

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Zusammenfassung

Die Einblicke in die Diskussionen zu Schule und Kirche am Ende des Habsburgerreiches zeigen eine wichtige, bisher kaum thematisierte konfessionelle Spannung. Der Schulkampf bewegt sich nicht nur entlang politischer Positionen bzw. jener von katholischer Kirche und Staat, sondern er hat auch eine konfessionelle Dimension. In dem Maße, wie die konservative Position die Privilegierung der katholischen Religion in der Schule voraussetzte, unterstützte die evangelische Position liberale Forderungen. Die Identifikation von liberalen bildungspolitischen Positionen mit dem österreichischen Protestantismus hat Plausibilität und ist naheliegend, wie unsere Analyse gezeigt hat. Es zeigt sich, dass die konfessionellen Gegensätze für das Verständnis der Schulgeschichte am Ausgang der Habsburgermonarchie ein wichtiges und zugleich noch wenig bearbeitetes Forschungsfeld sind. Josef Pircher ist in seiner jüngst veröffentlichten Dissertation zuzustimmen: »Der protestantische Libera40 Röck: Religiöse Übungen (s. Anm. 38), 12. 41 Röck beschreibt das Beispiel einer multireligiösen Schule in Wien (Leopoldstädter Gymnasium), an welcher es weniger als die Hälfte katholische Schüler gibt, 40 % sind jüdisch und über 10 % evangelisch. Religiöse Übungen werden nur für katholische Schüler angeboten, an deren Beaufsichtigung sich auch nichtkatholische Lehrer beteiligen. Vgl. Röck: Religiöse Übungen (s. Anm. 38), 25.

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lismus, wie er sich in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert ausmachen lässt, ist zwar Gegenstand der Forschung, doch die Zusammenschau von Religions- und Bildungsgeschichte ist bis dato für die k.k.-Monarchie nicht erfolgt. Die zentralen Köpfe in der Organisation der liberalen Volksschullehrerschaft waren mit Dittes, Jessen und Bobies nämlich Protestanten.«42 Es überrascht, dass Franz Bobies als Protestant bezeichnet wird. Er ist 1826 in Moosbrunn, Niederösterreich geboren und katholisch getauft worden. Von einem Übertritt ist nichts bekannt. Unsere kleine Analyse hat gezeigt, dass eine liberale Haltung in Bildungsfragen in der Öffentlichkeit als protestantisch wahrgenommen wurde. Die tatsächlichen Positionen im Protestantismus waren vielfältiger, eine entsprechende Etikettierung durch Franz Stauracz konnte aber mit einem Vorverständnis rechnen. Dies mag mit ein Grund sein, dass bis heute fälschliche konfessionelle Zuschreibungen im Umlauf sind. So werden z. B. Theodor Vernaleken (welcher aber in seiner Pension tatsächlich zum Protestantismus konvertierte) oder Franz Bobies als Protestanten bezeichnet und ihre bildungspolitische Position mit einer konfessionellen Bindung in Verbindung gebracht. Wünschenswert wären weitere Forschungen, wie andere Minderheiten (z. B. jüdische Religion und orthodoxes Christentum) sich in dieser Frage verhielten. Für die evangelische Seite stellt sich die Frage, wie sie sich im Schulkampf im neuen Österreich nach dem ersten Weltkrieg positionierte. Jetzt hat die Sozialdemokratie die führende Rolle im »Kampf um die Schule« übernommen; doch inwiefern hat sich damit die Position der evangelischen Kirche verändert? Werfen wir zum Schluss einen kurzen Blick zurück auf die eingangs skizzierte aktuelle Diskussionslage. Positiv fällt das veränderte Gesprächsklima auf. Der Streit hat keine Konjunktur mehr und der »Schulkampf« ist beendet. Formen des Miteinander und der Zusammenarbeit prägen das Verhältnis der Religionsgemeinschaften im schulischen Bildungsbereich. Kooperative Formen des Religionsunterrichts – unter damaligen Bedingungen nicht denkbar – werden heute im katholischen und evangelischen Religionsunterricht erprobt. Das Verhältnis zwischen Kirche und Schule hat sich gewandelt. Das Bemühen um kirchlichen Einfluss auf das staatliche Schulwesen und der Versuch, ebendiesen zurückzudrängen, ist heute kaum mehr wahrzunehmen. Beiträge von Kirchen und Religionsgemeinschaften zur schulischen Bildung werden von den politischen Akteuren nicht als »Schreckgespenst« (siehe oben Hermann Schnell) wahrgenommen. Dennoch bzw. gerade deshalb stellt eine Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Schule aufgrund der geänderten Rahmenbedingungen ein dringendes Erfordernis dar. Grundlegende Verhältnisbestimmungen von Schule 42 Pircher: Auseinandersetzungen um den Pädagogen Friedrich Dittes (s. Anm. 27), 226.

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und Kirche bzw. Religion wurden am Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildet. Die Entstehung der schulrechtlichen Formen von religiöser Bildung beruht auf den Erfahrungen jener Zeit. Dies hat dazu geführt, dass sich die Aufgabe der religiösen Bildung vom Rest der schulischen Bildung getrennt hat. Die staatliche Zurückhaltung in Sachen religiöse Bildung und eine Delegation dieser Aufgabe an die Religionsgemeinschaften scheint mir nicht mehr ausreichend. Staat und die Pädagogik müssen sich auch in Sachen religiöser Bildung als Gesprächspartner einbringen. In vielen beachtenswerten Projekten und pädagogisch wie religionspädagogisch herausfordernden Versuchen werden neue gangbare Wege von religiöser Bildung an der Schule gesucht und ausprobiert. Eine fundierte Kenntnis der Geschichte, gerade auch in ihren spannungsgeladenen Abschnitten, ist eine hilfreiche Voraussetzung für die Suche und Gestaltung von neuen Lösungen.

Aus der Forschungswerkstatt

Uta Heil zusammen mit Maria-Lucia Goiana und Sandra Kubicz1

Das Martyrium der Corona

Abstract The current Corona pandemic has aroused interest in the eponymous late antique martyr Corona. This paper offers an improved edition of the Greek text of her martyrdom and the first German translation of the text with comments. Corona’s martyrdom is embedded in the martyrdom narrative of a Victor: After she proclaims the vision of a heavenly reward to the tortured Victor, she too is arrested and executed. The origin of the memory about Victor and Corona seems to be in Egypt; due to the translation of the relics to the West, Latin versions of the narrative also emerged.

Die gegenwärtige Corona-Pandemie hat ein Interesse an der gleichnamigen spätantiken Märtyrerin Corona geweckt, die in Bayern (Passau) viel verehrt wird, in Niederösterreich auch Namensgeberin von St. Corona am Schöpfl (Heilbrunnen) und von St. Corona am Wechsel wurde und überdies als Patronin gegen (Vieh-)Seuchen angerufen wird.2 Diese Zusammenhänge haben gewiss dazu 1 Die Anregung zu einer Beschäftigung mit Corona kommt von Sandra Kubicz, die sich im Rahmen des Proseminars zu Christenverfolgungen und Märtyrern in der Antike mit dieser Heiligen beschäftigt und erste Literaturrecherchen unternommen hat; Maria-Lucia Goiana hat dankenswerterweise den griechischen Text des Martyriums in PG 15, 257–268 nach Codex Parisinus gr. 1519, fol. 355–363 mit dem Codex Vindobonensis hist. gr. 5, fol. 82–85 abgeglichen. Ich danke auch Wolfgang Wischmeyer und Hans Reinhard Seeliger für ihre Anregungen. 2 Erwähnt (ohne Beleg) in Joachim Schäfer: Art. Corona (griechisch: Stephana), 2020, in: Ökumenisches Heiligenlexikon, verfügbar unter: https://www.heiligenlexikon.de/Biographien C/Corona_Stephana.html [20. 10. 2020]: »Patronin von Castelfidardo und Osimo; der Schatzgräber und Metzger; gegen Seuchen und Unwetter, für Standhaftigkeit im Glauben; in Geldangelegenheiten, der Lotterie; der Diözese Belluno – Feltre.« Vgl. unten Anm. 18. Ein Hinweis auf das Patronat bei Seuchen ist: Sonntagsblatt 48. Beilage zum österreichischen Volksfreund 277, hg. v. Severinus-Verein in Wien zum 30. November 1856, hier 789: »In dem herrlichen Gebirgslande Oesterreichs, an einem Ausläufer des Krombstein, bauten im Jahre 1583 einige fromme Frauen des nun gleichfalls aufgehobenen Klosters St. Jacob zu Kirchberg am Wechsel eine kleine Kirche zu Ehren der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Corona. Eine bei der Pfarre daselbst aufbewahrte Urkunde nennt als Erbauerinnen: die ehrwürdige Frau Margaretha Händlin, Priorin des ehr. Klosters und Gotteshauses zu St. Jacob, die ehrw. Frau

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Uta Heil zusammen mit Maria-Lucia Goiana und Sandra Kubicz

geführt, dass ein ausführlicher Beitrag über sie in der Zeitschrift »Der Urologe« von 2020 online zu finden ist,3 und der Eintrag in Wikipedia wurde ebenfalls erweitert.4 Beide Coronas haben, wie der Name besagt, mit einem Kranz zu tun: Das Virus sieht aus wie mit einem Kranz umgeben, und das Siegeszeichen der Märtyrerin ist ein kronenartiger Kranz.5 Mit dem symbolischen Namen Corona hängen auch ihre Attribute (Krone, Goldstück) zusammen; sie wird daher auch eher in Geldangelegenheiten als bei Seuchen angerufen und gilt als Patronin der Schatzgräber – aber einen Schatz zur Bekämpfung der Pandemie zu finden, wäre ja ebenfalls willkommen. Allerdings sind nicht nur die bisherigen Kenntnisse über das Virus lückenhaft, sondern auch die Quellen zur Märtyrerin Corona, und die Informationen über die Geschichte ihrer Verehrung sind dürftig.6 Hinzu kommt, dass die spätantiken Texte keine selbständige Erzählung über Corona bieten, sondern ihr Martyrium in den Legendenkranz zu einem Märtyrer namens Victor einfügen.7 Die Unsicherheiten beruhen zusätzlich auf der Gattung der überlieferten Quellen: Die spätantiken Texte über Victor und Corona sind hagiographischer Natur, sodass sie sich zwar wie Augenzeugenberichte lesen lassen, aber keine

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Ursula Auracherin und die ehrw. Jungfrauen Dorothea Peuerlin und Magdalena Pergerin aus demselben Kloster. Diese Kirche wurde häufig von Wallfahrern aus der Umgegend besucht, um Abwendung der Viehseuche, des Hagels und um einen fruchtbaren Regen durch die Fürsprache der heil. Corona von Gott zu erbitten.« Vgl. Friedrich H. Moll/Marie-Isabelle Schwarzburger: St. Corona – eine Fürsprecherin gegen Seuchen? Eine Miszelle aus der Medizin- und Urologiegeschichte, in: Der Urologe 59/5 (2020), 585–593. S. Art. Corona (Heilige), 2020, verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Corona_(Heilige) [20. 10. 2020]. Zum Kranz als Zeichen des Sieges, der Ehre in christlicher Deutung vgl. Karl Baus: Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians (Theoph. 2), Bonn 1940; Antonius J. Brekelmans: Martyrerkranz. Eine symbolgeschichtliche Untersuchung im frühchristlichen Schrifttum (AnGr 150), Rom 1965; Heinrich Laag: Art. Kranz, in: LCI 2, Freiburg i.Br. 1970, 558–560; s. u. Anm. 25 und 27. Verwiesen sei auf die knappen Artikel: Bernhard Kötting: Art. Corona, in: LMA 3, München 1986, 259–260; ders./Ludwig Schmidt: Art. Corona, in: LThK 3, Freiburg i.Br. 21959, 61; Ingeborg Ramseger: Art. Korona (Corona, griech.: Stephana), in: LCI 7, Freiburg i.Br. 1974, 342– 343. Relevante Literatur ist: Wilhelm Hengstenberg: Rez. zu Eric Otto Winstedt: Coptic Texts on Saint Theodore the General, London 1910, in: ByZ 22 (1913), 184–194; Felix Rütten: Die Viktorverehrung im christlichen Altertum. Eine kultgeschichtliche und hagiographische Studie (SGKA 20), Paderborn 1936; Jürgen Horn: Untersuchungen zur Frömmigkeit und Literatur des christlichen Ägypten – Das Martyrium des Viktor, Sohnes des Romanos. Einleitung in das koptische Literaturwerk/Kommentar zum »Ersten Martyrium«, Diss., Göttingen 1988; Theofried Baumeister: Martyr invictus. Der Martyrer als Sinnbild der Erlösung in der Legende und im Kult der frühen koptischen Kirche. Zur Kontinuität des ägyptischen Denkens (FVK 46), Münster 1972, 131–133 zu Victor und Corona. Die Victorverehrung ist überdies durch die Verbindung des Namens mit der wohl unhistorischen Thebäischen Legion höchst unübersichtlich (vgl. Victor von Xanten).

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historischen Zeugnisse nach heutigen Maßstäben sind und den jeweiligen liturgischen und erzählerischen Bedürfnissen angepasst wurden. Diese hagiographischen Berichte wanderten überdies mit den Reliquientranslationen mit, wurden neu geschrieben und umformuliert, sodass es mehrere Versionen dieses Martyriums in koptischer, äthiopischer, arabischer, griechischer (als Viktor und Stephanis) und lateinischer Sprache (als Victor und Corona) gibt. Die Genese des Materials kann ungefähr wie folgt erschlossen werden:8 Wahrscheinlich entstand im Verlauf des vierten Jahrhunderts eine griechische, nicht mehr erhaltene Erzählung, die einen historischen Kern haben könnte, über einen Victor, Sohn des Romanos, mit Corona samt ihren Martyrien beim römischen Kastell Hierakion in Ägypten zur Zeit der diokletianischen Verfolgung (303–311 n. Chr.)9. Denn die inhaltlichen Schnittmengen zwischen dem sogenannten vierten Martyriumsbericht (s. u.) im koptischen Legendenkranz zu Victor und den lateinischen und griechischen Texten lassen eine gemeinsame Vorlage vermuten. Eventuell gehen auch die beiden Victore, Märtyrer in Siût, Lykopolis, im arabischen Synaxar, dem Heiligenvitenkalender der koptischen Kirche (zum 1. Dezember und zum 22. April)10, auf diesen einen Märtyrer Victor zurück. In der koptischen Literatur wurde dieses Martyrium wahrscheinlich im fünften Jahrhundert zu einem größeren Legendenkranz mit vier Martyriumsberichten ausgeweitet (Erstes Martyrium in Antiochia; Zweites Martyrium in Alexandrien; Drittes Martyrium in Thebais; Viertes Martyrium in Hierakion).11 Zusätzlich sind durchaus recht lange Enkomionstexte12 auf Victor überliefert,

8 Vgl. dazu Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), bes. LXIV–LXV. 9 Zu den Christenverfolgungen allg. und auch der diokletianischen vgl. Wolfram Kinzig: Christenverfolgung in der Antike (C.H.Beck Wissen), München 2019. Zur hohen Bedeutung dieser Verfolgung und ihrer Märtyrer für die ägyptische, koptische Kirche vgl. Aaltje Hidding: The Era of the Martyrs. Remembering the Great Persecution in Late Antique Egypt (Millennium Studies 87), Berlin 2020. Der koptische Kalender richtete sich sogar nach der area martyrum oder area Diocletiani, d. h. die Jahre wurden seit dem Beginn der Herrschaftsjahre Diokletians (284 n. Chr.) gezählt. 10 Märtyrer Victor (ohne Corona) mit Tod durch Verbrennen im Ofen einer Therme, vom 1. Dezember (= 5 Khiak): PO 3, 380–382 Basset; Märtyrer Victor, Sohn des Romanos, nach Folterungen in Alexandrien und Arsinoe, mit Märtyrerin Corona, vom 22. April (= 27 Barmahat): PO 16, 338–341 Basset. Dieser zweite Eintrag ist eine Zusammenfassung des koptischen Legendenkranzes (s. Anm. 11). Vgl. auch Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), LV–LVI und LXVIII–LXXIII. 11 Ernest Alfred Wallis Budge: Coptic Martyrdoms, etc., in the Dialect of Upper Egypt (CoptT 4), London 1914, mit 1–45 koptischem Text und 253–298 englischer Übersetzung. Das sog. vierte Martyrium ist 287–298 ins Englische übersetzt. Vgl. dazu auch Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), XLI–XLVI (Überlieferung) und LXXVII–LXXVIII (Aufbau und Inhalt). 12 Genau genommen erfüllt bereits die Rede der Corona auf Victor innerhalb des Martyriumsberichts die Funktion eines Enkomions (s. § 55).

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u. a. das Enkomion des Coelestinus von Rom;13 das Enkomion des Johannes (Chrys.) zu Ehren des Victor, Sohn des Romanos;14 das Enkomion des Theodosios von Jerusalem.15 Die koptische Passion des Makarios ist eine auf Victors Martyrium aufbauende Neufassung des Materials.16 Das äthiopische Martyrium des Victor ist eine neue, sekundäre Überarbeitung des Materials.17 Eventuell durch Pilgerreisende nach Ägypten oder Flüchtende aus Ägypten auch im Westen bekannt geworden, entstanden wohl ab dem fünften Jahrhundert, spätestens aus Anlass eines Reliquientransfers nach Italien,18 zunächst lateinische Fassungen,19 die Victors Martyrium ebenfalls bei Lykopolis lokalisieren, allerdings chronologisch nun in das zweite Jahrhundert zur Zeit des Kaisers Antoninus (Antoninus Pius 85–161 n. Chr.?) versetzen – warum, lässt sich nicht mehr eruieren.20 Die überlieferten griechischen Fassungen aus eventuell dem fünften/sechsten Jahrhundert21 stehen offenbar auch unter dem Einfluss dieser 13 Text bei Budge: Coptic Martyrdoms (s. Anm. 11), 46–100 (kopt. Text); 299–354 (engl. Übersetzung). Vgl. Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), XLVI–XLVII. 14 BHO 1242; Text bei Urbain Bouriant: L’éloge de L’Apa Victor, fils de Romanos. Texte coptethébain (MMAF 8/2), Paris 1893, 145–243 (das vierte Martyrium mit Auftreten des dux Sebastianus ab 224; das Auftreten der Corona = Stephanu ab 229). Es ist eine ausführliche Darstellung zu Victor und Corona (= Stephanu) mit vorangehendem Streitgespräch zwischen Victor und seinem heidnischen Vater Romanos sowie insgesamt ausgeschmückten Reden und Visionen. 15 BHO 1243; Text bei Bouriant: Apa Victor (s. Anm. 14), 243–263. Vgl. Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), XLVI–XLIX. 16 BHO 578. Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), L; Text bei Henri Hyvernat: Les Actes des Martyrs de l’Égypte tirés des manuscrits coptes de la Bibliothèque Vaticane et du Musée Borgia. Texte copte et traduction française avec introduction et commentaires 1, Paris 1886, 40–77; es ist Teil des sog. Zyklus des Basilides (s. Anm. 26). Vgl. auch Emile Galtier: Contribution à l’étude de la litterature arabe-copte 3. Les actes de Victor fils de Romanos, in: BIFAO 4 (1905), 127–140. 17 BHO 1244. Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), VIII–IX. 18 Darauf weisen die Schlusspassagen der Martyrien hin: Die hier vorgestellte griechische Fassung lässt bereits den Märtyrer Victor selbst Vorkehrungen treffen für die Translation seiner Reliquien nach Italien. Reliquien von Victor und Corona kamen nach Feltre, Venetien, Castelfidardo, südlich von Ancona sowie nach Otricoli, Umbrien. Weitere Reliquientranslationen: Sie wurden spätestens in ottonischer Zeit aus Italien (Otricoli in Umbrien) nach Aachen, Quedlinburg sowie nach Bremen überführt, später, im 14. Jh., auch nach Prag; von dort aus gelangte die Corona-Verehrung in den niederösterreichischen und bayrischen Raum. Vgl. Eduard Teichmann: Über die heiligen Märtyrer Leopardus und Corona im Aachener Münster, in: ZAGV 51 (1925), 374–381; Alfred Löhr: Die Heilige Corona und ihre mittelalterlichen Darstellungen in Bremen (BrJ 66), Bremen 1988, 47–58; Leopold Schmidt: Zur Verehrung der hl. Corona in Bayern und Österreich (BJVK 2), Regensburg 1951, 69–79. 19 So bereits Hippolyte Delehaye: Les Martyrs d’Égypte, Brüssel 1923, 117–118. 20 Nach BHL gibt es sechs Versionen: BHL 8559–8563. 21 Drei griechische Versionen sind bekannt; dazu s. u. S. 297. Die Motive, Gestaltung, Askeseverständnisse deuten auf diese eher späte Entstehung, auch wenn, wie bereits angedeutet, eine historische Erinnerung an einen Märtyrer aus der diokletianischen Verfolgung vorgelegen haben könnte.

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lateinischen Versionen, da sie Victor aus Damaskus (?) in Italien verorten und das Martyrium ebenfalls in das zweite Jahrhundert datieren. Allerdings unterscheiden sich diese beiden sprachlichen Traditionen voneinander sowohl in der Verortung des Martyriums22 als auch im Gedenktag: Während Victor nach den lateinischen Texten am 14. Mai verehrt wird,23 verweisen die griechischen Texte auf den 11. November.24 Das Grundgerüst dieser lateinischen und griechischen Fassungen ist aber mit dem sog. Vierten Martyrium des Victor aus dem koptischen Erzählkranz (s. o.) vergleichbar. Zu Beginn des Berichts liegt der Fokus auf Victor, einem Soldaten. Dieser wird aufgrund eines kaiserlichen Erlasses, dass Christen den römischen Göttern opfern sollen, von einem dux Sebastianus aufgefordert, diesem Befehl nachzukommen. Victor bleibt allerdings standhaft und weigert sich, zu opfern, obwohl Sebastianus ihn mehrmals dazu auffordert. So entwickeln sich zwischen den zehn Folterungen, die an Grausamkeit zunehmen, Gespräche der beiden Hauptfiguren. In Folge der dritten Folterung mit Gift wird ein Magier, der ihm zweimal vergiftetes Essen reicht, bekehrt. Keine der Qualen können jedoch Victor zermürben, sondern steigern die Wut des Sebastianus. Vor der Hinrichtung Victors tritt schließlich Corona auf, eine sechzehnjährige Gattin eines Soldaten, die eine Lobrede auf Victor hält und ihm so Mut zuspricht. Dies weckt die Aufmerksamkeit des dux, der sie daraufhin ebenfalls verhört. Weil auch sie das Götteropfer verweigert, nachdem sie in einer Vision bereits himmlische Siegeskränze für Victor und sich selbst geschaut hat, wird sie zwischen zwei Palmen

22 Nach den griechischen Versionen stammt Victor aus Italien und stirbt zu Damaskus in Italien; nach der Mehrheit der lateinischen Versionen stammt er aus Kilikien und wird in Ägypten hingerichtet, nach BHL 8584 allerdings in Otriculi, nach BHL 8583–8584 in Sicilia. Die Martyrien werden also im Kontrast zu ihrer sprachlichen Fassung lokalisiert. 23 Zu diesem Datum erschien im Jahr 2020 auch in der F.A.Z. ein Artikel zu Corona von Wolfgang Fuhrmann (12). Ein frühes Zeugnis für die Verehrung der Corona am 14. Mai ist das Martyrologium des Beda Venerabilis, ein Anhang zu seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum (Anfang 8. Jh.); vgl. den Eintrag in der Datenbank »The Cult of Saints« von Benjamin Savill: Bede, Martyrology, 2020, verfügbar unter: http://csla.history.ox.ac.uk/record.php?rec id=E05550 [20. 10. 2020]. 24 Die griechischen Martyrologien überliefern zusammen die Martyrien eines Orestes (10. Nov.), dann in C. Par. gr. 1519 (BHG 1864) vita et miracula des Martin von Tours und anschließend die Trias Menas, Victor et Stephanis; Vincentius diac. Caesaraugustae (11. Nov.). Vgl. die Notiz im Synaxarium von Konstantinopel zum 11. November (Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae e Codice Sirmondiano nunc Berolinensi adiectis synaxariis selectis [Propylaeum ad Acta sanctorum Novembris], hg. v. Hippolyte Delehaye, Brüssel 1902, 211–214). Interessant ist auch die griechische Rezeption der Martinsverehrung. Es ist bedauerlich, dass trotz der hohen Bedeutung des Menas diese Trias der Martyrien noch nicht in einer kritischen Edition vorliegt.

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gespannt, die sie beim Emporschnellen zerreißen.25 Anschließend wird Victor verurteilt und enthauptet. Eine Weiterverarbeitung findet der Erzählkomplex zu Victor (ohne Corona) im Zyklus um Basilides und seiner Familie aus Antiochien, die ebenfalls wie in der koptischen Tradition über Victor und Corona zur Zeit von Diokletian in Ägypten das Martyrium erleiden. Hier wird Victor zum Neffen des Basilides; sein Martyrium wird in diesen Komplex mit eingebaut.26 In den Akten des Justus, seiner Ehefrau Stephana, der Tochter Sophia sowie Eusebius, Sohn des Basilides, und Stephanu begegnet ferner das Motiv, Siegeskränze bzw. Kronen in einer Vision zu erblicken.27 Eine weitere Verarbeitung gibt es im Martyrium der Photina,28 deren Sohn Victor als Soldat für das Christentum wirbt und einen dux Sebastianus bekehrt; hier tritt ein Magier wie in dem Bericht über Victor und Corona auf, und eine Schwester der Photina, Photis, wird auf dieselbe Weise hingerichtet wie Corona. Auch in dem langen Bericht über die Märtyrer von Tavium (Galatien, Kleinasien), das sind Meletius und seine Gefährten,29 ebenfalls unter Antoninus datiert, begegnet ein Magier namens Kallinikos, der die Christen vergiften soll, nach missglückten Versuchen seiner Magie allerdings abschwört, Christ wird und daraufhin ebenfalls als Märtyrer stirbt.30 So scheinen verschiedene Erzählmotive, besonders Episoden über Folterungen der Märtyrer, wie Wanderlegenden zu kursieren und in Märtyrerberichten eingebaut worden zu sein. Welche Erzählung welcher Pate gestanden hat, ist kaum mehr möglich zu entscheiden, zudem Victor und Corona schon mit ihren Namen eher typische Symbolfiguren sind, die siegreich die Torturen überstehen und im Himmel den Siegeskranz überreicht bekommen.

25 Vgl. zu dieser Todesart auch Euseb, Historia Ecclesiastica 8,9,2. Vgl. auch Euseb, Historia Ecclesiastica 6,5: Die hingerichtete Märtyrerin Potamiaina reicht in einer Vision dem Soldaten, der sie im Prozess beschützt hatte, einen Kranz. 26 Horn: Untersuchungen (s. Anm. 7), LXXV–LXXVI. Der Zyklus umfasst das Martyrium des Eusebius; des Macarius und des Irai mit Schwester; siehe Hyvernat: Actes des martyrs de l’Égypte (s. Anm. 16), 1–39 (Eusebius, mit röm. Soldaten Victor 12–25); 30–77 (Macarius [s. Anm. 16]); 78–113 (Irai). Vgl. im arabischen Synaxarium, dem Heiligenvitenkalender der koptischen Kirche zum 25. September (PO 1, 303–305 Basset); vgl. Hidding: Era of the Martyrs (s. Anm. 9), 49–50. 27 Eric Otto Winstedt: Coptic Texts on Saint Theodore the General. St. Theodore the Eastern, Chamoul and Justus, London 1910, 210–221 zu den Akten des Justus mit Visionen über himmlische Kränze 219. S. zu Kränzen auch Anm. 5 und 25. 28 Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae (s. Anm. 24) zum 20.3. (549–552). Vgl. Rütten: Viktorverehrung (s. Anm. 7), 126–127. 29 BHG 1249 und 1249b; ActaSS Mai V, 437–458; es gibt keine neuere Edition. 30 ActaSS Mai V, 442–445. Vgl. Rütten: Viktorverehrung (s. Anm. 7), 127; 132–133 – er bezieht sich vor allem auf das Magiermotiv und sieht hier eine gemeinsame Quelle in dem Magier Kallinikos in der Meletiospassion, angeleitet von Kallinikos von Gangra.

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Der griechische Text ist in mehreren Versionen überliefert: BHG 1864, abgedruckt in PG 115, 257–268 nach Codex Parisinus graecus 1519, 12. Jh., fol. 355–363 (ein Menologium zum Monat November); überliefert auch in Codex Vindobonensis hist. graecus 5, fol. 82–85v (Wien, ÖNB; ein Menologium zum Monat November) – der Text aus PG 115 wird hier präsentiert, in den Fußnoten finden sich Varianten aus dem Codex Vindobonensis (V). BHG 1865, überliefert in Codex Vaticanus graecus 1669, 10. Jh., fol. 182–187 (ein Menologium zum Monat November); sowie in einem Codex des Athosklosters Monê Hagiou Panteleêmonos 49) – der Text ist ähnlich zu BHG 1864; auf Differenzen in der Passage zu Corona wird unten hingewiesen. BHG 1252, überliefert in Codex Marcianus graecus Z 349, 11. Jh., fol. 152v–156v (abgedruckt in Theophilos Ioannou: Mnemeia Hagiologica nyn proton ekdidomena, Venedig 1884; Reprint hg. v. Jürgen Dummer [SubByz 8], Leipzig 1973, 298–309) – der Text ist eine ausgeschmücktere, rhetorisch dramatisierte Fassung mit Zwischenkommentaren, längeren Wortbeiträgen und drastischeren Beschreibungen zum Beispiel der Wut des Sebastianus; die Erwähnung einer enhypostatischen Sophia (§ 6) verweist auf spätere neuchalcedonische Diskussionen.

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Α Ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις, ἐν αἷς ἐδιώκοντο οἱ Χριστιανοὶ ὑπὸ τοῦ τότε βασιλέως τῶν Ῥωμαίων Ἀντωνίνου, ἐθνικοῦ τυγχάνοντος, καὶ Σεβαστιανοῦ τοῦτό τε δουκός, ἦν τις ἀνὴρ ἀπὸ Ἰταλίας στρατιώτης Χριστιανὸς εὐλαβὴς πάνυ καὶ φοβούμενος τὸν θεὸν ὀνόματι Βίκτωρ. 1 τούτῳ ὁ δοὺξ εἶπεν· Γράμματά μοι ἠνέχθησαν τοῦ βασιλέως κελεύοντα ὑμᾶς τοὺς Χριστιανοὺς1 θύειν τοῖς θεοῖς ἀνυπερθέτως, τοὺς δὲ ἀπειθοῦντας τιμωρίαις δειναῖς ὑποβάλλεσθαι· ἐπίθυσον οὖν καὶ σύ, Βίκτωρ2. 2 Ἔφη πρὸς αὐτὸν ὁ ἅγιος Βίκτωρ· Ἐγὼ στρατιώτης τοῦ μεγάλου βασιλέως Ἰησοῦ Χριστοῦ, τοῦ ἀθανάτου θεοῦ καὶ οὐχ ὑπακούω θνητῷ βασιλεῖ· ἡ γὰρ τούτου βασιλεία πρόσκαιρός ἐστι καὶ παρερχομένη· ἡ δὲ τοῦ θεοῦ καὶ Σωτῆρος3 Ἰησοῦ Χριστοῦ βασιλεία ἀθάνατός ἐστι καὶ αι᾿ωνία· καὶ ὁ μένων ἐν αὐτῇ κληρονομεῖ ζωὴν αι᾿ώνιον. 3 Ὁ δοὺξ λέγει· Τοῦ βασιλέως ἡμῶν τυγχάνεις στρατιώτης· πείσθητι οὖν καὶ ὑπάκουσον τοῦ προστάγματος αὐτοῦ καὶ ἐπίθυσον. 4 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Καὶ ὅτε αὐτῷ ἐστρατευόμην καὶ τὰ αὐτοῦ ἐφρόνουν, Κυρίῳ τῷ θεῷ μου ἐν τῷ κρυπτῷ ἐλάτρευον καὶ νῦν οὐ δύναμαί καταλεῖψαι αὐτὸν καὶ ει᾿δώλοις ἐπιθύσαι· ποίει οὖν ὃ θέλεις ει᾿ς ἐμέ· τοῦ μὲν γὰρ σώματός μου ἐξουσίαν ἔχεις, τῆς δὲ ψυχῆς ὁ θεὸς μόνος, ὁ δυνάμενος σῶσαι καὶ ἀπολέσαι.

1 τοῖς Χριστιανοῖς V. 2 μὴ ει᾿ς ψυχὴν κινδυνεύσῃς add. V. 3 κυρίου V.

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A In jenen Tagen, als die Christen verfolgt wurden von dem damaligen Kaiser der Römer, Antoninus,4 der zu den Heiden gehörte, und dem damaligen dux Sebastianus, lebte ein Mann aus Italien, ein Soldat, ein Christ, der gänzlich fromm war und Gott fürchtete, mit dem Namen Victor.5 1 Diesem sagte der dux: »Schriftstücke des Kaisers wurden mir gebracht, die euch Christen befehlen, sofort den Göttern zu opfern; die aber, die nicht gehorchen, werden fürchterliche Strafen auf sich ziehen. Also opfere auch du, Victor (um nicht dein Leben aufs Spiel zu setzen)!« 2 Da sagte der heilige Victor zu ihm: »Ich bin Soldat (vgl. Eph 6,10–17) des großen Herrschers Jesus Christus, des unsterblichen Gottes, und gehorche nicht einem sterblichen Herrscher. Denn die Herrschaft von diesem ist zeitlich und geht vorüber; die Herrschaft aber des Gottes und Erlösers Jesus Christus ist unsterblich und ewig. Und wer in ihr bleibt, der wird ewiges Leben erben (vgl. Mt 19,29).« 3 Der dux sagt: »Du bist ein Soldat unseres Kaisers, folge nun und gehorche seinem Befehl und opfere!« 4 Der heilige Victor sagte: »Auch als ich ihm als Soldat diente und das Seinige dachte, diente ich doch im Verborgenen dem Herrn, meinem Gott, und jetzt kann ich ihn nicht preisgeben und Götzenbildern opfern. Mache nun mit mir, was du willst. Denn du hast zwar Macht über meinen Körper, aber über die Seele hat Gott allein Macht, der erlösen und verwerfen kann.«

4 Antoninus Pius 138–161 AD? Eine von Antoninus Pius verordnete Christenverfolgung ist sonst nicht belegt; es sind wohl vereinzelte Martyrien anzunehmen wie dasjenige von Justin (vgl. Martyrium Iustini et sociorum A–C); vgl. auch Justin, Apologia Secunda pro Christianis 2. Antoninus Pius ist auch Adressat der Apologie Justins. 5 Nach der Version des Martyriums BHG 1252 (Ioannou) wurde Victor nach Damaskus geschickt (298).

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Β 5 Λέγει αὐτῷ ὁ δούξ· Ὁρῶ σε ἐν τῇ ἀπολογίᾳ σου πολλὴν σοφίαν περικεῖμενον· σκέψαι οὖν τὸ συμφέρον. 6 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ λέγει· Ἡ ἐμὴ σοφία, ὤ δικαστά, οὐκ ἔστιν ἐξ ἐμοῦ, ἀλλ᾿ ὁ θεός μου ἐδωρήσατό μοι αὐτήν. 7 Ὁ δοὺξ λέγει· Ῥύσαι σεαυτὸν ἀπὸ πολλῶν βασάνων καὶ προσελθὼν θύσον τοῖς θεοῖς. 8 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Ἐγὼ ὑπὲρ τοῦ μὴ θῦσαι ἡδέως βασανίζομαι καὶ πλέον διισχυρίζομαι διαγωνιζόμενος6, ὅτι κατηξιώθην ὑπὲρ τοῦ ὀνόματος τοῦ Χριστοῦ βασανισθῆναι καὶ ει᾿ς τὴν ἀγαθὴν ἐλπίδα ἐλθεῖν τοῦ βασιλέως τῶν οὐρανῶν. 9 Λέγει αὐτῷ ὁ δούξ· Μὴ ἱερεὺς εἶ τῶν Χριστιανῶν, ὅτι οὕτως συνετῶς ἀποκρίνῃ; 10 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἴπεν· Ἐγὼ ταύτης τῆς μεγίστης χάριτος καὶ δωρεὰς ἀνάξιός ει᾿μι· ἡ δὲ τοῦ Χριστοῦ7 μου χάρις ἤγαγέ με ει᾿ς τοῦτο· αὕτη γάρ ἐστιν ἡ παρέχουσα τοῖς εὐθέσι τῇ καρδίᾳ καὶ τοῖς φυλάσσουσι τὰς ἐντολὰς τοῦ Χριστοῦ σοφίαν καὶ σύνεσιν8 μετέχειν9 παντὸς ἀγαθοῦ· ὥσπερ γὰρ γεωργὸς καλλιεργῶν αὐτοῦ τὴν γῆν ἑτοιμάζει αὐτὴν ει᾿ς καρποφορίαν, οὕτως καὶ ἡ τοῦ θεοῦ σοφία τοὺς ἐλπίζοντας ει᾿ς αυτὴν ἐνδυναμοῖ καὶ σοφίζει καὶ ποιεῖ καρποφορεῖν τῷ θεῷ, μὴ συγχωροῦσα τῷ ἐχθρῷ περιγενέσθαι αὐτῶν10.

6 7 8 9 10

ἀγωνιζόμενος V. θεοῦ V. καὶ add. V. μετοχὴν V. αὐτούς V.

Das Martyrium der Corona

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B 5 Es sagte ihm der dux: »Ich sehe an dir, wie in deiner Verteidigung viel Weisheit liegt; beachte nun das Angemessene!« 6 Der heilige Victor sagte: »Meine Weisheit, werter Richter, ist nicht von mir, sondern Gott hat sie mir gegeben (vgl. 1 Kor 2,6).« 7 Der dux sagte: »Nun bewahre dich vor schwerer Folter und geh, opfere den Göttern!«11 8 Der heilige Victor sagte: »Ich lasse mich für das Nicht-Opfern gerne foltern, und ich bin sehr gewiss und kämpfe bis zum Ende, dass ich gewürdigt werde, für den Namen Christi gefoltert und zur guten Hoffnung auf den Herrscher des Himmels kommen zu werden.« 9 Es sagte zu ihm der dux: »Bist du etwa ein Priester der Christen, dass du gewohnt bist, so zu antworten?« 10 Der heilige Victor sagte: »Einer derart großen Gnade und Gabe bin ich nicht würdig. Aber die Gnade meines Christus hat mich dahin geführt. Denn diese ist es, die denen, die ein rechtes Herz haben und die Gebote Christi bewahren, Weisheit und Einsicht gewährt in alles Gute. Wie nämlich ein Bauer sein Land gut bestellt und es vorbereitet für die Ernte, so stärkt auch die Weisheit Gottes die, die auf ihn hoffen, und macht sie weise und bewirkt, dass sie Gott Frucht bringen, und lässt nicht zu, dass der Feind sie überwindet.«

11 Einerseits versucht der dux ihn von den Folgen der Weigerung, also den Folterungen, zu bewahren, allerdings steigert die beharrliche Verweigerungshaltung Victors sowie die Erfolglosigkeit der Folterungen die Wut und Gewalt des dux. Insgesamt werden, wie zehn Plagen, eine Liste von zehn Folterungen berichtet (§ 15; 19; 21–23; 36; 38; 40; 44; 46; 50; 53).

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Γ 11 Σεβαστιανὸς ὁ δοὺξ εἶπεν· Ἔκρινας μᾶλλον τὸν θάνατον ἐλέσθαι ἢ τὴν ζωήν; 12 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Οὗτος ὁ θάνατος ζωὴν αι᾿ώνιον προξενεῖ τοῖς μέχρι τέλους ὑπομένουσι τὰς προκαίρους12 ταύτας βασάνους. 13 Λέγει αὐτῷ ὁ δούξ· Καὶ ὅλως ταύτης ἐπεκράτησας τῆς γνώμης; 14 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Ναί. 15 Τότε ὁ δοὺξ ἐκέλευσε συγκλασθῆναι τὰς ἁρμονίας τῶν δακτύλων αὐτοῦ, ἕως ἂν ἐκ τῆς δορᾶς ἐξέλθωσιν. 16 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου πάντοτε, ὅτι ἤγγισεν ἡ χάρις αὐτοῦ ει᾿ς ἐμέ. 16 […]13 17 Λέγει αὐτῷ ὁ δούξ· Διὰ τί τὴν ἄνοιάν14 σου οὐ λαμβάνεις;15 18 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Ὅτι βιαίως καὶ ἀδίκως ἀπαιτεῖται16, καὶ οὔτε λαμβάνειν οὔτε ἐσθίειν βούλομαι ἐξ αὐτῆς· ἔχω δὲ τὴν πνευματικὴν τροφὴν καὶ οὐ μὴ πεινάσω ει᾿ς τὸν αι᾿ῶνα. 19 Ταῦτα ἀκούσας ὁ δοὺξ ἐκέλευσεν ἐκκαῆναι κάμινον καὶ ἐμβληθῆναι αὐτὸν ἐν αὐτῇ ἄχρις17 ἡμερῶν τριῶν· Καὶ ἐγένετο οὕτως. 20 Μετὰ δὲ τᾶς τρεῖς ἡμέρας νομίσας ὁ δοὺξ ἀνηλῶσθαι αὐτὸν ὑπὸ τοῦ πυρός, ἐκέλευσεν ἀνοιγῆναι τὴν κάμινον καὶ ῥιφῆναι τὰ ὀστᾶ αὐτοῦ ει᾿ς τὸν ποταμόν· καὶ ἀνοίξαντες αὐτὴν εὗρον αὐτὸν ζῶντα καὶ δοξάζοντα τὸν θεόν, δι᾿ ὅτι οὐδ᾿ ὅλως ἥψατο αὐτοῦ18 τὸ πῦρ. 21 Τότε ἐκέλευσεν ὁ δοὺξ φάρμακα ἀναιρετικὰ δοθῆναι αὐτῷ φαγεῖν μετὰ κρεῶν· καὶ ἐπιδοθέντων αὐτῷ τῶν φαρμάκων ὑπὸ19 μάγου, ἔφη ὁ ἅγιος Βίκτωρ· 22 Οὐκ ἐξόν20 μοι ἦν κρεῶν ἅψασθαι, ἵνα δὲ γνῷς, ὅτι οὐδέν ει᾿σιν αἱ μαγεῖαί21 σου, καὶ καταφρονῶ αὐτάς, ἐσθίω ἀνυπερθέτως. Καὶ δεξάμενος ἐκ τῶν χειρῶν τοῦ μάγου προσευξάμενος τῷ Χριστῷ ἤρξατο ἐσθίειν καὶ φαγὼν οὐδὲν ἔπαθεν κακόν. 23 Ὁ δὲ μάγος ἐπὶ τῇ οι᾿κείᾳ μαγείᾳ καταισχυνθείς προσήγαγον22 αὐτῷ πάλιν ἕτερα φάρμακα τῶν προτέρων δεινότερα καὶ λέγει αὐτῷ· Καὶ νῦν δέξαι καὶ φάγε· καὶ ἐὰν φαγὼν μηδὲν πάθῃς κακὸν καταλιμπάνω μου τὰς μαγείας καὶ πιστεύω κἀγὼ τῷ θεῷ ᾧ λατρεύεις.

12 ποικίλας V. 13 Hier bietet Ioannou: ὁ δὲ δύστροπος δοὺξ προσέταξεν αὐτῷ δοθῆναι φαγεῖν. Etwas Vergleichbares könnte auch in der anderen Version des Textes gestanden haben. 14 ἀνώναν V, leg. ἀννώναν. 15 Hier hat C. Vat. gr. 1667: Λέγει αὐτῷ ὁ δούξ· Διὰ τί οὐκ ἐσθίεις; Die Antwort des Victor lautet kurz: Ἐγὼ ἔχω τὴν πνευματικὴν τροφὴν καὶ οὐ μὴ πεινάσω ει᾿ς τὸν αι᾿ῶνα. 16 ἀπαιτεῖτε V. 17 ἕως V. 18 αὐτὸν V. 19 τοῦ add. V. 20 ἐξ ὧν V. 21 μαγείαις V. 22 προσήγαγεν V.

Das Martyrium der Corona

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C 11 Der dux Sebastianos sagte: »Du hast dich entschieden, lieber den Tod als das Leben auf dich zu nehmen?« 12 Der heilige Victor sagte: »Dieser Tod gewährt ewiges Leben für die, die bis zum Ende diese momentanen Folterungen ertragen.« 13 Es sagte ihm der dux: »Du hältst zur Gänze an dieser Meinung fest?« 14 Der heilige Victor sagte: »Ja!« 15 Da befahl der dux, die Fugen seiner Finger so zu verdrehen, bis sie aus der Haut herauskämen. 16 Der heilige Victor sagte: »Ich danke allzeit meinem Gott, dass seine Gnade mir nahegekommen ist.« … [Angebot einer Speise] …23 17 Es sagte ihm der dux: »Weshalb begreifst du nicht deinen Unverstand?«24 18 Der heilige Victor sagte: »Weil es gewaltsam und ungerechterweise gefordert wird, und ich will weder davon empfangen noch davon essen; ich habe eine geistliche Speise (vgl. 1 Kor 10,3; Joh 6,27.33) und werde auf ewig nicht hungern.« 19 Als dies der dux hörte, befahl er, einen Ofen zu entzünden und ihn hineinzuwerfen für drei Tage (vgl. Dan 3,1–27). Und so geschah es. 20 Und nach drei Tagen glaubte der dux, er sei vom Feuer vernichtet worden, und er befahl, den Ofen zu öffnen und seine Knochen in den Fluss zu werfen. Und sie öffneten den Ofen und fanden ihn lebend vor und Gott lobpreisend dafür, dass ihn das Feuer überhaupt nicht angerührt hatte. 21 Dann befahl der dux, dass ihm tödliches Gift zu essen gegeben werde zusammen mit Fleisch; und als ihm von einem Magier25 Gift übergeben wurde, da sagte der heilige Victor: 22 »Es ist mir nicht möglich, das Fleisch anzurühren. Damit du aber einsiehst, dass deine Zauberkünste nichts sind und ich sie verachte, werde ich sofort essen.« Und er empfing es aus der Hand der Magier, wobei er zu Christus betete, und begann zu essen. Und als er aß, erlitt er nichts Fürchterliches. 23 Der Magier aber war beschämt über seine eigenen Zauberkünste, und es wurde ihm wieder ein anderes Gift, fürchterlicher als das vorherige, gebracht, und er sagte ihm: »Und jetzt nimm und iss! Und wenn du isst und dabei nichts Schlechtes erleidest, werde ich meine Magie verlassen und auch ich werde dem Gott glauben, den du verehrst.«

23 Eine entsprechende Passage könnte nach der anderen Version des Martyriums vermutet werden: Nach dem Verdrehen seiner Finger wird Victor sozusagen gefüttert, verweigert aber die Speise, woran sich ein Wortwechsel über leibliche/geistliche Speise oder irdische/ himmlische Weisheit anschließt. Die Essensverweigerung ist Teil der Askese des Märtyrers. 24 Oder: Weshalb nimmst du die Speise nicht an? (in diesem Sinn C. Vat. gr. 1667 und Ioannou). 25 Die Figur eines Magiers, der sich dann bekehrt, tritt auch in der Passio der Photina auf (Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae [s. Anm. 24 in Einleitung], 549); auch Passio der Märtyrer von Tavium/Martyrium Meletii et sociorum (BHG 1249; ActaSS Mai V [s. Anm. 29 in Einleitung]).

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24 Λαβόντος δὲ τοῦ μακαρίου Βίκτορος καὶ φαγόντος καὶ μηδὲν παθόντος κακὸν ἀνεβόησε μετὰ φωνῆς ὁ μάγος καὶ εἶπεν· Ἐνίκησας ψυχὴν ἀπολλυμένην ἐξ ᾅδου ἀναγαγών· ὥσπερ γὰρ ἀνδριὰς χαλκοῦς παλαιωθεὶς καὶ ὑπὸ τοῦ τεχνίτου σμηχθεὶς ἀνακαινοῦνται, οὕτως καὶ ὁ ἄνθρωπος ὁ ἐν κακοῖς παλαιωθείς, ἐὰν ἐπιστρέψῃ, σώζει αὐτὸν ὁ θεὸς τῇ αὐτοῦ χάριτι. 25 Τότε ὁ μάγος παραχρῆμα κατέκαυσε πυρὶ πάσας τὰς μαγικὰς αὐτοῦ βίβλους καὶ πᾶσι τοῖς ὑπάρχουσι αὐτοῦ ἀποταξάμενος γέγονεν Χριστιανός.

Das Martyrium der Corona

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24 Und als der selige Victor davon nahm und aß und nichts Fürchterliches erlitt, da rief der Magier laut aus und sagte: »Du hast gesiegt, hast eine verlorene Seele aus dem Hades heraufgeführt. Wie nämlich ein ehernes Standbild niedergerungen und von einem Handwerker gereinigt und erneuert wird, so ist auch ein Mensch, der in Schlechtigkeiten niedergerungen ist: Wenn er sich verändert, wird Gott ihn retten in seiner Gnade!« 25 Und dann, augenblicklich, verbrannte der Magier in einem Feuer alle seine magischen Bücher und trennte sich von all seinem Besitz und wurde Christ.

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Δ 26 Τούτων δὲ πάντων26 οὕτως γενομένων27 ἔφη ὁ δοὺξ τῷ μακαρίῳ Βίκτορι· ἐπίθυσον τοῖς μεγίστοις θεοῖς καὶ γενοῦ λοιπὸν συνετὸς καὶ φρόνιμος. 27 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Ἐγὼ πάντοτε συνετός ει᾿μι τὸν θεὸν ἐπιγνώσκων. 28 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Τοῦτο οὐκ ἔστι σύνεσις, ἀλλὰ μωρία, τὸ μὴ βούλεσθαι θύειν τοῖς θεοῖς. 29 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Τὰ μωρὰ τοῦ κόσμου ἐξελέξατο ὁ θεὸς, ἵνα τοὺς σοφοὺς καταισχύνῃ. 30 Ἔφη πρὸς αὐτὸν ὁ δούξ· Ποῦ γέγραπται ταῦτα; 31 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Παῦλος ὁ ἀπόστολος ἐδίδαξεν ἡμᾶς. 32 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Οὐκοῦν θεὸς ἢν ὁ Παῦλος; 33 Ο ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Παῦλος θεὸς οὐκ ἔστιν, ἀλλὰ θεοῦ ἀπόστολος καὶ σόφος ἀρχιτέκτων· ἐπὶ γὰρ τῷ θεμελίῳ τῷ τεθέντι ᾠκοδόμησε καὶ ἐπλήρωσε τὴν οι᾿κουμένην τῆς διδαχῆς αὐτοῦ· καὶ λαβὼν σοφίαν παρὰ θεοῦ ἔσχεν ἐν ἑαυτῷ τὸ πλήρωμα τῶν Γραφῶν καὶ ἔδειξεν ὁδὸν τοῖς σωθῆναι βουλομένοις. 34 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Παῦσαι λοιπὸν τῆς μωρίας σου ταύτης καὶ θῦσον τοῖς θεοῖς, ἐπεὶ οὐκ ὠφελήσουσί σε τὰ ῥήματα ταῦτα. 35 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Οὐκ ει᾿μὶ μωρός, ἀλλὰ πάνυ φρόνιμος τὸν θεὸν μου μὴ ἀρνούμενος· Μωροὶ δέ ει᾿σι καὶ ἄφρονες οἱ ἀκούοντές σου καὶ δαίμοσι θύοντες· καὶ γὰρ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ διάβολος ἀπ᾿ ἀρχῆς ψεύστης ἐστὶν καὶ τὴν ἀλήθειαν οὐκ ἔγνω, ὡς καὶ ὑμεῖς οἱ διάκονοι αὐτοῦ· ἀλλὰ καὶ αἱ καρδίαι ὑμῶν πεπήρωνται τὴν γνῶσιν τῆς ἀληθείας μὴ ἔχουσαι.

26 πάντων om. V. 27 γινομένων V.

Das Martyrium der Corona

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D 26 Nachdem aber dies alles so geschehen war, sagte der dux zum seligen Victor: »Opfere den größten Göttern und werde endlich verständig und einsichtig!« 27 Der heilige Victor sagte: »Ich bin stets verständig, denn ich kenne den Gott.« 28 Der dux sagte: »Dies ist nicht Verständnis, sondern es ist Torheit, den Göttern nicht opfern zu wollen.« 29 Der heilige Victor sagte: »Die Torheit dieser Welt überführt Gott, damit die Weisen zuschanden werden.« (1 Kor 1,27) 30 Da sagte der dux zu ihm: »Wo ist das geschrieben?« 31 Der heilige Victor sagte: »Der Apostel Paulus hat uns das gelehrt.« 32 Der dux sagte: »Also ist Paulus ein Gott?« (vgl. Apg 14,11–12) 33 Der heilige Victor sagte: »Paulus ist kein Gott, sondern ein Apostel Gottes und ein weiser Baumeister. Auf dem Grundstein nämlich, der gelegt wurde, baute er weiter (vgl. 1 Kor 3,10) und erfüllte die bewohnte Welt mit seiner Lehre. Und er empfing die Weisheit von Gott, trug in sich die Fülle der Schriften und zeigte denen, die gerettet werden wollten, den Weg.« 34 Der dux sagte: »Hör endlich auf mit dieser deiner Torheit und opfere den Göttern, denn diese deine Worte nützen dir nichts!« 35 Der heilige Victor sagte: »Ich bin nicht töricht, sondern gänzlich einsichtig, sofern ich meinen Gott nicht verleugne. Töricht aber und uneinsichtig sind die, die auf dich hören und den Dämonen opfern. Denn euer Vater, der Teufel, ist von Anfang an ein Lügner (vgl. Joh 8,44) und kennt die Wahrheit nicht, wie auch ihr, seine Diener. Sondern eure Herzen sind verkümmert, da sie nicht die Erkenntnis der Wahrheit haben.«

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Ε 36 Τότε θυμωθεὶς ὁ δοὺξ ἐκέλευσε τὰ νεῦρα ὅλου τοῦ σώματος αὐτοῦ ἀποκοπῆναι· 37 καὶ τούτου γενομένου εἶπεν ὁ ἅγιος Βίκτωρ· Ταῦτα πάντα πάσχων ὑπὸ σοῦ, οὐδ᾿ ὅλως ᾐσθόμην ἀλγηδόνος, διὰ τὴν χάριν τοῦ θεοῦ τὴν ἐνδυναμοῦσάν με; ὥσπερ γὰρ κέντρον ἀπὸ ποδὸς κεφερόμενον συνεκφέραι ἑαυτῷ τὴν κακουχίαν καὶ πᾶσαν τὴν ἀλγηδόνα καὶ ἀνάπαυσιν παρέχει τῷ σώματι, οὕτως κἀγὼ τῶν νεύρων μου ἀποσπασθέντων πάνυ ἀνεπαυσάμην διὰ τὴν ἐν Χριστῷ πίστιν καὶ τὴν ἐνισχύουσάν με χάριν. 38 Τότε πάλιν ὁ δοὺξ ἐπὶ πλεῖον ὀργισθεὶς ἐκέλευσεν ἔλαιον σφοδρῶ πυρωθῆναι καὶ ἐπιχθῆναι αὐτῷ κατὰ τῶν κρυπτῶν μελῶν. 39 Καὶ τούτου γενομένου εἶπεν ὁ μακάριος Βίκτωρ· Οὕτως μοι τὸ ἐκπυρωθὲν τοῦτο ἔλαιόν ἐστιν, ὥσπερ ὕδωρ δοθὲν ἐλθόντι ἀπὸ καύσωνός τινι διψῶντι καὶ πιόντι, καὶ ἀναψύξαντι. 40 Ὁ δὲ δοὺξ θυμῷ ἀκατασχέτῳ συσχεθεὶς ἐκέλευσεν πάλιν κρεμασθῆναι αὐτὸν ἐν τῷ ξύλῳ καὶ λαμπάδας πυρὸς προσενεχθῆναι τῷ σώματι αὐτοῦ. 41 Ὁ δὲ μακάριος Βίκτωρ ταῦτα πάσχων ουδ᾿ ὅλως ᾐσθάνετο τῶν λαμπάδων, ἀλλ᾿ ἐνεδυναμοῦτο πλέον ὑπὸ τῆς χάριτος τοῦ θεοῦ. 42 Μετὰ δὲ ταῦτα εἶπεν αὐτῷ ὁ δούξ· Ἐπίθυσον λοιπόν· πολλὰ γάρ σου ἠνεσχόμην. 43 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Οὐ τὸ σὸν θέλημα ποιῶ, ἀλλὰ τὸ τοῦ θεοῦ μου, καὶ εὔχομαι προσαγαγεῖν αὐτῷ θυσίαν καθαρὰν καὶ ἀγνὴν ἐμαυτῷ, ὅτι αὐτὸς καὶ ψυχῆς καὶ σώματος ἐξουσιάζει.

Das Martyrium der Corona

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E 36 Da erzürnte der dux und befahl, die Muskeln und Sehnen gänzlich von seinem Körper abzuschaben. 37 Und als dies geschah, sagte der heilige Victor: »Dieses alles erleide ich durch dich, aber doch nehme ich überhaupt keine Schmerzen wahr durch die Gnade Gottes, die mich stärkt. Denn wie ein Stachel (vgl. 1 Kor 15,55), der vom Fuß herausgezogen ist, mit herausnimmt die Beschwerden und den ganzen Schmerz und dem Körper Ruhe gewährt, so auch ich: Wenn meine Muskeln abgeschabt werden, habe ich gänzlich Ruhe durch den Glauben an Christus und die Gnade, die mich stärkt.« 38 Daraufhin war der dux noch mehr erzürnt, und er befahl, Öl kräftig zu erhitzen und ihm gegen seine enthäuteten Gliedmaßen zu gießen. 39 Und als dies geschah, sagte der selige Victor: »So ist mir dieses entzündete Öl wie Wasser, das dem gegeben wird, der aus einem Feuer kommt und dürstet und trinkt und erfrischt wird (vgl. Joh 4,14).« 40 Den dux aber ergriff eine zügellose Wut; er befahl erneut, dass er verbrannt werde an einem Brett, und dass sein Körper als brennende Fackel zerstört werde. 41 Aber der selige Victor erlitt dies und nahm die Flammen überhaupt nicht wahr, sondern wurde kräftig gestärkt durch die Gnade Gottes. 42 Danach sagte ihm der dux: »Opfere endlich, denn vieles hast du ertragen!« 43 Der heilige Victor sagte: »Ich befolge deinen Willen nicht, sondern den meines Gottes, und ich bete, ihm ein reines und unbeflecktes Opfer in mir selbst darzubringen, denn er stärkt die Seele und den Körper.«

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Ϛ 44 καὶ ἐκέλευσεν πάλιν ὁ δούξ κονίαν μετὰ ὄξους ει᾿ς τὰ βραγχεῖα αὐτοῦ ἐμβληθῆναι. 45 καὶ τούτου γενομένου ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Τὸ ὄξος καὶ ἡ κονία ἐμοὶ ὥσπερ μέλι καὶ κηρίον ει᾿σι διὰ τὸν Χροστόν. 46 Τότε μὴ φέρων28 τὴν παῤῥησίαν αὐτοῦ29 ὁ δούξ ἐκέλευσε τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτοῦ ἐκκεντηθῆναι. 47 Καὶ λέγει αὐτῷ ὁ ἅγιος Βίκτωρ· Ὅτ᾿ ἂν τὴν τοῦ σώματος πηρώσῃς ὅρασιν, τότε διὰ τῆς ἔνδον ὁράσεως πλέον ὁρῶ τοῖς τῆς ψυχῆς ὀφθαλμοῖς, ὡς εἶπεν Πέτρος ὁ ἅγιος ἀπόστολος, ὅτι »Ἐὰν κατανοήσητε τὸν30 τῆς ψυχῆς ὀφθαλμόν31, οὐ χρείαν ἔχετε32 τῶν ὀφθαλμῶν τοῦ σώματος· οἱ γὰρ ὀφθαλμοὶ τοῦ σώματος βλέπουσι τὰ μάταια τοῦ κόσμου τούτου, οἱ δὲ ὀφθαλμοὶ τῆς καρδίας τὸ φῶς τὸ ἀληθινὸν ὁρῶσιν.« 48 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Ἀναγκάζεις με πολλὰς καὶ μεγάλας σοι ἐπιθεῖναι33 κολάσεις. 49 Ὁ ἅγιος Βίκτωρ εἶπεν· Εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου τῷ ἐνισχύσαντί με ὑπομένειν τὰς βασάνους σου· ὡς οὖν θέλεις κόλαζέ με καὶ μὴ μου34 φείδου· ἕτοιμος γάρ ει᾿μι πάντα πόνον ὑπὸ σοῦ ἐπαγόμενόν μοι35 ὑπομεῖναι, τοῦ θεοῦ μοι παρέχοντος δύναμιν καὶ ὑπομονήν.

28 29 30 31 32 33 34 35

αὐτοῦ add V. om. V. τῶν V. ὀφθαλμῶν V. ἔχεται V. ἐπιθῆναι σοι V. με V. μοι om. V.

Das Martyrium der Corona

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F 44 Dann befahl der dux erneut, Asche mit Essig in seinen Rachen zu gießen (vgl. Mt 27,34). 45 Und als dies geschah, sagte der heilige Victor: »Der Essig und die Asche sind mir wie Honig und Labsal durch Christus.« 46 Dann aber ertrug der dux den Freimut von ihm nicht mehr, er befahl, seine Augen herauszubrechen. 47 Und es sagte ihm der heilige Victor: »Wenn du auch das Sehorgan des Körpers zerstörst, dann werde ich umso mehr durch das innere Sehorgan sehen mit den Augen der Seele, wie Petrus sagte, der heilige Apostel: ,Wenn ihr das Auge der Seele verachtet, habt ihr keinen Nutzen von den Augen des Körpers. Denn die Augen des Körpers blicken auf das Nichtige dieser Welt, die Augen des Herzens (vgl. 1 Petr 3,4; Eph 1,18) sehen aber das wahre Licht.‹« 48 Der dux sagte: »Du zwingst mich, dir viele und schwere Folterungen zuzufügen!« 49 Der heilige Victor sagte: »Dank sei meinem Gott, der mich stark macht, deine Strafen auszuhalten. Wie du willst, bestrafe mich und verschone mich nicht. Ich bin nämlich bereit, alles Leid, von dir zugefügt, zu ertragen, denn Gott gewährt mir Kraft und Geduld.«

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Ζ 50 Τότε ὁ δοὺξ ἐκέλευσε36 κρεμασθῆναι αὐτὸν κατακέφαλα37, ἕως ἂν ἐκ τῶν ῥινῶν αὐτοῦ αἷμα ῤεύσῃ ἐπὶ τὴν γῆν· καὶ ἐάσαντες αὐτὸν οἱ στρατιῶται κρεμάμενον ἀπῆλθον ἀπ᾿ αὐτοῦ ἕως ἡμερῶν τριῶν· μετὰ δὲ τὸ τέλος τῶν τριῶν ἡμερῶν παρεγένοντο πρὸς αὐτὸν νομίζοντες αὐτὸν ἤδη τεθνάναι· καὶ θεασάμενοι αὐτὸν παραχρῆμα ἐτυφλώθησαν. 51 Σπλαγχνισθεὶς δὲ ἐπ᾿ αὐτοῖς ὁ ἅγιος Βίκτωρ καὶ προσευξάμενος εἶπεν· Ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ Κυρίου μου Ἰησοῦ Χριστοῦ, δι᾿ ὃν ἐγὼ ἐνθάδε κρέμαμαι, ἀναβλέψατε. 52 Οἱ δὲ στρατιῶται ἀναβλέψαντες παραχρῆμα καὶ ἀπέλθοντες ἀπήγγειλαν τῷ δουκὶ πάντα τὰ γεγενημένα. 53 Καὶ ὀργισθεὶς ὁ δοὺξ ἐκέλευσεν αὐτὸν ἐκδαρθῆναι38 καθ᾿ ὅλου τοῦ σώματος. 54 Εἶπεν δὲ αὐτῷ ὁ ἅγιος Βίκτωρ· Ει᾿ καὶ τὴν τοῦ σώματός μου δορὰν ἀφέλῃς, ἀλλὰ κατὰ τοῦ λογισμοῦ ποιῆσαί τι οὐ δύνασαι. 55 Τότε γυνή τις στρατιώτου τινὸς ἐκ τῆς αὐτοῦ παρεμβολῆς ὀνόματι Στεφανίς ἐκεῖσε παρεστῶσα οὖσα ὡς ἐτῶν ἑξκαίδεκα, ἀνεβόησε λέγουσα· Μακάριος εἶ Βίκτωρ, καὶ παμμακάρια39 τὰ ἔργα σου τὰ ἅγια. προσδεχθείη σου ἡ θυσία ὡς ἡ θυσία τοῦ Ἄβηλ, ὅτι προσηνέγκας ἑαυτὸν ἐν εὐθύτητι καρδίας· καὶ ὁ θεὸς προσεδέξατο40 ὡς Ἐνὼχ τὸν δίκαιον, ὃς μετετέθη, ἵνα μὴ γεύσηται θανάτου τοῦ αι᾿ῶνος τούτου, ἕως ἂν ἔλθῃ ὁ ὁρισμένος χρόνος· ἐδικαιώθης ὥσπερ Νῶε πεπληρωμένος καρπῶν ἀγαθῶν· τέλειος ει᾿ καὶ δίκαιος ὥσπερ ἐκεῖνος ἐν ὅλῃ τῇ γενεᾷ· ἐπίστευσας ὥσπερ41 Ἀβραάμ· προσήνεγκας ἑαυτὸν τῷ θεῷ ὡς Ἰσαάκ· ὑπέμεινας πειρασμοὺς ὡς Ἰακὼβ, ἡνίκα ἐδιώκετο ὑπὸ Ἡσαῦ· ἐσοφίθης ὥσπερ42 Ἰωσήφ, ᾧ ἐγνώσθη τὰ ἀποβησόμενα περὶ τοῦ λιμοῦ· καὶ ἐγένου φρόνιμος καὶ πιστός· ἤλθησας ὡς Ἰώβ, ὃς πολλοὺς πειρασμοὺς ὑπομείνας ἐνίκησε τὸν ἐχθρόν· ἐζήλωσας τὸν Ἡσαΐαν, ὃς μέσον ἐπρίσθη ὑπὸ Μανασσῆ. Οὐχ ἥψατό σου τὸ πῦρ, ὡς οὐδὲ τοῦ Ναβουχοδονόσορ τῶν τριῶν παίδων· ἤλπισας ἐπὶ Κύριον ὡς Δαυῒδ ὁ τοῦ Ἰεσσαι·43 ἀπέλαβες τὴν σοφίαν Σολομῶντος, ἕως ἂν νικήσῃς τοῦ ἀντιπάλου τὰς μεθοδείας. Προσδεχθείη σου ἡ θυσία, ὡς ἡ τοῦ Σαμουήλ· ἐγένου ει᾿ς ὀσμὴν εὐωδίας, ὡς Ἐλεάζαρος ἐν τῇ ἱερατείᾳ αὐτοῦ· προσδοχθείη σου τὸ τοῦ διωγμοῦ αἷμα, ὡς τοῦ Δανιὴλ διὰ τῶν ὀνειράτων· εἶδον44 γὰρ δύο στεφάνους ἀπὸ οὐρανοῦ φερομένους, ἕνα μείζονα καὶ ἕνα ἐλάσσονα·45 καὶ τὸν μὲν μείζονα σοὶ φερόμενον ὑπ᾿ ἀγγέλων δώδεκα; τὸν δὲ ἐλάσσονά μοι πεμπόμενον. Ει᾿ γὰρ καὶ σκεῦός ει᾿μι ἀσθενές, ἀλλ᾿ ὅλως κἀγὼ ἀγωνίζομαι καὶ σπουδάζω τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν ἐπιτυχεῖν.

36 37 38 39 40 41 42 43

αὐτὸν post ἐκέλευσε habet V. κατακεφαλῆς V. ἐκδαρῆναι V. παμμακάριστά σου transp. V. προσεδέξατό σε V. ὡς V. ὡς V. Im Codex Vaticanus gr. 1669 wird die Zeugenliste hier beendet, ausgelassen wird ἀπέλαβες τὴν σοφίαν Σολομῶντος bis Δανιὴλ διὰ τῶν ὀνειράτων. Bei Ioannou erfolgt von hier an eine Umstellung: Hiob – Jesaja – Eleasar – Daniel – David; es fehlen ebenfalls Salomo und Samuel. Zu David wird präzisierend auf seinen Kampf mit Goliath hingewiesen. 44 ίδον (sic) V. 45 Nach ἐλάσσονα überspringt der Schreiber von V eine Zeile, und somit schreibt er gleich danach »ἐμοὶ πεμπόμενον. Ει᾿ γὰρ καὶ σκεῦός ει᾿μι«. Dann korrigiert er sich, setzt ein Verweiszeichen und bietet die vollständige Passage: καὶ τὸν μὲν μείζονα σοὶ φερόμενον ὑπ᾿ ἀγγέλων δώδεκα; τὸν δὲ ἐλάσσονά μοι πεμπόμενον. Ει᾿ γὰρ καὶ σκεῦός ει᾿μι ἀσθενές, ἀλλ᾿ ὅλως κἀγὼ ἀγωνίζομαι καὶ σπουδάζω τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν ἐπιτυχεῖν.

Das Martyrium der Corona

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G 50 Dann befahl der dux, dass er verbrannt werde kopfüber, bis aus seinen Gliedern Blut auf die Erde fließt. Und da überließen ihn die Soldaten dem Feuer und verließen ihn für drei Tage. Am Ende der drei Tage gingen sie zurück zu ihm und waren überzeugt, er sei schon gestorben, und sie sahen ihn und erblindeten sofort. 51 Aber der heilige Victor hatte Mitleid mit ihnen, betete und sprach: »Im Namen meines Herrn Jesus Christus, um dessen willen ich hier verbrannt werde, könnt wieder sehen!« 52 Und die Soldaten konnten sofort wieder sehen und sie gingen fort und berichteten dem dux alle Geschehnisse. 53 Und der dux erzürnte und befahl, dass an seinem ganzen Körper die Haut abgezogen werde. 54 Da sagte ihm der heilige Victor: »Wenn du auch die Haut von meinem Körper nehmen willst, wirst du nichts gegen meine Ansicht bewirken können.« 55 Dann schrie eine Frau eines Soldaten aus dem Heer, die dabeistand, mit dem Namen Stephanis,46 16 Jahre alt, auf und sagte: »Selig bist du, Victor, und überaus selig sind deine heiligen Werke. Dein Opfer (s. § 43) wurde angenommen wie das Opfer Abels (Gen 4,2), da du dich selbst mit aufrechtem Herzen dargebracht hast. Und Gott hat dich angenommen wie Henoch, den Gerechten, der hinaufgenommen wurde (Gen 5,24), damit er einen Tod dieses Blutes nicht koste, bis die festgesetzte Zeit kommen werde. Du bist gerechtfertigt worden wie Noah (Gen 6,8), erfüllt mit guten Früchten. Vollkommen bist du und gerecht wie jener zur Zeit seiner ganzen Generation. Du hast geglaubt wie Abraham (Gen 15,6); du hast dich selbst Gott dargebracht wie Isaak (Gen 22,10); du hast Versuchungen ertragen wie Jakob, als er von Esau verfolgt wurde (Gen 27,41); du warst weise wie Joseph, dem die baldigen Ereignisse wegen der Hungersnot bekannt wurden (Gen 41,25–36), und warst verständig und treu. Du hast gekämpft wie Hiob, der viele Versuchungen ertrug, und hast den Feind besiegt; du hast Jesaja nachgeeifert, der von Menasse mitten durchgeschnitten wurde (AscJes 1–5). Dich hat das Feuer nicht berührt, wie auch nicht die drei Jünglinge unter Nebukadnezar (Dan 3,1– 27; s. § 19–20); du hast auf den Herrn gehofft wie David, Sohn von Jesse; du hast die Weisheit Salomos aufgenommen, bis du die Verschlagenheit des Angreifers besiegtest. Dein Opfer wurde angenommen wie das von Samuel (1 Sam 7,10); du wurdest zum Wohlgeruch wie Eleasar (vgl. Num 3,32; 2 Makk 6,18–31) in seinem Heiligtum. Dein Blut der Verfolgung wurde angenommen wie das von Daniel. Durch Träume habe ich nämlich zwei Kränze gesehen, die vom Himmel kamen, einen größeren und einen kleineren. Und der größere wurde dir angetragen von zwölf Engeln, der kleinere mir geschickt. Denn auch wenn ich ein schwaches Gefäß bin, so werde auch ich in jeder Hinsicht kämpfen und mich beeilen, das Himmelreich zu erreichen.«

46 Nach der zehnten Folterung und vor den Hinrichtung Victors tritt Stephanis/Corona auf. Es liegt zwar eine gesonderte Textpassage vor, die allerdings wegen des Bezugs ihrer Lobrede auf Victor nicht gesondert stehen kann. Die Lobrede stellt Victor in die Nachfolge der »Helden« der Geschichte Israels.

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Uta Heil zusammen mit Maria-Lucia Goiana und Sandra Kubicz

Η 56 Ὁ δὲ δοὺξ ἀκούσας ταῦτα, ἐθυμώθη λίαν καὶ ἐκέλευσεν προσαχθῆναι αὐτὴν αὐτῷ καὶ λέγει αὐτῇ· Σὺ τὶς εἶ; 57 Ἡ δὲ ἁγία εἶπεν· Χριστιανή. 58 Ὁ δὲ δοὺξ εἶπεν· Πόσων ἐτῶν εἶ; 59 Ἡ δὲ ἁγία εἶπεν· Δεκαπέντε ἐτῶν καὶ μηνῶν ὀκτώ. 60 Λέγει αὐτῇ ὁ δούξ· Πότε ἐζεύχθης ἀνδρί; 61 Ἡ ἁγία Στεφανὶς εἶπεν· Πρὸ ἐνιαυτοῦ ἐνὸς καὶ μηνῶν τεσσάρων. 62 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Καὶ διὰ τί οὕτως ταχέως ἀφῆκας τὸν κόσμον; 63 Ἡ ἁγία Στεφανὶς εἶπεν· Ἐπειδὴ ἵνα μετὰ παῤῥησίας ἀπαντήσω τῷ προσδοκωμένῳ Σωτῆρί μου Ἰησοῦ Χριστῷ, τῷ ἐπουρανίῳ καὶ ἀθανάτῳ Νυμφίῳ· ὁ γὰρ ἐπίγειος νυμφίος πρόσκαιρός ἐστι καὶ θνητός, ὁ δὲ ἐπουράνιος καὶ αἱ47 Χριστοῦ δωρεαὶ ἀθάνατοι καὶ ἀκίνητοι καὶ ἀδιάλυτοι καὶ αι᾿ώνιοι ει᾿σιν. 64 Ὁ δοὺξ εἶπεν· Παυσαμένη τῆς ἀνωφελοῦς ταύτης φλυαρίας, προσελθοῦσα θῦσον τοῖς θεοῖς, μὴ ποικίλαις τιμωρίαις καὶ δειναῖς βασανίσας σε ἀπολέσω. 65 Ἡ ἁγία εἶπεν· Ἐγὼ Στεφανὶς καλοῦμαι, ᾗ στέφανος ἀπόκειται ἐν τοῖς οὐρανοῖς, καὶ διὰ τοῦτο οὐκ ἐπιθύω, ἵνα κομίσωμαι αὐτὸν παρὰ τοῦ δικαίου καὶ ἀληθινοῦ ἀθλοθέτου Χριστοῦ.

47 τοῦ add. V.

Das Martyrium der Corona

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H 56 Der dux aber, als er dies hörte, erzürnte sehr und befahl, dass man sie ihm brächte, und sprach zu ihr: »Wer bist du denn?« 57 Die Heilige aber sagte: »Eine Christin!« 58 Der dux aber sagte: »Wie alt bist du?« 59 Die Heilige sagte: »15 Jahre und 8 Monate.« 60 Der dux sagte: »Wann wurdest du mit einem Mann vereint?« 61 Die heilige Stephanis sagte: »Vor einem Jahr und vier Monaten.« 62 Der dux sagte: »Warum willst du so schnell die Welt verlassen?« 63 Die heilige Stephanis sagte: »Deswegen, damit ich mit Freimut vor meinen verehrten Erlöser Jesus Christus treten werde, den himmlischen und unsterblichen Bräutigam. Denn der irdische Bräutigam ist zeitlich und sterblich, Christus aber vom Himmel und die Gaben Christi sind unsterblich und unvergänglich und unauflöslich und ewig.« 64 Der dux sprach: »Hör auf mit diesem unnützen Geschwätz! Tritt herzu und opfere den Göttern, wenn du nicht durch viele schreckliche und fürchterliche Folterungen zugrunde gehen willst.« 65 Die Heilige sagte: »Ich werde Stephanis genannt, da ein Kranz im Himmel bereit liegt, und deswegen werde ich nicht opfern, damit ich ihn empfange von dem gerechten und wahren Christus, dem Preisrichter.«

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Uta Heil zusammen mit Maria-Lucia Goiana und Sandra Kubicz

Θ 66 Ταῦτα ἀκοῦσας ὁ δοὺξ καὶ σφόδρα θυμωθεὶς ἐκέλευσε δυὸ δένδρα φοινίκων καμφθέντα ἀλλήλαις κολληθῆναι ταῖς κορυφαῖς κἀκεῖσε δεθῆναι τὴν μακάριαν ἐκ τῶν δύο ποδῶν· καὶ ἀπολυθῆναι αὐτὰ ἀθρόως ἀπ᾿ ἀλλήλων. Τούτου δὲ μετὰ πολλοῦ τοῦ τάχους γενομένου48 διεσχίσθη μέσον ἡ ἁγία ἀθλοφόρος τοῦ Χριστοῦ Στεφανίς καὶ ἐγένετο ει᾿ς μέρη δύο ἐν τοῖς δυσὶ φοίνιξι καὶ οὕτως ἐτελειώθη ἐν ει᾿ρήνῃ καὶ τὴν μαρτυρίαν αὐτῆς ἐπλήρωσεν πιστῶς ἀπολαβοῦσα τὸν στέφανον τῆς νίκης παρὰ τοῦ Κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ. 67 Τὸν δὲ ἅγιον Βίκτωρα ἐκέλευσεν ὁ δοὺξ τραχηλοκοπηθῆναι. 68 Ὁ δὲ καλλίνικος μάρτυς τοῦ Χριστοῦ ἀκούσας τῆς ἀποφάσεως ταύτης εἶπεν· Εὐχαριστῶ τῷ θεῷ μου πάντοτε τῷ χαρισαμένῳ μοι τὴν νίκην ταύτην καὶ49 δωρεὰν μέχρι τέλους. 69 Μέλλων δὲ τελειοῦσθαι ὁ μακάριος Βίκτωρ λέγει τοῖς κυαιστωναρίοις· Γνωστὸν ἔστω ὑμῖν, ὅτι μεθ᾿ ἡμέρας ἑπτὰ οἱ ῤήτορες τελευτήσωσι καὶ ὑμεῖς αὐτοὶ τελευτᾶτε μεθ᾿ ἡμέρας δώδεκα, καὶ ὁ δοὺξ μεθ᾿ ἡμέρας εἴκοσι τέσσαρας ἁρπαγήσεται ὑπὸ τῶν ἐναντίων· καὶ μετὰ τρία ἔτη ἐλεύσονται οἱ ἡμέτεροι ἐπὶ τὸ ἆραι τὸ σῶμά μου· ἔχω γὰρ καὶ τὴν σορὸν ἔκπαλαι ἑτοίμην· μὴ οὖν ει᾿ς ἀλλοτρίαν τεθῶ, παρακαλῶ, μηδὲ κωλύσητε ἀρθῆναι τὸ λείψανόν μου, ἵνα ει᾿ς τὰ ἴδια ἀποκομισθῇ ἐν ει᾿ρήνῃ. 70 Ταῦτα ει᾿πόντος αὐτοῦ καὶ εὐξαμένου ἐκρούσθη τῷ ξίφει καὶ ἐξῆλθεν αἷμα καὶ γάλα, ὥστε πάντας θαυμάσαι τοὺς περιεστῶτας. Πολλοὶ δὲ τῶν Ἑλλήνων θεωρήσαντες τὴν καρτερίαν καὶ ὑπομονὴν τῆς ἀκλινοῦς αὐτοῦ πίστεως μεταβαλλόμενοι τὸν τρόπον, γεγόνασι Χριστιανοί. Ἀκούσαντες δὲ καὶ περὶ ὧν προείρηκεν πλέον ἐστηρίχθησαν· πάντα γὰρ ὅσα προεῖπεν ἐγένοντο, ὡς ἐκ τούτου πολλοὺς πιστεῦσαι τῷ Χριστῷ. 71 Ἐτελειώθη δὲ ὁ ἅγιος καὶ καλλίνικος μάρτυς τοῦ Χριστοῦ Βίκτωρ σὺν τῇ μακαρίᾳ Στεφανίδι μενὴ Νοεμβρίῳ ἐνδεκάτῃ, ἐν πόλει Δαμασκῷ τῆς Ἰταλίας, ἐπὶ βασιλέως Ἀντωνίνου καὶ Σεβαστιανοῦ δουκός, ει᾿ς δόξαν τοῦ Πατρὸς καὶ τοῦ Υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου Πνεύματος νῦν καὶ ἀεὶ καὶ ει᾿ς τοὺς αι᾿ῶνας τῶν αι᾿ώνων. Ἀμήν.

48 μέσον transp. V. 49 τὴν add. V.

Das Martyrium der Corona

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I 66 Dies hörte der dux und wurde sehr unwillig; er befahl, zwei niedergebeugte phönizische Bäume an ihren Spitzen aneinanderzubinden und dorthin die Selige mit ihren beiden Füßen anzubringen, und sie wurden plötzlich voneinander losgelassen. Als dies mit großer Geschwindigkeit geschah, wurde die heilige Stephanis, Kämpferin für Christus, mitten entzweigerissen, und es war je ein Teil an den beiden phönizischen Bäumen, und so wurde in Frieden getreulich auch ihr Martyrium erfüllt; und sie empfing den Kranz des Sieges von unserem Herrn Jesus Christus.50 67 Der dux befahl, dass der heilige Victor am Nacken geköpft werde. 68 Der so siegreiche Zeuge Christi hörte dieses Urteil und sagte: »Dank sei meinem Gott allezeit, der mir schlussendlich diesen Sieg und die Gabe gnadenhaft gewährt (vgl. 1 Petr 4,13).« 69 Als der selige Victor also seinem Ende entgegenging, sagte er zu den Quaestoren: »Euch sei bekannt gemacht, dass nach sieben Tagen die Redner (Richter?) sterben werden, und ihr selbst nach zwölf Tagen; euer dux wird nach 24 Tagen als Gefangener von Feinden weggeführt werden; nach drei Jahren werden die Meinigen kommen, um meinen Körper zu holen. Denn ich habe schon vor langer Zeit einen Sarg bereitgestellt. Ich bitte euch daher, mich nicht in einen anderen Sarg zu legen noch zu verhindern, dass meine Reliquien überführt werden, damit sie in Frieden in ihre Heimat gebracht werden.« 70 Nachdem er dies gesagt hatte, wurde er mit dem Schwert zerschlagen, und es flossen Blut und Milch heraus, sodass alle staunten, die dabeistanden. Viele von den Griechen, die die Ausdauer sowie die Geduld seines unerschütterlichen Glaubens gesehen hatten, änderten ihre Haltung und wurden Christen. Sie hatten gehört von dem, was er vorausgesagt hatte, und wurden noch mehr gestärkt; denn alles, was er vorausgesagt hatte, geschah, sodass deswegen viele an Christus glaubten. 71 Der heilige und so siegreiche Zeuge Christi starb zusammen mit der seligen Stephanis am 11. November in der Stadt Damaskus in Italien unter der Herrschaft des Antoninus und Sebastianus, des dux, zur Ehre des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen.

50 Zu dieser Hinrichtungsart vgl. auch Euseb, Historia Ecclesiastica 8,9,2; vgl. auch die Tötung des Räubers Sinis durch Theseus (Apollodor 3,16,2,1).

Karl W. Schwarz

»Sie haben […] geholfen, den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren.« Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien

Abstract From 1939 to 1943, Prof. Gerhard Kittel worked as a deputy lecturer for New Testament Studies at the Faculty of Protestant Theology and as a so called »Judenforscher« at the Faculty of Philosophy of the University of Vienna. In this capacity he had also participated in several relevant propaganda exhibitions (»The Eternal Jew« [1938]; »The Physical and Mental Appearance of the Jews« [1939]). This prompted the rector not only to praise Kittel’s work as exemplary, but also to persuade him to transfer to the Faculty of Philosophy. In the background was the intention to establish the University of Vienna as scientific center for the Eastern and South-Eastern European region. Kittel left Vienna, however, when the planned expansion of the Faculty of Protestant Theology into a »Grenzlandfakultät« (»borderland faculty«) was thwarted. After 1945 he was removed from his teaching position in Tübingen, imprisoned, and subjected to denazification proceedings. He wrote a statement of defence to which he added numerous letters of exoneration. The article places Kittel’s teaching activities in the history of the Viennese faculty and examines these letters of exoneration from Vienna in order to conclude that the scholar’s anti-Judaism was instrumentalised and even worked into the hands of the National Socialists’ racial antisemitism.

1

Einleitung

Er war eine unumstrittene Koryphäe in seinem Fach: Gerhard Kittel (1888–1948); als Professor für neutestamentliche Wissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen verfügte er über großes Ansehen an seiner Fakultät und in der scientific community im deutschen Sprachraum, ja weit darüber hinaus; als Herausgeber des Theologischen Wörterbuches zum Neuen Testament (ThWNT) galt ihm die Wertschätzung nicht nur der Exegeten, sondern der Theologen insgesamt. Als solcher war er in ein weltweites Netzwerk eingebunden, in die Societas Studiorum Novi Testamenti (SSNT) und konnte auch mit dem Respekt und der Solidarität seiner Kollegenschaft rechnen – auch und gerade dann, als ihn 1945 seine NS-Vergangenheit einholte und ihm sein Lehramt entzogen

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wurde. Das zeigen viele Solidaritätsadressen von Fachkollegen wie Martin Dibelius (1883–1947), Joachim Jeremias (1900–1979), Albrecht Alt (1883–1956), Friedrich Baumgärtel (1888–1981), Emil Brunner (1889–1966), Albert Debrunner (1884–1958), Karl Heim (1874–1958), Karl Adam (1876–1966) oder jene des Tübinger Orientalisten Enno Littmann (1875–1958) und des Wiener klassischen Archäologen Josef Keil (1878–1963).1 Sein wissenschaftlicher Rang enthob ihn aber keineswegs einer peinlichen Entnazifizierung, einer halbjährigen Inhaftierung und Entlassung aus dem Universitätsdienst, einer fast elfmonatigen Internierung in einem Lager in der Umgebung von Tübingen, schließlich begnadigt zu einer Art »Klosterhaft« in Beuron. In dieser Zeit verfasste er eine Verteidigungsschrift, die er unter seinen Kollegen im In- und Ausland distribuierte. Darin räumte er ein, er sei als Neutestamentler antijudaistisch eingestellt, weil das Neue Testament nur als die krasseste Antithese zum Judentum zu verstehen sei, aber diese Haltung müsse vom Rassenantisemitismus der NS-Zeit unterschieden werden. Er sei rückhaltlos bereit, als Glied seines Volkes die Kollektivschuld Deutschlands mitzutragen, er leugnete indes jedwede individuelle Schuld – oder, wie er in seiner Verteidigungsschrift in der dritten Person formulierte: Die Bejahung der Solidarität einer ungeheuren Kollektivschuld, unter der er sich mit stehend weiß, enthebt ihn nicht des Rechtes und der Pflicht, um der Wahrheit und um der Gerechtigkeit willen die Frage zu stellen, ob in gleicher Weise auch eine individuelle, aus seinem persönlichen Einzelhandeln sich ergebende Schuld auf ihm liegt, die seine Bestrafung als die eines des Amtes und Auftrages Unwürdigen fordert?2

Die Tübinger Fakultät stand ganz im Banne dieser Rechtfertigungsschrift von 1946, von der es mehrere Fassungen gibt.3 Ihre zentrale Forderung war eine Differenzierung zwischen einem dezidiert christlichen Antijudaismus und dem 1 Matthias Morgenstern: Dreistigkeit, Verstocktheit und Selbstbezichtigung. Der »christliche« Antisemitismus des Tübinger Theologen Gerhard Kittel, in: ders./Alon Segev: Gerhard Kittels Verteidigung/Gerhard Kittel’s Defense. Die Rechtfertigungsschrift eines Tübinger Theologen und »Judentumsforschers« vom Dezember 1946/Apologia of a Tübingen Theologian and New Testament Scholar, December 1946, Berlin 2019, (153–200) 167–168 die Namen von Kittels Entlastungszeugen – dazu die Rezension von Hans Förster, in: Dialog-Du Siach 118 (Jänner 2020), 43–48. 2 Gerhard Kittel: Meine Verteidigung, in: Morgenstern/Segev: Gerhard Kittels Verteidigung (s. Anm. 1), (11–152) 15. 3 Morgenstern/Segev: Gerhard Kittels Verteidigung (s. Anm. 1), 170–200. Dazu auch die Analysen von Leonore Siegele-Wenschkewitz: »Meine Verteidigung« von Gerhard Kittel und eine Denkschrift von Walter Grundmann, in: Hermann Düringer/Karin Weintz (Hg.): Leonore Siegele-Wenschkewitz. Persönlichkeit und Wirksamkeit (ArTe 112), Frankfurt a.M. 2000, (135– 183) 147–156; Manfred Gailus: Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946: Rechtfertigungsversuche eines schwer kompromittierten Theologen, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.): Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel (Berichte und Studien 79), Göttingen 2020, 161–182.

Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien

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rassistischen Antisemitismus der NS-Zeit. Die Fakultät hatte schon die erste kritische Studie über die Verstrickung deutscher Wissenschaftler in den Nationalsozialismus nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil diese in deren antisemitischer Einstellung die Grundlagen für die Shoa ortete.4 Kittels Verteidigungsschrift, die Aufsehen im In- und Ausland erregt hatte, mochte die Argumente geliefert haben, um den Angriff auf die Integrität der deutschen Wissenschaft abzuwehren; sie blockierte freilich auch die zeitnahe Bearbeitung des dunklen NS-Kapitels der Tübinger Fakultätsgeschichte. Nichts kann dies besser illustrieren als die gefeierte Kirchenkampfdarstellung von Klaus Scholder (1930–1985), in der die Rolle Kittels völlig ausgespart blieb. Die Causa Kittel aber wurde zum Thema der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung: Die frühverstorbene Leonore Siegele-Wenschkewitz (1944–1999) mit ihren zahlreichen Untersuchungen zur Tübinger Fakultätsgeschichte stand am Beginn,5 wobei sie Kittel nicht an den Pranger stellte, sondern sehr differenziert zum Übergang von Antijudaismus zum Antisemitismus argumentierte. Dagegen kritisierte der amerikanische Zeithistoriker Robert P. Ericksen (*1945), für den Kittel ein »Kollaborateur« des NS-Rassismus par excellence gewesen ist, deren Konzentration auf die Zeit vor 1933 und die daraus resultierende milde Beurteilung.6 Ericksen repräsentiert auch den Übergang zur nächsten Forschergeneration,7 die auf einer erheblich erweiterten Quellenbasis die Differenzierung zwischen einem biblisch begründeten christlichen Antijudaismus und dem Antisemitismus in Zweifel zog und die Bedingungen untersuchte, unter denen eine Überformung und Vermischung beider befördert wurde. Am Denken und politischen Handeln Kittels ist dieses Ineinandergreifen von Antijudaismus und Antisemitismus zuletzt von einem ambitionierten Kreis interdisziplinär operie-

4 Max Weinreich: Hitler’s Professors. The Part of Scholarship in Germany’s Crimes Against the Jewish People, New York 1946, ²1999. 5 Leonore Siegele-Wenschkewitz: Die Evangelisch-theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reiches II. Gerhard Kittel und die Judenfrage, in: Eberhard Jüngel (Hg.): Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert (ZThK.B 4), Tübingen 1978, 53–80; dies.: Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte (TEH 208), München 1980, 50; dies. (Hg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen (ArTe 85), Frankfurt a.M. 1994. – Ihr letzter Beitrag zum Thema (s. Anm. 3). 6 Robert P. Ericksen: Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), 595–622; ders.: Zur Auseinandersetzung mit und um Gerhard Kittels Antisemitismus, in: EvTh 43 (1983), 250–270; ders.: Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, 57, 72– 73. 7 Robert P. Ericksen: Schweigen und Sprechen über den »Fall Kittel« nach 1945, in: Gailus/ Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 43–61.

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render Wissenschaftler thematisiert und diese Dekonstruktionsarbeit geleistet worden.8 Im Folgenden kehre ich zum Frühstadium der Kittel’schen Verteidigung zurück. Denn dazu gehören auch eine Reihe entlastender Stellungnahmen von Fachkollegen und Zeitzeugen, darunter solche aus Wien, wie etwa jenes Schreiben von Bischof Gerhard May (1898–1980),9 dem das Zitat im Titel meines Beitrags entnommen ist. Es ist getragen von großer Dankbarkeit der Evangelischen Kirche in Österreich für Kittels »kirchliche Mitarbeit«, durch die er geholfen habe, »den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren«. Es wird meine Aufgabe sein, die apostrophierte »Mitarbeit« Kittels zu untersuchen und das Gewicht jener entlastenden Argumente zu überprüfen. Außerdem soll die Lehr- und Forschungstätigkeit Kittels in den Rahmen der Wiener Fakultätsgeschichte eingeordnet werden, eine Aufgabe, die bisher in der Kittelforschung nur von Horst Junginger und Matthias Morgenstern ins Auge gefasst wurde.10

2

Eine Dienstverfügung des Reichserziehungsministeriums

Die Verfügung des Reichserziehungsministeriums trägt das Datum 15. September 1939 und markiert den Beginn einer bis April 1943 währenden Lehrtätigkeit in Wien. Es war kein üblicher akademischer Ruf, dem er gefolgt wäre, sondern eine dienstliche Beauftragung. Kittel habe seine Wiener Aufgabe, so der Wiener Dekan Gustav Entz (1884–1957)11 in einem Schreiben an das Reichserziehungs8 Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3). Dazu meine Rezension in: DialogDu Siach 121 (Oktober 2020), 20–24. Die beiden Herausgeber sind ausgewiesene Spezialisten zur NS-Geschichte: Manfred Gailus (Hg.): Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015; ders./Clemens Vollnhals (Hg.): Mit Herz und Verstand – Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassenpolitik, Göttingen 2013; dies. (Hg.): Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016; Clemens Vollnhals/Uwe Puschner (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012. 9 Schreiben Bischof May an Prof. Kittel, 29. 11. 1946 – Tübingen: Universitätsarchiv, NachlassKittel. Die hier aufliegenden Stellungnahmen zu Kittels Wiener Tätigkeit von Gerhard May (29. 11. 1946), Heinrich Liptak (7. 12. 1946), Josefa Eder (22. 12. 1946), Gustav Entz (13. 8. 1945, 13. 12. 1946), Hans vom Campenhausen (26. 10. 1945), Hans Langer (o.D. Abschrift vom 5. 2. 1947) wurden mir freundlicherweise von Frau Kollegin Uta Heil zur Verfügung gestellt, wofür hier ausdrücklich gedankt wird. 10 Horst Junginger: Gerhard Kittel. Ein biografischer Abriss im Kontext der politischen und kirchlichen Zeitgeschichte, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 203–257; Morgenstern: Dreistigkeit (s. Anm. 1), in den Anmerkungen zu Kittels Verteidigungsschrift. 11 Von Gustav Entz gibt es maschinschriftliche »Erinnerungen aus fünfzig Jahren kirchlicher und theologischer Arbeit« (o. J. – 421 pp.) sowie eine gleichbetitelte Kurzfassung, in: Der

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ministerium,12 nie aus »pekuniären« Erfolgsgründen, sondern stets »unter dem Gesichtspunkt einer zu erfüllenden Pflicht und Aufgabe angesehen«. So hatten ihm die zuständigen amtlichen Stellen im Herbst 1939 eben die »Wahrnehmung der Lehrkanzel« an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien nahegelegt – an einer ebenso traditionsreichen wie ambitionierten Universität, die zum kulturellen Aushängeschild für den südosteuropäischen Raum ausgestaltet werden sollte.13 Ihm war die Stadt vertraut, an der Eröffnung der Propagandaausstellung »Der ewige Jude« im Sommer 1938 hatte er teilgenommen.14 1939 war der langjährige Ordinarius Richard A. Hoffmann (1872–1948) 67jährig in den Ruhestand verabschiedet,15 der vakante Lehrstuhl aber nicht zur Wiederbesetzung ausgeschrieben worden. Der scheidende Professor hatte sich für den in Königsberg wirkenden Neutestamentler Carl Schneider (1900–1977) als Nachfolger eingesetzt,16 der nicht nur seit 1933 Parteigenosse, sondern auch im deutsch-christlichen Lager fest verankert war17 und im Rahmen der 11. Evangelischen Woche im März 1937 in Wien als Referent an der Seite Hoffmanns aufgetreten war.18 Dagegen votierte der eben in Wien angekommene junge Kirchenhistoriker Hans Georg Opitz (1905–1941), Herausgeber der Theologischen Literaturzeitung, der Schneiders »wissenschaftliche Phantastereien« scharf kritisierte und dessen Berufung nach Wien unbedingt zu verhindern trachtete.19 Noch ein anderer Deutscher Christ wurde als möglicher Lehrstuhlinhaber in Wien erwogen: Walter Grundmann (1906–1976), Professor für völkische Theologie und Neues Testament in Jena und Direktor des in Eisenach angesiedelten

12 13 14 15 16 17

18 19

Mann vor Christus 1953/54, Heft 1, 2–13 – etwas erweitert wieder abgedruckt in: Karl Schwarz (Hg.): Gustav Entz – ein Theologe in den Wirrnissen des 20. Jahrhunderts (STKG IV/6), Wien 2012, 13–49. Schreiben Dekan Entz an das Reichserziehungsministerium, 13. 10. 1942 – zit. bei Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 236. Gernot Heiß: »… As the Universities in Austria Were More Pillars of Our Movement Than Those in the Old Provinces in the Reich«. The University of Vienna from Nazification to DeNazification, in: Digestive Diseases 17 (1999), (267–278) 270. Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 229. Sabine Taupe: Richard Adolf Hoffmann und seine Theologie. Intellektuelle Biographie eines neutestamentlichen Bibelwissenschaftlers, Parapsychologen und Spiritisten sowie radikalen Deutschen Christen, Dipl., Wien 2010, 9. Dirk Schuster: Die Lehre vom »arischen« Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher »Entjudungsinstitut« (Kirche – Konfession – Religion 70), Göttingen 2017, 179 – dazu meine Rezension in: Dialog-Du Siach 121 (Oktober 2020), 25–29. Oliver Arnhold: Gerhard Kittel und seine Schüler. Welche Verbindungen bestanden zum Eisenacher »Entjudungsinstitut«?, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), (119–134) 126; zu ergänzen insofern Morgenstern/Segev: Gerhard Kittels Verteidigung (s. Anm. 1), 43 (Anm. 87). Alfred Garcia Sobreira-Majer (Hg.): Die Evangelische Woche in Wien 1927–1938/1958–1995, Wien 1995, 29 (Abbildung), 76 (Programm). Schuster: Die Lehre vom »arischen« Christentum (s. Anm. 16), 231.

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»Entjudungsinstituts«.20 Dass schlussendlich Kittel nach Wien kam, wusste Opitz sich zugute zu halten. Er habe das Seine dazu getan, ließ er seinen Lehrer Hans Lietzmann (1875–1942) in Berlin wissen.21 Mit der Formel »Wahrnehmung der Lehrkanzel« wurde Kittels Wechsel nach Wien im Vorlesungsverzeichnis kommuniziert. Das bedeutete, dass Kittel seine Stellung in Tübingen beibehielt, auch wenn er mit Familie nach Wien übersiedelte und hier von der kirchlichen und universitären Öffentlichkeit geradezu als »Mann der Stunde« begrüßt wurde.22 Dieser Aufenthalt in Wien, der insgesamt vier Trimester und vier Semester vom Beginn des Wintertrimesters 1939/40 bis zum Ende des Sommersemesters 1943 dauerte, war für die ältere Kittelforschung noch mit Fragezeichen versehen, konnte aber unterdessen geklärt werden.23 Dieser Ortswechsel macht nur Sinn, wenn die bedrohte Lage der Theologischen Fakultäten im »Dritten Reich«24 und die in Aussicht genommenen Schließungen und Zusammenlegungen, das betraf namentlich Tübingen und Heidelberg, berücksichtigt werden.

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Das Projekt einer »Grenzlandfakultät«

Diesen bedrohlichen Aussichten stand das stolze Projekt einer Grenzlandfakultät in Wien gegenüber.25 Es war durch den Ehrgeiz gespeist worden, die Alma Mater Rudolfina Viennensis zu einem kulturellen Zentrum für die volksdeutsche Diaspora im Südosten Europas auszubauen. Hier hat der Langzeitdekan Entz 20 Oliver Arnhold: »Entjudung« – Kirche im Abgrund 2. Das »Institut zur Erforschung und Beseitigung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945 (SKI 25/2), Berlin 2010, 852–861 (Mitarbeiterverzeichnis). 21 Schreiben vom 15. 1. 1940, in: Kurt Aland (Hg.): Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin 1979, Nr. 1131, 986. 22 Bischof Eder wies in seinem 11. Amtsbrüderlichen Rundschreiben am 1. Oktober 1939 ausdrücklich darauf hin: Gustav Reingrabner/Karl Schwarz (Hg.): Quellentexte zur österreichischen evangelischen Kirchengeschichte zwischen 1918 und 1945, Wien 1989, 550. 23 Karl Schwarz: »Grenzburg« und »Bollwerk«. Ein Bericht über die Wiener Evangelisch-theologische Fakultät in den Jahren 1938–1945, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG B 18), Göttingen 1993, (361–389) 374–377; das wurde von Siegele-Wenschkewitz auch bestätigt: »Meine Verteidigung« von Gerhard Kittel (s. Anm. 3), 140 (Anm. 6) – Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 236–244. 24 Eike Wolgast: Nationalsozialistische Hochschulpolitik und die theologischen Fakultäten, in: Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen: Theologische Fakultäten (s. Anm. 23), (45–79) 70. 25 Karl Schwarz: »Haus in der Zeit«. Die Fakultät in den Wirrnissen dieses Jahrhunderts, in: ders./Falk Wagner (Hg.): Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Schriftenreihe des Universitätsarchivs 10), Wien 1997, (125–204) 164–167.

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politische Chancen erkannt und zur Bestandssicherung der Theologie eingesetzt. Dass er dazu die modischen Vokabel der Zeit aufgriff und die politische Verlässlichkeit des ostmärkischen Protestantismus auf die Waagschale warf, erklärt sich einerseits aus der Begeisterung über den erfolgten Anschluss Österreichs an das Mutterland der Reformation, zum anderen aber auch aus dem Kalkül, eine deutsch-christliche »Vorzeigefakultät« gestalten zu können, um die Frequenz der Studierenden zu steigern und im Ranking der Theologischen Fakultäten aufzusteigen. Da kam ihm die Lehrtätigkeit von Gerhard Kittel gerade recht. Bei seinen Verhandlungen um die Nachbesetzung zweier weiterer Lehrstühle für Kirchengeschichte und Systematische Theologie wurden nicht die von der Fakultät vorgeschlagenen Kandidaten berufen, sondern jene, die über kräftigere politische Fürsprecher verfügten. So wurde als lutherischer Systematiker Hans Wilhelm Schmidt (1903–1991) aus Bonn und als Kirchenhistoriker Hans Georg Opitz aus Berlin berufen, beide überzeugte Nationalsozialisten, Parteigenossen und von der NS-Reichsdozentenführung in München protegiert. »Wer der strammere Parteigenosse war, wurde eher […] berufen«, so beklagte sich 1945 ein enttäuschter Theologiestudent: »Bei der Besetzung der Lehrkanzeln […] war nicht so sehr das religiöse oder wissenschaftliche Moment ausschlaggebend, sondern vielmehr das parteipolitische Interesse.«26 Man hat den Eindruck, dass Entz seinen Berliner Gesprächspartnern im Reichserziehungsministerium keinen nennenswerten Widerstand leistete, um sein Projekt nicht zu gefährden, nämlich die Erweiterung des Lehrkörpers um zwei Professuren: – für die Kirchengeschichte des südostmitteleuropäischen Raumes den Wunschkandidaten der Fakultät Paul Dedic (1890–1950), der bei der Wiederbesetzung des Ordinariates von Berlin übergangen worden war, – für kirchliche und ethnische Diasporakunde den Pfarrer aus Cilli/Celje (Slowenien) Gerhard May (1898–1980), einen hochqualifizierten Diasporatheologen, der durch seine Monographie über die »Volksdeutsche Sendung der Kirche« (Göttingen 1934) große Beachtung gefunden hatte und durch das Ehrendoktorat der Universität Heidelberg (1936) ausgezeichnet wurde. Auch hier geizte Entz nicht mit den entsprechenden modischen Attributen, die beiden Herren zugeschrieben wurden, um sie für die in Aussicht genommenen Forschungsbereiche als »unverzichtbar« hinzustellen. Es sind markige Töne, die Entz gebrauchte und er stieß damit auf lebhafte Zustimmung, denn es sollte 26 Johann Preindl: Die politische Haltung der Kirche Österreichs, Denkschrift, datiert Dezember 1945 und gerichtet an das Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten – Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, Kultus, Fasz. B 28, Zl. 10.409/45.

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unter allen Umständen der Eindruck vermieden werden, dass Österreich »wie eine eroberte Kolonie« behandelt würde. Diese bittere Klage wurde von einem prominenten österreichischen Nationalsozialisten Edmund Glaise-Horstenau (1882–1946) lautstark in Berlin artikuliert; mochte dabei auch seine persönliche Deklassierung eine Rolle gespielt haben, so war wohl auch sein mühsam aufgebauter Kurs einer Verständigung zwischen der NSDAP und der römisch-katholischen Kirche durch die neuen Machthaber einer Revision ausgesetzt, ja konterkariert worden.27 Demgegenüber fand das Grenzlandprojekt jedenfalls die Zustimmung des Reichserziehungsministers Bernhard Rust (1883–1945) und des Reichsfinanzministeriums. Die beachtliche Schwerpunktbildung zur politikaffinen »Volkstumstheologie« fand Gefallen. Gerhard Kittel war in diesem Projekt ein attraktiver Anfang und so konnte Entz in der Tat jubeln, als er sein Projekt »auf Schiene« gebracht sah – zu einem Zeitpunkt, da bereits Listen über die zu liquidierenden Theologischen Fakultäten kursierten28 und in Österreich bereits drei katholische Fakultäten davon betroffen waren.29 Das Projekt, von Entz geschickt eingefädelt, scheiterte aber letztlich am Widerspruch des Braunen Hauses in München. Die Parteikanzlei der NSDAP legte sich völlig quer und untersagte jegliche Förderung der Theologischen Fakultäten, ja ordnete an, dass vakante Lehrstühle auch nicht mehr nachbesetzt werden durften, sondern durch Dozenten zu supplieren waren.30 In dieser Situation erfolgte eine bemerkenswerte Intervention Kittels. Er legte seine wissenschaftliche und politische Expertise auf den Tisch, als er am 21. Jänner 1941 im Büro des Reichsleiters Baldur von Schirach (1907–1974) vorsprach und ausdrücklich sein Verbleiben in Wien vom Ausbau der Fakultät abhängig machte. Er verwies nicht nur auf den NS-Dozentenführer und den Rektor der Universität, um sich ins rechte Licht zu setzen, sondern auch auf seine Vernetzung in der Ortsgruppe Burgviertel der NSDAP, auf seine Teilnahme als »persönlicher Ehrengast« Hitlers am NSDAP-Parteitag 1939 in Nürnberg und seine Beteiligung an der Sonderausstellung »Das körperliche und seelische Er-

27 Oliver Rathkolb: »Bierleiter Gaukel«: Josef Bürckel als »Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich«, Gauleiter und Reichsleiter von Wien 1938–1940, in: Pia Nordblom u. a. (Hg.): Josef Bürckel. Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz (Beiträge zur pfälzischen Geschichte 30), Kaiserslautern 2019, 191–202. 28 Leonore Siegele-Wenschkewitz: Die Theologische Fakultät im Dritten Reich, in: Semper Apertus. 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986 3, Heidelberg 1985, (504–543) 507–508. 29 Josef Kremsmair: Nationalsozialistische Maßnahmen gegen Katholisch-Theologische Fakultäten in Österreich, in: Maximilian Liebmann u. a. (Hg.): Staat und Kirche in der »Ostmark« (Veröffentlichungen des IFZ Salzburg NF 70), Frankfurt a.M. 1998, 133–170. 30 Kurt Meier: Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin 1996, 436.

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scheinungsbild der Juden« im Naturhistorischen Museum in Wien (8. 5. 1939).31 »Der große und sich groß fühlende Kittel«, wie ihn sein Kollege Hans von Campenhausen (1903–1989) nicht ohne Ironie in seinen Lebenserinnerungen charakterisierte,32 er wusste sich in Szene zu setzen – mit dem Bewusstsein, das »Rückgrat der geistig und politisch zu erneuernden Fakultät« zu sein und dafür die Verantwortung zu tragen. Aber seine Vorsprache war erfolglos. Es wurde ihm unzweideutig zur Kenntnis gebracht, dass er in Tübingen bleiben solle, weil der Ausbau der Wiener Fakultät nicht in Frage käme. So war die naive Vorstellung von Dekan Entz, die besondere geopolitische Lage der Universität Wien als Wissenschaftszentrum für den Südosten des Deutschen Reiches auszunützen und der Fakultät eine spezifische Aufgabe im Blick auf die volksdeutsche Diaspora im Südosten Europas zu reklamieren, wie eine Seifenblase zerplatzt. Daran konnten auch seine weiteren Denkschriften über die spezifische Sendung der Fakultät als kulturpolitische Instanz für den Donau- und Karpatenraum nichts mehr ändern, auch politische Handlangerdienste wie die Ehrenpromotion eines Ministers aus dem mit Deutschland verbündeten Regime Antonescu wären hier zu rubrizieren,33 sie trugen aber nichts mehr aus.

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Die Fakultät zwischen Scylla und Charybdis

Es war Dekan Entz’ große Leistung, das Schiff seiner Fakultät geschickt durch die Zeit zwischen der Scylla politischer Fremdbestimmung und der Charybdis einer völligen Liquidierung hindurchlaviert zu haben. Er hat aber das deutschchristliche Profil der Fakultät nicht verhindert, sondern umsichtig gepflegt. Er dürfte, wie nota bene auch Kittel, die deutsch-christliche Godesberger Erklärung (4. April 1939)34 zum Verhältnis zwischen Protestantismus und Nationalsozialismus, wenn schon nicht unterschrieben,35 so doch zum Leitmotiv seines hochschulpolitischen Handelns gemacht haben. Dort hatte es geheißen, dass der 31 Horst Junginger: Gerhard Kittel im »Dritten Reich«, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 93. 32 Hans von Campenhausen: Die »Murren« des Hans Freiherr von Campenhausen. »Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber«, hg. v. Ruth Slenczka, Norderstedt 2005, 194 – dazu auch Wolfgang Wischmeyer: Hans von Campenhausen in Wien, in: Schwarz/Wagner: Zeitenwechsel und Beständigkeit (s. Anm. 25), 209–215. 33 Karl Schwarz: Zwischen kulturpolitischem Kalkül und theologischem Interesse: Die Ehrenpromotion von Nichifor Crainic an der Universität Wien, in: ZBalk 56 (2020), 69–85. 34 Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches 4. 1937–1939, bearb. v. Gertraud Grünzinger und Carsten Nicolaisen, Gütersloh 2000, 340–341. – dazu Arnhold: »Entjudung« (s. Anm. 20), 432–454, 438 (Anm. 973). 35 Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 234.

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Nationalsozialismus als »Fortführung und Vollendung der Reformation Luthers« in weltanschaulicher und politischer Hinsicht zu verstehen sei. Von ihr führte denn auch eine direkte Linie zur Gründung des »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes«,36 an dessen Tätigkeit sich einige der Wiener Professoren, neben Entz der Alttestamentler Fritz Wilke (1879–1957), der Patristiker Opitz, der Systematiker Schmidt und der Neutestamentler Hoffmann beteiligten.37 Vor allem erfolgte die Habilitation des Eisenachers Geschäftsführers Heinz Hunger (1907–1995)38 – nicht etwa an der nahegelegenen und radikal deutsch-christlich orientierten Fakultät in Jena, wo sein Chef, der Leiter des Entjudungsinstituts als Professor wirkte, sondern an der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät. Das mag wohl auch dadurch begründet worden sein, dass er 1936 dort mit einer religionswissenschaftlichen Arbeit »Zur Psychologie primitiver Völker. Das magischmystische Denken« den theologischen Doktorgrad erworben hatte, ein Thema, das in das Forschungssegment des damaligen Religionswissenschaftlers Karl Beth (1872–1959) passte. Für die Habilitation Hungers in Wien setzte sich vor allem ein Mitarbeiter des Eisenacher Instituts ein, Hans Wilhelm Schmidt, der in Hungers religionspsychologischer Studie »Religion, Ganzheit und Gemeinschaft« (1940/1942) einen Beleg für die Neuformulierung der Religionswissenschaft zu erkennen meinte und der seit 1939 in Wien als Nachfolger Beths für diese Disziplin zuständig war.

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Die biographische Ebene wurde in dem erwähnten Tagungsband von Clemens Vollnhals, Gerhard Lindemann und Horst Junginger aus unterschiedlichen Perspektiven und sehr gründlich bearbeitet. Kittel entstammte dem schwäbischen Pietismus,39 sein Vater, der international anerkannte Alttestamentler 36 Arnhold: »Entjudung« (s. Anm. 20), 432. 37 Susannah Heschel: Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, in: Siegele-Wenschkewitz: Christlicher Antijudaismus (s. Anm. 5), (125–170) 140; Arnhold: »Entjudung« (s. Anm. 20), 852–861 (Mitarbeiterverzeichnis); Rudolf Leeb: Die Deutschen Christen in Österreich im Lichte neuer Quellen, in: JGPrÖ 124/125 (2008/2009), (39–101) 83–91. 38 Arnhold: »Entjudung« (s. Anm. 20), 806; Schuster: Die Lehre vom »arischen« Christentum (s. Anm. 16), 138; ders.: »Entjudung« als göttliche Aufgabe. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen und das Eisenacher Entjudungsinstitut im Kontext der nationalsozialistischen Politik gegen Juden, in: SZRK 106 (2012), 241–255. 39 Gerhard Lindemann: Gerhard Kittel: familiäre Herkunft, Ausbildung und wissenschaftliche Anfänge, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), (63–82) 64.

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Rudolf Kittel (1853–1929), Herausgeber der Biblia Hebraica, wirkte als Theologieprofessor in Breslau, wo dessen Sohn Gerhard geboren wurde. Der Vater wurde 1898 nach Leipzig berufen, wo der Sohn aufwuchs und sein Studium der Evangelischen Theologie und Orientalistik aufnahm, um es in Tübingen, Berlin und Halle fortzusetzen; er wurde 1913 in Kiel promoviert und erwarb dort noch in demselben Jahr die Lehrbefugnis für NT; er arbeitete in der Folge als Marinepfarrer und in der Religionslehrerausbildung, ehe er 1921 seinen ersten akademischen Ruf als Extraordinarius nach Leipzig erhielt; er wechselte aber sofort nach Greifswald und wirkte sodann, nur unterbrochen durch seinen WienAufenthalt (1939–1943) zwischen 1926 und 1945 in Tübingen; 1936–1945 war er zudem Mitarbeiter im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, Abteilung Judenfrage. Er war am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten, trug dem »Aufbruchserlebnis« dieses Jahres Rechnung. Der Tag von Potsdam (21. März), als sich in der dortigen Garnisonskirche, der Grablege der Hohenzollern, der greise Reichspräsident Hindenburg und Hitler die Hand reichten und so »die symbolische Vereinigung des ›alten‹ mit dem ›neuen‹ Deutschland« inszenierten, war ein euphorisches Schlüsselerlebnis für Kittel und alle Träger »nationalprotestantische[r] Traditionen«,40 die in rascher Folge vom Nationalsozialismus überformt wurden. In diesem Transformationsprozess reifte auch Kittels Karriere,41 die längst internationale Ausmaße erreicht hatte.42 Ob hier zwischen der Arbeit am Neuen Testament und zur Judenfrage zu differenzieren ist, bleibt umstritten, auch wenn die Herausgeber des jüngsten Tagungsbandes in Kittels 1933 veröffentlichter Studie »Die Judenfrage« »in geradezu exemplarischer Weise […] die Verknüpfung und Verschmelzung von christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus« erblicken.43

40 Clemens Vollnhals: Nationalprotestantische Traditionen und das euphorische Aufbruchserlebnis der Kirchen im Jahr 1933, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 43–61. 41 Horst Junginger: Gerhard Kittel im »Dritten Reich«: Die Karriere eines evangelischen Theologen im Fahrwasser der nationalsozialistischen Judenpolitik, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 83–100. 42 Lukas Bormann: Gerhard Kittels wissenschaftliche Auslandsbeziehungen und die internationale Rezeption seiner Werke, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 135–160; vgl. aber auch ders.: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert. Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. v. Gerhard Kittel und Gerhard Friedrich, Darmstadt 2019, V–XXII; ders.: Art. Holocaust II Christianity: 1. The Jewish Question and Christian Exegesis until the Holocaust, in: EBR 12, Berlin 2016, 87–89; ders.: »Auch unter politischen Gesichtspunkten sehr sorgfältig ausgewählt«: Die ersten deutschen Mitglieder der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) 1937–1946, in: NTS 58 (2012), 416–452. 43 Manfred Gailus: Art. »Die Judenfrage« (Gerhard Kittel, 1933), in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus 6. Publikationen, Berlin 2013, 339–341.

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In Wien behandelte Kittel die klassischen Themen des NT an der Theologischen Fakultät: – 1939/40: »Das apostolische Zeitalter«; »Der Jakobusbrief«; »Johannes-Evangelium«; »Kirche und Amt im NT«; »Synoptiker«; – 1940/41: »Entstehung der Evangelien«; »Epheser-, Kolosser-, Philemonbrief«; »Neutestamentliche Theologie«; – 1941/42: »Römerbrief«; »Die Religion in der Umwelt des NT«; »Geschichte des Apostolischen Zeitalters«; »Jakobusbrief«; – 1942/43: »Synoptiker« – dazu jeweils ein Proseminar und ein NT-Seminar (ohne thematische Festlegung). Als Judenforscher behandelte er die ideologischen Themen zur Judenfrage aber an der Philosophischen Fakultät und erntete dafür höchstes Lob vom Rektor, dem Botaniker Fritz Knoll (1883–1981); dieser wusste Kittels Wirken als beispielhaft für den ehrgeizigen Anspruch der Wiener Universität hervorzuheben, diese zur führenden Bildungsstätte des europäischen Südostens auszugestalten. Einen institutionellen Wechsel auf die Philosophische Fakultät, die Kittel offeriert wurde, lehnte dieser strikt ab.44 Pläne für die Gründung einer Professur zur Erforschung der geistigen Grundlagen des Judentums waren vom Dekan der Philosophischen Fakultät, Viktor Christian (1885–1963), geschmiedet worden.45 Die arisierte Fachbibliothek des Wiener Talmudarchäologen Samuel Krauss (1866–1948) und jene des Verlegers Ludwig Feuchtwanger (1885–1947) wurden dafür in Aussicht genommen.46 Kittel leistete gutachtliche Unterstützung und verfasste eine Denkschrift über »Die Stellung der Judaistik im Rahmen der Gesamtwissenschaft«.47 Die heikle Frage, wie sich der traditionelle Antijudaismus zum ideologischen und rassischen Antisemitismus verhält, ist der entscheidende Angelpunkt der Kittelinterpretation. Er betrifft die philologisch-exegetische Ebene etwa am Beispiel des Theologischen Wörterbuchs, in dem nicht nur ein struktureller Antijudaismus registriert, sondern auch die Spuren antijüdischer Propaganda im antisemitischen Sinn entdeckt wurden48 – oder an dem von Kittels Schüler 44 Kittel: Meine Verteidigung (s. Anm. 1), 197 (Anm. 6). 45 Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 243; dazu eingehend ders.: Die Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011, 211–217. 46 Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 239–240. 47 Universitätsarchiv Wien, Philosophische Fakultät, Dekanat 734–1941/42 – dazu Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 243. 48 Martin Leutzsch: Wissenschaftliche Selbstvergötzung des Christentums: Antijudaismus und Antisemitismus im »Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament«, in: Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 101–118; Hans Förster: Bibelübersetzung, Bibelverständnis und Antijudaismus, in: DtPfrBl 10 (2020), (631–635) 633; ders.: Statt Verheißung: Volk unter Fluch, in: Wiener Zeitung 73 (11./12. 4. 2020), 31; siehe dazu auch den

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Grundmann geleiteten Eisenacher »Entjudungsinstitut«.49 Zur Arbeit an diesem 1939 gegründeten »Entjudungsinstitut« ging Kittel freilich auf deutliche Distanz, ja er habe sich dazu, wie er in seiner Verteidigungsschrift 1946 vernehmen ließ,50 »in schärfste Opposition gestellt«, weil er am Alten Testament als zum biblischen Kanon gehörig festhalten wollte, während in Eisenach an einer konsequenten »Arisierung« des Christentums gearbeitet wurde, mit der die Preisgabe des Alten Testaments verbunden war. Kittel verstand sich – so der Tenor seiner Verteidigungsschrift, deren XIII. Kapitel zur Frage nach dessen indirekter Mitschuld an den Judenverfolgungen im Anhang abgedruckt wurde51 – als Exponent einer antijudaistischen Interpretation des Neuen Testaments, das er – noch einmal sei dies hier zitiert – als »das antijüdischste Buch der Weltgeschichte«52 bezeichnete. Gleichsam als Beleg für Kittels Beteiligung am nationalsozialistischen Rassenantisemitismus begegnet im Anhang der Sammelschrift dessen Gutachten für den geplanten Prozess gegen Herschel Grynszpan (1921–1942) vor dem Volksgerichtshof 1942.53 Ihn hatte Kittel im Dezember 1941 im Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit aufgesucht und verhört, um einen Zusammenhang zwischen dessen »talmudischer Mentalität« und der Tötung des deutschen Legationssekretärs Ernst vom Rath (1909–1938) herzustellen und dieses Attentat als »Fanal eines jüdischen Angriffskrieges gegen das Deutsche Reich« zu interpretieren. So deutet es jedenfalls Horst Junginger,54 der schon vor etlichen Jahren in einem Fundbericht Kittels Gutachten zitierte: der Angeklagte sei »ein vom ›internationalen Weltjudentum‹ gedungener Mörder«.55 In dem genannten Tagungsband bildet eine »Bibliografie« der Arbeiten Kittels den Abschluss, wobei hier nicht nach wissenschaftlicher Gewichtung oder tagespolitischer Abzweckung unterschieden wird. Das mag man vielleicht bedauern, aber an einem konkreten Punkt lässt sich zeigen, wie diese beiden unterschiedlichen Ebenen in der Persönlichkeit Kittels tatsächlich zusammenfielen. Als er am 21. Jänner 1941 im Büro des Wiener Gauleiters und Reichsstatthalters Baldur von Schirach vorsprach,56 traf er auf dessen Büroleiter Günter Kaufmann

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Beitrag von Hans Förster: Zum Einfluss der Übersetzungen auf die Wahrnehmung der Dynamik von Auseinandersetzungen im Neuen Testament, im vorliegenden Band. Arnhold: Gerhard Kittel und seine Schüler (s. Anm. 17). Gailus: Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946 (s. Anm. 3), 168. Gailus: Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946 (s. Anm. 3), 195–202. Gailus: Gerhard Kittels »Meine Verteidigung« von 1946 (s. Anm. 3), 166. Gailus/Vollnhals: Christlicher Antisemitismus (s. Anm. 3), 185–194. Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 242; ders.: Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« (s. Anm. 45), 289. Horst Junginger: Politische Wissenschaft. Reichspogromnacht: Ein bisher unbekanntes Gutachten des antisemitischen Theologen Gerhard Kittel über Herschel Grynszpan, in: Süddeutsche Zeitung (9. 11.2005), 13; ders.: Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« (s. Anm. 45), 293. Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 241.

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(1913–2001), der die Zeitschrift »Wille und Macht« redigierte, das »Führerorgan« der nationalsozialistischen Jugend. In diesem Gespräch, das aus hochschulpolitischen Gründen geführt wurde und seine endgültige Berufung nach Wien zum Inhalt hatte, wurde die Idee geboren, dass er für die erwähnte Zeitschrift einen geeigneten Artikel zur Verfügung stelle. Prompt lieferte er das Manuskript »Das antike Weltjudentum«, das ein halbes Jahr später erschien und die nationalsozialistische Jugend zu einem »leidenschaftlichen Antisemitismus« motivierte.57 Hier ist der nahtlose Übergang von der einen Ebene zur anderen zu beobachten. Kittel betrieb seine Forschungen zur Judenfrage aber nicht nur an der Wiener Philosophischen Fakultät, wo er regelmäßig Übungen zur »älteren Geschichte des Judentums« und der »Judenfrage« durchführte, sondern auch – und dies in einer geradezu programmatischen Weise – im »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands«, deren einschlägige Tätigkeit er am 19. November 1936 in München mit dem Vortrag »Die Entstehung des Judentums und die Entstehung der Judenfrage« eröffnet hatte. Hier explizierte er die Idee, dass mit der Entstehung der jüdischen Diaspora »die bewunderungswürdigen Juden des AT zu den verabscheuungswürdigen Juden der modernen Welt degenerierten«.58 Mit dieser Unterscheidung leistete er der NS-Rassenpolitik gravierende Argumentationshilfe, sofern eine solche überhaupt angenommen wurde. Die Theologen aber wurden auf diese subtile Art immunisiert und vermochten der Amalgamierung von Antijudaismus und Antisemitismus keinen Widerstand entgegenzusetzen. Auch wenn es Kittel dann doch nicht gelang, den Mitarbeiterstab von Tübingen (zwei volle Assistenten) nach Wien mitzunehmen, so wurden ihm immerhin eine Assistentenstelle zugestanden, für die ursprünglich Ernst Würthwein (1909–1996) vorgesehen war, die dann zeitweise Heinz Zahrnt (1915–2003), später Hans Theodor Alswede bekleideten. Für seine Forschungen zur Judenfrage wurden ihm zwei weitere Hilfskräfte, Otto Stumpff und Charlotte Schiller eingeräumt. Der zuerst Genannte, möglicherweise ein Bruder des Kittel-Schülers und Tübinger Assistenten Albrecht Stumpff (1908–1940), wurde auch bei einzelnen einschlägigen Ausstellungen,59 bei der Parteitagsausstellung »Europas Schicksalskampf im Osten« (6. 9. 1938) oder in Wien bei der vom Naturhistorischen Museum veranstalteten Ausstellung »Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden«,60 aber auch bei der Katalogisierung der arisierten Forschungsbibliotheken herangezogen.61 57 58 59 60

Wille und Macht 13 (1. 7. 1941), 8–12. Ericksen: Schweigen und Sprechen (s. Anm. 7), 33. Junginger: Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« (s. Anm. 45), 151–155, 267–269. Junginger: Verwissenschaftlichung der »Judenfrage« (s. Anm. 45), 269–275; ders.: Das Bild des Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung, in: Andrea Hoffmann u. a. (Hg.): Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Schoah, Tübingen 2006, 171–220.

Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien

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Neben diesen Personalressourcen wurden ihm auch zusätzliche Geldmittel in beträchtlicher Höhe zur Verfügung gestellt, wobei er unterstützt von Dekan Entz einen zermürbenden Kleinkrieg mit der Universitätsverwaltung um diese Ausstattung führen musste. Teilweise wurden dazu Budgetmittel des Rassenbiologischen Instituts der Medizinischen Fakultät herangezogen, damit Kittel die »rassengeschichtliche Entwicklung des antiken Judentums« porträtmäßig dokumentieren konnte. So wenigstens lautete die Begründung, als er die Ergebnisse im Frühjahr 1943 wieder an die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen mitnahm.62 Mit einer Vorlesung vor großem Publikum zum Thema »Die Entstehung des Judentums«63 verabschiedete er sich von Wien, wobei er noch einmal seine rassistisch unterfütterte These von der Differenz zwischen dem auserwählten Volk im AT mit dem nach der »Weltherrschaft« strebenden Judentum der Gegenwart ausführte. Im Laufe des Sommersemesters 1943 führte er noch mehrere Blockveranstaltungen in Wien durch, wie es der Chronist festgehalten hat: 12.– 16. Mai, 26.–30. Mai, 9.–12. Juni, 24. Juni – 2. Juli, 14.–17. Juli 1943.64 Am 15. Juni 1944 war er wieder zu Gast in Wien mit einer Vorlesung über »das Rassenproblem der Spätantike und das Frühchristentum«; sie diente ihm nicht nur zu rassistischen Gemeinplätzen, die im Sommer 1944 noch ein aufnahmebereites Auditorium fanden, sondern auch um »das Christentum als Bollwerk gegen die jüdische Bedrohung« in Pflicht zu nehmen – für Robert P. Ericksen ein klarer Beleg für Kittels »Mittäterschaft an der Judenverfolgung der Nazis«.65

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Eine kirchenamtliche Replik auf Kittels Tätigkeit in Wien

Das Schreiben, das Bischof D. Gerhard May am 7. November 1945 aufsetzte, trägt die Überschrift »kirchliches Leumundszeugnis für Prof. D. Gerhard Kittel«.66 Es bestätigt, »dass Herr Prof. D. Gerhard Kittel während der fünf Jahre seiner Tätigkeit an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien am Leben der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich stets lebendigen Anteil genommen hat«. Das mir vorliegende, als »Leumundszeugnis« bezeichnete Schriftstück war das Konzept für zwei von Kittel in den Anhang seiner Recht-

61 Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 229, 239. 62 AdR Wien, Bestand Kurator, Karton 13. Dekan Entz an den Kurator D.Z. 166 (7. 12. 1943). 63 Roland Werneck: Wissenschaft und Antisemitismus. Der evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel, in: Dialog-Du Siach 88 (Juli 2012), (32–39) 38; Ericksen: Schweigen und Sprechen (s. Anm. 7), 27. 64 Junginger: Biografischer Abriss (s. Anm. 10), 244. 65 Ericksen: Schweigen und Sprechen (s. Anm. 7), 27. 66 Mir liegt das Konzept vor: AEvOKR Registratur A 44/10.

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fertigungsschrift67 aufgenommene Schreiben von Bischof May vom 29. November 1946 und von Präsident Dr. Heinrich Liptak (1898–1971) vom 7. Dezember 1946 und diente ihm als Beleg für seine kirchliche Haltung. Indem er sich namentlich auf seinen »engen Anschluss« an Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953) in Stuttgart und Bischof Hans Eder (1890–1944) in Wien berief, deutete er mindestens eine Verbindung zur Bekennenden Kirche an, weil Eder seine Kirche in der »Kirchenführerkonferenz« vertrat und dort engen Kontakt zu Bischof Hans Meiser (1881–1956) gefunden hatte. Diese enge Verbindung mit Bischof Eder wird auch durch ein Schriftstück der Witwe Josefa Eder (1897–1977) vom 22. Dezember 1946 bestätigt, die Kittel attestierte, dass er »bei der Abwehr der Bestrebungen der sog. ›Deutschen Christen‹« ihrem Gatten treu zur Seite stand. Und in der Tat hat Bischof Eder, der sich in seinen Lebenserinnerungen dankbar seines Studiums bei Rudolf Kittel in Leipzig erinnerte,68 von Beginn an den Kontakt zu Gerhard Kittel gesucht und ihn zu Referaten an Pfarrerkonferenzen und Rüstzeiten eingeladen.69 Auch die Stellungnahme von Hans von Campenhausen vom 26. Oktober 1945, die er als nunmehriger Rektor der Universität Heidelberg unterzeichnete, bestätigte trotz politischer Differenzen ein gutes Einvernehmen »in allen die Fakultät und Kirche betreffenden Fragen«. Es sei ihm »an einer entschieden theologischen und kirchlichen Gestaltung des Unterrichts und einer überparteilichen Wissenschaftlichkeit der Haltung [gelegen], die die kirchlich und politisch verschieden eingestellten Glieder des Lehrkörpers zu sachlicher Zusammenarbeit vereinen sollte«. Weiters hielt Campenhausen fest, dass Kittel »seine Arbeit an der Wiener Universität grundsätzlich als einen kirchlichen Dienst« auffasste. Das erblickte er auch in dessen Tätigkeit im Theologenheim, wo dieser »auf Ausspracheabenden, bei Bibelstunden usw. nicht etwa eine politische oder gar parteipolitische Beeinflussung erstrebte, sondern sich um eine geistige und geistliche Förderung der Studenten bemühte«. Im Konzept von Bischof May war dem Leumundszeugnis ein Zeitungsausschnitt beigelegt, der einen Aufsatz des Erzbischöflichen Ordinariatsrates Josef Casper (1906–1951) enthielt. Diesen wollte May als »unverdächtigen« Zeugen für die Haltung der evangelischen Kirche während der NS-Zeit namhaft machen:

67 Mir liegen die im Universitätsarchiv Tübingen befindlichen Schriftstücke vor. Vgl. insgesamt ( jedoch ohne Beilagen) Morgenstern/Segev: Gerhard Kittels Verteidigung (s. Anm. 1). 68 Hans Eder: Die Lebensgeschichte des Bischofs Dr. Hans Eder, von ihm selbst erzählt, hg. v. Grete Mecenseffy, in: JGPrÖ 83 (1967), (3–81) 43. 69 Pfarrerrüstzeiten im Juli 1940 (»Jesus Christus«; »Die Stellung der ersten Christen zum Staat«) und im Oktober 1942 (»Die Kirche des Neuen Testaments und ihre Ämter«) – Reingrabner/ Schwarz: Quellentexte (s. Anm. 22), 569, 600.

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Nicht von ungefähr hat das Christentum sich in den vergangenen Jahren der Diktatur […] innerlich vertieft. In Österreich äußerte sich dies darin, daß fast alle jene evangelischen Geistlichen, die vor 1938 sich vornehmlich aus konfessionsgebundenem und nicht primär aus nationalem Denken nach Berlin orientiert hatten, noch 1938 aber statt dessen auf jenes Zeichen schauten, das der gesamten Menschheit Heil und Erlösung brachte, das Kreuz Jesu Christi. In Deutschland wurde das Wort »Bekennende Kirche« geradezu Zeichen der Abwehr gegen die verschiedensten neuheidnischen Strömungen und Titel einer Gemeinschaft, deren Glieder für den Glauben der evangelischen Väter zu streiten, zu leiden und zu sterben bereit waren. Pastor Niemöller zählte zu ihnen. In Österreich standen in der evangelischen Kirche seit jeher evangelische Diasporaprobleme im Vordergrund, infolgedessen hat sich hier der Streit um Kirche und Christentum in politischer und philosophischer Form nicht in dieser Art ausgewirkt. Faktisch standen hier mehr als 90 % aller Geistlichen auf der Grundlage der »Bekennenden Kirche«, ohne freilich deren Namen zu übernehmen.70

Das war in der Tat eine bemerkenswerte Aussage aus einem prominenten katholischen Munde. Man spürt geradezu die Absicht des Bischofs, als er diesen Zeitungsartikel las, ihn als Beleg für das Verhalten seiner Kirche in den verflossenen sieben Jahren des sog. Dritten Reiches zu bewerten, gleichsam als Persilschein einer Kirche, die in den Jahren des Ständestaates als »Nazikirche« übel beleumundet wurde und die sich nach dem Anschluss 1938 mit großer Begeisterung als »Kirche der NS-Bewegung« zu inszenieren verstand, aber in einem Dreischritt von der Begeisterung über die Ernüchterung zur Verweigerung entwickelte.71 Bischof May kam eine solche Stellungnahme sehr zupass, weil sie sozusagen von kompetenter Stelle seine Kirche für die »Bekennende Kirche« reklamierte.72 Da der Artikel aber nicht ausdrücklich auf Kittel Bezug nahm, wurde in der Endausfertigung auf diesen Passus verzichtet. Möglicherweise war auch durchgesickert, dass der Verfasser ein prominentes Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden« war und sich nachdrücklich um die Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte.73 Umso deutlicher dann die Ausführungen in dem an Kittel im Kloster Beuron gerichteten Schreiben,74 von dem »jeden geeignet erscheinenden Gebrauch zu 70 Josef Casper: Das Ende des Konfessionalismus?, in: Der Turm. Zeitschrift der österreichischen Kulturvereinigung (Sept. 1945), zit. im 13. Amtsbrüderlichen Rundschreiben von Bischof May, Weihnachtswoche 1945, abgedr. in: Reingrabner/Schwarz: Quellentexte (s. Anm. 22), (673–686) 682–683. 71 Karl Schwarz: Bejahung – Ernüchterung – Verweigerung: Die Evangelische Kirche in Österreich und der Nationalsozialismus, in: JGPrÖ 124/125 (2008/2009), 18–38. 72 So die geläufige Argumentation von Bischof May – dazu Leonhard Jungwirth: Politische Vergangenheiten. Entpolitisierungs- und Politisierungsprozesse im österreichischen Protestantismus 1933/34 bis 1968, Diss., Wien 2020, 56. 73 Lucia Scherzberg: Zwischen Partei und Kirche. Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland (1938–1944), Frankfurt a.M. 2020, 181–184. 74 Schreiben May, 29. 11. 1946 (s. Anm. 9).

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machen«, der Empfänger eingeladen wurde. »Ich bezeuge Ihnen gerne«, so der einleitende Satz des Bischofs, dass Sie in den Jahren Ihrer Wirksamkeit in Wien das besondere Vertrauen des Evangelischen Oberkirchenrates besaßen. Denn Sie haben durch Ihren Einfluß, der maßgeblich war, und die überaus geschickte Art der Behandlung unsere evangelisch-theologische Fakultät vor der Gefahr einer deutsch-christlichen Radikalisierung bewahren geholfen. Sie waren ein vertrauter Ratgeber des verstorbenen Bischofs Dr. Hans Eder und haben durch Ihre große Personal- und Sachkenntnis dem Oberkirchenrat in manchen schwierigen Situationen besondere Dienste geleistet. Sie haben die führenden Männer unserer Kirche in ihrer Haltung bestärkt, die sich immer mehr der »Bekennenden Kirche« annäherte und der kirchenzerstörenden Tätigkeit der NSDAP entschlossenen Widerstand entgegensetzte. […] So haben Sie durch Ihre kirchliche Mitarbeit geholfen, den nationalsozialistischen Einbruch in unsere Kirche abzuwehren. Dafür schuldet Ihnen unsere österreichische evangelische Kirche steten Dank […].

Diese Aussage stimmt im Blick auf die eventuelle Berufung von DC-Theologen auf den vakanten Lehrstuhl für NT, sie stimmt aber nicht im Blick auf den Einfluss der Deutschen Christen, denn beginnend mit der Unterschrift des kommissarischen Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates Dr. Robert Kauer unter die Godesberger Erklärung (1939) hat es intensive Kontakte zu den Deutschen Christen gegeben. Die Teilnahme am Erfurter Entjudungsinstitut und an der Bibelschule der Deutschen Christen in Bremen75 belegen dies zur Genüge. Dass Kittel, der 1933 der DC-Bewegung beigetreten war, sie aber nach der Sportpalastkundgebung im November 1933 wieder verließ, in einer scharfen Distanz zur Thüringer und Eisenacher DC-Theologie stand, hinderte die Fakultät keineswegs, prominente DC-Theologen der Universität Jena zu Gastvorlesungen nach Wien einzuladen:76 Heinz Erich Eisenhuth (1903–1983), Professor für Systematische Theologie, Walter Grundmann, Professor für NT und Völkische Theologie, Wolf Meyer-Erlach (1891–1982), Professor für Praktische Theologie und 1935–1937 Rektor der Universität, Erich Seeberg (1888–1945), Professor für Kirchengeschichte in Berlin. Im ursprünglichen Konzept brachte May77 auch noch eine ökumenische Perspektive ein, wo er Kittels Ansehen als Gelehrter und Herausgeber des Theologischen Wörterbuches zum NT ansprach, die so bedeutsam und die Konfessionsgrenzen überschreitend zu bewerten war, »daß stets auch Studierende der katholischen Theologie zu seinen dankbaren Schülern zählten und die

75 Reijo E. Heinonen: Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945 (AKZG B 5), Göttingen 1978, 209. 76 Entz: Erinnerungen (Kurzfassung) (s. Anm. 11), 39; dazu Leeb: Die Deutschen Christen in Österreich (s. Anm. 37), 87–88. 77 Konzept May (s. Anm. 66).

Anmerkungen zu Gerhard Kittel und dessen Lehrtätigkeit in Wien

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vorgesetzten katholisch kirchlichen Stellen Österreichs dieses Verhalten ihres priesterlichen Nachwuchses billigten.« Von Dekan Entz stammen zwei entlastende Stellungnahmen, die Kittel als Beilage zu seiner Rechtfertigungsschrift verwendete: ein Schreiben an Landesbischof Theophil Wurm und an den Dekan der Theologischen Fakultät in Tübingen Prof. Adolf Köberle (1898–1990) vom 13. August 1945 und eine an Kittel gerichtete Erklärung vom 13. Dezember 1946: Das zuerst genannte Schriftstück benennt die Gründe, warum Kittel von Dekan Entz nach Wien geholt wurde:78 Es geschah nicht nur, um einen »Gelehrten von Weltruf« zu gewinnen, sondern es lag Entz daran, gerade unter der nationalsozialistischen Herrschaft für Wien einen Mann zu gewinnen, in dessen kirchlicher und christlicher Haltung die absolute Gewähr lag, dass er den antichristlichen und antikirchlichen Exzessen der nationalsozialistischen Kulturpolitik energischen Widerstand leisten, den Ungeist schwachmütiger Anbiederung an die sogenannte »nationalsozialistische Weltanschauung« von unserer Fakultät fernhalten und unsere Studenten in wissenschaftlicher wie in kirchlicher Hinsicht in einwandfreier Sachlichkeit und in einem ungebrochenen christlichen Geist erziehen werde.

Diese Erwartungen habe Professor Kittel »in vollkommener und vorbildlicher Weise erfüllt«; Entz entfaltet dies an dessen Tätigkeit im Theologenheim und gegenüber seinen römisch-katholischen Hörern, die bei Kittel »nie auch nur die geringste Konzession an die nationalsozialistische Modeweisheit fanden«.79 Was seine Forschungen zur Judenfrage betrifft, so bezeugte Entz, dass sich Kittel »immer im Rahmen strengster wissenschaftlicher Sachlichkeit« gehalten habe. Ja, er habe sogar, soweit die Umstände dies erlaubten, »die Gelegenheit seiner Vorträge dazu benützt, um die bekannten inhumanen, ja grauenhaften Exzesse der Partei gegen das Judentum in der ernstesten Weise zurückzuweisen«.80 Das wichtigste Argument lag für Entz aber in Kittels kommissarischer Führung des Lehrstuhls: Denn dadurch habe er »die Berufung einer führenden Persönlichkeit aus dem deutsch-christlichen Kreise verhindert«. »Solche Persönlichkeiten waren nämlich neben Prof. Kittel in Vorschlag genannt und ihre Berufung wurde von der Partei gewünscht. Die Anwesenheit von Prof. Kittel in Wien hat das Vordringen, ja das Überhandnehmen dieser Richtung an der Wiener Fakultät und damit zugleich in der Evangelischen Kirche Österreichs entscheidend verhindert.« Mochte bei Bischof May auch eine gewisse Dankbarkeit für Kittel zu spüren sein, weil sich dieser für das Grenzlandprojekt der Wiener Fakultät und damit für 78 Schreiben Entz an Landesbischof Wurm, 13. 8. 1945 (s. Anm. 9). 79 Schreiben Entz an Landesbischof Wurm, 13. 8. 1945 (s. Anm. 9). 80 Schreiben Entz an Landesbischof Wurm, 13. 8. 1945 (s. Anm. 9).

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Mays akademische Ambitionen (freilich vergeblich) eingesetzt hatte, so blieb auch dem Wiener Leumundszeugnis und den anderen Stellungnahmen zu dessen Gunsten der Erfolg versagt. Sie dienten wohl als Beilage zu dessen Rechtfertigungsschrift und lagen dem Entnazifizierungsverfahren durch die Universitäts-Spruchkammer in Tübingen zugrunde, aber dieses Verfahren wurde obsolet, weil Kittel am 11. Juli 1948 im Alter von 59 Jahren verstarb.

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Fazit

Die jüngsten Publikationen rufen einen Wissenschaftler von Weltruf in Erinnerung; sie zeigen, wie er sich vom Zeitgeist getrieben für die antisemitische Politik der nationalsozialistischen Machthaber instrumentalisieren ließ – und wie in der Tat aus dem proklamierten Antijudaismus ein christlicher Antisemitismus geworden war. Dazu sind auch in den Jahren seines Wirkens in Wien deutliche Signale zu registrieren, über die auch die Leumundszeugnisse der Kirche nicht hinwegtäuschen können. Auch wenn scheinbar eine klare Trennung zwischen den ideologischen Lehrveranstaltungen zur Judenforschung an der Philosophischen Fakultät und den streng neutestamentlichen Lehrveranstaltungen an der Theologischen Fakultät bestand, so zeigt das Vorlesungsverzeichnis dieser Jahre, dass Kittels Judenforschung auch unter der Evangelisch-Theologischen Fakultät rubriziert wurde und Studierende dieser Fakultät anlockte. Bischof May umschrieb die kirchenpolitische Konstellation in Österreich in den Jahren des sogenannten Dritten Reiches in seinem bischöflichen Rückblick auf der ersten Generalsynode nach dem Krieg (1947) folgendermaßen: Während die Zahl der Deutschen Christen unter den Pfarrern gering gewesen sei und die meisten Kontakt zu Vertretern der Bekennenden Kirche in Deutschland gehabt hätten, schien es eine Zeit lang, »[…] als wolle die Theologische Fakultät zu einer Einbruchsstelle einer deutsch-christlichen Theologie werden – auch hier hat eine höhere Hand den Riegel vorgeschoben«.81 Ob Gerhard Kittel als Handlanger jener höheren Hand gewertet werden darf, die den Riegel vorschob, kann dieser Beitrag nicht entscheiden. So sehr er sich bemüht zeigte, »die Sache der Theologie« zu kommunizieren, so ist nicht zu übersehen, dass er der Judenpolitik der NSDAP wichtige Schrittmacherdienste leistete und sich dadurch kaum als die in der Überschrift dieses Beitrags angedeutete »Abwehr« erweisen konnte. Er hat vielmehr dem in Österreich ohnedies

81 Bericht an die auf den 21. Oktober 1947 einberufene dritte Generalsynode A.u.H.B., Wien 1947, 17 – dazu Leeb: Die Deutschen Christen (s. Anm. 37), 87.

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verbreiteten (nicht nur klerikalen) Antisemitismus82 eine zusätzliche theologische Schärfe vermittelt und seine Studierenden eben gerade nicht vor der Gefahr einer Amalgamierung von Antijudaismus und Antisemitismus bewahrt. Die bittere Klage von Ulrich Trinks, dass die Evangelische Kirche hierzulande »eine Kirche mit gestörtem Verhältnis zum Judentum sei«83 bezog sich auf Gustav Entz. Sie wurde aber nicht zuletzt durch Kittel darin bestärkt. Erst das Synodenwort »Zeit zur Umkehr – Die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden« hat dazu einen klaren Gegenakzent gesetzt.84 Zurück zu Kittel, der in der spezifisch österreichischen Problemgeschichte nur eine zeitlich begrenzte Rolle spielte, die aber nur cum grano salis mit einer ideologischen Abwehrhilfe bezeichnet werden kann. Es mag wohl sein, dass Kittel auch in seinem politischen und beruflichen Scheitern seine Größe zeigte. Er war, um nochmals Hans von Campenhausen zu zitieren, eine »seltsame Mischung von schwäbischem Pietismus mit einer zwar sanften, aber sehr energischen Kühle und Härte des Wesens, dabei wohlhabend, aber nicht ohne Charakter, den er auch später, als er abgesetzt und verfehmt [sic!] in einem Kloster in Württemberg unterkam […], durchaus bewährt hat«.85 Aber die ihm von Bischof May und Dekan Entz zugesprochene »Rettung« der Fakultät ist nur als Entlastungsaussage zu bewerten.

82 Astrid Schweighofer: Religiöse Sucher in der Moderne – Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900 (AKG 126), Berlin 2015, 34–40; dies.: Evangelischer Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: Gertrude Enderle-Burcel/Ilse ReiterZatloukal (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018, (259–275) 263–264 und 271–272 zur Fakultät. 83 Ulrich Trinks: Herausgesagt. Persönliche Erfahrungen gelebten Christseins im 20. Jahrhundert, Wien 2007, 53, 58 – dazu Karl Schwarz: Einsichten eines Visionärs, in: Dialog-Du Siach 68 (Juli 2007), 33–39. 84 Karl Schwarz: »In Österreich ist das anders« – Schuld und Versöhnung als Thema der Evangelischen Kirchen, in: Christian-Erdmann Schott (Hg.): In Grenzen leben – Grenzen überwinden. Zur Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa. Festschrift für Peter Maser zum 65. Geburtstag (BTKG), Berlin 2008, (15–29) 24–26. 85 Campenhausen: Die »Murren« (s. Anm. 32), 194.

Livia Wonnerth-Stiller

Palästinensische Theologie als Streitkultur. Die Frage nach einem Dialog zwischen divergierenden kontextuellen Theologien

Abstract Palestinian theology repeatedly comes into conflict with Western theologies, probably primarily due to the different contexts of the two theologies. While Palestinian theology is situated in the geopolitical context of the Israel-Palestine conflict, the context of Western (and particularly European) theologies is characterized by efforts to maintain a stable Christian-Jewish relationship after the Second World War. In the dialogue between these two theologies, different hermeneutical interpretations sometimes lead to disputes over the theological validity of specific Old Testament and New Testament pericopes – especially when these interpretations are connected to supporting current socio-political claims. However, Palestinian biblical hermeneutics may not only challenge Western theologies, but also broaden them hermeneutically, namely through their divergent, contextually bound understanding of the biblical texts. An exploration of Palestinian theology and the subsequent dialogue between these different positions thus may enrich the current Western discussions of hermeneutical key topics, and it can contribute to biblical hermeneutical considerations as a whole.

Palästinensische Theologie gerät immer wieder in einen Streit mit westlichen Theologien. Dies mag v. a. an der unterschiedlichen Kontextualität beider Theologien liegen. Während palästinensische Theologie im geopolitischen Kontext des Konfliktes um Israel-Palästina steht, ist der Kontext westlicher Theologien von Bemühungen um ein stabiles christlich-jüdisches Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg und einer dadurch eher vagen und uneinheitlichen Position dem Nahostkonflikt gegenüber geprägt.1 Im Dialog zwischen den verschiedenen kontextuellen Theologien kann es in weiterer Folge aufgrund hermeneutischer Bedeutungsverschiebungen mitunter zum Streit um die theologische Deutung und Geltung »streitbarer« alttestamentlicher und neutestamentlicher Perikopen kommen – insbesondere wenn jene mit gegenwärtigen

1 Die Beschäftigung mit jenen Fragen sowie die Einführung in eine palästinensische Theologie sind Teil meines Dissertationsprojektes.

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soziopolitischen und damit konkreten Forderungen, wie dies in Israel/Palästina der Fall sein kann, verbunden werden.2 Dabei kann palästinensische Bibelhermeneutik westliche Theologien, welche in ihrem Kontext stehend teilweise alleinige Deutungsautorität über biblische Texte beanspruchen und somit palästinensische theologische Ansichten ausschließen, durch ein divergierendes und eigens kontextuell gebundenes Verständnis der biblischen Texte nicht nur zur Auseinandersetzung herausfordern, sondern auch hermeneutisch erweitern. Dadurch leistet palästinensische Theologie einen Beitrag zu bibelhermeneutischen Überlegungen insgesamt. In diesem Artikel möchte ich einen Einblick in meine aktuelle Forschungsarbeit über palästinensische Theologie geben. Um sich palästinensischer Theologie anzunähern, ist ein kritisch-reflektiertes Bewusstsein des eigenen theologischen Kontextes vonnöten. Daher wird es im ersten Teil des Artikels um die Bedeutung der unterschiedlichen Kontextualitäten westlicher und palästinensischer Theologien gehen, was voraussetzend für die weiteren Analysen ist. Anschließend gebe ich einen Überblick über den palästinensisch-christlichen Kontext sowie die bibelhermeneutischen Herausforderungen palästinensischer Theologie. Anhand des in westlichen Theologien breit rezipierten palästinensisch-theologischen Kairos-Palästina Dokumentes möchte ich zentrale Themen palästinensischer Theologie herausstreichen und abschließend der Frage nachgehen, was die Beschäftigung mit palästinensischer Theologie insgesamt für ein gesamttheologisches, bibelhermeneutisches Verständnis einbringen kann.

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Divergierende Deutungskontexte

Die divergierenden Kontexte palästinensischer und westlicher Theologien führen bisweilen zu bibelhermeneutischen »Streiten«, in denen es v. a. um die Deutungshoheit über biblische Texte geht. Stark vereinfachend dargestellt stehen auf der einen Seite die Deutungskontexte der westlichen Christenheit, welche durch die allmähliche Aufarbeitung der Mitschuld an der Shoah3 geprägt wurde. Auf der anderen Seite stehen die Er2 Vgl. Viola Raheb: Mit dem Alten Testament im Konflikt um das Land, in: Joachim Kügler (Hg.): Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft, Münster 2004, 45–58. 3 Der nach wie vor stark rezipierte Begriff »Holocaust« ist aufgrund seiner religiösen Konnotation des Ganzopfers, wodurch die NS-Soldaten implizit zu den sakramental anmutenden Opferdarbringern werden, stark zu kritisieren. Daher ist der Begriff »Shoah« dem Begriff des Holocausts vorzuziehen. »Shoah« (z. B. Jes 6,11; 10,3; Zef 1,15; Hiob 30,3; 30,14; 38,27; Ps 35,8; 63,10) beschreibt eine für Israel drohende Gefahr, bzw. drückt ein für Israel bestehendes Elend, eine Katstrophe oder Zerstörung aus. Vgl. Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, 107–108.

Palästinensische Theologie als Streitkultur

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fahrungen der christlichen Palästinenser*innen, welche seit der Nakba4 und insbesondere seit der 1967 vollzogenen Besatzung palästinensischer Gebiete unter den unterdrückenden Maßnahmen der israelischen Politik leiden und die weltweite christliche Gemeinschaft zu Solidarität aufrufen. Palästinensische Theolog*innen versuchen hierbei, in Auseinandersetzung mit jüdisch-religiösem und westlich-christlichem Fundamentalismus, der jüdischen Holocaust-Theologie, der christlichen Theologie nach Auschwitz sowie mit dem liberalen Christentum auf die lange Geschichte des christlichen Antisemitismus in Europa und auf die durch westliche Mächte ermöglichte Staatsgründung Israels (1948) einzugehen, indem sie theologisch Stellung beziehen.5 Da der Staat Israel nach der Shoah zur identitätsstiftenden Zufluchtsstätte der weltweiten jüdischen Gemeinschaften wurde,6 war es lange Zeit beinahe unmöglich, den neu entstandenen Staat und die israelische Politik öffentlich zu hinterfragen: »Wer Israel angreift, tastet Gott selbst an« – das war die gängige Meinung vieler.7 Hinzu kommt, dass der Staat Israel von der israelischen Politik als »jüdischer Staat« deklariert wird, wie dies 2018 im »Jewish State Law« bekräftigt und wodurch die zentrale Rolle der jüdischen Identität sowie der hebräischen Sprache politisch erneut manifestiert wurde. Die Sonderstellung des Landes wurde besonders im Zuge des Aufarbeitungsprozesses des christlich-jüdischen Verhältnisses nach dem Zweiten Welt-

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Shoah ist im biblischen Kontext daher im religiösen Zusammenhang von Sünde, Strafe und Vergeltung zu sehen. Vgl. Uriel Tal: Excurses on the Term Shoah, in: Shoah: A Review of Holocaust Studies and Commemorations 1/4 (1979), 10–11; Joachim Valentin: Relative Gotteskrise. Fundamentaltheologische Anmerkungen zur Diskussion um Theologie nach Auschwitz, in: Helmut Hoping/Jan-Heiner Tück (Hg.): Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah, Freiburg i.Br. 2005, 13–40. Valentin verweist auch auf die Begriffsdiskussion von Tück, welcher die Begriffe Holocaust und Shoah gegenüberstellt. Vgl. JanHeiner Tück: Christologie und Theodizee bei Johann Baptist Metz. Ambivalenz der Neuzeit im Licht der Gottesfrage, Paderborn 22001, 225; siehe auch Hildegard Becker u. a.: Der schwierige Weg zum Frieden. Der israelisch-arabisch-palästinensische Konflikt. Hintergründe, Positionen und Perspektiven, Gütersloh 1994, 11. Nakba (al-naqba) ist die palästinensische Bezeichnung für die »Katastrophe«, welcher in Folge der Staatsgründung Israels 1948 Palästinenser*innen zum Opfer fielen – ihre Häuser wurden geplündert und enteignet, viele sind geflohen oder wurden vertrieben. Siehe Friederike Bredt: Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts im Israel-Palästina-Konflikt (Schriften zum Völkerrecht 187), Berlin 2009. Vgl. Peter Lodberg: Palestinian Theology. Between Construction and Identification. A Comparative Analysis of the Theology of Naim Stifan Ateek and Mitri Raheb, in: Mitri Raheb (Hg.): The Biblical Text in the Context of Occupation. Towards a New Hermeneutics of Liberation, Bethlehem 2012, (81–88) 83. Mit diesem Denkmuster einhergehend ist zu beobachten, dass das Bestehen des Staates Israels demnach als ein Versuch der Wiedergutmachung von etwas verstanden werden kann, was unter keinen Umständen wiedergutzumachen möglich ist. Jan-Heiner Tück: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg i.Br. 2016, 17.

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krieg theologisch, u. a. im rheinischen Synodalbeschluss der evangelischen Landessynode von 1980, hervorgehoben. Wenngleich der rheinische Synodalbeschluss8 einen wesentlichen Schritt auf dem Weg christlicher Identitätsbildung im Verhältnis zum Judentum nach der Shoah darstellte, fordert die in jenem Dokument verlautbarte Deutung der Staatsgründung Israels als »Zeichen der Treue Gottes« palästinensische Theolog*innen heraus, westlichen Theologien eine eigene theologische Hermeneutik, in welcher der Bezug auf den Kontext der Lebenswirklichkeit der Palästinenser*innen hergestellt wird, entgegenzuhalten. Hierbei reagieren palästinensische Theolog*innen auf die größtenteils scheinbar kritiklose Haltung westlicher Theolog*innen dem Staat Israel gegenüber mit der Forderung nach einer »De-Zionisierung« und »De-Sakralisierung« des biblisch beschriebenen Gebietes Israels.9 Dem sakralen Charakter des Landes sei mit Mitri Raheb (1962*) – evangelisch-palästinensischer Theologe und lutherischer Pastor an der Weihnachtskirche in Bethlehem – entgegenzuhalten, dass das Land selbst nicht heilig sei, »[d]enn das Land ist um der Menschen willen da, nicht der Mensch um des Landes willen.«10 Allein bei der Bedeutung des Staates Israels wird deutlich, dass sich die theologischen Geister scheiden. Die geschichtlich bedingten und politisch geprägten verschiedenen Kontexte westlicher und palästinensischer Theologie wirken sich letztlich auch auf die jeweiligen Theologien unweigerlich aus. Beide Theologien sind dabei in sich divers und durch verschiedene Auslegungen geprägt. Neben diesen grundlegenden Differenzen zwischen westlicher und palästinensischer Theologie und dem Bewusstsein für die unterschiedlichen Hintergründe der jeweiligen kontextuellen Theologien soll nun der Versuch unternommen werden, sich palästinensischer Theologie und ihrem Kontext anzunähern. 8 Siehe dazu »Den Rheinischen Synodalbeschluss zum Verhältnis von Christen und Juden weiterdenken – den Gottesdienst erneuern. Eine Arbeitshilfe zum trinitarischen Reden von Gott, zum Verhältnis der Völker zu Israel, zur theologischen Bedeutung des Staates Israel und zur Gestaltung von Gottesdiensten in Verbundenheit mit dem Judentum«, Anhang A: Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« vom 11. Januar 1980, Synodalbeschluss »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Römer 11,18 b«, Absatz 2 (3), verfügbar unter: http s://www.ekir.de/www/downloads/ekir2008arbeitshilfe_christen_juden.pdf [04. 06. 2020], 97. Siehe kritisch dazu Thomas Hennefeld: 70 Jahre Israel – und Palästina?, in: RKBl 96/2 (2018), (1–2) 1. 9 Vgl. Lodberg: Palestinian Theology (s. Anm. 5), 84. Siehe weiters u. a. Naim Stifan Ateek: Recht, nichts als Recht! Entwurf einer palästinensisch-christlichen Theologie, Freiburg 1990. 10 Vgl. Mitri Raheb: Ich bin Christ und Palästinenser. Israel, seine Nachbarn und die Bibel, Gütersloh 1994, 77. Ateek begreift hingegen das Land als Gottes Gabe an alle (!) Menschen. Dies werde im Neuen Testament deutlich, in welchem es zu einem Perspektivwechsel kommt: vom Fokus auf das Land hin zum Fokus auf Jesus Christus, »from place to person«. Vgl. Lodberg: Palestinian Theology (s. Anm. 5), 84.

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Palästinensisch-christlicher Kontext

Palästinensische Christ*innen sehen sich fest in den arabischsprachigen Traditionen und in der Kultur des Landes verankert, wenngleich sie mit nur 2 % einer Minderheit in Israel/Palästina entsprechen.11 Dennoch haben sie stets bedeutende Rollen im politischen und sozialen Leben des palästinensischen Volkes, welches mehrheitlich muslimisch geprägt ist, gespielt. Beispielsweise werden Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Wohn- und Pflegeheime von christlichen Palästinenser*innen geleitet oder auch führende politische Ämter von christlichen Palästinenser*innen besetzt. Das Christentum ist in Israel/Palästina von verschiedenen konfessionellen Besonderheiten geprägt, was teilweise zu diversen theologischen Streitigkeiten zwischen palästinensischen Theolog*innen in der Vergangenheit führte. Aufgrund der aus der israelischen Besatzung resultierenden Minoritätssituation der Palästinenser*innen wuchs jedoch ein Bemühen um Überwindung jener Kontroversen, wodurch die Ökumene wachsen konnte. Die Entwicklung einer ökumenischen Zusammenarbeit setzte v. a. durch den Wechsel von größtenteils westeuropäischem Klerus zu einem verstärkten Einsatz palästinensischer Priester ein. Durch die dadurch einsetzende Arabisierung der Kirchen konnte sich das arabischsprachige Pastoral neu konstituieren.12 Das arabischsprachige Pastoral trug enorm dazu bei, dass in den Gemeinden kontextuell eingebundene Glaubensfragen, welche sich im Kontext des Konfliktes ergaben, weiterentwickelt sowie theologisch-palästinensische Konzepte erarbeitet und verschiedene Gesprächsgruppen und Initiativen gegründet werden konnten.13 Ein besonderer Schwerpunkt wurde weiters auf den christlich-muslimischen Dialog gesetzt, welcher als Versuch verstanden werden kann, die eigene religiöse Existenz palästinensischer Christ*innen im Land zu stabilisieren. Darüber hinaus stärke nach Rafiq Khoury (1943*) der Dialog zwischen Christ*innen und Muslim*innen das Identitätsverständnis der Palästinenser*innen, welche die

11 Siehe Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Die Geschichte Palästinas, 2012, verfügbar unter: https://www.lpb-bw.de/geschichte-palaestinas [14. 09. 2020]. 12 Vgl. Ulrike Bechmann: Die Verkündigung Gottes in der Erfahrung der Menschen. Eine kurze Einführung in die kontextuelle palästinensische Theologie, in: ders./Mitri Raheb (Hg.): Verwurzelt im Heiligen Land. Einführung in das palästinensische Christentum, Frankfurt a.M. 1995, 79–86. Der erste lutherische palästinensische Bischof wurde 1979 ordiniert; 1988 der erste palästinensische lateinische Patriarch. Dieser Wandel glich einem regelrechten reformatorischen Aufbruch, da die Gemeindeleiter nicht nur die Sprache der Gemeindemitglieder, sondern auch ihr Schicksal teilten und somit eine authentische Binnenperspektive einnehmen konnten. Vgl. ebd., 80. 13 Vgl. Bechmann: Verkündigung Gottes (s. Anm. 12), 80.

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gleiche arabische Identität14 miteinander teilen. Jene arabische Identität habe bereits vor dem Entstehen des Christentums und des Islams die Gemeinschaft geprägt und sei Khoury zufolge daher im kulturellen Erbe sichtbar, d. h. in der gemeinsamen arabischen Sprache, Geschichte und in den Traditionen.15 Dabei bedingen sich die Ebenen der Kultur und die Ebene des Glaubens: Culture provides faith with an environment in which it can develop, and faith provides culture with healthy space where it can be purified and reach a higher degree of humanity.16

Die teilweise starken Spannungen zwischen religiöser, kultureller und nationaler Identität sowie zwischen Politik, Geschichte und Glauben werden demnach im interreligiösen Dialog durch eine gemeinsame christlich-muslimische Identität zweitrangig. Indem sich palästinensische Christ*innen als Teil eines arabisch und christlich-muslimisch geprägten Kontextes verorten, verstehen sie sich somit in Relation zur islamischen Weltsicht, was sich in ihren theologischen Entwürfen und Bibelhermeneutiken mitunter abbildet. So legen beispielsweise die palästinensischen Theologen Michel Sabbah (1933*), Naim Ateek (1937*), Elias Chacour (1939*) und Geries Khoury (1952–2016) durch eine Hervorhebung der Universalität religiöser Botschaften den Fokus auf das Gemeinsame zwischen Christentum und Islam. Jener Universalisierung kann mit Martin Stöhr (1932–2019) kritisch entgegengehalten werden, dass die Statuierung einer gemeinsamen Schrifttradition letztlich einer »Idealisierung der christlich-islamischen Koexistenz«17 entspräche. In weiterer Folge besteht die Gefahr, dass sich durch die offenen Formulierungen palästinensischer Theolog*innen das religiöse Selbstverständnis der jeweiligen Religion in Ambiguität aufzulösen droht. Andererseits hat jene Hervorhebung der gemeinsamen Tradition sicherlich auch dazu beigetragen, dass eine kollektive, kulturell verankerte sowie religiöse, christlich-muslimische

14 Siehe dazu Rafiq Khoury: Christian Faith and Inculturation in the Churches of the Arab World in the Light of Incarnation, Redemption and Glory, in: Rafiq Khoury/Rainer ZimmerWinkel (Hg.): Christian Theology in the Palestinian Context. Preface by Michel A. Sabbah Latin Patriarch em. of Jerusalem, Berlin 2019, 231–251. In jenem Artikel definiert Rafiq Khoury Kultur folgendermaßen: »The human being is culture because he is a social being. And culture is a set of values, patterns of thinking, and behavior, with its rituals, symbols, traditions, signs, and expressions that characterise a certain people, human group, or a nation.« (235). 15 Vgl. Khoury: Christian Faith (s. Anm. 14), 231–251. 16 Khoury: Christian Faith (s. Anm. 14), 236 (Hervorhebung durch L.Wonnerth-Stiller). 17 Martin Stöhr: Jüdisch-christlicher Dialog und palästinensische Theologie. Ein notwendiger Streit in der Ökumene, in: ders. u. a. (Hg.): Dreinreden. Essays, Vorträge, Thesen, Meditationen, Wuppertal 1997, (156–170) 163; vgl. auch Friedrich-Wilhelm Marquardt: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie in drei Bänden 2, Gütersloh 1994, 281.

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Identität den äußeren Umständen, d. h. Belagerungen und Besatzungen, standgehalten und dadurch nach Rifat Odeh Kassis (1958*) »überlebt«18 habe. Zum »Überleben« palästinensischer Theologie trägt auch der institutionalisierte und ökumenisch geführte Austausch in verschiedenen Bildungszentren, welche jeweils unterschiedliche theologische Schwerpunkte setzen, bei. Wenngleich es mehrere theologische Zentren palästinensischer Theologie gibt – wie u. a. das Komitee »Justitia et Pax«, das »Kyrill-Zentrum für religiöse Erziehung« sowie das internationale Begegnungszentrum in Bethlehem19 –, sollen im Folgenden zwei der größten, international arbeitenden Zentren exemplarisch vorgestellt werden.

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Zentren palästinensischer Theologie

Zwei der großen theologischen Zentren palästinensischer Theologie sind das AlLiqà-Zentrum und das Sabeel-Zentrum, welche unterschiedliche theologische Schwerpunkte setzen. Während das Al-Liqà-Zentrum seine Arbeit einer kontextuellen palästinensischen Theologie und dem christlich-muslimischen Dialog im Land widmet und daher eine Inkulturationstheologie20 vertritt, steht das Sabeel-Zentrum der Tradition der lateinamerikanischen Befreiungstheologie nahe und hat sich insbesondere dem Dialog mit westlicher Theologie zugewandt. Auf jene Zentren soll in aller Kürze eingegangen werden.

18 Der palästinensische Schriftsteller und Koordinator des Kairos-Palästina Dokumentes Rifat Odeh Kassis determiniert palästinensische Theologie als »Überlebenstheologie«, »survival theology«, wodurch christliche Palästinenser*innen trotz äußerer Widerstände, Unterdrückung und Verfolgung als Gemeinschaft im Land über die Jahrhunderte hinweg überlebt haben. Diese survival theology hänge des Weiteren mit einer »coexistence theology« der Liebe, der Freiheit, des gegenseitigen Verständnisses, der Versöhnung, der Akzeptanz und des Respekts von Pluralität zusammen. Wenngleich Pluralismus und Koexistenz in einem Kontext der Besatzung und der Unterdrückung nicht einfach seien, müssen sie unabdingbar aufrechterhalten werden, denn »coexistence becomes a command and reconciliation a duty«. Rifat Odeh Kassis: Palestinian Christians and Their Cultural Heritage. Hopes and Challenges, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (143–150) 148–149. 19 Siehe zu den einzelnen Zentren und ihren Arbeitsbereichen u. a. Mitri Raheb: Zentren der Theologie, des Dialogs und der Begegnung, in: Raheb/Bechmann: Verwurzelt im Heiligen Land (s. Anm. 12), 125–133. 20 Der römisch-katholische Theologe Rafiq Khoury (1943*) ist dem Al-Liqà-Zentrum zuzurechnen und hat sich während seines Studiums in Rom mit Inkulturationstheologien aus verschiedenen Ländern auseinandergesetzt, welche seine theologischen Ansätze maßgeblich geprägt haben. Als Mitverfasser des Grundsatzdokumentes »Theologie und Lokale Kirche« aus dem Jahr 1987 entwickelt er eine weiterführende lokale palästinensische Theologie. Siehe Rafiq Khoury: Palestinian Contextual Theology. A General Survey, in: Khoury/ZimmerWinkel: Christian Theology (s. Anm. 14), 9–46.

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Das Al-Liqà-Zentrum (al-Liqà = arabisch »Treffen«, »Begegnung«) wurde 1982 – zunächst unter dem Namen »Center for Religious and Heritage Studies in the Holy Land« – von Geries Khoury in Kooperation mit christlichen und muslimischen Kolleg*innen der Universität in Bethlehem21 gegründet. Der besondere Fokus dieses Zentrums liegt auf der Förderung und Unterstützung der christlich-muslimischen Zusammenarbeit in Palästina. Im Jahr 1987 entwickelte sich ein weiterer Schwerpunkt auf die Entwicklung einer palästinensischen Theologie,22 welche in der lokalen Kirche verankert ist und demnach versucht, auf die konkreten Belange und die Situation christlicher Palästinenser*innen einzugehen.23 Das vom Al-Liqà-Zentrum 1987 publizierte Grundlagendokument »Theology and the Local Church«24 beschreibt dabei die Entwicklung der palästinensischen, d. h. lokal eingebundenen Theologie als kontextuelle Theologie.25 Dieses Dokument wurde von einer Gruppe aus Laien und Theolog*innen im ökumenischen Dialog erarbeitet und kann als »starting point«26 einer lokalen kirchlichen sowie einer theologischen Emanzipation palästinensischer Theologie verstanden werden.27 Das Sabeel-Zentrum (Sabeel = arabisch »Weg«, »Kanal«, »Frühling«) wurde 1989 von dem anglikanischen Pastor und palästinensischen Befreiungstheologen Naim Ateek in Jerusalem gegründet und versteht sich als ökumenisches Zentrum mit einem theologischen Schwerpunkt auf der Erarbeitung einer gewaltlosen

21 Die Universität in Bethlehem wurde 1973 vom Vatikan gegründet. Vgl. Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 22. 22 Seit 1987 publiziert Al-Liqà ein Magazin in Arabisch, welches vierteljährig sowie auf Englisch halbjährig erscheint. 23 Vgl. Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 20–21. Seit der Gründung hat das Al-Liqà-Zentrum mehr als 30 Veröffentlichungen zum christlich-muslimischen Dialog publiziert. Vgl. Geries S. Khoury: Christian Muslim Dialogue in the Holy Land, in: Khoury/ Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (183–230) 191. 24 Al-Liqà: Theology and the Local Church in the Holy Land. Palestinian Contextualised Theology. 1987, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), 391–402. 25 Jener Ausdruck wird erstmals im Al-Liqà Grundsatzdokument »Theologie und lokale Kirche« von 1987 verwendet, welcher jedoch bereits einige Jahre zuvor in einer Diskussion über eine »Theologie nach Auschwitz« und einer »lokalen palästinensischen Theologie« auf einer Konferenz des Mittelöstlichen Kirchenrates und der Evangelischen Mittelostkommission 1984 Erwähnung fand. Vgl. Uwe Gräbe: Kontextuelle palästinensische Theologie. Streitbare und umstrittene Beiträge zum ökumenischen und interreligiösen Gespräch (MWF 9), Erlangen 1999, 179. 26 Dieser »starting point« ist allerdings nur als ein Verweis auf die seit dem Urchristentum vorhandene christliche Präsenz im Land, verbunden mit religiösen und kulturell geprägten eigenständigen Traditionen und Bräuchen, zu verstehen. Vgl. Al-Liqà: Theology and the Local Church (s. Anm. 24), 393. 27 Siehe Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 19.

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Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinenser*innen.28 In den vom Sabeel-Zentrum organisierten Konferenzen, deren Ergebnisse hauptsächlich auf Englisch publiziert werden, wird u. a. Ateeks Konzept einer palästinensischen Befreiungstheologie rezipiert und interkontextuell weiterentwickelt, sodass sich das Sabeel-Zentrum demnach verstärkt an ein überwiegend internationales und ökumenisches Publikum richtet. Im Vergleich dazu wenden sich die palästinensischen Theolog*innen des AlLiqà-Zentrums in Bethlehem durch die mehrheitlich arabischsprachigen Publikationen vorrangig an ein innerpalästinensisches Publikum.29 Unabhängig von der theologischen Schwerpunktsetzung verbindet palästinensische Theologie als kontextuelle Theologie die geopolitisch, historisch, gesellschaftlich, kulturell und religiös bestimmte Lebenswirklichkeit der Glaubenden mit der biblisch beschriebenen Erfahrungswelt,30 was sich unmittelbar auf die palästinensische Bibelhermeneutik auswirkt. Biblische Texte werden regelrecht zum Sprachrohr christlicher Palästinenser*innen, indem sie mittels narrativer Stilmittel ihre eigenen Erfahrungen mit denen biblischer Akteur*innen koppeln, was im folgenden Abschnitt näher erläutert werden soll.

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Palästinensische Theologie als narrative Theologie der Opfer

In palästinensisch-narrativer Theologie fallen biblisch beschriebene, d. h. historische Lebensrealität und gegenwärtige Lebensrealität unmittelbar ineinander. So wie die historisch-biblischen Autor*innen über eine konkrete Lebensrealität und eine bestimmte Erfahrung theologische Rückschlüsse machen, verstehen es auch palästinensische Theolog*innen, ihre biographischen Erfahrungen mit biblisch beschriebenen Erfahrungen einzelner Individuen oder Kollektive zu parallelisieren und teilweise miteinander zu verweben. »In a sense, they imitate the biblical narrative«,31 wie Rafiq Khoury proklamiert. Dabei legen palästinensische Theolog*innen ihren bibelhermeneutischen, lokal eingebundenen exegetischen Schwerpunkt auf die biblisch beschriebene Erfahrungsebene der generationenübergreifenden Unterdrückung des biblischen Volkes.32 Raheb konstatiert dahingehend eine über die geografischen, 28 Zu der Agenda, den Veranstaltungen sowie weiterführenden Links zu dem CornerstoneMagazin, welches vom Sabeel-Zentrum veröffentlicht wird, siehe unter: https://sabeel.org/ [30. 09. 2020]. 29 Vgl. Gräbe: Kontextuelle palästinensische Theologie (s. Anm. 25), 184–185. 30 Siehe u. a. dazu Mitri Raheb: Glaube unter imperialer Macht. Eine palästinensische Theologie der Hoffnung, aus dem Englischen übersetzt von Eva Chr. Gottschaldt, Gütersloh 2014. 31 Vgl. Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 34. 32 Siehe Raheb: Glaube unter imperialer Macht (s. Anm. 30), 76–109.

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geopolitischen und zeitlich diversen Entstehungsbedingungen hinausreichende historische Konstante, welche die unterschiedlichen Entstehungshintergründe der biblischen Texte vereine: Durch die Geschichte hinweg stand das Volk des biblisch beschriebenen Landes stetig unter Besatzung verschiedener Imperien.33 Die derzeitig als Besatzung beschriebene Situation in Israel/Palästina ist demzufolge in eine Abfolge verschiedener, sich abwechselnder Besatzungsmächte einzuordnen, was wiederum nach dem Theologumenon der Gerechtigkeit Gottes fragen lässt. Die bibelhermeneutische Frage nach Gottes Gerechtigkeit ist wiederum mit der Frage verbunden, ob Gottes Wort gar Rechtfertigung von Leid und Unterdrückung bedeute, sodass Opfer theologisch hinzunehmen seien, wie dies Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) behauptet.34 Dies führt in weiterer Folge zu palästinensischen Theodizeefragen: Wo ist Gott angesichts der Konfiszierungen von Land, der Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung von Palästinenser*innen? Warum steht Gott nicht an der Seite der Palästinenser*innen?35 Das mit jenen palästinensischen Theodizeefragen verbundene narrative Motiv der unter der Situation der Besatzung leidenden Opfer, das mit biblischen OpferGeschichten parallelisiert und die eigenen Erfahrungen gegenwärtiger Unterdrückung somit in einen Gesamtkontext biblischer Narrative stellt, kann das Gefühl der Betroffenheit bei den Rezipient*innen auslösen. Dadurch soll Mitgefühl für die beschriebenen Erfahrungen erweckt werden, Opfer der Opfer des Holocausts36 zu sein. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Shoah und Nakba in ihren Dimensionen und in ihren Ausmaßen miteinander vergleichbar wären. Vielmehr solle hier auf die politischen Konsequenzen der Staatsgründung Israels für die im Land lebenden Palästinenser*innen aufmerksam gemacht werden. Wenngleich die Singularität der Grausamkeit von Auschwitz von palästinensischen Theolog*innen nicht in Frage gestellt wird und wie bei Jamal Khader

33 Mitri Raheb: Toward a New Hermeneutics of Liberation. A Palestinian Christian Perspective, in: ders.: The Biblical Text (s. Anm. 5), (11–27) 15. 34 Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie in drei Bänden 3, Gütersloh 1996, 370. 35 Vgl. Bechmann: Verkündigung Gottes (s. Anm. 12), 82. 36 So schreibt Mitri Raheb dazu: »Der Holocaust hat nicht nur dem jüdischen Volk geschadet, sondern auch den Palästinensern, denn wir sind die Opfer der Opfer.« Mitri Raheb: Bethlehem hinter Mauern. Geschichten der Hoffnung aus einer belagerten Stadt, Gütersloh 2005, 106. Edward Said, amerikanischer Literaturtheoretiker und -kritiker palästinensischer Herkunft, weist darüber hinaus auf eine gewisse Ironie der Opferidentitäten hin: »the classic victims of years of anti-Semitic persecution and the Holocaust have in their new nation become the victimizers of another people who have become, therefore, the victims of the victims.« Edward Said: The Question of Palestine, London 1980, xxi.

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(1964*) zu der Erkenntnis führt, »this should never happen again to anyone«,37 dürfe die schreckliche Erfahrung der Shoah jedoch keineswegs zu neuem Unrecht führen, denn »[a]s horrible as the Holocaust was, it is not part of our history as Palestinians; we suffered indirectly from the consequences, as victims of the victims of the Holocaust.«38 Nach Ateek sei die Shoah und die historische Aufarbeitung der Geschehnisse primär ein westliches Problem, welches in weiterer Folge nicht auf Kosten der Palästinenser*innen ausgetragen werden dürfe.39 Allerdings sei nach Khader, der ähnlich wie Ateek die Aufarbeitung der Shoah v. a. als ein europäisches Problem begreift, spätestens seit der Staatsgründung Israels 1948 Antisemitismus in den Nahen Osten importiert worden und ist seither in einigen arabischsprachigen Ländern stark mit Israelfeindschaft verbunden.40 Diese Entwicklung schadet den Friedensbemühungen in Israel/Palästina jedoch erheblich und es ist den Opfergeschichten auf beiden Seiten ein Ende zu setzen. Die Shoah, aber auch die Nakba hätten letztlich dazu geführt, dass sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite persönliche und kollektiv geprägte Leiderfahrungen stehen: »In both cases, we are confronted with wounded memories because of injustice, oppression, violence, and wars«41 – so Khader. Diese Erfahrungen prägen wiederum die kontextuell eingebundene Bibelhermeneutik, wie auch der englische Bibelwissenschaftler Philipp Davies (1945– 2018), welcher sich mit den Geschichtsverständnissen des antiken Israels auseinandersetzte, konstatiert. Nach Davies evozieren die kollektiven Erinnerungen der Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt und Krieg(en), welche in historisch gewachsenen Narrativen eingebunden sind, schließlich die individuelle Blickrichtung auf Geschichte und prägen somit auch das theologische Verständnis gegenwärtiger Generationen:42 Wir erzählen unsere Geschichten über die Vergangenheit in einem historischen Zusammenhang und schauen von einem bestimmten Punkt aus auf die Vergangenheit: nämlich von der Gegenwart aus. Wir können keine unbeteiligten, gerechten Beobachter sein. […] Unsere Blicke auf die Vergangenheit sind stets beeinflusst von unserem geografischen, politischen und sozialen Standort.43

37 Jamal Khader: Christian Jewish Dialogue in Palestine/Israel. A Different Dialogue, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (169–181) 171. 38 Vgl. Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 171. 39 Vgl. Ateek: Recht, nichts als Recht! (s. Anm. 9), 137. 40 Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 175. 41 Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 177. 42 Philip Davies: Memories of Ancient Israel. An Introduction to Biblical History – Ancient and Modern, Louisville 2008, 11. 43 Davies: Memories of Ancient Israel (s. Anm. 42), 11.

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Bezogen auf die kollektiven Erinnerungen der Opfer auf beiden Seiten der Konflikte in Israel/Palästina, welche ihre Freiheit durch äußere Umstände bedroht oder eingeschränkt erleben, sei es nach Raheb allerdings »[e]ine der größten Versuchungen unterdrückter Menschen […], es sich in der Rolle des Opfers bequem zu machen, in Vorwürfen zu verharren und das Imperium fortwährend zu verfluchen.«44 Folglich rufen palästinensische Theolog*innen in prophetischer Tradition dazu auf, nicht im Opferdenken zu verharren. Der in den biblischen Narrativen beschriebene Opferstatus bildet nicht den Endpunkt der Geschichte. Leid habe nicht das letzte Wort und wird in den biblischen Narrativen als vorübergehend beschrieben. Dies eröffnet eine Perspektive der Hoffnung auf ein besseres Leben.45 Daher liegt der bibelhermeneutische Fokus in weiterer Konsequenz auf dem in den Texten beschriebenen Wunsch und auf der Sehnsucht nach Befreiung der unter den unterdrückenden Maßnahmen der imperialen, das Land besetzenden Mächte leidenden Palästinenser*innen, die zugleich den »native people«46 des Landes entsprächen. Jene »native people« sowie die Bedeutung des kontextuell eingebundenen Landes determiniert Mitri Raheb als weitere »Evangelien«, welche für das Verständnis der vier Evangelien konstitutiv seien und auf diese Weise als hermeneutischer Schlüssel palästinensischer Theologie verstanden werden können.47 Dem »fünften Evangelium« entspräche nach Raheb das Land,48 welches politisch, ökonomisch und gesellschaftlich geprägt ist und als unumgänglich für ein bibelhermeneutisches Verständnis deklariert wird.49 Raheb’s Deutung steht dabei in einer langen bibelhermeneutischen Tradition, da bereits Sophronius Eusebius Hieronymus (347–420 n. Chr.) vom Heiligen Land als dem »fünften Evangelium« sprach. Jenes »fünfte Evangelium« helfe den Pilger*innen, die vier Evangelien durch den Bezug auf die geographisch bedingten und soziopolitisch geprägten Entstehungshintergründe der Texte besser zu verstehen.50 Die her44 Raheb: Glaube unter imperialer Macht (s. Anm. 30), 182. 45 Siehe beispielsweise Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 28. Hier macht Khoury auf die Opferrolle der Palästineser*innen durch die Nakba und den damit verbundenen Ruf nach Gerechtigkeit aufmerksam: »Palestinian contextual theology is, in the first place, a cry for justice, because most of its protagonists were themselves, with their families, victims of injustice during the Nakba.« 46 Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 11–12. 47 Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 11–12. 48 Vgl. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 15. 49 Vgl. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 15. 50 Vgl. Heinrich Mussinghoff: Ein schwieriges Verhältnis? Die katholische Kirche und der Staat Israel. Vortrag auf der Tagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gemeinsam mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Berlin, 17. Januar 2012, verfügbar unter: www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-tagungste xte-bischof-heinrich-mussinghoff-2012 [06. 04. 2017].

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meneutische Hervorhebung der Relevanz des Landes kann demnach nach Raheb als palästinensisch-theologischer Fingerzeig für westliche Theologie, welche die soziopolitischen Hintergründe des Landes teilweise völlig ausblende, verstanden werden und gewinne somit gleichzeitig gesamthermeneutische Bedeutung.51 Ohne die Berücksichtigung der Geschichte und der Gegenwart im historischen Entstehungsort der biblischen Texte könne laut Raheb die bibelhermeneutische Bedeutung von Befreiung und Erlösung daher nicht vollständig erschlossen werden.52 Für ein holistisches Textverständnis hebt Raheb darüber hinaus die Relevanz der im Land lebenden Bewohner*innen, »native people« als »sechstes Evangelium« hervor.53 Jene seien kulturell, historisch und interreligiös in den Traditionen des Landes verwurzelt,54 sodass die Berücksichtigung ihrer Erfahrungen für jede Bibelhermeneutik unumgänglich scheint: Wenn wir die Bibel wirklich verstehen wollen, müssen wir uns darauf einlassen, auf sie mit den Ohren der Menschen dieses Landes zu hören.55

Summa summarum seien ohne die umfassende Kenntnis der Erfahrungen der im Land lebenden Menschen, der Geografie, der Geopolitik und der Geschichte(n) Palästinas die Aussagen der Bibel nicht zu erfassen. Die sich daraus ergebenden sechs Evangelien sind Raheb zufolge dabei nicht isoliert zu betrachten, sondern stehen in unmittelbarer Beziehung zueinander. Alle sechs Evangelien würden nach Raheb schließlich zu einer auch die westliche Theologie erneuernden Bibelhermeneutik aufrufen: »It is time to read the entire Bible, the entire history of Palestine, and all six Gospels together.«56 Land und »native people«, die vier Evangelien und die in ihnen beschriebenen erfahrungsbezogenen Narrative biblischer Protagonist*innen werden dabei zum bibelhermeneutischen Grundstein palästinensischer Theologie, in welcher darüber hinaus die biblischen Narrative durch autobiographische Bezüge der palästinensischen Theolog*innen erweitert werden. Indem sie ihr Leben und Geschick im Gesamtkontext der biblisch beschriebenen Erfahrungswelt und in Kontinuität zu den biblischen Figuren – welche in derselben Region gewirkt haben, in der auch die palästinensischen Theolog*innen aufgewachsen sind und leben – verorten, gewinnen ihre bibelhermeneutischen Ausführungen eine

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Vgl. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 15. Vgl. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 15. Vgl. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 27. Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 16. Raheb: Glaube unter imperialer Macht (s. Anm. 30), 159. Siehe auch Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 18: »If we truly want to understand the message of the Bible, it is of utmost importance to listen to the experience of the native people of Palestine.« 56 Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33), 27.

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kontextuell-theologische sowie gesellschaftspolitische Relevanz. Dadurch wird auf authentische sowie prophetische Weise ein Leben unter der Perspektive des Glaubens proklamiert und eine daraus erweckte Hoffnung auf eine Besserung der erfahrenen Lebenswirklichkeit artikuliert, wie dies Khoury verdeutlicht: [W]e are in a way that seems hopeless, but in the middle of this situation, we say a word of hope, a word that is specifically ours as Christians, an important word, and a word that opens the doors to the future.57

In einer hoffnungslos erscheinenden Situation versucht palästinensische Theologie als narrative Theologie, die an den biblischen Erfahrungsgeschichten anknüpft, auf diese Weise eine prophetische Perspektive der Hoffnung zu eröffnen, welche jeglicher Resignation trotzt und christliche Palästinenser*innen für die Zukunft ermutigen will. Dennoch steht palästinensische Bibelhermeneutik vor besonderen, kontextuell bedingten Herausforderungen, auf welche im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird.

5

Palästinensische Bibelhermeneutik

Die bibelhermeneutische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem historischen Entstehungshintergrund des Bibeltextes und der gegenwärtig erfahrenen Lebensrealität führt palästinensische Theologie zu kritischen Anfragen an die Texte, in denen es um die Verheißungen, Erwählung und den Bund zwischen Gott und Israel geht. Hierbei ist im Kontext des Nahostkonfliktes v. a. die Frage, ob eine Auslegung biblischer Texte gar die gegenwärtigen politischen Ansprüche und Forderungen des modernen israelischen Staates, wie in zionistischen Kreisen mitunter argumentiert wird, rechtfertigen könne. Jamal Khader fasst die fundamentale Veränderung bibelhermeneutischer Fragen nach der Staatsgründung Israel 1948 folgendermaßen zusammen: The reality on the ground changed; the new state is called with the biblical name, »Israel«, the settlements on Palestinian lands are called with biblical names as well (Shilu, Beit El, Alon Moreh…), and Jerusalem is called »Yerushalaim«, City of David. Some fundamentalist58 groups have even justified the use of violence against the Palestinians with passages of the Bible, where God orders the killings of the peoples in the

57 Vgl. Khoury: Palestinian Contextual Theology (s. Anm. 20), 29. 58 Die von jenen Gruppen propagierte fundamentalistische Bibelauslegung hatte dabei »massive politische Konsequenzen für die Errichtung der Siedlungen und die Unterdrückung der Palästinenser, denen ihr Heimatrecht abgesprochen wurde.« Bechmann: Verkündigung Gottes (s. Anm. 12), 81.

Palästinensische Theologie als Streitkultur

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land. With the religious arguments used to occupy and colonise our land, we began to ask if the Word of God legitimises our oppression and occupation.59

Die Landverheißungstexte, welche bisweilen als bibelhermeneutische Grundlagen der Legitimation eines israelischen Staates dienten oder dienen, sind keineswegs in ihrer Deutbarkeit unbestritten, da sie durch ihre unterschiedlichen historischen Kontexte divers und in ihrer Bedeutung streitbar zu lesen, d. h. unterschiedlich interpretierbar sind, wie im Folgenden beschrieben wird.

5.1

Bibelhermeneutisches Streitthema per excellence – das Land und der Staat Israel

Insbesondere die theologischen Fragen um das Land und den Staat Israel sowie um das europäische Verhältnis zu den israelischen und palästinensischen Bewohner*innen des Landes gehören aufgrund der exegetisch, historisch und politisch bedingten Ambivalenzen und Spannungen zweifellos zu den hermeneutisch streitbarsten Themen der Bibelhermeneutik. Daher prallen die Meinungen und Standpunkte westlicher Theolog*innen, wenn es um das Verhältnis zum Staat Israel geht, zum Teil äußerst heftig aufeinander. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Beschäftigung mit Israel – als synergetischer Terminus aus geographischer Landbezeichnung, Theologumenon und Staat – ein politisches sowie theologisches Minenfeld nach Michael Rohde (1973*) darstelle.60 Palästinensische Theolog*innen votieren deshalb dafür, dass die in Bezug auf die Legitimation der Gründung des Staates Israels herangezogenen Landverheißungstexte zunächst in ihrem historischen Entstehungskontext kritisch analysiert werden sollten. Dabei weisen palästinensische Theolog*innen daraufhin, dass die leichtfertige Ineinssetzung von historischem Text und gegenwärtigem Kontext nicht haltbar sei und zu einer politischen Diskrepanz führe, da jene Texte keine in der damaligen Zeit tatsächlich vorfindlichen politischen Verhältnisse widerspiegeln.61 Eine Ideologisierung des Staates Israel als religiöser Staat wird folglich von palästinensischen Theolog*innen, aber auch von einigen jüdischen Theo-

59 Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 173. 60 Siehe Michael Rohde: Die kontextuelle Theologie Mitri Rahebs. Ein Beispiel für die exegetische und hermeneutische Bedeutung des Buches Josua für die Frage nach dem »Heiligen Land«, in: Ed Noort (Hg.): The Book of Joshua, Leuven 2012, (589–607) 589. 61 Siehe u. a. Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14); Raheb: Toward a New Hermeneutics (s. Anm. 33).

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log*innen, wie u. a. von Jeremy Milgrom (1953*),62 Marc Ellis (1952*)63 sowie David Rosen (1951*),64 als Ergebnis »fundamentalistischer« Bibelexegese abgelehnt.65 Die Staatsgründung Israels als »Zeichen der Treue Gottes« zu verstehen, wie es in dem rheinländischen Synodalbeschluss von 1980 heißt, sei daher nach Mitri Raheb theologisch kritisch zu hinterfragen.66 Daran anschließend statuiert Klaus Wengst (1942*), dass das mit der »Treue Gottes«67 verbundene Zeichen der Staatsgründung Israels das historisch-politische Zeitgeschehen theologisch überhöhe und dadurch der Kritik sowie der rationalen Betrachtung unzugänglich gemacht werde.68 Weiters unterstütze der Beschluss von 1980 Raheb zufolge lediglich eine nationalistisch religiöse Ideologie,69 da der gegründete Staat Israel nicht als »Erfüllung göttlicher Verheißung«,70 sondern höchstens als »eine politische Notwendigkeit der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«71 gesehen werden könne. Nicht nur, wenn es um die Frage nach der Bedeutung vom Land und Staat Israel geht, kommt es zum bibelhermeneutischen Streit zwischen den verschiedenen, kontextuell eingebundenen Deutungsmodellen. Palästinensische Bibelhermeneutik beschreibt auch noch weitere, aus dem Kontext heraus entwickelte, theologische Spezifika, welche nun in den folgenden Abschnitten skizziert und vorgestellt werden.

62 Siehe u. a. Jeremy Milgrom: Judentum und Gewaltfreiheit. Über die Verantwortung der Macht (AphorismA 8), Trier 2001. 63 Siehe u. a. Marc H. Ellis: Über den jüdisch-christlichen Dialog hinaus. Aus der Werkstatt eines jüdischen Befreiungstheologen (AphorismA 4), Trier 1997; ders.: Zur Befreiung berufen. Eine jüdische Stimme. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Vorwort von Mishe Zuckermann (AphorismA 5), Trier 2003. 64 Siehe u. a. David Rosen: Über Errettung und Erlösung in der jüdischen Tradition. Mit einer christlichen Annäherung von Ansgar Koschel (AphorismA 22), Trier 1995. 65 Siehe u. a. Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 176. 66 Vgl. Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 105. 67 Wengst lässt darüber hinaus fragen, ob demnach eine Nichtexistenz des Staates Israels »Gottes Untreue« entsprechen würde. Vgl. Klaus Wengst: Jesus zwischen Juden und Christen. Re-Visionen im Verhältnis der Kirche zu Israel, Stuttgart 22004, 143. 68 Vgl. Wengst: Jesus zwischen Juden und Christen (s. Anm. 67). 69 Vgl. Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 105. 70 Vgl. Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 106. 71 Vgl. Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 106.

Palästinensische Theologie als Streitkultur

5.2

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Jesus als palästinensischer Jude und Prophet der Befreiung

Mit der Rede von Jesus als palästinensischem Juden aus dem Nahen Osten72 hebt Raheb nicht nur Jesu Verwurzelung in den Traditionen des palästinensischen Volkes hervor, sondern darüber hinaus auch das Judesein Jesu.73 Jesu Jüdischsein74 hängt dabei u. a. mit der Frage nach dem historischen Jesus zusammen, welche im israelisch/palästinensischen Kontext in Hinblick auf die kulturellen sowie religiösen Verflechtungen z. B. von James G. Crossley (1973*) analysiert wird.75 Bisherige Studien zum historischen Jesus seien laut Crossley vorrangig an einer israelischen Geschichtsschreibung orientiert gewesen, welche wiederum oftmals eine projüdische Haltung eingenommen habe.76 Durch die Hervorhebung des palästinensischen Juden Jesus versucht Raheb dahingegen solche und vergleichbare projüdische, proisraelische sowie die palästinensische Geschichtsschreibung exkludierende Sichtweisen aufzubrechen und um eine palästinensisch-theologische Perspektive zu erweitern.77 Über den lokalen Fokus auf Jesu palästinensischen Hintergrund hinaus steht Jesus als Jude in der alttestamentlichen Tradition des Prophet*innentums. In prophetischer Weise übt Jesus Kritik an der Gesellschaft, ruft dabei die Opfer von politischen und gesellschaftlichen Repressionen zum Widerstand auf und eröffnet dabei eine neue Perspektive auf eine die Zukunft verändernde Hoffnung. Jesu gelebte »Theologie des Widerstandes und der Liebe« ermutige nun in der Nachfolge Christ*innen in Palästina, an ihrer Vision des Friedens festzuhalten und nicht in Anbetracht der scheinbaren Ausweglosigkeit zu resignieren, sondern ihre Zukunft im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv mitzugestalten.78 Auf 72 Raheb: Glaube unter imperialer Macht (s. Anm. 30), 13. 73 Die Betonung des Judeseins Jesu verweist Christ*innen auf ihren Ursprung aus dem Judentum, denn Jesus war selbst kein Christ, sondern Jude, wie bereits der deutsche Orientalist und protestantische Theologe Julius Wellhausen (1844–1918) bemerkte. Siehe dazu Julius Wellhausen: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, 113. Die enge Verbindung zwischen Judentum und Christentum wird im christlich-jüdischen Dialog mit dem Judesein Jesu oftmals hervorgehoben. Siehe dazu Klaus Wengst: Jesus eint – Jesus trennt. Der Jesus der Evangelien – ein Jude unter Juden, in: ders.: Jesus zwischen Juden und Christen (s. Anm. 67), 45–61. 74 Die Zusammengehörigkeit Jesu mit seinem Volk bezeugen eine Vielzahl biblischer Textpassagen, wie u. a. Joh 4,22; Mk 12; Röm 9–11; das Magnificat, mit dem Lobpreis des Gottes Israels, und die Anrufung des Gottes der Völker im Vaterunser. Vgl. Becker: Der schwierige Weg zum Frieden (s. Anm. 3), 19. 75 Siehe James G. Crossley u. a. (Hg.): Jesus Beyond Nationalism. Constructing the Historical Jesus in a Period of Cultural Complexity, London 2009, 5–6. 76 Vgl. Crossley: Jesus Beyond Nationalism (s. Anm. 75). 77 Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 82. 78 Dies ist des Weiteren auch der Kern von dem 2009 veröffentlichten palästinensisch-christlichen und ökumenischen Dokument Kairos-Palästina (Abschnitt 4). Siehe dazu Kapitel 6 in diesem Artikel.

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der Basis einer allumfassenden prophetischen Hoffnung, welche gleichzeitig aber auch mit verantwortungsvollen Handlungen verbunden ist, könne nun nach Rifat Odeh Kassis christlich-palästinensische Präsenz im Land gestärkt werden: »It [the Palestinian Christian reality] is a presence based on hope, but hope in action.«79 Das Verankertsein des Juden Jesus in die palästinensischen, kulturell bedingten Traditionen sowie in die prophetischen Traditionen der Gesellschaftsund Sozialkritik, wodurch benachteiligte Gruppen in die Gesellschaft inkludiert werden sollen, führt in weiterer Folge zu einem universalistischen Bibelverständnis palästinensischer Hermeneutiker*innen.

5.3

Universalistische Bibelhermeneutik

Der Streit um ein alleingültiges Bibelverständnis entfacht, wie bereits dargelegt wurde, v. a. in Bezug auf eine exklusiv verstandene alttestamentliche Landverheißung und ein damit verbundenes exklusives Erwählungsverständnis. Exklusive Bibelhermeneutik, welche von einigen jüdischen oder westlich-christlichen Exeget*innen vertreten wird, spräche – beispielsweise Ateek zufolge – Palästinenser*innen ihren Bezug auf alttestamentliche Verheißungstexte in weiterer Konsequenz rigoros ab. Dadurch werden laut Ateek Palästinenser*innen weder mit dem biblischen Volk Israel in Verbindung gebracht, noch von der rettenden sowie heilbringenden biblischen Botschaft tangiert, sondern sie werden vielmehr mit dem biblischen Volk Israel konträren Volksgruppen identifiziert.80 Ateek und Raheb wehren sich gegen eine solche typologische Bibelhermeneutik, welche die in der Bibel erwähnten Kuschiter*innen, Philister*innen, Aramäer*innen oder Babylonier*innen als »Typen« der heutigen Palästinenser*innen auftreten lasse.81 Palästinenser*innen seien hingegen keiner spezifischen Volksgruppe zuordenbar und verstünden sich vielmehr als Teil eines biblisch begründbaren, auf Frieden beruhenden Miteinanders verschiedener Volksgruppen.82 Das Zusammenleben unterschiedlicher Völker werde nach Raheb beispielsweise in prophetischen Texten wie Jer 12,16 sowie Jes 2,2–5, welche in der Zeit 79 Kassis: Palestinian Christians (s. Anm. 18), 150 (Hervorhebung durch L. Wonnerth-Stiller). Siehe auch ders.: On the Kairos Palestine Document. Faith, Hope, Love. The Message of the Kairos Document. March 2011, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (469–476) 473: »[W]e believe urgently in faith in action.« 80 Siehe Ateek: Recht, nichts als Recht! (s. Anm. 9), 98–99. 81 Vgl. Ateek: Recht, nichts als Recht! (s. Anm. 9), 182; Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 98–99. 82 Siehe Ateek: Recht, nichts als Recht! (s. Anm. 6), 182; Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 98– 99.

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nach der Landnahme zu kontextualisieren sind, bezeugt.83 Aus der Kontextualisierung der Texte nach der Landnahme und der damit verbundenen biblisch beschriebenen friedlichen Koexistenz verschiedener Völker könne nun resultiert werden, dass die alttestamentlichen Verheißungen erst dann als erfüllt zu betrachten seien, wenn das verheißene Land nicht exklusiv von einem Volk beansprucht werde, sondern ein Ort des inklusiv verstandenen Zusammenlebens verschiedener Völker wäre.84 Ein inklusivistisches Verständnis des Zusammenlebens verschiedener Völker werde weiters auch in neutestamentlichen Texten, wie beispielsweise in der Genealogie Jesu (Mt 1,5–6), aufgegriffen. Außerdem zeige das Gleichnis des barmherzigen Samariters sowie Jesu Zugewandtheit den von der Gesellschaft ausgeschlossenen Zöllnern gegenüber das Ideal einer inklusiven, auf sozialer Gerechtigkeit basierenden Gemeinschaft.85

5.4

Gesellschaftspolitische Konsequenzen palästinensischer Bibelhermeneutik

Insgesamt gesehen ist palästinensische Bibelhermeneutik in besonderer Weise darum bemüht, aus dem Kontext heraus auf den biblischen Text zu reagieren und gesellschaftspolitische Konsequenzen sowie ethische Schlussfolgerungen daraus abzuleiten. Durch ein alltagsbezogenes Bibelverständnis, wodurch auf prophetische Weise nach gegenwartsrelevanter Veränderung gestrebt wird, gewinnt palästinensische Theologie existentielle Relevanz und lässt neue Deutungsebenen erschließen. Die prophetische Hoffnung auf eine Veränderung der Situation entspricht dabei freilich keiner »Lösung« des Konfliktes, aber eröffnet neue Sichtweisen auf die Möglichkeiten der kontextuell eingebundenen Lebensgestaltung aus der Perspektive des Glaubens heraus, wodurch auf das spezifische Lebensumfeld palästinensischer Christ*innen eingegangen werden kann, wie Michel Sabbah anhand einer Zielbeschreibung palästinensischer Theologie eruiert:86 83 Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 102. 84 Raheb: Ich bin Christ (s. Anm. 10), 102. 85 Vgl. Raheb: Palestine and the Question about God, the Other, and the Long Awaited Liberation, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (281–295) 285. 86 Der prophetische Aufruf zur aktiven Weltgestaltung wird verabsolutiert und steht weiters in einem eschatologischen Zusammenhang. Durch den eschatologischen Vorbehalt allen Handelns werden die Dimensionen menschlicher Handlungsmöglichkeiten insofern relativiert, als dass durch die Dimension des Transzendenten eine eschatologische Perspektive auf ein durch Gottes Wirken ermöglichtes Heil bzw. die Erlösung vom irdischen Leid auch nach dem Tod in Aussicht gestellt wird. Yohanna Katanacho, eine der Mitverfasser*innen von KairosPalästina, kommt über die eschatologische Perspektive zu einer erweiterten Deutung des

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The aim of Palestinian theology is to encourage all believers, of all religions, to worship in spirit and truth, and to know God as a God who loves his creatures, not as a God of war. It is to liberate the word of God from being a weapon in a political struggle, to make it rather a guide for all humans in this land to be able to see God, and to see all peoples as creatures of God with same rights and same duties.87

Die Befreiung der Schrift von bestimmten Deutungsebenen führt letztlich zu einer inklusivistisch verstandenen Bibelhermeneutik, welche nicht nur mit dem Aufruf zum Überwinden von nationalen und religiösen Unterschieden, sondern auch mit dem bibelhermeneutisch begründeten Aufruf zum Überwinden konfessioneller Streitigkeiten verbunden ist, was wiederum zum Erstarken der palästinensisch-ökumenischen Zusammenarbeit geführt hat. Ein Dokument ökumenischer Zusammenarbeit stellt das 2009 veröffentlichte Kairos-Palästina Dokument dar. Jenes Dokument vereint die verschiedenen palästinensisch-theologischen, inklusivistischen Konzepte und kann als theologisches Dokument des Widerstandes und der Liebe in prophetischer sowie jesuanischer Tradition gelesen werden.

6

Kairos-Palästina Dokument als Beispiel palästinensischer Theologie

Nach einer Arbeitszeit von länger als einem Jahr, mehreren Konferenzen und Versammlungen von insgesamt fünfzehn palästinensischen Theolog*innen sowie Laien (drei Frauen und zwölf Männern)88, welche in einem innerpalästibibelhermeneutisch kontroversen Psalters, sodass die davidische Theologie für Palästinenser*innen sowie Israelis eine friedensstiftende Perspektive eröffnet, welche dem gewaltvollen Bild der Zerstörung und Eroberung gegenübersteht: »It [the psalter] arguably has led its proponents to a theology that produces death, for it seeks to subdue the enemies by the sword and to kill our neighbors. It cannot resonate with giving both Palestinians and Israelis equal rights in the Holy Land. On the other hand, theocentric eschatology advocates a theology of life to all God’s creation. It leads to a living God and expects us to be transformed into meek servants of justice, peace, and righteousness for all of God’s creation.« Yohanna Katanacho: Peaceful or Violent Eschatology. A Palestinian Christian Reading of the Psalter, in: Khoury/ Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (151–163) 163 (Hervorhebung durch L. Wonnerth-Stiller). Diese Perspektive Katanacho’s eröffnet eine eschatologische Perspektive der Hoffnung. 87 Michel Sabbah: Preface, in: Khoury/Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 14), (7–8) 8 (Hervorhebung durch L. Wonnerth-Stiller). 88 Dass beim Verfassen drei Frauen beteiligt waren, ist deswegen hier an gesonderter Stelle hervorzuheben, da es in der arabischsprachigen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist: »Arab Christian theology is not gender sensitive, and the majority of Arab church families are considering female clergy as a problematic issue.« Heidemarie Winkel: Contextual Theology with a Gender Focus. Palestinian Women in the World Day of Prayer Movement, in: Khoury/ Zimmer-Winkel: Christian Theology (s. Anm. 12), (443–450) 444–445. Daher kann die Be-

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nensischen, d. h. interreligiösen, aber auch interkonfessionell multiplen Kontext stehen, wurde das ökumenische89 Dokument »Kairos-Palästina. Die Stunde der Wahrheit. Ein Wort des Glaubens und der Hoffnung aus der Mitte des Leidens der Palästinenser« am 11. Dezember 2009 im Rahmen des »Palestine-Israel Ecumenical Forum« (PIEF)90 des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) veröffentlicht. Es richtet sich an die »palästinensische und die israelische Gesellschaft, an die Weltgemeinschaft und an die christlichen Brüder und Schwestern in den Kirchen in aller Welt«.91 Die Verfasser*innen verstehen das Dokument allerdings weder als theoretische oder theologische Studie noch als ein politisches Dokument. Allein »geleitet von ihrem Glauben an Gott und ihrer Liebe für ihr Volk«92 geht es ihnen vielmehr darum, Themen palästinensischer Christ*innen in ihrer Kontextualität vorzustellen und im Westen Interesse am Dialog und an der Auseinandersetzung mit der Situation der Palästinenser*innen zu wecken. Der Titel des Dokumentes

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teiligung von Frauen hier nur befürwortend und als Exempel hervorgehoben und gewürdigt werden: »The perspectives of women are important contributions in the articulation of their perspective of the Bible and theology as well as policies of the state. And it is heartening to see the involvement of three women, namely Ms. Cedar Duabis, Ms. Nora Kort, and Ms. Lucy Thaljieh in putting together the Kairos Palestine document.« Yak-Hwee Tan: Contact Zone. Exploring Land, Liberation and Life, in: Raheb: The Biblical Text (s. Anm. 5), (363–375) 374. Sozusagen in »versöhnter Verschiedenheit« kommen die unterschiedlichen Kirchen zusammen und bilden durch ihre gemeinsame palästinensische Theologie eine ökumenische Einheit. Der multi-konfessionelle Hintergrund der Verfasser*innen spiegelt die christliche konfessionelle Realität in Israel/Palästina wider, weshalb es auch nicht verwundert, dass der ÖRK das Dokument ins Deutsche übersetzt hat. Insgesamt wurde es in zwanzig Sprachen übersetzt (Afrikaans, Arabisch, Bulgarisch, Chinesisch, Tschechisch, Holländisch, Englisch, Französisch, Finnisch, Deutsch, Hebräisch, Ungarisch, Italienisch, Japanisch, Koreanisch, Norwegisch, Russisch, Spanisch, Schwedisch). Siehe dazu Joint Advocacy Initiative, The East Jerusalem YMCA of Palestine: Über das Kairos-Palästina-Dokument, verfügbar unter: http://www.jai-pal.org/de/kampagnen/internationale-kampagnen/kairos-palästina [22. 04. 2020]. Das Ökumenische Forum Palästina/Israel (PIEF), welches 2007 gegründet wurde, ist eine internationale, überkirchliche Organisation, welche Kirchen verschiedener Konfessionen zusammenbringt, um interreligiöse sowie ökumenische Initiativen und Projekte für Frieden in Palästina und Israel zu koordinieren. Ziel sei dabei, in Übereinstimmung mit den UNResolutionen die Besetzung zu beenden und Wege des gewaltfreien Dialoges zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen zu fördern. Vgl. dazu Palestine Israel Ecumenical Forum: Calls to Action, verfügbar unter: https://pief.oikoumene.org/en/calls-to-action [06. 05. 2020]. Die Rezeption und das öffentliche Interesse werden bereits vor der Veröffentlichung durch die Unterzeichnung von insgesamt dreizehn kirchlichen Amtsträgern, Patriarchen, Erzbischöfen und Bischöfen deutlich, wodurch das Dokument an theologischer Tragweite gewinnt. Siehe Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen. Übersetzt aus dem Englischen vom Sprachendienst des ÖRK, 2009, verfügbar unter: https://www.oikoumene.org /de/resources/documents/kairos-palestine-document [30. 12. 2020]. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91), Vorwort.

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verweist dabei bereits zu Beginn auf die zeitlich bedingte Kontextgebundenheit jener Stellungnahme.93 Das Kairos-Dokument (καιρός = altgriechisch »gegenwärtige Zeit«, »aktueller Zeitpunkt«) entfalte demnach nur dann Bedeutung, wenn es historisch, d. h. zeitlich verordnet, und kontextualisiert verstanden wird sowie sich im ständigen Dialog mit der gegenwärtigen Geschichte befindet. So heißt es in einer Rezeption in der Auseinandersetzung mit dem Dokument: »Kairos is a response to a proper reading of the signs of the times.«94 In einem konkreten Kontext stehend ist Kairos daher stets mit einem zeitlich gebundenen Wahrheitsanspruch95 verbunden, was bereits im programmatischen Untertitel »Die Stunde der Wahrheit« zum Ausdruck kommt. Diese Wahrheit wirft ein neues Licht auf die Zeichen der gegenwärtigen Zeit, wodurch zugleich zur Veränderung der im Dokument angeführten Missstände aufgerufen wird. Die Autor*innen wollen in biblischer Tradition durch Kritik an Gesellschaft und an israelischer sowie palästinensischer Politik sowohl die lokale als auch die globale Kirchengemeinschaft in der Perspektive des Glaubens zu verantwortungsvollem Handeln bewegen. Der als hoffnungslos empfundenen Lage der Palästinenser*innen in den Autonomiegebieten wird daher ein vom Glauben an Gott geleiteter »Schrei der Hoffnung«, welcher das Dokument rahmt, entgegengesetzt.96 Der noch am Anfang beinahe verzweifelt wirkende Schrei wird am Ende in einen ermutigenden und aufbauenden Schrei verwandelt, der mit Glauben und Liebe verbunden ist und dadurch an eine Veränderung und den »Sieg über das Böse« (KP 10–1), an »ein neues Land« (KP 10–1) und an »neue Menschen« (KP 10–1), welche im Geist der Liebe miteinander verbunden sind, glauben lassen soll.97 93 »Kairos« bezieht sich auf einen biblischen Begriff, welchem Naim Ateek vier verschiedene Explikationen zuordnet: 1. Kairos umfasst jeden Moment der göttlichen Realität und des allgegenwärtigen Reiches Gottes. 2. Kairos bezeichnet einen bestimmten Moment in der Geschichte, wenn eine alte Welt stirbt und ein neues Zeitalter geboren wird. 3. KairosMomente übersteigen die Zeit (Chronos), bewegen die Emotionen und die erlebten Realitäten, sodass bestimmte Aktionen folgen. 4. Kairos ist eine göttliche Möglichkeit – unabhängig von einer bestimmten (Jahres-)Zeit oder einem Moment – welche man annehmen und nicht verpassen sollte. Vgl. Naim Stifan Ateek: The Concept of Kairos. A Biblical-Theological Approach, in: Kairos for Global Justice. Preface by Patriarch Emeritus Michel Sabbah, Bethlehem 2011, (9–12) 10–11, verfügbar unter: https://www.kairospalestine.ps/sites/default/ files/Kairos for Global Justice.pdf [30. 12. 2020] (Hervorhebungen durch L. Wonnerth-Stiller). 94 Mark Braverman: What is a Kairos Document?, in: Kairos for Global Justice (s. Anm. 93), (24– 30) 24. 95 In dem Dokument findet sich die Überzeugung, dass die Wahrheit schließlich Gott selbst und gleichzeitig in jedem einzelnen gottebenbildlichen Geschöpf bruchstückhaft vorhanden sei. Jedes einzelne Ereignis trägt Wahrheit in sich, d. h. Gott wird in den Entwürfen von Sabbah nicht als deus absconditus, sondern als deus revelatus verstanden. Vgl. Kairos for Global Justice (s. Anm. 93), 6. 96 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91), Vorwort. 97 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91).

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Die Gemeinschaft jener »neuen Menschen« könne allerdings bereits gegenwärtig im interreligiösen Dialog erfahren werden. Interreligiöser Dialog wird hierbei als »Türöffner« für eine neue, gemeinsame Zukunft verstanden. Grundlage des interreligiösen Dialoges (KP 3–3–2)98 zwischen den im KairosPalästina Dokument präponierten abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – ist wiederum die Offenbarung Gottes in seinen Geschöpfen und die damit verbundene Gottebenbildlichkeit (KP 2–2–1),99 welche jede Begegnung zwischen Individuen präge.100 Begegnungen und Gemeinschaft seien demnach ein Weg zur Versöhnung und fundamental für die Beendigung von Ungerechtigkeit (KP 3–4–3).101 Ungerechtigkeit könne weiters nur gemeinschaftlich, u. a. durch kreativen Widerstand, überwunden werden. Kreativer Widerstand meint gewaltfreien Widerstand als Zeichen des prophetisch verstandenen Protestes, mit welchem eine neue Hoffnung auf eine gemeinsame und politisch eigenverantwortlich gestaltbare Zukunft von den Autor*innen des Dokumentes verbunden wird (KP 3–4–1).102 Eine Form des gewaltfreien Widerstandes, welche im Kairos-Palästina Dokument genannt wird, stelle die BDS-Bewegung (KP 4–2–6; 6–3; 7–1)103 dar – »Boykott, Divestment, Sanctions« (BDS). Diese international wirkende Kampagne, welche von palästinensischen Nichtregierungsorganisationen im Jahr 2005 initiiert wurde, verfolgt nach eigener Darstellung das Ziel, den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell, akademisch und politisch zu isolieren. Auf diese Weise könne die »Besetzung und Besiedlung allen arabischen Landes« beendet und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 in ihre Heimat, einschließlich der über sieben Millionen Nachkommen, erreicht werden.104 Jene Forderungen stoßen im deutschsprachigen Raum bisweilen auf heftige Kritik und Ablehnung, u. a. weil der Boykottaufruf mit dem Kaufverbot jüdischer Produkte während der Zeit des Nationalsozialismus verglichen wird. Auf etwaige Vorwürfe reagierten die Autor*innen von Kairos-Palästina in weiteren 98 Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91). 99 Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91). 100 Dies widerspiegelt die Sichtweise des libanesischen, griechisch-orthodoxen Erzbischofs von Byblos und Botrys Georges Khodr (1923*), nach welchem interreligiöser Dialog im Nahen Osten durch das Wirken des Heiligen Geistes in Gottes Geschöpfen bestimmt werde. Khodr hebt demnach die Begegnung mit dem nichtchristlichen Nächsten, dem »Anderen«, als pastorale Aufgabe hervor. Es gehe darum, im Anderen »den anderen in Christus« und das Ebenbild Gottes zu sehen – den anderen als Gottes Geschöpf zu erkennen. Vgl. Georges Khodr: Das Christentum in einer pluralistischen Welt – das Werk des Heiligen Geistes, in: US 26 (1971), (186–194) 192. 101 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91). 102 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91). 103 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91). 104 Zur BDS-Bewegung, ihren Konzepten und ihrer Agenda siehe BDS – Freedom, Justice, Equality, verfügbar unter: https://bdsmovement.net [10. 01. 2018].

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Stellungnahmen erklärend. Es ginge nicht darum, israelische Produkte als jüdische Produkte zu boykottieren, sondern darum, auf die Konsumation israelischer Produkte, welche in besetzten Gebieten, d. h. auf illegalem Siedlungsgebiet produziert wurden, zu verzichten:105 It [BDS] is not about delegitimising Israel, as we want to live side by side with Israel in peace and security, but it is about delegitimising the military occupation. We call upon Jews and Israelis to work together to end occupation and to establish justice in this land.106

BDS stellt als Form des gewaltfreien Widerstandes demnach die nach der Meinung der Verfasser*innen von Kairos-Palästina effektivste Methode dar,107 um auch außerhalb Israels/Palästinas Solidarität mit den Palästinenser*innen auf politischer bzw. wirtschaftlicher Ebene zu bekunden (KP 4–2–6; 6–3; 7–1). Auf diese Art und Weise könne ein Zeichen des Protestes gegen die repressive israelische Politik gesetzt werden. Diese Form des Widerstandes habe wiederum nichts mit Antisemitismus oder Antijudaismus zu tun, sondern stelle den Versuch eines aktiven sowie friedlichen Widerstands dar (KP 1–4; 1–5; 3–2; 5–3).108 Gerade die BDS-Kampagne zeigt allerdings, dass konkrete BDS-Protestaktionen Palästinenser*innen selbst mitunter schaden können, anstatt die versprochene weitreichende Wirkung auf Politik und Gesellschaft zu erzielen. So konnte die vermeintlich erfolgreiche Boykott-Kampagne der BDS-Bewegung gegen SodaStream zwar bewirken, dass sich die SodaStream-Firma in Maale Adumim im Westjordanland gezwungen sah, ins Kernland Israels umzuziehen. Dadurch verloren jedoch etwa 500 palästinensische Angestellte ihren Arbeitsplatz, da ihre Arbeitsgenehmigungen auf israelischem Gebiet nicht verlängert 105 Die Kirche von Schweden greift jenes Bemühen palästinensischer Theolog*innen insofern auf, als dass sie sich deutlich von einem generellen Boykott israelischer Produkte abgrenzt und die Bedeutung von Kairos-Palästina als Brücke zwischen der BDS-Bewegung und internationalen Friedensbemühungen hervorhebt. Vgl. Anna Karin Hammar: The Road towards a Just Peace? A Letter from Kairos Sweden, Dagen 2016, verfügbar unter: https:// www.kairospalestine.ps/index.php/kairos-news/just-peace-kairos-sweden [30. 12. 2020]. 106 Khader: Christian Jewish Dialogue (s. Anm. 37), 178; siehe auch Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91), 5–4–2. 107 Es darf allerdings nicht unterschätzt werden, dass ein erfolgreicher Boykott von Produkten aus der Westbank – mit dem Ziel, dass sich israelische Firmen von dort zurückziehen – auch die Einkommen von 96.000 palästinensischen Angestellten dieser Firmen trifft. In einer Studie über die Kampagne im Jahr 2015 kommt die Friedrich-Naumann-Stiftung »Boykott des Friedens: Die BDS-Bewegung und der Westen« zu dem Ergebnis, dass Boykottmaßnahmen, die gegen einen demokratischen Staat mit marktwirtschaftlicher Grundlage gerichtet werden, nicht »die Wirtschaft« treffen, sondern einzelne Unternehmen und private Haushalte. Siehe Walter Klitz/Nicolas Klein-Zirbes: Boykott des Friedens. Die BDS-Bewegung und der Westen (Hintergrund: Israel & Palästinensische Autonomiegebiete 61), Potsdam 2015, 13. 108 Vgl. Kairos Palestine, A Moment of Truth: Ein Wort des Glaubens (s. Anm. 91), 6, 7, 11, 18.

Palästinensische Theologie als Streitkultur

365

werden konnten.109 Allein dieses Beispiel deckt die Kontroversität und Komplexität möglicher Folgen von etwaiger Boykott- und Protestmaßnahmen auf. Der im Dokument hervorgehobene Aufruf zum Widerstand kann allerdings meines Erachtens nach trotzdem als friedlich gemeinter Versuch einer christlichen Minderheit verstanden werden, welche in ihrer Situation nicht die Hoffnung aufgeben will und Wege aus der Resignation sucht. Diese friedliche Intention und dem Dokument grundlegende nach Versöhnung suchende Motivation der Verfasser*innen wurde von zahlreichen Kirchengemeinschaften wahrgenommen und auch in Rezensionen über Kairos-Palästina wertgeschätzt. Wenngleich sich die Verfasser*innen der Erklärung von der EKD »Die Stunde der Wahrheit (Kairos Palästina)« der Evangelischen Mittelost-Kommission (EMOK) (22. April 2010)110 dem Boykottaufruf gegenüber kritisch äußern, werden die Anliegen der Autor*innen von Kairos-Palästina ernstgenommen und »die Versöhnungsbereitschaft, de[r] Wille[] zur Gewaltfreiheit und de[r] theologisch in der Liebe begründete[] Verzicht auf jede Form von Rache (4.2.6) und Vergeltung, zu denen sich der Aufruf bekennt«,111 gewürdigt. Der Evangelische Oberkirchenrat A.u.H.B. in Österreich positionierte sich ebenso und veröffentlichte am 8. Juni 2010 das Positionspapier »Die Stunde der Wahrheit«, in welchem auf das Anliegen der Verfasser*innen von Kairos-Palästina wie folgt eingegangen wurde: Wir haben Ihren Ruf vernommen und sind bewegt von Ihrem Appell für Frieden und Versöhnung. […] Wir wollen dafür sorgen, dass Ihr Ruf auch in unserem Land nicht ungehört verhallt und Ihre mutige kraftvolle Stimme der Gerechtigkeit auch in unserer Kirche und unseren Gemeinden Gehör findet, auch wenn wir nicht mit allen Aussagen in Ihrem Dokument übereinstimmen und uns auch nicht allen Forderungen anschließen können. So halten wir dieses Dokument für eine Herausforderung auch für unsere Kirche, das Leid, die Not, aber auch die nicht zerstörbare Hoffnung und die ausgestreckte Hand wahrzunehmen und sich mit Ihrer Geschichte, Ihrer bedrückenden Lage, aber auch mit Ihrer Theologie stärker als bisher auseinanderzusetzen. Wir wünschen Ihnen Frieden, nicht nur als Gruß, sondern als Ausdruck davon, dass der

109 Gil Yaron: Wie ein Sodahersteller Frieden zwischen Juden und Arabern fördert, 2019, verfügbar unter https://www.welt.de/wirtschaft/article194676273/Sodastream-Wo-Juden-undAraber-friedlich-zusammenarbeiten.html [04. 01. 2020]. 110 EKD/EMOK: Die Stunde der Wahrheit (Kairos Palästina). Stellungnahme der Kirchenkonferenz der EKD und des Exekutivausschusses der EMOK, 2010/2011, verfügbar unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/EMOK-Stellungnahme Die Stunde der Wahrheit.pdf [04. 01. 2020]. 111 EKD/EMOK: Die Stunde der Wahrheit (Kairos Palästina). Stellungnahme der Kirchenkonferenz der EKD und des Exekutivausschusses der EMOK, 2010/2011, verfügbar unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/EMOK-Stellungnahme Die Stunde der Wahrheit.pdf [04. 01. 2020].

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Friede Gottes in dem Land endlich realisiert wird, in dem Christus zur Welt gekommen ist und in dem Ihre Kirchen bis heute den lebendigen christlichen Glauben leben.112

Des Weiteren schilderte die in Wien lebende palästinensische Theologin Viola Raheb (1969*) in einem Interview am Nahost-Studientag der Kirchen A.u.H.B. in Österreich (Juni 2012), dass die Verfasser*innen mit dem Aufruf nach dem Ende der Besatzung »nichts anderes als Gerechtigkeit« fordern, und erinnerte somit daran, dass das Dokument kein politisches Papier sei, sondern in narrativer Weise die Sicht der Palästinenser*innen wiedergebe.113 Neben diesen Rezensionsbeispielen zeigen weitere Stellungnahmen zum Kairos-Palästina Dokument allerdings deutlich, dass der kontextuelle Graben zwischen den Deutungswirklichkeiten verschiedener Theologien häufig zum bibelhermeneutischen Streit führen kann, wie die Debatten um den im Dokument verlautbarten Boykottaufruf auf illegalem israelischem Siedlungsgebiet verdeutlichen. Dennoch kann es trotz jener und weiterer theologischer Kontroversen im Zusammentreffen zwischen den verschiedenen, teilweise theologisch konträren und konfligierenden, narrativ und kollektiv diversen, kontextuellen Theologien zumindest um einen Austausch zwischen verschiedenen theologischen Wahrheiten gehen, sodass die je eigene Wahrheit neu reflektiert und dadurch erweitert wird. Trotz der theologischen Streitthemen zwischen westlichen Theologien und palästinensischen Theologien möchte ich daher abschließend auf mögliche, für beide kontextuelle Theologien gewinnbringende Erkenntnisse meiner bisherigen Forschungsarbeit als Ausblick zum Weiterdenken eingehen.

7

Ausblick zum Weiterdenken – Dialog zwischen verschiedenen kontextuellen Theologien

Die Beschäftigung mit palästinensischer Theologie als kontextueller Theologie kann meines Erachtens nach einen Anhaltspunkt für einen kritischen Blick auf die eigene Kontextgebundenheit westlicher Theologien bieten. Durch ein Verwobensein und Zusammenspiel von gegenwartsrelevanten Fragen und dem Versuch, bibelhermeneutische Antworten darauf zu finden, verweist palästi-

112 Evangelischer Oberkirchenrat A.u.H.B. in Österreich: Stellungnahme des Evangelischen Oberkirchenrates A.u.H.B. in Österreich zum Kairos Palästina Dokument »Die Stunde der Wahrheit«, 2010, verfügbar unter: https://evang.at/wp-content/uploads/2015/07/100608_ok r_a_moment_of_truth_01.pdf [04. 01. 2020]. 113 Vgl. Evangelische Kirche in Österreich: Nahost-Studientag beschäftigte sich mit Israel/Palästina. Im Mittelpunkt stand das Kairos-Palästina-Dokument von 2009, 2012, verfügbar unter: https://evang.at/nahost-studientag-beschaeftigte-sich-mit-israelpalaestina [04. 01. 2020].

Palästinensische Theologie als Streitkultur

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nensische Theologie auf die Kontextualität theologischen Denkens und Handelns insgesamt. Theologie kann per se nur kontextuell betrieben werden und ist an eine bestimmte soziopolitische, ökonomische und gesellschaftlich bestimmte Zeit (kairos) gebunden. Darüber hinaus stehen die jeweiligen kontextuellen Deutungszusammenhänge sowie das individuelle, biografisch eingebundene Verständnis über biblische Texte unweigerlich im Vordergrund der jeweiligen Bibelhermeneutik. Daher muss nicht nur der subjektive, hermeneutische Zugang zu einem biblischen Text im Allgemeinen, sondern auch die hermeneutische Kontextualität des/der Rezipient*in reflektiert und v. a. im Dialog zwischen verschiedenen theologischen Wahrheitsmodellen mitbedacht werden. Der bibelhermeneutische Dialog zwischen kontextuell unterschiedlichen und dadurch streitbaren Theologien, welcher einen innerbiblischen Diskurs von Theolog*innen mit ihrem Glaubensverständnis und ihrem Kontext fortsetzt, kann weiters nur als Gewinn für das je eigene theologische Profil gesehen werden. Da palästinensische Theologie als streitbare Theologie zur Auseinandersetzung mit dem eigenen, westlich geprägten Theologieverständnis sowie mit den etwaigen konträren theologischen Verständnissen herausfordert, gewinnt palästinensische Theologie nach Michael Rohde schließlich »heuristischen Wert für die Wesensbestimmung von Theologie überhaupt«.114 Palästinensische Theologie kann daher als Aufruf gelesen werden, die theologischen Scheuklappen für ein differenziertes kontextuelles Verständnis zu öffnen. Festgefahrene Glaubenswahrheiten können schließlich im Dialog, in welchem bisweilen im Streit um die bleibende Geltung des religiösen Glaubensverständnisses gerungen wird, ad infinitum hinterfragt werden. Der theologische Streit zwischen den verschiedenen kontextuellen Hermeneutiken weicht daher festgefahrene Deutungs- und Denkschemata auf und regt zur Reflektion mit eigenen Wahrheitsmodellen sowie persönlicher Glaubensgewissheit an. Jenes Ringen im theologischen Streit lohnt sich, denn nur wenn jener Streit der kontextuellen Theologien nicht vermieden wird, kann das jeweilige hermeneutische Verständnis reifen und der theologische Denkhorizont erweitert werden.

114 Rohde: Die kontextuelle Theologie (s. Anm. 60), 606.

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Christian Danz, Jahrgang 1962, Professor für Systematische Theologie A.B. am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Michaela Durst, Jahrgang 1987, Assistentin am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Stefan Fischer, Jahrgang 1966, Lehrbeauftragter für Altes Testament am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Research Associate der University of the Free State in Bloemfontein, Südafrika, sowie Pfarrer der Evang.ref. Kirche Basel-Stadt, Schweiz Dr. Hans Förster, Jahrgang 1969, Privatdozent für Neues Testament am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Projektleiter (FWF-Projekt P29315) des Österreichischen Archäologischen Instituts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Dr. Michael Hackl, Jahrgang 1983, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften Dr. Uta Heil, Jahrgang 1966, Professorin für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. DDr. h.c. Ulrich H. J. Körtner, Jahrgang 1957, Professor für Systematische Theologie am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Dr. habil. Dr. h.c. Rainer Lachmann, Jahrgang 1940, Professor em. für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Evangelisch-Theologischen Institut der Fakultät Pädagogik/Philosophie/Psychologie der Universität Bamberg Dr. Magdalena Lass, Jahrgang 1985, Assistenz-Professorin für Alttestamentliche Bibelwissenschaft am Institut für Bibelwissenschaft des Alten und Neuen Testaments der Katholischen Privatuniversität Linz Dr. Bernhard Lauxmann, Jahrgang 1989, Assistent am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Robert Schelander, Jahrgang 1960, Professor für Religionspädagogik am Institut für Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Dr. phil. h.c. Karl W. Schwarz, Jahrgang 1952, Titularprofessor für Religionsrecht an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Ministerialrat im Kultusamt Wien Dr. Angela Standhartinger, Jahrgang 1964, Professorin für Neues Testament des Evangelisch-Theologischen Fachbereichs der Philipps-Universität Marburg Dr. Manuel Stetter, Jahrgang 1981, Landeskirchlicher Assistent am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Seelsorgelehre und Pastoraltheologie der Evang.-Theol. Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen Mag.a Livia Wonnerth-Stiller, Jahrgang 1989, Doktorandin im Bereich Systematischer Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und derzeit (2020/1) Vikarin in der Christuskirche in Wien-Favoriten

Bibelstellenregister

Altes Testament Gen 1 61 Gen 2,8 13 Gen 2,21–25 55 Gen 4,2 313 Gen 5,24 313 Gen 6,6 28 Gen 6,8 313 Gen 9,3–6 85 Gen 13,7–8 41 Gen 14,18 85 Gen 15,6 313 Gen 17,10–12 85 Gen 18,20 85 Gen 21,20–21 15 Gen 22,1–2 28 Gen 22,1–19 20 Gen 22,10 313 Gen 26,30 85 Gen 27,41 313 Gen 31,26.44 41 Gen 37–50 87 Gen 37,25 87 Gen 40,20 87 Gen 40,20–21 87 Gen 41,25–36 313 Gen 41,45.50 88 Gen 42,36 56f. Gen 43,14 56f. Gen 43,31–34 87 Gen 43,32 87, 89 Gen 43,34 87 Gen 46,20 88 Gen 50,10 15

Ex 14,19 43 Ex 21,18 41 Ex 23,19 85 Ex 28,12.29 56 Ex 34,14–15 85 Lev 11 85 Lev 11,2–23 85 Lev 20,24–26 84 Num 3,32 313 Num 11,12 56 Num 22,22.32 13 Num 25,2–3 85 Dtn 6,5 108 Dtn 13,7 56 Dtn 14 85 Dtn 14,4–20 85 Dtn 32,25 55 Ri 11,25 41 Ri 12,2 41 Rut 4,16 56 1 Sam 7,10 313 1 Sam 15,33 55 1 Sam 15,35 28 2 Sam 12,3 56 2 Sam 12,13–25 45 2 Sam 17,8 55 2 Sam 19,1–5 45 2 Sam 22 32 1 Kön 3,8 77 1 Kön 3,16–27 77 1 Kön 3,20 56 1 Kön 3,28 77 1 Kön 11,23 13 1 Kön 17,6 17

372 1 Kön 17,12 38 1 Kön 17,19 56 1 Kön 22,27 17 Est 2,9 85 Est 5,4–8 85 Est 7,1–6 85 Hiob 1–42 11–29 Hiob 1–2 13f., 27f. Hiob 2,11–13 11, 15 Hiob 3 12, 16–18, 24 Hiob 4–27 18–24 Hiob 16,9 46 Hiob 19,27 56 Hiob 29–31 16–18, 24 Hiob 30,3 342 Hiob 30,14 342 Hiob 30,28 57 Hiob 38–42 24–28 Hiob 38,27 342 Hiob 42,7–9 15 Ps 1,4 43 Ps 5 32 Ps 5,13 41 Ps 6,10 42 Ps 7,11 41 Ps 8 20 Ps 13 19 Ps 18 32 Ps 18,43 58 Ps 22 19 Ps 22,10–11 56 Ps 28 19 Ps 31 19 Ps 33,6 61 Ps 35 7, 19, 31–62 Ps 35,2 39, 40f., 44 Ps 35,8 342 Ps 38,7 57 Ps 39 19 Ps 40,15 42 Ps 51,10 55 Ps 53,5 42 Ps 57,3 42 Ps 63,10 342 Ps 70,2 42 Ps 71 19

Bibelstellenregister

Ps 71,13 48 Ps 71,13.24 42 Ps 74,11 56 Ps 78,66 42 Ps 79,12 56 Ps 83,14 58 Ps 83,16–17 42 Ps 89,51 56 Ps 91,4 41 Ps 104,15 18 Ps 106,28 85f. Ps 106,45 28 Ps 109,28–29 42 Ps 109,29 48 Ps 132,18 48 Ps 137 33 Ps 143 19 Spr 6,13 46 Spr 10,10 46 Spr 17,12 55 Spr 26,27 43 Koh 7,9 56 Hld 4,2 55 Hld 7,1 13 Jes 2,2–5 358 Jes 6,11 342 Jes 10,3 342 Jes 17,13 43 Jes 29,5 43 Jes 45,15 168 Jes 47,8–9 55 Jes 66,14 55 Jer 12,9 46 Jer 12,16 358 Jer 32,18 56 Jer 50,9 55 Klgl 1,20 55 Klgl 2,16 54 Ez 4,12 38 Ez 5,17 55 Ez 12,18–19 17 Ez 14,14.20 17 Dan 1,5 85 Dan 1,8 86 Dan 1,12 85 Dan 1,16 85

373

Bibelstellenregister

Dan 3,1–27 303, 313 Hos 13,8 55 Nah 2,8 44 Zef 1,15 342 Sach 3,1.2 13 Apokryphen und Pseudepigraphen Tob 1,12–13 86 Tob 4,17 86 Jdt 10,5 87 Jdt 12,1–4 87 Est 4,17.24 LXX (C 28) 85 1 Makk 1,35–63 86 1 Makk 1,47.62 11 1 Makk 1,62–63 86 2 Makk 6–7 86 2 Makk 6,18–31 313 2 Makk 6,21 86 3 Makk 3,2–7 88 3 Makk 6,30–36 88 Sir 30,17 86 Neues Testament Mt 1,5–6 359 Mt 12,14 par. 68 Mt 19,29 299 Mt 22,15 73 Mt 22,18 72 Mt 22,21 109 Mt 27,34 311 Mk 3,18 104 Mk 9,5 77 Mk 12 357 Mk 12,13 63 Lk 2,41–47 113 Lk 15,1–7 68 Lk 20,1–8 79 Lk 20,5–6 74 Lk 20,6 76 Lk 20,7 74 Lk 20,9–20 79 Lk 20,19 76 Lk 20,19b 79 Lk 20,20 73 Lk 20,23 63, 72, 75 Lk 20,26 76, 78

Lk 20,36 78 Lk 22,52 78 Joh 1,43–46 104 Joh 4,14 309 Joh 4,22 357 Joh 6,27.33 303 Joh 8,44 307 Joh 15,13 126 Joh 21,17 126 Apg 1,14 94 Apg 2,1 94 Apg 2,41 104 Apg 2,46 94 Apg 4,4 104 Apg 4,24 94 Apg 5,12 94 Apg 6,5 104 Apg 7,57 94 Apg 8,4–25 81 Apg 8,4–40 104 Apg 8,6 94 Apg 14,11–12 307 Apg 15,2 94 Apg 15,2.7 94 Apg 15,3 94 Apg 15,6 94 Apg 15,7 94 Apg 15,7–11 94 Apg 15,12 94 Apg 15,12.22 94 Apg 15,13–21 94 Apg 15,25 94 Apg 17,15–34 104 Apg 18,12 94 Apg 19,29 94 Apg 20,18 84 Apg 21,8–9 104 Röm 9–11 357 Röm 9,3 122 Röm 14 81 Röm 14,1–15,13 91 Röm 14,2–7 91 Röm 14,14–17 91 Röm 15,6 94 Röm 16,7 66 1 Kor 1,10–13 82

374 1 Kor 1,18–19 109 1 Kor 1,27 307 1 Kor 2,6 301 1 Kor 3,10 307 1 Kor 5,1–13 91 1 Kor 8,1–11,1 91 1 Kor 10,3 303 1 Kor 10,21 91 1 Kor 10,21–30 91 1 Kor 10,25–30 91 1 Kor 11,27–34 91 1 Kor 15,55 309 2 Kor 11,13 82 Gal 2 83 Gal 2,11–14 83f., 125 Gal 2,11–15 81 Gal 2,11–21 91 Gal 2,12 84 Gal 2,14 82

Bibelstellenregister

Gal 2,15 84 Eph 1,18 311 Eph 6,10–17 299 Eph 6,12 134 Eph 6,12–13 134 Phil 3,18 82 1 Tim 6,4 94f. 1 Tim 6,5 95 1 Tim 6,20 82 2 Tim 2,14 95 2 Tim 2,23 94 Tit 3,2 95 Tit 3,9 94f. Hebr 4,12 61 Hebr 13,17 129 Jak 5,11 17 1 Petr 3,4 311 1 Petr 3,15 131 1 Petr 4,13 317

Namensregister

Abel 313 Abimelech 85 Abraham 15, 28, 85–86, 313 Acacius, Confessor 110 Adam, Karl 320 Adamo, David Tuesday 33–34, 41, 61 Ailianos 96 Aland, Barbara 66, 72 Aland, Kurt 66, 72, 324 Albrecht, Christian 203 Allen, Pauline 119, 129–130 Alswede, Hans Theodor 332 Alt, Albrecht 320 Amsler, Frédéric 104–105 Andrist, Patrick 97 Anselm, Reiner 197, 202–203, 211, 233 Antonius (Mönch) 93, 110–111 Antoninus Pius 294, 299 Aphthonius 96 Arcadius 112 Aristarchos 105 Arnhold, Oliver 323–324, 327–328, 331 Aseneth 88–89, 92 Asmuth, Bernhard 190 Ateek, Naim Stifan 343–344, 346, 348–349, 351, 358, 362 Athanasius von Alexandrien 110, 113 Athanasius von Klysma 93, 108–109 Augustinus 7, 96–97, 103, 115, 120, 125, 131 Auracherin, Ursula 292 Bacchus (Märtyrer) 108 Bachmann, Arne-Florian 214

Baldermann, Ingo 257 Ballhorn, Egbert 39, 42–43 Barnabas 83–84, 94 Barré, Michael 38, 57 Barrett, Charles K. 64 Barth, Karl 139–140, 149, 151, 153, 155, 157, 159–163, 167, 213, 245, 259 Barth, Ulrich 176 Basilides (Märtyrer) 294, 296 Basilius von Ankyra 96 Basilius von Cäsarea 96–97 Basilius 120–122, 124–127, 136 Basson, Alec 40–42, 44–46, 48, 53 Bauer, Karl 282–283, 284 Bauer, Thomas 196, 236 Bauer, Walter 66, 72, 82 Bauks, Michaela 25 Baumeister, Theofried 292 Baumgärtel, Friedrich 320 Baur, Ferdinand Christian 81–82 Baus, Karl 292 Bayer, Oswald 155–156 Bechmann, Ulrike 345, 347, 350, 354 Bechtel, Lyn 42 Beck, Ulrich 182 Becker, Eve-Marie 152 Becker, Hildegard 343, 357 Beckmann, Hans-Karl 249 Beda Venerabilis 295 Beintker, Michael 202, 216 Berg, Stefan 28 Berger, Peter L. 185, 195 Bergjan, Silke-Petra 128, 130 Bernhardt, Rainer 90

376 Beryll von Bostra 98 Beth, Karl 328 Beyer, Otto Wilhelm 284 Beyer, Peter 220 Bildad 15, 23 Blass, Friedrich 64 Blumenberg, Hans 167 Bobies, Franz 284, 286 Bockwoldt, Gerd 242 Bohr, Niels 174–175 Boldt, Thea D. 182, 185–186 Bongardt, Michael 179 Bormann, Lukas 69, 71, 329 Bouriant, Urbain 294 Brändl, Martin 128 Brändle, Rudolf 119 Braverman, Mark 362 Bredt, Friederike 343 Brekelmans, Antonius J. 292 Breuer, Johannes 131 Brückner, Theresa 224 Brunner, Emil 8, 155, 157–163, 165–166, 320 Brunner, Sebastian 278 Bubner, Rüdiger 191 Budge, Ernest Alfred Wallis 293–294 Bultmann, Rudolf 6, 8, 149, 152–153, 155, 163–166, 176, 249, 259–261 Bunzel, Marlen 24 Bürckel, Josef 326 Büttner, Christine 223 Calvin, Johannes 160 Cameron, Averil 116, 124 Campbell, Heidi A. 205 Candidus 98 Canella, Tessa 106–107 Casanova, José 221 Casper, Josef 334–335 Cassirer, Ernst 6, 8, 169–180 Cedrenus, Georg 106 Celsus 93 Chacour, Elias 346 Charim, Isolde 184 Christian, Viktor 330 Christides, Vassilios 108

Namensregister

Claussen, Johann Hinrich 215 Clayton, Philip 210, 236 Clemens (Apostelschüler) 101 Clines, David 17, 26 Coelestinus von Rom 294 Cohen, Jeremy 107 Cohen, Shaye D. 84 Combefis, François 106 Corona (Märtyrerin) 6, 8, 291–297, 299, 301, 303, 305, 307, 309, 311, 313, 315, 317 Craigie, Peter C. 37 Craton (Philosoph) 107 Crescens 96 Cyrill von Alexandrien 113–114 Cyrill von Jerusalem 103 Dahood, Mitchell 37 Dalferth, Ingolf U. 149, 151 Damböck, Stefan 207 Daniel 80, 85–87, 89, 312–313 Danz, Christian 5, 7, 139–140, 142, 144, 146, 148, 150–152, 154, 176, 179, 369 David 37, 45, 312–313, 354 Davies, Philip 351 de Waard, Jan 65 Debrunner, Albert 64, 320 Decius (Kaiser) 110 Deckert, Josef 278 Dedic, Paul 325 Delehaye, Hippolyte 110, 294–295 Dell, Katherine J. 20 Descartes, René 170 Deschner, Karlheinz 93 Dibelius, Martin 320 Dienberg, Thomas 235 Diesterweg, Friedrich A. W. 241 Dietrich, Jan 52 Dillon, John M. 104 Diodor Siculus 87 Dionys von Alexandrien 98–100, 113, 116 Dirac, Paul Adrian Maurice 174 Dittes, Friedrich 273, 278–279, 281, 283, 286 Dörken-Kucharz, Thomas 223 Dorrien, Garry 177, 180 Dörries, Hermann 122

Namensregister

Duabis, Cedar 361 Durst, Michaela 5, 7, 97, 119–120, 122, 124, 126, 128, 130, 132, 134, 136, 369 Ebach, Jürgen 32–33 Ebeling, Gerhard 155, 259, 261 Eco, Umberto 67–68 Eder, Hans 334, 336 Eder, Josefa 322, 334 Eder, Sigrid 32 Eisenhuth, Heinz Erich 336 Eleasar 86, 312–313 Elia 17, 130 Elifas 15, 21–23, 26, 28 Elihu 11, 15, 20–24 Ellis, Marc H. 356 Elm, Susanna 129 Engel, Gunnar 224 Engelbrecht, Helmut 275–277 Engemann, Wilfried 15, 187–188, 226 Englert, Rudolf 216 Engljähringer, Klaudia 11–12, 27 Enseling, Paul 204 Entz, Gustav 322–324, 339 Ephraim 89 Ericksen, Robert P. 66, 321, 332–333 Erkurt, Melisa 273 Esau 313 Eschner, Christina 84, 91 Esra 85 Eusebius von Cäsarea 81–82, 98, 100, 296, 317, 352 Feltoe, Charles L. 98 Fendler, Folkert 219 Feuchtwanger, Ludwig 330 Feynman, Richard P. 174 Fiedrowicz, Michael 119–122 Fischer, Johannes 144–145, 147–148, 150 Fischer, Stefan 5, 7, 11–12, 14–16, 18, 20, 22, 24, 26, 28, 369 Flavius Josephus 78, 87–88 Flesher, LeAnn Snow 42 Flügge, Erik 235 Föllinger, Sabine 124

377 Förster, Hans 5, 7, 63–64, 66, 68, 70–74, 76, 78, 80, 320, 330–331, 369 Fraas, Hans-Jürgen 239 Francis, James A. 104 Frankfurter, David 114 Franziskus (Papst) 208 Fredriksen, Paula 64, 73, 78 Fredriksson, Henning 41 Freedman, David Noel 41 Freidenreich, David M. 85–86 Friedrich, Margret 276 Fuchs, Brigitta 189, 191 Fuchs, Ernst 167 Fuchs, Martin 184–185 Fuhrmann, Wolfgang 295 Fürst, Alfons 120, 125 Gabriel, Gottfried 189 Gailus, Manfred 67, 79–80, 320–323, 327– 331 Galtier, Emile 294 Gans, Eduard 171 Gardner, Iain 112 Gebhardt, Winfried 218–219 Gerber, Simon 198 Gerhards, Meik 26 Gesenius, Wilhelm 24 Gillmayr-Bucher, Susanne 32 Gladkich, Anja 202 Glaise-Horstenau, Edmund 326 Glöckel, Otto 274 Goetz, Maya 223 Gogarten, Friedrich 153, 157, 163, 166 Goldhill, Simon 115 Goldingay, John 39, 44–48, 55–56, 60–61 Gräb, Wilhelm 177, 179–180, 200, 212, 219–220 Gräbe, Uwe 348–349 Graumann, Thomas 96 Gregor Thaumatorgos 96 Gregor von Nazianz 121–123, 129 Grethlein, Christian 203, 208–210, 213, 222, 233, 267 Grohmann, Marianne 33, 37, 42–46, 49, 51 Gronover, Matthias 216

378 Grözinger, Albrecht 141, 146, 181, 188, 203, 219–220 Grundmann, Walter 320, 323, 328, 331, 336 Grund-Wittenberg, Alexandra 48 Grynszpan, Herschel 331 Gschwind, Nina 25, 27 Haas, Christopher 114 Hackl, Michael 6, 8, 169–172, 174–176, 178, 180, 369 Haendler, Otto 212 Hahn, Johannes 114 Hamann, Johann Georg 158 Hammann, Konrad 163 Hammar, Anna Karin 364 Händlin, Margaretha 291 Hänel, Dagmar 199 Härle, Wilfried 142–143, 147, 149 Harmsen, Rieke C. 197, 202 Hawley, Lance R. 21–22, 28 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 170–171 Hegesipp 82 Heidegger, Martin 163, 165–166 Heil, Uta 3, 5–8, 93–98, 100, 102, 104, 106, 108, 110, 112, 114, 116, 128, 131, 134, 152, 175, 291–292, 294, 296, 298, 300, 302, 304, 306, 308, 310, 312, 314, 316, 322, 369 Heim, Karl 320 Heimbrock, Hans-Günter 214 Hein, Franziska 223 Heinonen, Reijo E. 336 Heisenberg, Werner 174, 179 Heiß, Gernot 323 Helena (Mutter Konstantins) 106–107 Hempel, Johann 19 Hengel, Martin 78 Hengstenberg, Wilhelm 292 Hennefeld, Thomas 344 Heraclides 98–99 Herbst, Michael 209–210, 233 Hermelink, Jan 187, 194 Herms, Eilert 142 Herodot 87 Heschel, Susannah 66, 328 Heyden, Katharina 116

Namensregister

Hidding, Aaltje 293, 296 Hieronymus, Sophronius Eusebius 98, 122–123, 125, 352 Highholder, Jana 197, 222–226, 228, 232– 235 Hintze, Fritz 113 Hiob 5, 7, 11–29, 312–313 Hirschauer, Stefan 185 Hirzel, Rudolf 115 Hitler, Adolf 321, 326, 328–329 Hoffmann, Manfred 115 Hoffmann, Richard A. 323, 328 Hofheinz, Marco 214 Holofernes 86–87 Honorius (Kaiser) 112 Horn, Jürgen 292 Hörsch, Daniel 205 Hose, Burkhard 208 Hösle, Vittorio 170–171 Hossfeld, Frank-Lothar 41, 56 Hübner, Johann 240 Huebenthal, Sandra 152 Hume, David 170 Hunger, Heinz 328 Hyvernat, Henri 294, 296 Illert, Martin 122–123, 135 Imbusch, Peter 35–36 Imo, Wolfgang 226 Ioannou, Theophilos 297, 299, 302–303, 312 Irai (Märtyrer) 296 Irenäus von Lyon 81–82 Isaak 20, 28, 85, 312 Jacobs, Hanna 235 Jakob (Patriarch) 56–57, 313 Jakobson, Karl 47 Jakobus 83–84, 94 Janowitz, Naomi 84 Janzen, Gerald 44–45, 55–57 Jeremias, Joachim 320 Jesaja 123, 312–313 Jesse (Vater von David) 313 Jessen, Asmus Christian 278, 281, 286

379

Namensregister

Jesus 63–64, 66–79, 91, 96, 105, 113, 147, 150–153, 156, 161, 176–177, 200, 209, 227–229, 232, 239, 255–256, 299, 313, 315, 317, 334, 344, 356–358 Jitro 85 Johannes (Apostel) 76, 81, 112, 114, 176, 330 Johannes Chrysostomos 5, 7, 97, 119–136 Johannes (Täufer) 74 Johnson, Mark 31 Jones, F. Stanley 101–102 Jordan, Hermann 115 Joseph 87–88, 92, 313 Joseph (und Aseneth) 88–90, 92 Josephus, siehe Flavius Josephus Judith 86–87, 89, 92 Julia (Manichäerin) 111–112 Julian (Kaiser) 113, 129 Julius Africanus 98 Jüngel, Eberhard 144, 149, 151, 321 Junginger, Horst 322–324, 327–333 Jungwirth, Leonhard 335 Junia(s) 66 Justin 81, 96, 116, 299 Justinian (Kaiser) 108, 112 Justus (Märtyrer) 296 Käbisch, David 198 Kabisch, Richard 243, 245 Kallinikos (Magier) 296 Kant, Immanuel 170 Karos 112 Kassis, Rifat Odeh 347, 358 Katanacho, Yohanna 359–360 Kauer, Robert 336 Kaufman, Tone Stangeland 193 Kaufmann, Günther 331 Kaufmann, Hans-Bernhard 251–252 Keil, Josef 320 Kellner, Albrecht 207 Kelly, John N.D. 119 Kephas, siehe Petrus Kerntke, Felix 214 Khader, Jamal 350–351, 354–356, 364 Khodr, Georges 363 Khoury, Geries S. 346, 348–349, 352, 354

Khoury, Rafiq 345–347, 349, 351–352, 355, 358–360 Kienpointner, Manfred 191 Kierkegaard, Søren 158, 166 King, Karen 82–83 Kinzig, Wolfram 114, 293 Kirchmeier, Bernhard 204, 208, 226 Kittel, Gerhard 6, 67–68, 71, 79–80, 319– 339 Kittel, Gisela 257 Klafki, Wolfgang 249, 253 Klein, Constantin 216 Klein-Zirbes, Nicolas 364 Klinkhammer, Gritt 183, 195 Klitz, Walter 364 Knape, Joachim 188 Knoblauch, Hubert 192, 219 Knoll, Fritz 330 Köberle, Adolf 337 Koch, Alois 128 Koch, Lutz 192 Köhler, Ludwig 12 Koll, Julia 194 Konstantin (Kaiser) 106–107, 114, 119 Kopperschmidt, Josef 190 Korneck, Eva Jenny 17, 27 Kort, Nora 361 Körting, Corinna 44 Körtner, Ulrich H. J. 6, 8, 144, 155–156, 158, 160, 162, 164, 166, 168, 369 Kötting, Bernhard 292 Kramer, Olaf 189 Kraus, Hans-Joachim 37, 44, 47 Krauss, Samuel 330 Krautheim, Frauke 119, 128 Kremsmair, Josef 326 Krötke, Wolf 167 Kuhlmann, Gerhardt 164 Küng, Hans 261 Kunstmann, Joachim 267 Kyrill von Alexandrien, siehe Cyrill Kyros (Märtyrer) 114 Kyros (Perserkönig) 168 Laag, Heinrich

292

380 Lachmann, Rainer 6, 7, 113, 237–238, 240– 242, 244, 246, 248, 250, 252, 254, 256– 258, 260, 262, 264–266, 268, 270, 272, 370 Lahey, Lawrence 96, 106 Lakoff, George 31 Lanckau, Jörg 47 Langer, Hans 322 Langer, Wolfgang 248 Lanwer, Jens Philipp 226 Lass, Magdalena 5, 7, 31–32, 34, 36, 38, 40, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 54, 56, 58, 60, 62, 370 Latour, Bruno 147 Laube, Martin 139 Lauxmann, Bernhard 6, 8, 197–198, 200, 202, 204, 206, 208, 210, 212–214, 216, 218, 220, 222, 224, 226, 228, 230, 232, 234, 236, 370 Lee, John A. L. 64 Leeb, Rudolf 328, 336, 338 Leitlein, Hannes 224 Lemhöfer, Anne 224 Leppek, Thorsten A. 212 Leuenberger, Martin 19 Leutzsch, Martin 80, 330 Levison, Wilhelm 106 Lichii, Anatoli 205 Liebeschuetz, John H.W.G. 120–122, 129– 130, 134 Liebsch, Burkhard 198 Lietzmann, Hans 324 Lieu, Samuel Nan-Chiang 112 Lim, Richard 115 Lindemann, Gerhard 328 Lindström, Frederik 19–20 Liptak, Heinrich 322 Littmann, Enno 320 Lochbrunner, Manfred 120, 122–123, 134 Lodberg, Peter 343–344 Lohff, Wenzel 261 Löhr, Alfred 294 Luckmann, Thomas 215–217 Lueger, Karl 278–279 Luhmann, Niklas 221 Lukas 176 Luther, Martin 65, 68, 162, 164–165, 168, 239–240, 242, 328

Namensregister

Maat, William A. 129 Macarius (Märtyrer) 296 Malchion 100 Malingrey, Anne-Marie 120–124 Manasse 89, 313 Marcianus (Konsul) 110, 297 Marcus Diaconus 93, 111–112 Maria 94 Markus 176 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 346, 350 Martin von Tours 295 Mason, Steve 84 Matthäus 176 May, Gerhard 322, 325, 333–338 Mayer, Wendy 119, 129–130 Meier, Kurt 326 Meiser, Hans 334 Melchisedek 85 Menas (Märtyrer) 295 Mephisto 13 Merle, Kristin 186, 192–193 Metz, Johann Baptist 254, 343 Meuffels, Otmar 207 Meyer zum Felde, Nina 12, 24 Meyer-Erlach, Wolf 336 Meyers, Robin R. 187 Milgrom, Jeremy 356 Moll, Friedrich H. 292 Moltmann, Jürgen 157–158, 254, 259 Montanari, Franco 70, 75 Morariu-Andriewicz, Sylvester 284 Morenz, Siegfried 113 Morgenstern, Matthias 67, 320, 322–323, 334 Müller, Kathrin 54 Münz, Christoph 342 Murken, Sebastian 222 Mussinghoff, Heinrich 352 Nassehi, Armin 187, 206 Nebukadnezar 313 Nehemia 85 Neiman, Susan 213–214 Neuber, Carolin 59 Neumaier, Anna 183, 195 Nida, Eugene A. 65

381

Namensregister

Niebergall, Friedrich 243–246 Niehues-Pröbstin, Heinrich 131 Nipkow, Karl Ernst 250 Nirenberg, David 107 Nõmmik, Urmas 21 Nordholt, Friederike 235 Nordholt, Svenja 235 Obermann, Andreas 216 Oeming, Manfred 13, 39, 44–45, 56 Oesterreich, Peter 189 Opitz, Hans Georg 323–325, 328 Orestes (Märtyrer) 295 Origenes 93, 96, 98–99, 120, 125 Orth, Ernst Wolfgang 173 Otto, Gert 249, 251–252, 254, 258 Palestine, Kairos 358, 361–364 Palmer, Christian 242 Pannenberg, Wolfhart 142, 147, 212, 259 Pariser, Eli 217 Pascal, Blaise 158 Pascentius 97 Paulus (Apostel) 82–84, 91–92, 94, 104, 109, 113, 125, 128, 131, 307 Paulus von Samosata 100 Pentephres 88–89 Perelman, Chaim 192 Pergerin, Magdalena 292 Petrus (Kephas) 83, 84, 94, 101, 103–104, 125–126, 311 Petrus Mongos 114 Peuerlin, Dorothea 292 Philippus 94, 104, 106 Philo von Alexandrien 87, 90 Philostorgius 96 Photina (Märtyrerin) 296, 303 Photis (Märtyrerin) 296 Pichol 85 Pickel, Gert 200, 202 Pielenz, Michael 192 Pieper, Annemarie 212 Pink, Johanna 220–221 Pircher, Josef 281, 285–286 Pirker, Viera 223 Pister, Thomas 216

Platon 113, 115, 125, 129, 158, 178 Pleizier, Theo 193 Pohlkamp, Wilhelm 106 Pollack, Detlef 200, 202, 219 Popitz, Heinrich 36 Poplutz, Uta 128 Pörksen, Bernhard 213–214 Porphyrius von Gaza 93, 111–112 Posch, Waltraud 219 Potamiaina (Märtyrerin) 296 Pratscher, Wilhelm 84 Preindl, Johann 325 Prinsloo, Gert 32 Prochorus 112 Ptolemäus (Herrscher Ägyptens) 88–89 Quiroga Puertas, Alberto J.

124, 127

Raatz, Georg 200 Radtke, Ellen 224 Radtke, Stefanie 224 Raheb, Mitri 343–345, 347, 349–350, 352, 353, 355–359, 361, 366 Raheb, Viola 342 Ramantswana, Hulisani 33 Ramseger, Ingeborg 292 Rapp, Claudia 120–122, 130 Rathkolb, Oliver 326 Reckwitz, Andreas 183, 195, 213, 217, 220– 221, 236 Reingrabner, Gustav 277–278, 324, 334– 335 Reinhardt-Becker, Elke 16 Reuter, Hans-Richard 203, 228 Richter, Cornelia 179 Rickert, Heinrich 173 Riede, Peter 43, 46 Rigolio, Alberto 97–98, 106 Ringgren, Helmer 41 Robinsohn, Saul B. 253–254 Röck, Heinrich 284–285 Rohde, Michael 355, 367 Romanos (Märtyrer) 292–294 Rosa, Hartmut 217, 219 Rosen, David 356 Rosenblum, Jordan D. 85

382 Rössler, Dietrich 203 Roth, Michael 128, 161–163 Rothgangel, Martin 258 Rubenstein, Jeffrey L. 69–70, 75–77 Rufin von Aquileia 98, 101, 113 Rupp, Horst F. 241–242 Rust, Bernhard 326 Rütten, Felix 292, 296 Rylaarsdam, David 129–132 Sabbah, Michel 346, 359–360, 362 Sacher, Wilhelm 275 Said, Edward 350 Salmanassar 86 Salomo 77, 94, 312–313 Salzmann, Christian Gotthilf 240–241 Samuel 312–313 Sauter, Gerhard 161, 262–263 Savill, Benjamin 295 Schäfer, Joachim 291 Schäffter, Ortfried 182 Schelander, Robert 6, 7, 273–274, 276, 278, 280, 282, 284, 286, 370 Scherzberg, Lucia 335 Schiller, Charlotte 332 Schleicher, Niklas 235 Schleiermacher, Friedrich 156, 159, 162, 178–179, 196, 198 Schmalenbach, Merle 235 Schmidt, Günter R. 267 Schmidt, Hans Wilhelm 325, 328 Schmidt, Heinz 259–260 Schmidt, Leopold 294 Schmidt, Ludwig 292 Schmidt, Peter L. 97, 115 Schneider, Carl 323 Schneider, Carl Samuel 282–284 Schneider, Walter 72 Schnell, Hermann 274–275, 286 Schnelle, Udo 176–177 Scholder, Klaus 82, 321 Scholl, Norbert 207 Schönfeld, Heidi 239–240 Schopenhauer, Arthur 11, 28–29, 158 Schröder, Bernd 208, 242, 267 Schroer, Silvia 55

Namensregister

Schulte, Andrea 245–246 Schuster, Dirk 323, 328 Schütz, Alfred 215–217 Schwarz, Karl 6, 8, 67, 319–320, 322–324, 326–328, 330, 332, 334–336, 338–339, 370 Schwarzburger, Marie-Isabelle 292 Schweighofer, Astrid 339 Schweitzer, Albert 176 Schwemmer, Oswald 178 Schwöbel, Christoph 142, 151 Scopello, Madeleine 111–112 Sebastianus (dux) 294–297, 299, 317 Seeberg, Erich 336 Seeliger, Hans Reinhard 110, 291 Segev, Alon 67, 320, 323, 334 Seidlmayer, Eva 212–213 Semler, Johann Salomo 139 Sergius (Märtyrer) 108 Siegele-Wenschkewitz, Leonore 320–321, 324, 326, 328 Silvester von Rom 93, 106, 107 Simon Magus 81, 103 Skidelsky, Edward 173 Söderblom, Kerstin 224 Soeffner, Hans-Georg 182, 185–186 Sofsky, Wolfgang 36 Sokrates 122, 158 Sophia (Märtyrerin) 296–297 Sozomenus 100, 129 Stallmann, Martin 248–249, 251 Standhartinger, Angela 5, 7, 81–82, 84, 86, 88, 90, 92, 370 Staubli, Thomas 55 Stauracz, Franz 273, 277–279, 281, 284, 286 Stehr, Nico 216 Stemberger, Günter 107 Stenger, Jan 120 Stephanis (Corona, Märtyrerin) 291–293, 295–296, 313, 315, 317 Stetter, Manuel 6, 8, 181–182, 184, 186– 190, 192, 194, 196, 370 Stock, Hans 249, 251, 259–260 Stock, Konrad 142 Stoellger, Philipp 194, 214 Stöhr, Martin 346

383

Namensregister

Stoodt, Dieter 255 Strecker Georg 101 Stumpff, Albrecht 332 Stumpff, Otto 332 Surkau, Hans-Werner 249 Taber, Charles R. 65 Tacitus 87 Takács, Sarolta Anna 114 Tal, Uriel 343 Tan, Yak-Hwee 361 Taupe, Sabine 323 Taylor, Charles 184 Teichmann, Eduard 294 Tertullian 7, 96, 103, 292 Thaljieh, Lucy 361 Theißen, Gerd 176 Theobald, Michael 68, 70 Theodosius (Kaiser) 112 Theophil von Alexandrien 114 Tiersch, Claudia 119, 129, 133–134 Tillich, Paul 166, 179, 259 Tloka, Jutta 120, 125, 128, 130–132 Tobit 87, 89 Tögel, Hermann 243–245 Trajan (Kaiser) 81 Trauner, Karl-Reinhart 278, 281 Travis, Sarah 193–194 Trinks, Ulrich 339 Troeltsch, Ernst 139–140, 176–177 Tück, Jan-Heiner 343 Türcke, Christoph 28 Valentin, Joachim 343 van Loon, Hanneke 18 Van Nuffelen, Peter 116 van Oorschot, Jürgen 26 van Renswoude, Irene 95 Verhoeff, Maria 120 Vernaleken, Theodor 286 Verwold, Esther 128 Vielberg, Meinolf 101 Vierzig, Siegfried 254 Victor (Märtyrer) 291–296, 299, 301–303, 305, 307, 309, 311, 313, 317 Vincentius (Märtyrer) 295

Völkel, Walter 82 Vollenweider, Samuel 82 Vollnhals, Clemens 67, 79–80, 320–323, 327–331 Volp, Ulrich 94, 121, 128 vom Campenhausen, Hans 322, 327, 334, 339 vom Rath, Ernst 331 von Allmen, Dominik 235 von Goethe, Johann Wolfgang 171, 175, 178–179 von Harnack, Adolf 176 von Hindenburg, Paul 329 von Schirach, Baldur 326, 331 von Trotha, Trutz 36 von Zahn, Theodor 54, 112 von Zimmermann, Paul 278 Voss, Bernd Reiner 101, 115 Wagner, Falk 146, 324, 327 Wagner-Rau, Ulrike 195, 203 Watts, Edward Jay 114 Weber, Beat 39–41 Weder, Hans 167 Wegenast, Klaus 252 Wehnert, Jürgen 101 Wehrle, Josef 15–16, 24 Weingärtner, Martina 52 Weinreich, Max 321 Wellhausen, Julius 357 Wengst, Klaus 356–357 Werneck, Roland 333 Westermann, Claus 12, 16, 18, 21 Westermann, Nicola 220–221, 249 Whedbee, William 20 Whelan, Robin 116 Wiemer, Hans-Ulrich 135 Wiesinger, Susanne 273 Wilke, Fritz 328 Willing, Meike 82 Wills, Lawrence 87 Windelband, Wilhelm 172–173 Winkel, Heidemarie 360 Winstedt, Eric Otto 292, 296 Wischmeyer, Wolfgang 110, 291, 327 Witte, Markus 19–20

384 Wittekind, Folkart 147, 149, 153, 212 Wöhrle, Stefanie 226 Wolgast, Eike 324 Wonnerth-Stiller, Livia 6, 8, 341–342, 344, 346, 348, 350, 352, 354, 356, 358, 360, 362, 364, 366, 370 Wright, Jessica 121 Wunder, Edgar 214 Wurm, Theophil 334, 337 Würthwein, Ernst 332

Namensregister

Yaron, Gil

365

Zacharius Rhetor 106 Zahrnt, Heinz 261, 332 Zenger, Erich 33, 39, 41–43, 56 Zenophilus (Präfekt) 107 Ziebertz, Hans-Georg 200, 202 Zifonun, Dariusˇ 186 Zimmermann, Bernhard Hans 275 Zofar 15, 19–21