Theognis und die Theognidea 3110209268, 9783110209266

Die unter dem Namen des Theognis erhaltene Gedichtsammlung ist neben Homer und Hesiod der einzige handschriftlich üuuml;

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Theognis und die Theognidea
 3110209268, 9783110209266

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
II. Testimonien
III. Überlieferung
IV. Form
V. Inhalt
VI. Umfeld
VII. Schlussfolgerungen
Backmatter

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Hendrik Selle Theognis und die Theognidea



Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Heinz-Günther Nesselrath, Peter Scholz und Otto Zwierlein

Band 95

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Theognis und die Theognidea

von

Hendrik Selle

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1862-1112 ISBN 978-3-11-020926-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Die Anregung zu der vorliegenden Arbeit über Theognis, die im Wintersemester 2007/08 an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen wurde, stammt von meinem Lehrer Professor Wolfgang Rösler. Seinerzeit war nicht vorauszusehen, dass von den ziemlich genau fünf Jahren, die ihre Abfassung schließlich in Anspruch genommen hat, ich zwei im Jemen und eines im Libanon verbringen würde, fernab vom wissenschaftlichen Diskurs und von einschlägigen Bibliotheken. Zwar war dieser Abstand möglicherweise nicht nur ungünstig – auch durch die Bekanntschaft mit einer Gesellschaft, die manches mit der Welt des Theognis gemein hat. Aber er hatte zur Folge, dass ich mich an vielen Stellen auf die mir verfügbaren Spezialarbeiten zu den Theognidea beschränken musste, wo die Diskussion eigentlich auch in der allgemeineren Literatur hätte verfolgt werden müssen. Dazu kommt, dass die Arbeit nach 2003 in der oft knappen freien Zeit entstanden ist, die ein anders gearteter Beruf im deutschen diplomatischen Dienst übrigließ. Spuren dieses langsamen Fortschritts von Absatz zu Absatz sind sicherlich geblieben, auch wenn ich mich bemüht habe, Brüche und Unregelmäßigkeiten nachträglich zu glätten. Aus persönlicher Sicht hatte die langfristige Beschäftigung mit einem Thema des Altertums unter den Bedingungen eines hektischen und zeitweise krisenhaften Alltags allerdings durchaus ihr Gutes. Die vielleicht größte Einbuße hat die Untersuchung jedoch dadurch genommen, dass sie nicht, wie ursprünglich vorgesehen, im fortgesetzten Gedankenaustausch mit demjenigen heranwachsen konnte, der sie angeregt hatte. Unseren seltenen, dann aber um so intensiveren Gesprächen verdanke ich viel – auch da, wo wir letztlich unterschiedlicher Ansicht geblieben sind.* Professor Rösler hat die Arbeit von den ersten Aufbauskizzen an mit Rat und Kritik begleitet und gefördert. Ihm gilt in erster Linie mein aufrichtiger Dank. _____________ * Dies betrifft die Interpretation des Sphragis-Gedichts, die Funktion von v. 237-254 und, in Verbindung damit, die Frage, ob Theognis bereits selbst eine Sammlung von Gedichten in schriftlicher Form herausgab, die für die Verbreitung bestimmt war (vgl. Rösler [2006]).

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Vorwort

Darüber hinaus danke ich Dr. Thomas Poiss in Berlin sowie Dr. Martin West und Professor Ewen Bowie in Oxford für bereichernde Diskussionen, Professor Dirk Obbink (Oxford) und Professor Günter Poethke (Berlin) sowie der Pariser Bibliothèque Nationale für die Einsicht in Papyri und Handschriften, den Herausgebern der „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte“ für die Aufnahme in die Reihe, insbesondere Professor Heinz-Günther Nesselrath für seine Durchsicht des Manuskripts, sowie Dr. Sabine Vogt vom Verlag Walter de Gruyter für die Betreuung der Veröffentlichung. Oτοι τερ θε ν | γ νεται νθρποις οτ᾿ γθ᾿ οτε κακ (v. 171 f.).

Berlin, im September 2008

Inhaltsverzeichnis I. Einführung ....................................................................................................1 § 1. Problem .............................................................................................1 § 2. Forschungsgeschichte ......................................................................4 § 3. Anlage der Arbeit ...........................................................................16 II. Testimonien ...............................................................................................20 Person des Theognis ..................................................................................20 § 4. Historische Existenz des Theognis ...............................................20 § 5. Lebenszeit .......................................................................................21 § 6. Heimatstadt.....................................................................................27 § 7. Kyrnos.............................................................................................36 § 8. Ergebnisse zur Biographie .............................................................37 Verbreitung und Ansehen der Theognidea..............................................38 § 9. Bekanntheit der Gedichte ..............................................................38 § 10. Charakterisierung der Gedichte. .................................................45 § 11. Philosophische und philologische Verwendung ........................55 Werke des Theognis...................................................................................63 § 12. Anzahl ...........................................................................................63 § 13. Charakter ......................................................................................73 § 14. Inhalt .............................................................................................74 § 15. Umfang..........................................................................................82 § 16. Anordnung....................................................................................87 § 17. Wortlaut ........................................................................................93 § 18. Quellen der Zitate ........................................................................96 § 19. Ergebnisse zum Werk ................................................................101 III. Überlieferung .........................................................................................103 § 20. Ostraka und Papyri ....................................................................103 § 21. Handschriften .............................................................................111 § 22. Ergebnisse ...................................................................................119

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Inhaltsverzeichnis

IV. Form........................................................................................................121 Sprache und Metrum ...............................................................................121 § 23. Sprache ........................................................................................121 § 24. Metrum........................................................................................137 Anordnung ...............................................................................................148 § 25. Charakter des Corpus ................................................................148 § 26. Themen........................................................................................158 § 27. Stichwörter..................................................................................165 § 28. Andere Ordnungsgesetze ..........................................................170 § 29. Abschnitte ...................................................................................173 § 30. Entstehung der Anordnung.......................................................185 Wiederholungen.......................................................................................196 § 31. Dubletten ....................................................................................196 § 32. Ähnliche Stücke..........................................................................206 § 33. Anderen zugeschriebene Stücke................................................212 § 34. Ergebnisse ...................................................................................226 V. Inhalt ........................................................................................................228 Geschichtliche Bezüge.............................................................................228 § 35. Grundsätze der Untersuchung ..................................................228 § 36. Abfassungszeit der Gedichte .....................................................229 § 37. Abfassungsort der Gedichte ......................................................246 § 38. Leben und Zeitumstände der Verfasser ....................................253 § 39. Der historische Wert der Theognidea.......................................271 § 40. Ergebnisse zur Biographie .........................................................280 Aussagen zur Dichtung ...........................................................................282 § 41. Aufführung und Funktion der Gedichte..................................282 § 42. Das Siegelgedicht........................................................................289 § 43. Abfassung und Verbreitung der Gedichte................................311 § 44. Ergebnisse zum Werk ................................................................320 VI. Umfeld ....................................................................................................322 Verwandte Texte ......................................................................................322 § 45. Attische Skolien..........................................................................322 § 46. Homerische Hymnen.................................................................327 § 47. Sprichwörter Salomos ................................................................331 § 48. Andere Texte ..............................................................................337 § 49. Ergebnisse ...................................................................................348

Inhaltsverzeichnis

IX

Entstehungsumstände..............................................................................352 § 50. Gelagekultur ...............................................................................352 § 51. Mündlichkeit und Schriftlichkeit ..............................................357 § 52. Geistiges Eigentum.....................................................................364 § 53. Ergebnisse ...................................................................................370 VII. Schlussfolgerungen...............................................................................372 § 54. Theognis......................................................................................372 § 55. Abfassung der Theognidea ........................................................373 § 56. Sammlung der Theognidea ........................................................381 § 57. Überlieferung der Theognidea ..................................................389 § 58. Ausblick ......................................................................................392 Anhang ..........................................................................................................394 1. Testimonien .....................................................................................394 2. Literaturverzeichnis ........................................................................427 3. Textabweichungen von Wests Ausgabe ........................................423 4. Gedichtgrenzen ...............................................................................425 Register..........................................................................................................445 1. Stellen ...............................................................................................445 2. Namen und Sachen..........................................................................449

I. Einführung § 1. Problem νθρωποι δ µταια νοµ ζοµεν εδτες οδν (v. 141)

Die Theognidea sind ein Corpus von 1431 Versen in elegischem Versmaß,1 die als Werk des Theognis von Megara überliefert sind.2 An einer Stelle (v. 22 f.) nennt er sich darin selbst als Dichter. Über den Menschen Theognis wissen wir freilich so wenig, dass einige sogar zu dem Schluss gekommen sind, es habe ihn nie gegeben.3 Seine Lebenszeit verlegt die antike Literatur in die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Das Corpus setzt sich aus ungefähr 360 einzelnen Gedichten zusammen, deren Grenzen nicht immer klar zu erkennen sind (wobei die Rede von „Gedichten“ hier und im Folgenden kein Urteil über die Vollständigkeit der Stücke einschließt).4 Die meisten umfassen nur zwei oder vier Verse, das längste 26. Viele wenden sich an Kyrnos, der als jüngerer Freund des Sprechers dargestellt wird. Die Theognidea enthalten vor allem Lebensweisheit: Ratschläge zum Umgang mit Menschen, zum Verhalten in Glück und Unglück, auch Betrachtungen _____________ 1

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Die eingebürgerte Zählung von Vinetus [1543] kommt (unter Hinzunahme des Zweiten Buches, das Vinetus noch nicht kannte) auf 1389 Verse. Darin sind 12 aus Zitaten hinzugefügte Verse enthalten (v. 1157 f., 1221-1230), wovon 2 (v. 1227 f.) als dem Mimnermos gehörig später wieder entfernt worden sind. 44 Verse sind als Dubletten nicht mitgezählt und werden in späteren Ausgaben daher mit Buchstaben (332a usw.) bezeichnet. V. 1382 f. sind aufgrund der Annahme einer Lücke als zwei Verse gerechnet. Insgesamt umfassen moderne Ausgaben damit 1431 Verse. Mit den Begriffen „Theognidea“ und „(Theognideisches) Corpus“ ist im Folgenden immer der gesamte überlieferte Text gemeint, ohne dass damit über die Autorschaft geurteilt wird. „Theognis“ bezieht sich, wenn es um den Text geht, nur auf den Verfasser von v. 19 ff.; sonst ist die Rede vom „Dichter“, worunter der Verfasser – bzw., wenn es um mehrere Gedichte geht, ggf. auch die Verfasser – des jeweils in Rede stehenden Textteils zu verstehen sind. Die einfache Stellenangabe „v. ...“ bezieht sich immer auf das Corpus Theognideum. „Th.“ steht in den Fußnoten für „Theognis“. Hierzu s. unten §§ 4, 56. „Gedicht“ oder „Stück“ bezeichnet im Folgenden jeden unabhängigen Textabschnitt des Corpus, auch wenn es sich nicht um ein vollständiges Gedicht, sondern ein Fragment handelt. Zu dieser Frage s. unten § 25.

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I. Einführung

über Staat und Gesellschaft oder das Verhältnis von Göttern und Sterblichen. Daneben finden sich Gebete, Trinklieder, Scherze und Rätsel. Die letzten 177 Verse, die nur in einer Handschrift unter dem Titel Zweites Buch überliefert sind, kreisen fast ausschließlich um die Knabenliebe. Auf den ersten Blick sind die Gedichte, von vereinzelten thematischen Gruppen abgesehen, völlig ungeordnet. Dieser Eindruck verstärkt sich noch dadurch, dass eine Reihe von Stücken doppelt vorkommen – in den Ausgaben durch Buchstaben nach den Verszahlen bezeichnet – und inhaltliche und sprachliche Motive auch sonst häufig ohne erkennbaren Plan wiederkehren. Überdies sind mehrere der Gedichte aus anderen Quellen als Werke Solons, des Tyrtaios und weiterer Elegiker bekannt. Das weckt auch Zweifel an der Echtheit der übrigen Teile, zumal sie sich in Tonfall und Aussage manchmal bis zum offenen Widerspruch unterscheiden. „Kein zweiter früher griechischer Dichter hat uns in einem so seltsamen Zustand erreicht“.5 Dieses heillose Durcheinander und auch die schwere Verständlichkeit mancher Stellen lässt nicht nur denjenigen unbefriedigt, der sich den Theognidea aus literarischem Interesse zuwendet. Auch für die Wissenschaft ist das Corpus aufgrund der Zweifel an Herkunft und Alter seiner Bestandteile nur unter starken Vorbehalten benutzbar. Nun ist jedoch gerade dieser schwierige Text von einzigartigem Wert. Zwar hat er nur wenig künstlerische Höhepunkte zu bieten.6 Auch inhalt_____________ 5 6

So Fox [2000] 35 (“No other early Greek poet has reached us in such a curious condition”). Zum ästhetischen Wert der Theognidea vgl. z. B. Fabricius bei Welcker [1826] cxiii („Inter praecipuos Graeciae poetas hic non numerandus; ejus in compositionibus nullum acumen, nullus vigor, omne ibi simplex et absque ornatu”), Bois [1886] 306 (« Les Sentences au contraire n’offrent aucune pensée saillante dont on doive leur réserver l’honneur et leur attribuer la production »), Müller [1877] 3 („delectat etiam legentium animos magis quam ceteri uberiore et sententiarum et rerum copia“), Bergk [1883] 322 („Th. war ein talentvoller Dichter, der alles, was er berührt, mit sicherer Hand zu gestalten versteht; wenn der lehrhaften Poesie leicht etwas Nüchternes und Prosaisches anhaftet, so weiß Th. die Trockenheit glücklich zu vermeiden, indem er überall an die Gegenwart anknüpft und das wirkliche Leben uns vor das Auge rückt“), Edmonds [1931] 22 (Lesen nur ausgewählter Gedichte “may serve to lighten the boredom which inevitably comes of reading consecutively a collection of poems intended to be recited one by one”), Woodbury [1951] 1 (“Th., if he seldom strikes the true note of poetry, never fails to win the interest of a few for whom the marked individuality of his character or the bewildering complexity of his book possesses a constant fascination”), Burn [1960] 247 (“Th. is not one of the great thinkers ... Nor is he one of the greatest Greek poets; but in many of his poems there is a bitter sweetness that is haunting and attractive”). Solche Höhepunkte könnte man z. B. in v. 19 ff., 215-218, 237-254, 341-350, 447-452, 503-508, 567-570, 667-682, 773-782, 1197-1202, 1375 f. sehen.

§ 1. Problem

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lich wirkt er nicht nur wegen der vielen Wiederholungen, sondern auch wegen seiner allgemeinen Moral, hinter der nur selten ein individueller Mensch auszumachen ist, eher eintönig, wenn sich auch bei näherem Hinsehen der Reiz sowohl des Archaischen als auch des für ihre Zeit Modernen an der Weltanschauung der Theognidea enthüllt. Doch Theognis ist der einzige handschriftlich überlieferte Lyriker7 – ja neben Homer und Hesiod überhaupt der einzige handschriftlich überlieferte Dichter – aus der Zeit vor Pindar. Der unter seinem Namen erhaltene Text ist doppelt so umfangreich wie die aus Zitaten und Papyri wiederhergestellten Fragmente aller anderen Elegiker zusammen. Er ist unser Kronzeuge für die geschichtlich entscheidende Zeit des Übergang zur Geldwirtschaft, zu Tyrannis und Demokratie wie auch für die im frühen vierten Jahrhundert untergegangene Welt des adligen Gelages. Ein hervorstechendes Beispiel dieser geistesgeschichtlichen Bedeutung ist die Erwähnung des Plagiats in v. 20, die zum ersten Mal eine Vorstellung von geistigem Eigentum erkennen lässt. Bei diesem Sachverhalt drängt sich die „Theognideische Frage“, deren Antwort der Schlüssel zur Nutzung des Textes ist, von selbst auf: „Wer war Theognis, und wo und wann lebte er? Hat er überhaupt existiert, und gab es je einen Knaben namens Kyrnos? Ist das gesamte Corpus von Theognis, und wenn ja, in welchem Sinne? Wenn nein, wie, wann, wo und zu welchem Zweck ist es entstanden? Hat es mehrere Entwicklungsstufen durchlaufen oder nicht, bevor es seine jetzige Gestalt annahm? Wenn diese letzte Frage bejaht wird ..., wie können wir solche Stufen unterscheiden und wie können wir insbesondere den echten Theognis vom Rest des Corpus unterscheiden? ... Welche Rolle, wenn überhaupt, spielte Mündlichkeit bei der Schöpfung und Überlieferung des Theognideischen Corpus?“8 So fächert Friis Johansen den Inhalt dieser Frage auf, die zusammengefasst lautet: Wie sind die Theognidea in ihrer überlieferten Gestalt entstanden und welchen Einfluss hatte Theognis darauf? Die Antwort ist _____________ 7

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„Lyrik“ soll hier – wie im Sprachgebrauch der Philologie des 19. Jahrhunderts und auch bei Gerber [1997] 1 f. – als bequeme Abkürzung alle Dichtung außer Epos und Drama bezeichnen. Nach der antiken Einteilung der Gattungen war Th. natürlich kein Lyriker, vgl. hierzu Rösler [2004a] 42. Friis Johansen [1991] 5 f.: “Who was Th., and where and when did he live? Did he exist at all, and was there ever a boy called Cyrnus? Is the whole corpus by Th., and if so, in what sense? If not, how, when, where, and to what purpose did it come into existence? Did it, | or did it not, pass through several stages of genesis before it acquired the form it has now? If an affirmative answer is given to this last question …, how can we distinguish such stages, and more particularly, how can we distinguish the genuine Th. from the rest of the corpus? ... What part, if any, did orality play in the creation and transmission of the Theognidean corpus?”

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I. Einführung

nicht nur für den Umgang mit dem Corpus selbst entscheidend, das ja auch ohne Kenntnis seiner Herkunft oberflächlich gelesen werden könnte. An ihr hängt in gewisser Hinsicht auch unsere Vorstellung von der Entwicklung des Autorbewusstseins und schriftlicher Literatur überhaupt.

§ 2. Forschungsgeschichte Im Altertum ist mit Ausnahme eines Fragments des augusteischen Grammatikers Didymos und des kurzen Lexikoneintrags der Suda keine ernsthafte philologische Beschäftigung mit Theognis bezeugt.9 Nach der Wiedergeburt der klassischen Studien wurde er zuerst 1496 bei Aldus und dann häufig gedruckt;10 Melanchthon hielt in Wittenberg Vorlesungen über ihn. Den Grundstein für die Erforschung des Corpus legte aber der in Leipzig tätige Humanist Joachim Camerarius d. Ä. mit seinem „Libellus scolasticus“ (1551), in dem die Theognidea auf griechisch kommentiert werden. Hier finden sich bereits die meisten Argumente, die aus dem Text und der antiken Literatur zu gewinnen sind – zur Heimatstadt und Lebensgeschichte des Theognis ebenso wie zur Entstehung des Corpus: „Nun ist es aber offensichtlich, dass die Theognis zugeschriebenen Verse eine Ansammlung unterschiedlicher Gedichte sind, wobei offenbar diejenigen seiner Verse entfernt wurden, die man als unanständig auffasste, und dafür andere eingefügt wurden. Deswegen sind sie auch zum größten Teil ungeordnet, und Gleiches wird mehrfach wiederholt. Dass aber auch Verse Solons, des Euenos und des Tyrtaios mit den Theognideischen vermischt sind, werden wir in den Anmerkungen beweisen. Daraus könnte

_____________ 9 S. hierzu § 11. 10 Ausgaben: Manutius [1496], Aleandrus [1512], Froben [1521], Tiletanus [1537], Vinetus [1543], Camerarius [1551], Turnebus [1553], Neander [1559], Melanchthon [1560], Hertel [1561], Stephanus [1566], Sylburg [1591], Seber [1603], Blackwall [1706], Just [1710], Fischer [1739], Kall [1766], Glandorf [1776], Brunck [1784], Lindner [1810], Gaisford [1814], Bekker [1815], Boissonade [1823], Welcker [1826], Schneidewin [1838], v. Orelli [1840], Bergk [1843], Hartung [1859], Sitzler [1880], Ziegler [1880], Hiller [1890], Kephalas [1896], Harrison [1902], Fraccaroli [1910], Hudson-Williams [1910], Peppmüller [1911], Diehl [1923-25], Edmonds [1931], Carrière [1948b], Korres [1949], Rodriguez Adrados [1956-59], Garzya [1958], Young [1961], van Groningen [1966], Carosi [1968], West [1971], ders. [1978b], Skiadas [1979], Vetta [1980], Papademetriou [1984], Barkhuizen [1986], Ferrari [1989], Gerber [1999], Hansen [2005]. Deutsche Übersetzungen: Fischern [1739], Falbe [1799], Weber [1826], Thudichum [1828], Binder [1859], Hartung [1859], Ebener [1976], Hansen [2005].

§ 2. Forschungsgeschichte

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man nicht zu unrecht schließen, dass auch Anderes aller Art eingefügt wurde.“11 Nach einer langen Zwischenzeit, in der das Corpus zwar oft herausgegeben, aber kaum erforscht wurde, gab erst 1815 Bekkers Entdeckung des Codex Mutinensis, der ältesten und als einzige das Zweite Buch enthaltenden Handschrift, den Anstoß dafür, diese Überlegungen zu vertiefen. Zum Ausgangspunkt aller Theogniskritik des 19. Jahrhunderts wurden dabei Welckers „Theognidis Reliquiae“ (1826). Sie erforschen zunächst den geschichtlichen Hintergrund der Theognidea, die sich als Antwort des Adels auf den Niedergang der ständischen Ordnung herausstellen; Kernbegriffe wie „Gute“ und „Schlechte“ erhalten damit als „Adlige“ und „Gemeine“ einen neuen Sinn. Vor allem aber versucht Welcker, die unechten Teile des Corpus mithilfe seiner Beschreibungen bei antiken Autoren auszuscheiden und das Verbleibende neu zu ordnen. Er kommt zu dem Ergebnis, der überlieferte Text sei eine in der Spätantike entstandene Chrestomathie, deren Urheber „aus verschiedenen Schriftstellern gesammelte Fragmente entweder willkürlich zusammengehäuft oder sehr vieles auf die schlechteste Weise verbunden“ habe.12 Die Neuanordnung der Verse, aber auch die These, Kyrnos bedeute „Jüngling“ und beziehe sich nicht auf denselben Menschen wie der Vatersname Polypaides, wurden später einhellig zurückgewiesen. Schon ein Jahr nach Welckers Untersuchung (1827) veröffentlichte Gräfenhan eine Polemik, die die Abfassung und Anordnung des ganzen Corpus für Theognis in Anspruch nahm und damit die erst viel später fortgesetzte unitarische Reaktion begründete. Noch entschlossener als Welcker machte sich Bergk in seiner Gesamtausgabe der griechischen Lyriker (1843) und einem Theognis gewidmeten Aufsatz (1845) an die Kritik der Überlieferung. Die Freiheit, mit der er hierbei Textteile veränderte oder anderen Dichtern zuschrieb, ergab sich aus seiner Auffassung des Corpus als einer „Art Blütenlese aus den älteren griechischen Elegikern“, die ausschließlich Exzerpte längerer Elegien, „Trümmer und dürftige Reste“, enthält. Geschaffen habe sie ein adliger _____________ 11 Camerarius [1551]: „N!ν δ φανερν, $τι τ% Θεγνιδος 'πιγραφ(ν )χοντα )πη συναθροισµς τ ς 'στι ποιηµτων διαφρων, περιαιρεθντων δηλαδ( 'κ τ ν 'κε νου $σα τιν/ς ασχρολογ ας )χεσθαι )δοξεν, κα1 ντ1 το2των 'µβληθντων λλων· δι/ κα1 συνρµοστ 'στι τ% πλε5στα, κα1 τ% ατ% ναπολητικ ς παλιλλογε5ται. $τι δ κα1 Σλωνος κα1 E9νου κα1 Tυρτα ου )πη κατεµµικτο το5ς Θεογνιδε οις, σαφ ς 'νδε ξοµεν 'ν το5ς ;ποµν9µασι. κα1 ;πολβοι ν τις οκ λγως 'κ το2των, $τι κα1 λλα παντο5α παρενεβλ9θη.“ 12 Welcker [1826] ciii: „... ut hinc etiam colligere debeamus libri nostri auctorem non poematis alicuius contextum excerpendo secutum, sed e variis scriptoribus collecta fragmenta vel temere coacervasse, vel pessima plurima ratione iunxisse.“

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I. Einführung

Sammler nicht lange nach der Zeit des Isokrates zum Nutzen Gleichgesinnter. „Offenbar ging aber das Bestreben des Epitomators darauf hinaus, alles rein Individuelle, also gerade das Wertvollste, den eigentlichen Mittelpunkt der lyrischen Poesie auszuscheiden und nur die Summe allgemeiner Gedanken und Vorschriften, welche die Elegie der Griechen in so reichem Maße enthielt, zurückzulassen.“13 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden „Studia Theognidea“ und „Quaestiones Theognideae“ vor allem in Deutschland ein beliebtes Thema für Dissertationen, Universitäts- und Schulprogramme. Eine Abhandlung von Schömann (1861) schlägt zum ersten Mal vor, die Sammlung könne zum Schulgebrauch angelegt worden sein. Diese „Schulbuchtheorie“ wurde von Rintelen (1863), Schneidewin (1878) und dann insbesondere von Sitzler (1880) aufgegriffen: „Da es noch keine Bücher gab, sondern die Lehrer den Knaben Verse durch Vorsagen beibringen mussten, geschah es, dass der eine oder andere diese oder jene Verse, die er als für die Einrichtung unnötig oder ungeeignet ansah, wegließ und andere, die in Ausdruck oder Inhalt ähnlich oder entgegengesetzt waren und deswegen für die Knaben nützlich schienen, von anderer Stelle in den Zusammenhang aufgenommen und hinzugefügt wurden. ... Ebenso brachte es der Schulbrauch mit sich, dass Lehrer und Schüler selbst Verse in Nachahmung des Dichters verfertigten.“14 Erst später, wie die Testimonien zeigen, seien dann Wein- und Liebesgedichte eingedrungen. Mit seiner Textausgabe hat Sitzler auch weiteren bereits von anderen aufgestellten Thesen zur Bekanntheit verholfen: so Schegks und Hartungs Vorschlag, das in v. 19 erwähnte „Siegel“ als Anrede des Kyrnos zu deuten und damit alle Gedichte mit dieser Anrede als echt anzuerkennen, und Müllers Beobachtung, dass sich in den thematisch gut geordneten ersten zweihundert Versen ein ursprünglicher Kern erhalten haben könnte. Rintelen (1863) kommt das Verdienst zu, die doppelt vorhandenen Stücke, die in den frühen Ausgaben meist stillschweigend getilgt wurden, für die Untersuchung der Textgeschichte herangezogen zu haben. Er stellte sich vor, dass die einzelnen Elegien des Theognis nach seinem Tode zunächst von seinen Freunden veröffentlicht, dann aber für verschiedene _____________ 13 Zitate (in dieser Abfolge) aus Bergk [1883] 308, [1845] 213 und 221. Seine 1843 noch vertretene Meinung, die Sammlung sei um 100 n. Chr. entstanden, hat Bergk in späteren Veröffentlichungen zugunsten des 4. Jh. v. Chr. widerrufen. 14 Sitzler [1880] 14 f.: „Cum vero libri nondum essent, sed magistri pueris versus dictarent docerentque oporteret, factum est, ut ab aliis alii versus, qui institutioni aut | non necessarii aut non apti putarentur, omitterentur, alii, qui aut verbis aut sententiis similes aut contrarii pueris aliqua ratione prodesse viderentur, aliunde reciperentur in contextum atque adderentur. ... Itemque mos scholae tulit, ut et magistri et discipuli versus ipsi facerent poetae versus imitantes.“

§ 2. Forschungsgeschichte

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Exzerptsammlungen ausgebeutet wurden, bei deren Vereinigung es dann zu Überschneidungen kam. Dieser Ansatz wurde von van der Mey (1869) und insbesondere Hermann Schneidewin (1878) weiter verfolgt, die anhand der Dubletten zwischen v. 878 und 1038 eine Bruchlinie zwischen zwei Quellen erkannten, aus denen das Erste Buch zusammengesetzt sei. Schäfer (1891) zeigte, dass die wiederholten Stücke bei ihrem ersten Vorkommen im Corpus durchweg bessere Lesarten bieten als beim zweiten. Eine andere Erklärung bot Nietzsche in seinem Erstlingswerk „Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung“ (1867) an: Die Dubletten seien eingesetzt, um Lücken in der sonst durchgeführten Verknüpfung der Gedichte durch gemeinsame „Stichwörter“ zu schließen. Auf der Grundlage der Homerforschung widmeten sich Küllenberg (1877) und Lucas (1893) dem Gebrauch von Formeln innerhalb der Theognidea und im Vergleich mit Elegie und Epos. Mit der Beobachtung der Formelhaftigkeit wandte sich Lucas auch gegen die von Nietzsche und van der Mey vertretene Auffassung, Anklänge zwischen dem Ersten und dem Zweiten Buch erwiesen letzteres als späte Parodie, die Theognis als Päderasten verleumden sollte. Fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung einer Vaseninschrift des frühen fünften Jahrhunderts v. Chr. aus Tanagra, die einen Vers des Zweiten Buches zu zitieren scheint,15 erschienen mehrere Arbeiten zu diesem Teil der Theognidea: Couat (1883) sah in ihm „eine Schülerarbeit, eine Folge von Variationen in griechischer Sprache über ein vorgegebenes Thema nach Theognis“,16 Corsenn (1887) eine voralexandrinische „Spielerei“ des Redaktors der Sammlung,17 Frese (1895) dagegen eine Zusammenstellung von teilweise echten Versen, die ursprünglich, wie die Suda zu sagen scheint, über das Corpus verstreut waren, aber im zehnten Jahrhundert n. Chr. aufgrund sittlicher Bedenken in einen besonderen Anhang verbannt wurden. Schon v. Geyso (1892) vermutete, dass ein Teil des Corpus entsprechend der Abfolge im Symposion angeordnet sei. Der eigentliche Begründer der „Kommersbuchtheorie“ war jedoch Reitzenstein mit seinem _____________ 15 Köhler [1884] vgl. hierzu unten S. 103. 16 Couat [1883] 288: « ... un travail d’élève, une suite de variations en langue grecque sur un thème donné, d’après Th. ». 17 Corsenn [1887] 42 f.: „Potius ita fere exorta esse haec carmina puto, ut auctor eorum, postquam initio nonnullis libri prioris fragmentis impulsus esset ad | nonnulla singula poematia erotica efficienda, deinde, cum ei placuissent eiusmodi nugae, ad exemplum carminum ad Cyrnum conditorum seriem eorum carminum ad puerum fictum conditorum conficeret, atque postea, quaecunque eiusmodi fecisset, qua in re etiam aliorum poetarum versus in usum suum convertisset, in parvam collectionem congereret atque coniungeret eamque subiungeret in libro suo reliquiis Theognideis, quarum quaedam eum ad eam conficiendam adduxissent.“

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I. Einführung

bahnbrechenden Werk „Epigramm und Skolion“ (1893). Er erklärte darin die Eigenheiten der Theognidea aus den Gebräuchen des Gelages: „Aus den größeren Sammlungen des megarischen Dichters, aus den langen Elegien eines Tyrtaios, Solon und Mimnermos und den Versen uns unbekannter Sänger haben namenlose Gäste beim frohen Gelage Stücke herausgelöst, nach den eigenen Anschauungen umgebildet und mit ähnlichen, eigenen Neuschöpfungen vermischt.“ Diese Anthologie tauge inhaltlich nicht für den Schulgebrauch, sondern sei um 400 v. Chr. ähnlich wie die bei Athenaios überlieferten Attischen Skolien als „Kommersbuch“ (eine Bezeichnung, die dem Vergleich mit den Liederbüchern der deutschen Studentenverbindungen entsprang) für Symposiasten geschaffen worden. Eine der Quellen hierfür sei eine von Theognis selbst angelegte Elegiensammlung gewesen, die sich anhand des in v. 19 ff. erhaltenen Proöms als „das älteste nachweisbar vom Autor selbst edierte Buch“ erkennen lasse.18 Weder die Schule noch das Symposion nahm wiederum Heinemann (1899) als Bestimmung des Corpus an; vielmehr schloss er aus den auf mündliche Überlieferung hindeutenden Textvarianten in den Dubletten und den mehreren Autoren zugeschriebenen Stücken, „dass irgendein Freund vaterländischer Literatur die zum Volkseigentum gewordenen Verse sammelte und zu einer Blütenlese verband.“19 Mit dem Ziel einer vollständigen Theognisausgabe habe er auch Dubletten mit leichten Varianten sowie neben dem alten Buch des Megarers viel fälschlich unter seinem Namen Umlaufendes aufgenommen. Ähnlich erklärte Aly in seinem Artikel „Theognis“ im Pauly-Wissowa (1934) die Textvarianten als Folgen des „Zersingens“ der Lieder im Volksmund und vermutete, dass „im frühen Peripatos ein Menschenleben nach dem Erlöschen der lebendigen Sitte der Gedanke ausgeführt wurde, das noch Erreichbare zusammenzuraffen.“20 Gegen all diese Versuche deutscher Gelehrsamkeit, das Corpus in verschiedene Bestandteile zu zerlegen, erhob sich 1902 Einspruch aus England: In der Einleitung zu seiner Textausgabe verteidigte Harrison die Ansicht, dass „Theognis alle oder fast alle Gedichte geschrieben hat, die unter seinem Namen erhalten sind“ und sie in der Gestalt herausgegeben hat, in der wir sie besitzen.21 Die Solon und anderen zugeschriebenen Stücke seien in Wahrheit bewusste, leicht abgewandelte Anleihen, die Dubletten absichtliche Selbstzitate oder Variationen des Dichters, in der _____________ 18 19 20 21

Zitate aus Reitzenstein [1893] 85 und 267. Heinemann [1899] 599. Aly [1934] 1981. Harrison [1902] i: “In this book I make bold to maintain that Th. wrote all or nearly all the poems which are extant under his name.”

§ 2. Forschungsgeschichte

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Anordnung seien sinnvolle Themenfolgen zu erkennen. Auf diesen unitarischen Standpunkt stellten sich mit Highbarger (1929, 1931), Allen und schließlich Young (1961, 1964), dem Herausgeber der letzten TeubnerAusgabe, auch andere Vertreter der englischsprachigen Forschung, ferner Dornseiff (1939) und van der Valk (1956). Young vermutete, dass Theognis, um sich gegen bösartige Parodien zu wehren, die von Feinden unter seinem Namen in Umlauf gebracht wurden, „Kyrnos einen beglaubigten Text der Gedichte“ übergab. „Er hätte die Abschrift mit seinem Siegel versehen und sie vielleicht auch von Zeugen siegeln lassen.“ Später fand man noch „einen nicht-offiziellen Text der päderastischen Ergüsse des Dichters, der im privaten Nachlass aufbewahrt worden war und dann in einen zweiten Band, einen erotischen Anhang, abgeschrieben wurde“.22 Der Streitschrift Harrisons setzte sein Landsmann Hudson-Williams eine kommentierte Textausgabe (1910) entgegen, der er den programmatischen Titel „Die Elegien des Theognis und andere in der Theognideischen Sammlung enthaltene Elegien“ gab und die fortan zur Grundlage der englischsprachigen Forschung wurde.23 Vermittelnd wandte er sich darin sowohl gegen das unitarische Dogma als auch gegen die Auswüchse analytischer Forschung: Seiner Auffassung nach „haben wir in v. 1-26 den Anfang einer von Theognis selbst veröffentlichten Sammlung. ... Aus 237252, die wahrscheinlich den Epilog des Buches bildeten, können wir schließen, dass diese Gedichte seiner Absicht nach bei Gelagen gesungen werden sollten. ... Zur Zeit des Stobaios waren Theognis zugeschriebene Gelegenheitsgedichte gesammelt worden, und Fragmente, die man in literarischen und philosophischen Werken fand, waren neben den verstreuten Teilen der ursprünglichen Gnomensammlung sowie einer starken Beimischung fremden Stoffes in eine Zusammenstellung aufgenommen worden.“24 _____________ 22 Young [1964] 366: “To protect his own and Kyrnos’s reputation, and that of their political party, it would be sensible for Th. to issue an authenticated text of the poems to Kyrnos he wished people to believe were the only genuine poems to Kyrnos by him; he would sign the copy with his seal, and have witnesses seal it too perhaps”; 389: der antike Herausgeber “gained access to a non-official text of the poet’s paederastic effusions conserved 'ν ποθτοις, which was then transcribed into a second volume, an erotic appendix”. 23 “The Elegies of Theognis and other Elegies included in the Theognidean Sylloge”. 24 Hudson-Williams [1910] 76 f.: “It is not unlikely, then, that we have in vv. 1-26 the beginning of a collection published by Th. himself. ... We may infer from 237-52, which probably formed the epilogue to his book, that he intended these poems to be sung at convivial gatherings ... | By the time of Stobaeus ‘occasional’ poems ascribed to Th. had been brought together, and fragments found as quotations in literary and philosophical works, besides the disiecta membra of the original gno-

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I. Einführung

Die Loeb-Ausgabe von Edmonds (1931) versuchte zum ersten Mal, sich der Theognideischen Frage mit einer statistischen Untersuchung der sprachlichen und metrischen Merkmale zu nähern. Er kam zu dem Ergebnis, dass die an Kyrnos gerichteten Gedichte sowie das Zweite Buch älter seien als der Rest des Corpus. Theognis habe anscheinend selbst eine Sammlung eigener sowie zeitgenössischer und früherer Elegien zusammengestellt; ein Schulmeister habe dann jüngere Gedichte hinzugefügt sowie die päderastischen Teile in einen Anhang abgesondert. Edmonds wies auch auf Spuren einer alphabetischen Anordnung der Stücke hin. Nach Bergk hatten sich vor allem junge, wenig bekannte Philologen mit den Theognidea befasst. Umso stärkere Wirkung hatte es, als 1931 mit Jacoby ein führender Gelehrter diesem Dichter einen Beitrag in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften widmete. Er ging dabei von einem Aufsatz Friedländers (1913) aus, der im Corpus und in Hesiods Erga eine für ;ποθ