Die Aufklärung und die Schwärmer
 9783787335008, 9783787341733

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus

Jahrgang 3, Heft 1, 1988

Thema: Die Aufklärung und die Schwärmer Herausgegeben von Norbert Hinske

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1988. ISBN 978-3-7873-0798-2·  ISBN eBook 978-3-7873-3500-8  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1988. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

Inhalt Einleitung Norbert Hinske: Die Aufklärung und die Schwärmer - Sinn und Funktionen einer Kampfidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abhandlungen Lothar KreimendahJ: Humes Kritik an den Schwärmern und das Problem der "wahren Religion" in seiner Philosophie . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl Tilman Winkler: Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung. 'Enthusiasm' im englischen Sprachgebrauch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . .

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Joseph Kohnen: .Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis z•. Theodor Gottlieb von Hippe! als Kritiker der Geheimen Gesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert Hinske: Zur Verwendung der Wörter 'schwärmen', 'Schwärmer', 'Schwärmerei', 'schwärmerisch' im Kontext von Kants Anthropologiekolleg. Eine Konkordanz . .. .. .. . .. . .. .. . .. . .. .. .. •. .. . .. . ... . .. ..

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Kunbiographie Christoph Böhr: Johann Jakob Engel (1741-1802)

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Diskussionen und Berichte Bernd Kettern: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Internationales Symposion der Lessing-Akademie Wolfenbüttel (2. bis 5. September 1986) • • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . •

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Rezensionen • • . • • • • . . . . . . . .

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Mitteilungen .Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland?" Zur diesjährigen Tagung der .Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts" in Trier ( 16. bis 18. November 1988) • . . . . . . • . . • . . . .

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Societe Montesquieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AUFKLÄRUNG ISSN 0178-7128. Jabrpng 3, Heft 1, 1988. ISBN 3- 7873-0798-2 lnterdisziplinlire Halbjahresschrift rur Erforschung des 18. Jabrhuodert.< uod seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deutschen Ge5"11scbaft für die Erforschung des 18. Jahrhundert.< herausgegeben von Günter Birtscb, Karl Eibl, Norben Hin1ke, Rudolf Vierhaus Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universität Trier. Fachbereich 1ll - Geschichte, p05tfach 382S, SSOO Trier, Telefon (06Sl ) 201-2200 o Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1988. Printcd in Germany. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Bcitrl gc sind urheberrechtlich gcschU1%1. Jede Verwenung außerhalb der engen Gren2':n des UrbcberrccbugesctlCS ut ohne Zustimmung des Verlages unzulbsig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviellllltiguogen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die E.inspcicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

EINLEITUNG

Norbert Hinske

Die Aufklärung und die Schwärmer Sinn und Funktionen einer Kampfidee

Die Aufklärung des späten 17. und 18. Jahrhunderts ist eine Bewegung, die ihre Geschlossenheit nicht nur durch ein gemeinsames Programm gewinnt. Nicht weniger wichtig sind die gemeinsamen Frontstellungen, die ihre Anhänger, wie unterschiedlich ihre Auffassungen sonst auch sein mögen, miteinander verbinden. Innerhalb des Ensembles der sie tragenden Ideen wird man deshalb in einem ersten Schritt der Analyse zwischen Programm- und Kampfideen unterscheiden müssen. 1 Während die Programmideen der Zukunft zugewandt sind, richten sich die Kampfideen vor allem gegen die Vergangenheit beziehungsweise gegen deren H)'.potheken für die Gegenwart. Die - alles andere als selbstverständliche - Uberzeugung, daß die bessere Zukunft im Kampf gegen die Vergangenheit durchgesetzt werden müsse, ist ein nicht wegzudenkender, bis heute nachwirkender Charakterzug der Aufklärung. Für deren Formierung als geschichtliche Bewegung ist daher auch und gerade diese zweite Ideengruppe von grundlegender Bedeutung. Lange bevor die führenden Programmideen der Aufklärung artikuliert und Allgemeingut geworden sind, stehlt bereits die Geltung ihrer Kampfideen außer Frage. Eben deshalb sind diese, historisch gesehen, auch nicht etwa bloß das Spiegelbild der ersteren, 2 sondern Ideen eigenen Ursprungs und eigener Dynamik, die eine selbständige Erörterung verlangen. Beide Arten von Ideen sind gleichermaßen geeignet, das Selbstverständnis der Aufklärung auf den Begriff zu bringen. Bei Kant tritt dieser Sachverhalt besonders anschaulich zutage. Neben seinen klassisch gewordenen Programmdefinitionen -

1 Zur Unterscheidung zwischen Programm- und Kampfideen vgl. Norbert Hinske, Anikel: Aufklärung, in: Staatslexikon, hg. von der Görresgcscllschaft, 7., völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1985, Sp. 390-400; ders., Le idee portanti dell'illuminismo tedesco, Tentative di una tipologia, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia 15 (1985), 997-1034. 2 Als typisches Beispiel für diese Betra.chtungswcise vgl. die kluge und kenntnisreiche Rezension von Stephan Buchholz zu Werner Schneiders, Auflclärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, in: lus Commune, Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 14 (1987), 348: .Die Vorurteilskritik war eine notwendige Folge der Forderung nach Selbstdenken .. . Wo alte Erwägungen auf die Möglichkeiten vernünftiger Selbstbestimmung zentriert sind, wird das Vorurteil zum Inbegriff all dessen, was vorrangig zu bekämpfen ist."

Aufklärung 3/1

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Felix Meiner Verlag, 1988, ISSN 0178-7128

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Einleitung

„die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aujklärung" 3, „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" 4 - stößt man auf Aufklärungsdefinitionen, die mit gleicher Selbstverständlichkeit eine Kampfidee zum Ausgangspunkt nehmen. So heißt es beispielsweise in der „Kritik der Urteilskraft": „Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung; weil, obschon diese Benennung auch der Befreiung von Vorurteilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise (in sensu eminenti) ein Vorurteil genannt zu werden verdient, indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis, von andern geleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht."s Zwei zentrale Kampfideen der Aufklärung sind in der Aufklärungsdefinition der „Kritik der Urteilskraft" bereits zur Sprache gekommen: die Idee des Vorurteils und die des Aberglaubens. Diese zweite große Kampfidee aber wird im 18. Jahrhundert, wie auch die nachfolgenden Beiträge zeigen, von zahlreichen Autoren in einem Atemzug mit einer weiteren, nicht weniger wichtigen Idee verbunden: der Idee der Schwärmerei. Auf den ersten Blick könnte es den Anschein haben, als ließen sich beide Ideen in den Diskussionen des 18. Jahrhunderts beliebig gegeneinander auswechseln. Bei eingehender Analyse aber zeigt sich, daß sie, genau genommen, keinesfalls dasselbe besagen. Beide sind vielmehr als Gegenpole miteinander verknüpft. Während sich der Aberglaube an äußere Formen (an „Rituale") verliert, verflüchtigt sich die Schwärmerei in der bloßen Empfindung. Die erste Idee bezeichnet sozusagen die absolute Veräußerlichung oder Versteinerung, die letztere die absolute Verinnerlichung oder Verflüssigung der Religion, Metaphysik, Sittlichkeit usw., ihre totale Subjektiviemng. Es gehört zu den -scheinbaren oder tatsächlichen - Paradoxien der menschlichen Seele, daß gerade solche bis ins Extrem getriebene Subjektivierung nicht selten eine Anziehungskraft auszuüben vermag, die in ihrer Breitenwirkung die Wirkung der Vernunft bei weitem übertrumpft. In der Literatur des 18. Jahrhunderts ist dieses seltsame Phänomen in vielfältiger Weise reflektiert worden. „Schwärmer, Schwärmerei kommt von Schwarm, schwärmen; so wie es besonders von den Bienen gebraucht wird. Die Begierde, Schwarm zu machen, ist folglich das eigentliche Kennzeichen des Schwärmers" ,6 heißt es bei Lessing. In ähnliche Richtung zielen die Verse Wielands:

3 Immanuel Kant , Was heißt: sich im Denken o rientieren? A 330, in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 3, Darmstadt ' 1959 (sl983), 283. 4 Ders., Beantwortung der Frage: Was ist Aul'klärung? A 481 , in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Darmstadt' 1964(s 1983), 53. - Zum Verhältnis von 'Selbstdenken' und ' Mündigkeit' vgl. Norbert Hinske, Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit - drei verschiedene Formu lierungen einer und derselben Programmidee, in: Aul'klärung 1 (1986), 5-7. 5 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 158 f., in: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel , Bd. 5, Darmstadt 1 1957 ( 1 1983), 390 f. 6 Gotthold Ephraim Lessing, Uebcr eine zeitige Aufgabe: Wird durch die Bemühung kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerei nennen, mehr Böses als G utes gestiftet? Und in welchen Schranken müssen sich die Antiplatoniker halten,

Einleitung

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... Schwärmerey steckt wie der Schnupfen an: Man fühlt ich weiß nicht was, und eh' man wehren kann Ist unser Kopf des Herzens nicht mehr mächtig. 7 Und Goethe schreibt: Schüler macht sich der Schwärmer genug, und rühret die Menge, Wenn der vernünftige Mann einzelne Liebende zählt. 8 Mit den vorangegangenen Überlegungen sind unter der Hand auch bereits die Probleme der Begriffsgeschichte berührt. Historisch gesehen nämlich geht die Kampfidee der Schwärmerei oder des „Schwarmgeistes" auf Luthers Auseinandersetzung mit Andreas von Karlstadt und Thomas Müntzer zurück. 9 Noch bis tief ins 18. Jahrhundert hinein verbinden sich daher mit dieser Idee in Deutschland die Vorstellungen von Unruhestiftung und Gewalt. So heißt es noch 1743 in Zedlers „Grossem vollständigen Universal Lexicon" unter dem Stichwort „Schwärmer": „Schwärmer, werden diejenigen Fanatici genennt, welche aus Mangel der Beurtheilungskraft allerley der Christlichen Religion und bisweilen der Vernunfft selbst, widersprechende Meynungen hegen, und dadurch öffentliche Unruhen anrichten." „Es kan demnach wider dergleichen Leute, nicht so ferne sie irren, sondern so ferne sie die äusserliche Ruhe der Kirche und der Republick stöhren, die obrigkeitliche Gewalt gebraucht werden" 10 • Die weitere Geschichte des Begriffs, die in den verschiedenen europäischen Ländern keinesfalls einheitlich verläuft, kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Wichtige Bausteine für eine solche Begriffsgeschichte finden sich in den nachfolgenden Beiträgen. Hinsichtlich ihrer allgemeinen Funktion aber wird man sagen können: Wie alle tragenden Kampfideen der Aufklärung dient auch diese Idee den unterschiedlichsten Zwecken. Sie dient zuerst und zunächst der Schärfung unseres eigenen Bewußtseins. Sie ist so etwas wie ein Warnsignal, das uns die Schwächen in uns selbst bewußt machen kann, das uns hilft, die Gefährdungen zu erkennen, denen das eigene Denken und Handeln durch innere wie äußere Faktoren auf Schritt und Tritt ausgesetzt ist. Sie ist ein Mittel der Selbstprüfung. Hinter dem Kampf der Aufklärung gegen die Schwärmer steht auch das Wissen, wie schwer es manchmal ist, sich vor grassierenden Zeitstimmungen zu schützen und die Nüchternheit des eigenen Kopfes und Herzens zu bewahren. Zugleich aber dient diese Kampfidee auch dazu, alle diejenigen Positionen zusam-

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um nützlich zu seyn? in: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, Bd. 16, Leipzig 3 1902 [Neudruck Berlin 1968], 297. Christoph Martin Wieland, Musarion, oder die Philosophie der Graz.ien. Ein Gedicht, in drey Büchern, Leipzig 1768, Buch 1, Vers 310 ff„ in: Wielands Werke, Bd. 7, hg. von Siegfried Mauermann, Berlin 1911 [Neudruck Hildesheim 1986}, 171. Johann Wolfgang Goethe, Venetianische Epigramme 9, in: Goethes Werke, Bd. 1, hg. von Erich Trunz, München 12 1981 (1 1948),176. Vgl. Eric W. Gritsch, Luther und die Schwärmer: Verworfene Anfechtung? in: Luther, Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 47 (1976), IO.S-121. Vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosscs vollständiges Universal Lexicon Aller WissenschalTten und Künste, Bd. 35, Leipzig/Halle 1743 [Neudruck Graz 1961], Sp. 179.S.

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Einleitung

menfassend zu kennzeichnen oder zu etikettieren, die mit den eigenen Überzeugungen nicht in Einklang zu bringen sind. Ein charakteristisches Beispiel für diese zweite Funktion findet sich in einem noch ungedruchen Vortrag „ Über die heutige Schwärmerei", den Gedike 1784 in der Berliner Mittwochsgesellschaft im Rahmen einer umfassenderen Schwärmereidebatte 11 gehalten hat. Gedike nennt hier nicht weniger als zehn Beispiele für zeitgenössische Schwärmerei, die die Ergebnisse der Aufklärung infragezustellen drohen: „Überall wimmelt es von Theosophen und Chiliasten, Rosenkreuzern und Alchimisten, hermetischen Philosophen und Parazelsisten, Geistersehern und Geisterbannern, Inspirirten und apoRalyptischen Träumern" 12• Hand in Hand damit ist schließlich noch eine dritte, nicht unwichtige Funktion dieser Kampfidee zu nennen. Sie hat nicht selten auch dem Zweck zu dienen, andere von eben solchen Positionen von vornherein abzuhalten oder abzuschrecken. Wollte man diese drei Funktionen plakativ zusammenfassen, so könnte man sagen: Die Kampfidee der Schwärmerei ist - wie mehr oder minder alle Kampfideen der Aufklärung - ein Warnungs- o1983), 402. 7 Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 10, Berlin/Leipzig 2 1922 ( 11900), 145f„ Nr. 79. 8 Vgl. Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften. hg. von Gottfried Martin, Bd. 17: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, bearbeitet von Dieter Krallmann und Hans Adolf Martin, Bd. 2, Berlin 1967, 801.

'Schwärmer' im Kontext von Kants Anthropologiekolleg

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Daß dies auch die Welt Theodor Gottlieb v. Hippels gewesen ist, sei nur am Rande hinzugefügt. Als Beispiel sei an erster Stelle das Verhältnis von Aberglaube und Schwärmerei genannt, das von Kant im Rahmen seiner Anthropologievorlesungen immer wieder neu durchdacht wird (7 20306, 15 70616, 15 81006, 15 82207 usw.). Besondere Beachtung verdient aber auch Kants Unterscheidung zwischen (eher positiv verstandenem) Enthusiasmus und (negativ verstandener) Schwärmerei (15 40605, 15 14507, 15 21711, 15 81003 usw.), die auf bestimmte regionale Unterschiede zwischen der deutschen und der englischen Aufklärung aufmerksam machen kann. Darüber hinaus aber zeigt eine Bemerkung wie 15 39913: Halsbrechende .. „ obzwar kindische Unternehmung der Schwärmer, ... Vernunft und Erfahrung als die (einzige Fahrzeuge] Steuerruder der Erkentnis wegzuwerfen und sich auf den ocean der über die Welt hinaus gehenden Erkentnisse zu wagen, wie eng gerade diese Kampfidee der Aufklärung mit Grundgedanken der „Kritik der reinen Vernunft" verknüpft ist. Nicht uninteres:sant ist schließlich auch die Frage, wer alles für Kant in dieser oder jener Form unter die Rubrik des Schwärmers fällt (07 16203 f.: Antoinette Bourignon, Pascal; 07 19136, 15 71008: Swedenborg; 15 21909: Pietisten, Herrnhuter, Böhme, J eanne Marie Bouvier de la Motte-Guyon; 15 34605: Sebastian Frank; 1540605ff.: Plato, Rousseau, St. Pierre, Lavater). Farbenreicher kann die Palette kaum noch ausfallen. Die vorliegende Konkordanz macht Kants Gebrauch des Begriffs in dokumentarischer Form sichtbar. Sie speist sich aus zwei ganz verschiedenen Textcorpora. Zum einen erfaßt sie Kants gedruckte „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" aus dem Jahre 1798, die im Band 7 der Akademie-Ausgabe erschienen ist. 9 Zum anderen aber enthält sie die -wie der in der Kantforschung seit Benno Erdmann geläufig gewordene Titel lautet 10 - Reflexionen Kants zur Anthropologie, das heißt das außerordentlich umfangreiche Material an Notizen unterschiedlichster Art, das Kant in seinen Vorlesungen zwischen 1772 und 1796 benutzt hat. Es ist von Erich Adickes als zweiter Band des Handschriftlichen Nachlasses in der dritten Abteilung der Akademie-Ausgabe veröffentlicht worden. 11 Die Zusammenhänge zwischen beiden Textcorpora werden durch die vorliegende Konkordanz in exemplarischer Weise sichtbar gemacht. Nicht mit erfaßt sind die Vorlesungsnachschriften des Kantischen Anthropologiekollegs, deren Veröffentlichung im Rahmen der vierten Abteilung der AkademieAusgabe noch aussteht.

9 Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 2 1917 ( 1 1907), 116-333. und 354-417. -Bei den Stellenangaben der Konkordanz bezeichnen die ersten beiden Ziffern die Bandnummern, die folgenden drei die Seiten- und die letzten beiden die Zeilenzahlen dieser Ausgabe. 10 Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen, hg. von Benno Erdmann, Bd. 1: Reflexionen Kants zur Anthropologie, Leipzig 1882. 11 Kant'sgesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15, Berlin/Leipzig 2 1923('1913).

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Norbert Hinske

Das primäre Interesse der Konkordanz gilt, dem Charakter des vorliegenden Zeitschriftenheftes entsprechend, den generellen Problemen, die die Sprach- und Begriffsgeschichte im Hinblick auf die Kampfidee der Schwärmerei mit sich bringt. Sie sind auch für die Auswahl des jeweiligen Kontextes bestimmend gewesen. Daneben aber ist die Konkordanz geeignet, sozusagen unter der Hand auch einige spezielle Probleme der Kantforschung und Kantphilologie einer Lösung näherzubringen. Das gilt insbesondere für die verwickelte Frage nach dem Verhältnis, in dem Vorlesungsnachschriften und handschriftlicher Nachlaß bei Kant zueinander stehen,' 2 sowie - im vorliegenden Sonderfall - nach dem Verhältnis von Kants gedruckter „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" zu den Notizen des Nachlasses. Einige augenfällige Parallelen lassen stichprobenartig erkennen, in welcher Form das gedruckte Werk des Jahres 1798 aus den Vorlesungsnotizen der siebziger und achtziger Jahre hervorgegangen ist.U Im Gegenzug dazu zeigt die Konkordanz aber auch, wie viel von dem Gedankenund Einfallsreichtum der Vorlesungsnotizen nicht in die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (die im Guten wie im Schlechten nur zu deutlich die Spuren eines Alterswerkes zeigt) Eingang gefunden hat. Alles zusammengenommen stehen 13 Belege aus dem gedruckten Werk 59 Belegen aus dem Nachlaß gegenüber. Wer Kants philosophische Anthropologie und deren Intentionen wirklich verstehen will, darf sich daher nicht mit dem Spätwerk von 1798 zufrieden geben, sondern muß das vielschichtige Material, so kompliziert die philologischen Probleme zuweilen auch liegen mögen, in seiner ganzen Breite zur Kenntnis nehmen.

Konkordanz

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V schwärmen Die Einbildungskraft aber auch von diesem Zwange zu befreien und das eigenthümliche Talent, sogar der Natur zuwider, regellos verfahren und schwärmen zu lassen, würde vielleicht originale Tollheit abgeben, die aber freilich nicht musterhaft sein und also auch nicht zum Genie gezählt werden würde. Die Phantasie schwärmt, die imagination stellet etwas treu oder untreu, lebhaft etc. etc. dar. Phantast: faseln (mit der phantasie spielen) oder schwärmen (wenn die Phantasie mit uns fortläuft). Wer allenthalben Anschauungen an die Stelle der ordentlichen refle-

12 Vgl. Norbert Hinskc, Kam-Index, Bd. 3: Stellenindex und Konkordanz zur . Logik Blomberg". Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse und Elfriede Reinardt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, Abschnitt 2: Die Feststellung der Parallelen als Forschungsaufgabe und die Vielschichtigkeit ihrer Problematik, S. XVI ff. 13 Vgl. in der nachfolgenden Konkordanz insbesondere 0729!32 mit 15 76120 und 15 76510.

'Schwärmer' im Kontext von Kants Anthropologiekolleg

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xion des Verstandes und Vernunft setzt ( desienigen setzt, was blos in Begriffen besteht, vor die uns keine Anschauung gegeben ist), schwärmt. 1533718 Alles mystische ist ihnen willkommen, sie sehen in schwärmenden Schriften oder überhaupt im alten unerhörte sachen; das neue ist ihnen darum eben, weil es pünktlich ist und ihrem lärmenden Geiste fesseln anlegt, kurtzsichtig und schaal. 1533908 . Es ist vergeblich denen, die nur durch Begriffe schwärmen , einen überlegenden und bestimmten Vortrag anpreisen zu wollen. So wie sie diesen annehmen wolten, würden sie ganz leer seyn. 1539321 wenn aber die vorgegebenen Erleuchtungen amant obscurum und sich gar nicht beym Licht wollen besehen und prüfen lassen, wenn sie auf keine faßliche Idee auslaufen: so schwärmt die Einbildung, und, weil das product Nichts ist, so war es auch gar nicht aus dem genie entsprungen, sondern Blendwerk. 1540002 Die Schwärmende Schreibart ist die des Sonderlings, aber hat keine originalitaet. 1540607 Plato schwärmt mit Ideen überhaupt. St. Pierre. 1540613 Lavater, mit Ideen angefüllt, in welchen ihm [recht gla) Orthodoxe nicht wiedersprechen können, schwärmt, indem er sie ganz über den Kreis der Erfahrungserkentnis ausdehnt. 1540706 Vom Schwärmenden Genie kan ich wirklich lernen; denn entweder seine Grundidee ist vernunftmäßig, oder die Folgerung ist dreust und unverstekt und entdekt dadurch den Fehler in den Grundsätzen, 1541415 Genie ist nicht Eingebung. Nach genie haschen ist das schwärmen. 1541703 Weil die philosophie Alles brauchen kan, was der literator oder der schwärmende originalgeist liefert, so schatzt er alles, was eine Gewisse Seelenkraft in ihrer Große beweiset. 1542111 Erhitzung aus einer idee ist Begeisterung, ohne Idee ist schwarmendes Feuer. 1543829 Gebirge und Ebenen. Gleichsam die Natur in ihrer gewaltsamen Zerstöhrung, daher die Fabel der Giganten. - Es verleitet zum Schwärmen der Einbildungskraft, und da geräth das Gemüth in Furcht der Ueberspanung und des Wahnsinns. 1550722 In Religion: Schwarmen 1570506 Die Phantasie (productive Einbildungskraft) schwärmt (oder dichtet. Jenes unwillkührlich, dieses Willkührlich) iederzeit; aber im Wachen halten wir sie auf und dirigiren sie willkührlich. 1570512 Bey Hypochondrischen schwärmt sie wieder willen. 1580813 Die phantasie [spielt) (schwärmt) regellos, sie [schwärm] faselt. 1580816 Sie schwärmt mehr des Abends als des Morgens.

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Schwärmer

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Aber es giebt auch frohe und kühne Ahndungen von Schwärmern, welche die nahe Enthüllung eines Geheimnisses, für das der Mensch doch keine Empfänglichkeit der Sinne hat, wittern und die Voremp-

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Norbert Hinske findung dessen, was sie als Epopten in mystischer Anschauung erwarten, so eben entschleiert zu sehen glauben. In der Religion ist der Choleriker orthodox, der Sanguinische Freigeist, der Melanch. Schwärmer, der Phleg. lndifferentist. So glaubt ein Schwärmer alle seine Hirngespinnsten und eine jede Sekte ihre Lehren in der Bibel zu finden. Der Träumer im Wachen durch (übers] willkührliche Überspannung seiner Geisteskraft ist ein Schwärmer. Schwache der phantasie: Regellose macht Unwahre Historiker, Lügner; Verkehrte. Zügellose (wild,) macht Schwärmer. Steht nicht unter Willkühr. bey wem (sie) sich die Zügellose phantasie mit Ideen des guten associirt: ein Enthusiast. Bey dem sie regellos ist: ein Träumer, (ist sie zugleich Zügellos, Überschwenglich), dazu auch der Schwärmer gehört. Ein Enthusiast. Traumer, Phantast. Schwärmer. Wahnsinniger. Verrükter. Schwärmer: das innere Licht. Der seinen Korper gantz verläßt und sich geistigen Anschauungen ergiebt. Der eine Idee des Guten realisirt, ein Enthusiast. Der Traumer der Geistigen Empfindung ist ein Schwärmer, der sinnlichen ein Wahnsinniger. Schwärmer und Mucker sind beyde schrifttoll. Herrenhuter und pietist Böhm. Guyon. Franck war ein Schwärmer. Es giebt nur zwey Qvellen gültiger (Urthe) Einsichten: Vernunftwissenschaft oder critische Gelartheit. Und denn ein [abgeruftes] aufgesammleter Kram von Broken aus beyden ohne Methode und Wissenschaft, mit einem Geist der Eingebung beseelt. Alle solche Schwärmer sprechen Religion. Halsbrechende (Wagha], obzwar kindische Unternehmung der Schwärmer, [die] Vernunft und Erfahrung als die (einzige Fahrzeuge) Steuerruder der Erkentnis wegzuwerfen und sich auf den ocean der über die Welt hinaus gehenden Erkentnisse zu wagen. Rousseau ist ein Achtungswürdiger Schwärmer; (Lichtvolle Dunkelheit durch Blitze (Wincke), wie die neuen schwarmer.) Wir sind [zum] ans einstimmige Urtheil mit Anderen gewiesen, und, wer sich davon verliert, wird vor einen Phantasten gehalten. Daher die, welche nur mit der Nachwelt einstimmig urtheilen, (als) Phantasten [sind) angesehen werden. Schwärmer: die ietzt schon nach den Empfindungen der künftigen Welt leben und sprechen. Schwedenborgs und aller Schwärmer (Mystici) symbolische auslegung der Bibel. Der melancolische. Schwärmer. In der Religion ist der cholerische orthodox, herrschende Kirche,

'Schwärmer' im Kontext von Kants Anthropologiekolleg

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sangvinische freygeist, melancolische Schwarmer, phlegmatische indifferentist. Alle Anschauung ausser denen der Sinne (von dem, was nicht gegenwartig ist) ist Einbildung. (Phantast, der das Bild für Sache nimmt.) Schwärmer nennen sie Gesicht. Das zweyte Gesicht der Bergschotten. Ein ieder glaubt das zu sehen, wovon sein Kopf voll ist. Das Frauenzimmer im Monde verliebte, der Pfarrer Glockenthürme. (Der Schwärmer findet alles in der Bibel.) (Sie ist nicht blos ein Vermögen, sondem eine für sich selbst sowohl productiv als reproductiv wirkende Kraft. Die erste, wenn sie unwillkührlich ist, macht den Träumer oder den Schwärmer, Wabnsinni- · gen und Hypochondristen. Phantasie ist die unwillkührliche Einbildungskraft - Phantast.) [Träumer Enthusiast. Phantast. Schwärmer. Wahnsinnig.] Enthusiast. Phantast. Träumer. Wahnsinnig. Schwarmer. Wahnwitzig. Schwärmer scheuen Definition und Experiment wie das Feuer. Metaphysik macht schwärmer, weil sie ihren eignen Qvell und Grenzen nicht zeigen kan. Der, so sich eine andere Art moglicher Erfahrungen als durch die Sinne und eine andere Art moglicher Erkenntnis als durch Begriffe verspricht, ist ein Schwarmer. Das Schopferische. Funken von genie bey Schwärmern und Enthusiasten; sind wie die Mantis, die einen Ausleger brauchen. Die Verliebte Leidenschaft erhält die Art trotz dem purismus der Schwarmer. Schwärmerei s Das letztere ist eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den Stoff zum Tagebuch eines Beobachters seiner selbst abgiebt und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt. den hellen Kopf (ingenium perspicax). - Es ist merkwürdig, daß man sich den ersteren, welcher gewöhnlich nur als praktisches Erkenntnißvermögen betrachtet wird, nicht allein als einen, welcher der Cultur entbehren kann, sondern als einen solchen, dem sie wohl gar nachtheilig ist, wenn sie nicht weit genug getrieben wird, vorstellig macht, ihn daher bis zur Schwärmerei hochpreiset und ihn als eine Fundgrube in den Tiefen des Gemüths verborgen liegender Schätze vorstellt, Wenn aber gewisse Urtheile und Einsichten als unmittelbar aus dem innern Sinn (nicht vermittelst des Verstandes) hervorgehend, sondern dieser als für sich gebietend und Empfindungen für Urtheile geltend angenommen werden, so ist das baare Schwärmerei, welche mit der Sinnenverrückung in naher Verwandtschaft steht.

Norbert Hinske

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Eingebungen .. „ von denen ein anderes Wesen, welches doch kein Gegenstand äußerer Sinne ist, die Ursache sei: wo die Illusion alsdann Schwärmerei oder auch Geisterseherei und beides Betrug des inneren Sinnes ist. Die Originalität (nicht nachgeahmte Production) der Einbildungskraft, wenn sie zu Begriffen zusammenstimmt, heißt Genie; stimmt sie dazu nicht zusammen, Schwärmerei. Die wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Swedenborg) für bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen 'intelligibelen Welt ausgeben, ist Schwärmerei. Wahnsinn mit Affect ist Tollheit, welche oft original, dabei aber unwillkürlich anwandelnd sein kann und alsdann, wie die dichterische Begeisterung (furor poeticus) an das Genie gränzt; ein solcher Anfall aber der leichteren, aber ungeregelten Zuströmung von Ideen, wenn er die Vernunft trifft, heißt Schwärmerei. Der Aberglaube ist mehr mit dem Wahnsinn, die Schwärmerei mit dem Wahnwitz zu vergleichen. (Deutlichkeit der Begriffe vertreibt die S chwärmerey; hinter Verworrenen Begriffen versteken sich Theosophen. Goldmacher, Mystiker, Initiaten in geheimen Gesellschaften.) Geschichte der Bildung der Menschlichen Fähigkeit und des menschlichen Geschlechts ist Fortgang von den Sinnen zum Verstande. (Nachher versteigt sich dieser in Schwärmerey oder Einbildung und muß wieder zu den Sinnen zurükgewiesen werden.) Die innere illusion heißt, (wenn sie willkürlich ist), ein Wahn (sonst Schwarmerey). Aberglaube ist Blödsinnigkeit; Schwärmerey: Wahnsinn. Dagegen enthusiastisch in Freundschaft und patriotism. Schwarmerey. Aberglaube. (In der phantasterey ist Wahnsinn, im Aberglauben Wahnwitz, in der Schwärmerey Aberwitz.) Faule Freydenkerey: Ursache der Schwärmerey. Die Angemaßte Freyheit zu denken ohne erworbene Geschiklichkeit zu denken. Es muß daher eine andere Fundgrube aufgesucht werden, ais die, durch [Fici Ge] Handwerk und Kunst Brod zu Verdienen. B. Wahnwitz (der Urtheilskraft). Ähnlichkeit Mit Aberglauben. C. · Aberwitz (der Vernunft). Ähnlichkeit Mit Schwarmerey. Schriftoll. Aberglaube ist [scla] feige Faulheit [der Vernunft) selbst zu denken. Schwarmerey (aus ausschweifende Sich selbst gnugsame Faulheit der Vernunft] ist die [vermessene) faule Waghalsigkeit im selbstdenken.

schwärmerisch

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Es giebt auch (ein] schwärmerische, aber gute Köpfe. Das schwärmerische Genie übertreibts in Ideen, das Enthusiastische in Handlungen nach an sich wahren Ideen oder in der praktischen Anwendung der letzteren.

'Schwärmer' im Kontext von Kants Anthropologiekolleg

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Die schwärmerische Denkungsart ist, wenn man an sich wahre und

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bewährte Ideen über die Grenze (der] aller moglichen Erfahrung ausdehnt. Der melancolische, wenn er böse ist, ist boshaft. Im guten ist bey ihm ernstliche Gesinnung, Grundsatze, Zartlichkeit, Beständigkeit. Empfindet tief die Ungerechtigkeit. Ist schwärmerisch in der Tugend.

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schwärmerisch-reizend

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So war es mit den schwärmerisch=reizenden inneren Empfindungen einer Bourignon,

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schwärmerisch-schreckend

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oder den schwärmerisch=schreckenden eines Pascal bewandt.

A

A

Der Beitrag macht den Versuch, an einem exemplarischen Fall - Kants Vorbereitungsnotizen für sein Anthropologieko//eg sowie der daraus schließlich hervorgegangenen gedruckten „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" - den vielfältigen Gebrauch des Wortes 'Schwärmerei' (sowie der von ihm abgeleiteten Wörter) im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit Hilfe einer Konkordanz zu dokumentieren. Der Konkordanz, die insgesamt 72 Belegstellen umfaßt, liegt die Erfassung und Erschließung der Kantischen Texte mit Hilfe der ED V zugrunde. Sie ist daher auf Vollständigkeit und ' Objektivität' angelegt und macht so den ganzen Facettenreichtum der Bedeutungen sichtbar, derfür diese Kampfidee der deutschen Aufklärung charakteristisch ist. This artic/e presents a concordance intended to document the manifold use of the ward „Schwärmerei" ( enthusiasm), as we// as words derivedfrom it, in the last third ofthe 18th century. lt drawsfrom an exemplary source, namely the notes written by Kant while preparing his anthropology lecture. as weil as the printedwork „Anthropology from a Pragmatic Point of View" which derives from those notes. The concordance comprises altogether 72 references to Kantian texts, which have been recorded on electronic media and processed by computer. lt is therefore intended to be complete and 'objective' and thus to make visible the multifarious facets of meaning which are characteristic of this term so often wie/ded as a weapon in the German Enlightenment. Prof. Dr. Norbert Hinske, Universität Trier, Fachbereich I - Philosophie, Postfach 3825, D-5500 Trier

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Zum Phänomen der religiösen Schwärmerei

Begreifst du aber, Wieviel andächtig schwärmen leichter als Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch Andächtig schwärmt, um nur - ist er zuzeiten Sich schon der Absicht deutlich nicht bewußt Um nur gut handeln nicht zu dürfen? Gotthold Ephrainn Lessing,Nathan der Weise, Erster Aufzug, Zweiter Auftritt

Andächtig schwärmen ist leichter, als gut handeln. Zu jenem gehören nur die überspannten Gefühle eines reizbaren Weibes; zu diesem Entschluß, und Kraft eines thätigen Mannes. Sebastian Mutschelle (zitiert nach: Aussprüche der philosophirenden Vernunft und des reinen Herzens über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände mit besonderer Rücksicht auf die kritische Philosophie, hg. von Johann Hugo Wyttenbach und Johann Anton Neurohr, Bd. 2, Jena 1798, S. 113)

KURZBIOGRAPHIE

Johann Jakob Engel (1741-1802) J. J. Engel wurde am 11. September 1741 in Parchim in Mecklenburg geboren. Sein Vater war dort als Prediger tätig. Nach dem Besuch der öffentlichen Schule in Rostock studierte er hier zunächst Theologie, seit 1762 in Bützow auch Mathematik, Physik und - unter anderem bei Johann Nikolaus Tetens - Philosophie. Von der Theologie wandte sich Engel immer mehr ab. 1763 wurde er zum Doktor der Philosophie promoviert. Ein Jahr später ging er nach Leipzig, um sich besonders dem Studium der Philologie und der Sprachen zu widmen. Während dieser Jahre schloß er seine Freundschaft mit Christian Felix Weiße, August Gottlieb Meißner und - vor allem - mit Christian Garve, dem er lebenslang verbunden blieb. Erste Begegnungen mit dem Theater suchte Engel ebenfalls in Leipzig, hier stand er auch gemeinsam mit Goethe auf der Bühne. Nachdem er sich bereits 1769 habilitiert hatte, konnte Engel erst 1776 eine Stelle mit einem regelmäßigen Einkommen antreten, und zwar als außerordentlicher Professor für Moralphilosophie und schöne Wissenschaften am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. Zedlitz berief ihn 1779 in die von Friedrich dem Großen angeregte Schulkonferenz, die über Änderungen der Lehrpläne zu beraten hatte. 1786 wurde er in die Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen. In den Jahren 1785 und 1786 unterrichtete Engel die Brüder Wilhelm und Alexander v. Humboldt in Privatvorlesungen über alle Disziplinen der Philosophie. Ein Jahr später, 1787, erteilte Engel dem Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. Privatunterricht in Philosophie und verwandten Fächern - vor allem den schönen Künsten.

König Friedrich Wilhelm II. berief Engel 1787 zum Oberdirektor des Berliner Nationaltheaters, ein Hofamt, das er ab 1790 zusammen mit Ramler verwalten mußte. Immer häufiger kam es zu Spannungen. Nachdem Engel 1794 Abschied von der Stelle des Oberdirektors genommen hatte, zog er sich nach Schwerin zurück. Er war gezwungen, durch freiberufliche literarische Tätigkeit seinen Unterhalt zu verdienen. In dieser Zeit lebte er völlig zurückgezogen. Die Zweifel an der eigenen Befähigung nahmen mehr und mehr zu; schließlich verbrannte er eine wohl beträchtliche Anzahl von Unterlagen und Entwürfen, die er für zu schlecht befand, als daß sie eine Weiterbearbeitung oder gar eine Veröffentlichung verdient hätten. Nach der Thronbesteigung durch Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1797 erinnerte dieser sich seines früheren Privatlehrers und berief ihn 1798 nach Berlin zurück. Engel wurde finanziell abgesichert und konnte - ohne Verpflichtungen durch ein öffentliches Amt - als freier Schriftsteller leben. Als er vier Jahre später auf Wunsch seiner Mutter nach Parchim reiste, starb er dort am 28. Juni 1802. Engels Felix Meiner Verlag, 1988, ISSN 0178-7128

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Iosoph' auf Mendelssohn ist mit Schwierigkeiten verbunden. Wesentliche Anregungen verdankt er nämlich der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und Christian Wolffs, wobei sich gerade die letztere als eine ausgesprochen systematisch angelegte und schulmäßig betriebene Philosophie darstellt. Anhand der Korrespondenz und der bisweilen kontroversen Diskussionen mit Autoren der Zeit wie Abbt, Hamann, Iselin, Kant und Engel beleuchteten mehrere Beiträge den Philosophen Mendelssohn in der vielseitigen Ausrichtung seines Denkens- mit den Worten der Veranstalter: in den verschiedenartigen Kreisen seiner Wirksamkeit. Stefan Lorenz (Bochum) skizzierte die Debatte zwischen Mendelssohn und Thomas Abbt (I 738-1766) über die Bestimmung des Menschen und ordnete die kontroversen Positionen in die Krisis des Theodizeegedankens um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Oswald Bayer (Tübingen) analysierte mit Hilfe der rechtsphilosophischen Werke Johann Georg Hamanns (.Golgatha und Scheblimini", 1784) und Mendelssohns (.Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum", 1783) zwei unterschiedliche Auslegungen von Naturrecht und Gesellschaftsvertrag in der Spätphase der deutschen Aufklärung. Da es sich bei der Hamannschen Schrift um den Versuch einer metakritischen Überwindung der Mendelssohnschen Terminologiescheidungen handelte, einen Versuch, der zudem den Anspruch auf eine angemessenere Auslegung der hebräischen Bibel erhob, kann die Kontroverse zugleich als Auseinandersetzung über die Konstituentien neuzeitlicher Subjektivität und Sozialität sowie über die Frage nach der Bedeutung der Bibel für eine politische Ethik interpretiert werden. Welches Gewicht Mendelssohn auch für andere Denker gewonnen hat, demonstrierte Ulrich Im Hof (Bern) am Beispiel Isaak Iselins. Der Schweizer Historiker und Philosoph, dessen Schriften Mendelssohn überwiegend zustimmend in den .Briefen, die Neueste Litteratur betreffend" rezensierte, sah in Mendelssohn die Möglichkeit des Hinaustretens aus dem doch relativ beschränkten helvetischen Bereich. Die Beziehung war gekennzeichnet durch gegenseitigen Respekt. Hinzu kam noc:h das wohlwollende Interesse Mendelssohns am schweizerischen Republikanismus. Einen Vergleich der anthropologischen und geschichtsphilosophischen Grundpositionen von Mendelssohn und Kant stellte Norbert Hinske an. Der Vortrag bemühte sich, die wechselseitige stillschweigende Auseinandersetzung der beiden lange freundschaftlich miteinander verbundenen Philosophen zu rekonstruieren und auf diese Weise der gegenseitigen Beeinflussung nachzugehen. Kant versuchte in seinen anthropologischen Vorlesungen zwischen den Positionen Abbts und Mendelssohns: bezüglich der Bestimmung des Menschen zu vermitteln und formulierte in ausgesprochen geschichtsphilosophischer Diktion, daß die Bestimmung des Menschen wohl in der Entwicklung aller seiner Anlagen bestehe, er dieses Ziel jedoch nicht als Individuum, sondern nur als Gattungswesen Mensch erreichen könne. Mendelssohn griff diesen Kantischen Konziliationsversuch, der 1784 in der .Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" seine staatsphilosophische Zuspitzung erhalten hatte, in einem Votum für die Mittwochsgesellschaft auf und beschied den darin enthaltenen geschichtsphilosophischen Antwortversuch auf die anthropologische Frage nach der Bestimmung des Menschen abschlägig. Ähnlich wie Mendelssohn - so die Ausführungen von Christoph Böhr (Trier) warnte Johann Jakob Engel ( 1741-1802) vor der Gefahr, daß Aufklärung dialektisch in ihr Gegenteil umschlagen könne. Diese Gefahr kann abgewehrt werden, wenn sich Aufklärung nicht nur als einseitige Verstandesaufklärung versteht. Während Mendelssohn es beim Hinweis auf das Problem eines dialektischen Umschlags bewenden ließ, erweiterte Engel diesen Ansatz einer negativen Geschichtsphilosophie in gut popularphilosophischer Absicht zum Programm. Engel tat dies durch ein Plädoyer für einen 'moderaten und temperierten Dogmatismus'. Das menschliche Bedürfnis nach Sinn und Orientierung hat dem Umschlagen der Aufklärung in einen radikalen Skeptizismus die

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Grenzen vorzuzeichnen. Anhand des Vortrages wurde erneut das Ringen der deutschen Spätaufklärung um einen reflektierten Begriff von Aufklärung deutlich. Den Philosophen Mendelssohn nahm auch der Beitrag von Michael Albrecht (Trier) in den Blick. Erstmals wurden Überlegungen zu einer Entwicklungsgeschichte der Mendelssohnschen Ethik formuliert. Anfänglich sehr stark von der Ethik Wolffs und Baumgartens geprägt, wandte sich Mendelssohn bald von der theoretischen hin zur praktischen Sittenlehre, in der neben dem Festhalten am Wolffischen Grundsatz der Vollkommenheit jenes 'innere Gefühl' begegnet, das als wirkungsvoller und zeitlich rascher Faktor der Handlungsmotivation erkannt wird. Albrecht skizzierte kurz den möglichen und in seiner Wirkung noch nicht genau zu umgrenzenden Einfluß der common-sense-Ethik auf Mendelssohn, um dann abschließend noch die Aufmerksamkeit auf einige Einzelfragen zu lenken. Erwähnt seien hier nur das Verhältnis Mendelssohns zu Maimonides, die Einordnung des in den .Morgenstunden" begegnenden Billigungsvermögens sowie die Interpretation der Mendelssohnschen Ethik als eudämonistisch. In seinem öffentlichen Abendvortrag zeichnete Alexander Altmann (Waltham/Mass.), der 1987 verstorbene Nestor der Mendelssohn-Forschung, das Bild Mendelssohns im Deutschen Idealismus nach. Er zeigte die Abhängigkeit des Urteils über Mendelssohn vom unterschiedlichen Grad der Jacobi-Rezeption seitens der Idealisten. Fichte, Schelling und Hegel stellten zunächst nicht den authentischen Mendelssohn dar, sondern übernahmen das von Friedrich Heinrich Jacobi ( 1743-1814) entworfene Zerrbild. Erst die Abkühlung des Verhältnisses zwischen den ehemaligen Tübinger Stiftlern und Jacobi ließ allmählich eine objektivere Deutung Mendelssohns im Deutschen Idealismus zu. Dem Mitherausgeber der . Literaturbriefe" , dem Schriftsteller und dem Juden Mendelssohn waren weitere Vorträge gewidmet. Der Verleger der Jubiläumsausgabe, Günter Holzboog (Stuttgart), umriß in anschaulicher Weise die Beziehung zwischen Autor und Verleger im 18. Jahrhundert. Die Herausbildung eines eigenen Berufs.zweiges der Verleger ging einher mit einer steigenden Buchproduktion. H olzboog führte die Gründe für diese Entwicklung an und erläuterte auch das im 18. Jahrhundert anzutreffende Problem des unerlaubten Nach- beziehungsweise Raubdrucks. Die: Situation des Autors in diesem Kräftespiel war die juristisch am ungeschützteste. Erst allmählich ergaben sich Ansätze zu einer rechtlichen Fixierung. Die Bedeutung, die der . Jubiläumsausgabe" der Schriften Mendelssohns für die Forschung zukommt, konnte das Referat von Eva Engel-Holland eindrucksvoll veranschaulichen. Als Herausgeberin zeichnet sie für den fünften Band verantwortlich, de.r die Beiträge Mendelssohns zu den . Briefen, die Neueste Litteratur betreffend" enthält. Sie ging der Frage nach dem Umfang dieser Beiträge nach und richtete im Anschluß daran ihr Hauptaugenmerk auf den Sprachphilosophen Mendelssohn. Auch die Bedeutung Mendelssohns als Übersetzer wurde gewürdigt. Ingrid Strohschneider-Kohrs (München) behandelte in ihrem Vortrag die Bedeutung Mendelssohns für das letzte Lebensjahrzehnt Lessings. Besonderes Gewicht in dieser Zeit (ca. J770-1781)gewann die Frage nach der Bedeutung der 'verites de fait', das heißt die Problematik der 'fides historica'. Am Beispiel der Lessingschen Schrift .Die Erziehung des Menschengeschlechts" sowie seines .Nathan" verdeutlichte Frau Strohschneider-Kehrs die gedankliche und generische Differenz in Problementwurf und Antwortmodus der beiden Spätwerke. Hier finde sich ein bislang noch wenig untersuchter Widerhall der zwischen den beiden Freunden geführten Gespräche. Einern anderen Aspekt der schriftstellerischen Arbeit Mendelssohns widmete sich das Referat von Birgit Nehren (Trier). Sie untersuchte mit Hilfe der Begriffe Aufklärung, Geheimhaltung und Publizität die Beziehungen zwischen Moses Mendelssohn und der Berliner Mittwochsgesellschaft. Gerade Mendelssohn hat das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Aufklärung und Geheimhaltung sehr lebhaft empfunden. Das

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Referat beleuchtete die Stellungnahmen Mendelssohns w diesem Themenkomplex und ordnete sie in die Diskussionen der Mittwochsgesellschaft ein. Einem ganz anders gelagerten, aber nicht weniger wichtigen Themenkreis galt eine weitere Reihe von Vorträgen innerhalb des dichtgedrängten Veranstaltungsprogramms. Sie betrachteten den Juden Mendelssohn vor dem Hintergrund seiner innerjüdischen Wirkungsgeschichte. Friedrich Niewöhner (Berlin) eröffnete diese Thematik mit einer Interpretation Mendelssohns als eines Philosophen des Judentums. Dabei galt sein Hauptaugenmerk der Frage, inwieweit Mendelssohn wirklich sein Verständnis von Judentum, wie es uns in seinem .Jerusalem" vorliegt, in Auseinandersetzung mit Spinoza gewonnen habe. Niewöhner bezweifelte eine Mendelssohnsche Textkenntnis des theologisch-politischen Traktats Spinozas. Mit Bezug auf zahlreiche Textpassagen bemühte sich der Referent nachzuweisen, daß Mendelssohn, als orthodoxer Jude, den „Jerusalem" als eigenständige politische Schrift durchaus ohne Rückgriff auf Positionen Spinozas hätte abfassen können. Es findet sich auch in der Tat keine direkte Bezugnahme auf die innerhalb des Judentums heftig umstrittene Philosophie Spinozas, ein Umstand, der-so ein Einwand Altmanns-angesichts der doch beträchtlichen Übereinstimmungen im Wortlaut jedoch nur von sekundärer Bedeutung sein kann. Mendelssohn unterließ wohl aus Gründen der Klugheit, so Altmann, eine direkte Bezugnahme auf Spinoza. Steven Lowenstein (Los Angeles) untersuchte einen speziellen Aspekt der Rezeptionsgeschichte Mendelssohns. Der Vortrag fragte nach den Subskribenten seiner Bibelübersetzung. In Berlin fand die Übertragung der heiligen hebräischen Schriften die größte Leserschaft. Andernorts bezogen infolge der rabbinischen Opposition erheblich weniger Juden den verdeutschten Text. Die Rezeption der Bibelübersetzung verlief also nicht einheitlich, sondern entsprach gleichzeitig den jeweils vertretenen Einstellungen dem Phänomen' Aufklärung' gegenüber. Auf diese Weise vermag das Geschick der bibelbezogenen Arbeiten Mendelssohns auch die wechselvolle Geschichte der innerjüdischen Aufklärung (Haskala) zu illustrieren. Dominique Bourel (Berlin) versuchte der unmittelbaren Wirkung Mendelssohns auf die jüdischen Zeitgenossen nachzugehen. Als Beispiel wählte er sich Lazarus Bendavid. Dabei konnten die Probleme einer deutsch-jüdischen Symbiose ebenso angesprochen werden wie der jeweils anders formulierte Bruch der 'Schüler' mit Mendelssohns Philosophie der Balance. Wollte Mendelssohn aufjeden Fall am Zeremonialgesetz festhalten, so waren seine vom Judentum (im religiösen Sinne) doch bisweilen recht distanzierten Schüler zur Aufgabe dieses konstitutiven Merkmales jüdischer Identität eher bereit. Anna-Ruth Löwenbrück (Mainz) erläuterte die Beziehung zwischen Mendelssohn und dem Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis ( 1717-179 J ). Judenfeindlichkeit gab es auch in der dem Toleranzgedanken huldigenden Aufklärung. Die drei in ihrem Charakter sehr verschiedenen Phasen der Beziehung bis hin zum endgültigen Bruch - Anlaß war die durch antijüdische Vorurteile gefärbte Rezension Michaelis' zu Dohms Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1782) -zeigen Michaelis als Vertreter einer pseudorationalen Judengegnerschaft. Die Eröffnungsrede für die dem Symposion angeschlossene Mendelssohn-Ausstellung hielt Siegbert Prawer (Oxford). Auch er stellte ein Kapitel deutsch-jüdischer Wirkungsgeschichte in den Miuelpunkt seiner Ausführungen. Der Jude Mendelssohn, zeit seines Lebens ein frommer und selbstbewußter Jude, erfuhr eine recht unterschiedliche Aufnahme bei der jüdischen Nachwelt. Auf der einen Seite die trotz aller Vorbehalte recht positive Würdigung eines Heinrich Heine, auf der anderen Seite die wohl ideologisch bedingte negative Ablehnung („Seichbeutel") durch Karl Marx. Gegenüber diesen beiden Exponenten verschiedener Lesarten konnte ein Mann wie der Schriftsteller und Journalist Moses Hess (1812-1875) zu einem objektiveren Urte·il gelangen („Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätsfrage". 1862).

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Jacob Katz (Jerusalem) behandelte in thesenhafter Zuspitzung die Reaktion der jüdischen Um- und Nachwelt auf Mendelssohn. Dabei unterschied er mehrere recht unterschiedliche Phasen der Einstellung gegenüber diesem Denker von europäischem Rang. Zunächst entsprach der begeisterten Gefolgschaft seitens der Verfechter einer innerjüdischen Aufklärung die Skepsis konservativer orthodoxer Kreise, die einen Abfall von der traditionellen Lehre und Lebensführung befürchteten. Mendelssohns Versuch einer Synthese zwischen Tradition und Anpassung an die Kultur der Umwelt vereinte jedoch zunächst noch im Westen Reformer und Orthodoxe. Im osteuropäischen Raum stießen dagegen solche Bemühungen bei den Chassidim auf wenig Gegenliebe. Dort zeigte sich dann eine recht unterschiedliche Beurteilung Mendelssohns. Einerseits figurierte er als Symbol der Aufklärung, als der Garant einer zunehmenden Emanzipation, andererseits sah man in seiner Person den Beginn jener Aufweichung, die zum Verlust des wahren Judentums führen konnte, ein Vorwurf, der den gläubigen Juden Mendelssohn sicher tief verletzt hätte. Zu dieser mehr religiös-theologischen Kritik gesellte sich mit der Wendung der ostjüdischen Haskala zum Nationalismus in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die vernichtende Kritik an Mendelssohn: Er habe die Assimilation eingeleitet und damit zur Entnationalisierung des Judentums beigetragen. Erst das Erstarken der kritisch-wissenschaftlichen jüdischen Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert ermöglichte ein ausgewogeneres und angemesseneres Urteil über die Person und das Werk Mendelssohns. Daß Mendelssohn auch als literarische Figur seinen Niederschlag gefunden hat, belegte das Referat Chaim Shohams (Haifa). Im Rahmen der hebräischen beziehungsweise jüdischen Aufklärung kommt Mendelssohn ein besonderer Rang zu, verband sich doch mit seinem Namen und der Stätte seines Wirkens, Berlin, für die Aufklärer der osteuropäischen Städtchen die Hoffnung auf Klärung von Fragen und Problemen. Es war diese Hoffnung, die etliche die Reise nach Berlin unternehmen ließ, um an der Weisheit Mendelssohns zu partizipieren. Einen dieser'Pilger' hat Adelbert von Chamisso in seiner Ballade "Abba Glosk Leczeka" beschrieben. Shohams An alyse zeigte anhand zeitgenössischer Texte das Aufeinandertreffen zweier verschiedener Aufklärungskonzepte: der radikale Verfechter einer jüdischen Aufklärung (Abba Glosk) und der abwägende Philosoph der Balance (Mendelssohn). Neben dieser innerjüdischen Problematik, die auch eine weniger bekannte Seite Mendelssohns kritisch beleuchtete, bietet die Ballade Chamissos auch ein Beispiel für einen literarischen Paradigmenwechsel, der zugleich ein ästhetisches Programm ist: Der jüdische 'Lumpenaufklärer' wird zum 'Ritter der Wahrheit'. Ihre Abrundung erhielt die Tagung durch die von Michael Albrecht kenntnisreich zusammengestellte Ausstellung. Der umfangreiche Katalog zeichnet das vielseitige geistige Profil Mendelssohns, auch für ein breiteres Publikum zugänglich, nach (Moses Mendelssohn. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung, bearbeitet von Michael Albrecht= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Nr. 51, Weinheim: Acta Humaniora, VCH, 1986, 195 S.). Besonderen Reiz verliehen der Ausstellung mehrere neuaufgefundene handschriftliche Dokumente Mendelssohns. Sowohl die Ausstellung als auch die gehaltvollen Vorträge und die lebhaften Diskussionen spiegelten einen beachtlichen Entwicklungsstand der Mendelssohn-Forschung wider. Da das Symposion mehrere Generationen von Wissenschaftlern vereinte, erscheint die Hoffnung berechtigt, daß Moses Mendelssohn nicht mehr so rasch in Vergessenheit geraten wird. Es wäre in höchstem Maße bedauerlich, wenn die nächste Mendelssohn-Tagung erst aus Anlaß des 300. Geburtstages stattfinden würde. Bernd Kettern (Trier)

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Zur Definition von Schwärmerei

Schwärmerei in der allergemeinsten Bedeutung: eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788, S. 153

REZENSIONEN

MICHAEL ALBRECHT, Moses Mendelssohn. 1729-1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 51) Acta Humaniora Weinheim 1986, 195 S., 58,00 DM. Aus Anlaß des 200. Todesjahres von Friedrich dem Großen wurden zahlreiche große Ausstellungen und mehrere große wissenschaftliche Symposien veranstaltet; zahlreiche, teilweise sehr teure Bücher und Bildbände wurden über Friedrich den Großen publiziert; bis in die Provinz hinein war der geniale und eigenwillige Preußenkönig 1986 ein beliebtes Vortragsthema. Was 1986 aus Anlaß des 200. Todesjahres von Moses Mendelssohn veranstaltet und publiziert wurde, nimmt sich im Vergleich dazu außerordentlich bescheiden aus und verdient doch das uneingeschränkte Interesse aller, die über das 18. Jahrhundert, über die Aufklärung und über die Geschichte der Juden in Deutschland arbeiten. So fand in Wolfenbüttel im September 1986 in der Herzog August Bibliothek ein von Eva J. Engel und Norbert Hinske auf exzellente Weise geleitetes interdisziplinäres und internationales wissenschaftliches Symposion statt, dessen Beiträge in nicht allzu ferner Zeit im Druck vorliegen sollten; im Zusammenhang mit diesem Symposion wurde im Meißnerhaus der Herzog August Bibliothek vom 4. bis 24. September 1986 eine Ausstellung über Moses Mendelssohn gezeigt, und der von Michael Albrecht vorbereitete Katalog dieser Ausstellung ist es, den es hier zu würdigen gilt. Mendelssohns mehrfach nachweisbares "Stammbuch-Motto" zur "Bestimmung des Menschen" wurde sowohl auf dem außerordentlich gelungenen Plakat der Ausstellung als auch auf der gleich gestalteten Umschlagvorderseite des Katalogs verwendet:" Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste thun". Fast scheint es, als ob sich Michael Albrecht dieses Motto (das, wie es in der einsc.hlägigen Erläuterung, S. 146, heißt, eine "Aufgliederung der menschlichen Fähigkeiten und ihre Zuordnung zu verschiedenen Gegenstandsbereichen" vornimmt) auch für die Erstellung des Katalogs zu eigen gemacht hat. „ Wahrheit erkennen": Was an dem Katalog besticht, ist die strenge Sachlichkeit der Kommentare. Das, was wir in dem Katalog zu den 147 Stücken der Ausstellung lesen können, fügt sich zusammen zu einer präzisen Chronik von Mendelssohns Leben, speziell: zu einer ausführlichen, anschaulich dokumentierten Geschichte seiner geistigen Entwicklung und seiner Kontakte zu anderen Geistesgrößen seiner Zeit . • Schönheit lieben" : Zahlreiche Abbildungen ergänzen die Texte, wobei verständlicherweise die farbigen Reproduktionen der wichtigsten Porträts von Moses Mendelssohn sowie die Titelblätter seltener Erstausgaben besonders beeindrucken. Der Begriff .Schönheit" ließe sieb freilich auch im übertragenen Sinne als Klarheit der Gedanken und Argumente in den teilweise fast in aphoristischer Kürze formulierten Kommentaren verstehen. Wie immer: Bilder und Texte ergänzen sich jedenfalls vorzüglich und vermitteln dem Leser des Katalogs noch etwas von dem starken Eindruck, den die Ausstellung auf jeden gemacht bat, der sie im September 1986 in Wolfenbüttel sehen konnte. " Gutes wollen": Das könnte man so verstehen, daß Michael Albrecht und diejenigen, die ihm bei der Vorbereitung der Ausstellung und des Katalogs geholfen haben, allen voran Eva J. Engel, neues Interesse für Moses Mendelssohn wecken und die weitere Mendelssohnforschung anregen wollten. Das ist ihnen, so scheint mir, auf eindrucksvolle Weise gelungen. Selbst Kenner der Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn, der 1983 erschienenen großen Mendelssobnbiographie von Alexander Altmann und anderer

Auflclärung 3/1 Cl Felix Meiner Verlag, 1988, ISSN 0178-7128

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Rezensionen

neuerer Mendelssohn-Literatur fanden in der Ausstellung und finden in dem Katalog Neues: einen bisher unveröffentlichten Brief von Moses Mendelssohn an Thomas Abbt aus dem Jahre 1756 beispielsweise, einen bisher ebenfalls nicht publizierten Brief von Isaak Iselin an Moses Mendelssohn aus dem Jahre 1767, ·o der einen bisher unbekannten Nachruf Friedrich Nicolais auf Mendelssohn aus dem Jahre 1786. Nur hingewiesen werden kann auf zahlreiche hochinteressante Beobachtungen in den Texten. "Das Beste thun": Sorgfältig, Schritt für Schritt, und stets unter Berücksichtigung der neuesten Forschung werden wir in dem Katalog in Mendelssohns geistige Welt hineingeführt. Das beginnt mit Erläuterungen zu den Büchern, die der wissensdurstige junge Moses aus Dessau "verschlang", so den Werken des Moses Maimonides, Werken von Locke, Leibniz und Christian Wolff. Das geht weiter m.it den ersten Äußerungen und Publikationen des jungen Metaphysikers und dem Beginn seiner Freundschaft mit Lessing. Wir erfahren, wie Mendelssohn in den 1750er Jahren Rousseau und Plato las und seinen geistigen Horizont zielstrebig erweiterte. Gezeigt wird ferner, wie Moses Mendelssohn sich bald zu grundlegenden Fragen der Ästhetik äußerte, und daß er in den Jahren um 1760 eine führende Rolle in der Literaturkritik spielte, wobei er sich nicht scheute, auch die "Poesies Diverses" seines ebenso eitlen wie, wenn es um seine Person und Machtstellung ging, auch despotischen Landesherren zu rezensieren. Hamann und Reimarus erregten injenen Jahren Mendelssohns Interesse. Wenig später, 1763, wurde seine „Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften" von der Berliner Akademie mit einem ersten Preis ausgezeichnet, vor Kant, der sich ebenfalls zu der Preisaufgabe geäußert hatte und dessen Einsendung von der Akademie der zweite Preis zuerkannt wurde. Mendelssohns tiefschürfende, durch den Dialog mit Thomas Abbt angeregte Erwägungen über die Bestimmung des Menschen schlossen sich an sowie vor allem die Publikation des Phaedon, die Mendelssohn europäischen Ruhm eintrug und die ihn in den Augen vieler Zeitgenossen als „deutschen Sokrates" auswies. Auf der Höhe des Ruhms begannen sich jedoch auch immer längere Schatten auf Mendelssohns Leben zu legen: An Lavaters impertinente Aufforderung, er möge sich zum Christentum bekehren, sei erinnert, auch an die Weigerung Friedrichs des Großen, Mendelssohns Wahl in die Berliner Akademie zuzustimmen, schließlich auch an Jacobis infamen Versuch, den toten Lessing als Spinozisten zu diffamieren. Dies alles trug dazu bei, daß Moses Mendelssohn sich in jenen Jahren für bestimmte in Not geratene jüdische Gemeinden und in Zusammenarbeit mit Christian Wilhelm Dohm für die .bürgerliche Verbesserung der Juden" einsetzte und daß er die jüdische Tradition ausführlich erklärte. Daneben fand er noch die Zeit, die fünf Bücher Mose und die Psalmen zu übersetzen und sich zu grundsätzlichen Problemen der Aufklärung wie der Frage nach der Existenz Gottes zu äußern. Als er 1786 im Alter von nicht einmal 60 Jahren starb, hinterließ er ein großes literarisches und philosophisches Werk, dessen Dimensionen bis heute noch nicht ganz vermessen sind. „Das Beste thun": Michael Albrecht und allen, die ihm bei der Erstellung des Moses Mendelssohn-Katalogs geholfen haben, ist es gelungen, auf die Weite des die ältere europäische ebenso wie die antike und die jüdische Tradition umfassenden geistigen Horizonts von Moses Mendelssohn hinzuweisen. Im 19. Jahrhundert und sogar noch im Jahre 1929 aus Anlaß seines 200. Geburtstages wurde Moses Mendelssohn als Aufklärungsdenker gefeiert, der seine jüdische Vergangenheit weitgehend abgestreift hatte. Die Geschichte der Jahrzehnte, die auf 1929 folgten, zwingt uns nachdrücklich, erneut über diese Einordnung nachzudenken. Es ist Michael Albrechts Verdienst, daß wir in dem vorliegenden Katalog über die starke und sich vielleicht in seinen letzten Lebensjahren noch verfestigende Verwurzelung von Moses Mendelssohn in der jüdischen Tradition informiert werden und daß wir klarer als bislang erkennen, daß die Beendigung der Diskriminierung der in Deutschland lebenden Juden für alle, die sich zur Aufklärung zählten, eine besondere Herausforderung, im Rückblick vielleicht sogar die entschei-

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dende Probe ihrer Einstellung zur Verbesserung der Lage aller Menschen war. Wie wir wissen, hat der wegen seiner aufgeklärten Ansichten hochgepriesene Preußenkönig diese Probe nicht - oder doch nur zum Teil - bestanden. Der schmale und zugleich so gewichtige Katalogband, den wir Michael Albrecht verdanken, ist somit eine durchaus passende Würdigung für Moses Mendelssohn, der in den Augen vieler seiner Zeitgenossen zu den geringsten Untertanen des großen Preußenkönigs gehörte und der doch diese und sogar den Monarchen selbst, wenn man auf seine Einstellung zu Toleranz und Gerechtigk'eit blickt, überragte. Zwar ist mir nicht bekannt, wie hoch die Auflage des Katalogs war und wie viele Exemplare aus Anlaß der Ausstellung verkauft wurden. Nicht wundern würde ich mich jedoch, wenn Michael Albrechts schöner, gescheiter und instruktiver Katalog bald zu den Rarissima unter den Neuerscheinungen des an Jubiläumsliteratur so reichen Jubiläumsjahres 1986 zählen würde. Hartmut Lehmann (Harvard)

HANS ERICH BÖDEKER, GEORG G. IGGERS, JONATHAN B. KNUDSEN, PETER H. REILL (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 81) Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1986, 460 S., 96,00 DM. Im Jahre 1981 fand im Göttinger Max-Planck-Institut die Konferenz statt, deren Berichtband hier zu besprechen ist. Er erschien im Jahre 1986- wurde die Zeit genutzt, um den Wein reifen zu lassen? Diese Frage ist zuerst an die Konzeption des Bandes zu stellen. Die vier Herausgeber erklären sich dazu in einer 14seitigen Einleitung. Als ihr eigentliches Anliegen bezeichnen sie den Nachweis, daß "modernes historisches Denken bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Element der Aufklärungsbewegung anzutreffen ist" (S. 10). Dieses 'moderne historische Denken' nennen sie kurz und bündig 'Historismus' und ahnen wohl nicht, daß sie damit einen durchaus problematischen Begriff gebrauchen, dessen Vieldeutigkeit erst jüngst Gerhard Otto Oexle aufschlußreich nachgewiesen hat. Offensichtlich setzen sie voraus, was man unter dem Historismus des 19. Jahrhunderts zu verstehen hat und verzichten deshalb darauf, den Zielpunkt von einer Entwicklung genauer zu fixieren, deren Nachweis sie sich von den Autoren erhoffen. Konnten sie davon ausgehen, daß diese schon wußten, was gemeint und intendiert war? Und wie steht es in dieser Hinsicht mit dem anderen Leitbegriff des Bandes, dem der Aufklärung? Die Herausgeber nehmen ihn als Synonym für das 18. Jahrhundert. Kann man das jedoch so unbesehen tun, wie das hier geschient? Werden damit nicht für ein Verständnis der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts zu viele Vorgaben gemacht? Solche Befürchtungen werden wach, wenn man sieht, daß so verschiedene Interpretationen der Aufklärung, wie sie Dilthey, Troeltsch und Meinecke vorgelegt haben, in der Einleitung über einen Leisten geschlagen werden (S. 9). Die Herausgeber skizzieren zunächst die deutsche Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sie unter dem Begriff der 'Aufklärungshistorie' fassen, in ihrem geistigen und sozialen Kontext. Durch eine knappe Zusammenstellung von Daten des konzeptionellen, des institutionellen und des sozialen Wandels wollen sie darauf hinweisen, daß die Historie bereits im 18. Jahrhundert bedeutende Entwicklungen durchgemacht hat, daß sie sich schon in jener Epoche zu einer autonomen Wissenschaft mit einem neuen Selbstverständnis und einer gewandelten gesellschaftlichen Position entwickelt hat. In einem weiteren Schritt versuchen sie sodann nachzuweisen, daß in

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Rezensionen

dieser 'Aufklärungshistorie' bereits Positionen entwickelt wurden, die für den Historismus des 19. Jahrhunderts charakteristisch sind. Sie rechnen dazu sowohl institutionsgeschichtliche Vorgänge wie auch methodische, hermeneutische und konzeptionelle Neuerungen , die über das 18. Jahrhundert hinausführen. Insgesamt geht es den Herausgebern darum, die historiographische Entwicklungsschwelle zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert soweit wie möglich einzuebnen, sie nur noch als eine 'Akzentverlagerung' (S. 20) zu verstehen, als einen 'gewissen Wandel im Lebensgefühl' (S. 10). Zugleich versuchen sie damit einmal mehr, die deutsche Entwicklung " näher an das geschichtliche Denken Westeuropas heranzurücken" (S. 21). Wird eine Dichotomie zwischen Deutschland und 'Westeuropa' damit nicht aber erst vorausgesetzt? Was kann mit 'Westeuropa', dieser seit dem Ersten Weltkrieg verbreiteten, ideologisch akzentuierten Formel, in diesem Zusammenhang gemeint sein? Die insgesamt 19 Beiträge des Bandes lösen das, was die Einleitung ankündigt, allenfalls partiell ein, und sie übernehmen den dort entworfen en Interpretationsrahmen nur selten. Die Herausgeber sind sich dessen bewußt, und jeder, der selbst schon als Herausgeber fungie rte, wird Verständnis dafür aufbringen. Mit seiner Fülle von Beiträgen gibt dieser Band einen Eindruck vom Fortgang der Beschäftigung mit der Historiographie des 18. Jahrhunderts, die in den 1970er Jahren wieder in Gang gekommen war. Damals hatte sich das Deutsche Historische Institut in Paris das beso:ndere Verdienst erworben, die 'Historische Forschung im 18. Jahrhundert' erstmals zum Gegenstand eines internationalen Symposions zu machen. Der daraus hervorgegangene Berichtsband (Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse. Hrsg. von Karl Hammer und Jürgen Voß, Bonn 1976). auf den leider nur in Fußnoten Bezug genommen wird, ist in seiner europäisch vergleichenden Ausrichtung und seiner größeren Geschlossenheit keineswegs durch den hier zu besprechenden überholt. Ordnet man die Beiträge nach ihrem Inhalt, fällt zunächst eine Reihe übergreifender Problemskizzen ins Auge: Rudolf Vierhaus' Beleuchtung