Die Lyrik der Archaik war weitaus mehr als eine lediglich der Unterhaltung dienende Poetik. Sie stand in enger Beziehung
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German Pages 352 [354] Year 2022
Table of contents :
Editorial
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1 Prolegomena
1.1 Der pragmatische Charakter der archaischen Lyrik und die Frage nach den Sprechakten
1.2 Forschungsüberblick
1.3 Die archaische Lyrik als historische Quelle und die Auswahl der untersuchten Gedichte
1.4 Vorgehen in der Arbeit
2 Theorie
2.1 Performativität und Performanz in den Kulturwissenschaften
2.2 Zur Theorie der Sprechakte
2.2.1 Der linguistische und sprachphilosophische Ursprung der Sprechakttheorie
2.2.2 Austin: How to Do Things with Words
2.2.3 Searle: Ausdruck und Bedeutung
3 Methode
3.1 Die Anwendung der Theorie
3.2 Analysekriterien
3.2.1 Die Handlungsbedingungen
3.2.2 Die Bestimmung der Illokutionen
3.2.3 Die Bestimmung der Perlokutionen
3.3 Zusammenfassung Methodik
4 Kallinos von Ephesos
4.1 Fr. 1 D
4.1.1 Der außerliterarische Kontext
4.1.2 Analyse der Sprechakte
4.1.3 Ergebnisse
4.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel
5 Tyrtaios von Sparta
5.1 Die Eunomia-Elegie des Tyrtaios
5.1.1 Der außerliterarische Kontext
5.1.2 Analyse der Sprechakte
5.1.3 Ergebnisse
5.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel
5.2 Fr. 7 D
5.2.1 Der außerliterarische Kontext
5.2.2 Analyse der Sprechakte
5.2.3 Ergebnisse
5.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel
6 Alkaios von Mytilene
6.1 Fr. 6 V
6.1.1 Der außerliterarische Kontext
6.1.2 Analyse der Sprechakte
6.1.3 Ergebnisse
6.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel
6.2 Fr. 43 D
6.2.1 Der außerliterarische Kontext
6.2.2 Analyse der Sprechakte
6.2.3 Ergebnisse
6.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel
7 Solon von Athen
7.1 Die Salamis-Elegie
7.1.1 Der außerliterarische Kontext
7.1.2 Analyse der Sprechakte
7.1.3 Ergebnisse
7.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel
7.2 Die Eunomia-Elegie des Solon
7.2.1 Der außerliterarische Kontext
7.2.2 Analyse der Sprechakte
7.2.3 Ergebnisse
7.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel
8 Theognis von Megara
8.1 Die Verse 39–52 W
8.1.1 Der außerliterarische Kontext
8.1.2 Analyse der Sprechakte
8.1.3 Ergebnisse
8.2 Die Verse 53–60 W
8.2.1 Der außerliterarische Kontext
8.2.2 Analyse der Sprechakte
8.2.3 Ergebnisse
9 Vergleich
9.1 Intragruppen-Vergleich
9.1.1 Typ A: Kritik (Alk. Fr. 43 D, C. Th., V. 53–60 W)
9.1.2 Typ B: Warnung (Sol. Fr. 4 W, C. Th., V. 39–42 W und 43–52 W)
9.1.3 Typ C: Handlungsaufforderung (Tyrt. Frr. 2 D, 4 D, 5 D, Sol. Frr. 1–3 W, Alk. Fr. 6 V, Kall. Fr. 1 D)
9.1.4 Typ D: Handlungsanweisung (Tyrt. Fr. 7 D, Tyrt. Fr. 3a D)
9.2 Intergruppen-Vergleich
9.2.1 Eunomia
9.2.2 Kampfparänese
10 Schlussbetrachtung
Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik
Fazit: Die Anwendung der Sprechakttheorie
Appendix: Sprechakttabellen
Quellen- und Literaturverzeichnis
A Quellen und Übersetzungen
B Forschungsliteratur
C Internetquellen
Agnes von der Decken
Sprachliches Handeln in der archaischen Lyrik Sprechakte und ihre außertextuelle Welt in der polisbezogenen Lyrik des Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis
Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Band 22
Franz Steiner Verlag
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Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne Alessandro Bausi (Äthiopistik), Christof Berns (Archäologie), Christian Brockmann (Klassische Philologie), Christoph Dartmann (Mittelalterliche Geschichte), Philippe Depreux (Mittelalterliche Geschichte), Helmut Halfmann (Alte Geschichte), Kaja Harter-Uibopuu (Alte Geschichte), Stefan Heidemann (Islamwissenschaft), Ulla Kypta (Mittelalterliche Geschichte), Ulrich Moennig (Byzantinistik und Neugriechische Philologie), Barbara Müller (Kirchengeschichte), Sabine Panzram (Alte Geschichte), Werner Riess (Alte Geschichte), Jürgen Sarnowsky (Mittelalterliche Geschichte), Claudia Schindler (Klassische Philologie), Martina Seifert (Klassische Archäologie), Giuseppe Veltri ( Jüdische Philosophie und Religion) Aus dem Herausgebergremium verantwortlich für diesen Band: Werner Rieß Band 22
Sprachliches Handeln in der archaischen Lyrik Sprechakte und ihre außertextuelle Welt in der polisbezogenen Lyrik des Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis Agnes von der Decken
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Attische Kylix Triptolemos-Maler (Schaffenszeit: 490 v. Chr. – 470 v. Chr.), zugeschrieben © Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Foto: Johannes Laurentius Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13276-3 (Print) ISBN 978-3-515-13281-7 (E-Book)
Editorial In der Reihe Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne haben sich geisteswissenschaftliche Fächer, die u. a. die vormodernen Gesellschaften erforschen (Äthiopistik, Alte Geschichte, Byzantinistik, Islamwissenschaft, Judaistik, Theologie- und Kirchengeschichte, Klassische Archäologie, Klassische und Neulateinische Philologie, Mittelalterliche Geschichte) in ihrer gesamten Breite zu einer gemeinsamen Publikationsplattform zusammengeschlossen. Chronologisch wird die Zeit von der griechisch-römischen Antike bis unmittelbar vor der Reformation abgedeckt. Thematisch hebt die Reihe zwei Postulate hervor: Zum einen betonen wir die Kontinuitäten zwischen Antike und Mittelalter bzw. beginnender Früher Neuzeit, und zwar vom Atlantik bis zum Hindukusch, die wir gemeinsam als „Vormoderne“ verstehen, zum anderen verfolgen wir einen dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz mit dem Rahmenthema „Sinnstiftende Elemente der Vormoderne“, das als Klammer zwischen den Disziplinen dienen soll. Es geht im weitesten Sinne um die Eruierung sinnstiftender Konstituenten in den von unseren Fächern behandelten Kulturen. Während Kontinuitäten für die Übergangszeit von der Spätantike ins Frühmittelalter und dann wieder vom ausgehenden Mittelalter in die Frühe Neuzeit als zumindest für das lateinische Europa relativ gut erforscht gelten können, soll eingehender der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Kulturen des Mittelalters im Allgemeinen auf die antiken Kulturen rekurrierten, sie fortgesetzt und weiterentwickelt haben. Diesen großen Bogen zu schließen, soll die neue Hamburger Reihe helfen. Es ist lohnenswert, diese längeren Linien nachzuzeichnen, gerade auch in größeren Räumen. Vielfältige Kohärenzen werden in einer geographisch weit verstandenen mediterranen Koine sichtbar werden, wobei sich die Perspektive vom Mittelmeerraum bis nach Zentralasien erstreckt, ein Raum, der für die prägende hellenistische Kultur durch Alexander den Großen erschlossen wurde; auch der Norden Europas steht wirtschaftlich und kulturell in Verbindung mit dem Mittelmeerraum und Zentralasien – sowohl aufgrund der Expansion der lateinischen Christenheit als auch über die Handelswege entlang des Dnepr und der Wolga. Der gemeinsame Impetus der zur Reihe beitragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besteht darin aufzuzeigen, dass soziale Praktiken, Texte aller Art und Artefakte/Bauwerke der Vormoderne im jeweiligen zeithistorischen und kulturellen Kontext ganz spezifische sinn- und identitätsstiftende Funktionen erfüllten. Die Ge-
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Editorial
meinsamkeiten und Alteritäten von Phänomenen – die unten Erwähnten stehen lediglich exempli gratia – zwischen Vormoderne und Moderne unter dieser Fragestellung herauszuarbeiten, stellt das Profil der Hamburger Reihe dar. Sinnstiftende Elemente von Strategien der Rechtsfindung und Rechtsprechung als Bestandteil der Verwaltung von Großreichen und des Entstehens von Staatlichkeit, gerade auch in Parallelität mit Strukturen in weiterhin kleinräumigen Gemeinschaften, werden genauso untersucht wie Gewaltausübung, die Perzeption und Repräsentation von Gewalt, Krieg und Konfliktlösungsmechanismen. Bei der Genese von Staatlichkeit spielen die Strukturierung und Archivierung von Wissen eine besondere Rolle, bedingt durch ganz bestimmte Weltvorstellungen, die sich z. T. auch in der Kartographie konkret niederschlugen. Das Entstehen von Staatlichkeit ist selbstverständlich nicht nur als politischer Prozess zu verstehen, sondern als Gliederung des geistigen Kosmos zu bestimmten Epochen durch spezifische philosophische Ansätze, religiöse Bewegungen sowie Staats- und Gesellschaftstheorien. Diese Prozesse der longue durée beruhen auf einer Vielzahl symbolischer Kommunikation, die sich in unterschiedlichen Kulturen der Schriftlichkeit, der Kommunikation und des Verkehrs niedergeschlagen hat. Zentrum der Schriftlichkeit sind natürlich Texte verschiedenster Provenienz und Gattungen, deren Gehalt sich nicht nur auf der Inhaltsebene erschließen lässt, sondern unter Berücksichtigung der spezifischen kulturellen und epochalen Prägung auch die rhetorische Diktion, die Topik, Motive und auktoriale Intentionen, wie die aemulatio, in Anschlag bringen muss. Damit wird die semantische Tiefendimension zeitlich weit entfernter Texte in ihrem auch symbolischen Gehalt erschlossen. Auch die für uns teilweise noch fremdartigen Wirtschaftssysteme der Vormoderne harren einer umfassenden Analyse. Sinnstiftende Elemente finden sich auch und v. a. in Bauwerken, Artefakten, Grabmonumenten und Strukturen der jeweiligen Urbanistik, die jeweils einen ganz bestimmten Sitz im Leben erfüllten. Techniken der Selbstdarstellung dienten dem Wettbewerb mit Nachbarn und anderen Städten. Glaubenssysteme und Kultpraktiken inklusive der „Magie“ sind gerade in ihrem Verhältnis zur Entstehung und Ausbreitung des Christentums, der islamischen Kultur und der Theologie dieser jeweiligen Religionen in ihrem Bedeutungsgehalt weiter zu erschließen. Eng verbunden mit der Religiosität sind Kulturen der Ritualisierung, der Performanz und des Theaters, Phänomenen, die viele soziale Praktiken auch jenseits der Kultausübung erklären helfen können. Und im intimsten Bereich der Menschen, der Sexualität, den Gender-Strukturen und dem Familienleben gilt es ebenfalls, sinnund identitätsstiftenden Elementen nachzuspüren. Medizinische Methoden im Wandel der Zeiten sowie die Geschichte der Kindheit und Jugend sind weitere Themengebiete, deren Bedeutungsgehalt weiter erschlossen werden muss. Gemeinsamer Nenner bleibt das Herausarbeiten von symbolträchtigen Elementen und Strukturen der Sinnhaftigkeit in den zu untersuchenden Kulturen gerade im kulturhistorischen Vergleich zu heute. Die Herausgeber
Danksagung Eine sprachwissenschaftliche Theorie auf archaische Texte anzuwenden, war für mich Reiz und Herausforderung zugleich. Reiz, weil es mir die Möglichkeit geboten hat, meine beiden Disziplinen, (deutsche) Philologie – ich habe die Sprechakttheorie schon früh in der Linguistik kennengelernt – und Geschichte – insbesondere meine Vorliebe für die Alte Geschichte – auf neuartige Weise miteinander zu verbinden. Herausforderung, weil die Gefahr des Kompromisses und des Eingrenzens im Hinblick auf die einzelnen Disziplinen stets gegeben war. Das Ergebnis ist die nun vorliegende Arbeit, die die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift ist, die ich im Mai 2020 an der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg eingereicht und im Dezember 2020 verteidigt habe. Mein größter Dank gilt daher Herrn Prof. Dr. Werner Rieß, der dieses Projekt mit großem Interesse von klein auf begleitet hat. Ich danke ihm für seine umfassende Betreuung und die wichtigen inhaltlichen Anregungen sowie seine Expertise, die diese Untersuchung zu einer runden Arbeit gemacht haben. Besonders danke ich ihm für seine Freude an dem Projekt und seinen Glauben in mich als Forscherin. Durch seine Förderung, angefangen im Seminar „Athen in der archaischen Zeit“ an der Universität Hamburg bis zum Abschluss der Dissertation, bin ich ihm persönlich dankbar. Herrn Prof. Dr. Christian Brockmann danke für die Übernahme des Zweitgutachtens. Seine stets offene Tür hat es mir ermöglicht, mich jederzeit mit allen nur denkbaren Fragen zur griechischen Philologie an ihn zu wenden. Dies war nicht nur inhaltlich essenziell, sondern hat auch meine Freude und das Interesse an der altgriechischen Sprache genährt. Diesbezüglich bin ich auch Herrn Prof. Dr. Lennartz zu Dank verpflichtet, der mir Altgriechisch auf euphorische Weise beigebracht und ebenfalls hilfreiche inhaltliche Hinweise gegeben hat. Prof. Dr. Heike Zinsmeister danke ich für den anregenden Austausch zur Sprechakttheorie sowie ihr Fungieren als Drittprüferin in der Disputation. Prof. Dr. Anton Bierl danke ich schließlich herzlich für die Übernahme des Drittgutachtens. Dank des Promotionsstipendiums der Stiftung der Deutschen Wirtschaft war es mir erlaubt, mich voll und ganz auf mein Forschungsprojekt zu fokussieren. Darüber hinaus bin ich der SDW dankbar für den anregenden Austausch innerhalb der Ham-
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Danksagung
burger Regionalgruppe sowie die ideelle Förderung in Form von Seminaren und Akademien. Beides hat meinen Horizont maßgeblich erweitert. Für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Veröffentlichung danke ich Katharina Stüdemann vom Franz Steiner Verlag. Darüber hinaus möchte ich all jenen, die mich in den vergangenen Jahren auf diesem spannenden und nicht immer leichten Weg begleitet haben, von Herzen danken: Angefangen bei den Hamburger DoktorandInnen der Alten Geschichte. Ohne diese kollegiale Gemeinschaft von WegbegleiterInnen hätten die letzten Jahre zu einer einsamen Zeit werden können. Besonders danke ich Rocco Selvaggi, Franziska Weise, Nathalie Klinck und Jan Seehusen für ihren freundschaftlichen Rat und ihre Unterstützung sowie die gemeinsamen Tage, Monate und Jahre in der Bibliothek. Ich danke darüber hinaus Cosima Schwarke für ihre fachliche Expertise und Hilfestellung bei philologischen Schwierigkeiten und Annika Stork für ihre klugen Ratschläge in allen Lebenslagen. Mit Eva Zepp habe ich die letzten Jahre gemeinsam verbracht. Sie war Ratgeberin, seelische Stütze und Leidensgenossin zugleich. Ihr gebührt besonderer Dank. Meiner Schwägerin Prof. Dr. Charlotte v. Bernstorff danke ich für ihre immerwährende Unterstützung und ihre selbstlose Hilfe auf persönlicher wie fachlicher Ebene. Insa Kühlcke-Schmoldt hat besonders am Ende dafür gesorgt, dass das Projekt einen Abschluss findet. Meine Schwester Freda von der Decken hat mich während der gesamten Zeit maßgeblich bestärkt und unterstützt und zeitweise auch ein unglaublich hilfreiches Projektmanagement für mich betrieben. Mein Bruder Jasper von der Decken ist wie selbstverständlich immer eingesprungen, wenn mich meine technischen Kenntnisse verlassen haben, was von unschätzbarem Wert für mich war. Ich danke auch meiner Großmutter Elisabeth von der Decken, die regen Anteil an der Arbeit genommen hat und mich schon früh darauf hingewiesen hat, bei Schiller über Solon nachzulesen. Meine Eltern im Hintergrund zu wissen in glücklichen und unglücklichen Momenten war essenziell. Der kluge Pragmatismus meines Vaters, Dr. Georg von der Decken, und die emotionale Unterstützung meiner Mutter, Beate von der Decken, haben mich nie das Ziel aus den Augen verlieren lassen und auch tiefere Täler des wissenschaftlichen Arbeitens durchschreiten lassen. Das Privileg, Zeit und Muße in die eigene Bildung zu investieren und einen akademischen Titel zu erlagen, habe ich ihnen zu verdanken. Ohne meinen Mann Hubertus würde es dieses Buch wohl nicht geben. Er hat mich die letzten Jahre begleitet, aufgemuntert, beruhigt und ertragen. Wie kein anderer hat er sich – als Fachfremder – mit den archaischen Lyrikern auseinandergesetzt und den Kompass für mich, wenn ich es selbst nicht mehr konnte, auf das Ziel ausgerichtet. Meiner Familie ist dieses Buch gewidmet.
Inhaltsverzeichnis 1 Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der pragmatische Charakter der archaischen Lyrik und die Frage nach den Sprechakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die archaische Lyrik als historische Quelle und die Auswahl der untersuchten Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Vorgehen in der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Performativität und Performanz in den Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Theorie der Sprechakte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der linguistische und sprachphilosophische Ursprung der Sprechakttheorie. . 2.2.2 Austin: How to Do Things with Words . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Searle: Ausdruck und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Anwendung der Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Analysekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Handlungsbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Bestimmung der Illokutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Identifikation der Einheit Illokution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Die Dominanz von Illokutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Die Illokutionsindikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.4 Die indirekten Illokutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.5 Die Einteilung der Illokutionen in Sprechaktklassen . . . . . . . . . . . . 3.2.2.6 Sprechakttypen-Inventar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Bestimmung der Perlokutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Die Standard-Perlokution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zusammenfassung Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 55 60 60 62 62 64 65 67 69 71 76 78 79 80
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Inhaltsverzeichnis
4 Kallinos von Ephesos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Fr. 1 D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Tyrtaios von Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.1 Die Eunomia-Elegie des Tyrtaios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.1.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.1.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.2 Fr. 7 D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6 Alkaios von Mytilene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Fr. 6 V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Fr. 43 D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Solon von Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Salamis-Elegie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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7.2 Die Eunomia-Elegie des Solon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.2.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.2.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 7.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 8 Theognis von Megara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 8.1 Die Verse 39–52 W . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 8.1.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 8.1.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 8.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 8.2 Die Verse 53–60 W . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8.2.1 Der außerliterarische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8.2.2 Analyse der Sprechakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 8.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 9 Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 9.1 Intragruppen-Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 9.1.1 Typ A: Kritik (Alk. Fr. 43 D, C. Th., V. 53–60 W) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 9.1.2 Typ B: Warnung (Sol. Fr. 4 W, C. Th., V. 39–42 W und 43–52 W). . . . . . . . . . 273 9.1.3 Typ C: Handlungsaufforderung (Tyrt. Frr. 2 D, 4 D, 5 D, Sol. Frr. 1–3 W, Alk. Fr. 6 V, Kall. Fr. 1 D) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 9.1.4 Typ D: Handlungsanweisung (Tyrt. Fr. 7 D, Tyrt. Fr. 3a D) . . . . . . . . . . . . . . . 283 9.2 Intergruppen-Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 9.2.1 Eunomia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 9.2.2 Kampfparänese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 10 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Fazit: Die Anwendung der Sprechakttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Appendix: Sprechakttabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 A Quellen und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 B Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 C Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
1 Prolegomena Auf denn! Ihr seid des nie besiegten Herakles Enkel! Mut! Es hat ja noch nie Zeus seinen Nacken gebeugt. Fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde, nicht flüchtet im Schrecken; Gleich bis ins erste Glied trage die Tartsche der Mann! Haßt das Leben, und grüßt die finsteren Keren des Todes Freudig, wie ihr das Licht freundlich der Sonne begrüßt.1 (Übers. Maehler/Snell 1971)
Mit diesen Versen feuert der Spartaner Tyrtaios Mitte des 7. Jh. v. Chr. seine Zuhörer für den bevorstehenden Kampf gegen die benachbarten Messenier an.2 In dem Gedicht wird in Erinnerung an die heroischen Vorfahren dazu aufgerufen, niemals dem Kampfe zu entfliehen und tapfer bis zum Tode zu kämpfen. Schon in der Antike war Tyrtaios für seine kampfparänetische Dichtung berühmt. Die Biografie des archaischen3 Dichters erhielt dabei legendenhafte Züge. So berichten die Testimonien, dass das Orakel von Delphi den Spartanern riet, einen Anführer zu holen, um die Messenier zu bezwingen. Tyrtaios wurde zu eben diesem Anführer auserkoren und hätte den Spartanern sodann mit seinen Liedern zum Sieg verholfen.4 Noch der attische Staatsmann und Redner Lykurg verweist etwa 300 Jahre später in seiner Anklagerede gegen Leokrates auf die Wirkmacht Tyrtäischer Verse: 1 2 3
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Tyrt. Fr. 8 D, V. 1–6: Ἀλλ’, Ἡρακλῆος γὰρ ἀνικήτου γένος ἐστέ, / θαρσεῖτ’· οὔ πω Ζεὺς αὐχένα λοξὸν ἔχει· / μὴ δ’ ἀνδρῶν πληθὺν δειμαίνετε μηδὲ φοβεῖσθε, / ἰθὺς δ’ ἐς προμάχους ἀσπίδ’ ἀνὴρ ἐχέτω / ἐχθρὴν μὲν ψυχὴν θέμενος, θανάτου δὲ μελαίνας / κῆρας ‚ὁμῶς‘ αὐγαῖς ἠελίοιο φίλας. Zur historischen Einordnung der Tyrtäischen Kriegslieder s. Kap. 5.2. Unter Archaik wird in dieser Arbeit der Zeitraum von etwa 700 v. Chr. bis zu den Perserkriegen Anfang des 5. Jh. v. Chr. gesehen. Vgl. zu Frage der Datierung Davies 2009, 3–5. Zur Entwicklung der Epochengrenzen s. Hübner 2019, 24, Anm. 91. Zurecht weist Nünlist 1998, 12 darauf hin, dass archaisch in etymologischer Hinsicht irreführend sei, da Epoche und Dichtung, die diese Bezeichnung erhalten haben, nicht den Anfang bildeten, sondern höchstens einen Neu-Anfang und mit archaisch auch falsche Vorstellungen, wie etwa „ursprünglich“, „unkultiviert“ oder „primitiv“, geweckt werden würden, die dieser Epoche nicht entsprächen. Ähnlich Stein-Hölkeskamp 2015, 11–14; Zur Entwicklung des Archaik-Begriffes in der Klassischen Archäologie vgl. Lange 2015. Etwa Diod. VIII, 27; Paus. IV, 16, 6; Lykurg. Leokr. 106. Vgl. dazu auch Bagordo 2011, 160.
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Wahrlich schöne Verse, ihr Männer, und zudem nützliche für diejenigen, die bereit sind, ihren Sinn darauf zu richten. Die Männer, die diese Gedichte zu hören gewohnt waren, waren so tapfer, daß sie mit unserer Polis um die Vorherrschaft kämpften, und das zu Recht.5 (Übers. Engels 2008)
Interessant dabei ist, dass – unabhängig von dem Wahrheitsgehalt der Testimonien – die Vorstellung überlebt hat, Tyrtaios habe mit seinen Liedern den Kampfgeist seiner Zuhörer gestärkt. Damit verweisen die Berichte über die Lieder des Tyrtaios auf einen entscheidenden Aspekt der archaischen Lyrik, den diese Arbeit untersucht: Ihren sprachpragmatischen Charakter. 1.1 Der pragmatische Charakter der archaischen Lyrik und die Frage nach den Sprechakten Unter der archaischen Lyrik, deren Blüte vom Einsetzen der Überlieferung im 7. Jh. v. Chr. bis zum Durchbruch der Schriftlichkeit in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. anzusetzen ist, wird gemeinhin die überlieferte monodische Dichtung dieses Zeitabschnittes verstanden, die weder episch noch dramatisch war und auch von der Chorlyrik zu unterscheiden ist.6 Lyrik ist jedoch eine übergreifende Bezeichnung, unter der sich die sich durch ihr Versmaß unterscheidenden Elegien, Iamben sowie die Melik7 als einem von einer Lyra und manchmal Tanz begleiteten Liedes zusammenfassen lassen.8 Mit „archaischer Lyrik“ sind hier insofern melische Dichtung, Elegien und Iamben 5 6 7
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Lykurg. Leokr. 108: Καλά γ’ ὦ ἄνδρες καὶ χρήσιμα τοῖς βουλομένοις προσέχειν. οὕτω τοίνυν εἶχον πρὸς ἀνδρείαν οἱ τούτων ἀκούοντες, ὥστε πρὸς τὴν πόλιν ἡμῶν περὶ τῆς ἡγεμονίας ἀμφισβητεῖν, εἰκότως· Eine gute Einführung in die archaische Lyrik und ihre Forschungsfelder bieten Rutherford 2019, 3–30; Budelmann 2009, 1–18. Zu den einzelnen Dichtern vgl. besonders Bagordo 2011. Die Elegie wird aus Distichen, dem elegischen Distichon, gebildet, bestehend aus einem Hexameter („Sechsmaß“) und einem Pentameter („Fünfmaß“). Die Elegiker wurden dabei häufig von einem Aulosbläser begleitet. Der Iambos ist mehr durch seinen Inhalt charakterisiert worden. Er galt aufgrund seines invektivischen Charakters als Spottgedicht (was auch aus seinem Wortursprung ἰαμβίζειν herrührt), hat jedoch auch andere Themen zum Inhalt. In der Antike wurden insbesondere Archilochos’ Trimetern und Tetrametern, aber auch seine Epoden, mit dem Iambos assoziiert. Das Melos war metrisch vielfältig. Gattungsprägend ist die Begleitung durch eine Lyra, seltener auch den Aulos, vgl. Rösler 2004. Zur Gattung der Elegie vgl. etwa Aloni 2009; Gerber 1997b, 89–98; Bowra 1960, 3–35; zum Iambos etwa Bagordo 2011, 130–132; Carey 2009b; Lennartz 2010. Vgl. zu den unterschiedlichen Gattungen der archaischen Lyrik Rutherford 2019, 1–4 (zu den regionalen literarischen Traditionen 3–4); Bagordo 2011, 124–126; Rösler 2004; Gerber 1997a, 1–2. Zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Terminus’ Lyrik s. Latacz 1991, 144–145. Gentili 1988, 32–33 macht deutlich, dass die Elegie, anders als ihr Wortursprung ἔλεγος vermuten lässt, mehr war als ein Klagelied, sondern verschiedene Themen und Funktionen innehaben konnte. Noch deutlicher betont es Bowie 1986, 21: „All our evidence, however, suggests that little or no early Greek elegy was lamentory.“
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gleichermaßen gemeint.9 Untersucht werden in dieser Arbeit jedoch lediglich Elegien der Dichter Kallinos, Tyrtaios, Solon und Theognis sowie zwei melische Gedichte des Alkaios. Weil die Dichter10 häufig von der Lyra (daher Lyrik) oder dem Aulos begleitet wurden, wird teilweise auch von Liedern und nicht von Gedichten gesprochen.11 Hieraus leitet sich denn auch die von Herington erfolgte Zuschreibung einer „song-culture“ für das frühe Griechenland ab: „Poetry, recited or sung, was for the early Greeks the prime medium for the dissemination of political, moral, and social ideas – history, philosophy, science […] and indeed of what Socrates was later to call ‚human wisdom.‘“12 Das öffentliche Leben gestaltete sich im Wesentlichen im Kontext des Mündlichen, obwohl die Griechen zu Zeiten Solons weitgehend alphabetisiert waren.13 In dieser Öffentlichkeit hatte die politische Poesie ihren „Sitz im Leben“ – auf der Agora, beim Symposion oder bei anderen öffentlichen Veranstaltungen. Die Lyrik war dabei, im Unterscheid zu moderner Dichtung, ganz auf ihre Darbietung (Performance) hin ausgerichtet, sie wandte sich immer an ein konkretes Publikum.14 Diesen 9 10
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Vgl. D’Alessio 2009b, 114. Da in dieser Arbeit nur Gedichte von männlichen Dichtern untersucht werden, wird von nun an auch nur noch von „Dichtern“ gesprochen. Das gleiche gilt für „Sprecher“, „Autor“, „Zuhörer“ und „Adressat“. Immer da, wo generelle Aussagen zur Dichtung der Archaik getroffen werden und insofern auch Dichterinnen, etwa Sappho oder Korinna, oder Zuhörerinnen inbegriffen sein können, gilt das generische Maskulin. Die Überlieferung hat jedoch lediglich Texte bewahrt, weswegen die musikalische Komponente archaischer Lyrik gänzlich verloren ist, vgl. hierzu Rösler 2004, 37. Den Versuch, die die Dichtung begleitende Musik anhand des Metrums, der Instrumente und der Melodien wieder aufleben zu lassen, hat jedoch D’Angour in einem Projekt in Oxford versucht, online unter: https://theconver sation.com/ancient-greek-music-now-we-finally-know-what-it-sounded-like-99895, Abrufdatum: 11.12.2019. Vgl. grundsätzlich auch D’Angour 2018. Herington 1985, 3. Vgl. auch Gentili 1988, 3 und Calame 2018 für Sparta. Nagy 2019, 95 spricht sich dafür aus, von song anstatt von poetry zu sprechen, weil der Begriff song, anders als poetry, den performativen Charakter der Dichtung besser transportiere. Vgl. etwa Hölkeskamp 1999, 273–280 (in Bezug auf Gesetzgebung); Stahl 1987, 29–31; Andersen 1987, 44: „Im archaischen Zeitalter und in der hohen Zeit der griechischen polis stand die Schriftlichkeit überwiegend im Dienste des gesprochenen Wortes.“ Natürlich darf darüber nicht vergessen werden, dass man im Zuge des Aufkommens der Schrift auch darum bemüht war, tradierte Normen als schriftliche Regeln zu fixieren. Das ausgehende 7. und 6. Jh. v. Chr. wurden denn auch als „Zeit der Gesetzgeber und der Gesetzgebung“ bezeichnet, vgl. Gehrke 1998, 45; Hölkeskamp 1999, 11. Vgl. grundlegend zur Gesetzgebung in den einzelnen Poleis ebd., der jedoch gleichsam anmerkt, dass „Schrift und Schriftlichkeit [ ] ein durchaus isoliertes Phänomen [blieben], das bis in die klassische Zeit nur eine begrenzte gesellschaftliche und intellektuelle Tiefenwirkung entfalten konnte“ (274). So ist denn auch die Frage nach dem Ursprung und der Wirksamkeit niedergeschriebenen Rechts in der Archaik nicht leicht zu beantworten. Thomas etwa glaubt nicht, dass die frühen geschrieben Gesetze, wie wir sie etwa aus Kreta oder Athen kennen, eine bedeutende Veränderung in der archaischen Gesellschaft bewirkten, sondern dass diese vielmehr auf schon vorher bestehenden, mündlich überlieferten und ungeschriebenen Gesetzen basierten, vgl. Thomas 2005, bes. 49–56 und Thomas 1996. Vgl. die grundlegenden Untersuchungen von Gentili 1988 und Rösler 1980 (s. dazu auch Kap. 1.2). Vgl. auch Gudopp von Behm 2009, 98; Hölkeskamp 1999, 277; Auf die wichtige Position der Lyrik im öffentlichen Raum weist besonders Thomas 1995 hin.
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performativen Charakter der archaischen Lyrik können wir anhand der Textgestaltung der Gedichte selbst sowie aus Vasendarstellungen und Berichten von jüngeren und späteren Autoren greifen.15 Dass die archaische Lyrik mit all ihren Bildern, Metaphern und Gleichnissen dabei, anders als moderne Lyrik, nicht in die Fiktion einer abstrakten Welt führte, sondern in Abhängigkeit von der sichtbaren Welt verstanden werden muss, weil sie in der „phänomenalen Realität“16 verankert war, ist seit den Forschungen des Altphilologen Bruno Gentili unumstritten.17 Gentili und seine Forschungsgruppe in Urbino rückten zu Beginn der 1960er Jahre erstmals, nachdem in den Jahrzenten zuvor besonders der ästhetische Wert der Lyrik im Fokus stand,18 den pragmatischen Charakter der archaischen Dichtung in den Vordergrund. Sie erkannten, dass die Lyrik der Archaik in einer engen Beziehung zum sozialen und politischen Leben der Polis stand und in vielen Fällen auch nur aus diesem sie umgebenden soziopolitischen Kontext heraus verstehbar ist. Dabei diente die Dichtung nicht allein der Unterhaltung im Symposion, sondern hatte oft auch eine ganz konkrete erzieherische, gesellschaftliche oder politische Funktion. Itgenshorst, die in ihrer Habilitationsschrift umfassend das politische Denken archaischer Lyriker dargestellt hat, kommt zu dem Schluss, dass man „in archaischer Zeit der Dichtung bzw. dem Gesang eine Wirkung innerhalb der Gemeinschaft zuschrieb, die durchaus eine politische Dimension besaß.“19 Dafür spricht auch, dass die betreffenden
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Vgl. Herington 1985, 4. Die vielfach in den Gedichten vorhandenen personalen, temporalen und lokalen deiktischen Mittel sowie die implizit vorausgesetzten Wissens- und Erfahrungshorizonte des Publikums sind Reflex dieser Mündlichkeit, vgl. Rösler 1983. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Mündlichkeit der Gedichte und ihre mündliche Tradierung parallel zur Schriftlichkeit der Abfassung stattgefunden hat. Bagordo 2011, 127 schließt aufgrund der fehlenden Formelhaftigkeit der Lyrik (im Unterschied zu den stark formalisierten homerischen Epen, die, so die Erkenntnisse der oral poetry-Forschung (grundlegend die Arbeiten von Parry 1933 und seinem Schüler Lord 1960), in einer schriftlosen Gesellschaft entstanden und über Generationen hinweg mündlich überliefert worden seien, wobei sie Veränderungen unterlegen hätten, da sie bei Wiederaufführung an den Erwartungshorizont des jeweils neuen Publikums angepasst worden wären) aus, dass sie mündlich komponiert wurde. Eine mündliche Aufführung und Tradierung ist hingegen anzunehmen, wie Rösler 1984, 180 darlegt: „Namentlich Dichtung lebte, auch wo sie unter Zuhilfenahme der Schrift entstanden war, im mündlichen Vortrag; für ihn, für ein Hier und Jetzt der Darbietungssituation, nicht für einen räumlich und zeitlich unbestimmten Leser war der poetische Text verfaßt.“ Vgl. auch ders. 1983 und ders. 2004 zur schriftlich fundierten Mündlichkeit („Auralität“) der archaischen Lyrik. Gentili 1990, 1. Zu den pragmatischen Tendenzen innerhalb der Lyrikforschung vgl. den Forschungsüberblick unter Kap. 1.2. Vgl. hierzu die gute Zusammenschau von Latacz 1994, 284–292. Itgenshorst 2014, 99–100. Als bestes Beispiel dient hier Solon, von dem wir aber im Gegensatz zu den anderen Dichtern wissen, dass er als Archon in Athen (594/593 v. Chr.) ein politisches Amt ausübte. Vgl. zu Solon und der „psychologisch tiefgreifende Wirkung“ seiner Dichtung Stahl 1992, bes. 403–406. Auch Mülke 2002, 162 weist darauf hin, dass die elegische Paränese der politischen Kommunikation – Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik – in Athen gedient habe; ähnlich Osborne 1996, 219.
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Dichter, die sich in der Mehrheit in den Kreisen der Oberschicht bewegten, in den meisten Fällen keine Berufsdichter gewesen sind und mit der Dichtung kein Erwerbsstreben verbanden.20 Diese pragmatische Funktion der Dichtung zeigt sich insbesondere da, wo sie sich ganz aktiv mit den Belangen ihrer (Heimat-)Polis auseinandersetzte. Uns sind Gedichte überliefert, in denen die Dichter auf externe Bedrohungen, wie den Angriff durch äußere Feinde oder auf interne Bedrohungen, wie die Machtambitionen eines Tyrannen oder innerstädtische Konflikte zwischen „Adel“21 und Demos Bezug nehmen. Solche Gedichte der Dichter Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis sollen in dieser Arbeit untersucht werden. An ihnen zeigt sich deutlich die Verankerung der archaischen Lyrik in der unmittelbaren Lebenswirklichkeit. Diese Lebenswirklichkeit des 7. und 6. Jh. v. Chr. war von tiefgreifenden soziopolitischen Umbrüchen gekennzeichnet, in der die Polis als Organisationsform ihre zentralen Entwicklungen durchlief. Ausgangspunkt dieses Prozesses war das Bevölkerungswachstum im 8. und 7. Jh. v. Chr. in den griechischen Siedlungsgebieten,22 das aufgrund der Begrenztheit der für die Landwirtschaft zur Verfügung stehenden Flächen zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bauern führte. Kamen Dürreperioden und schlechte Ernten hinzu, war es kleineren Bauern
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Vgl. Stein-Hölkeskamp 1989, 130 mit Anm. 26; Rutherford 2019, 3; Hornblower 2009, 39–40; Rösler 1980, 68: „Der Dichterberuf ist hier der Existenz als Bürger gewissermaßen nachgeordnet, ja, deren Produkt, während der professionelle Lyriker, allein in seiner Eigenschaft als Virtuose gerufen, als Auswärtiger außerhalb der eigentlichen Polisgemeinde steht.“ Die in dieser Arbeit gebrauchten Termini „Adel“ und „Aristokratie“ dürfen keinesfalls im Sinne eines erblichen Standes verstanden werden. Vielmehr ist damit die gesellschaftlich, ökonomisch und politisch führende Schicht einer Polis, also ihre Elite, gemeint. Zur Frage nach den Merkmalen eines der Elite zugehörigen Mitgliedes vgl. nach wie vor grundlegend Stein-Hölkeskamp 1989; ebd., 8 zeigt auf, dass es in der Archaik keinen einheitlichen Begriff für die „Oberschicht“ gegeben hat, sondern dieser sich je nach Epoche und Gemeinwesen unterschieden hat. So lassen sich in der archaischen Lyrik für die Angehörigen der Elite so verschiedene Bezeichnungen wie „ἁγαθοί“, „ἄριστοι“ und „ἐσθλοί“ finden. „Adel“ und „Aristokratie“ stehen hier insofern synonym für Elite. Diese Elite darf dabei aber nicht als eine homogene Gruppe verstanden werden, sondern unterschied sich in Reichtum und Lebensstil, vgl. etwa Welwei 1981, 2. Vgl. zur Elite der Archaik in jüngerer Hinsicht auch Schmitz 2008 und Stein-Hölkeskamp 2018 mit entsprechender Literatur. Der Gebrauch der Termini „Adel“ und „Aristokratie“ rechtfertigt sich hier durch ihre beibehaltende Verwendung in der Forschungsliteratur. Snodgrass 1980, 22–24 hat durch einen Vergleich der Gräberzahlen in Athen und Attika sowie der Argolis gezeigt, dass die Einwohnerzahl seit 780/760 v. Chr. sprunghaft gestiegen ist. Snodgrass’ Ergebnisse werden heute allerdings nach unten korrigiert, weil Untersuchungen zeigen konnten, dass die steigende Zahl der Gräber vielmehr die Folge einer veränderten Bestattungspraxis war: Immer mehr Menschen wurden wohl formal bestattet, was den Anstieg der archäologisch nachweisbaren Gräber erklärt, vgl. bes. Morris 1987. Trotzdem wird nicht daran gezweifelt, dass im 7. Jh. v. Chr. die Bevölkerungsdichte deutlich gestiegen ist, vgl. Stein-Hölkeskamp 2019, 120. Eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Theorien der Bevölkerungszunahme Attikas findet sich bei Scheidel 2004.
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kaum möglich, die lebensnotwendigen Erträge zu erwirtschaften.23 Die Mitte des 8. Jh. v. Chr. einsetzende Kolonisation kann als der Versuch angesehen werden, durch die Gründung von Ackerbaukolonien an den Küsten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres Abhilfe zu schaffen.24 Der sich parallel entwickelnde Fernhandel und das Aufkommen der Geldwirtschaft führten dagegen zur Vermehrung des Wohlstandes von bestimmten Adligen, denen allein es durch die Größe ihres Besitzes möglich war, die landwirtschaftliche Produktion zu extensivieren und intensivieren. Erfolglosen Adligen oder aber Kleinbauern, die hier nicht mithalten konnten, drohte die Verarmung oder Verschuldung bei den reichen Grundbesitzern. Die soziale Differenzierung zwischen arm und reich wuchs25 und sozialer Auf- und Abstieg war nun möglich.26 Neben äußeren Gefahren wie Auseinandersetzungen und Kriege mit benachbarten Poleis kam es auch innerhalb des Demos einer Gemeinde aufgrund der sozialen Ungleichheit immer wieder zu Konflikten. Besonders gemeinschaftsgefährdend waren dabei die im 7. und 6. Jh. v. Chr. vielerorts vonstattengehenden Auseinandersetzungen innerhalb führender Gruppen der Gemeinden, Staseis, die Exilierung und Enteignung der Unterlegenen sowie die Etablierung eines Tyrannen zur Folge haben konnten.27 Die Machtkonzentration des Adels, der häufig auch die Rechtsprechung dominierte, geriet jedoch andererseits zunehmend in die Kritik.28 Die als Hopliten die Hauptlast der Kriege und Auseinandersetzungen tragenden, besser situierten Bauern strebten zudem nach mehr Partizipation in der Polis. Diese Gemengelage aus Bauernnot, Adelskonkurrenz, Tyrannenherrschaft und Hopliten-Anspruch führte zu einem Be23
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Indizien für Dürreperioden und Hungersnöte sind etwa die zwischen 750 und 700 v. Chr. erfolgte Einrichtung und zeitlich begrenzte Nutzung zahlreicher neuer Brunnen auf der Agora Athens sowie die parallel nachgewiesene Zunahme der Weihgaben im Heiligtum des Regengottes Zeus Ombrios, vgl. Camp 1989, 37–38; Stein-Hölkeskamp 2015, 179–180. Vgl. Welwei 1998, 35. Deutlich lassen sich diese Phänomene an Solons Aktivitäten im Athen des beginnenden 6. Jh. v. Chr. ablesen. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 7.2.1. Von sozialem Abstieg zeugen viele Gedichte des Corpus Theognideum, besonders deutlich die Verse 1197–1202. Vgl. dazu Tausend 2013. Von den inneraristokratischen Auseinandersetzungen zeugen insbesondere die Gedichte des Alkaios von Mytilene oder aber die Gedichte des Theognis von Megara. Hübner 2019, 82 zeigt anhand einer intentionalen Homerrezeption etwa für die Dichtung des Kallinos und Tyrtaios, inwiefern Adelskritik und ein zunehmendes Bewusstsein für den Gemeinschaftsverbund der Polis aufkamen: „Ganz ähnlich wie Kallinos in seiner Kampfparänese rezipiert Tyrtaios Homerisches mit einer bürgerschaftsorientierten Zielrichtung. Auch hier zeigt sich die Einbettung der früharchaischen Homerrezeption in die Genese der polis.“ Zu diesen neuen, dem aristokratischen Ethos konträr stehenden Wertmaßstäben, die sich auch in der archaischen Lyrik widerspiegeln vgl. auch Itgenshorst 2014, 39; Stein-Hölkeskamp 1989, 130–133; vgl. überblicksartig zum „Zerfall der aristokratischen Kultur im Spiegel der Dichtung“ Ottmann 2001, 56–69. Zu einer grundsätzlichen Vorsicht bei der Rekonstruktion bestimmter Kulturen oder epochaler Entwicklungen (wie beispielsweise der Polisgenese, Anm. AvdD) auf Grundlage einzelner Gedichte, die immer nur Zeugnis einer individuellen und subjektiven Perspektive sein können, rät jedoch Itgenshorst 2010, 226–228; sowie dies. 2014, 53–55. Irwin 2005, 6–8 verweist auf dieselbe Gefahr jedoch hinsichtlich der teleologischen Überlieferung der Dichtung.
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dürfnis nach Regelungen und Ordnungsstrukturen, dem vielerorts durch politische Strukturen, wie der Einführung von Gesetzgebungen oder der Etablierung von Ämtern und Institutionen, begegnet wurde.29 Damit entwickelte sich die Gesellschaft gleichsam zu einer politischen Gemeinschaft von Bürgern, einem Bürgerverband aus rechtlich, militärisch, religiös und kulturell verbundenen Politen.30 Baulich fand dieser Gemeinschaftsverbund Ausdruck im städtischen Siedlungsgebiet, der Polis, mit seinen öffentlichen Einrichtungen wie der Agora, Orten für den politischen Betrieb, etwa dem Rat oder der Volksversammlung, aber auch Tempeln und einer städtischen Infrastruktur.31 In dieser Arbeit sollen Gedichte untersucht werden, die eben jene Entwicklungen und Prozesse dieser von Krisen und Umbrüchen geprägten Zeit, aus der die Polis als soziale und politische Organisationsform hervorgegangen ist, widerspiegeln.32 Aufgrund des eingangs beschriebenen pragmatischen Charakters dieser „politischen“33 Gedichte stellen sich hier nun die zentralen Fragen, ob, inwiefern und wo Dichtung als politisches Gestaltungsmittel in dieser Phase der Polisgenese gebraucht wurde. Welche Handlungsabsichten verbanden die Dichter mit dem Vortrag ihrer Gedichte, welche Wirkungen konnten sie erzielen und in welchem soziopolitischen Kontext sind diese Prozesse zu verorten? Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln innerhalb der Lyrik der Archaik aufzuzeigen und dabei für die Alte Geschichte fruchtbar zu machen. Dabei wird bewusst versucht, die primäre Aufführungssituation zu rekonstruieren, weil nur sie uns Aufschluss über die Ver-
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Die rechtliche und institutionelle Entwicklung der Polis zeigt sich vereinzelt in den Gedichten archaischer Lyriker, etwa bei Alkaios (Fr. 43 D, Tyrtaios (Fr. 3a D) oder Solon (Fr. 4 W; Fr. 36 W), aber auch bereits bei Homer (Hom. Il. XVIII, 490–508) oder Hesiod (Hes. theog. 84–92); vgl. zu der die Polisgenese bedingenden Umstrukturierung in Form von Reformen und Gesetzeskodifikationen Gehrke 1986, 34–45; ders. 1993; Stein-Hölkeskamp 2015, 139–152; Reichard 2003, 88–92. Vgl. auch grundlegend Hölkeskamp 1999 sowie im Hinblick auf Kreta Seelentag 2015, 134–194. Interessant ist auch die Annahme einer vergesellschaftenden Wirkung durch den Wettbewerb um die Gunst einer dritten, öffentlichen, Instanz („Konkurrenz“ nach Georg Simmel) innerhalb von Konfliktregulierungsprozessen in der Archaik, vgl. ders. 2019. Zum Zusammenhang von Polisentwicklung und Phylensystemen in der Archaik vgl. Grote 2016. So die klassische Definition einer Polis bei Arist. pol. III, 1276b 1–5. Vgl. Hölscher 1998 Seit Ehrenberg 1937 wird dieser Prozess ins 8. Jh. v. Chr. datiert. In dieser Arbeit geht es dabei nicht um den komplexen Diskurs der Entstehung des politischen Denkens, vgl. dazu etwa Meier 2009; ders. 1980; Raaflaub 1989 und besonders jüngst Itgenshorst 2014 mit umfassendem Forschungsüberblick der deutschsprachigen Literatur (13–28). Es bedarf hier insofern auch keiner analytischen Trennschärfe des Begriffes, wie Itgenshorst 2014, 28, Anm. 74 sie fordert. In dieser Arbeit meint politisch – im traditionellen Sinne von der Wortbedeutung abgeleitet – polis- bzw. gemeinschaftsbezogen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Dichter der Polis bzw. der Gemeinschaft positiv oder ablehnend gegenüberstanden. Polisbezogenheit meint insofern auch nicht, dass die Dichter ihre individuelle Einstellung gegenüber der Gemeinschaft aufgaben, vgl. dazu Spahn 1993, 358–363. Vgl. grundsätzlich kritisch gegenüber der Opposition pro-Polis – anti-Polis Hammer 2004.
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hältnisse der Zeit der Dichter gibt. Darüber hinaus wird der Fokus der Untersuchung bewusst auf die mit den Gedichten transportierte Botschaft gelegt und weniger auf das Poetische der Texte. Damit soll nicht negiert werden, dass es sich bei den Texten weiterhin um Dichtung handelt und nicht etwa um politische Alltagstexte34. Es soll auch nicht übersehen werden, dass die Dichtung rituell verankert war35 und im Laufe der Zeit auch reperformances erfuhr, was ihre kommunikative Funktion im jeweils neuen Kontext verändert haben kann.36 Im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit wird der ästhetisch-poetische Aspekt sowie die Verankerung der Dichtung im Ritus jedoch ausgeklammert, da es vielmehr um die Bedeutung und Funktion von Sprache hinter der „Schablone“ der Dichtung im Moment ihrer (primären) Aufführung geht. Weil sich also insofern die Frage nach dem Handlungscharakter von Sprache stellt, wird als methodisches Instrumentarium eine Theorie herangezogen, die Sprechen nicht als das Beschreiben der Welt versteht, sondern vielmehr als Mittel zur Realisierung von Handlungen: Die Sprechakttheorie. Begründet wurde die Sprechakttheorie Mitte der 1950er Jahre von dem Oxforder Sprachwissenschaftler John Langshaw Austin. Weiterentwickelt und systematisiert wurde der Ansatz Austins in den 1970 er Jahren von dem amerikanischen Sprachphilosophen John Rogers Searle. Austin stellte fest, dass es sprachliche Fälle gibt, in denen „etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen.“37 Der Sprecher trägt also durch das Hervorbringen einer Äußerung zum Gelingen einer Handlung bei. Mit anderen Worten: Er vollzieht dadurch die Handlung. Eine Sprechhandlung wird dabei von Austin in drei Teilakte unterteilt: Die Lokution als die Artikulation der Äußerung, die Illokution als die Handlungsabsicht der Äußerung sowie die Perlokution als die durch die Äußerung angestrebte Wirkung. Die Bedeutung von Sprache wird also durch ihren Gebrauch bestimmt.38 Dieses moderne Verständnis von Sprache, das in den Sprachwissenschaften zu der Ausbildung des Teilbereiches der linguistischen Pragmatik geführt hat, ist dabei auch für Historiker*innen von Interesse: Eine sprachliche Handlung, ein Sprechakt, wird immer in Abhängigkeit der historischen und sozialen Situation, in der sich ein Sprecher befindet, vollzogen.39 Wie einführend dargelegt, kann diese Abhängigkeit in der archaischen Lyrik nachvollzogen werden, da sie einen ganz konkreten „Sitz im Leben“ hatte.
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Vgl. zu diesem Problembewusstsein S. 24, Anm. 49. Vgl. dazu S. 37. Vgl. dazu etwa Bierl 2010. Austin 2010, 35. Vgl. Wirth 2002, 10. Vgl. Ma 2000, 79; Wagner 1994, 181. Hierin liegt der primäre Mehrwert der Sprechakttheorie gegenüber einer traditionell rhetorischen Untersuchung der Gedichte. S. zum Vorteil der Sprechakttheorie als Analyseinstrument gegenüber der klassischen Rhetorik die Ausführungen in Kap. 3.1., S. 55–59.
Der pragmatische Charakter der archaischen Lyrik und die Frage nach den Sprechakten
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Weil die Wahl des Sprechaktes also nicht nur die Handlungsabsicht des Sprechers (Illokution) zeigt, sondern auch etwas über die Situation, das heißt die historischen Umstände, den Aufführungskontext und die Adressatengruppe, in der gesprochen wurde, aussagt, können vier zentrale Leitfragen an die Gedichte gestellt werden. Ihre Beantwortung birgt einen erheblichen Erkenntnisgewinn für die Erschließung des außerliterarischen Kontextes dieser historisch fernstehenden Gedichte und vermag auf diese Weise ihr historisches Profil zu schärfen: 1. Welche Sprechakte lassen sich in den untersuchten Gedichten finden, welche kommunikativen Ziele verfolgten die Sprecher also? 2. Was sagen die Sprechakte über die historische Situation, in der gesprochen wurde? 3. Welche Rückschlüsse können anhand der Sprechakte auf den konkreten Aufführungskontext und die Adressatengruppe gezogen werden? 4. Welche Informationen gibt die Auswahl der Sprechakte über den Dichter selbst preis? Mit Hilfe der Beantwortung dieser vier zentralen Fragen ist es darüber hinaus interessant – soweit dies möglich ist – zu untersuchen, ob die Lyriker mittels ihrer Dichtung eine nachzuvollziehende Wirkung auf Politik und Gesellschaft ihrer Poleis ausgeübt haben mögen. Denn eine Sprechhandlung ist keine isolierte Einheit, sondern steht immer in einem untrennbaren Verhältnis zu ihrer Wirkung und ihren Konsequenzen (Perlokution).40 Insofern kann eine fünfte Leitfrage aufgeworfen werden, die danach fragt: 5. Welche (kurz- oder langfristige) Wirkung haben die Dichter durch ihr sprachliches Handeln bei ihren Zuhörern ausgelöst? Im Fokus dieser Untersuchung stehen also die Entstehungsabsicht der Gedichte, das historische und soziale Umfeld und die Adressatengruppe der Dichter sowie der Dichter selbst und die durch die Dichtung ausgelöste Wirkung auf die Zuhörer. Mit Hilfe der Sprechakttheorie sollen damit die verschiedenen Spuren der durch Dichtung vollzogenen Aushandlungsprozesse innerhalb der Polis der Archaik in den Diskursräumen, in denen jene Prozesse stattfanden, ausgeleuchtet werden. Die Anwendung einer modernen Theorie auf die antiken Texte der archaischen Lyrik, die unsere zentrale zeitgenössische literarische Quelle für das 7. und 6. Jh. v. Chr. ist, soll dabei eine Möglichkeit sein, neue Informationen aus den bereits in unterschiedlicher Hinsicht vielfach untersuchten Gedichte zu generieren. Durch diesen explorativ und interdisziplinär ausgerichteten Forschungsansatz soll ein neuartiger Beitrag zur besseren Erschließung des außerliterarischen Kontextes der archaischen 40
Coulmas 1977, 101. Die Beantwortung der Frage nach der Wirkung der Dichtung muss aufgrund der spärlichen Quellenlage dieser Zeit sowie der häufig fraglichen Historizität der berichtenden Quellen jedoch grundsätzlich spekulativ bleiben.
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Lyrik geleistet werden, welcher seit den Untersuchungen Gentilis zu einem zentralen Forschungsfeld der Archaik geworden ist. 1.2 Forschungsüberblick In den 1960er Jahren legte Bruno Gentili mit seiner Forschungsgruppe in Urbino den Grundstein dafür, die archaische Lyrik aus einer pragmatischen Perspektive zu untersuchen.41 Gentili thematisiert in seinem Grundlagenwerk Poetry and its public in ancient Greece: from Homer to the 5. Century (ital. Originaltitel: Poesia e pubblico nella Grecia antica: da Omero al V secolo (1984)) die Funktion der Dichtung (besonders Sappho, Pindar, Simonides, Archilochos und Alkaios) innerhalb der Gesellschaft – und hier insbesondere ihre Mündlichkeit als primäres Mittel der Kommunikation42 – und zeigt damit die Verankerung der archaischen Lyrik in der politischen und gesellschaftlichen Realität der Archaik.43 In Deutschland wurde dieser pragmatische Interpretationsansatz besonders durch Wolfgang Rösler geprägt, der dabei den italienischen Fokus auf den Dichter zugunsten eines Fokusses auf das Publikum der Dichtung und damit also vom Produzenten zum Rezipienten verlagerte.44 Rösler, der seine Untersuchungen am Beispiel der Lyrik des Alkaios durchführt, erarbeitet „Art, Umfang und soziale Stellung des angesprochenen Publikums, Beziehungen zwischen Autor und Publikum, Ort, Anlaß und Umstände der Vermittlung u. a. m.“45 So untersucht er aus rezeptionsästhetischer Perspektive die Bedingungen und die historische Funktion der Alkäischen Lyrik.46 Später zeigt Rösler dezidiert, dass die archaische Lyrik aufgrund 41
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An der Universität Urbino wurde das Centro di studi sulla lirica greca gegründet. Die Arbeiten der Urbiner Schule zum pragmatischen Charakter der Lyrik wurden in der Zeitschrift Quaderni Urbinati di Cultura Classica und in der Reihe Lyricorum Graecorum quae extant veröffentlicht. Im Hinblick auf diese Arbeit sind hier insbesondere die Untersuchungen zu Tyrtaios von Prato 1968 sowie zu Solon von Martina 1969 zu nennen. Vgl. zur Entwicklung der pragmatischen Forschungsrichtung (sowie deren Vorläufer) bes. Latacz 1986. Vgl. auch Slings 2019, 153, der den Paradigmenwechsel der Lyrikforschung („author-centered, text-centered, audience-centered“) nachzeichnet. Vgl. Gentili 1988 (engl. Fassung), 3–23. Ebd., 4 nennt drei Bedingungen, von denen mindestens eine gegeben sein muss, damit eine Dichtung oral genannt werden kann: „(I) oral composition (extemporaneous improvisation); (2) oral communication (performance); and (3) oral transmission (memorized poetic tradition).“ Gentili stellt sich dabei grundsätzlich in die Folge der anglo-amerikanischen homerischen oral-poetry Forschung. Prägnant dargestellt auch in Gentili 1990. Vgl. Rösler 1980. Die Frage nach dem Publikum der Dichtung und danach, welche Wirkung mit der Dichtung auf das Publikum ausgeübt werden sollte, hat es zwar schon früher gegeben, vgl. etwa Jaeger 1934, 181; Schadewaldt 1933, wie Rösler 1980, 10–11, Anm. 4 bemerkt. Rösler kritisiert aber, dass diese Erkenntnisse bloß randständig beobachtet wurden. Darauf weist auch Latacz 1986, 296 hin. Rösler 1980, 12. Damit folgt Rösler den Ansätzen der Rezeptionsästhetik, die in den 1970er Jahren insbesondere durch die Arbeiten von Hans Robert Jauß begründet wurde. Auf Grundlage der Rezeptionsästhetik postuliert Rösler 1980, 11–12, dass ein literarisches Werk ein kommunikativer Akt sei, „der sich
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ihrer engen Bindung an einen bestimmten Anlass oder Ort in der Regel einen direkten Bezug zum Hier und Jetzt der Aufführungssituation, sowohl im Hinblick auf Zeit und Ort als auch in Bezug auf den implizit vorausgesetzten Wissens- und Erfahrungshorizont der Zuhörer, erkennen lässt. „Situationsabhängige Referenzmittel“ wie personale, temporale und lokale Deixis oder Eigennamen seien aus diesem Grund für die frühgriechische Lyrik kennzeichnend.47 In Gentilis und Röslers Folge sind in den Altertumswissenschaften eine Reihe von Arbeiten entstanden, die sich mit eben jener Pragmatik, also der Mündlichkeit der Darbietung und ihrer Verankerung im sozialen und politischen Leben der Polis, eben dem ganz spezifischen „Sitz im Leben“, der archaischen Lyrik, beschäftigen. Diese Tendenzen stärkten Begriffe wie Performance, Publikum, Autor, Funktion, Milieu, Produktion und Rezeption, die in der Lyrikforschung nun deutlich mehr Beachtung fanden,48 jedoch auch nicht uneingeschränkt Zustimmung fanden.49
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jedenfalls zunächst und von der Intention des Autors her auf dessen eigene Gegenwart und ein ihr gleichfalls zugehöriges Publikum bezieht, von dem der Verfasser bereits feste Vorstellungen besitzt und das damit den Text als konstitutiver Faktor inhaltlich und formal mitbestimmt“ Zu den Möglichkeiten der Rezeptionsforschung innerhalb der Klassischen Philologie vgl. nach wie vor Barner 1977. Vgl. Rösler 1983. Die von Rösler aufgestellte strikte Trennung von Deixis ad Oculos der frühgriechischen mündlichen Lyrik und einer Deixis am Phantasma der späteren Leselyrik findet Latacz 1986, 48–52 „unhaltbar“. Er plädiert richtigerweise dafür, dass auch in mündlicher Dichtung Vorstellungen und Situationsbilder zu einer Fiktionssituation gestalten werden können und insofern Deixis am Phantasma vorliegen könne. Für Literatur zu weiteren Untersuchungen der Deixis innerhalb der archaischen Lyrik s. Rutherford 2019, 16, Anm. 46. Vgl. grundsätzlich zur Deixis K. Bühler 1934 sowie A. Bühler 1988. Vgl. grundsätzlich Gerber 1997a, 4–6; Thomas 1995, 106–113; Herington 1985, 5–40; Kannicht 1989 zeigt den Zusammenhang zwischen griechischen Festen (privat und öffentlich) und griechischer Poesie (homerische Epen, homerische Hymnen, Symposionslyrik, Chorlieder) auf; Zum Zusammenhang von Dichtung und Festen in Sparta vgl. Meier 1998, 39–40. Bagordo 2011, 127–128 hingegen warnt vor einer Gleichsetzung von monodischer Lyrik und Symposion auf der einen und Chorlyrik und öffentlichen Festen auf der anderen Seite, weil monodische Darbietungen auch bei öffentlichen Festen stattgefunden hätten (mit Verweis auf Stesichoros); ähnlich auch Rutherford 2019, 2: „in the end it might be better to accept that, for a complex and fluid song culture like this one, any typology we come up with is bound to be fuzzy and provisional.“ Einen Beitrag zur performativen Geschlechtergeschichte leistet Stehle 1997, die im Hinblick auf Performance und Publikum den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Performance untersucht und dabei aufzeigt, inwiefern im Rahmen unterschiedlicher Aufführungskontexte Gendervorstellungen konstruiert wurden. In der von Gentili angestoßenen Folge des „performative turn“ ist der Sammelband von Edmunds/Wallace 1997 entstanden („In this spirit we set about to celebrate Bruno Gentili, collecting for him the essays we publish here“ (viii). Vgl. grundsätzlich auch die Aufsätze in Budelmann 2009, Part I: „Context and Topics“, hier bes. Hornblower (zum sozialen und politischen Kontext der Dichtung) sowie D’Alessio (zur Verbindung von pragmatischen Äußerungen und Aufführungskontext). Untersuchungen zur Performativität hat es auch über die Archaik hinausgegeben: Vgl. etwa mit Schwerpunkt auf Homer und Hesiod den Sammelband von Minchin 2012. Goldhill/Osborne 1999 versammeln Aufsätze zu unterschiedlichen Elementen der „performance culture“ des demokratischen Athens in klassischer Zeit. Vgl. auch die zahlreichen Untersuchungen Bierls zur Performativität im antiken Theater: Bierl 2002 (bes. 8–11); ders. 2007; ders.
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Ein zentrales Anliegen der pragmatischen Forschung war es dabei, wie es auch diese Arbeit anstrebt, den konkreten Aufführungskontext der einzelnen Gedichte bzw. Gedichtgenres zu rekonstruieren.50 Zumeist wurden Symposien oder öffentliche Feste als Aufführungsort der Dichtung angenommen. Die Gattung der Elegie sowie die melische Dichtung werden dabei primär im Symposion verortet.51 Bereits Reitzenstein hat Elegien für Symposionsgedichte gehalten: „Beim Mahl wurden diese Lieder bis in späte Zeit vorgetragen, weil sie hier zuerst erklungen sind, weil dies für sie der naturgemässe Ort war.“52 Aus einem Fragment der großen Elegiensammlung, dem Corpus Theognideum (C. Th.), geht denn auch deutlich hervor, dass das adlige Symposion Aufführungsort von Elegien gewesen ist:
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2011 zur rituellen Performativität des Chores in der Parados der Bakchen; ders. 2012. Vgl. grundsätzlich zur Performativität des Chores Bierl 2001 zum Chor in der Alten Komödie und die damit verbundene performative Praxis des Rituals; vgl. auch ders. 1999 sowie Käppel 1999. Allgemein zur Performativität innerhalb der Geschichtswissenschaft (vom Mittelalter bis in die Neuzeit) vgl. den Sammelband Martschukat 2003. So warnt insbesondere Latacz 1986, 305–306 davor, eine Interpretation der Lyrikfragmente durch eine alleinige Orientierung an der Interaktion, Rezeption und Funktion der Dichtung im Ganzen schon als abgeschlossen zu betrachten; schon in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Basel proklamierte er: „Was hier bleibt, wenn alles Rekonstruierbare rekonstruiert ist, das ist nicht ein Rest – es ist der Kern!“, Lactacz 1984, 26. Auch Schmitz 2002, 72 verweist auf die Gefahr, das Literarische und Poetische der Dichtung durch einen pragmatischen Fokus zu ignorieren. Er warnt davor, das literarische Potential einer Dichterin wie Sappho durch eine erzwungene Kontextualisierung „abzustumpfen“. Wie Liebermann 1980, 51 jedoch richtig darstellt, ist die „Einbeziehung des historisch-sozialen Umfelds“ für die Interpretation archaischer Lyrik grundlegend und daher „gänzlich unbestritten“. Und auch Bierl 2003, 99, Anm. 29 macht deutlich, dass ein umfassendes Verständnis (etwa) der Sapphischen Lyrik erst durch das Einbeziehen sozialer und anthropologischer Bedingungen der realen Kommunikationssituation möglich sei und dass nur unter diesen Voraussetzungen die ästhetischen Aspekte von Dichtung in adäquater Weise interpretierbar seien. Pragmatik und Werkästhetik gingen insofern Hand in Hand. Der soziokulturelle Kontext der Dichtung wurde denn auch immer wieder für einzelne Dichter oder Gedichte zu rekonstruieren versucht (entsprechende Ergebnisse zu den hier untersuchten Dichtern werden in den einleitenden Kapiteln der jeweiligen Dichter aufgeführt). Nennenswert ist besonders die wegweisende Untersuchung des rituellen und sozialen „Sitzes im Leben“ des großen Louvre-Partheneion des Alkman von Calames 1977 (franz. Originaltitel Les Chœurs de jeunes filles en Grèce ancienne), die 1997 überarbeitet und übersetzt unter dem Titel The Choruses of Young Women in Ancient Greece erschienen ist. Beachtenswert sind darüber hinaus die Arbeiten von Bierl 2003 zu den pragmatischen Aspekten von Sappho Fr. 16 V sowie die ausführliche Einordnung der Sapphischen Lyrik in den soziokulturellen Kontext der weibliche Hetairie – auch im Vergleich mit Alkaios – durch Caciagli 2011. Vgl. auch Krummen 1990, die die (kultisch/festlichen) Aufführungsbedingungen Pindarischer Lyrik sowie den Erwartungshorizont des Pindarischen Publikums untersucht. Aloni 1997 verortet Simonides Plataiai-Elegie als Klagelied für die Gefallenen in einen öffentlichen Kontext. Vgl. zur visuellen Rezeption der Lyrik Cazzato/Lardinois 2016. Minchin 2014 untersucht die Auswirkung einer implizierten Zuhörerschaft für die Komposition von Dichtung in Homers Ilias; Caciagli 2014 zu Alkaios Fr. 140 V; ders. 2010 zum (selben) Kontext von Alkaios Frr. 129–134 V und Sappho Fr. 17 V; ders. 2009 zu Alkman PMGF 1; ders. 2017 zu Solon. Zur Symposionskultur vgl. grundlegend den Sammelband Murray 1990 sowie ders. 2009. Seine Einzeluntersuchungen sind neuerdings in Cazzato/Murray 2018 vereint. Reitzenstein 1893, 47.
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Dir habe ich Flügel gegeben, mit denen du über das unermessliche Meer fliegen wirst und hoch über die ganze Erde hin mit Leichtigkeit. Bei allen Mählern und Festen wirst du dabei sein, in vieler Munde geführt53 (Übers. Hansen 2005)
Häufig wird in den Elegien auch das Symposion selbst zum Inhalt gemacht.54 West befand Reitzensteins Plädoyer für das Symposion jedoch zu „one-sidedly“.55 Anhand der Gedichtinhalte rekonstruierte er stattdessen acht verschiedene Aufführungskontexte, in denen Elegien erklungen sein könnten: Ein militärischer Kontext, ein weniger formelles militärisches Setting, das Symposion, ein auf das Symposion folgender κῶμος, eine öffentliche Versammlung (beispielsweise die Agora), ein Ort unweit eines Brunnens (angenommen aufgrund einer solchen Erwähnung in den Versen 263–266 des C. Th.), eine Begräbnisfeier sowie musische Agone öffentlicher Feste.56 In einem vielbeachteten Artikel wendet sich Bowie jedoch gegen die von West rekonstruierten Aufführungskontexte und kommt (mit Ausnahme in Bezug auf längere, narrative Elegien, die die Lokalgeschichte einer Polis thematisieren und aufgrund ihrer Länge nicht in ein Symposion, sondern vielmehr in einen öffentlichen Kontext, etwa ein öffentliches Fest, gehören würden)57 zu dem bereits von Reitzenstein formulierten Schluss, dass allein das Symposion sowie der κῶμος als Kontexte der Performances der Elegien in Frage kämen und Anspielungen auf externe Aufführungskontexte metaphorischer Natur seien.58 53 54
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C. Th., V. 237–240 W: σοὶ μὲν ἐγὼ πτέρ’ ἔδωκα, σὺν οἷσ’ ἐπ’ ἀπείρονα πόντον / πωτήσηι κατὰ γῆν πᾶσαν ἀειρόμενος / ῥηϊδίως·θοίνηις δὲ καὶ εἰλαπίνηισι παρέσσηι / ἐν πάσαις πολλῶν κείμενος ἐν στόμασιν Am bekanntesten ist hier wohl Xenophanes’ Elegie über das kultivierte Begehen eines Symposions (Xenophan. Fr. 1B West). Vgl. dazu auch Kannicht 1989, 36–41. Murray 2018, 295 sieht generell in einem archaischen Dichter aufgrund seiner Ausführungen über gutes bzw. schlechtes Verhalten im Symposion einen „sympotic legislator“. West 1974, 11, Anm. 18. West 1974, 10–13. Bowie 1986, 27–34. Vgl. auch ders. 2016. Diesen Ansatz sieht Aloni 2009, 170 und 178–179 seit der 1992 veröffentlichen Plataiai-Elegie des Simonides, die verschiedene Hinweise auf eine öffentliche Vorführung gibt, bestätigt. Grethlein 2010, 69 hält Bowies Beweisgrundlage hingegen für zu dünn und spricht sich auch im Hinblick auf längere Elegien für das Symposion aus. Vgl. Bowie 1986, 13–21. Ähnlich Slings 1990, 21–22, der aber die Tyrtäische Eunomia, anders als Bowie, für sympotisch hält; Rösler 1990, 230; Selle 2008, 352–357 (bes. für Theognis). In einem späteren Aufsatz plädiert Bowie 1990 spezifisch für einen sympotischen Kontext der kampfparänetischen Fragmente eines Kallinos oder Tyrtaios. Dem schließt sich Irwin 2005, 15–63 an, die davon ausgeht, dass die „martial exhortation elegy“ eines Tyrtaios oder Kallinos grundsätzlich im Symposion aufgeführt wurde, wo ihre Funktion (auch) darin bestand, durch eine Anlehnung an homerische Helden die Exklusivität der Elite zu akzentuieren und diese damit als soziale Gruppe zu definieren und von anderen Schichten abzugrenzen, vgl. ebd., bes. 33–34: „I argue that, at the same time as seeming to depict the polis as a unified entity and expressing a strong and positive attachment to it, the performance of heroic-style exhortation in the exclusive and status-oriented environment of the symposium may function quite paradoxically to separate and define an élite, or section of an élite, group. These poems can be seen as conveying a plurality of messages to a plura-
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Dieser Ansatz erscheint reizvoll, jedoch warnt Mülke ganz grundsätzlich und zurecht davor, dass nicht allein aufgrund unser verhältnismäßig reichen Kenntnisse über das Symposion einerseits und des Fehlens äußerer Anhaltspunkte in Bezug auf andere Gelegenheiten andererseits als „unbefragte Prämisse die opinio communis der Forschung“ gelten dürfe, „im statistischen Mittel die Mehrzahl der elegischen und iambischen Gedichte archaischer Zeit“ als Symposionsdichtung anzusehen.59 Mülke plädiert in seiner Untersuchung der Solonischen Dichtung deswegen dafür, sich dem Spannungsverhältnis zwischen der spürbaren Okkasionalität der Fragmente und dem Mangel an Textsignalen für die primäre Vortragssituation immer wieder neu auszusetzen und nicht von vornherein das Symposion als spezifischen Kontext zugrunde zu legen.60 Und so muss es eine fortwährende Aufgabe bleiben, wie auch Irwin befindet, den Kontext der Dichtung immer wieder neu zu evaluieren.61 Dies gilt insbesondere für solche Dichtung, in der es nicht um klassische sympotische Themen, wie dem Symposion selbst, dem Wein oder der Liebe geht, die ohne Zweifel der Unterhaltung des Publikums im Symposion dienten, sondern welche politische Belange thematisieren.62 Zur Eruierung des Aufführungskontextes wird in dieser Arbeit als Methode die Sprechakttheorie gewählt, die als Erweiterung der bisherigen pragmatisch-orientierten Untersuchungen einen gänzlich neuen Ansatz für die Untersuchung der archaischen Lyrik eröffnet.63 Dieser neue Zugang steht insofern in der Folge der Arbeiten
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lity of groups, and one of these messages is likely to have been the reinforcement of social division and privilege.“ In Bezug auf die Solonische Lyrik bleibt Irwin auffallend vage, spricht lediglich von einem breiten Publikum (87). Dass das Symposion als Aufführungsort dabei im Hinblick auf thematische und lokale Unterschiede sowie in Bezug auf eine unterschiedliche personelle Zusammensetzung differenziert betrachtet werden muss, betonen Stehle 1997, 214–215 und dies. 2009, 66 sowie Carey 2009a, 33–34 und Aloni 2009, 171–178. Mülke 2002, 11. Ebd., 13. Vgl. die Einführung in Irwin 2005, 1–13, hier 3. Carey 2009a, 38 hält die politische Lyrik ebenfalls für sympotische Lyrik. Die Sprechakttheorie hat in verschiedenen Bereichen der Altertumswissenschaften Anwendung gefunden (wurde jedoch noch nie in der systematischen Weise auf elegische bzw. melische Gedichte der Archaik angewandt, wie diese Arbeit es vorsieht): Vgl. zur Epik Martin 1989, der in seiner Untersuchung der „Language of Heroes“ in Homers Ilias unter dem Gebrauch des Wortes μῦθος (im Gegensatz zu ἔπος) einen autoritativen Sprechakt versteht. Zudem erkennt er in den verwendeten „winged words“ Sprechakte der Sprechaktklasse der Direktiva. Martin glaubt, dass die Sprechhandlungen in den Epen poetische Versionen der Realität seien. Dem folgt Minchin 2002, die den Sprechakt des Tadels („rebuke“) in den homerischen Epen untersucht. Sie kommt zu dem Schluss, dass dieser immer einem bestimmten Muster folge und dabei dem sprachlichen Repertoire der griechischen Gegenwart entspräche. Zur Sprechakttheorie und ihre Anwendung auf Homer vgl. die Zusammenfassung von Minchin 2011. Vgl. auch die Untersuchung von Beck 2012 zu Sprechakten in der Odyssee. Föllinger 2007 legt ihrer Untersuchung die Sprechakttheorie zu Grunde, indem sie in der Thematisierung von „Nicht-Wissen“ in der frühgriechischen Lyrik (beispielhaft gezeigt an Simonides, Solon und Theognis) keinen Ausdruck pessimistischer Weltsicht sieht, sondern vielmehr darin indirekte Sprechakte der Aufforderung (in einer bestimmten Weise zu handeln) erkennt. Bierl 2001, 45–54 verwendet die Sprechakttheorie in Bezug auf das große Partheneion Alkmans sowie in
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Gentilis und Röslers, als dass durch ihn auf innovative Weise die primären Rezipienten, die Aufführungsbedingungen und die historischen Umstände der archaischen Lyrik zu rekonstruieren versucht wird. Darüber hinaus ist es dank der Sprechakttheorie möglich, das sprachliche Handeln der Dichter detailliert nachzuzeichnen und auf diese Weise nicht nur Informationen über die mit den Gedichten verfolgte Absicht und ihre Wirkungen, sondern auch über den Dichter als Sprecher und sein Publikum zu erhalten. Die politische Lyrik der Archaik erfährt auf diese Weise eine neuartige Einordnung in ihre historischen Zusammenhänge und wird dadurch in einem neuen Licht erscheinen. 1.3 Die archaische Lyrik als historische Quelle und die Auswahl der untersuchten Gedichte Die überwiegende Zahl der aus archaischer Zeit überlieferten Texte ist im weitesten Sinne der Lyrik zuzurechnen. Die archaische Lyrik bildet damit die nahezu einzige zeitgenössische literarische Quelle des 7. und 6. Jh. v. Chr.64 Insofern ist die Lyrik als Quelle für die Rekonstruktion der archaischen Welt unabdingbar. So postuliert etwa Irwin: It is not only the collective opinion of the ancients and the suitability of the content of the fragments of early Greek poetry that invite their use in reconstructing archaic culture and politics; there is also the compulsion of necessity. Without the remains of archaic poetry any access to this period would have been greatly hindered […].65
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Bierl 2016, 19–23 auf Alkaios Fr. 129 V. Auch in Bezug auf das antike Theater hat die Sprechakttheorie Eingang in die Forschung gefunden. So untersucht etwa Prins 1991 die sprachlichen Handlungen im binding song der Furien in Aischylos’ Eumenides. Die Bedeutung der Sprechakttheorie für das attische Drama zeigt auch an Gunther Martins Zürcher Tagung „Doing Things with Words on Stage. Pragmatics and Ist Use in Ancient Drama“: https://sglp.uzh.ch/dam/jcr:c32e3420-a343–4f3d-a8ab422e0cc77965/DoingThings.pdf, Abrufdatum: 18.09.2021. Daneben wurde die Sprechakttheorie in der Alten Geschichte etwa von Ma 2000 angewandt, der Königsbriefe seleukidischer Herrscher zur Zeit der Makkabäischen Revolte auf Grundlage der Sprechakttheorie untersucht, um anhand von in den Königsbriefen enthaltenen direktiven Sprechakten und der Frage danach, ob diese glückten oder nicht („felicitousness“) die Machtverhältnisse, insbesondere den zunehmenden Machtverlust der Seleukiden gegenüber den Makkabäern, aufzuzeigen. Den gleichen Erklärungsansatz verfolgt Ober 1996, der anhand des Widerstandes der athenischen βουλευταί gegen die Auflösungsgesuche der spartanischen Besatzer den Machtverlust selbiger darstellt (auch hier geht es also um glückende bzw. nicht-glückende Sprechakte), was in der Folge zur „Athenian Revolution“ führte (bes. 32–52). Obers Überlegungen fußen dabei auf der sprechakttheoretischen Untersuchung von Petrey 1988, der anhand des Widerstandes der neu erklärten französischen Nationalversammlung gegen den Versuch der Annullierung derselben durch Ludwig XVI dessen effektlose Sprechhandlungen darstellt und somit den Verlust der Legitimität des Monarchen aufzeigt. Vgl. Stein-Hölkeskamp 1989, 12; Itgenshorst 2014, 39; Thomas 1995, 105. Irwin 2005, 3.
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Die archaische Lyrik als Quelle wirft jedoch verschiedene Probleme auf, die ihre historische Aussagekraft als Zeugnis der griechischen Frühgeschichte schwächen. So ist der allergrößte Teil der Lyrik nicht erhalten.66 Und die Überreste der Gedichte, die uns durch spätere griechische Schriftsteller sowie Papyrusfunde überliefert wurden, sind eine „wahre ‚lyrische Trümmerlandschaft‘“67. Kaum ein Gedicht ist in Gänze erhalten, oft sind Anfang und Ende der Gedichte unklar, häufig selbst der Verfasser nicht erkennbar und auch eine Datierung ist vielfach nicht möglich. Bei der wenigen Dichtung, die schließlich dank der Überlieferung ihren Weg zu uns gefunden hat, muss zudem berücksichtigt werden, dass die zitierenden Autoren meist eine bestimmte Absicht mit dem Zitieren der Verse verbanden, weswegen die Dichtung nur durch den Filter einer teleologischen Überlieferung erhalten ist.68 Bei der Interpretation der Texte muss ihre Aussagekraft insofern stets kritisch hinterfragt werden. Zudem haben die erwähnten Umstände maßgeblichen Einfluss auf die Auswahl der zu untersuchenden Gedichte: In der vorliegenden Arbeit werden nur solche Gedichte herangezogen, die sich einem konkreten Verfasser (und somit Ort) sowie einem bestimmten Kontext zuordnen lassen, der sich aus einem Wechselverhältnis zwischen den Gedichtinhalten selbst sowie den Informationen aus anderen Quellen über die Zeit ergibt. Dieses „symbiotische Verhältnis“69 zwischen historischem Kontext und literarischem Text, wie Gentili und Rösler ihn aufgezeigt haben, ist Grund dafür, dass wir bestimmte Dichter historisch greifen können und ihre Dichtung deswegen als historische Erkenntnisgrundlage herangezogen werden kann. Die Kontextualisierung der Gedichte, ihre Handlungsbedingungen, ist dabei, wie im Methodenkapitel noch genauer dargelegt werden wird, auch für die Analyse von Sprechakten Voraussetzung. Zur Kontextualisierung zählt auch der Umstand, dass sich die Lyriker mit ihren Gedichten immer an ein anwesendes Publikum richteten und somit ein Gegenüber bzw. Empfänger der Äußerungen impliziert ist. Zentraler Untersuchungsgegenstand sind jedoch die erhaltenen Gedichte selbst. Denn nur sie allein sind zeitgenössische Zeugnisse und geben einen Einblick in die (Lebens-) Verhältnisse der Dichter.70
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Insbesondere die längeren, narrativen Elegien, die die Geschichte einer Polis zum Thema hatten, sind verloren. Vgl. Gerber 1997b, 91–92. Vgl. zu den langen Elegien und der Annahme eines öffentlichen Aufführungskontext Bowie 1986, 28–35. Latacz 1991, 147. Vgl. grundsätzlich Rutherford 2019, 7. Auf diese methodische Gefahr der Interpretation der – ebenfalls aufgrund der tendenziösen Absichten der zitierenden Autoren lediglich stereotyp – erhaltenen politischen Lyrik weist Irwin 2005, 50 hin. Vgl. grundsätzlich zu den Schwierigkeiten der Überlieferung über die archaische Zeit Griechenlands Ruschenbusch 1992. Hübner 2019, 26. So bereits Thomas 1995, 105: „Yet it is this poetry which, almost alone, gives us contemporary literary data. Accounts of archaic history in later historians will have been overlaid by the interpretations of later generations and, if based on oral traditions, will have been inevitably altered by the needs, interests or boredom of narrators in the intervening periods. The verses of someone like
Die archaische Lyrik als historische Quelle und die Auswahl der untersuchten Gedichte
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Hier stellt sich nun gleichsam die (nach wie vor) umstrittene Frage nach dem „Ich“ innerhalb der archaischen Lyrik: Handelt es sich dabei tatsächlich um ein reales, biografisches „Ich“, das seine persönlichen Erfahrungen ausdrückt, oder lediglich um die Persona eines Autors, also der Stimme einer literarischen oder kulturellen Konvention, hinter der der individuelle Autor zurücktritt?71 Die biografisch-historische Position entspringt dem Verständnis von Lyrik als der subjektivsten der drei „Naturformen“ der Gattungen nach Goethe72 und der älteren positivistischen Position.73 Dem folgte die geistesgeschichtliche Auffassung, dass die archaische Lyrik die Epik durch die „Entdeckung des Individuums“ abgelöst habe.74 Dagegen stand die primär in der angloamerikanischen Forschung vertretenen Ansicht im Sinne des „New Criticism“, den Text als autonomes Produkt, losgelöst vom Autor, zu betrachten.75 Dieser Ansicht nach unterliegen die Texte literarischen und gattungsspezifischen Normen; hier werden nicht persönliche Erfahrungen wiedergegeben, sondern es wird einer allgemeingültigen Konvention der Gattung gefolgt.76
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Alkaios, however, may be tendentious, but at least they are contemporary and have the roughness and difficulty to be expected of real individuals and contemporary conflicts.“ Die philologische Diskussion um die Frage nach realer oder fiktiver Gegebenheit entzündete sich insbesondere an der Veröffentlichung der Kölner Epode des Archilochos 1974 (Fr. 196a W), in welcher das lyrische Ich in der 1. Ps. Sg. seine sexuelle Erfahrung mit einem Mädchen schildert, und der konträren Interpretationen der beiden Herausgeber Merkelbach 1974 (der eine biografische Ansicht vertritt und Archilochos einen „schwere[n] Psychopath“ (113) nennt) und West 1975, 217–219 (der im Sinne der literarischen Konvention des imabischen Spottgedichtes von einer biografischen Interpretation Abstand nimmt). Vgl. zur darauffolgenden Debatte Rösler 2019; Slings 1990. Die verschiedenen Forschungstendenzen in Abgrenzung zum eigenen Ansatz werden auch bei Rösler 1980, 9–24, dargestellt. Goethe 1961, 179–181. Vgl. zu Goethes Naturformen auch den knappen und übersichtlichen Aufsatz von Schwinge 1982. Berühmter Vertreter des positivistischen Ansatzes ist Wilamowitz-Moellendorff 1922, der es sich in seinem Pindar-Buch zur Aufgabe gemacht hat „diese Person aus den vielen, zumeist datierten Werken als ein Ganzes herauszuarbeiten.“ (11). Slings 2019, 152 nennt Wilamowitz-Moellendorff deswegen einen „hard-core biographist“. Maßgeblich sind Snells Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik von 1941 und die Modifikation desselben in Die Entdeckung des Geistes von 1986, hier bes. 56–81; vgl. auch Fränkel 1969; in diesem Sinne auch noch Spahn 1993, 358: „Die in dieser Epoche aufkommende neue Literaturgattung, die sogenannte Lyrik, ist selbst schon ein Indiz der gesteigerten Individualität. Sie erlaubt einen unmittelbaren Ausdruck des Selbstbewusstseins und subjektiver Gefühle.“ Vgl. zum Forschungstrend des Erwachens des Individuums überblicksartig Slings 2019. Vgl. einführend Weimann 1974. Als wichtiger Vertreter des New Criticism in Amerika gilt Thomas Stearns Eliot mit seiner Impersonal Theorey of Poetry von 1960. In diesem Sinne besonders Nagy, der davon ausgeht, dass die poetische Stimme immer konventional sei und deswegen nicht auf eine bestimmte Aufführungssituation rückgeschlossen werden dürfe. So glaubt er beispielsweise. nicht, dass es einen Dichter namens Theognis gegeben hat, sondern dieser lediglich eine „kumulative Synthese Megarischer Dichtertradition“ sei und insofern nur eine Persona namens Theognis existiere: vgl. grundsätzlich, jedoch nicht immer deutlich in seiner Argumentation Nagy 2019; zu der Persona des Theognis vgl. Figueira/Nagy 1985, 2; vgl. auch die Ausführungen von West 1974, 22–28 zum Rollencharakter in der Kölner Epode des Archilochos.
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Rösler hingegen vertritt einen von beiden Extremen losgelösten Ansatz, der nicht nach einem realen oder poetischen Ich fragt, sondern vielmehr nach der kommunikativen Intention des Textes und insofern nach der Funktion der Dichtung in einem bestimmten historischen Kontext. Das „Ich“ des Sprechers kann in diesem Sinne verschiedene Funktionen erfüllen.77 Ob das Ich biografisch oder fiktiv ist, ist auch für die Frage nach dem Sprechakt aus analytischer Sicht erst einmal nicht zwingend. Denn auch die Sprechakttheorie fragt primär nach der hinter der Äußerung stehenden kommunikativen Intention des Sprechers.78 Über die Analyse des illokutionären Aktes, also eben jener kommunikativen Intention der Äußerung, erhält man jedoch gleichsam die subjektive Perspektive des Sprechers innerhalb einer bestimmten Kommunikationssituation, unabhängig davon, ob er mit „Ich“ sich selbst meint.79 Weil die hier untersuchten Gedichte (mit Ausnahme von Theognis) von Sprechern stammen, die als Individuen greifbar sind und die sich in den untersuchten Gedichten auf eine ganz bestimmte historische Situation beziehen und dabei eine bestimmte Meinung zum Ausdruck bringen, soll jedoch davon ausgegangen werden, dass die subjektive Perspektive in den Gedichten auch diejenige der Sprecher Solon, Kallinos, Tyrtaios und Alkaios ist und es demgemäß zulässig ist, über ihr Sprechen auf ihre Person rückzuschließen.80
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Dass die archaische Lyrik gänzlich fiktional ist und deswegen nicht auf das Leben der Dichter rückgeschlossen werden kann, glaubt auch Lefkowitz 1981, bes. vii–xi. Dem funktionsorientierten Ansatz folgt auch Gentili 1990, 12, wenn er in Bezug auf die Kölner Epode des Archilochos erklärt: „Damit ist nicht die Annahme intendiert, der Bericht sei die wirklichkeitsgetreue Beschreibung von Fakten, die real geschehen sind. Was zu unterstreichen beabsichtig wird, ist vielmehr dies: die Episode korrespondiert tatsächlichen biographischen Erlebnissen, auch wenn sie von Erfindungen, wie sie der Verleumdungsabsicht entspringen, verändert ist.“ Zentral ist also nicht die Frage, ob das lyrische Ich tatsächlich Archilochos ist, sondern welche Absicht der Sprecher Archilochos in der gegebenen kommunikativen Aufführungssituation verfolgte. Ähnlich Slings 1990, 21–22, der glaubt, dass in der Elegie in der Regel seltener ein biografisches Ich durchscheine, weil die Elegie als Genre klassischerweise im Symposion aufgeführt wurde, wo sie, in metrischer Anlehnung an das Epos, der Selbstvergewisserung einer bestimmten sozialen Gruppe diente und wo deswegen seltener eine persönliche Meinung eine Rolle spielte. In einem verwandten Sinne auch Jarcho 1990, 35: „Das dichterische ‚Ich‘ wird auch in diesem Fall als ein gesellschaftlich-kommunikatives Symbol für eine bestimmte soziale Umgebung verstanden.“ Vgl. dazu die Ausführungen zu Solons Rolle als Herold in der Salamis-Elegie (Kap. 7.1.2., S. 193– 194). Vgl. auch Slings 1990, 17–18. Dass aus den Texten der archaischen Lyrik eine subjektive Perspektive durchscheint, glaubt auch Itgenshorst 2014, 47 und 59–60. Itgenshorst weist diesbezüglich auch darauf hin, dass die homerischen Epen nicht Ausdruck der subjektiven „Lebenswelt“ ihrer Verfasser seien, weil kein Verfasser in den Epen erkennbar ist. Als Autor sei „Homer“ nicht greifbar. Auch Rösler 2019, 91 kommt letztlich zu dem Schluss, dass „at least in the cases discussed here (Alkaios, Alkman und Archilochos, Anm. AvdD), strong tendencies have emerged in favour of a direct connection between real life and poetic statement […].“ Ähnlich Slings 1990, 12–13, der dann von einem biografischen Ich ausgeht, wenn etwa zeitliche Referenzen mit der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft übereinstimmen. Vgl. auch Murray 2018, 290. Das „Ich“ kann in einem anderen Gedicht jedoch auch fiktional sein, wie etwa eindeutig in Alkaios Fr. 10 V., in welchem das lyrische Ich ein Mädchen ist, vgl. Slings 1990, 15. Ebd. geht insofern von einem „Performer-Ich“ aus, das mal biografisch, mal fiktiv sein kann. Vgl. grundsätzlich auch Bagordo 2011, 129
Die archaische Lyrik als historische Quelle und die Auswahl der untersuchten Gedichte
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Für eine Untersuchung der polisbezogenen Lyrik auf Grundlage der Sprechakttheorie und der damit verbundenen Frage nach der außerliterarischen Welt der Dichter gilt also aufgrund aller oben genannten Einschränkungen, dass nur solche Dichter untersucht werden können, deren Dichtung sich annähernd kontextualisieren lässt. Für die Dichter Solon, Tyrtaios, Alkaios und Kallinos sind diese Voraussetzungen gegeben.81 Eine Ausnahme bildet Theognis82, über den im Gegensatz zu den anderen Dichtern kaum antike biografische Zeugnisse vorliegen und auch eine konkrete Gedichtzuschreibung nur mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Weil Theognis sich jedoch, ebenso wie Solon, Tyrtaios, Alkaios und Kallinos mit einigen seiner ihm zugeschriebenen Gedichte aktiv mit einer Krise seiner Heimatpolis auseinandersetzt und dabei eine subjektive Perspektive auf die geschilderten Ereignisse erkennbar ist, darf er in einer Untersuchung der sprachlichen Handlungen innerhalb der polisbezogenen Lyrik der Archaik nicht fehlen.83 Die Untersuchung der Theognideischen Dichtung auf Grundlage der Sprechakttheorie versteht sich insofern als Versuch, auf innovative Weise, nämlich mit Hilfe der Sprechakttheorie, den Gedichten mehr Informationen zu entnehmen als bisher. Von allen fünf Dichtern werden also diejenigen Gedichte bzw. Fragmente untersucht, in denen sich die Dichter dezidiert mit einer aktuellen (externen oder internen) Krise der Polis auseinandersetzten. Wie eingangs dargelegt, besteht insbesondere in solchen Gedichten, in denen die Dichter zu bestimmten Ereignissen oder Verhältnissen Stellung beziehen, ein enger Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln.84 Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die exemplarische Auswahl der hier untersuchten Gedichte auf zwei Kriterien fußt: Es werden mit Ausnahme von Theognis nur diejenigen Dichter untersucht, die wir als Sprecher identifizieren können und die sich in einen historischen Kontext einordnen lassen. Das zweite Kriterium betrifft die Gedichtinhalte: Es werden nur solche Gedichte untersucht, in denen sich die Dichter eindeutig auf eine interne oder externe Bedrohungssituation beziehen und
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und Rutherford 2019, 15, die sich beide für ein Wiedererstarken der biografischen Tendenz in der Forschung aussprechen. Vgl. dazu die jeweiligen historischen Hinführungen in den einzelnen Analysekapiteln. Itgenshorst 2010 erkennt ganz grundsätzlich, dass wir die Fragmente der archaischen Dichter nur deswegen besitzen, „weil diese Männer sich als starke Einzelpersönlichkeiten ihrer jeweiligen Gemeinschaft gegenübergestellt haben und genau diese Tatsache in ihrer Dichtung zum Ausdruck bringen“ (229). Die Frage, ob es eine Person namens Theognis gegeben hat, wird ebenfalls eingängig im entsprechenden Analysekapitel besprochen. Hier soll der Name „Theognis“ weiter gebraucht werden, ohne, dass damit jedoch von einer sicheren Historizität des Dichters ausgegangen wird. Auf die methodischen Schwierigkeiten bei der Analyse Theognideischer Dichtung wird im entsprechenden Analysekapitel genauer eingegangen. Dies schließt insofern diejenigen Gedichte aus, denen eine allgemeingültige, ins Grundsätzliche gehende Tendenz zu entnehmen ist oder die mythologischen Inhalts sind. Vgl. zur Gnomik der Dichtung Herington 1985, 70.
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innerhalb dieser politischen Krise ihrer Heimatpolis bzw. ihres persönlichen Umfeldes mit ihren Gedichten aktiv in die sie umgebenden Geschehnisse einwirken. Die Kriterien ermöglichen es zudem, die Ergebnisse der einzelnen Analysen sinnvoll miteinander zu vergleichen. 1.4 Vorgehen in der Arbeit In dieser Untersuchung geht es also darum, die sprachlichen Handlungen in den polisbezogenen Gedichten der archaischen Dichter Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis zu analysieren, um auf diese Weise Rückschlüsse auf die außertextuelle Welt der betreffenden Dichter zu ziehen. Den einzelnen Fallstudien ausgewählter Gedichte der Dichter geht eine theoretische wie methodische Einführung voraus (Kap. 2 und 3). Hier wird das Konzept der Performativität und seine unterschiedlichen Ausprägungen im Zuge des performative turn der Geistes- und Kulturwissenschaften dargestellt (Kap. 2.1), dem auch diese Arbeit verpflichtet ist. Es folgt eine umfassende, auf die Bedürfnisse dieser Untersuchung zugeschnittene Darstellung der Sprechakttheorie nach Austin (Kap. 2.2.2.) und Searle (Kap. 2.2.3.). Weil es sich bei der systematischen Anwendung der Sprechakttheorie auf die Lyrik der Archaik in dieser Form um einen völlig neuen Ansatz handelt, wird im Anschluss daran die für diese Zwecke ausgearbeitete Anwendung der linguistischen Theorie auf den antiken Untersuchungsgegenstand ausführlich methodisch dargelegt (Kap. 3). Hierauf folgt die Sprechaktanalyse der politischen Gedichte der Dichter (Kap. 4–8). Den jeweiligen sprachlichen Analysen der Gedichte ist eine Vorstellung der zu untersuchenden Quellen sowie eine Darstellung der (möglichen) Lebensumstände des Verfassers auf Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse vorangestellt. Sodann werden die zu untersuchenden Gedichte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Forschungsmeinungen im Hinblick auf ihren historischen sowie möglichen okkasionellen Kontext eingeordnet. Die Sprechaktanalyse erfolgt sodann dezidiert auf Grundlage der griechischen Texte und ihrer deutschen Übersetzung. Die Übersetzungen wurden eingehend geprüft und individuell ausgewählt. Textkritische Anmerkungen und abweichende Deutungen werden an entsprechender Stelle diskutiert. Jeder Einzelanalyse eines Gedichtes folgt abschließend ein Zwischenfazit mit einer auf Grundlage der Ergebnisse gewonnenen Positionierung im Forschungsdiskurs hinsichtlich der eingangs angeführten Forschungsfragen. Hier wird dem Prinzip der hermeneutischen Spirale gefolgt: Auf Grundlage bestehenden Vorwissens über den Aufführungskontext werden Sprechakte analysiert, die dann zu einer Weiterentwicklung des ursprünglichen Vorwissens führen sollen. Im letzten Analysekapitel werden alle in den Einzelanalysen destillierten Sprechakte vergleichend nebeneinandergestellt (Kap. 9). Durch den Vergleich soll untersucht werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf das sprachliche
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Handeln in den jeweiligen Krisensituationen sichtbar werden. Welche grundlegenden Handlungsziele lassen sich ausmachen und inwiefern können darüber Aufführungsumstände, historisches Setting und Informationen über die Dichter noch schärfer umrissen werden? Erst im Vergleich können die Ähnlichkeiten und Eigentümlichkeiten des sprachlichen Handelns einzelner Dichter und ihrer Gedichte deutlich werden. Die verschiedenen Diskursräume des politischen Handelns in der Archaik sollen auf diese Weise schärfer umrissen werden. In der abschließenden Schlussbetrachtung (Kap. 10) sollen die durch die Analysen gewonnen Befunde im Hinblick auf die zentralen Fragen nach der Bedeutung der Dichtung als Politikgestaltungsmittel und ihrer möglichen Rolle als Kommunikationsmittel im Prozess der Polisgenese sowie den Orten dieser Aushandlungsprozesse besprochen werden. Die archaische Lyrik als Gattung erhält auf diese Weise eine gänzlich neue, nämlich sprachpragmatische Bedeutung.
2 Theorie 2.1 Performativität und Performanz in den Kulturwissenschaften Der Begriff Performativität avancierte in den letzten Jahrzenten zu einem Schlüsselbegriff in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Hervorgegangen ist er aus der Sprachphilosophie. Der Sprechakttheoretiker John L. Austins erkannte zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jh. die Leistung der Sprache als Mittel zur Realisierung von Handlungen.1 Er stellte fest, dass es sprachliche Fälle wie „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“ gibt, „in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen.“2 Der Sprecher trägt also durch das Hervorbringen einer Äußerung zum Gelingen einer Handlung bei. Er schafft dadurch eine soziale Tatsache. Austin nannte solche Äußerungen performativ – in Anlehnung an engl. to perform. Charakteristisch für performative Äußerungen ist dabei, wie die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte festhält, dass sie selbstreferentiell sind, weil sie bedeuten, was sie tun und dass sie wirklichkeitskonstituierend sind, weil sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Sprechen könne also „eine weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken.“3 Aus diesen Anschauungen über die Sprache entstand eine allgemeine Grundidee des Performativen, die von da ab an auf Kulturphänomene aller Art übertragen wurde: „Was durch performative Akte hervorgebracht wird, entsteht erst, indem dieser Akt vollzogen wird.“4 Performativität meint also eine transformative Kraft, die in der Lage ist, Wirklichkeit zu konstituieren. Der Performativitätsbegriff Austins entwickelte sich wissenschaftsgeschichtlich, wie Wirth nachzeichnet, von „einem terminus technicus der Sprechakttheorie zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften.“5 In den sechziger und siebziger Jahren des 1 2 3 4 5
Vgl. Wagner 1997, 1–2. Austin 2010, 35. Fischer-Lichte 2012, 38. Ebd., 42. Wirth 2002, 10. Ausdruck des Interesses des Performativen in den Kulturwissenschaften in Deutschland ist der von 1998 bis 2010 von der DFG geförderte Sonderforschungsbereich 447: Kulturen des Performativen unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte an der Freien Universität
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letzten Jahrhunderts setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass Kultur auch als performative Kultur verstanden werden kann.6 Das Interesse verlagerte sich dabei auf „die Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, die Akteure und kulturelle Ereignisse ausmachen.“7 Diese neue Perspektive führte zu zahlreichen Publikationen in unterschiedlichen Fachgebieten. Ein kurzer Überblick über die verschiedenen Ausprägungen des Performativitätskonzeptes in unterschiedlichen Disziplinen soll im Folgenden den Zugang zur Performativität erleichtern. Besondere Bedeutung erlangte das Performativitätskonzept in der Geschlechterforschung. Seit den 1980er Jahren wird das Geschlecht als biologische Kategorie von der feministischen Forschung zunehmend in Frage gestellt.8 Vielmehr rückte die performative Herstellung von Geschlecht in den Vordergrund. Insbesondere die Kulturanthropologin Judith Butler hat dabei den Austinschen Grundgedanken auf andere Bereiche ausgeweitet, in denen sprachliche und symbolische Praktiken Wirklichkeit konstituieren und verändern.9 In ihrer berühmten Performativitätstheorie behauptet Butler, die Identität des menschlichen Geschlechtes komme „durch eine stilisierte Wiederholung von Akten“10 zustande. Diese performative Herstellung von Geschlecht beginne schon mit dem Ausruf der Hebamme bei der Geburt „Es ist ein Mädchen“. Das Geschlecht werde durch diesen Akt des Benennens in dem Moment allererst hergestellt. Die wiederholte Anrufung als Mädchen oder Frau im Laufe des Lebens verfestige diese Geschlechtsidentität sodann ständig aufs Neue.11 Der performative Akt des Benennens besitze damit eine deklarative bzw. direktive Funktion, weil er die Anweisung „Sei ein Mädchen!“ gibt. Gleichzeitig sei er auch eine Aufforderung zu einer Performance der Selbstinszenierung, indem das Mädchen die Norm zitieren muss, damit es sich als lebensfähiges Subjekt qualifizieren und ein solches bleiben kann.12
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Berlin. Zur fachspezifischen Differenzierung s. auch die drei Themenhefte der Zeitschrift Paragrana des SFB Kulturen des Performativen: Heft 7.1.: Kulturen des Performativen (1998), Heft 10.1: Theorie des Performativen (2001), Heft 13.1.: Praktiken des Performativen (2004). Vgl. Fischer-Lichte 2003, 36. N. N., Performativ, online unter: https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/sfb-kulturendes-performativen/index.html, Abrufdatum: 12.02.2020. Vgl. Martuschakt/Petzold 2003, 9. Eine gute Einführung in die (Performativitäts-)Theorie Judith Butlers bietet Bublitz 2002. Vgl. Butler 2003, 302. Vgl. dies. 1995, 29: „Und in der Tat, mit der ärztlichen Interpellation […] wechselt das Kleinkind von einem „es“ zu einer „sie“ oder einem „er“; und mit dieser Benennung wird das Mädchen „mädchenhaft gemacht“, es gelangt durch die Anrufung des sozialen Geschlechts in den Bereich von Sprache und Verwandtschaft. Damit aber endet das „Zum-Mädchen-machen“ des Mädchens noch nicht, sondern jene begründende Anrufung wird von den verschiedensten Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg immer aufs neue wiederholt, um die naturalisierende Wirkung zu verstärken oder anzufechten. Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt einschärfend eine Norm.“ Vgl. Butler 1995, 306; vgl. dazu auch Wirth 2002, 41–42.
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Theorie
Der Körper werde auf diese Weise entbiologisiert und erscheine als Ergebnis des performativen Vorgangs des wiederholten (und weitgehend unbewussten) Zitierens von Geschlechternormen.13 Geschlechterzugehörigkeit sei insofern „eine konstruierte Identität, eine performative Leistung, an welche das weltliche gesellschaftliche Publikum einschließlich der Akteure selbst nun glaubt und die es im Modus des Glaubens performiert.“14 Auch in der Ritualforschung hielten Performativitätskonzepte Einzug. Rituale werden als eine bestimmte Gattung von Aufführungen verstanden, durch die sich Gemeinschaften bilden und erhalten. Dies können etwa Feste, Gottesdienste, Paraden und Umzüge sein.15 Stanley Tambiah definiert Rituale als Systeme der symbolischen Kommunikation, die sich aus Wortsequenzen, festen Mustern und Anordnungen sowie Handlungen zusammensetzten.16 Nach Tambiah sind sie dabei auf drei Arten performativ: […] erstens im Sinne Austins, wonach etwas sagen gleichzeitig auch etwas tun […] bedeutet; zweitens in dem […] Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ergebnis intensiv erfahren; und schließlich in einer dritten Bedeutung im Sinne eines indexikalischen Wertes […], den die Akteure während der Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten.17
Die transformative Kraft von Ritualen untersuchte schon Arnold van Gennep, der bereits 1909 feststellt, dass sich Rituale auf der ganzen Welt durch symbolische Grenzund Übergangserfahrungen auszeichnen, die zeitliche und räumliche Übergänge im Leben von Gemeinschaften und Individuen regeln, wie Ernennungen, Konfirmatio13 14
15 16 17
Bachmann-Medick 2006, 127. Vgl. Butler 2003, 302. Nach der Veröffentlichung von Butlers revolutionärer Studie Gender Trouble 1990 gab es jedoch auch Kritik an ihrer extremen Position zu Geschlecht, die zusammenfassend von Kilian 2010, 95–100 dargestellt werden: So stieß Butlers Ansatz in den 1990er Jahren nicht nur bei Feministinnen auf Kritik, die sich ihrer auf dem biologischen Geschlecht fußenden essentialistischen Identitätspolitik, die gleichsam durch ihre Naturalisierung von Geschlecht Grenzziehungen und Exklusionen produzierte, beraubt sahen. Auch das Performativitätskonzept als solches wurde hinterfragt, weil es die Gefahr einer beliebigen Inszenierung von Geschlecht berge und schließlich einer „Entkörperung“ (so etwa die harsche Kritik der Historikerin Duden 1993) gleichkäme. Auch Butlers Infragestellen der Zweigeschlechtlichkeit wurde kritisch gesehen, da es die Positionen des traditionellen Feminismus’, der die Priorisierung des weiblichen Geschlechtes als Daseinsberechtigung brauchte, schwächte. Nichtsdestoweniger waren Butlers Thesen nachhaltig durchschlagend und führten insbesondere auch dazu, dass die feministische Forschung, die in den 1990er Jahren noch als ideologisch motiviert und zu Teilen als unwissenschaftlich geltend mit Etablierungsschwierigkeiten an den Universitäten zu kämpfen hatte, einen theoretischen, nämlich poststrukturalistischen, Unterbau erhielt und nunmehr als Genderforschung firmierte. Vgl. König 2011, 55. Vgl. Tambiah 2002, 213–214. Bierl 2002, 26 betont, dass sich Rituale in ästhetischer Hinsicht grundsätzlich durch Elemente des Performativen und der Theatralität auszeichnen, die über unterschiedliche Medien vermittelt werden. Tambiah 2002, 214.
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nen, Beerdigungen, Hochzeiten u. v. m. Dabei würden solche Übergangsriten in drei Phasen verlaufen: Der Trennungsphase, der Transformationsphase und der Inkorporationsphase.18 Der Kulturwissenschaftler Victor Turner verweist dabei unter Rückgriff auf van Genneps Dreiphasenmodell insbesondere auf den Zustand der sogenannten Liminalität (von lat. limen) in der Transformationsphase des Rituals. In dieser „Zwischenexistenz“ vollziehe sich die Veränderung, der Wechsel von einem Zustand in den anderen, wie beispielsweise die Transformation eines Knaben in einen Krieger.19 Das Performative dieses Veränderungsprozesses im Ritual betonen wiederum Rao/Köpping, indem sie Rituale als transformative Akte bestimmen, die die Macht haben, Personen zu verändern und soziokulturelle Figurationen zu verschieben und somit insgesamt eine „Transformation der Wirklichkeitswahrnehmung“20 bewirken. Wie Fischer-Lichte richtig zusammenfasst, ist ein Ritual insofern, wie der Sprechakt, performativ, weil es die Transformationen hervorruft, auf die es verweist und insofern ebenfalls selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend ist.21 Auch die archaischen Symposien, die Austragungsort der Mehrheit der erhaltenen Dichtung gewesen sind, waren rituell verankert, insofern, als dass der Ablauf eines Symposions, wie Xenophanes ihn idealtypisch beschreibt, einem strengen Ablauf folgte, Kulthandlungen integrierte, rituelle Reinheit vorsah und in einem eigens für das Symposion vorgesehener Raum, dem andron, vonstattenging.22 Der Ritus diente einerseits der Beziehung zu den Göttern: „In den privaten Trink- oder Mahlgemeinschaften der Männer formte sich das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen wahrscheinlich sogar nachhaltiger als bei Opfermahlen in öffentlich-sakralem Kontext.“23 Zum anderen diente das gemeinsam begangene Ritual im Sinne der Gemeinschaftsbildung der Festigung der Gruppe der Teilnehmer: „Das Symposion hatte identitätsstiftenden Charakter: […] das Symposion [schuf] den Rahmen für die Ausbildung kollektiver Identität, d. h. die Trinkgemeinschaft konstituierte sich als abgeschlossene Gruppe innerhalb eines Gemeinwesens […].“24 Innerhalb der Gruppe konnte der einzelne Symposiast sodann seine eigene soziale Stellung in Bezug auf die anderen Standesgenossen abschätzen und definieren.25 Möglicherweise auch, um sich politisch in Stellung zu bringen.26 Wie einführend dargelegt wurde, wird die Bedeutung des rituellen
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Van Gennep 1999, 21. Vgl. dazu auch übersichtlich König 2011, 54–56. Turner 2005, 95. Vgl. Rao/Köpping 2000, 10. Vgl. Fischer-Lichte 2012, 46. Xenophan. Fr. 1B West. Köster 2011, 92. Meier 1998, 171. Vgl. ebd., 171. Stein-Hölkeskamp 2015, 142 betont, dass Ämter durch „vorpolitische Überlegenheitsmerkmale“ gesellschaftlicher Art vergeben wurden. Den Zusammenhang zwischen dem Ritual als zentralem Medium politischer Kommunikation und der Konstituierung von Macht im Mittelalter, wo Herr-
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Theorie
Aspektes des gemeinsam begangenen Symposiums hier jedoch zugunsten eines Fokus auf die Bedeutung von Sprache hinter der „Schablone“ der Dichtung herauszuarbeiten versucht. Rituale werden dabei, genauso wie Zeremonien, Ausstellungen aber auch Sportwettkämpfe oder politische Veranstaltungen, als eine bestimmte Art der Aufführung oder Performance angesehen.27 Dass Performances naturgemäß besonders im Theater beheimatet sind und die Performativität folglich in den Theaterwissenschaften Einzug hielt, liegt insofern auf der Hand. Hier sind insbesondere die Arbeiten der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte prägend. Obwohl sich die sogenannten Performance Studies besonders in der Mitte des letzten Jahrhunderts etablierten, wurde bereits um 1900 erkannt, dass in Bühnenhandlungen Bedeutung erst in den Aktionen der Schauspieler konstituiert wird und im Zusammenwirken von Akteuren, Publikum und Aufführungsbedingungen entsteht. Aufführungen würden auf diese Weise eine spezifisch ästhetische Wirklichkeit erzeugen können.28 In den 1960er Jahren kam es dann zu der vermehrten Hinwendung dieses Aufführungsphänomens, wobei, wie oben angedeutet, auch andere Genres von cultural performance (Rituale, Feste, Sportwettkämpfe etc.) in den Blick genommen wurden.29 Im Hinblick auf die Performativität von Aufführungen wird das Ereignishafte einer Aufführung als fundamental angesehen.30 Fischer-Lichte betont, dass Aufführungen flüchtig und transitorisch seien und dass ihre Materialität durch „[…] die Körper der Teilnehmer, die sich in spezifischer Weise durch den Raum bewegen, sprechen und/oder singen […]“31 entstehe und dadurch erst performativ hergestellt werde. Aufführungen seien daher auch kein Werk, sondern ein Ereignis, das einmalig und unwiederholbar sei.32 Für Fischer-Lichte sind daneben weitere Bedingungen konstitutiv: Die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern sei grund-
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schaft – ebenso wie in der Archaik – noch nicht durch schriftliche Normen fixiert war, hat grundlegend Althoff 2003 untersucht Vgl. dies. 2003, 38. Performances nehmen innerhalb der Performativitätsforschung einen großen Stellenwert ein, was sich auch daran zeigt, dass der sprachphilosophische Begriff des Performativen an vielen Stellen in einen allgemeinen Begriff der Performance, der Performanz, ausgeweitet wurde, vgl. Wirth 2002, 39. Auch wenn nicht immer Einigkeit darüber herrscht (so kritisiert etwa Hempfer 2011, 13–19 Wirths Definition der Begriffe Performativität und Performanz), werden die Begriffe Performanz und Performativität zumeist insofern unterschieden, als dass Performativität besonders den Vollzugscharakter von Äußerungen und Handlungen thematisiert, Performanz sich hingegen stärker auf den Aufführungscharakter von Handlungen und Äußerungen bezieht. Poststrukturalistische Theorien unterstellen der Performanz aufgrund ihres Aufführungscharakter daher ein intentional handelndes Subjekt bzw. setzen dies voraus. Hetzel 2012, 840 wirft allerdings ein, dass sich alle sprachlichen Äußerungen immer auch als Inszenierungen, als Performance, verstehen lassen. Vgl. Martschukat/Patzold 2003, 6. Vgl. Fischer-Lichte 2012, 45. Vgl. König 2011, 45. Fischer-Lichte 2003, 38. Vgl. ebd., 39.
Performativität und Performanz in den Kulturwissenschaften
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legend, weil Produktion und Rezeption der Aufführung parallel ablaufen: „Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteure und andere Zuschauer.“33 Insofern entstehe die Aufführung immer erst aus der Begegnung aller Beteiligten und im Verlauf und sei in diesem Sinne wirklichkeitskonstituierend.34 Auch die während der Aufführung entstehende Körperlichkeit der Akteure werde insofern erst in der Aufführung durch spezifische performative Akte hervorgebracht.35 Und auch der Raum, in dem die Aufführung stattfindet, entstehe erst durch die Bewegungen der Menschen, der Objekte, Lichter und Geräusche und werde entsprechend wahrgenommen. Insofern sei die Räumlichkeit der Aufführung in ständiger Fluktuation begriffen.36 Überhaupt wird Raum seit Ende der 1980er Jahre in den Geistes- und Kulturwissenschaften im Sine der performativen Hervorbringung von Wirklichkeit nunmehr ebenfalls als soziales Konstrukt verstanden. Durch einen Paradigmenwechsel, dem sogenannten spatial turn, entstand ein neues Verständnis von Räumlichkeit, das den Raum weniger als physischen „Behälter“ versteht, sondern vielmehr als ein „gesellschaftlicher Produktionsprozess von Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung […].“ Die Neuorientierung entspringt Erkenntnissen der Humangeografie, die, ausgelöst durch gesellschaftspolitische Umbrüche wie die Aufhebung des sogenannten Ostblocks, die ökonomische Globalisierung oder die Entstehung virtueller Räume des Internets, Räume nicht mehr als starren Handlungshintergrund verstand, sondern als Produkt soziokultureller Wahrnehmung und Konstruktion. Die Orientierung der Moderne an Zeit als primärer Untersuchungsgröße wurde damit um die Kategorie Raum erweitert.37 Wie sich zeigt, hat sich im Zuge des performativ turn oder der performativen Wende ein ausdifferenziertes Theorienfeld ergeben, in dem unterschiedliche Disziplin verschiedene Lesarten des Performativen verfolgen: So ist für Butler der soziale Kontext das Produkt des Performativen, wohingegen die Sprechakttheorie, wie sich nachfolgend zeigen wird, den sozialen Kontext für performative Äußerungen immer erst voraussetzt.38 Ein anderer Unterschied besteht zwischen dem Ereignishaften des Performativen aus Sicht der Theaterwissenschaft und dem Prozesshaften der performativen Identitätskonstruktion bei Butler.39 Jede Disziplin setzt also unterschiedliche Schwerpunkte. Obwohl es deswegen schwierig ist, die zahlreichen Verwendungsweisen von Performativität und Performanz einem einheitlichen Begriff unterzuordnen, gilt eines 33 34 35 36 37 38 39
Fischer-Lichte 2016, 70. Fischer-Lichte 2012, 54. Vgl. auch dies. 2003, 39. Vgl. Fischer-Lichte 2012, 62. Vgl. ebd., 58–59. Vgl. grundsätzlich die umfassende Zusammenfassung von Bachmann-Medick 2006, 284–328. Vgl. auch Döring/Thielmann 2008. Vgl. zur Gegenüberstellung von Butler und Austin Volbers 2011, 146. Vgl. König 2011, 45.
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für jegliche Theorie des Performativen gleichermaßen, wie Fischer-Lichte prägnant festhält: „Was durch performative Akte hervorgebracht wird, entsteht erst, indem dieser Akt vollzogen wird.“40 Wer sich mit dem performativen Charakter der archaischen Lyrik beschäftigt, kann also insbesondere die Erzeugung von Bedeutung und die transformative Kraft, die dem Performativen innewohnen, untersuchen. In dieser Arbeit wird das Augenmerk dabei auf Performativität von Sprache gelenkt. Untersucht werden die Dichtungen archaischer Lyriker, die in Textüberlieferungen vorliegen. Der sprachphilosophische Ansatz, namentlich die Sprechakttheorie, ist daher Grundlage der Analyse. Im Folgenden wird deswegen die Sprechakttheorie nach Austin und Searle dargestellt, sowie ihre Anwendbarkeit auf die archaische Lyrik beschrieben. Um die Sprechakttheorie dabei in ihrer Komplexität besser zu verstehen, hilft es, sich einführend die wesentlichen linguistischen wie sprachphilosophischen Gedanken zu vergegenwärtigen, auf denen die Sprechakttheorie Austins und Searles aufbaut. 2.2 Zur Theorie der Sprechakte 2.2.1 Der linguistische und sprachphilosophische Ursprung der Sprechakttheorie Die Sprechakttheorie ist ein Theorieansatz der modernen Linguistik, die sich mit menschlicher Sprache befasst.41 Der Erforschung von Sprache kann sich dabei von verschiedenen Seiten genähert werden: Über die Phonetik und Phonologie, die Graphematik, die Syntax oder die Semantik.42 Dies sind die traditionellen Beschreibungsebenen einer Sprache und die Kerndisziplinen der Linguistik. Da sie das Sprachsystem beschreiben, bilden sie die Bestandteile der Systemlinguistik.43 Dennoch reicht die Beherrschung der Grammatik einer Sprache nicht aus, um vollständig mit ihr kommunizieren zu können.44 Ein Außerirdischer, der die deutsche Sprache perfekt beherrscht, würde trotzdem Probleme haben, die kommunikative Funktion einer Äußerung wie „Es zieht!“ zu erkennen, weil ihm die Erfahrung fehlt, eine solche Aussage als Auffor40 41
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Fischer-Lichte 2012, 42. Das Erkenntnisobjekt der allgemeinen Linguistik ist die Sprache im Allgemeinen. Daneben befassen sich spezielle Linguistiken auch mit einzelnen Sprachen, sodass man beispielsweise von einer germanistischen oder romanischen Linguistik sprechen kann, vgl. dazu Staffeldt 2009a, 11. In der Forschung gibt es zudem Tendenzen, die Linguistik in die „harte“ und die „weiche“ Linguistik zu unterteilen, wobei sich die „harte“ Linguistik mit der Untersuchung des Sprachsystems, der formalen Seite von Sprache, beschäftigt; die „weiche“ Linguistik beschäftigt hingegen mit Bedeutung, Sprachgebrauch oder interdisziplinären Fragestellungen, wie dem Zusammenhang von Sprache und Kultur, vgl. Adamzik 2001, 41. Vgl. Staffeldt 2009a, 12–13; Adamzik 2001, 43. Vgl. ebd., 13–14. Hierauf weist insbesondere Ernst 2002, 3 hin.
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derung, das Fenster zu schließen, zu interpretieren. Weil keine der vorgestellten Teildisziplinen eine Lösung für sprachliche Erscheinungen dieser Art bieten kann, braucht es den Einbezug einer weiteren Perspektive, die Sprache „unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendung untersucht, deren Gegenstand also die Praxis des Sprechens (Schreibens) ist.“45 Hierbei handelt es sich um die Pragmatik. Die Pragmatik, von gr. πρᾶγμα, ist eine aus verschiedenen sprachwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Traditionen hervorgegangene Teildisziplin der Linguistik.46 Sie beschäftigt sich mit der Beschreibung von Sprache in ihrer je konkreten Verwendung.47 In der linguistischen Pragmatik wird davon ausgegangen, dass Menschen mit und durch Sprache handeln und Sprache demgemäß eine besondere Rolle im menschlichen Handeln einnimmt.48 Die Pragmatik befasst sich deswegen mit Sprechakten, das heißt mit Handlungsvollzügen durch Sprache.49 Daneben untersucht sie deiktische Elemente, Präsuppositionen, Implikationen und Implikaturen oder analysiert Gespräche.50 Den Grundstein für die Pragmatik legte der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913), der zwischen langue, das dem Sprechen zugrundeliegende Zeichensystem, und parole, der Ausführung dieses Systems, dem konkreten Sprachgebrauch, unterscheidet.51 Diese Unterscheidung aufgreifend, definierte der amerikanische Sprachphilosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914) parole als einen Teilaspekt des Zeichens. Peirce isoliert drei basale Aspekte eines sprachlichen Zeichens: Die Relation eines Zeichens zu anderen Zeichen, die Relation eines Zeichens zu seiner Bedeutung und die Relation eines Zeichens zu den Benutzern des Zeichens.52 Peirce gilt als der Begründer des amerikanischen Pragmatismus und übte 45 46
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Staffeldt 2009a, 14. Die Pragmatik weist insofern keinen gradlinigen Wissenschaftsweg auf, sondern ist die Summe verschiedener Blickwinkel aus unterschiedlichen Disziplinen, deren Traditionen bisweilen bis in die Antike zurückreichen. Hier sollen lediglich die für die linguistische Pragmatik wesentlichen Namen und Ideen vorgestellt werden, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht. Vgl. Bußmann 1990, 606. Vgl. Ernst 2002, 4. Ebd. weist 25–26 darauf hin, dass die Grundlage menschlichen Handelns die Kriterien der Intentionalität und der Zielgerichtetheit seien. Handelnde handeln absichtlich und verfolgen ein bestimmtes Ziel oder Ergebnis. Sprachliches Handeln ist soziales Handeln (nach Max Weber), wenn es zwischen mindestens zwei Kommunikationspartner stattfindet. Vgl. auch Schlieben-Lange 1979, 69–73 zur Bedeutung von Handlung. Dass auch die Abwesenheit von Sprache performativ sein kann, zeigt Benthien 2006, bes. 239–265 in ihrer Untersuchung der Performativität des Schweigens im Barock. Vgl. diesbezüglich auch Lardinois 2020 zur Performance des Schweigens in Epik und Lyrik der Archaik: „they mention silence in their poetry to mark the emotional reactions of characters, to remind their audience of what was not being said, to emphasize the importance of certain passages, to signal the duty of the poet to speak, or to contrast the voice of the performer with the voicelessness of its alter-ego in the poem“ (25–26). Vgl. Meibauer 1999, 1. Vgl. de Saussure 1967, 22. Vgl. Ehrhardt/Heringer 2011, 10. Peirce 1970, 320–321.
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großen Einfluss auf spätere Pragmatisten aus. So geht insbesondere Charles William Morris’ (1901–1979) Zeichenlehre auf die Peircesche Trias zurück. Morris griff Peirce’ Dreiteilung in ihren Grundzügen auf und fundierte damit die klassische Definition der pragmatischen Zeichenrelation.53 Damit prägte er gleichzeitig den Begriff Pragmatik, wie er heute noch verwandt wird.54 Morris unterschied die Pragmatik als einen von drei Teilaspekten der Semiotik von Syntax und Semantik: Einerseits kann man die Beziehung zwischen den Zeichen und den Gegenständen, auf die sie anwendbar sind, untersuchen. […]; die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Semantik. Oder man macht die Beziehung zwischen Zeichen und Interpret zum Untersuchungsgegenstand […]; die Untersuchung dieser Dimension heißt Pragmatik. Eine wichtige Zeichenbeziehung ist noch zu nennen: die formale Relation der Zeichen zueinander. […] Und die Untersuchung dieser Dimension nennen wir Syntaktik.55
Durch politische und gesellschaftliche Entwicklungen kam es gegen Ende der 1960er Jahre dann endgültig zu einer sogenannten „pragmatischen Wende“: Anstelle des alleinigen Anhäufens von Wissen um seiner selbst willen, rückten Themen gesellschaftlicher Relevanz in den Fokus.56 Neue Fachrichtungen wie die Soziolinguistik oder Psycholinguistik wurden etabliert oder ausgebaut.57 Unter Rückgriff auf Arbeiten wie der von Morris, führte dies in der Linguistik dazu, dass nicht mehr nur die grammatische Regelhaftigkeit der Sprache im Fokus stand, sondern Forderungen nach einer Linguistik der parole (im de Saussurschen Sinne), der Erforschung der Regelhaftigkeit der Zeichenverwendung laut wurden.58 Während Pragmatik im Bereich der Linguistik besonders als Gegenbegriff zur reinen Systemlinguistik verwendet wird, ist von Pragmatik im Bereich der Philosophie, die im 20. Jh. zu weiten Teilen Sprachphilosophie war, in Bezug auf die sogenannte Ordinary Langauge Philosophy die Rede.59 Für die sprachphilosophische Pragmatik gilt Ludwig Wittgenstein als repräsentativ. Wittgenstein kam in späteren Untersuchungen, die sich von seinen früheren Anschauungen unterscheiden,60 zu der Überzeugung, dass die Bedeutungen von Wörtern und Sätzen lediglich aus ihrem alltäglichen Gebrauch erschließbar seien und Sprache nur vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftli53 54 55 56 57 58 59 60
Morris 1975, 20. Vgl. dazu Schlieben-Lange 1979, 26. In Deutschland etablierte sich die Pragmatik erst in den 1970er Jahren. Morris 1975, 24–25. Vgl. Ernst 2002, 8. Vgl. hierzu Levinson 1990, 2. Vgl. Schlieben-Lange 1979, 12–13. Die Ordinary Language Philosophy beschäftigt sich mit Alltagssprache und ihrer Tauglichkeit für philosophische Untersuchungen, vgl. Ernst 2002, 79. Gardt 1999, 348 stellt dar, dass der „frühe Wittgenstein“ davon ausging, dass die wirkliche Welt logisch sei und insofern auch die Sprache, die die wirkliche Welt abbildet, logisch sein müsse. Diese Ansicht einer in sich geschlossenen Sprache, die aus festen Wort- und Bedeutungskernen besteht, habe der „späte Wittgenstein“ zugunsten seines Konzeptes des Sprachspiels aufgegeben.
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chen und lebenspraktischen Einbettung richtig beschrieben werden könne.61 Wittgenstein vertrat den Standpunkt, dass die Bedeutung von Wörtern durch ihren Gebrauch bestimmt sei: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“62 Zudem entwarf Wittgenstein das Konzept des Sprachspiels. Sprache werde demnach nicht nur zur Beschreibung der Welt verwendet, sondern auch, um sprachlich zu handeln: „[…] das Sprechen einer Sprache [ist] ein Teil [] einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“63 Sprachspiele seien dabei beispielsweise Befehle oder nach Befehlen handeln, Rätsel raten, Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen oder Beten.64 Sie zeigen die natürlichen Funktionseinheiten von Sprache.65 Wittgensteins Untersuchungen sind insofern grundlegend, weil sie Sprache in ihrer Vorkommensweise betrachten. Er verstand Sprache nicht als eine Kommentatorin des Lebens und Handelns, sondern vielmehr als eine Form des Lebens und Handelns. Wittgensteins Handlungsperspektive auf Sprache bereitete damit den Boden für die Sprechakttheorie Austins und Searles.66 Auch wenn der Einfluss Wittgensteins auf die Sprechakttheorie nicht überschätzt werden darf, setzt sie doch gedanklich bei Wittgenstein an.67 Austin zu Folge haben sich seine eigenen Gedanken zu einer Sprechakttheorie schon ab 1939 entwickelt und bei verschiedenen Vorträgen in den Folgejahren konkretisiert. Zwischen 1952 und 1954 hielt er in Oxford jährlich die Vorlesung Words and Deeds. Die Manuskripte für seine Vorlesungen überarbeitete er stets. Hieraus entsprang auch das Manuskript für die 1955 gehaltenen William James Lectures in Harvard.68 Diese Vorlesungen wurden 1962 posthum unter dem Titel How to Do Things with Words publiziert und bilden den Grundstein der Sprachakttheorie. 1972 erschien erstmals die deutsche Übersetzung unter dem Titel Zur Theorie der Sprechakte.69 Austins Überlegungen sind handlungstheoretisch fundiert und fokussieren die Schaffung oder Veränderung sozialer Tatsachen durch die Wirksamkeit der Rede.70 Seine Ausführungen sind eher philosophischer Natur, während sein Schüler John R. Searle, ein amerikanischer Linguist, Austins Sprechakttheorie aus linguistischer Sicht straffte und systematisierte. Searle gilt neben Austin als Hauptvertreter der Sprech-
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Vgl. Gardt 1999, 345. Wittgenstein 1958, 20. Wittgenstein 1958, 11. Vgl. dazu auch Schlieben-Lange 1979, 32. Vgl. Wittgenstein 1958, 11. Vgl. dazu auch Harras 1983, 98. Vgl. Ernst 2002, 90. Vgl. Gardt 1999, 350. So auch Schlieben-Lange 1979, 32. Vgl. das Vorwort des Herausgebers J. O. Urmson in Austin 2010, 21. Vgl. dazu Ernst 2002, 91. Vgl. Hetzel 2012, 844.
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akttheorie, weil er den bisher ausführlichsten und systematischsten Entwurf einer Sprechakttheorie in seiner 1969 erschienene Abhandlung Speech Acts vorlegte.71 Im Folgenden soll die Sprechakttheorie Austins dargestellt werden, da sie in der Analyse Anwendung finden wird. Daneben werden in einem nächsten Kapitel einige, die Sprechakttheorie Austins ergänzende, Aspekte der Searleschen Sprechakttheorie angefügt, die für die Analyse relevant sind. 2.2.2 Austin: How to Do Things with Words Wie Sie sich erinnern, wollten wir ein paar Fälle untersuchen (nur ein paar, hilf Himmel!), in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen.72
In seiner ersten Vorlesung beginnt Austin mit der Unterscheidung zweier Arten sprachlicher Äußerungen: Unter konstative (konstatierende) Äußerungen fallen Äußerungen wie Aussagen, Feststellungen oder Behauptungen. Eine konstative Äußerung kann also eine Feststellung wie „Die Katze läuft über die Straße“ sein. Als bestimmendes Kriterium solch konstativer Äußerungen erkannte Austin die Tatsache, dass sie entweder wahr oder falsch sein können.73 Anders verhält es sich hingegen bei sprachlichen Äußerungen, die zwar wie Aussagen oder Feststellungen aussehen, in Wirklichkeit aber Gefühle hervorrufen, ein Verhalten vorschreiben oder das Verhalten in einer bestimmten Weise beeinflussen.74 Austin schreibt solchen Äußerungen zwei Merkmale zu: A. Sie beschreiben, berichten, behaupten überhaupt nichts; sie sind weder wahr oder falsch; B. das Äußern des Satzes ist, jedenfalls teilweise, das Vollziehen einer Handlung, die man ihrerseits gewöhnlich nicht als ‚etwas sagen‘ kennzeichnen würde.75
Hierunter fallen Äußerungen wie „‚Ich vermache meine Uhr meinem Bruder‘“76 oder „‚Ich wette einen Fünfziger, daß es morgen regnet.‘“77 Solche Äußerungen, durch die also gleichzeitig eine sprachliche Handlung vollzogen wird, nennt Austin performativ. Anders als konstative Äußerungen, können performative Äußerungen laut Austin weder wahr noch falsch sein. Es besteht aber die Möglichkeit, dass die in ihnen enthaltene sprachliche Handlung missglückt, wenn etwas misslingt. So kann eine Wette 71 72 73 74 75 76 77
Vgl. Schlieben-Lange 1979, 36. Austin 2010, 35. Vgl. ebd., 35. Vgl. ebd., 26. Ebd., 28. Ebd., 29. Ebd., 29.
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um den Sieger eines Wettrennens nicht erfolgreich abgeschlossen werden, wenn das Rennen zu diesem Zeitpunkt schon vorbei ist. Neben dem bloßen Aussprechen der Wörter der performativen Äußerung, ist das Glücken einer sprachlichen Handlung also von weiteren Gegebenheiten abhängig. Hiervon ausgehend erstellt Austin eine Reihe von (vornehmlich institutionellen und sozialen) Bedingungen, die vorliegen müssen, damit eine performative Äußerung glückt: (A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern. (A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich beruft. (B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt (B.2) und vollständig durchführen. (Γ.1) Wenn, wie oft, das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinungen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teilnehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruf, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu verhalten, (Γ.2) und sie müssen sich dann auch so verhalten.78
Bei Verletzung einer dieser Regeln können unterschiedliche „Unglücksfälle“ eintreten. Wird gegen die Bedingungen A oder B verstoßen, „benutzen wir also etwa die Formel fehlerhaft oder sind wir nicht in der Lage, die Handlung zu vollziehen, weil wir zum Beispiel schon verheiratet sind“79 oder der Bräutigam anstatt mit „ja, ich will!“ mit „meinetwegen“ antwortet, wird die Handlung nicht erfolgreich vollzogen, kommt also gar nicht zustande. Diese Unglücksfälle nennt Austin Versager. Kommt die Handlung zwar zustande, wird aber gegen die Γ-Bedingungen verstoßen, handelt es sich um Mißbräuche.80 Als Beispiel eines solchen Missbrauches nennt Austin das unredliche Verhalten einer Braut, die zwar „ja, ich will!“ gesagt hat, es aber nicht ehrlich meint.81 Das Merkmal performativer Äußerungen ist nach Austin demnach die Tatsache, dass sie glücken oder missglücken können.82 Ursprünglich nimmt Austin an, dass performative Äußerungen Verben in der ersten Person Singular des Indikativ Präsens Aktiv der Art „Hiermit verspreche ich dir, dass ich morgen kommen werde“ haben. Zwar wird die sprachliche Handlung so am deutlichsten sichtbar, doch ist ein solch grammatischer Fall nicht wesentlich für performa78 79 80 81 82
Austin 2010, 37. Ebd., 38. Ebd., 38. Vgl. Ernst 2002, 94. Austin 2010, 39 beton zugleich, dass ein missglückter Sprechakt nicht bedeutet, „daß man gar nichts getan hat – im Gegenteil, sogar keine ganze Menge“. Der Sprechakt selbst bleibe zwar unwirksam, jedoch nicht „ohne Folgen, ohne Ergebnisse, ohne Konsequenzen.“
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tive Äußerungen.83 Austin erkennt, dass performative Äußerungen weder an Person oder Genus, noch an Modus und Zeit, ja noch nicht einmal an ein Verb gebunden sind.84 In seiner fünften Vorlesung resümiert er, dass seine Vorliebe für die erste Person Singular Präsens Indikativ Aktiv des Verbes nur deswegen bestehe, weil diese grammatische Form ausdrückt, dass der Sprecher im Augenblick seiner Äußerung etwas tut.85 Äußerungen dieser Art nennt Austin explizit performativ, weil das explizit performative Verb (versprechen) in ihnen die Handlung (ein Versprechen) explizit macht, die mit der performativen Äußerung vollzogen wird. Nichtsdestoweniger ist eine Äußerung wie „Ich werde morgen kommen“ auch performativ, weil sie die sprachliche Handlung eines Versprechens vollzieht, ohne das explizit performative Verb „versprechen“ zu verwenden. Solche Äußerungen nennt Austin implizit performativ.86 Implizit performative Äußerungen kommen im alltäglichen Sprachgebrauch wesentlich häufiger vor als explizit performative Äußerungen. Die grammatische Form einer Äußerung gibt also keinen Hinweis darauf, ob eine Äußerung performativ oder konstativ ist. Diese Erkenntnis bewirkt eine grundlegende Wende in Austins Denken. Sie führt dazu, dass er seine Unterscheidung zwischen performativen und konstativen Äußerungen hinterfragt. Austin begreift, dass eine konstative Äußerung wie „Er hat es nicht getan“ sich nicht von der performativen Äußerung wie „Ich stelle fest, dass er es nicht getan hat“ unterscheidet. Mit einer Äußerung etwas tun (performativ), steht also nicht im Widerspruch dazu, dass diese Äußerung wahr oder falsch sein kann (konstativ).87 Diesen Gedanken fortführend, erkennt Austin auch, dass Feststellungen, ebenso wie performative Äußerungen, Unglücksfällen aus-
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In der Forschung wird dies teilweise hinterfragt. So vertritt etwa König 2011, 46–47 die Ansicht, dass nur durch explizit performative Äußerungen, die in einen Kontext menschlicher Kultur und Institutionen eingebettet sind, die Wirklichkeit, entsprechend den geäußerten Worten, verändert werde. Äußerungen, deren Handlungstypen nicht durch das entsprechende performative Verb gekennzeichnet sind, können zwar eine soziale Situation zwischen Gesprächspartner verändern, eine wirklichkeitskonstituierende Kraft im Sinne von „saying makes it so“ fehle ihnen aber. Rolf 2009, 103–120 schließt sich dieser Meinung an und erkennt nur explizit performative Spracheakte als performative Äußerungen an. Dies erscheint jedoch auch angesichts der Tatsache, dass in der Mehrheit Äußerungen implizit performativ sind, nicht standhaft. Performative Äußerungen können ebenso in der ersten Person Plural oder in der zweiten oder dritten Person Singular (auch passiv) stehen, wie Austin 2010, 77 an Beispielsätzen wie „Sie werden hiermit angewiesen, den Platz sofort zu räumen, wenn …“ verdeutlicht. Auch Tempus und Modus sind, so ebd., 78 keine Kriterien einer performativen Äußerung: „Hiermit wird allen für ihre Anteilnahme […] gedankt“. Selbst ohne Verb kommt eine performative Äußerung, so ebd., 80 aus: „Abseits!“. Austin 2010, 80. Ebd., 93. Austin nennt implizit performative Äußerungen ursprünglich primär performativ, weil er davon ausgeht, dass Erstere älter seien als Letztere. Austin postuliert, dass Sprachen historisch betrachtet erst in späteren Stadien explizit zwischen verschiedenen (Handlungs-) Rollen, die eine Äußerung einnehmen kann, unterschieden habe. Der Ausdruck implizit performativ hat sich in der Wissenschaft jedoch durchgesetzt. Ebd., 154–155.
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gesetzt sind und misslingen können: „Hansens Kinder haben Glatzen. Kinder hat er allerdings keine.“88 Schlussendlich gibt Austin seine Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen gänzlich auf und postuliert, dass jede sprachliche Äußerung performativ sein kann.89 Austin stellt also fest, dass es Äußerungen gibt, mit denen der Sprecher gleichzeitig eine Handlung vollziehen kann. Nahm er ursprünglich noch an, dass lediglich explizit performative Äußerungen diese Funktion übernehmen können, kommt er später zu der Einsicht, dass auch implizit performative Äußerungen sowie zahlreiche andere Sprachmittel dazu in der Lage sind. Zuletzt proklamiert er, dass sämtliches Sprechen Handeln ist, und verwirft seine eigens eingeführte Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen. Weil mit jeder Äußerung eine Handlung ausgeführt wird, bestehen die eigentlichen Fragen für Austin nun darin, was eine sprachliche Äußerung dazu in die Lage versetzt, eine Handlung auszuführen und welche spezifische Rolle die Äußerung je nach Kontext als Handlung einnehmen kann. Er will untersuchen „in wie verschiedener Weise wir etwas tun, indem wir etwas sagen.“90 Hierfür unterteilt Austin den Äußerungsakt in drei verschiedene, parallel ablaufende, Teilakte: Der lokutionäre Akt, der illokutionäre Akt und der perlokutionäre Akt. Jeder dieser Teilakte nimmt innerhalb des Äußerungsaktes eine andere Funktion in Bezug auf die Sprechhandlung ein. Durch die Sichtbarmachung dieser drei Teilakte kann die Handlungsrolle der Äußerung erkannt werden: Der lokutionäre Akt ist die Artikulation der Aussage, also das Hervorbingen von Lauten und Wörtern: „Diese gesamte Handlung, ‚etwas zu sagen‘, nenne – d. h. taufe – ich den Vollzug eines lokutionären [locutionary] Aktes und die Untersuchung von Äußerungen unter diesen Gesichtspunkten die Untersuchung der Lokutionen […].“91 Austin selbst misst dem lokutionären Akt für seine Theorie die geringste Bedeutung bei und möchte ihn vorrangig von den beiden anderen Teilakten abgrenzen. Der lokutionäre Akt wird seinerseits noch einmal in den phonetischen (das Äußern gewisser Geräusche), phatischen (das Äußern gewisser Vokabeln) sowie rhetischen (Bedeutungsverleih der Äußerung) Akt unterteilt.92 Der illokutionäre Akt beantwortet hingegen die Frage, welche sprachliche Handlung durch den Vollzug eines Äußerungsaktes gemacht wird.93 Denn Äußerungen werden in aller Regel nicht um ihrer selbst willen vollzogen, sondern verfolgen bestimmte kommunikative Bedürfnisse. Diese Handlungsabsicht wird innerhalb des Sprechaktes 88 89 90 91 92 93
Inwiefern Feststellungen weiteren Unglückfällen ausgesetzt sind, zeigt Austin 2010, 156–158. Ebd., 109. Ebd., 110. Ebd., 112. Ebd., 112–114. Vgl. Staffeldt 2014, 106, Anm. 4: „Wobei {il-}ein lateinisches Allomorph des lateinischen Morphems {in-} ist und instrumental als ‚indem, mittels‘ verstanden werden kann, locutio als ‚Sprache, Sprechen‘ und Illokution vom Wortsinn her als ‚mittels des Sprechens‘ zu verstehen ist.“
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durch den illokutionären Akt realisiert.94 Illokutionäre Akte sind daher die Bausteine einer jeden Kommunikation. Sie werden in Abhängigkeit der Situation, in der sich der Sprecher befindet und davon, welches Ziel er verfolgt, vollzogen. Illokutionen sind zum Beispiel „eine Frage stellen“, „ein Urteil fällen“, „eine Warnung aussprechen“, oder „eine Wette abschließen“. Der illokutionäre Akt steht deshalb im Zentrum der Sprechakttheorie und meistens ist „Sprechakt“ synonym zu illokutionärem Akt.95 Austin beschreibt den illokutionären Akt wie folgt: Den Vollzug einer Handlung in diesem neuen, zweiten Sinne habe ich den Vollzug eines ‚illokutionären‘ Aktes genannt, d. h. einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, daß man etwas sagt; der vollzogene Akt soll ‚Illokution‘ heißen, und die Theorie der verschiedenen Funktionen, die die Sprache unter diesem Aspekt haben kann, nenne ich die Theorie der ‚illokutionären Rollen‘ [illocutionary forces].96
Bei der Analyse illokutionärer Akte ist entscheidend, dass nicht der Satz an sich, sondern die Äußerung in ihrer Sprechsituation untersucht wird.97 Nur wer den Kontext, in welchem die Äußerung getätigt wird, einbezieht, kann die Illokution, also die eigentliche sprachliche Handlung, erkennen. Der illokutionäre Akt der implizit performativen Äußerung „Ich werde morgen kommen“ kann ein Versprechen98 sein. Jedoch ist die Auswahl, die der Sprecher aus dem Repertoire möglicher illokutionärer Akte trifft, nicht willkürlich, sondern ergibt sich aus bestimmten (von Sprecher und Hörer gleich eingeschätzten) Handlungsbedingungen, die vorliegen müssen, damit der Sprecher eine entsprechende Handlung vollziehen kann. Für die Bestimmung des illokutionären Zwecks einer Äußerung ist es insofern wichtig, die entsprechenden Handlungsbedingungen zu kennen.99 Denn würden sich Sprecher und Hörer beispielsweise im
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Vgl. Hindelang 2010, 8. Vgl. Ernst 2002, 96. Kiesendahl 2011, 56 unterscheidet in ihrer sprechakttheoretischen Analyse mit Verweis auf die linguisitische Pragmatik terminologisch zwischen Sprechakt und Sprechhandlung. Ein Sprechakt beziehe sich dabei auf das satzlinguistische Regelkonzept nach Searle. Eine Sprechhandlung sei ein Handlungsvollzug durch Sprache, der sowohl Sprecher als auch Hörer umfasse und eine gesellschaftlich ausgearbeitete, verbindliche Form habe. In dieser Arbeit wird eine solche Unterscheidung nicht explizit vorgenommen. Sowohl Sprechakt als auch Sprechhandlung bedeuten hier dasselbe, nämlich den Handlungsvollzug durch Sprache, der Sprecher und Hörer gleichermaßen betrifft. Austin 2010, 117. Savigny benutzt bei seiner Übersetzung von Austins How to Do Things with Words den Begriff der illokutionären Rolle anstelle von illokutionärer Kraft [= force]. Savigny entscheidet sich für den Begriff der Rolle, da dieser den Einfluss des sozialen Kontextes besser verdeutliche. Die Funktion des illokutionären Aktes ist intentional determiniert und die illokutionäre Rolle zeige die verschiedenen Aufgaben an, die eine Äußerung je nach Kontext annehmen kann, vgl. dazu ebd., 117, Anm. 28. Ebd., 158. Hierauf wird in den Ausführungen zur Anwendung der Theorie ausführlicher eingegangen werden. Die Illokutionen eines Sprechaktes werden von nun an zur Kenntlichmachung kursiv geschrieben. Vgl. Hindelang 2010, 8.
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Streit befinden, kann die Äußerung „Ich werde morgen kommen“ auch den illokutionären Akt einer Drohung beinhalten. Zuletzt erklärt Austin, dass, wer einen lokutionären und damit einen illokutionären Akt vollzieht, noch in einem dritten Sinne eine Handlung vollzieht. Denn jede Illokution strebt eine bestimmte Wirkung bei ihren Hörern an und „die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, die Wirkungen hervorzubringen.“100 Diesen Teilakt eines Sprechaktes nennt Austin den perlokutionären Akt.101 Der perlokutionäre Akt kann bewirken, dass der Hörer gewisse Gefühle hat, sich dazu aufgerufen fühlt, etwas zu tun oder zu lassen oder eine primär kognitive Wirkung bei ihm ausgelöst wird. Diesen Wirkungsaspekt eines Sprechaktes können perlokutionäre Verben wie beleidigen, überzeugen, abhalten, amüsieren, erschrecken, trösten u. v. m. beschreiben. Diese Verben zeigen an, welche Effekte Sprecher erzielen, dadurch, dass sie etwas sagen. Gelingt es dem Sprecher, die von ihm intendierte Wirkung bei dem Zuhörer auszulösen, dann ist der perlokutionäre Effekt zustande gekommen. Im Unterschied zu illokutionären Akten, für die gilt, dass die Äußerung verstanden werden muss, dass sie ein Ergebnis hat und zu einer Reaktion herausfordert, postuliert Austin für perlokutionäre Akte, dass sie stattdessen ein Ziel erreichen und ein Nachspiel haben können.102 Perlokutionäre Ziele sind dabei mit bestimmten Illokutionen verbunden (z. B. alarmiert sein mit Warnung). Perlokutionäre Nachspiele sind kontingente Folgen von Illokutionen (z. B. das Unterlassen einer Handlung durch die Warnung).103 Die drei Austinschen Akte einer Sprachhandlung können daher vereinfacht wie folgt dargestellt werden: Der Sprecher verschüchtert den Hörer (perlokutionärer Akt), indem er ihm droht (illokutionärer Akt), dadurch, dass er eine bestimmte Äußerung macht (lokutionärer Akt). Die Erkenntnis, dass jede sprachliche Äußerung eine Handlung vollziehen kann, führte zu der eigentlichen Bedeutung der Sprechakttheorie.104 Anstelle der Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen entwickelt Austin eine allgemeinere und umfassendere Sprechakttheorie, der es vorrangig um die „Binnenunterscheidung innerhalb eines nun verallgemeinerten Performativen“105 geht. Zurecht erkennt Schlieben-Lange, dass es Austin zu verdanken ist, dass eine Theorie sprachlicher Handlungen existiert, weil er der erste war, der eine solche forderte und aufstellte.106 100 Austin 2010, 118. 101 Vgl. Staffeldt 2014, 106, Anm. 5: „Wobei auch {per-} instrumental als ‚mit, mit Hilfe von, durch‘ zu verstehen ist. 102 Austin 2010, 137. 103 Vgl. hierzu insbesondere Staffeldt 2009b, 288. Auch hierauf wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. 104 Vgl. Gardt 1999, 350. 105 Vgl. Hetzel 2012, 842. 106 Vgl. Schlieben-Lange 1979, 32.
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Theorie
2.2.3 Searle: Ausdruck und Bedeutung Searle versteht seine Sprechakttheorie als Fortbildung und Präzisierung der Austinschen Grundannahmen.107 In seinem Grundlagenwerk Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (engl. Originaltitel: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language (1969)) greift er die Überlegungen Austins auf, wobei er darin enthaltene Schwächen aufzeigt und diese modifiziert.108 Grundsätzlich vergegenständlicht Searle Austins Performativitätskonzept: Sprache wird hier von außen beschrieben und kategorisiert.109 Für Searle steht die Aktualisierung, Konkretisierung oder Anwendung von Sprache in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrer Struktur, ihrem System oder ihren Regeln, die als existierend vorausgesetzt sein müssen. Das Wissen um den Gebrauch einer Sprache „[…] impliziert die Beherrschung eines Regelsystems, das meinem Gebrauch der Elemente der betreffenden Sprache zugrunde liegt.“110 Für Searle ist ein Sprechakt also die Produktion oder Hervorbringung eines Satzzeichens unter bestimmten Regeln.111 Sprechen ist somit „eine (höchst komplexe) Form regelgeleiteten Verhaltens.“112 Die zweite Grundannahme Searles in Bezug auf die Sprechakttheorie ist das Prinzip der Ausdrückbarkeit: „Ich halte es für eine analytisch wahre Aussage in bezug auf die Sprache, daß man alles, was man meinen kann, auch sagen kann.“113 Für jeden möglichen Sprechakt gibt es demnach mindestens ein sprachliches Realisierungsmittel, durch welches der Akt performativ vollzogen werden kann.114 Insofern ist bei Searle der Gegenstand der Untersuchung, wie er selber erkennt, nicht die parole im Saussurschen Sinne, sondern vielmehr die langue: Für unsere Zwecke am wichtigsten aber ist, daß jenes Prinzip uns erlaubt, Regeln für den Vollzug von Sprechakten mit Regeln für die Äußerung bestimmter sprachlicher Elemente gleichzusetzen, da es für jeden möglichen Sprechakt ein mögliches sprachliches Mittel gibt, dessen Bedeutung (im gegebene Zusammenhang der Äußerung) gewährleistet, daß seine aufrichtige Äußerung den Vollzug genau des betreffenden Spracheaktes darstellt.115
107 Vgl. Krämer 2001, 55. 108 Eine wesentliche Unterscheidung ist Searles Akt-Lehre. Hier setzt er sich von Austins Einteilung ab, indem er den propositionalen Akt ergänzt. Eine Proposition ist eine Aussage über die Welt, die aus einem Referenzobjekt und einer Prädikation besteht. Der propositionale Akt entspricht dabei Austins rhetischem Akt. Für Searle besteht ein Sprechakt demnach aus einem Äußerungsakt, einem propositionalen Akt und einem illokutionären Akt. Er ergänzt zudem ebenfalls den perlokutionären Akt, kommt aber in seiner Analyse nicht wieder auf die Perlokution zurück. 109 Vgl. Hetzel 2012, 843. 110 Searle 1971, 26. 111 Vgl. ebd., 30. 112 Ebd., 24. 113 Ebd., 32. 114 Vgl. Staffeldt 2009a, 51. 115 Searle 1971, 36.
Zur Theorie der Sprechakte
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Wer wissen möchte, wodurch ein Sprechakt mittels einer Äußerung vollständig und erfolgreich vollzogen wird, braucht, so Searle, demnach nur zu untersuchen, nach welchen Regeln die explizit performativen Verben wie versprechen, bezichtigen, sich entschuldigen usw. gebraucht werden.116 Beispielhaft führt Searle dies in seiner berühmten Analyse des Sprechaktes Versprechen vor. Aus neun Bedingungen, die die illokutionäre Rolle des Sprechaktes Versprechen konstituieren,117 leitet Searle schlussendlich vier Regeln ab, die zur Beschreibung sämtlicher Sprechakte gebraucht werden können. Im Folgenden werden diese zusammengefasst wiedergegeben: 1. Die Regeln des propositionalen Gehalts (1) Der Illokutionsindikator V darf nur im Zusammenhang eines Satzes oder Diskursabschnittes T geäußert werden, dessen Äußerung einen zukünftigen Akt K des Sprechers S prädiziert. 2. Einleitungsregeln (2) V darf nur geäußert werden, wenn der Zuhörer H S’s Ausführung von A der Unterlassung von A vorziehen würde und wenn S glaubt, H würde S’s Ausführung von A der Unterlassung von A vorziehen. (3) V darf nur geäußert werden, wenn es für S und H nicht offensichtlich ist, dass S bei normalem Verlauf der Ereignisse A tun wird. 3. Regeln der Aufrichtigkeit (4) V darf nur dann geäußert werden, wenn S die Ausführung von A beabsichtigt. 4. Wesentliche Regel (5) Die Äußerung von V gilt als Übernahme der Verpflichtung zur Ausführung von A.118 Sollte eine zentrale Bedingung nicht erfüllt sein, ist der Sprechakt zwar nicht ungültig, aber unvollständig: „Dieser Begriff der Unvollständigkeit eines illokutionären Aktes ist eng verwandt mit Austins Begriff des ‚Fehlschlags‘ (hier: Versager bzw. Missbrauch, Anm. AvdD).“119
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Dass Searle 1971 sich dabei auf explizite Verben beschränkt, begründet er folgendermaßen: „Kurz, ich werde nur einen einfachen und idealisierten Fall behandeln. Diese Methode der Konstruktion idealisierter Modelle entspricht dem Verfahren der Theorienbildung in den meisten Wissenschaften […]. Ohne Abstraktion und Idealisierung wären systematische Darstellungen unmöglich.“ (87). Vgl. Searle 1971, 88–95: „1. Sprecher S sagt, er würde eine künftige Handlung vollziehen. 2. S beabsichtigt, dies zu tun. 3. S glaubt, dass er es tun wird. 4. S glaubt, Hörer H möchte, dass er es tut. 5. Es ist für S und H nicht offensichtlich, dass S es unter normalen Umständen tun würde. 6. S hat die Absicht, es zu tun. 7. S hat die Absicht, sich zu der künftigen Handlung zu verpflichten. 8. S möchte, dass H diese Verpflichtung erkennt. 9. H kann S auf lexikalischer und syntaktischer Ebene verstehen.“ Vgl. Searle 1971, 97 und 100–106. Ebd., 85. Nach Linke 2004, 213 bilden die Austinschen Glückens-Bedingungen den Grundstein für die Entwicklung der sogenannten Sprechaktregeln durch Searle.
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Theorie
In seinem zweiten Werk Ausdruck und Bedeutung (engl. Originaltitel: Expression and Meaning: Studies in the Theory of Speech Acts (1979)) macht sich Searle daran, ein umfassenderes Schema von Sprechakten zu erstellen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegung ist dabei die Frage danach, welche Kriterien dafür verantwortlich sind, dass es sich bei einer bestimmten Äußerung um einen ganz bestimmten Sprechakt handelt. Searle kommt zu dem Schluss, dass es unterschiedliche Unterscheidungsprinzipien gibt, kraft deren sich die Rolle einer Äußerung von der Rolle einer anderen Äußerung unterscheidet.120 Er geht davon aus, dass es insgesamt zwölf Dimensionen gibt, in denen illokutionäre Akte sich voneinander unterscheiden können. Drei Dimensionen sind dabei besonders wichtig. Searle baut seine Taxonomie weitgehend auf diese drei Dimensionen auf.121 Im Folgenden werden auch diese zusammengefasst wiedergegeben: 1. Unterschiede im illokutionären Witz (engl. point/purpose) des Aktes (bzw. Akt-Types): Der illokutionäre Witz ist der Zweck eines Sprechaktes. Er entspricht der wesentlichen Regel. Eine Bitte und ein Befehl haben den gleichen illokutionären Witz: Es ist der Versuch, den Hörer dazu zu bekommen, irgendetwas zu tun. Der illokutionäre Witz darf aber nicht mit der illokutionären Rolle verwechselt werden. Die illokutionäre Rolle von Bitte und Befehl unterscheidet sich deutlich. Der illokutionäre Witz ist daher nur ein Teil der illokutionären Rolle. 2. Unterschiede in der Ausrichtung (das heißt darin, wie Wörter und die Welt aufeinander bezogen sind): Der illokutionäre Witz legt fest, wie sich die Proposition auf die Welt beziehen soll. Searle nennt dies einen Unterschied der Ausrichtung. Es gibt die Wort-aufWelt Ausrichtung (Feststellung, Beschreibung, Behauptung, usw.) und die Weltauf-Wort Ausrichtung (Aufforderung, Anweisung, Versprechen, usw.). 3. Unterschiede in den zum Ausdruck gebrachten psychischen Zuständen: Bei dem Vollzug eines beliebigen illokutionären Aktes mit einem propositionalen Gehalt bringt der Sprecher eine bestimmte Haltung, Einstellung o. ä. gegenüber diesem propositionalen Gehalt zum Ausdruck.122 Auf diesem Weg systematisiert Searle fünf Gruppen von Sprechhandlungen.123 Daraus ergeben sich folgende Klassen illokutionärer Akte:
120 Dabei ist es Searle 1982, 18 wichtig, zu betonen, dass illokutionäre Akte nicht zwangsläufig durch ein bestimmtes illokutionäres Verb anzeigt werden. Zwei illokutionäre Verben mit unterschiedlichen Bedeutungen können dennoch den gleichen illokutionären Akt bezeichnen. 121 Vgl. Searle 1982, 22. 122 Vgl. ebd., 18–22. 123 Schon Austin 1971, 166–183 unterscheidet in seiner 12. Vorlesung im Groben fünf Klassen von Sprechakten (Verdiktive, Expositive, Exzerzitive, Konduktive und Kommissive). Searle lässt Austins Klassifikation nicht unberücksichtigt, bezieht sich immer wieder auf sie, zeigt aber insbesondere deren Schwächen auf. Vgl. zusammenfassend und auch in Abgrenzung zu Austins Taxonomie Searle 1976.
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(I)
(II)
(III)
(IV)
(V)
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Die Repräsentativa (wie behaupten, berichten, informieren, feststellen, vorhersagen usw.), welche den Sprecher an die Wahrheit der ausgedrückten Proposition binden (Witz). Die Worte werden mit der Welt in Übereinstimmung gebracht (Ausrichtung). Psychische Einstellung ist hierbei der Glaube, dass die Proposition wahr ist (psychischer Zustand). Die Direktiva (wie bitten, befehlen, weisen, raten, empfehlen, fragen usw.), deren illokutionärer Zweck darin besteht, den Hörer dazu zu bewegen, eine bestimmte Handlung auszuführen. Die Welt wird hier mit den Worten in Übereinstimmung gebracht. Psychische Einstellung ist der Wunsch des Sprechers, dass der Hörer die Handlung ausführen möge. Die Kommissiva (wie versprechen, drohen, wetten, schwören, vereinbaren usw.), deren Absicht darin besteht, den Sprecher auf eine zukünftige Handlung festzulegen. Die Welt ist mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen. Der Sprecher drückt mit ihnen seine Absicht aus, eine bestimmte Handlung auszuführen oder zu unterlassen. Die Expressiva (wie danken, gratulieren, klagen, fluchen, wünschen usw.), deren Zweck darin besteht, eine bestimmte psychische Einstellung zu der in der Äußerung enthaltenen Proposition auszudrücken. Eine Übereinstimmung zwischen Welt und Wort gibt es hier nicht. Die Deklarationen (wie ernennen, nominieren, taufen, verhaften, begnadigen usw.), deren erfolgreicher Vollzug den propositionalen Gehalt der Aussage mit der Wirklichkeit zur Deckung bringt. Die Deklarationen sind oft an Institutionen gebunden. Hier wird eine Übereinstimmung zwischen Welt und Wort hergestellt.124
Searle zieht am Ende des Kapitels über die Taxonomie von Sprechakten den Schluss, dass es nicht unendliche oder unbestimmt viele Sprachverwendungen gibt. Wenn der illokutionäre Witz als Grundbegriff der Klassifikation von Sprechakten herangezogen wird, gäbe es nur die fünf von ihm dargestellten Gebrauchsformen von Sprache (Repräsentativa, Direktiva, Kommissiva, Expressiva, Deklarationen): „Wir sagen anderen, was der Fall ist; wir versuchen sie dazu zu bekommen, bestimmte Dinge zu tun; wir legen uns selbst darauf fest, gewisse Dinge zu tun; wir bringen unsere Gefühle und Einstellungen zum Ausdruck; und wir führen durch unsere Äußerungen Veränderungen herbei. Oft tun wir mit ein und derselben Äußerung mehrere von diesen Sachen zugleich.“125 Neben der Einteilung von Sprechhandlungen in Sprechaktklassen sind Searles Ausführungen zu den indirekten Sprechakten für diese Studie besonders relevant. In Aus-
124 Searle 1982, 31–39. 125 Ebd., 50.
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Theorie
druck und Bedeutung macht er legt er dar, dass es Sprechakte gibt, deren illokutionärer Akt über den Vollzug eines anderen illokutionären Aktes, und deswegen indirekt, vollzogen wird.126 So beinhaltet die Frage „Kannst du das Fenster schließen?“ zwei illokutionäre Akte. Wörtlich stellt der Sprechakt eine Frage dar (sekundärer illokutionärer Akt), indirekt ist er aber eine Aufforderung (primärer illokutionärer Akt).127 Der Vollzug des primären Aktes gelingt durch den Vollzug des sekundären Aktes und ist daher indirekt. Der Sprecher teilt dem Hörer also mehr mit, als er eigentlich sagt. Dazu muss der Sprecher sich darauf verlassen können, dass der Hörer rational denken und korrekt schließen kann.128 Gleichzeitig müssen Sprecher und Hörer sich bestimmte (sprachliche wie außersprachliche) Hintergrundinformationen teilen.129 Diese Disparität von Äußerungsbedeutung und wörtlicher Satzbedeutung, also etwas sagen, aber etwas Anderes meinen, gilt auch für Ironie oder Metaphern.130 Bei der Ironie passt die Äußerung, wörtlich genommen, ganz offensichtlich nicht zu der Situation, in der die Äußerung fällt. Laut Searle besteht die natürlichste Methode, eine ironische Äußerung zu interpretieren, darin, sie so zu interpretieren, dass sie das genaue Gegenteil der wörtlichen Äußerung besagt.131 Metaphern werden hingegen verwendet, weil es keinen wörtlichen Ausdruck gibt, mit dem genau das zum Ausdruck gebracht werden kann, was gemeint ist.132 In beiden Fällen wird die Äußerungsbedeutung, also der primäre illokutionäre Akt, ebenfalls über die Satzbedeutung, also den sekundären illokutionären Akt, erreicht.133
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Vgl. Searle 1982, 52. Vgl. dazu übersichtlich Hindelang 2010, 66. Searle 1982, 55–56 listet zehn Verstehens-Schritte auf, die ein Hörer vollziehen muss, damit er die primäre Illokution aus einer Äußerung ableiten kann, in der lediglich die sekundäre Illokution geäußert wird. Vgl. Searle 1982, 52–53. Vgl. ebd., 99. Vgl. ebd., 135. Vgl. Searle 1982, 136. Vgl. ebd., 137.
3 Methode 3.1 Die Anwendung der Theorie Die Analyse der archaischen Lyrik auf Grundlage der Sprachakttheorie hat das Ziel, aufzuzeigen, dass die Dichter durch den Vortrag der Gedichte sprachlich handelten. Die Sichtbarmachung der Sprechakte kann die kommunikativen Ziele der Dichtung, also die durch den Vortrag der Gedichte verfolgte Intention der Dichter, unmissverständlich aufzeigen. Dabei ist es auf Grundlage der Sprechakte zudem möglich, Rückschlüsse auf die außersprachliche Welt, das heißt den Kontext, in welchem gedichtet wurde, zu ziehen. Daneben kann die Wahl der von den Dichtern vollzogenen Sprechakte auch Aufschluss darüber geben, in welcher Rolle oder Funktion sie aufgetreten sind. Zuletzt soll über die analysierten Sprechakte untersucht werden, welchen möglichen Einfluss die Dichter mit ihren sprachlichen Handlungen auf ihre Umwelt gehabt haben können, also welche Wirkung ihre Dichtung bei den Zuhörern ausgelöst haben kann. Die linguistische Sprechakttheorie eignet sich für diese historischen Fragestellungen, weil sie Sprache nicht auf ihren Wahrheitswert hin untersucht, sondern in Bezug auf Handlung, Wirkung und Kontext. Insbesondere die Kontextgebundenheit der Sprache ist der wesentliche Grund dafür, warum die Gedichte einer sprechakttheoretischen und nicht etwa einer rhetorischen Analyse unterzogen werden. Denn in der Tat muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass, wie Andreas Hetzel an verschiedener Stelle darlegt,1 die antike Rhetorik als Vorläuferin der Performanztheorie angesehen werden kann. Denn nicht nur versteht sich die Rhetorik als „Kunst, elaboriert zu sprechen“ (ars bene dicendi),2 sondern auch als „Kunst, zu überzeugen“ (ars persuadeni).3 Insofern ist das moderne Performativitätskonzept, wonach Sprechen
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Vgl. Hetzel 2012, 852–858 und grundsätzlich Hetzel 2011. Quint. inst. II, 17, 38. Quint. inst. II, 15, 13 (unter Bezugnahme auf Aristoteles); vgl. dazu auch Knape 2008.
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Methode
eine weltverändernde Kraft innewohnt,4 in der antiken Rhetorik bereits angelegt. So zitiert Platon im Theaitetos Protagoras mit den Worten: Der Arzt nun bewirkt seine Umwandlung durch Arzneien, der Sophist aber durch Reden.5 (Übers. Schleiermacher 1958)
Und auch Gorgias umschreibt die performative Kraft der Rede, wenn er in seiner Lobrede auf Helena zu dem Schluss kommt: Rede ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.6 (Übers. Buchheim 1989)
Insgesamt, so Hetzel, stehe die performative Macht von Rede im Zentrum der klassischen Rhetorik.7 Er glaubt, dass sich das „gesamte Sprachdenken der klassischen Rhetorik als Theorie der Performativität bzw. Performanz rekonstruieren [ließe].“8 Austin selbst hat diesen Zusammenhang verkannt.9 Auch wenn es nicht möglich ist, die 2500 Jahre alte Wissenschaft der Rhetorik an dieser Stelle in ihren unterschiedlichen Traditionen und Ausprägungen darzustellen,10 kann grundsätzlich festgehalten werden, dass es der Rhetorik seit ihren Anfängen im 5. Jh. v. Chr. darum geht, in Rede und Text den eigenen Standpunkt auf wirkungsvolle Weise – persuasiv – zu kommunizieren. Die Zustimmung des Zuhörers kann dabei auf belehrende (docere), erfreuende (delectare) oder bewegende (movere) Weise erlangt werden,11 wozu der Redner nicht nur moralisch gut (vir bonus)12 zu sein hat, sondern auch in ästhetischer Weise (mit Hilfe rhetorischer Stilistik) zu reden habe. Klassischer-
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Fischer-Lichte 2012, 38. Plat. Tht. 167a.: ἀλλ’ ὁ μὲν ἰατρὸς φαρμάκοις μεταβάλλει, ὁ δὲ σοφιστὴς λόγοις. Gorg. Fr. 11, 8: λόγος δυνάστης μέγας ἐστίν, ὃς σμικροτάτωι σώματι καὶ ἀφανεστάτωι θειότατα ἔργα ἀποτελεῖ· δύναται γὰρ καὶ φόβον παῦσαι καὶ λύπην ἀφελεῖν καὶ χαρὰν ἐνεργάσασθαι καὶ ἔλεον ἐπαυξῆσαι. Vgl. Hetzel 2012, 840 mit Hinweis auf weiteren Stellen, etwa bei Isokr. V, 21; Quint. inst. II, 15, 4; Cic. off. I, 37. Hetzel 2012, 840. So eröffnet er seine erste der 1955 in Harvard gehaltenen Vorlesung How to Do Things with Words mit der Behauptung: „Die Erscheinung, um die es geht, ist sehr weit verbreitet und liegt ganz offen zutage; hier und da müssen andere sie bemerkt haben. Aber ich habe noch niemanden gefunden, der sich richtig darum gekümmert hätte“, Austin 2010, 23. Stoellger 2007, 1239 weist darauf hin, dass bereits in der Bibel das Sprechhandeln angelegt ist, wenn Gott in Gen.1 durch das „Schöpferwort“ die Welt erschafft (hieran muss sich allerdings die Folgefrage anschließen, inwiefern sich das schöpferische Sprechen Gottes und das Sprechhandeln der Menschen unterscheidet). Einen prägnanten geschichtlichen Überblick bietet Ottmers 1996, 1–5. Eine gute Einführung in die Rhetorik bietet auch Göttert 2009. Cic. de. orat. II, 115. Quint. inst. XII, 1; s. auch Cic. de. orat. II, 85.
Die Anwendung der Theorie
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weise findet die Rhetorik dabei in drei Redegattungen Anwendung: Der Gerichtsrede, der Beratungsrede und der Lobrede.13 Wie Stoellger darstellt, ist es tatsächlich möglich, die in der Rhetorik verankerten Vorstellungen von Gebrauchsorientierung und Wirkungsbezogenheit von Sprache und ihre Umsetzung in Rede über die Theorie der Sprechakte zu beschreiben.14 Umgekehrt erscheint dieses Vorhaben allerdings schwieriger, denn die Rhetorik bleibt in ihrer Ausgestaltung hinter der Systematik der Sprechakttheorie zurück. Als Analyseinstrument bietet die Sprechakttheorie gegenüber der Rhetorik insofern zwei wesentliche Vorteile: Zum einen werden in der Sprechakttheorie, anders als in der Rhetorik, die das Ziel hat, den Zuhörer durch die Anlage der Rede und mit Hilfe rhetorischer Mittel vom eigenen Standpunkt zu überzeugen,15 die Intentionen des Sprechers und die Wirkungen auf den Hörer unabhängig vom übergeordneten Ziel der Überzeugung innerhalb einer Äußerung, einem Text oder einer Rede untersucht. Im Gegensatz zur Rhetorik, bei der die Wirkungsabsicht (im sprechakttheoretische Vokabular der intendierte perlokutionäre Effekt)16 des Sprechers also von vornherein bestimmt ist und die Anlage der Rede (als Gerichts-, Beratungs- oder Lobrede) auf eben jene Wirkung ausgerichtet ist, wird die Sprechakttheorie in dieser Arbeit herangezogen, um die unterschiedlichen Intentionen des Sprechers und ihre jeweils intendierten Wirkungen auf den Hörer erst zu rekonstruieren.17 Den Zuhörer von etwas zu überzeugen, muss dabei bloß eine mögliche (intendierte oder aber auch unbeabsichtigte) Wirkung (Perlokution) einer sprachlichen Handlung (Illokution) sein – im Übrigen auch gänzlich unabhängig von ihrer, im klassischen Sinne verstandenen, rhetorischen Qualität. Die Sprechakttheorie zeigt, dass sprachliches Handeln eine Vielfalt an perlokutionären Effekten hervorrufen kann (so kann der Zuhörer beispielsweise durch expressive Sprechakte erfreut oder gekränkt sein oder durch deklarative Sprechakte zu etwas ernannt werden). Diese Vielfältigkeit der unterschiedlichen Sprechhandlungen und ihrer Wirkungen kann über die Anwendung der Sprechakttheorie (etwa durch die Unterteilung 13
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Den drei Redegattungen widmet sich Aristoteles ausführlich im Ersten Buch seiner Rhetorik. In den Lehrschriften wurde die Theorie der Rhetorik seit der Antike ausschließlich an diesen drei Gattungen veranschaulicht. Erst seit etwa dem 18. Jh. n. Chr. haben auch „moderne“ Gattungen Eingang in die Theorie gefunden, vgl. dazu Ottmers 1996, 17–18. Stoellger 2007, 1240–1241; vgl. dazu auch Steinbauer 1989, 49–56, der die in den modernen Sprachund Literaturwissenschaften erfolgten unterschiedlichen Versuche einer Interpretation der (antiken) Rhetorik im Hinblick auf eine Sprechhandlungstheorie nachzeichnet. Dies geschieht seit Aristoteles zur Veranschaulichung seiner rhetorischen Theorie allerdings nur anhand der drei besagten Redegattungen. Alle auf Aristoteles folgenden Lehrschriften bis etwa zum 18. Jh. konzentrierten sich auf diese drei repräsentativen Gattungen. Vgl. dazu auch Steinbauer 1989, 52–54. Wie Föllinger 2007, 63 richtig darstellt ist es schließlich das Anliegen der Sprechakttheorie, gerade die „Diskrepanz zwischen sprachlicher Formulierung und Aussageabsicht“ zu erklären. Vgl. auch nochmals Steinbauer 1989, 52: „Wie wir noch zeigen werden, gibt es Texte, welche aufgrund bestimmter Normen, Zwänge und Konventionen ein Handlungsziel realisieren, ohne den „Umweg“ über die Persuasion nehmen zu müssen.“
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Methode
in die drei Teilakte Lokution, Illokution und Perlokution, durch die Systematisierung von Sprechhandlungen in Sprechaktklassen, durch die Anzeige der Illokutionen durch bestimmte sprachliche Indikatoren oder durch die Unterscheidung von Standard-Perlokution und perlokutionärem Nachspiel) differenzierter beschrieben werden, als es die Rhetorik vermag.18 Der noch wichtigere und für diese Arbeit zentrale Unterschied zwischen Rhetorik und Sprechakttheorie besteht jedoch darin, dass die Sprechakttheorie, anders als die Rhetorik, jede sprachliche Handlung aus dem sie umgebenden Kontext heraus analysiert und insofern Rückschlüsse auf eben diesen Kontext zulässig sind. Hierin liegt denn auch der Mehrwert der Sprechakttheorie für Historiker*innen. Denn eine sprachliche Handlung wird immer abhängig von der Situation, in welcher sich der Sprecher befindet, gewählt.19 Im Umkehrschluss verrät die Auswahl des Sprechaktes etwas über die Situation, in welcher gesprochen wird. Wie Austin und Searle dargelegt haben, können Sprechakte nur dann zustande kommen oder glücken, wenn spezifische Bedingungen erfüllt sind.20 So gelingt der Sprechakt Versprechen gemäß Searle u. a. nur dann, wenn sich der Sprecher auf etwas Zukünftiges bezieht oder richtig in der Annahme geht, dass der Hörer das Versprochene wünscht (Regel des propositionalen Gehalts und Einleitungsregel).21 Im Vollzug eines bestimmten Sprechaktes setzt der Sprecher also gewisse Zustände voraus, die für die defektfreie Ausführung des Sprechaktes notwendig sind und die im konkreten Kontext des Äußerungsakts gegeben sind.22 Diesen Zusammenhang von Sprechakt und Kontext erkannte bereits Ma: „So performative utterances […] are about words in context: an act of language must accord with a set of conventions, and when this act is located in the past, its efficiency depends on conventions and a context which belong to the realm of the historical and the historians.“23 Diese „performative utterances“ und ihren historischen Kontext gilt es also hier zu untersuchen. Dafür dient die Sprechakttheorie gegenüber der Rhetorik als geeignete Methode. In dieser Arbeit werden mit Hilfe der Sprechakttheorie dabei sowohl der illokutionäre Akt analysiert, weil er die Handlungsabsicht einer Äußerung
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Steinbauer 1989, 54 erkennt auf Grundlage der Untersuchung von Kopperschmidt 1976, dass die Rhetorik als „Theorie der argumentativen Sprachverwendung“ beschrieben werden könne, hält sie aber dennoch bloß für eine „Teildisziplin der Pragmatik“. Vgl. Staffeldt 2014, 104. Vgl. die Glückens-Bedingungen bei Austin 2010, 37 sowie die Sprechaktregeln bei Searle 1971, 88– 95. Vgl. entsprechend auch Nagy 2019, 96–97 über den Zusammenhang von Genre und Okkasion: „The genre, the set of rules that generate a given speech act, can equate itself with the occasion, the content of this speech act. To this extent, the occasion is the genre. For example, a song of lament can equate itself with the process of grieving for the dead. Morevorer, if the occasion is destabilized or even lost, the genre can compensate for it, even re-create it.“ Vgl. Searle 1971, 97. Vgl. Unternbäumen 2004, 149. Ma 2000, 79.
Die Anwendung der Theorie
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realisiert, als auch der perlokutionäre Akt, weil die Wirkung von Sprechhandlungen durch ihn beschrieben wird. Bei der Sprechakttheorie handelt es sich um eine Theorie, die sich in der Regel auf Gegenwartssprache bezieht und Gesprächssituationen – face-to-face Kommunikationen – beobachtet.24 Dennoch soll hier eine Übertragung der Theorie auf historische Texte durchgeführt werden. Dies geschieht mit der Begründung, dass, wie einführend dargelegt, die archaische Lyrik immer einen ganz konkreten Sitz im Leben hatte und in der Realität verankert war. In vielen Fällen – und insbesondere in den für diese Untersuchung herangezogenen Gedichten – nehmen die Gedichte ganz konkret auf vorliegende Umstände und Konstellationen Bezug. Die Kontextgebundenheit gilt deswegen geradezu als Merkmal archaischer Dichtung. Dabei kann stets von einer konkreten Kommunikationssituation ausgegangen werden, denn die Lyrik ist, wie Rösler und Gentili grundlegend zeigen konnten, in einem mündlichen Kontext entstanden und auch in dieser Form rezipiert worden. Ein Publikum war also immer physisch anwesend.25 Zudem werden in dieser Untersuchung nur solche Gedichte analysiert, die sich einigermaßen sicher in einen spezifischen Kontext einbinden lassen.26 Im Folgenden wird dargelegt, wie die konkrete Anwendung der Theorie auf das historische Material dabei – im Hinblick auf mögliche Fallstricke der Methodik – aussehen muss. Eine Orientierung an anderen, methodisch belastbaren Analysen des Sprachgebrauchs auf Grundlage der Sprechakttheorie ist nur begrenzt möglich, da solche Untersuchungen selten sind und nur vereinzelt vorliegen.27 Die Anwendung der Sprechakttheorie auf einen historischen, gar antiken, Untersuchungsgegenstand ist noch seltener. Es ist deswegen von Nöten, eine eigene, anwendungsorientierte
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Vgl. Rachoinig 2009, 5–6. Hierin sehen Linke 2004, 218–219 eine Schwäche der Sprechakttheorie. Dass die Sprechakttheorie auch auf Texte angewandt werden kann, zeigen jedoch etwa Rachoinig 2009, 67–70 und Steinbauer 1989, 46. Von Interesse dürfte in dieser Hinsicht auch die in Arbeit befindliche Marburger Dissertation von Henrik Vollbracht sein, in welcher die Sprechakttheorie auf die Orestie des Aischylos angewandt wird, wobei Handlungsabsichten und psychische Einstellungen der Dramenfiguren zur Untersuchung der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer auf innerdramatischer Ebene analysiert werden. Dass auch schriftliche Dokumente sprachliche Handlungen sein können, betont auch Wallace 2013, 192–193 im Hinblick auf die Große Rhetra Spartas: „The first known written constitution, Sparta’s „Great Rhetra“ (Plut. Lyk. 5–6), marks the explosive discovery that a few written lines could change everything – a „speech act“ if ever there was one.“ Vgl. überblicksartig Itgenshorst 2014, 46–47. Vgl. auch Gentili 1990, 2–3 zur Mündlichkeit der Dichtung: „[…] in der mündlichen Kommunikation [stehen] der Empfänger und der Sender in der Botschaft mit der ganzen physischen und emotionalen Wirksamkeit ihrer Gegenwart in einer bestimmten gemeinsamen Zeit und an einem bestimmten gemeinsamen Ort [ ] und [haben] füreinander den gleichen Grad an Wirklichkeit und Konkretheit [ ].“ Die gleiche, nötige Voraussetzung sieht Bierl 2001, 55–56 für die Anwendung der Sprechakttheorie auf die griechische Komödie gegeben. S. Kap. 1.3. Die Ausnahme bildet Theognis. Vgl. Staffeldt 2014, 107–108.
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Vorgehensweise für die Analyse von Sprechakten archaischer Dichtung zu schaffen.28 Der obige Verweis auf den Kontext sowie insbesondere die folgenden Ausführungen zu den Handlungsbedingungen sollen dabei verdeutlichen, warum eine Analyse von Sprechakten sich grundsätzlich nicht zu eng an die Oberflächenstruktur von Äußerungen binden darf, wenn sie die Absicht des Sprechers verstehen will. Trotzdem soll im Rahmen der Analyse die Interpretation von Sprechakten, wo möglich, durch eine theoretische Grundlage abgesichert werden, um vor Beliebigkeit zu schützen. Im Folgenden werden deswegen Kriterien, die der Analyse des historischen Untersuchungsgegenstandes als Hilfsmittel dienen können, festgelegt. Solche Analysewerkzeuge sollten dabei in der Lage sein, auch jene Illokutionen identifizieren zu können, die nicht vollständig ausformuliert sind oder nur aus dem Fragment eines Satzes bestehen.29 Dies gilt insbesondere für die Analyse antiker Überlieferungen, die vielfach lediglich fragmentarisch vorliegen. Obwohl einem individuellen Empfinden der Analyse damit vorgebeugt werden soll, muss dennoch anerkannt werden, dass sprachliches Handeln letztlich wohl nie vollkommen objektiv beurteilt werden kann, sondern immer einer individuellen Interpretationsleistung des oder der Analysierenden unterliegt.30 3.2 Analysekriterien 3.2.1 Die Handlungsbedingungen Die Herausforderung bei einem Sprechaktanalysemodell besteht grundsätzlich darin, dass von der Lokution, also der rein sprachlichen, oberflächlichen Repräsentation der Äußerung, auf die Illokution, also der hinter der sprachlichen Äußerung stehenden Intention des Sprechers, (und davon abhängig auf die Perlokution) geschlossen werden muss.31 Dabei ist es jedoch nicht immer möglich, durch eine reine Analyse der Lokution auf die Illokution einer Äußerung zu schließen. Wie in den theoretischen Ausführungen durch den Verweis auf die implizit performativen Sprechakte bzw. die indirekten Sprechakte gezeigt, kann ein und dieselbe Illokution durch unterschiedliche Lokutionen realisiert werden. Es ist insofern nicht immer möglich, eine Illokution 28
29 30 31
Ähnlich geht Föllinger 2007, 63–65 vor, die ein eigenes Schema für ihr sprechakttheoretisches Erklärungsmodell entwirft. Vgl. auch Ma 2000, 75–85, der eine „speech-act theory for (ancient) historians“ vorstellt sowie Stelzel 2003, 72, die für ihre Untersuchung auf ausgewählte Aspekte der Sprechakttheorie zurückgreift (Direktiva und der Unterschied zwischen direkten und indirekten Sprechhandlungen). Vgl. Schmitt 2000, 55. So bereits ebd., 264. Vgl. für ein besseres Verständnis dieser Schwierigkeiten die hier wiedergegebenen Überlegungen von Schmitt 2000, 39–50.
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allein durch die Strukturbeschreibung einer Äußerung zu identifizieren. Die kommunikative Funktion einer sprachlichen Äußerung lässt sich sprachlichen Ausdrücken nicht konventionell zuordnen.32 Vielmehr muss die Illokution in vielen Fällen erst aus dem Kontext der Äußerung (Austin spricht von sogenannten Handlungsbedingungen) erschlossen werden. Denn erst durch seinen Kontext wird ein sprachlicher Ausdruck etwa zu einer Drohung, einem Versprechen oder einer Aufforderung. Um also die illokutive Mehrdeutigkeit einzugrenzen, muss der Kontext der Sprechhandlung ungefähr bekannt sein.33 Dies gilt auch und besonders für die Analyse von Sprechakten der Archaik. Die Schwierigkeit bei der Analyse von Sprechakten eines historischen Untersuchungsgegenstandes, wie der archaischen Lyrik, ist dabei aber, wie Martschukat richtigerweise zu bedenken gibt, dass die konkrete Situation einer historischen Aufführung dem Auge, Ohr und der Nase des Analysators entzogen bleibt.34 Deswegen ist es in Bezug auf die Vorgehensweise dieser Untersuchung vor der Bestimmung der einzelnen Sprechakte Voraussetzung, den ungefähren Aufführungskontext der Gedichte zuallererst mit Hilfe von Quellen so plausibel wie möglich zu rekonstruieren.35 Für den Interpretationsvorgang ist es darüber hinaus nötig, sich das potentielle Weltwissen der damaligen Menschen, also der archaischen Sprecher und Hörer, zu vergegenwärtigen.36 Denn nur so ist sicherzustellen, dass die Ansichten und Absichten der untersuchten Sprecher tatsächlich verstanden und nicht die Interpretationsgewohnheiten aus der eigenen Lebenswelt auf den Untersuchungsgegenstand projiziert werden.37 32 33 34
35 36
37
Vgl. Linke 2004, 215. Vgl. Diegritz/Fürst 1999, 41. Vgl. hierzu auch die interessanten Ausführungen von Schmitt 2000, 169–171 zu den psychologischen Aspekten der Illokution. Vgl. Martschukat/Patzold 2003, 27. Dass kein primärer Wahrnehmungszustand zum Analysematerial möglich ist, kann dabei als Nachteil empfunden werden, weil es der Analyse natürliche Grenzen setzt (so bleiben etwa außertextuelle Gegebenheit wie die Intonation einer Äußerung oder die unmittelbare Reaktion der Zuhörer auf eine Äußerung verborgen). Staffeldt 2014, 9 erkennt jedoch richtig, dass eine Analyse auf Grundlage von Überlieferungen (bei Staffeldt ist es das Transkript einer Pressekonferenz) auch den Vorteil haben kann, dass einzelne Phänomene detaillierter und entlastet vom Handlungsdruck der authentischen Kommunikationssituation unter die Lupe genommen werden können. Vgl. Martschukat/Patzold 2003, 27. Das Weltwissen ist die Grundlage für die Sprachverwendung. Weltwissen ist dabei, einerseits individuell und bezieht sich auf persönlich gemachte Erfahrungen, andererseits gibt es auch gemeinsames Weltwissen. Um von einem Baum sprechen zu können, muss bekannt sein, was in der Sprachgemeinschaft unter Baum verstanden wird und auch vorausgesetzt werden, dass der Empfänger ebenfalls über dieses Weltwissen verfügt, vgl. dazu Ernst 2002, 21–22. Vgl. Kallmeyer/Schwitalla 2014, 84. Auf diese Gefahr macht auch Wagner 1994, 183 aufmerksam, der einräumt, dass bestimmte Bereiche einer Sprechhandlung einem historischen Wandel unterliegen können. Der illokutionäre Charakter von Sprachhandlungen kann sich aufgrund sich unterscheidender Kontextbedingungen in Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Vgl. zur Problematik „vergangener Subjektivität“ auch Itgenshorst 2014, 44, die glaubt, dass ein wesentlicher Ertrag der altertumswissenschaftlichen Forschung in der Erkenntnis besteht, „dass die Antike sich gerade nicht durch Identifikation der heutigen Forscherinnen und Forscher mit den Inhalten und
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Für die Sprechaktanalyse der Gedichte der einzelnen archaischen Dichter gilt es also, vorab den jeweiligen Kontext, in welchem gesprochen wurde, zu rekonstruieren. Dieser Kontext umfasst für eine sinnvolle Analyse der Sprachakte der archaischen Lyrik dabei primär die Kenntnis über die historische Situation der jeweiligen Polis, in der der Dichter aufgetreten ist. Die Rekonstruktion des Kontextes soll dabei mit Hilfe antiker Zeugnisse geschehen. Darüber hinaus soll vor der Analyse die in der Forschung vertretenen Ansichten bezüglich der Rolle des Dichters, der Gelegenheiten der Aufführung bzw. des institutionellen Rahmens der Dichtung, der Adressaten der Dichter und eines möglichen Verhältnisses zwischen Dichter und eben jenen Adressaten zueinander dargestellt werden. Auf Grundlage der Ergebnisse der Sprechaktanalyse soll sodann eine eigene Verortung hinsichtlich des historischen wie okkasionellen Kontextes der Dichtung vorgenommen werden. Das methodische Prinzip entspricht hier demnach dem der hermeneutischen Spirale: Auf Grundlage bestehenden Vorwissens über den Aufführungskontext, sollen Sprechakte analysiert werden, die dann zu einer Weiterentwicklung des ursprünglichen Vorwissens führen sollen. 3.2.2 Die Bestimmung der Illokutionen Um die sprachlichen Handlungen der archaischen Lyriker auszumachen, müssen die Kernstücke der Sprechakte analysiert werden: Die Illokutionen. Wie bereits dargestellt, handelt es sich bei den Illokutionen um die kommunikativen Zwecke einer Äußerung. Illokutionen bestehen aus der Sprecherintention und ihrer sprachlichen Repräsentation, wobei sie stets aus ihrem Kontext heraus bestimmt werden müssen.38 Der außertextuelle Kontext, in welchen die Sprechhandlung eingebettet ist, dient also, wie bereits dargelegt, als Grundlage für die Bestimmung des Sprechaktes. Darüber hinaus gibt es aber auch auf textueller Ebene Möglichkeiten zur (besseren) Bestimmung von Illokutionen. Diese für die Analyse brauchbaren Hilfsmittel sollen im Folgenden vorgestellt werden. 3.2.2.1 Die Identifikation der Einheit Illokution Um eine Analyse von Sprechhandlungen vornehmen zu können, muss die Illokution als Einheit identifizierbar sein. Bei der Identifikation einer Illokution stellen sich dabei Fragen nach ihrem physischen Umfang: „Wie groß ist die Einheit Sprechakt? Wie kann
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historischen Akteuren erschließen lässt, sondern dass wir ihr vielmehr dann gerecht werden, wenn wir ihr in jeder – positiven wie negativen – Hinsicht möglichst unvoreingenommen gegenübertreten.“ Vgl. Schmitt 2000, 104.
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determiniert werden, wo die Grenze zwischen zwei Illokutionen anzusetzen ist?“39 Sowohl Austin als auch Searle haben in ihren Grundlagenwerken Satz und Illokution gleichgesetzt, was in der Forschung weitgehend übernommen wurde. Das Problem daran ist aber, dass es gar keine klare Definition des Konzeptes „Satz“ gibt. Schmitt gibt zudem zu bedenken, dass es sich bei einem Satz um eine syntaktische Einheit, bei einer Illokution hingegen um eine Handlungseinheit handelt. Beides könne nicht einfach gleichgesetzt werden.40 Die Frage nach der Einheit „Illokution“ bleibt also und somit auch die Frage nach der Identifikation einer Illokution. Als Möglichkeit, die Einheit Illokution sichtbar zu machen, soll deswegen eine Methode vorgestellt werden, die eine Unterscheidung einzelner Äußerungsteile hinsichtlich ihres Illokutionspotentiales möglich macht und die bei der Analyse, wenn nötig, zum Einsatz kommen sollen. Bei dieser Methode handelt es sich um die sogenannte Erweiterungsprobe, die Schmitt entnommen ist: Mit Hilfe der Erweiterungsprobe kann dann eine Illokution angenommen werden, „wenn ein gegebenes Äußerungsfragment so ergänzt oder umgeformt werden kann, dass es eine eigenständige (grammatisch unabhängige) und vollständige Proposition ergibt“ und wenn „das erweiterte Fragment innerhalb desselben Kontextes die gleiche vom Sprecher intendierte Aufgabe erfüllt wie das Fragment selbst.“41 Dieser Grundgedanke entspricht Searles Überzeugung, dass eine nicht-explizite illokutionäre Rolle einer Äußerung immer explizit gemacht werden kann.42 Dabei bleibt eine Proposition stets unselbstständig und ist, wie Krämer aufzeigt, immer auf die Einbettung in einen illokutionären Akt angewiesen. Die Proposition erhält erst im Zuge der illokutionären Funktionsbestimmung ihre Bedeutung.43 Schmitt veranschaulicht seine Erweiterungsprobe an einem Beispielsatz: Genießen Sie diesen trockenen Rosé zu dunklem Fleisch oder Käse.44
Traditionell würde diese Äußerung als ein Sprechakt aufgefasst werden, und zwar als eine Aufforderung, weil der Imperativ (als Illokutionsindikator) auf eine Handlungsanweisung hinweist. Mit Hilfe der Erweiterungsprobe zeigt sich aber, dass die Äußerung auch andere Illokutionen beinhaltet. Dafür werden die verschiedenen Propositionen aus der Äußerung herausgefiltert: 1) Dies ist ein trockener Rosé 2) Er eignet sich besonders zu dunklem Fleisch und Käse 3) Genießen Sie ihn (dazu)!45 Auf diese Weise können drei unabhängige Illokutionen extrahiert werden: Eine Behauptung, eine Empfehlung und eine Aufforderung. Der Sprecher intendierte also mit seiner Äußerung 39 40 41 42 43 44 45
Schmitt 2000, 51. Vgl. ebd., 52–55. Schmitt 2000, 59. Vgl. Searle 1971, 109. Vgl. Krämer 2001, 61. Krämer merkt diesbezüglich an, dass nicht die Semantik durch die Pragmatik ergänzt wird, sondern vielmehr die Semantik selbst „pragmatisiert“ werde. Schmitt 2000, 60. Vgl. ebd., 60.
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mehr, als seine Zuhörer lediglich zum Trinken aufzufordern. Gleichzeitig behauptet er etwas und gibt den Zuhörern eine Empfehlung.46 In diesem Sinne muss auch im Hinblick auf potenziell durch die Erweiterungsprobe sichtbar werdende Illokutionen je einzeln entschieden werden, ob der Illokution eine für das Gesamtverständnis entscheidende Bedeutung zukommt. Nur in diesem Fall ist es lohnend, den erweiterten illokutionären Akt in die Untersuchung einfließen zu lassen. Zur Unterscheidung von den übrigen illokutionären Akten werden illokutionäre Akte, die über die Erweiterungsprobe sichtbar geworden sind, klein geschrieben. Fraglich ist zudem, ob die einzelnen Illokutionen gleich stark zu gewichten sind. Im Folgenden soll es deswegen darum gehen, was es für die Analyse bedeutet, wenn mehrere Illokutionen innerhalb einer Sequenz sichtbar werden. 3.2.2.2 Die Dominanz von Illokutionen Das obige Beispiel („Genießen Sie diesen trockenen Rosé zu dunklem Fleisch oder Käse“) hat gezeigt, dass innerhalb einer Äußerung mehrere Illokutionen realisiert werden können. Dabei ist jedoch nicht jede Illokution gleich wichtig. Rachoinig weist etwa darauf hin, dass eine Illokution in einer Äußerung, wie im obigen Beispiel die Aufforderung, dominant sein kann und den anderen Illokutionen übergeordnet ist.47 Die Realisierung dieser dominanten Illokution ist der eigentliche Anlass der ganzen Äußerung, sie drückt das Hauptanliegen des Senders aus.48 Sie wird dabei durch die anderen Illokutionen der Äußerung gestützt (so begründet im obigen Beispielsatz die Empfehlung die Aufforderung).49 Motsch spricht (unabhängig von der Erweiterungsprobe) von einer hierarchischen Anordnung von Illokutionen innerhalb eines Textes.50 Die Rekonstruktion der Hierarchie geschieht vor dem Hintergrund des Weltwissens der Hörer, die die Hierarchie der Illokutionen (in den meisten Fällen) intuitiv identifizieren können.51 Auf diese Weise sollen auch innerhalb der Analyse die dominanten von den subordinierten52 bzw. stützenden Illokutionen unterschieden werden. Für die 46
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Auch Nebensätze, denen teilweise ein eigenes Illokutionspotential abgesprochen wird, können Träger einer eigenständigen Illokution sein. Hier muss jedoch im Einzelfall (insbesondere im Hinblick auf die Art des Nebensatzes: Konzessivsatz, Konditionalsatz, Relativsatz etc.) geschaut werden, ob Nebensätze lediglich die Illokution des Hauptsatzes bedingen oder stützen, oder ob ihnen ein eigener Illokutionswert zugesprochen werden kann, vgl. zur pragmatischen Funktion von Nebensätzen etwa Brandt 1990; Schmitt 2000, 66–75; Rolf 1997, 67–75. Rachoinig 2009, 76. Vgl. Brandt/Rosengren 1992, 28. Vgl. Schmitt 2000, 179–192. Schmitt unterscheidet dabei noch unterschiedliche hierarchische Stützverhältnisse (181–182). Vgl. Motsch 1989, 46. Vgl. auch Rolf 2000, 2533. Vgl. Brandt/Rosengren 1992, 28. Vgl. Motsch 1986, 274.
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Analyse wird im Einzelfall zu schauen sein, ob und wie viele einzelne Illokutionen für das Verständnis des kommunikativen Zweckes einer Äußerung zu extrahieren sind. Schmitt warnt dabei davor, dass nicht der Fehler gemacht werden dürfe, von der Größe der Oberflächenrealisation auf ihr Gewicht zu schließen. Auch syntaktisch abhängige Einheiten können Träger von Hauptillokutionen, also dominante Illokutionen, sein.53 Zur Übersichtlichkeit werden die durch die Erweiterungsprobe sichtbar werdenden stützenden Illokutionen innerhalb der Analyse nicht kursiv geschrieben. 3.2.2.3 Die Illokutionsindikatoren Eine Illokution ist also als Einheit identifizierbar. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, welche Illokution, also welche sprachliche Handlung, eigentlich mit der Äußerung vollzogen wird. Wie eingangs beschrieben, lassen sich Illokutionen sprachlichen Ausdrücken nicht konventionell (fest) zuordnen. Nichtsdestoweniger gibt es aber sprachliche Hinweise, die dabei helfen können, eine Sprechhandlung aus grammatischer Sicht anzuzeigen. Hierbei handelt es sich um die von Austin so bezeichneten Illokutionsindikatoren. Sie sind hilfreich, weil sie in eine bestimmte Illokutionsrichtung weisen können.54 Im Folgenden werden einige der Austinschen Illokutionsindikatoren genannt, die für die Analyse von Sprechakten in der archaischen Lyrik hilfreich sein können: Der deutlichste Indikator, der eine bestimmte Illokution anzeigt, ist das performative Verb in seiner explizit performativen Verwendung. Denn durch ein performatives Verb (z. B. versprechen) wird die sprachliche Handlung (ein Versprechen) explizit, die mit der Äußerung vollzogen wird. Allerdings ist die explizit performative Verwendung im Sprachgebrauch – so auch innerhalb der archaischen Dichtung – selten.55 Wesentlich häufiger finden sich implizit performative bzw. indirekte Sprechakte. Für die Bestimmung solcher Sprechakte bedarf es weiterer Indikatoren. Einer dieser Illokutionsindikatoren ist etwa der Satz-Modus. Über den Modus des Verbes lässt sich erkennen, ob eine reale Tatsache beschrieben wird (Indikativ), ob ein Wunsch oder eine Möglichkeit ausgedrückt wird (Im Griechischen: Irrealis der Gegenwart oder Vergangenheit, Konjunktiv und Optativ) oder ob eine Aufforderung, ein Befehl oder ein Verbot gemacht wird (Imperativ; im Griechischen kann zudem der konjunktivische Hortativ zur Aufforderung und der konjunktivische Prohibitiv zum Verbieten verwendet werden). Der Modus ist bei der Bestimmung der Illokution ein besonders hilfreicher Indikator.
53 54 55
Vgl. Schmitt 2000, 179. Vgl. Linke 2004, 215. In der hier untersuchten Lyrik der Archaik kommt sie kein einziges Mal vor.
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Als Illokutionsindikatoren werden von Austin zudem das Adverb und die Konjunktion angeführt. Durch ein Adverb, so Austin, werden illokutionäre Rollen genauer gekennzeichnet: „wir können eine Ermahnung oder sonst etwas betonen, indem wir schreiben: ‚Sie täten gut daran, niemals zu vergessen, daß …‘.“56 Darüber hinaus kann ein Adverb die Rolle einer Illokution auch grundlegend verändern. Wird beispielsweise das Adverb wahrscheinlich durch das Adverb bestimmt ersetzt, wird eine völlig andere Illokution vollzogen. Eine Konjunktion hingegen kann laut Austin ein Illokutionsindikator sein, insofern, als dass etwa Konjunktionen wie „‚dennoch‘ in der Rolle von ‚Ich bestehe darauf, daß‘“57 verstanden werden können. In eine ähnliche Kategorie von Illokutionsindikatoren, weil die illokutionäre Rolle dadurch ebenfalls genauer gekennzeichnet wird, fallen ganz grundsätzlich auch Partikeln. Darüber hinaus kann auch die Satzart selbst als Indikator für eine Illokution fungieren. So lässt sich durch einen Aussagesatz fast jede Illokution realisieren, durch einen Fragesatz hingegen nicht. Hier ist jedoch Vorsicht geboten, weil eine vermeintliche Frage wie „Bist du verrückt?“ in den seltensten Fällen tatsächlich eine Frage ist (dazu ausführlich in Bezug auf indirekte Sprechakte).58 Austin führt noch weitere Illokutionsindikatoren an, die jedoch in Bezug auf die archaische Lyrik keine Hilfe sein können, weil dafür eine primäre Wahrnehmung der Gedichtaufführung nötig wäre. Hierbei handelt es sich um Indikatoren wie etwa das begleitende Verhalten des Sprechers, also etwa Gestik und Mimik, oder die Betonung einer Äußerung.59 Letzteres könnte zwar durch Interpunktionszeichen markiert werden, die Interpunktion der diskutierten Gedichte geht jedoch auf die editorische Interpretation der Herausgeber zurück, und darf deswegen hier nicht als Illokutionsindikator herangezogen werden. Als brauchbare Illokutionsindikatoren erweisen sich für die Analyse der archaischen Lyrik demnach die performativen Verben, der Satz-Modus, Adverbien, Konjunktionen und Partikeln sowie die Satzart selbst. Wie sich gezeigt hat, sind Illokutionsindikatoren hilfreiche Mittel, um Illokutionen anzuzeigen. Dennoch können Illokutionen durch sie nicht eindeutig bestimmt werden. Ein Imperativ kann beispielsweise sowohl ein Befehl, eine Erlaubnis oder eine Aufforderung sein.60 Deswegen wird in der Forschung auch von Illokutionsindikatoren gesprochen. Ferner enthalten nicht alle Äußerungen eindeutige Illokutionsindikatoren. Aus diesen Gründen werden die Illokutionsindikatoren hier lediglich als Hilfsmittel zur Bestimmung von Illokutionen verstanden.
56 57 58 59 60
Austin 2010, 95. Ebd., 95. Vgl. dazu auch Linke 2004, 216. In der Forschung sind diese Aspekte in Bezug auf die Sprechakttheorie jedoch unterrepräsentiert. Vgl. Austin 2010, 96.
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3.2.2.4 Die indirekten Illokutionen Illokutionsindikatoren können eine Sprechhandlung aus grammatischer Sicht anzeigen. Doch nicht immer zeigen die Illokutionsindikatoren die eigentlich intendierte illokutionäre Funktion des Sprechaktes an. In diesen Fällen handelt es sich um die bei Searle beschriebenen indirekten Sprechakte. Eine indirekte Sprechhandlung liegt dann vor, wenn die Illokutionsindikatoren der Äußerung auf eine andere illokutionäre Funktion hinweisen als die eigentlich intendierte.61 Indirekte Sprechakte sind also solche, deren illokutionärer Akt über den Vollzug eines anderen illokutionären Aktes, also indirekt, vollzogen werden.62 Die Illokutionsindikatoren der Äußerung „Kannst du mir das Salz geben?“ (Fragesatz, Intonation, Verberststellung) weisen auf den illokutionären Akt einer Frage hin. Eigentlich handelt es sich jedoch um eine Aufforderung, das Salz zu reichen. Ein indirekter Sprechakt besteht demnach sowohl aus einer sekundären Illokution (hier: Frage) und einer primären Illokution (hier: Aufforderung). Im Gegensatz dazu sind direkte Sprechhandlungen solche, mit denen der Sprecher genau das meint, was er äußert. Im genannten Beispiel würde die direkte Aufforderung, das Salz zu reichen durch „Gib mir (bitte) das Salz“ realisiert werden. Fraglich ist nun, wie indirekte Sprechakte in der Untersuchung analysierbar sind, wie also von der sekundären Illokution auf die primäre Illokution geschlossen werden kann. Die Grundvoraussetzung dafür, dass indirekte Sprechakte vom Hörer verstanden bzw. vom Analysator erkannt werden, ist – wie es für alle Sprechakte Voraussetzung ist, hier jedoch besonders – das Teilen gemeinsamer (sprachlicher wie außersprachlicher) Hintergrundinformationen.63 Darüber hinaus muss der Hörer bzw. Analysator korrekt schlussfolgern können, um die primäre Illokution aus der geäußerten sekundären Illokution abzuleiten. Dies kann etwa gelingen, wenn es einen bestimmten Zusammenhang zwischen der primären und der sekundären Illokution gibt. Die Indirektheit ist dann nicht völlig beliebig und das Erkennen der primären Illokution für den Hörer einfacher. Das liegt daran, dass sich der sekundäre illokutionäre Akt und der primäre illokutionäre Akt einige der Searlschen Sprechaktregeln teilen. So haben eine Frage und eine Aufforderung, wie im obigen Beispiel, gemein, dass sie sich auf eine 61
62 63
Vgl. Stelzel 2003, 79. Diegritz/Fürst 1999, 54 sind der Meinung, dass innerhalb einer Äußerung sich widersprechende Illokutionsindikatoren indirekte Sprechakte anzeigen. Insgesamt gehen die Ansichten darüber, wann genau ein Sprechakt indirekt ist, auseinander, vgl. hierzu insbesondere die ausführliche Untersuchung zur Perlokution von Sökeland 1980. Die Unterscheidung zwischen implizit performativen Sprechakten und indirekten Sprechakten ist ebenfalls nicht immer deutlich. Am ehesten lässt sich wohl sagen, dass bei indirekten Illokutionen an Stelle einer bestimmten (primären) Illokution eine andere (sekundäre) Illokution vollzogen wird (eine Bitte wird durch eine Frage realisiert). Bei impliziten Illokutionen handelt es sich hingegen um nicht explizit geäußerte aber implizit eingeschlossene Illokutionen, die zusätzlich zur Sprechhandlung realisiert werden. Vgl. Searle 1982, 53. Vgl. ebd., 52–53.
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zukünftige Handlung des Hörers beziehen (Regel des propositionalen Gehaltes) und dass nicht davon ausgegangen wird, dass der Hörer bei normalem Verlauf der Dinge die Handlung ohnehin ausführen würde (Einleitungsregel). Frage und Aufforderung stehen sich also nah.64 In beiden Fällen handelt es sich um eine Handlungsanweisung. Searle nennt diese Fälle konventionale indirekte Akte.65 Anders verhält es sich bei indirekten Sprechakten, die keinen illokutionären Zusammenhang erkennen lassen. Searle nennt diese indirekten Sprechakte nicht konventional. Ein Beispiel für einen nicht konventionalen indirekten Sprechakt ist etwa die Feststellung (sekundär) „Es zieht“, die eigentlich (primär) eine Aufforderung ist, das Fenster zu schließen. Um in diesem Fall von der sekundären auf die primäre Illokution zu schließen, muss der Hörer nach Searle durch Bezugnahme auf den Kontext ein zehnschrittiges Schlussfolgerungsverfahren durchlaufen, an dessen Ende er zum Verständnis des primären illokutionären Aktes gelangt.66 Diesen Erkenntnisprozess unterstützen dabei die Prinzipien kooperativer Gesprächsführung nach Grice. Demnach müssen sich alle Gesprächsteilnehmer an ein kooperative Prinzip halten: „[…] gestalte deinen Gesprächsbeitrag so, daß er dort, wo er im Gespräch erscheint, dem anerkannten Zweck dient, den du grade mit deinem Kommunikationspartner verfolgst.“67 Ist das Kooperationsprinzip jedoch verletzt, wie es bei einem indirekten Sprechakt zu sein scheint, unternimmt der Hörer den Versuch, die Äußerung so umzudeuten, dass das Kooperationsprinzip wiederhergestellt ist.68 Weil die reine Feststellung „Es zieht“ in einer bestimmten Situation keine Relevanz zu haben scheint, deutet der Hörer die Äußerung so um, dass sie Relevanz erlangt, nämlich insofern, als dass sie als Aufforderung verstanden wird, das Fenster zu schließen. So gelangt der Hörer zur primären Illokution des Sprechaktes. Ein indirekter Sprechakt, wie eingangs dargestellt, liegt also dann vor, wenn die Illokutionsindikatoren der Äußerung auf eine andere illokutionäre Funktion hinweisen, als die eigentlich intendierte. Der Hörer, bzw. Analysator, erkennt die eigentliche Intention des Sprechers durch Wahrnehmung bzw. Kenntnis des gegebenen Kontextes, innerhalb dessen eine Illokution Sinn ergibt oder nicht.
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Vgl. Linke 2004, 217. Vgl. Searle 1982, 51–59. Für eine intensivere Auseinandersetzung damit s. auch Staffeldt 2014, 66–70. Vgl. ebd., 55–56. Kegel 2006, 247 fasst den Verstehensprozess Searles prägnant zusammen: „Rekapitulation der Äußerung, Feststellen gültiger und für diesen Fall zutreffender Konversationsmaxime(n) und potentiell verschiedener Reaktionsmöglichkeiten, Folgerung, dass die Äußerung des Sprechers – trotz angenommener Kooperationsbereitschaft – nicht relevant ist und dass sie demnach anders als direkt gemeint sein muss, Konfrontation mit dem Hintergrundwissen, Schlussfolgern, dass ein indirekter Sprechakt vorliegen muss“. Grice 1980, 113. Aus dem Kooperationsprinzip hat Grice 1979, 251 vier Maxime der Konversation abgeleitet: Maxime der Quantität: Sage nur so viel, wie nötig; Maxime der Qualität: Sage nur, was du für wahr hältst; Maxime der Relevanz: Sei relevant; Maxime der Modalität: vermeide Unklarheit, vgl. dazu zusammenfassend Linke 2004, 222–223. Grice nennt das Resultat eines solchen Umdeutungsvorganges konversationelle Implikatur, vgl. Linke 2004, 222.
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Für Sökeland ist der Grad der Indirektheit eines Sprechaktes dann am stärksten, wenn die Illokutionsindikatoren besonders deutlich auf eine andere illokutionäre Funktion verweisen.69 Doch nicht immer ist dies der Fall, weswegen sich ein indirekter Sprechakt nicht immer eindeutig von einem direkten Sprechakt unterscheidet. Sökeland spricht in diesen Fällen von einer illokutiven Vagheit: „Sind die Illokutionsindikatoren einer sprachlichen Äußerung nur schwach ausgeprägt, so kann diese nicht als extrem indirekt oder direkt empfunden werden, sondern lediglich als vage.“70 In diesem Abschnitt wurde dargelegt, inwiefern indirekte Sprechakte analysierbar sind. Die genannten Verstehensprozesse, die die Interpretation eines indirekten Sprechaktes begründen, werden dabei jedoch für die einzelnen indirekten Sprechakte bei der Analyse der archaischen Lyrik nicht jedes Mal neu erklärt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Von größerem Interesse für diese Studie ist ohnehin die Frage, warum überhaupt ein indirekter und nicht ein direkter Sprechakt vollzogen wird. In der Forschung gibt es dafür unterschiedliche Erklärungen. Searle selbst glaubt, dass bei den handlungsauffordernden Sprechakten die Höflichkeit ein Leitmotiv für die Indirektheit ist. Eine Aufforderung direkt, etwa im Imperativ, zu formulieren, gelte „[…] bei der in gewöhnlicher Konversation gebotenen Höflichkeit normalerweise als ungehobeltes Benehmen […]“.71 Stelzel interpretiert die Verwendung indirekter Formulierungen ähnlich, nämlich als Zeichen behutsamen Umgangs mit den Mitmenschen, mit deren Hilfe der Sprecher das Image des Hörers schützen wolle.72 Weitere Beweggründe für eine indirekte Verwendung von Sprechakten können Distanz und Unverbindlichkeit sein.73 Für die Interpretation der indirekten Sprechakte gilt es, diese Erklärungsversuche zu berücksichtigen. Zur Unterscheidung werden die sekundären illokutionären Akte in der Analyse klein geschrieben, die primären illokutionären Akte zur Hervorhebung hingegen kursiv, da sie die eigentlich intendierte sprachliche Handlung des Sprechers darstellen. 3.2.2.5 Die Einteilung der Illokutionen in Sprechaktklassen Wenn jemand sprachlich handelt, dann tut er oder sie dies stets aus einem ganz bestimmten Grund. Searle unterscheidet insgesamt fünf verschiedene Zwecke, die verfolgt werden, indem gesprochen wird: zu sagen, wie etwas ist; andere dazu zu bekommen, etwas zu tun; sich selbst darauf festzulegen, etwas Bestimmtes zu tun; eigene Gefühle und Einstellungen zum Ausdruck zu bringen und eine Veränderung durch
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Vgl. Sökeland 1980, 34. Ebd., 34. Searle 1982, 57. Vgl. Stelzel 2003, 82. Vgl. Franz 2014, 72.
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eine Äußerung herbeizuführen.74 Eine sehr große Zahl von unterschiedlichen (direkten oder indirekten) Illokutionen lässt sich auf diese Weise in eine kleine Zahl von Grundtypen unterscheiden, nämlich in die fünf von Searle definierten Sprechaktklassen.75 Wie in Kapitel 2.2.3. dargestellt, handelt es sich hierbei um die Repräsentativa (Feststellung, Behauptung, Versicheru ng, …), die Direktiva (Anweisung, Appell, Wunsch, …), die Kommissiva (Drohung, Versprechen, Schwur, …), die Expressiva (Verurteilung, Klage, Gruß, …) und die Deklarationen (Taufe, Kündigung, Ernennung, …). Obwohl es fast unmöglich erscheint, lässt sich jede sprachliche Handlung einer dieser fünf Sprechaktklassen zuordnen.76 Auch die in dieser Arbeit analysierten Sprechakte der archaischen Lyrik sollen ihrer jeweiligen Sprechaktklasse zugeordnet werden. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass Sprechhandlungen historischen Wandlungen unterliegen. Schlieben-Lange glaubt etwa, dass es keine universellen sprachlichen Handlungen gibt, sondern nur je historisch konventionalisierte Sprechhandlungen, und insofern auch keine universellen Sprechhandlungsklassen.77 Anders argumentiert Searle, der postuliert, dass illokutionäre Verben zwar immer zu einer einzelnen Sprache gehören, illokutionäre Akte und ihre Einteilung in Sprechaktklassen jedoch zur Sprache im Allgemeinen und nicht zu einzelnen Sprachen.78 Auch Wagner geht von universalen Sprechaktklassen aus: „Ist eine Kultur oder Gesellschaft vorstellbar, in der Menschen nichts ERZÄHLEN (REPRÄSENTATIVA), nichts VERSPRECHEN (KOMMISSIVA), keine EMPFINDUNG AUSDRÜCKEN (EXPRESSIVA), zu nichts AUFFORDERN (DIREKTIVA) und keine DEKLARATIVA vollziehen?“79 Auch für die Gesellschaft und Kultur der griechischen Archaik soll diese Annahme gelten, sodass in der Analyse die einzelnen Sprechakte ihrer jeweiligen (universalen) Sprechaktklasse zugeordnet werden. Grundlage dafür ist die Klassifikation von Searle. Die Einordnung der einzelnen Sprechakte in ihre jeweilige Sprechaktklasse hat für die Analyse den Vorteil, dass der übergeordnete Zweck der Sprechhandlung sichtbar wird. Insbesondere für den anschließenden Vergleich der Sprechhandlungen der unterschiedlichen Dichter ist es aufschlussreich, zu schauen, ob ein Dichter im Vergleich zu einem anderen Dichter etwa viele Handlungsanweisungen (Direktiva) vollzieht oder mehr Zustandsbeschreibungen (Repräsentativa) in seinen Gedichten zu finden 74 75 76
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Vgl. Searle 1982, 22. Schon Austin 2010, 165 spricht von „größeren Familien verwandter und einander überlappender Sprechakte.“ Searle 1982, 22 hat hierfür 12 Unterscheidungskriterien erarbeitet, die teilweise auf seinen Gelingensbedingungen für Sprechakte basieren. Staffeldt 2009a, 72. In der Forschung ist in Auseinandersetzung mit (und Kritik an) Searles Klassifikation eine große Anzahl an alternativen Klassifikationen entstanden. Diese Arbeit orientiert sich jedoch an Searles Taxonomie, da sich die hier analysierten Sprechakte problemlos in eine der Searlschen Sprechaktklassen einordnen lassen und eine weitere Differenzierung insofern nicht nötig ist. Vgl. Schlieben-Lange 1976, 114. Vgl. Searle 1982, 18. Wagner 1994, 182.
Analysekriterien
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sind. Es darf dabei jedoch nicht der Fehler begangen werden, die einzelnen Sprechakte durch die Zuordnung in eine der fünf Sprechaktklassen zu vereinheitlichen. Auch wenn die illokutionären Akte Befehlen und Bitten der gleichen Sprechaktklasse angehören, nämlich der Sprechaktklasse der Direktiva, so unterscheiden sie sich doch deutlich in ihrer Stärke. Der gleiche illokutionäre Zweck, nämlich jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, wird hier durch unterschiedliche Intensitätsgrade vermittelt. Bereits Searle sah dies als Unterscheidungskriterium von Sprechakten: „Ein und derselbe illokutionäre Witz oder Zweck kann mit verschiedenen Intensitätsgraden einhergehen und der Sprecher mag auch in jeweils unterschiedlichem Maß auf gewisse Dinge festgelegt sein.“80 Auch aus diesem Grund sollen im Folgenden alle in dieser Arbeit vertretenen Illokutionen einer Sprechaktklasse definiert werden. 3.2.2.6 Sprechakttypen-Inventar Ziel der Untersuchung ist es, die sprachlichen Handlungen in ausgewählten politischen Gedichten der Archaik zu analysieren. Wie oben beschrieben, müssen die einzelnen Illokutionen, die in den Versen enthalten sind, als Einheit identifiziert werden. Je nach Ko- und Kontext und mit Hilfe der bereits genannten sprachlichen Kriterien können die einzelnen Illokutionen sodann als eine bestimmte sprachliche Handlung (Versprechen, Warnung, Befehl, …) interpretiert werden. Um Unklarheiten vorzubeugen, sollen alle in den hier untersuchten Gedichten vorliegenden und aufgrund oben genannter Kriterien interpretierten Sprechhandlungen semantisch definiert werden. Dadurch soll gewährleistet werden, dass eine Illokution – unabhängig von dem sich je nach Gedicht unterscheidenden Ko- oder Kontext und einer daraus folgenden Interpretation der Sprechhandlung – erst einmal dieselbe Bedeutung hat. Nur so ist überdies ein Vergleich der Sprechhandlungen der unterschiedlichen Dichter bzw. Gedichte möglich. Grundlage für die folgende Definition der einzelnen Sprechhandlungen, die zwischen Bedeutung sowie Verwendungsspezifik einer Sprechhandlungen unterscheidet, ist das Wörterbuch Handbuch deutscher Kommunikationsverben.81 Die Definitionen werden hier wörtlich, jedoch verkürzt, wiedergegeben. Präzisiert wird die Definition an gegebener Stelle durch die Ausführungen bei Rolf.82
80 81 82
Searle 1982, 22. In der Analyse wird das Wörterbuch von Harras 2004 bei Unsicherheit in Bezug auf die Bestimmung des jeweiligen Sprechaktes (bzw. der Sprechaktklasse) zu Rate gezogen. Rolf 1997.
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Methode
A. Die repräsentativen Sprechakte A.1. Ankündigung83 Bedeutung: Etwas Bevorstehendes bekanntgeben. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit ankündigen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Sprecher (S) einem Hörer (H)84 etwas Zukünftiges, ein Ereignis oder eine Handlung von S oder Dritten, zur Kenntnis bringt. A.2. Behauptung85 Bedeutung: Etwas sagen, was man für wahr hält. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit behaupten Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er einen bestimmten Sachverhalt (P)86 für wahr hält. S erhebt damit einen Anspruch auf die Wahrheit von P., den er gegebenenfalls begründen können muss. Rolf ergänzt: „Behauptet werden kann nur etwas, was – zumindest im Prinzip – strittig ist, was sich als nicht zutreffend erweisen könnte.“87 A.3. Erklärung88 Bedeutung: Etwas verständlich machen. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit erklären Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S einen meist komplexen, schwierigen Sachverhalt P verständlich und genau darstellt, um zu bewirken, dass H P gut kennt. A.4. Information89 Bedeutung: Jemanden von etwas, das für ihn von Interesse ist, in Kenntnis setzen. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit informieren Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H von etwas in Kenntnis setzt, von dem S glaubt, dass es für H von Interesse ist. Die Kenntnis der Ereignisse hat Folgen für das zukünftige Verhalten von H.
83 84 85 86 87 88 89
Rolf 1997., 92. Von nun an gelten die jeweiligen Abkürzungen S und H. Sie stehen für Sprecher und Hörer. Harras 2004, 37. Von nun an gilt die Abkürzung P. Sie steht für einen Sachverhalt. Rolf 1997, 143. Ebd., 105. Harras 2004, 75.
Analysekriterien
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A.5. Prophezeiung90 Bedeutung: Eine positive Prognose machen. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit prophezeien Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H etwas Zukünftiges, ein Ereignis oder eine Handlung von S oder Dritten, zur Kenntnis bringt, von dem S glaubt, dass H dies erwünscht. A.6. Versicherung91 Bedeutung: Eindringlich und nachdrücklich etwas erklären/versichern. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit versichern Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H gegenüber eindringlich und mit Nachdruck zum Ausdruck bringt, dass er etwas Bestimmtes für wahr hält. B. Die direktiven Sprechakte B.1. Anordnung92 Bedeutung: Etwas amtlich festlegen Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit anordnen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein weisungsbefugter S H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass H etwas Bestimmtes tun soll; der Akt des Anordnens ist institutionell geregelt, die Formulierungen sind meist knapp und sachlich. B.2. N-Anordnung93 Bedeutung: Etwas amtlich untersagen. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit n-anordnen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein weisungsbefugter S H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass H etwas Bestimmtes nicht tun soll; der Akt des N-Anordnens ist institutionell geregelt, die Formulierungen sind meist knapp und sachlich.
90 91 92 93
Die Sprechakte Prophezeien und Ankündigen werden bei Harras 2004 synonym gebraucht. Die hier gegebene Definition orientiert sich insofern nicht an Harras, sondern an einer von der Verfasserin selbst gegebenen Definition. Harras 2004, 217. Ebd., 187. Der Sprechakt N-Anordnung ist eine von der Verfasserin selbst definierte Illokution, die das Gegenteil von Anordnung darstellt. Der Grund dafür, dass hier von dem Sprechakt Verbot Abstand genommen wird (dessen Verwendung naheliegend erscheinen könnte), liegt darin begründet, dass ein Verbot suggeriert, dass der Sprecher Sanktionsmittel an der Hand hat, sollte der Adressat das Verbot missachten. Da in keinem der in dieser Arbeit untersuchten Fälle gesagt werden kann, ob sich der Sprecher in einer Position befand, welche ihm Sanktionen bei Nichtbefolgung seiner Handlungsanweisung erlaubt, soll in dieser Arbeit nicht von Verbot gesprochen werden.
74
Methode
B.3. Aufforderung94 Bedeutung: Jemanden durch eine Äußerung dazu bringen wollen, etwas zu tun. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit auffordern Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S durch seine Äußerung bewirken will, dass H etwas Bestimmtes tut. B.4. N-Aufforderung95 Bedeutung: Jemanden durch eine Äußerung davon abhalten wollen, etwas tun. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit n-auffordern Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S durch seine Äußerung bewirken will, dass H etwas Bestimmtes nicht tut. B.5. Mahnung96 Bedeutung: Jemanden auffordern, etwas zu tun, das zu seinen Pflichten gehört. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit mahnen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H gegenüber nachdrücklich zum Ausdruck bringt, dass H eine Verpflichtung, der er bisher nicht nachgekommen ist, endlich erfüllt. B.6. Rat97 Bedeutung: Jemandem empfehlen, etwas zu tun. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit raten Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass es für H das Beste ist, P zu tun. C. Die expressiven Sprechakte C.1. Beschuldigung98 Bedeutung: Zum Ausdruck bringen, dass jemand für eine Tat verantwortlich ist. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit beschuldigen Bezug genommen wird, sind dadurch charakterisiert, dass S H gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er H oder Dritte für X verantwortlich hält; X ist eine Handlung von H oder einem Dritten, die als schlecht, moralisch oder sozial verwerflich gilt. 94 95
96 97 98
Harras 2004, 113. Der Sprechakt N-Aufforderung ist eine von der Verfasserin selbst definierte Illokution, die hier das Gegenteil von Aufforderung meint. N-Aufforderung steht dabei für einen direktiven Sprechakt, dessen illokutionärer Zweck darin besteht, vom Hörer eine negative Handlung, also die Unterlassung einer Handlung, zu fordern. Aus denselben Gründen, wie im Falle der N-Anordnung, wird von der Verwendung der Sprechhandlung des Verbots abgesehen. Harras 2004, 134. Ebd., 154. Ebd., 297.
Analysekriterien
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C.2. Diffamierung99 Bedeutung: Jemanden oder etwas in seinem Ansehen herabsetzen, indem man ihm Schlechtes nachsagt. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit dem Verb diffamieren Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H, der verschieden ist von der Hörerschaft, der gegenüber S sich äußert, durch negative Bewertungen seiner Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen in seinem gesellschaftlichen Ansehen herabsetzt. D. Die repräsentativen/direktiven Sprechakte Der dieser Klasse zugehörige Sprechakt der Warnung stellt eine Besonderheit dar, da er sowohl repräsentativen als auch direktiven Charakter hat.100 Zwar bringt ein Sprecher durch eine Warnung zum Ausdruck, dass eine bestimmte Sachlage bevorsteht, die nicht im Interesse des Hörers ist und vollzieht damit einen repräsentativen Sprechakt, weil er sagt, wie es sich verhält. Gleichzeitig wird durch die Warnung aber auch Einfluss auf das zukünftige Verhalten des Hörers genommen, da dieser durch die Warnung möglicherweise von einem bestimmten Verhalten oder Vorhaben abgehalten werden soll, womit demnach eine indirekte Handlungsanweisung und somit ein direktiver Sprechakt vorliegt. Der Sprechakt der Warnung bewegt sich also zwischen einem repräsentativen und einem direktiven Sprechakt. D.1. Warnung101 Bedeutung: Jemanden auf eine Gefahr oder die negativen Folgen eines Ereignisses hinweisen. Verwendungsspezifik: Die Situationen, auf die mit warnen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass S H auf eine zukünftige Sachlage aufmerksam macht, von der S glaubt, dass ihr Bestehen nicht im Interesse von H ist. S will das zukünftige Verhalten von H beeinflussen.
99 Harras 2004, 305. 100 Ebd., 94 ordnet den Sprechakt der Warnung der Sprechaktklasse der Repräsentativa zu; sie erkent jedoch auch: „warnen ist ein Prädikat, das zwischen den Repräsenativen und den Direktiven steht: mit ihm ist sowohl ankündigen (repräsentativ) als auch auffordern (etwas nicht zu tun) (direktiv) impliziert.“ Searle 1971, 100 befindet, dass Warnungen einem repräsentativen Sprechakt näherstehen, als einem direktiven. Innerhalb der Forschung gelten Warnungen jedoch teilweise auch als rein direktive Sprechakte, vgl. etwa Weigand 2003, 145–146 (mit weiterer Literatur). 101 Harras 2004, 94.
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Methode
3.2.3 Die Bestimmung der Perlokutionen In dieser Arbeit soll nicht nur untersucht werden, welche sprachlichen Handlungen die archaischen Dichter mit ihren Gedichten vollzogen und welche Rückschlüsse dies über den außerliterarischen Kontext der Dichtung zulässt, sondern auch, welchen Einfluss die Dichter mit ihren sprachlichen Handlungen auf ihre Umwelt gehabt haben können, das heißt welche Wirkung ihre Dichtung auf die Zuhörer gehabt haben kann.102 Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, muss der Blick auf den Teilakt einer Sprechhandlung gelenkt werden, der sich mit der Wirkung einer sprachlichen Handlung auf ihre Zuhörer beschäftigt: Den perlokutionären Akt. Die Forschung hat sich bei der Beschäftigung mit der Sprechakttheorie jedoch vorrangig auf eine Seite sprachlichen Handelns konzentriert: Die Illokution. Die Perlokution, also die Wirkung, die eine vollzogene Sprechhandlung auslöst, blieb zumeist ausgeklammert.103 Dabei ist der perlokutionäre Akt unabdingbarer Bestandteil einer Sprechhandlung, wie Coulmas verdeutlicht: „[…] Handlungen sind nicht als isolierte Verhaltenseinheiten zu definieren, sondern stehen in einem untrennbaren Verhältnis mit ihren Wirkungen und Konsequenzen, deren Vernachlässigung die Analyse sprachlichen Verhaltens notwendig unvollständig bleiben läßt.“104 Die Bestimmung der perlokutionären Akte der archaischen Lyrik kann dabei jedoch nur unter Vorbehalt durchgeführt werden, weil eine (direkte) Reaktionen der archaischen Zuhörer auf die Gedichte nicht rekonstruierbar ist. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, die perlokutionären Akte sichtbar zu machen. Dies geschieht mit der Begründung, dass, wie Rachoinig es für schriftliche Texte aufzeigt, in einer Kommunikationssituation nicht nur die Sprecherseite sichtbar ist, sondern darin gleichzeitig immer auch erwartbare Fragen und Entgegnungen der Rezipienten impliziert sind. Bei der Textproduktion muss der Sprecher (hier also der Dichter), um sein konkretes Ziel zu erreichen, mögliche Einwände der Rezipienten bereits zu beant-
102 103
Vgl. dazu auch Itgenshorst 2014, 99–108. Von Beginn an bleibt der perlokutionäre Akt gegenüber dem Illokutionären zweitrangig. Schon Austin 2010, 120 ist es wichtig, „[…] daß wir uns auf den zweiten Typ konzentrieren, also auf den illokutionären Akt“. Searle erwähnt den perlokutionären Akt zu Beginn seines Buches Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, kommt aber im Verlauf der Abhandlung kaum auf ihn zurück. Auch in Lehrbüchern findet sich die Tendenz, den perlokutionären Akt zu vernachlässigen, vgl. Ernst 2002, Meibauer 1999 oder Hindelang 2000. In den wenigen sprachakttheoretischen Analysen des Sprachgebrauchs lassen sich ebenfalls kaum Analysen von Perlokutionen finden, vgl. hier etwa Zaefferer/Frenz 1979; Schmitt 2000 oder Kiesendahl 2011. Eine Ausnahme bilden Diegritz/ Fürst 1999, wobei auch hier die Perlokution eher randständig untersucht wird. Daneben gibt es aber auch Untersuchungen, die sich explizit mit den Perlokutionen auseinandersetzen, vgl. dazu insbesondere Staffeldt 2007 und ders. 2009b; vgl. auch Cohen 1973; Schlieben-Lange 1976; Rolf 1981. 104 Coulmas 1977, 101.
Analysekriterien
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worten suchen, also erwartbare Hörerreaktionen antizipieren. Rachoinig verdeutlicht, dass schriftliche Texte dadurch wie in einen dialogischen Rahmen eingebettet sind.105 Gleiches gilt hier für den Vortrag der Gedichte der archaischen Lyriker. Ein ähnlicher Ansatz ist aus der Rezeptionsästhetik bekannt, wobei diesbezüglich von einem sogenannten Erwartungshorizont gesprochen wird. Hier heißt es, dass für jeden Text ein Erwartungshorizont dessen generiert werden kann, was Rezipienten aus ihrer Zeit heraus über einen Text erwarteten und annahmen.106 Ein solcher Erwartungshorizont wird dabei von einem Autor, der stets für ein bestimmtes Publikum schreibt (oder wie im Falle der archaischen Lyrik: dichtet), schon automatisch mitbedacht.107 Die Texte waren also durch das lebensweltliche Umfeld des Autors entscheidend geprägt, weil der Autor sich mit seinen Texten an den Erwartungen des Publikums orientierte.108 Demnach haben die archaischen Dichter also solche Sprechakte vollzogen, von denen sie vor dem Hintergrund eines bestimmten Erwartungshorizontes annahmen, eine entsprechende Wirkung bei den Zuhörern auslösen zu können. Somit ist es möglich, von den illokutionären Akten der Dichter auf entsprechend intendierte perlokutionäre Akte zu schließen. Die Perlokutionen sollen dabei, in Anlehnung an Austin, in zweierlei Hinsicht betrachtet werden. Austin unterschied zwischen perlokutionärem Ziel und perlokutionärem Nachspiel: „Der perlokutionäre Akt besteht entweder darin, daß ein perlokutionäres Ziel erreicht (überzeugen, überreden) oder ein perlokutionäres Nachspiel erzeugt wird. Z. B. kann der Akt, jemanden zu warnen, sein perlokutionäres Ziel erreichen, ihn auf die Gefahr aufmerksam zu machen, und auch das perlokutionäre Nachspiel haben, ihn aufzuregen;“109 Das perlokutionäre Ziel ist dabei eng an die Illokution gebunden und steht somit im Zusammenhang mit dem eben dargestellten Erwartungshorizont. Im Folgenden wird begründet, warum das perlokutionäre Ziel als Standard-Perlokution bezeichnet werden kann. Das perlokutionäre Nachspiel beinhaltet hingegen alle (auch
105 Vgl. Rachoinig 2009, 68. 106 Vgl. grundlegend Jauß 1970. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Iser 1976 über die Rolle des impliziten Lesers, der den Sinn und die Bedeutung eines Textes immer persönlich mitkonstruiert. 107 Einführend dargestellt bei Spörl 2006, 130; Schneider 2004, 192–194. Auf den Erwartungshorizont des Publikums innerhalb der archaischen Lyrik weist auch Gentili 1988, 56–58 hin. 108 In der klassischen Philologie wird dieser Ansatz etwa in der Arbeit von Krummen 1990, 267 berücksichtigt, die vier Gedichte Pindars auf Grundlage ihrer institutionellen Rahmenbedingungen und mythisch-rituellen Voraussetzungen, dem Erwartungshorizont des Publikums, interpretiert und zeigt, inwiefern sich Pindar mit seinen Gedichten an eben diesen Rahmenbedingungen orientierte. Vgl. auch Barner 1977, 513, auf den Krummen sich mehrfach bezieht: „Institution wird hier verstanden als das spezifische, überindividuelle Bedingungsgefüge, auf das hin literarische Werke jeweils schon konzipiert werden – selbstverständlich nicht nur im Sinne der bloßen Anpassung. Institution bezeichnet zugleich einen Horizont, innerhalb dessen sich Rezeption und Wirkungen allererst vollziehen und der in seinen Traditionen wie in seinen geschichtlichen Wandlungen den Wandel des Textverstehens selbst fundamental mitbedingt.“ 109 Austin 2010, 134.
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Methode
unbeabsichtigten) Folgen einer Sprechhandlung. Beide Formen der Perlokution sollen in der Untersuchung Berücksichtigung finden. 3.2.3.1 Die Standard-Perlokution Wie Staffeldt darstellt, ist in der Perlokutionsforschung das Bedürfnis zu erkennen „bestimmte Perlokutionen an bestimmte Illokutionen zu binden“110, weil es einen Zusammenhang zwischen einer Intention (also Illokution) und ihrer Wirkung gibt.111 Staffeldt selbst unternahm deswegen den Versuch, Perlokutionen an ihre jeweiligen Illokutionen zu knüpfen. Er zeigte dabei, dass verschiedenen illokutionären Zwecken bestimmte Perlokutionen als Wirkungen zugeordnet werden können. Im Prinzip handelt es sich hierbei um das von Austin so genannte perlokutionäre Ziel, weil dieses die vom Sprecher beabsichtigte Wirkung der Illokution darstellt. Staffeldt nennt diese Perlokutionen Standard-Perlokutionen. Unter der Bedingung, dass sowohl Sprecher als auch Hörer aufrichtig sind, kommt Staffeldt zu folgenden Ergebnissen: – Mit dem direktiven Zweck ist eine motivationale Perlokution verbunden: S ist dafür verantwortlich, wenn H nach S’s Äußerung eine bestimmte Handlungsabsicht hat. – Mit dem repräsentativen Zweck ist eine epistemische Perlokution verbunden: S ist dafür verantwortlich, wenn H glaubt, was S gesagt hat. – Mit dem kommissiven Zweck ist eine desiderative Perlokution verbunden: S ist dafür verantwortlich, wenn H nach S’s Äußerung eine entsprechende Erwartung hat. – Mit dem expressiven Zweck ist eine emotionale Perlokution verbunden: S ist dafür verantwortlich, wenn H nach S’s Äußerung eine bestimmte Emotion hat. – Und mit dem deklarativen Zweck ist eine deklarative Perlokution verbunden: S ist dafür verantwortlich, wenn H nach S’s Äußerung davon ausgeht, dass es ab jetzt so ist, wie S gesagt hat.112 Wie eingangs beschrieben, kann hinsichtlich des Erwartungshorizontes des archaischen Publikums angenommen werden, dass die Dichter unter Einbezug der gegebenen Umstände Sprechakte wählten bzw. illokutionäre Akte vollzogen, von denen sie annahmen, dass eine bestimmte Wirkung – die Standard-Perlokution – mit ihnen erzielt werden konnte. Jedoch kann nie mit letzter Sicherheit gesagt werden, dass die
110 111 112
Staffeldt 2009b, 289. Vgl. auch Schlieben-Lange 1976, 59. Vgl. Staffeldt 2009b, 291. Vgl. auch die von Krebs 1993, 41 aufgestellten Ziele eines Sprechers in perlokutionärer Hinsicht, die denen Staffeldts ähnlich sind.
Analysekriterien
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vom Dichter vollzogene Illokution die intendierte Standard-Perlokution tatsächlich ausgelöst hat.113 Es ist immer möglich, dass Reaktionen hervorgerufen werden, die nicht beabsichtigt waren. So ist mit einer Mahnung (Direktivum) vom Sprecher intendiert, seine Zuhörer zum Handeln aufzufordern (motivationale Perlokution). Jedoch kann der Hörer sich unter gewissen Umständen auch vom Sprecher bevormundet fühlen und deshalb die Handlung verweigern. Der gewünschte perlokutionäre Effekt ist dann nicht eingetreten. Die Illokution hat hier also Folgen, die vom Sprecher nur bedingt beeinflusst werden können. In diesem Fall spricht die Sprechakttheorie vom perlokutionären Nachspiel, den kontingenten Folgen einer Illokution. 3.2.3.2 Das perlokutionäre Nachspiel Schon Austin warnte: „Wenn der Sprecher eine Wirkung erzielen will, braucht sie doch nicht einzutreten;“ oder aber „er braucht sie nicht erzielen zu wollen, ja er will sie vielleicht vermeiden, und sie kann doch eintreten.“114 Denn das perlokutionäre Nachspiel kann „unbestimmt lange Ketten von Sachverhalten […], die man auch ‚Wirkungen‘ oder ‚Folgen‘ unserer Handlungen nennen könnte“115, nach sich ziehen.116 Und so ist die Frage, ob ein perlokutionärer Akt erfolgreich vollzogen wurde, eigentlich nur über die Beschreibung der Umstände oder Selbstauskünfte der Beteiligten zu beantworten. Diegritz/Fürst rekonstruieren in ihrer Untersuchung zur Interpretation des perlokutionären Effektes deswegen verbale Äußerungen oder praktische Handlungen von Kindern als Reaktion auf die Illokutionen.117 Der Hörer bleibt also die letzte Instanz zur Klärung, welcher perlokutionäre Effekt bei ihm ausgelöst wurde.118 Weil es aber bei der Analyse archaischer Lyrik nicht möglich ist, auf diese Weise eine Antwort zu erhalten, die Interpretation des perlokutionären Aktes für die Frage nach der Wirkung der archaischen Dichter auf ihr Publikum aber unerlässlich ist, soll versucht werden, das perlokutionäre Nachspiel mit Hilfe von Informationen über den Fortgang der Ereignisse in Form von historischen Zeugnissen zu rekonstruieren. Das bedeutet, dass immer dann von einer Wirkung auf die Zuhörer ausgegangen werden soll, wenn
113 114 115 116
117 118
Staffeldt 2007, 153 spricht hier von einem „Perlokutionären Versuch“ des Sprechers. Austin 2010, 123. Ebd., 124–125. Ma 2000, 90 bezieht sich ebenfalls auf das perlokutionäre Nachspiel, wenn er über die hellenistischen Königsbriefe sagt: „words, spoken or written, by which the Hellenistic kings act on the world; words which can transform individuals into the highest dignitary in their community, with all the attendant perlocutionary and post-perlocutionary consequences; words which can even give cities or entire regions to individuals.“ Diegritz/Fürst 1999, 62. Vgl. Staffeldt 2009b, 298.
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Methode
bestimmte Ereignisse dies als Reaktion auf die Worte der Sprecher vermuten lassen.119 Diese Vorgehensweise soll an einem gegenwärtigen Beispiel demonstriert werden: 17. März: „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ Das NDR Magazin extra 3 veröffentlicht einen Song, der satirisch die Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei sowie das Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen Kurden im Südosten des Landes kritisiert. Der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, wird wegen dieses Songs mit dem Titel „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ ins Außenministerium zitiert.120
Diese auf der Website des NDR veröffentliche Darstellung der Ereignisse um das von dem Satire-Magazin extra 3 veröffentlichte Lied Erdowie, Erdowo, Erdogan zeigt den Wirkungsaspekt desselben. Das perlokutionäre Nachspiel der im Lied enthaltenen Illokutionen (dominant: Diffamierungen) ist die Vorladung des deutschen Botschafters in das türkische Außenministerium. Aufgrund dieser Maßnahme kann nun im Umkehrschluss gefolgert werden, dass das Lied zu einer großen Verärgerung des türkischen Präsidenten geführt hat (perlokutionäres Ziel), der daraufhin den deutschen Botschafter vorladen ließ (perlokutionäres Nachspiel). Mit Hilfe der Konsultation sekundärer Quellen, wie etwa der antiken Geschichtsschreibung oder der Testimonien, soll diese Vorgehensweise auf die archaische Lyrik übertragen werden. Dass die Interpretation des perlokutionären Aktes trotz des Bemühens um eine quellennahe Deutung spekulativ bleiben muss, lässt die Quellenarmut dieser Zeit sowie die häufig fragliche Historizität der teleologisch berichtenden Quellen nicht anders zu.121 Dennoch soll mit aller gebotener Vorsicht der Versuch unternommen werden, nachfolgende Ereignisse mit den sprachlichen Handlungen der archaischen Dichter in Zusammenhang zu bringen. 3.3 Zusammenfassung Methodik Im vorausgehenden Abschnitt wurde gezeigt, inwiefern der illokutionäre Akt einer Sprechhandlung und der perlokutionäre Akt einer Sprechhandlung für Texte der griechischen Archaik analysierbar sind. Über die Sichtbarmachung des illokutionären Aktes ist es dabei möglich, die Handlungsabsicht des Dichters zu erfassen. Dies lässt einerseits Rückschlüsse auf den außertextuellen Kontext der Dichtung zu, weil ein
119 Nach dem gleichen Prinzip verfahren Ma 2000; Ober 1996; Petrey 1988. 120 Bertram, A., Der Fall Böhmermann. Eine Chronologie, online unter: http://www.ndr.de/kultur/ Der-Fall-Boehmermann-eine-Chronologie.boehmermann212.html, Abrufdatum: 04.02.2020. 121 Auf die schwache Aussagekraft der Testimonien verweist auch Itgenshorst 2014, 54–55.
Zusammenfassung Methodik
81
illokutionärer Akt immer in Abhängigkeit der Situation, in der der Sprecher sich befindet, vollzogen wird. Nur unter bestimmten außersprachlichen Umständen ergibt ein Sprechakt überhaupt Sinn.122 Dies betrifft auch die Rolle des Dichters und sein Verhältnis zu bzw. seine Stellung gegenüber seinen Zuhörern. Durch den perlokutionären Akt einer Sprechhandlung kann hingegen die Wirkung derselben beschrieben werden. Die Analyse des perlokutionären Aktes soll zeigen, welche Wirkung die Dichter mit ihrer Dichtung auf ihre Zuhörer ausgeübt haben (perlokutionäres Ziel) und welche Folgen der Gedichtvortrag nach sich gezogen haben mag (perlokutionäres Nachspiel). Zudem wurde im vorausgehenden Abschnitt detailliert ausgeführt, auf welche Weise die Analyse des illokutionären und des perlokutionären Aktes vollzogen werden kann. Folgende Analyseschritte müssen demnach für die Untersuchung einzelner Gedichte von Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis durchgeführt werden: 1. Eruierung des möglichen historischen und okkasionellen Kontextes Bevor die Illokutionen und Perlokutionen interpretiert werden können, muss der historische wie okkasionelle Kontext, in welchem die Dichtung vorgetragen wurde, eruiert werden. Ein Sprechakt ist nur dann bestimmbar, wenn die entsprechenden Handlungsbedingungen, unter welchen die Äußerung vollzogen wurde, bekannt sind. Für jeden Dichter geht der spezifischen Sprechaktanalyse deswegen ein Kapitel voraus, in dem die zu analysierenden Gedichte so weit wie möglich in ihren außerliterarischen Kontext eingeordnet werden. 2. Bestimmung der Illokution In einem nächsten Schritt sollen die Illokutionen innerhalb der Verse bestimmt werden. Die Erweiterungsprobe kann hier bei Bedarf helfen, die Illokution als Einheit zu identifizieren. Dabei können sowohl dominante als auch stützenden Illokutionen sichtbar werden, wobei der Fokus auf den dominanten Illokutionen liegt. Mit Hilfe der Illokutionsindikatoren (performatives Verb, Satz-Modus, Konjunktionen, Adverbien und Satzart) kann sodann analysiert werden, welcher illokutionäre Akt, also welche sprachliche Handlung, vollzogen wurde. Weisen die Illokutionsindikatoren auf eine andere illokutionäre Funktion hin als die eigentlich in Abhängigkeit des gegebenen Kontextes schlüssige, handelt es sich um einen indirekten Sprechakt. Ist der illokutionäre Akt auf diese Weise bestimmt (erforderlich für die Interpretation bleibt dabei natürlich immer der historische Kontext und die Vergegenwärtigung des Weltwissens der archaischen Sprecher und Hörer), wird er schlussendlich einer der fünf Searlschen Sprechaktklassen (Repräsentativa, Direktiva, Kommissiva,
122
Vgl. Franz 2014, 61.
82
Methode
Expressiva und Deklarationen) zugeordnet. Das methodische Vorgehen ist hier induktiv: Über die Identifizierung illokutionärer Einheiten wird unter Einbezug der Illokutionsindikatoren der kommunikative Zweck der Äußerung analysiert, die dann ihrer funktionalen Oberklasse (Sprechaktklasse) zugeordnet wird.123 3. Bestimmung der Perlokution In Abhängigkeit des illokutionären Zweckes kann das perlokutionäre Ziel der Illokution bestimmt werden. Hier können entsprechende Standard-Perlokutionen angenommen werden. Diese sind je nach illokutionärem Akt epistemisch, motivational, desiderativ, emotional oder deklarativ. Darüber hinaus soll das perlokutionäre Nachspiel – mit gebotener Vorsicht – unter Hinzunahme von Informationen über den Fortgang der Ereignisse in Form von historischen Zeugnissen rekonstruiert werden. Dabei wird nicht für jeden einzelnen Sprechakte ein potenzielles perlokutionäres Nachspiel rekonstruiert, da es sich hier nicht um einzelne Äußerungen bzw. Sprechakte, sondern um eine Sequenz von Sprechakten innerhalb eines Gedichtes handelt. Es wird daher im Anschluss an die Analyse der Illokutionen und der Standard-Perlokutionen eines Gedichtes untersucht, welches perlokutionäre Nachspiel durch die in dem Gedicht vollzogenen Sprechakte insgesamt möglicherweise hervorgerufen wurde. Nicht alle in diesem Kapitel angeführten Analyseschritte (etwa die Interpretation indirekter Sprechakte) werden dabei in der Analyse im Einzelnen noch einmal beschrieben. Vielmehr liegen sie der Interpretation implizit zugrunde. Grundsätzlich liegt der Fokus der Analyse auf dem illokutionären Akt. Die Sprechakttheorie bleibt eine sprecherorientierte Theorie.124 Wie mehrfach betont, muss die Bestimmung der Perlokution, vor allem, weil hier ein historischer Untersuchungsgegenstand analysiert wird, spekulativ bleiben. Ihr muss in der Untersuchung daher weniger Gewicht beigemessen werden.125
123 Vgl. den methodologischen Zirkel bei Staffeldt 2014, 112. 124 Vgl. Linke 2004, 218. 125 Auf diese Erkenntnisgrenze weist auch Itgenshorst 2014, 33 hin: „[ ] dass ein Autor sich mit seinen Vorstellungen über das gemeinschaftliche Zusammenleben tatsächlich bei seinen Zeitgenossen durchsetzen konnte [ist aber noch keineswegs gesagt], da in den Texten zunächst nur der Anspruch der Autoren zum Ausdruck kommt, von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Damit ist auf eine wichtige Grenze der Erkenntnismöglichkeit […] hingewiesen, denn hier wird zunächst lediglich die Seite der Autoren selbst, und zwar gerade in ihrer subjektiven Qualität beleuchtet“.
83
Zusammenfassung Methodik
Insgesamt erfolgt die Analyse insofern nach folgendem (vereinfachtem) Schema, beispielhaft an einem Vers des Kallinos dargestellt: Handlungsbedingungen
Äußerungsakt
Analysekriterien
Kontext: Drohende Gefahr der Kimmerier Aufführungsort: vermutl. Symposion Rolle des Dichters: unbekannt Verhältnis zu Zuhörern: unbekannt
Kallinos Fr. 1 D, V. 1: Mέχρις τεῦ κατάκεισθε; Übers. (Maehler/ Snell 1971): Wollt ihr noch lange so ruhn?
Erweiterungsprobe: – Illokutionsindikator: Fragesatz ➝ Relevanzmaxime verletzt ➝ indirekt
illok. Akt
Sprechaktklasse
indirekte Direktiv Illokution primär: Mahnung sekundär: Frage
Perlokution StandardPerlokution: motivational perl. Nachspiel: Schamgefühl? Ärger über Bevormundung? Handlungsabsicht? Handlungsverweigerung?
4 Kallinos von Ephesos Der Dichter Kallinos wird in der Forschung wiederholt mit Bezug auf antike Bezeugungen als der erste elegische Dichter und sogar als Erfinder der Elegie dargestellt.1 Die antiken Quellen datieren ihn in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. und sprechen zudem von einer Herkunft aus Ephesos an der kleinasiatischen Küste der Ägäis.2 Von Kallinos existieren ein längeres Fragment von 21 Versen (Fr. 1 D) und drei kürzere Fragmente von ein bis drei Versen. In dem 21 Verse langen Fr. 1 D ist ein deutlicher Polisbezug sichtbar, weswegen es in diese Untersuchung Eingang findet:3 Hier geht es um den Aufruf zur kämpferischen Verteidigung der Polis. Gemeinhin wird das Fragment deswegen als Kallinische Kampfparänese bezeichnet. In dem Gedicht, das sekundär bei Stobaios überliefert ist,4 ruft Kallinos seine Zuhörer zur Verteidigung der Stadt gegen von außen eindringende Feinde auf. Bei diesen Feinden handelt es sich, wie aus den Kallinischen Fr. 3 D und Fr. 4 D hervorgeht, vermutlich um Kimmerier und Trerer. Wahrscheinlich ist hiermit das kriegerische Reitervolk der Kimmerier gemeint, das im 7. Jh. v. Chr. mehrmals ins westliche Kleinasien einfiel.5 Bei Strabon heißt es in Bezug auf die Kimmerier: Und die Kimmerier oder einer ihrer Stämme, den man auch ‚Trerer‘ nennt, haben oft die rechte Seite des Pontos und die daran stoßenden Gegenden überrannt […]; ihr Anführer Lygdamis ist bis nach Ionien vorgestoßen, hat Sardes erobert und in Kilikien den Tod gefunden; und sowohl die Kimmerier als die Trerer haben solche Angriffszüge oft unternommen […].6 (Übers. Radt 2002)
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Vgl. Fränkel 1969, 170; Maehler/Snell 1971, 7. Strab. XIV, 1, 4; Strab. XIV, 1, 40; Athen. VII, 525 c. Aufgrund ihres Fragmentcharakters und ihrer Kürze können die anderen Kallinischen Fragmente für die Untersuchung nicht herangezogen werden. Latacz 1991, 154–155 weist auf die teleologische Zitierweise des Stobaios hin, der konkrete Angaben über die historische Situation in der Lücke ab V. 4 zum Opfer gefallen seien. Vgl. Müller 1999, 56. Strab. I, 3, 21: οἵ τε Κιμμέριοι ἢ ἐκείνων τι ἔθνος, οὓς καὶ Τρῆρας ὀνομάζουσιν, πολλάκις ἐπέδραμον τὰ δεξιὰ μέρη τοῦ Πόντου καὶ τὰ συνεχῆ […]. Λύγδαμις δὲ τοὺς αὐτοὺς ἄγων μέχρι Λυδίας καὶ
Fr. 1 D
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Weil sich Kallinos’ Gedichte auf eben jene Kimmeriereinfälle beziehen, wie im Folgenden noch ausführlicher dargestellt werden wird, kann der Dichter in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. datiert werden. Es lässt sich also vorerst festhalten, dass Kallinos der vielleicht erste bekannte elegische Dichter gewesen ist und in der Mitte des 7. Jh. v. Chr. in Ephesos lebte. Als Zeitzeuge erlebte er dabei die Einfälle der Kimmerier ins westliche Kleinasien, worauf sich seine uns erhaltene Dichtung bezieht. Bevor die Sprechaktanalyse des längsten und wichtigsten Fr. 1 D des Kallinos durchgeführt wird, muss das zu analysierende Gedicht jedoch erst in seinen historischen und möglichen okkasionellen Kontext eingeordnet werden. Für die Einordnung in seinen historischen Hintergrund wird versucht, die genaue Historie der Kimmeriereinfälle aus den antiken Quellen zu rekonstruieren, weil Fr. 1 D sehr wahrscheinlich in Abhängigkeit zu jenen Invasionen steht. 4.1 Fr. 1 D 4.1.1 Der außerliterarische Kontext In diesem kampfparänetischen Gedicht ermahnt Kallinos seine Zuhörer, zur Verteidigung der Heimatpolis Ephesos in den Krieg zu ziehen. In der Forschung wurde das Kallinische Fr. 1 D häufig mit der Feldherrenrede in der Ilias verglichen, da es dieser in Sprache und Gedanken ähnelt. Für das eigene Land einzutreten und die Familie vor den Feinden zu schützen, verlangte schon Hektor von den Trojanern in der Schlacht.7 Dass das Gedicht dabei an einen konkreten Anlass gebunden war, erfasste schon Meier: „Bereits die beiden ersten Distichen, mit denen der erhaltene Kallinostext einsetzt, dokumentieren durch ihre direkten, scharf anklagenden Fragen, in die mit ὦ νέοι (v. 2) auch die Anrede an das Publikum eingebunden ist, den unmittelbaren, rein situativen Charakter des Textes […].“8 Wie schon oben angeführt, bezieht sich das Gedicht dabei wahrscheinlich auf den Einfall der Kimmerier ins westliche Kleinasien in der Mitte des 7. Jh. v. Chr. Doch kann das Gedicht auch mit einem noch konkreteren Ereignis der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Kimmeriern und Ephesos in Zusammenhang gebracht werden? Um diese Frage zu beantworten, muss ein Blick auf die Historie der Kimmeriereinfälle geworfen werden. Über den Einfall der Kimmerier wissen wir vor allem von dem antiken Geschichtsschreiber und Geographen Strabon. Strabon scheint Zugang zu einer Reihe Kallinischer Gedichte gehabt zu haben und diese als historische Quelle für die Ereignisse um
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Ἰωνίας ἤλασε καὶ Σάρδεις εἷλεν, ἐν Κιλικίᾳ δὲ διεφθάρη∙ πολλάκις δὲ καὶ οἱ Κιμμέριοι καὶ οἱ Τρῆρες ἐποιήσαντο τὰς τοιαύτας ἐφόδους […]. Hom. Il. XV, 494–499; vgl. dazu auch Snell 1986, 165–166. Meier 1998, 310.
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die Kimmerierinvasion verwendet zu haben.9 So ist uns ein Kallinisches Fragment bei Strabon erhalten, in dem es heißt: Jetzt aber rücken heran Kimmerier-Horden, die gottlosen10 Strabon ergänzt zu diesem Zitat, dass Kallinos damit die Eroberung von Sardes benennt. Fraglich ist aber, auf welche Sardes-Eroberung Kallinos hier anspielt. Bei Strabon erfahren wir nämlich, dass Kallisthenes, der sich wiederum ebenfalls auf Kallinos beruft, davon ausgeht, dass die lydische Hauptstadt Sardes zweimal erobert worden sei, zuerst von den Kimmeriern, dann von den Trerern und Lykiern.11 Trerer erwähnt auch Kallinos: Trerier führt er an12 (Übers. Maehler/Snell 1971)
Tatsächlich wurde Sardes wahrscheinlich mindestens zweimal von den Kimmeriern angegriffen.13 Ein erster Angriff erfolgte wohl um 665 v. Chr. gegen den lydischen Herrscher Gyges. Dieser konnte die Kimmeriergefahr aber vorerst bannen, weil er sich, wie Högemann darstellt, schutzsuchend an den assyrischen König Assurbanipal wandte. Durch Unterwerfung und Tributzahlungen an diesen, gelang es Gyges mit Assurbanipals Hilfe, die Kimmerier vorerst abzuwehren.14 Weil Gyges jedoch das „Joch Assurbanipals“15 vorschnell abwarf, verstärkten die Kimmerier ihren Druck und konnten Sardes schließlich erobern. Im Zuge dessen fand Gyges um 644 v. Chr. einen grausamen Tod. Der Kimmerierangriff muss also um 644 v. Chr. erfolgt sein. Diese Ereignisse können den von Kallisthenes erwähnten ersten Angriff der Kimmerier gegen Sardes darstellen.16 Bredow glaubt, dass um 637 v. Chr. dann ein zweiter Angriff auf Sardes gegen Gyges’ Sohn und Nachfolger Ardys erfolgte,17 welcher schlussendlich zur Eroberung von Sar-
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Da Strabon andere Kallinische Verse zitiert als das hier untersuchte Fr. 1 D, sollen seine Ausführungen trotz der Gefahr des Zirkelschlusses als Hilfe zur Rekonstruktion des historischen Kontextes dienen. Fr. 3 D (= Strab. XIV, 1 40): νῦν δ’ ἐπὶ Κιμμερίων στρατὸς ἔρχεται ὀβριμοεργῶν Strab. XIII, 4, 8. Fr. 4 D: Τρήρεας ἄνδρας ἄγων Diese Ansicht wird aber auch hinterfragt. So warnt etwa Kroll 1919, Sp. 1652 davor, dass aufgrund der Verschiedenheit der Völkernamen bei Kallinos (Kimmerier und Trerier) fälschlicherweise auf zwei verschiedene Kriegszüge geschlossen werde. Vgl. Högemann 1998. Ebd., 17. So dargestellt bei Strab. XIV, 1, 40. Vgl. Bredow 1999, Sp. 459. Nach Lehmann-Haupt 1921, Sp. 415 geschah die Eroberung sieben Jahre nachdem Ardys Gyges auf den Thron folgte, also sieben Jahre nach Gyges Tod. Da Gyges um 644 v. Chr. starb und der zweite Kimmerierangriff sieben Jahre später erfolgte, scheint das Jahr 637 v. Chr. für den zweiten Kimmerierangriff plausibel. In der Forschung werden aber auch oft das Jahr 652 v. Chr. für die erste Eroberung und 645 v. Chr. für die zweite Eroberung angenommen. Für eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Todesjahr des Gyges vgl. Parker 1997, 66–67. Eine genaue Datierung ist letztlich aber nicht möglich und hat hier auch keine entscheidende Relevanz.
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des führte. Bredow zieht in Erwägung, dass die Kimmerier bei diesem Angriff möglicherweise mit den Lykiern und den Trerern verbündet gewesen waren.18 Diese These würde Kallisthenes Beschreibung entsprechen, der ja von einem zweiten Angriff auf Sardes durch Lykier und Trerer berichtet (allerdings kann hier keine klare Unterscheidung zwischen Kimmeriern und Trerern gemacht werden, da Strabon sagt, dass die Trerer ein kimmerischer Stamm seien). Über den zweiten Angriff dieses kimmerischen Stammes gegen Ardys erfahren wir bei Herodot: Während er (Ardys, Anm. AvdD) über Sardes herrschte, kamen die Kimmerier nach Asien und nahmen Sardes mit Ausnahme der Burg.19 (Übers. Feix 1980)
Binnen weniger Jahre wurde Sardes demnach zweimal von den Kimmeriern (bzw. kimmerischen Stämmen) angegriffen. Die Darstellung bei Strabon scheint dies zu bestätigen, da er von zwei verschiedenen Angriffen spricht: Einer älteren Invasion, die Kallinos erwähnt (Fr. 3 D) sowie einem anderen Angriff durch die Trerer (der demzufolge später war). Bei diesem zweiten Angriff seien die Magneten ganz und gar vernichtet worden. Dass Strabon hier von Magneten, also Bürgern der Stadt Magnesia am Mäander, spricht und nicht von Sardes, ist irritierend. Erklärt werden kann dies aber aus der Wesensart solcher Invasionen, wie Lehmann-Haupt schlüssig erklärt: Daß die K. (Kimmerier, Anm. AvdD.) nicht bei Sardes Halt machten, sondern bis zur Meeresküste vordrangen, müßte aus dem Wesen derartiger stürmischer Bewegungen erschlossen werden, wenn wir es nicht durch ausgiebige Zeugnisse wüßten. Daß die Griechenstädte am Ägäischen Meere und an der Propontis von ihnen zu leiden hatten und daß sie dort mit den stammverwandten […], von Westen über die Meerenge gekommenen Treren zusammentrafen, ergibt sich u. a. aus Kallinos: νῦν δ’ ἐπὶ Κιμμερίων στρατὸς ἔρχεται ὀβριμοεργῶν und Τρήρεας ἄνδρας ἄγων.20
Der Epheser Kallinos war also von den Angriffen der Kimmerier, die sich gegen die Hauptstadt Sardes, aber auch gegen das Hinterland bis zur Küste, richteten, mitbetroffen. Dass Kallinos in Fr. 1 D seine Mitbürger zur Verteidigung der Stadt aufruft, weil überall im Lande der Krieg wüte (V. 4), bestätigt diese Annahme.21
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Vgl. Lehmann-Haupt 1921, Sp. 415. Hdt. I, 15: […] ἐπὶ τούτου τε τυραννεύοντος Σαρδίων Κιμμέριοι ἐξ ἠθέων ὑπὸ Σκυθέων τῶν νομάδων ἐξαναστάντες ἀπίκοντο ἐς τὴν Ἀσίην καὶΣάρδις πλὴν τῆς ἀκροπόλιος εἷλον. Lehmann-Haupt 1921, Sp. 419. Aus dem gleichen Grund scheint es unwahrscheinlich, dass sich Kallinos mit Fr. 1 D auf den innergriechischen Krieg gegen Magnesia bezieht, den Strabon ebenfalls erwähnt (Strab. XIV, 1, 40). In der Forschung wird dies aber an einigen Stellen in Erwägung gezogen, vgl. etwa Gerber 1997b, 99–101; Kroll 1919. Gleichzeitig erwuchs in Bezug auf diese innergriechische Auseinandersetzung in der Forschung die Frage, ob Kallinos älter oder jünger als Archilochos gewesen ist. Weil Strabon schreibt, dass Kallinos die Magneten noch als vom Glück begünstigt kennt, Archilochos hingegen
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Kallinos von Ephesos
Tatsächlich gibt es auch konkrete Hinweise auf einen Angriff der Kimmerier gegen Ephesos: Unter dem kimmerischen König Lygdamis und verbündeten Trerern soll Ephesos angegriffen und das Heiligtum der Artemis niedergebrannt und geplündert worden sein.22 In Fr. 2 D, das ebenfalls bei Strabon überliefert ist, bittet Kallinos Zeus um Gnade für die Stadt Smyrna (womit nach Strabon Ephesos gemeint ist): … zeige den Smyrnern Erbarmen … Denke daran, wenn je prächtige Schenkel des Stiers ‚Dir die Smyrner verbrennen‘23 (Übers. Maehler/Snell 1971)
Karwiese rechnet den Angriff auf Ephesos durch Lygdamis und die Trerer dem zweiten Eroberungszug der Kimmerier zu, durch welchen Sardes unter Ardys erobert worden war. Er nimmt an, dass die Kimmerier, nachdem sie in Sardes waren, in das Kaystrotal weiterzogen, wo sie von den im Artemision deponierten Reichtümern angelockt wurden.24 Festgehalten werden kann also, dass es einen Angriff auf Ephesos unter Lygdamis gab, der wohl im Zuge der zweiten Sardes-Eroberung gegen Ardys passierte, also kurz nach 637 v. Chr. Eine genaue zeitliche Festlegung ist zwar nicht möglich, jedoch muss der Angriff gegen Ephesos nach der Eroberung von Sardes stattgefunden haben, da der Raubzug der Kimmerier von Ost nach West verlief. Es ist plausibel, dass Strabon diese zweite Invasion der Kimmerier meint, wenn er von einem Angriff der Trerer gegen die Stadt Magnesia spricht.25 Dieser geschah vermutlich, wie oben dargelegt, im Zuge der zweiten Eroberung von Sardes, bei welcher auch die Küstenstädte hinter Sardes, wie Magnesia und eben auch Ephesos, angegriffen wurden. All diese Informationen erlauben es uns abschließend, die Kallinische Elegie in ihren historischen Kontext einzuordnen: Kallinos hat den Einfall der nordischen Kimmerier und Trerer als Zeitgenosse miterlebt. Die 21 Verse lange Elegie Fr. 1 D bezieht sich dabei wahrscheinlich auf eine Situation kurz vor dem Angriff auf Ephesos unter Lygdamis im Zuge der zweiten Sardes-Eroberung durch die Kimmerier um 637 v. Chr. Für die Sprechaktanalyse des Kallinischen Fragmentes ist es darüber hinaus wichtig, sich auch die potenzielle Gelegenheit, bei der Kallinos auftrat, sowie das Publikum, für welches er dichtete, soweit wie möglich zu gegenwärtigen. In der Forschung wird fast übereinstimmend davon ausgegangen, dass Kallinos im Symposion aufgetreten ist. Dies liegt einerseits daran, dass die Elegie (oft in Begleitung eines Aulos), wie ein-
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schon das Unglück der Magneten beweint, wird weithin angenommen, Kallinos sei älter gewesen als Archilochos. Vgl. Petrovic 2007, 211. Fr. 2 D (= Strab. XIV, 1, 14): Σμυρναίους δ’ ἐλέησον / … / μνῆσαι δ’ εἴ κοτέ τοι μηρία καλὰ βοῶν / ‚Σμυρναῖοι κατέκηαν‘ Vgl. Karwiese 1995, 29. Strab. XIV, 1, 40.
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gangs dargelegt, eine gängige Form der Dichtung im Symposion war.26 Andererseits veranlasst Kallinos’ Vorwurf: „Wollt ihr noch lange so ruhn? […]“27 – und dabei insbesondere die Verwendung des Verbes κατάκεισθε – dazu, von einem sympotischen Kontext auszugehen, da die Männer im Symposion oft liegende Positionen einnahmen: „It seems probable in view of the opening κατάκεισθε that Callinus sang these verses at a symposium, the occasion on which so much elegiac poetry was delivered.“28 West und Bowie nehmen dies ebenfalls an29 und verweisen dabei auf Reitzenstein, der schon 1893 befand: „Für ein Gelage passt der gewaltige Eingang des ersten Fragments des Kallinos μέχρις τεῦ κατάκεισθε“30 Bowie legt dabei gleichsam dar, warum dieser kampfparänetische Text nicht, wie auch vermutet werden könnte, in einem militärischen Kontext aufgeführt worden sein kann: „If we postulate a sort of parade-ground context, where the Ephesians of military age have gathered to receive exhortations and battle-orders, the term κατάκεισθε in the sense ‚lie idle‘ is inappropriate, insulting, and likely to be counter-productive.“31 Es soll hier insofern vorerst davon ausgegangen werden, dass die Gelegenheit, bei der Kallinos auftrat, wahrscheinlich das Symposion war. In diesem Kontext ruft er in Fr. 1 D zur Verteidigung von Ephesos gegen die Kimmerier auf, die schon das Land ringsum bekriegen. Für ein vollständiges Verständnis der Aufführungssituation bleibt zuletzt zu fragen, an wen genau Kallinos seine Verse im Symposion richtete. Einen ersten Hinweis auf die Adressaten erhalten wir aus dem Fragment selbst: Kallinos spricht seine Zuhörer mit den Worten ὦ νέοι (Fr. 1 D, V. 2) an. Wer sind diese jungen Männer? Leimbach geht davon aus, dass sich Kallinos an eine Gruppe von Männern wandte, die keine Jungmannschaft mehr waren. Diesen Schluss zieht er, weil V. 7 des Gedichtes davon handelt, für Weib und Kinder zu kämpfen.32 Adkins glaubt aufgrund der betonten Ansprache der νέοι hingegen, dass es sich um junge Krieger handelte, die im Kampf in vorderster Linie stehen und deswegen besonders wichtig für den Kampf gewesen seien. Kämpften sie nicht, so müssten die weniger effektiven, älteren Krieger kämpfen. Deswegen sei es wichtig, die Jungen zum Kampf aufzurufen (ein ähnlicher Zweck sei auch in der Ansprache an die νέοι in Tyrtaios in Fr. 7 D erkennbar).33 Müller glaubt wiederum, dass es sich bei den Adressaten um Bürger und nicht um berufsmä26 27 28 29 30
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Vgl. Bowie 1990, 221; Irwin 2005, 32–33. Fr. 1 D, V. 1: Mέχρις τεῦ κατάκεισθε; […] Gerber 1997b, 100. Vgl. West 1974, 11; Bowie 1990, 223. Reitzenstein 1893, 50. An mancher Stelle wurde jedoch die Frage aufgeworfen, ob mit κατάκεισθε nicht eher eine metaphorische Übersetzung im Sinne von müßiggehen gemeint sein könnte. Tedeschi 1978, 203 verweist jedoch darauf, dass erst seit Xenophon eine metaphorische Übersetzung bekannt ist und dass ein früherer Gebrauch von κατάκεισθε, so wie bei Kallinos, deswegen wortwörtlich verstanden werden müsse. Bowie 1990, 223. Vgl. Leimbach 1978, 269–270. Vgl. Adkins 1985, 58.
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ßige Krieger handele. Offensichtlich herrschte in Ephesos ein Gemeinweisen, welches sich im Kriegsfall selbst verteidigen musste. Die angesprochenen Männer müssen aber noch für den Kampf gewonnen werden, weil sie sich vor der Schlacht fürchten und ihnen der Gedanke an Kampf und Tod von Haus aus fernliege.34 Ähnlich denkt West, der prägnant formuliert: „The men addressed by Callinus are not at all prepared for the struggle.“35 Wer genau die angesprochenen νέοι gewesen sein können, kann also nicht eindeutig determiniert werden. Über die Analyse der Sprechakte soll jedoch versucht werden, sich historischer Situation, Ort und Publikum zu nähern. Zuletzt soll noch erwähnt werden, dass davon auszugehen ist, dass es sich bei Kallinos um einen Bürger der Oberschicht handelte. Der Einfluss Homers in Inhalt und Sprache lässt vermuten, dass sowohl Kallinos als auch seine Zuhörer mit der homerischen Epik vertraut waren.36 Dies deutet auf einen höheren Bildungsgrad hin und stärkt die These, dass Kallinos sich im Kreise der Oberschicht bewegte und dieser vermutlich, wie viele der archaischen Lyriker, selbst angehörte.37 4.1.2 Analyse der Sprechakte Laut Leimbach besteht das Ziel einer Kampfparänese darin, „entweder mangelnde Kampfbereitschaft aufzuheben oder bestehende Kampfbereitschaft zu verstärken. Dieses Ziel wird durch Argumente und Appelle zu erreichen versucht.“38 Wie genau Kallinos mit seiner Elegie sprachlich handelnd in die Situation kurz vor dem Angriff der Kimmerier eingriff und welche Wirkung seine Sprechakte erzielt haben können, soll im Folgenden analysiert werden. Kallinos’ Kampfparänese ist bei Stobaios überliefert: Stob. IV 10. = Kallinos Fr. 1 D39 1 Mέχρις τεῦ κατάκεισθε; κότ’ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν, ὦ νέοι; οὐδ’ αἰδεῖσθ’ ἀμφιπερικτίονας
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Vgl. Müller 1999, 58. Ähnlich Matsen 1973, 57: „These are not cowards, men who have run away from battle in order to avoid death, but reluctant men, who are indirectly avoiding death by avoiding battle. “ West 1974, 11. Vgl. Bagordo 2011, 159. Zum Zusammenhang zwischen Homerrezeption und dem Entstehungsprozess der Polis in der Früharchaik vgl. neuerdings Hübner 2019. Für einen Bezug zu Kallinos Fr. 1 D vgl. ebd., 64–76. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach einer Anlehnung der Kallinischen Verse an das Epos vgl. Leimbach 1978, 266 mit Anm. 2. Vgl. Stein-Hölkeskamp 1989, 12; Hübner 2019, 89–91. Leimbach 1978, 266. Die Kallinischen Verse sind hier und im Folgenden zitiert nach Diehl 1936. Die Übersetzung stammt von Maehler/Snell 1971. Textkritische Anmerkungen und abweichende Deutungen werden von der Verfasserin an entsprechender Stelle diskutiert.
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ὧδε λίην μεθιέντες; ἐν εἰρήνηι δὲ δοκεῖτε ἧσθαι, ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει. * 5 καί τις ἀποθνήσκων ὕστατ’ ἀκοντισάτω τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ’ ἀλόχου δυσμενέσιν∙ θάνατος δὲ τότ’ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ Μοῖραι ἐπικλώσωσ’. ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω 10 ἔγχος ἀνασχόμενος καὶ ὑπ’ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ ἔλσας, τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου. οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν ἄνδρ’, οὐδ’ εἰ προγόνων ἦι γένος ἀθανάτων. πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων 15 ἔρχεται, ἐν δ’ οἴκωι μοῖρα κίχεν θανάτου. ἀλλ’ ὅ μὲν οὐκ ἔμπης δήμωι φίλος οὐδὲ ποθεινός· τὸν δ’ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθῃ· λαῷ γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς θνῄσκοντος, ζώων δ’ ἄξιος ἡμιθέων· 20 ὥσπερ γάρ μιν πύργον ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν· ἔρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών. 1 Wollt ihr noch lange so ruhn? Wann fasst ihr den Mut, euch zu wehren Jünglinge? Schämt ihr euch nicht vor den Bewohnern ringsum, Daß ihr so müßig geht? Euch dünkt, ihr könntet Frieden Haben, doch überall wütet im Lande der Krieg. * 5 Sterbend, ein letztes Mal schleudre noch jeder den Speer! Glorreich ist es und herrliche Tat dem Manne, zu schützen Heimat, Kinder und Weib, tapfer zu streiten im Kampf Gegen den Feind. Der Tod aber naht nur so, wie die Moiren Spinnen den Faden für ihn. Schreite denn jeder voran 10 Mit erhobenen Speer, das mutige Herz an den Schildrand Drückend, sobald die Schlacht wild durcheinander gerät. Keinem Sterblichen ist es vergönnt, dem Tod zu entrinnen, Selbst nicht ihm, der dem Stamm göttlicher Ahnen entsproß. Oft ist einer, der Schlacht und dem Krachen der Speere entronnen, 15 Glücklich nach Hause gekehrt; dort aber trifft ihn der Tod. Dennoch weckt er im Volk nicht Liebe, weckt auch kein Sehnen. Jenen beweint, wenn er fällt, jeder, ob klein oder groß. Sehnend gedenkt die Gemeinde des Sterbebereiten, des Helden, Ehrt einem Halbgott gleich freudig ihn, da er noch lebt.
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Mächtig, ein Bollwerk, ragt er empor vor den Augen der Seinen: Was die gemeinsame Tat leistet, vollbringt er allein.
Fr. 1 D beginnt40 mit den Worten: Wollt ihr noch lange so ruhn? Wann fasst ihr den Mut, euch zu wehren, Jünglinge? […]41 (V. 1–2)
Auf sprachlicher Oberfläche stellt Kallinos den νέοι mit diesen Versen zwei Fragen: Ob sie noch lange so ruhen wollten und wann sie den Mut ergreifen würden, sich zu wehren. Aufgrund der konkreten Situation, in der Kallinos und seine Zuhörer sich befinden, eine Situation nämlich, in der ein Angriff der Kimmerier unmittelbar bevor zu stehen scheint, ist jedoch klar, dass Kallinos hier keine Antworten auf die Fragen erhalten möchte, sondern vielmehr zwei illokutionäre Akte der Mahnung vollzieht. Kallinos will, dass die Männer ihr Nichtstun endlich aufgeben. Mahnungen sind nach Harras Sprechakte, die jemanden dazu auffordern, etwas zu tun, das zu seinen Pflichten gehört.42 Dieser Verpflichtung sind die νέοι offenbar bisher noch nicht nachgekommen. Illokutive Akte der Mahnung gehören in die Sprechaktklasse der Direktiva, deren illokutionärer Zweck darin besteht, den Hörer dazu zu bewegen, eine bestimmte Handlung auszuführen. Kallinos weist seine Mitbürger hier also auf indirekte Weise an, sich endlich, nachdem sie so lange fahrlässig geruht haben, zur Wehr zu setzten. Der indirekte Sprechakt der Mahnung ist demnach eine Handlungsanweisung. Die Standard-Perlokution ist motivational. Schon bei Homer lassen sich übrigens ähnliche Muster (hier allerdings in Bezug auf den Tadel) zur Motivation des Kampfgeistes erkennen, wie Minchin darstellt: „A rebuke will often serve the purpose of challenge, or a rallying cry, when the speaker condemns, for example, a lack of fighting spirit.“43 Entscheidend ist, dass Kallinos die Männer dazu bewegen möchte, zur Tat zu schreiten. Die Mahnung, dass die Jünglinge den Mut fassen sollen, sich zu wehren, ist hier das Hauptanliegen der Verse und deswegen die dominante Illokution. Um dieses Ziel, die Männer zum Widerstand zu bewegen, zu erreichen, fügt Kallinos an: […] Schämt ihr euch nicht vor den Bewohnern ringsum, Daß ihr so müßig geht? […]44 (V. 2–3)
Auch hier handelt es sich um einen Sprechakt der Mahnung, der indirekt ist, weil er wie eine Frage daherkommt. Das einleitende οὐδέ macht hier ganz deutlich, dass nicht das
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Adkins 1985, 57 spricht sich dafür aus, dass dies tatsächlich der Anfang des Gedichtes ist. Fr. 1 D, V. 1–2: Mέχρις τεῦ κατάκεισθε; κότ’ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν, / ὦ νέοι; […] Vgl. Harras 2004, 134. Schon Snell 1969, 11 hat erkannt, dass die hier von Kallinos gestellte Frage κότ’ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν; in der 2. Ps. Pl. „so gut wie ein Imperativ“ sei. Minchin 2002, 74–75 in Bezug auf Hom. Il. XV, 502–513. Fr. 1 D, V. 2–3: […] οὐδ’ αἰδεῖσθ’ ἀμφιπερικτίονας / ὧδε λίην μεθιέντες; […]
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Ziel verfolgt wird, eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob die Jünglinge sich aufgrund ihres Müßigganges vor den Bewohnern ringsum schämen, sondern es sich hier vielmehr um eine rhetorische Frage handelt. Die Antwort ist klar: Die Männer sollten sich schämen, weil sie immer noch nicht in den Kampf gezogen sind. Wen genau Kallinos mit den Bewohnern ringsum, die ἀμφιπερικτίονες, meint, kann nicht bestimmt werden. Für die Analyse der Sprechakte ist hier aber entscheidend, dass Kallinos eben jene umliegenden Bewohner den Jünglingen gegenüberstellt und klarmacht, dass die Jünglinge gegenüber diesen in der Pflicht stehen. Kallinos verfolgt also auch hier das primäre kommunikative Ziel, die Männer zum Eintritt in den Krieg zu bewegen. Der illokutionäre Akt der Mahnung innerhalb dieser Verse ist deswegen der vorausgegangenen Mahnung, dass die Jünglinge sich wehren sollen, subordiniert. Wie mit Hilfe der Erweiterungsprobe sichtbar geworden ist, findet sich in der Äußerung auch ein illokutionärer Akt der Information: Kallinos gibt seinen Zuhörern nämlich auch implizit zu verstehen, dass sich die umliegenden Bewohner schon im Krieg befinden. Die Information dient dabei aber im Wesentlichen der Stärkung der dominierenden Sprechakte der Mahnung. Die Kritik am faulen Verhalten der Angesprochenen und die darauffolgende Gegenüberstellung des ehrenhaften Kämpfens der umliegenden Griechen dient dazu, die Jünglinge in die Pflicht zu nehmen (was der Kern des Sprechaktes der Mahnung ist). Leimbach konstatiert diesbezüglich, dass es ein gängiges Motiv kampfparänetischer Texte sei, die verpflichtende Kraft von Normen, ob kampftechnischer oder sittlicher Natur, zu benutzen. Dies sei eine bestimmte Form der Motivation, die „auf dem Glauben an Verpflichtungen, die das Kämpfen oder eine bestimmte Art des Kämpfens unabhängig vom Erfolg oder der Absehbarkeit des Erfolges vorschreiben […], beruht.“45 Kallinos weist auf eine solche Verpflichtung hin, wenn er davon spricht, dass sich die Bewohner ringsum schon im Krieg befänden. Aufgrund dieser sittlichen Verpflichtung den Nachbarn gegenüber, beabsichtigt der Dichter, bei seinen Zuhörern Scham und Schuld zu erzeugen – eben jene Gefühle, die die Männer dazu treiben sollen, in den Krieg zu ziehen.46 Mit den nun folgenden Versen beginnt ein neuer Gedankenabschnitt: […] Euch dünkt, ihr könntet Frieden Haben, doch überall wütet im Lande der Krieg.47 (V. 3–4)
In Vers 3 beginnt Kallinos mit einem illokutionären Akt der Behauptung. Er behauptet, dass die angesprochenen Epheser tatsächlich meinen, sie könnten Frieden haben.48
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Leimbach 1978, 267. Zum Scham-Motiv bei Kallinos und Tyrtaios vgl. Wißmann 1997. Fr. 1 D, V. 3–4: […] ἐν εἰρήνηι δὲ δοκεῖτε / ἧσθαι, ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει. Die Verbform ἧσθαι (V. 4) in ihrer wörtlichen Übersetzung „untätig herumsitzen“ unterstützt noch einmal die vorausgegangene Deutung des Sprechaktes der Mahnung, dass die angesprochenen Epheser gegenüber den umliegenden Bewohnern ihrer Pflicht nicht nachkommen.
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Gleich darauf macht er diese Hoffnung jedoch zunichte, wenn er ebenfalls behauptet, dass im ganzen Land bereits der Krieg wütet. Dabei geht die Intention des Kallinos’ hier jedoch, anders als im vorausgegangenen Vers, über die Behauptung, dass bereits überall der Krieg ausgebrochen sei, hinaus. Primärer illokutionärer Akt in V. 4 ist vielmehr die Warnung davor, dass der Krieg bald auch Ephesos erreichen werde. Das Adverb ἅπασαν, mit dem Kallios hervorhebt, dass auch die Epheser nicht vom Krieg verschont bleiben werden, verstärkt den kommunikativen Zweck der Äußerung. Warnungen gehören in die Sprechaktklasse der Repräsentativa. Die Wirkung ist epsitemisch, was bedeutet, dass Kallinos mit seiner Warnung Wahrheit beansprucht und dafür verantwortlich ist, wenn seine Zuhörer seinen Worten glauben.49 In dem hier vorliegenden Fall möchte Kallinos eben dies mit der Warnung bewirken: Die Symposiasten sollen realisieren, dass ihnen ein Krieg gegen die Kimmerier bevorsteht. Gleichzeit haben Warnungen, die sich stets auf etwas Zukünftiges beziehen, auch direktiven, also handlungsanweisenden Charakter, weil sie das zukünftige Verhalten der Angesprochenen beeinflussen wollen.50 Die Warnung davor, dass bald auch in Ephesos Krieg herrschen wird, soll Gefühle der Angst auslösen, was die Zuhörer ängstigen und sie somit aus ihrem lethargischen Zustand wachrütteln und zum Kämpfen animieren soll. Auf die ersten vier Verse folgt nun eine Lücke im Fragment. Wie groß diese Lücke ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen.51 Jedoch schließt sich thematisch ein Wechsel an: Hatte der erste Teil des Gedichtes noch einen stark vorwurfsvollen und exhortativen Charakter, in welchem Mahnungen und Warnungen dominierten, folgen im zweiten Abschnitt nun klarere Aufforderungen zum Kampf: Sterbend, ein letztes Mal schleudre noch jeder den Speer!52 (V. 5)
Der Imperativ ἀκοντισάτω ist Illokutionsindikator für den hier vollzogenen Sprechakt und zeigt deutlich an, welchen kommunikativen Zweck der Vers hat: Eine Aufforderung zum Kampf. Dabei betont Kallinos mit der Aufforderung, dass der Kämper selbst im Angesicht des Todes noch ein letztes Mal den Speer schleudern soll, dass die Verteidigung der Polis wichtiger ist als das eigene, einzelne Leben. Das kampfparänetische Motiv des Sterbens für die Heimat findet sich auch bei Homer und Tyrtaios.53 Müller resümiert diesbezüglich, „[…] daß der Ursprungsort der Rühmung des Todes für das Gemeinwesen die griechische Polis des siebten Jahrhunderts war und daß der Tod für das Gemeinwesen nie enthusiastischer gefeiert wor-
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Vgl. Staffeldt 2007, 291. Vgl. Harras 2004, 94. Vgl. Leimbach 1978, 268, Anm. 7; Adkins 1985, 58. Vgl. auch Latacz 1977, 229 mit Anm. 11. Fr. 1 D, V. 5: καί τις ἀποθνήσκων ὕστατ’ ἀκοντισάτω. Hom. Il. XV, 496–487 und 661–667. Allerdings erkennt Leimbach 1978, 272, dass die Rettung Trojas nicht das einzige und wichtigste Motiv Hektors ist. Vgl. auch Tyrtaios Fr. 6 D.
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den ist als in den griechischen Stadtstaaten der archaischen und klassischen Zeit.“54 Bei Kallinos geht es aber nicht nur um die Rühmung des Todes oder die objektive Beschreibung heroischer Taten, sondern auch um eine ganz konkrete Handlungsanweisung an die vor ihm ruhenden Männer. Der Imperativ zeugt von dieser direkten Ansprache und veranschaulicht an dieser Stelle den performativen Charakter der Sprache. Die Standard-Perlokution der Aufforderung ist motivational. Um diese Absicht, sich nämlich für die Heimatpolis in den Kampf zu begeben, zu stärken, fügt Kallinos die folgenden Versen an: Glorreich ist es und herrliche Tat dem Manne, zu schützen Heimat, Kinder und Weib, tapfer zu streiten im Kampf Gegen den Feind […]55 (V. 6–8)
Hier behauptet Kallinos, dass die Heimat zu schützen glorreich und herrlich sei. Er will dabei ganz bewusst den Glauben daran, die kognitive Überzeugung, auslösen, dass einer, der tapfer gegen den Feind kämpft und Heimat, Kinder und Weib schützt, eine Tat vollbringt, die τιμῆεν und ἀγλαόν ist.56 Weil Kallinos im vorausgegangenen V. 5 bereits zum Kampf aufgerufen hat und weil die Situation, in der sich die Epheser aufgrund der herannahenden Kimmerier befinden, äußerst bedrohlich ist, ist davon auszugehen, dass das kommunikative Ziel der Äußerung hier ebenfalls über den Vollzug einer einfachen Behauptungen hinausgeht. Vielmehr kann die Äußerung hier deswegen ebenfalls als ein indirekter Sprechakt der Aufforderung, nämlich der Aufforderung, tapfer im Kampf zu streiten, gelesen werden. Nachdem der Dichter in den letzten Versen versucht hat, dieses Ziel durch motivierende Äußerungen zu erreichen, geht er nun dazu über, ein bedrohlicheres Szenario heraufzubeschwören:57 […] Der Tod aber naht nur so, wie die Moiren Spinnen den Faden für ihn […]58 (V. 8–9)
Der Vers beginnt mit der Behauptung, dass der Tod ein vom Schicksal bestimmtes Ereignis ist. Mit dem Bild der den Tod spinnenden Moiren, der antiken Personifikation des Schicksals, drückt Kallinos dabei aus, dass niemand Einfluss auf das Ende seines
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Müller 1999, 55. Fr. 1 D, V. 6–8: τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι / γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ’ ἀλόχου / δυσμενέσιν∙ […] Fränkel 1969, 171–172 hebt hervor, dass der Schutz der Heimat und Familie als moralisches Motiv nur einmal erwähnt wird, wohingegen der Ruhm und die Ehre bzw. die Verurteilung und Gleichgültigkeit, mit der die Umwelt auf das Verhalten der Männer reagiere (Kallinos kommt im Verlauf des Gedichtes darauf zu sprechen) wiederholt betont werde. Leimbach 1978, 276 spricht diesbezüglich von „sanktionsorientierter“ Motivation einerseits (V. 14–15) und „chancenorientierter“ Motivation andererseits (V. 6–8 und V. 17–19). Fr. 1 D, V. 8–11: […] θάνατος δὲ τότ’ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ / Μοῖραι ἐπικλώσωσ’.
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Lebens nehmen kann, sondern dieses vom Schicksal bestimmt ist. Die Behauptung des Kallinos wiegt auch deswegen schwer, da sie, wie Snell betont, homerisches Gedankengut in sich trägt: Schon Hektor war sich der Unentrinnbarkeit des Todes bewusst.59 Mit der Behauptung, die in die Sprechaktklasse der Repräsentativa gehört, erhebt Kallinos Wahrheitsanspruch. Er möchte, dass seine Zuhörer zu der Überzeugung gelangen, dass der Zeitpunkt ihres Todes ohnehin vom Schicksal bestimmt ist und es aufgrund dieser Tatsache keinen Grund dafür gibt, nicht in den Kampf zu ziehen. Dies nämlich bleibt auch hier das Hauptanliegen des Versabschnittes, wie die darauffolgenden Verse, die mit der obigen Äußerung in einem kausalen Sinnzusammenhang stehen, deutliche aufzeigen: […] Schreite denn jeder voran Mit erhobenen Speer, das mutige Herz an den Schildrand Drückend, sobald die Schlacht wild durcheinander gerät.60 (V. 9–11)
In diesen Versen wird Kallinos’ Anliegen ganz deutlich: Er vollzieht Sprechakte der Aufforderung. Er fordert dazu auf, voranzuschreiten, wenn die Schlacht erst einmal begonnen hat. Der Sprechakt der Aufforderung ist dabei direkt. Die Verbform ἴτω im Imperativ ist hier klarer Illokutionsindikator für den direktiven Sprechakt. Dabei fordert Kallinos gleichsam dazu auf, den Speer zu erheben und den Schild nah am Körper zu tragen. Zudem fordert er die Zuhörer dazu auf, mutig sein (ἄλκιμος ἦτορ). Interessant ist, dass Kallinos das Moment der Todesgefahr im Kampf herabsetzt, denn die Kampfesmotivation gründet, wie Meier treffend darstellt, in der Aussicht, den Kampf vielleicht überleben zu können, da der Tod ja ein vom Schicksal bestimmtes Ereignis ist und der Kampf insofern nicht gefürchtet werden muss.61 Um diese Argumentation zu stützen, stellt Kallinos in den folgenden Versen noch einmal die Behauptung auf, dass der Tod eines jeden, selbst wenn er göttlicher Abstammung ist, vom Schicksal bestimmt ist und man diesem auch nicht entrinnen kann, selbst wenn man den Kampf übersteht: Keinem Sterblichen ist es vergönnt, dem Tod zu entrinnen, Selbst nicht ihm, der dem Stamm göttlicher Ahnen entsproß.62 (V. 12–13)
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Hom. Il. VI, 486–489. Vgl. Snell 1986, 165–166. Anders Krischer 1979, 368, der davon ausgeht, dass Kallinos diese Homerstelle nicht vor Augen hatte. Insgesamt herrscht jedoch Übereinstimmung darüber, dass Kallinos’ Vokabular homerisch war, vgl. etwa Adkins 985, 65; Wißmann 1997, 83; Fränkel 1969, 172. Vgl. zum Homerischen bei Kallinos neuerdings auch Hübner 2019, wie Anm. 36. Fr. 1 D, V. 9–11: […] ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω / ἔγχος ἀνασχόμενος καὶ ὑπ’ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ / ἔλσας, τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου. Vgl. Meier 1998, 311. Fr. 1 D, V. 12–13: οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν / ἄνδρ’, οὐδ’ εἰ προγόνων ἦι γένος ἀθανάτων.
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Schlussendlich will Kallinos hier also, wie schon in den V. 8–9, die Einsicht bei seinen Zuhörern erreichen, dass die Vermeidung des Krieges in Bezug auf das Sterben keine Vorteile mit sich bringt. Die Sprechakte der Behauptung stützen demnach Kallinos’ Hauptanliegen, nämlich die Aufforderung, die Heimatstadt gegen die Kimmerier zu verteidigen.63 Nachdem Kallinos bis hierher also klargestellt hat, dass ohnehin jeder Mensch eines Tages an einem vom Schicksal vorbestimmten Zeitpunkt sterben wird, verdeutlicht er in den folgenden Versen, warum jeder Soldat bis zum Tode für die Heimatpolis kämpfen sollte:64 Oft ist einer, der Schlacht und dem Krachen der Speere entronnen, Glücklich nach Hause gekehrt; dort aber trifft ihn der Tod. Dennoch weckt er im Volk nicht Liebe, weckt auch kein Sehnen.65 (V. 14–16)
Auch in diesen Versen finden sich wieder verschiedene Behauptungen: Kallinos behauptet, dass es schon oft vorgekommen sei, dass jemand der Schlacht entflohen ist,66 63
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Spoerri 1972, 66–67 findet, dass Kallinos sich in seiner Argumentation in Bezug auf den Tod selbst widerspricht und führt dies aus, indem er anführt, dass Kallinos in V. 8–9 noch davor warnt, dass der Tod zu einer vom Schicksal bestimmten Zeit eintreffe, egal ob er in der Schlacht ausharrt oder davonläuft. In V. 15 wiederum kann sich einer vorerst dem Tod entziehen, doch wird auch er eines Tages sowieso sterben. Es kann jedoch Fränkel 1969, 171 zugestimmt werden, dass die Folgerung, die aus den sich nur vermeintlich widersprechenden Argumenten gezogen wird, die gleiche ist. Latacz 1977, 229–230, Anm. 11 geht von einer Lacuna nach V. 13 aus, weil er annimmt, dass auf den bis V. 13 erfolgten allgemein thetischen Teil über den Todeszeitpunkt und das Schicksal konkret illustrierte Beispiele aus dem Alltag folgen müssten, wovon jedoch nur eine von zwei Alternativen, nämlich V. 14–16: jemand flüchtet vor dem Kampf (s. zur Bedeutung von φεύγω Anm. 66) und stirbt dennoch plötzlich, angeführt ist. Es fehle die Alternative, dass jemand im „dichtesten Kampfgewühl, also in höchster Gefahr steht und dennoch heil heimkehrt“. Das sei durch die Gegenüberstellung ὁ μὲν … τὸν δ’ in V. 16/17 erwiesen. Zudem fehle das Subjekt zu φυγὼν … ἔρχεται. Der in V. 13 genannte ἁνήρ könne nicht das Subjekt darstellen, da hier ganz allgemein Mensch (im Gegensatz zum Göttlichen) gemeint sei und kein spezifischer Mann. Auch könne φυγὼν nicht selbst Subjekt sein, weil substantivische Partizipien für diese Zeit noch ungebräuchlich gewesen seien. Nach V. 13 sei demnach eine Lücke anzusetzen. Leimbach 1978, 274 Anm. 54 spricht sich hingegen gegen eine Lücke und insofern gegen Latacz aus, weil er davon ausgeht, dass der Gedankengang: Der Zeitpunkt des Todes steht unverrückbar fest, es nützt daher nichts, der Schlacht zu entfliehen, denn man stirbt auch zu Hause auch ohne die Annahme einer Lücke auskomme. Zudem sei mit Mensch in diesem Zusammenhang auch der kämpfende Mann gemeint, weswegen ἁνήρ ohne weiteres das Subjekt zu ἔρχεται sein könne. Die Frage nach einer Lücke nach V. 13 kann an dieser Stelle nicht befriedigend gelöst werden. Auf die Analyse des Sprechaktes hat sie auch keinen Einfluss. Denn selbst wenn hier die Alternative eines tapfer kämpfenden Heimkehrers fehlt, bliebe der Sprechakt derselbe, nämlich eine Warnung. Fr. 1 D, V. 14–16: πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων / ἔρχεται, ἐν δ’ οἴκωι μοῖρα κίχεν θανάτου. / ἀλλ’ ὅ μὲν οὐκ ἔμπης δήμωι φίλος οὐδὲ ποθεινός· Für das Verständnis dieser Textstelle, insbesondere auch der folgenden Verse, ist hier zu betonen, dass Kallinos an dieser Stelle flüchten (φεύγω) meint, vgl. dazu auch Leimbach 1978, 275 mit Anm. 54. Die von Maehler/Snell 1971 angeführte Übersetzung entronnen vermittelt m. E. einen zu passiven Eindruck. Entscheidend ist, dass jemandem dann ein unrühmliches Leben beschieden ist, wenn er dem Kampf entflieht. Im weiteren Verlauf des Gedichtes wird nämlich deutlich, dass
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jedoch zu Hause ohnehin vom Tod getroffen wurde. Ein solch unrühmlicher Tod im Kreise der Familie würde im Volk jedoch keine Liebe und kein Sehnen hervorrufen. Latacz fasst diese Argumentationskette zusammen: Der Todeszeitpunkt steht für jeden fest; deswegen wäre es töricht, die Vorteile, die das Kämpfen bringt, nicht auszunutzen; denn wer nicht kämpft, ist in jedem Fall der Dumme; denn erstens stirbt er sowieso, […] und zweitens, falls er doch länger lebt, aber ohne mitgekämpft zu haben, dann hat er jedenfalls ein völlig glanzloses Leben […]67
Und drittens – so müsste Lataczs Begründung an dieser Stelle ergänzt werden – ist sein Leben selbst dann glanzlos, wenn er zwar mitgekämpft hat, sich jedoch unversehrt nach Hause flüchtet, wo er eines Tages ruhmlos sterben wird. Aufgrund dieser Argumentationskette und im Hinblick auf den Kontext, in dem Kallinos diese Behauptungen macht sowie mit der bereits herausgearbeiteten Tatsache, dass Kallinos seine Zuhörer primär zum Kämpfen bewegen will, wird ersichtlich, dass die Intention der gemachten Äußerung auch hier über das reine Behaupten hinausgeht. Aus sprechakttheoretischer Sicht handelt es sich bei den hier gemachten Äußerungen demnach zwar sekundär um Behauptungen, primäre illokutionäre Akte sind jedoch Warnungen. Mit dem Sprechakt der Warnung macht Kallinos einerseits klar, dass ein Dasein, ohne das Leben für die Polis geopfert zu haben, unrühmlich ist (repräsentativer Charakter der Warnung). Das Adverb πολλάκι drückt dabei eine aus Erfahrung gewonnene Gewissheit aus. Die Überzeugung, die durch den Wahrheitsanspruch der Aussage bei seinen Zuhörern eintreten soll, wird dadurch noch verstärkt. Andererseits fordert Kallinos durch die Warnung gleichsam den Einsatz des Lebens für die Polis (direktiver Charakter einer Warnung) Der hier vorliegende indirekte Sprechakt der Warnung richtet sich dabei insbesondere an diejenigen Zuhörer, die eine unversehrte Heimkehr aus dem Krieg erhoffen. Diese ist zwar möglich, wie Kallinos oben behauptet hat, jedoch keinesfalls ruhmvoll. Das liegt daran, dass die gesellschaftliche Anerkennung in der Polis auch mit der Erfüllung eines gemeinsamen Kodexes von Verhaltensnormen zusammenhängt, der, wie Müller darstellt, auch an der Solidarität im Kampf gemessen wurde.68 Offenbar weiß Kallinos, dass die Männer einer solchen Ächtung nicht ausgesetzt sein wollen und möchte sie daher durch den Sprechakt der Warnung davon abhalten, sich dem Kampf zu entziehen.
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ein Soldat dann ein Leben lang verehrt wird, wenn er bereit war, für die Polis zu sterben. Dazu muss er jedoch nicht zwangsweise auch im Kampf gestorben sein, ähnlich Meier 1998, 311; Leimbach 1978, 276. Es geht also um die Bereitschaft, sich für die Heimatpolis aufzugeben. Dem Kampf zu entfliehen, widerspricht diesem Ideal. Latacz 1991, 163. Müller 1999, 59. Hübner 2019, 67 weist darauf hin, dass sich die soziopolitische Fixierung auf den Demos hier von der homerischen Welt unterscheidet, wo die zentrale Instanz noch der oikos gewesen sei. Vgl. auch Leimbach 1978, 276–277.
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Neben dieser negativen Zukunftsvision malt Kallinos gleichsam als Gegensatz das Bild einer erstrebenswerten Zukunft: Jenen beweint, wenn er fällt, jeder, ob klein oder groß. Sehnend gedenkt die Gemeinde des Sterbebereiten, des Helden, Ehrt einem Halbgott gleich freudig ihn, da er noch lebt.69 (V. 17–19)
Durch illokutionäre Akte des Prophezeiens (wobei das Prophezeien hier positiv konnotiert ist) macht Kallinos deutlich, welche Ehren derjenige erfahren würde, der bereit ist, im Kampf gegen die Kimmerier für Ephesos zu sterben: Wenn er fällt, wird er von allen beweint. Überlebt er jedoch den Kampf um die Polis, für deren Erhalt er bereit war, alles zu geben, wird er der Gemeinde als Held, gar Halbgott, in Erinnerung bleiben.70 Der Mut und die Tapferkeit, also dem unermüdlichen Einsatz im Kampf um die Polis (von Maehler/Snell 1971 wird κρατερόφρων ἀνήρ gar mit „sterbebereiter Held“ übersetzt) ist dabei als entscheidender Gegensatz zur vormals beschriebenen Flucht vor der Gefahr (V. 14–15) zu sehen. Nur, wer wirklich bereit ist, sein Leben für die Polis zu lassen, erfährt zu Hause größten Ruhm. Insofern muss Matsens These, wonach Kallinos’ den Kriegseintritt als entscheidenden Faktor für die Aufwertung des sozialen Status’ ausmacht („Callinus is now saying that a ‚nobody‘ becomes a ‚somebody‘ when he goes to war“71) dahingehend erweitert werden, dass der soziale Status nur dann aufgewertet wird, wenn der Held bereit ist, für die Heimat zu sterben. Ansonsten wäre Kallinos’ Warnung, dass die Anerkennung vom Volk nach einem friedlichen Tod im geschützten Heim ausbleibt, hinfällig. Grundsätzlich kann Wißmann zugestimmt werden, dass im Gegensatz zu Homer, bei welchem Ehre durch den sozialen Status implizit gegeben ist, bei Kallinos die Ehre abhängig vom Verhalten des einzelnen Bürgers ist und der soziale Status insofern aufgewertet werden kann.72 Wie oben gezeigt, wurde der Tod für die Heimatpolis in der Archaik enthusiastisch gefeiert. Kallinos impliziert also mit seinen Prophezeiungen, dass durch den opferbereiten Einsatz im Krieg die Möglichkeit zur eigenen Unsterblichkeit bestehe.73 Der Sprechakt des Prophezeiens gehört dabei in die Sprechaktklasse der Repräsentativa, was bedeutet, dass Kallinos seinen Zuhörern hier vermitteln möchte, dass seine Aussagen der Wahrheit entsprechen (epistemische Standard-Perlokution). Dabei dient
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Fr. 1 D, V. 17–19: τὸν δ’ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθῃ· / λαῷ γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς / θνῄσκοντος, ζώων δ’ ἄξιος ἡμιθέων· Für Irwin 2005, 36–37, die annimmt, dass die Funktion der „martial exhortation“ wie das Kallinischen Fr. 1 D darin bestand, die Elite zu definieren und eine soziale Abgrenzung zu schaffen (33–34), bedeutet die Beschreibung des heroischen Helden hier eine Abgrenzung gegenüber der Allgemeinheit. Matsen 1973, 59. Vgl. Wißmann 1997, 82–83. Vgl. dazu auch Meier 1998, 310–312. Über den Heroenkult und die Gefallenenehrung im Allgemeinen vgl. Welwei 1991, 50–70.
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jedoch auch diese Vermittlung des erstrebenswerten Zustandes eines Helden der Gemeinschaft dazu, die kampfunerfahrenen Zuhörer für den Krieg zu begeistern. Die Sprechakte der Prophezeiung stützen also ebenfalls die Sprechakte der Aufforderung (V. 9–11) und sind ihnen demnach in dieser Verssequenz subordiniert. Auch durch die beiden letzten Verse des Fragmentes wird dieses Ziel zu erreichen versucht, indem Kallinos sagt: Mächtig, ein Bollwerk, ragt er empor vor den Augen der Seinen: Was die gemeinsame Tat leistet, vollbringt er allein.74 (V. 20–21)
Hier beschreibt Kallinos einen Mann, der wie ein Bollwerk emporragt und unermessliche Kräfte hat. Bollwerk kann dabei auch mit Turm übersetzt werden, was eine Anlehnung an Homers Odyssee erkennen lässt. Hier steht der „Turm“ für den unerschütterlichen Krieger: Aias! Sohn des untadligen Telamon! Willst du mir nicht – auch nicht im Tode – den Zorn vergessen um der Waffen willen, der unseligen, die die Götter den Argeiern zum Unheil werden ließen? Warst du ihnen doch ein solcher Turm!75 (Übers. Schadewaldt 1966)
Kallinos beschreibt durch das Aufgreifen der Turm-Metapher also das Idealbild eines Mannes, der die leibhafte Verkörperung alten homerischen Heldentums ist.76 Durch den sekundären illokutionären Akt dieser Beschreibung vollzieht Kallinos hier primär einen illokutionären Akt der Aufforderung. Denn durch die Turm-Metapher möchte Kallinos seinen Zuhörern implizit vermitteln, dass sie sich wie ein homerischer Held im Kampf verhalten sollen. Mit Bollwerk oder Turm ist damit das Ausharren im Kampf und die Solidarität im Hoplitenkampf gemeint.77 Im letzten Vers fordert Kallinos also dazu auf, standhaft in der Kampfformation der Phalanx zu stehen. Es erscheint widersprüchlich, dass in der Phalanx, deren Stärke im Zusammenhalt der Schlachtreihe und nicht „in den Bravourstücken einer Aristie“78 besteht, ein Einzelner hervorgehoben wird. Jedoch meint Kallinos hier wohl, wie Müller schlüssig darstellt, dass jeder einzelne wie eine Bastion im Verbund der Mauer ausharren solle.79 Weil es Kallinos’ Hauptintention ist, die Angesprochenen zum Krieg zu bewegen, lässt er am Schluss des Gedichts als Krönung ein homerisches Idealbild aufleben, wel74 75 76 77 78 79
Fr. 1 D, V. 20–21: ὥσπερ γάρ μιν πύργον ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν· / ἔρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών. Hom. Od. XI, 553–556: Αἶαν, παῖ Τελαμῶνος ἀμύμονος, οὐκ ἄρ’ ἔμελλες / οὐδὲ θανὼν λήσεσθαι ἐμοὶ χόλου εἵνεκα τευχέων / οὐλομένων; τὰ δὲ πῆμα θεοὶ θέσαν Ἀργείοισι, / τοῖος γάρ σφιν πύργος ἀπώλεο· […] Vgl. Fränkel 1969, 172. Vgl. Wißmann 1997, 83. Müller 1999, 58. Vgl. Müller 1999, 58. Ebd. geht deswegen davon aus, dass wir hier ein „Bürgerheer bestehend aus Hopliten mit Speer und Schild“ greifen können.
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chem die Zuhörer nacheifern sollen. Adkins vermutet: „Now if Callinus meant his audience, on reading πύργος in 20, to remember this passage, he was using association to increase the power of his line by allusion to a particular Homeric warrior.“80 Weil die angesprochenen Symposiasten aufgrund ihres Bildungsstatus’ wohl die Metapher deuten konnten, erscheint es möglich, dass Kallinos’ Aufforderung auch als eine solche verstanden wurde. 4.1.3 Ergebnisse Wenn Leimbach schreibt, dass es das Ziel von Kampfparänesen ist, mangelnde Kampfbereitschaft aufzuheben oder bestehende Kampfbereitschaft zu verstärken,81 so dienen Kallinos’ Sprechakte in Fr. 1 D, wie deutlich zu erkennen ist, dazu, die mangelnde Kampfbereitschaft der zuhörenden Epheser aufzuheben und sie zum Kampf gegen die angreifenden Kimmerier zu mobilisieren: Kallinos beginnt in der Elegie damit, die zuhörenden Männer mit Sprechakten der Mahnung an ihre Pflichten gegenüber der Heimatpolis zu erinnern und will sie auf dieses Weise dazu bewegen, ihren Müßiggang zu beenden. Dabei scheut er nicht davor zurück, seine Zuhörer implizit für ihr Verhalten zu kritisieren. Er macht ihnen gleichfalls mit einem Sprechakt der Warnung klar, dass der Krieg bereits das umliegende Land ergriffen hat und impliziert dadurch, dass auch Ephesos bald einen Angriff abzuwehren hat. Deswegen fordert er die jungen Männer dazu auf, für die Heimatpolis in den Krieg zu ziehen. Immer wieder vollzieht Kallinos dabei repräsentative Sprechakte (wie Behauptungen oder Prophezeiungen), um seine Aufforderungen zum Kriegseintritt mit Tatsachen, wie etwa der Chance einer sozialen Anerkennung durch Aufopferung im Krieg, zu untermauern. Die Kampfparänese des Kallinos besteht allein aus repräsentativen und direktiven Sprechakten, wobei etwa gleich viele repräsentative wie direktive Sprechakte in der Elegie vertreten sind. Die repräsentativen Sprechakte wie die Behauptungen und Prophezeiungen dienen Kallinos dabei dazu, seinen Zuhörern Glauben zu machen, dass das, was er sagt, wahr ist (etwa, dass im ganzen Land der Krieg wütet oder der Schutz der Heimat glorreich ist). Kallinos will die Zuhörer von der Wahrheit der Äußerung überzeugen, sie sollen ihm glauben. Die Standard-Perlokution ist epistemisch. Daneben finden sich viele direktive Sprechakte, das heißt Handlungsanweisungen, in der Elegie: Kallinos mahnt und fordert auf. Diese direktiven Sprechakte sind innerhalb des Gedichtes dominant. Vieles, was Kallinos sagt, dient dazu, seine handlungsauffordernden Sprechakte zu unterstützen. Dies erklärt auch, warum sich die unterschiedlichen Sprechakte innerhalb des Gedichtes abwechseln: Kallinos’ Ziel ist es, die Zuhörer zum
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Adkins 1985, 66. Leimbach 1978, 266.
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Handeln zu bewegen, wofür er sie jedoch erst noch überzeugen muss. So fordert er seine Zuhörer erst dann auf, nachdem er etwas behauptet oder prophezeit hat. Die repräsentativen Sprechakte stützen deswegen vorrangig die Handlungsanweisungen. Diese sind der eigentliche Grund für den Vortag der Elegie. Weil Sprechakte immer in Abhängigkeit der Situation, in der der Sprecher sich befindet, gewählt werden, verrät die Auswahl der Sprechakte im Umkehrschluss etwas über den historischen Kontext, in dem gesprochen wurde. So machen die Warnung vor dem kommenden Krieg sowie die Aufforderungen zum Kampf deutlich, dass in jedem Falle ein Kampf – sehr wahrscheinlich auch für Ephesos selbst – bevorsteht (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Die Mahnungen und Aufforderungen (Direktiva) innerhalb der Elegie zeigen, dass Kallinos glaubt, dass seine Zuhörer in der Lage sind, die von ihm geforderten Handlungen auszuführen (Einleitungsregel von Mahnungen und Aufforderungen). Dass er sie mit Nachdruck dazu ermahnen muss und sie dabei sogar an ihre Verpflichtung erinnern muss, zeigt jedoch auch, dass die Männer aus Ephesos offenbar bisher noch nicht bereit waren oder in Erwägung gezogen haben, überhaupt in den Kampf zu ziehen (Einleitungsregel einer Mahnung).82 Müller glaubt deswegen, dass die Männer die Bequemlichkeit des städtischen Lebens nicht aufgeben wollten und sich deswegen verhalten, als wäre Frieden.83 Dies ist eine plausible Annahme, jedoch ist ebenso gut möglich, dass den jungen Männern tatsächlich nicht bewusst war, wie bedrohlich die Situation wirklich war. Die Mahnungen machen jedoch deutlich, dass hier eine Verpflichtung den ἀμφιπερικτίονες gegenüber vorzuliegen scheint. Denn der Grund für das Schämen (αἰδέομαι, V. 2) liegt ja in der Tatsache, dass sich die Bewohner ringsum schon im Krieg befinden, die Epheser wiederum noch nicht.84 Parkers These, dass sich in der Epoche der Archaik aufgrund der vielen und lang andauernden Auseinandersetzungen Nachbarn bisweilen zur Unterstützung im Krieg zusammenschlossen und gar Verträge schlossen (später deutlich erkennbar an den verschiedenen Bündnissystemen), kann hier eine Erklärung bieten.85 Möglich wäre demnach, dass Ephesos mit den umliegenden Gemeinden eine Art Bündnisgemeinschaft darstellte, zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages des Kallinos jedoch den dadurch gegebenen kriegerischen Verpflichtungen nicht nachkam und die jungen Männer von Kallinos ermahnt werden mussten, den Nachbarn im Kampf beizustehen.86 Diese Annahme kann auch dadurch gestützt werden, dass zwei Stellen des 82 83 84 85 86
Ähnlich formuliert es bereits Itgenshorst 2010, 223: „Die soziale Konstellation ist hier […] dadurch gekennzeichnet, daß Kallinos sich der Gemeinschaft als einzelner gegenüberstellt und die Angesprochenen zu etwas bewegen möchte, was diese nicht von sich aus tun.“ Vgl. Müller 1999, 56. Wißmann 1997, 79 spricht davon, dass die ἀμφιπερικτίονες die „beurteilende Instanz“ seien. Vgl. Parker 2005, 217–221. Vgl. mit einem ähnlichen Ansatz Leimbach 1978, 271: „Denkbar wäre, daß sich bei der Bedrohung durch die Kimmerier einzelne Poleis mit ihren barbarischen Nachbarn, vielleicht sogar mit anderen Poleis verbündeten und daß sie mit ἀμφιπερικτίονες gemeint sind.“
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Gedichtes in dieser Hinsicht noch präziser gedeutet werden können: So können die Verse 2–3 (οὐδ’ αἰδεῖσθ’ ἀμφιπερικτίονας, ὧδε λίην μεθιέντες;) auch folgendermaßen aufgefasst werden: Schämt ihr euch nicht alle Bewohner ringsum so sehr im Stich zu lassen? Ebenso die Verbform ἧσθαι in V. 4, die in ihrer wörtlichen Übersetzung „untätig herumsitzen“ bedeutet und insofern den Gedanken, dass die Epheser den umliegenden Bewohnern gegenüber ihrer Pflicht nicht nachkommen, stärkt. Die Mahnungen zeigen zudem, dass Kallinos keine Befehle oder Anweisungen gibt, sondern vielmehr die Männer erst noch dazu überreden muss, überhaupt in den Krieg zu ziehen. Die jungen Männer hatten offenbar noch die Wahl, den Kampf aufzunehmen oder nicht. Aus diesem Grund scheint Müllers These, dass es sich bei den Adressaten um Bürger und nicht um berufsmäßige Krieger handelt, plausibel. Das Gemeinwesen der Polis musste sich im Kriegsfall selbst verteidigen. Ob dies als Bürgerheer in Form einer Hoplitenphalanx, geschah, lässt sich auch aus den erhaltenen Versen des Kallinos nicht sicher entnehmen.87 Die einzelnen Stadien der Entwicklung der Hoplitenphalanx können an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden, zumal auch hier gilt, dass es eine stringente Entstehung aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen und lokaler Varianten innerhalb den verschiedenen Poleis wohl nicht gegeben hat.88 Aus den analysierten Sprechakten lässt sich jedoch zumindest folgern, dass sich die angesprochenen Männern für den Kriegseintritt entscheiden konnten. Dass sie selbst als Krieger in die Schlacht ziehen sollten, ist aufgrund der direkten Ansprache an die νέοι wahrscheinlich. Offenbar blieb ihnen aber auch noch die Wahl, nicht am Kampf teilzunehmen. Wie bereits Müller annimmt, rekrutierte sich das Heer in Ephesos also vermutlich aus wehrfähigen Bürgern, die dabei, wie im Falle des Kallinos, noch zu einem Einsatz bewegt werden musste. Der Wert des Kriegseintrittes für den Einzelnen muss hier noch als Lockmittel betont werden. Wir haben es bei Kallinos’ Zuhörern insofern nicht mit Soldaten oder einer eigenen „Kriegerkaste“89 zu tun, sondern mit unwilligen, vermutlich aristokratischen, Männern. Wie sich zeigen wird, unterscheidet sich die Zuhörerschaft deswegen grundlegend von der in Tyrtaios Fr. 7 D. Durch die Sprechaktanalyse kann insofern bestätigt werden, dass, wie die Mehrheit der Forschung annimmt, das Gedicht im Symposion oder einem Symposions-ähnli87
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Die Meinungen bzgl. der Existenz einer Hoplitenphalanx bei Kallinos gehen denn auch auseinander. So plädiert etwa Müller 1999, 58–59 für die Existenz einer Hoplitenphalanx, was er schlüssig anhand der Kallinischen Beschreibung der Bewaffnung eines Kämpfers (V. 10) darstellt. Nicht überzeugend ist hingegen Kiechles Argument, dass der Wurfspeer (V. 5) mit der Phalanxtaktik nicht vereinbar wäre. So auch Leimbach 1978, 270, Anm. 21. Dagegen Schwartz 2009, 122: „It does not necessarily follow, however, that the presence of javelins indicates a more open or fluid form of combat: as the Chigi vase shows, there are illustrations of hoplites marching into battle carrying javelins along with their thrusting spears.“ In diesem Sinne auch Parker 2005, 216. Latacz 1977, 229–232 glaubt hingegen aufgrund der Nähe der Kampfesweise zu Homer, dass Kallinos „eine geschlossene Hoplitenphalanx [ ] ebensowenig wie Homer [kennt].“ Vgl. hierzu Parker 2005, 215, Anm. 25 für Literatur zur Entwicklung der Hoplitenphalanx. Müller 1999, 60.
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Kallinos von Ephesos
chen Rahmen, vielleicht die eigene Hetairie des Kallinos, aufgeführt wurde und nicht unmittelbar vor der Schlacht auf dem Schlachtfeld. Hier wurde noch darüber debattiert und vorverhandelt, ob tatsächlich in den Krieg gezogen werden sollte. Aufgrund der Annahme eines privaten Zirkels wäre es in diesem Sinne auch möglich, dass mit den ἀμφιπερικτίονες vielleicht nicht benachbarte Männer, sondern andere Bewohner der Stadt gemeint sind, die im Gegensatz zu Kallinos’ Hetairie schon kampfbereit sind. Das Symposion als Aufführungsort für Fr. 1 D erscheint auch deswegen plausibel, wenn davon ausgegangen wird, dass es grundsätzlich die Funktion hatte, auf ziviler Ebene den Erhalt der Polis auszuhandeln, wie Schmitt-Pantel annimmt: „At least in the Archaic city, the symposion […] can serve, by reason of the multiple functions it fulfils, as a kind of organ of social control, exercised by the aristocracy on the city.“90 Insofern passt es, dass Kallinos in Sorge um den Erhalt der Stadt im Symposion um die Verteidigung derselben wirbt. Zuletzt können die von Kallinos verwendeten Sprechakte Rückschlüsse auf den Dichter selbst preisgeben: So lassen die vielen direktiven Sprechakte die Vermutung zu, dass der Dichter innerhalb der illustren Runde des Symposions eine Position innehatte, mit der er einen Weisungsanspruch erhob. Möglich ist, dass Kallinos älter war als die angesprochenen νέοι. Ohne Umschweife weist er die Männer auf ihre Verfehlungen hin und verdeutlicht ihnen ihre Verpflichtung gegenüber den umliegenden Bewohnern. Dabei ist interessant, dass er sich in seine Mahnungen und Aufforderung nicht selbst einschließt. Die Mahnungen sind in der zweiten Person Plural formuliert und die Aufforderung richten sich ebenfalls nur an die Anwesenden.91 Dies kann ein weiteres Indiz für ein höheres Alter sein. Möglicherweise ist Kallinos schon zu alt, um selbst noch am Kampf teilzunehmen. Dafür, so verdeutlichen es die Mahnungen, scheint sich Kallinos der Gefahr der herannahenden Kimmerier völlig bewusst zu sein.92 Dieses Bewusstsein scheint sein Publikum nicht zu haben, weswegen Kallinos seine Zuhörer zu Beginn des Gedichtes eindringlich daran erinnert. Vielleicht hat Kallinos den Gegner, die Kimmerier, selbst bei ihrem ersten Angriff auf Ephesos, etwa 30 Jahre zuvor, um 665 v. Chr. erlebt und ist deswegen in der Lage, die Gefahr, die von diesem kriegerischen Reitervolk ausgeht, richtig einzuschätzen.
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Schmitt-Pantel 1990, 15. Stehle 1997, 55, Anm. 87 hält es für möglich, dass die Verse einen „formalized intergenerational conflict“ widerspiegeln. So bereits Latacz 1991, 157: „Kallinos’ Kampfappell hat also nichts mit Ideologie zu tun. Er stellt die verzweifelte Mahnung eines Mannes mit Scharfblick dar, die Lage nicht zu unterschätzen, weil es ums nackte Überleben aller geht.“
Fr. 1 D
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4.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel Hatte Kallinos’ Sprache wirklich eine weltverändernde Kraft und hat seine Dichtung eine längerfristige Wirkung erzielt? Eine Antwort auf diese Frage kann mit historischer Sicherheit keinesfalls gegeben werden. Dennoch soll hier eine Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, die sich aus den historischen Ereignissen, die im Zusammenhang mit Kallinos’ Dichtung stehen, ergibt: Wie oben dargestellt, bezieht sich Kallinos’ Kampfparänese auf den Angriff auf Ephesos durch Lygdamis im Zuge der zweiten Sardes-Eroberung. Es ist möglich, dass bei diesem Angriff das Heiligtum der Artemis geplündert oder niedergebrannt worden ist.93 Andererseits berichtet der Alexandriner Kallimachos aus dem 3. Jh. v. Chr. in seinem Hymnus auf Artemis, dass Lygdamis der Frevler, der ein Heer von Kimmeriern mit sich führte, zwar damit drohte, das Heiligtum zu brandschatzen, Ephesos jedoch durch die Geschosse der Artemis erfolgreich verteidigt worden sei: Deswegen drohte einst auch in seiner Verirrung, es zu brandschatzen, Lygdamis der Frevler. Mit sich führte er ein Heer von Stutenmelkern, von Kimmeriern, an Zahl dem Sand gleich, die nahe an der Furt der Kuh, der Tochter des Inachos, ihren Wohnsitz haben. Ach dieser Unglückskönig, wie sehr hat er sich vergangen! Nicht sollte er selbst in Gegenrichtung wieder nach Skythien noch irgendein anderer, so viele Wagen auf der Wiese beim Kaÿstrios standen, nach Hause zurückkehren. Ephesos schützen nämlich deine Geschosse immer.94 (Über. Asper 2004)
Karwiese sieht hierin die Möglichkeit eines erfolgreichen Gegenschlages der Epheser gegen Lygdamis’ Heer.95 93
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Karwiese 1995, 29 (mit Quellenangaben) verweist hier auf eine Stelle bei Hesychios, wonach Lygadmis den Tempel niedergebrannt hätte (Hesych. s. v. Λύγδαμις). Karwiese glaubt aber, dass diese Angabe auf Sardes zu beziehen sei. Ebenso bemerkt er kritisch, dass die bei spätantiken Autoren (Chroniken des Eusebius und Synkellos) erwähnten Berichte, wonach das Heiligtum durch Amazonen zerstört worden sei, die mit den Kimmeriern mitzogen, von Strabon nicht erwähnt werden. Auch Fischer 2011, 37 hält diese Berichte für anachronistisch: „Wenn späte Autoren von der Zerstörung des Artemisions durch die gleichzeitig mit den Kimmeriern in Kleinasien eingefallenen Amazonen berichten, hat dies [ ] nur geringen Quellenwert. Vielmehr ist es hier zu einer späten und schlechten Vergleichung einer Episode der mythischen Vergangenheit mit einem Ereignis der Frühgeschichte gekommen.“ Ebd. liefert zu allen betreffenden Quellenstellen eine eigene Übersetzung. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Amazonen und Ephesos Fischer 2010, 20–22. Kall. h. Dian. 251–259: τῶ ῥα καὶ ἠλαίνων ἀλαπαξέμεν ἠπείλησε / Λύγδαμις ὑβριστής· ἐπὶ δὲ στρατὸν ἱππημολγῶν / ἤγαγε Κιμμερίων ψαμάθῳ ἴσον, οἵ ῥα παρ᾿αὐτὸν / κεκλιμένοι ναίουσι βοὸς πόρον Ἰναχιώνης. / ἆ δειλὸς βασιλέων, ὅσον ἤλιτεν· οὐ γὰρ ἔμελλεν / οὔτ᾿ αὐτὸς Σκυθίηνδε παλιμπετὲς οὔτε τις ἄλλος / ὅσσων ἐν λειμῶνι Καϋστρίῳ ἔσταν ἅμαξαι / νοστήσειν· Ἐφέσου γὰρ ἀεὶ τεὰ τόξα πρόκειται. Vgl. Karwiese 1995, 29. Ebd. hält es aufgrund eines Scholion zu Aristophanes auch für möglich, dass die schamanitisch eingestellten Kimmerier aus Scheu vor dem heiligen Bezirk der unheimlichen Göttin das Artemis-Heiligtum verschonten. Dass Ephesos sich erfolgreich verteidigt hat, glauben auch Petrovic 2007, 21 und Scherrer 1997, Sp. 1078. Fischer 2011, 38–42 geht ebenfalls davon aus, dass Ephesos den Angriff weitgehend unbeschadet überstanden haben. Ein Indiz dafür sei
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Kallinos von Ephesos
Auch wenn ein diesbezüglicher Rückschluss äußerster Vorsicht bedarf, soll nicht ausgeschlossen werden, dass Kallinos durch den Vortrag seiner Dichtung vor gewichtigen Männern der Polis dazu beigetragen hat, die Epheser (erfolgreich) gegen Lygdamis’ Heer zu mobilisieren. Zu einer Kampfhandlung scheint es zumindest gekommen zu sein. Möglich also, dass Kallinos erwartbare Fragen und Entgegnungen der Rezipienten antizipierte und dementsprechend solche Sprechakte vollzog, deren Wirkung er sich sicher sein konnte, weswegen nicht ausgeschlossen ist, dass er die intendierte perlokutionäre Wirkung – die Zuhörer vor einem ruhmlosen Tod zu ängstigen, und von einem ehrenhaften Tod für die Polis zu überzeugen – tatsächlich erreichen und somit seine Mitbürger zum Krieg aufrufen konnte.
der im gleichen Zeitraum geschehenen militärischen Erfolg der Epheser gegen die nahe gelegene Stadt Magnesia, wovon Strabon berichtet (Strab. XIV 1, 40).
5 Tyrtaios von Sparta Lange Zeit galt Tyrtaios aufgrund der Vielzahl seiner „[…] blutigen und zumeist in leuchtenden Farben drastisch ausgemalten Kampfparänesen“1 als Kriegsdichter oder kriegerischer Dichter, dessen Gedichte nicht der hohen Dichtung zugerechnet werden könnten.2 Oft wurde er deswegen zum Inbegriff des totalitären und militärischen Sparta stilisiert.3 Wie Latacz jedoch richtig anmerkt und wie später gezeigt werden wird, hat dies mit Tyrtaios, der mit seiner Dichtung gleichfalls den Fortbestand seiner Heimatpolis sichern möchte, nicht viel gemein.4 Seit der Antike herrscht Unsicherheit in Bezug auf Leben und Werk des Dichters.5 Lange Zeit war unklar, wieviel der Dichtung wirklich Tyrtaios zugeschrieben werden kann. Teilweise wurde gar die Historizität des Dichters in Frage gestellt.6 Wer also war Tyrtaios und welche Gedichte hat er verfasst? Der Suda zufolge werden Tyrtaios fünf Gedichtbücher, darunter eines, das als Politeia für die Lakedaimonier bezeichnet wird, militärische Anweisungen in elegischer Form sowie Kriegslieder zugeschrieben.7 Von dem Gesamtwerk des Tyrtaios sind je-
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Meier 2003, 157. Für die folgenden Ausführungen ist die sehr gute und umfassende Untersuchung von ebd. grundlegend, weswegen an vielen Stellen darauf verwiesen wird. Etwa Müller 1999, 60; Dihle 1991, 48–49. Vgl. etwa Harder 1972, 146. Richard Harders 1945 entstandene Tyrtaiosstudie muss dabei jedoch wohl im Kontext der nationalsozialistischen Begeisterung für den „Militärstaat“ Sparta gelesen werden, vgl. dazu auch Meier 1998, 241. Vgl. zur deutschen Spartaforschung während des Nationalsozialismus (insbesondere im Hinblick auf Helmut Berve) grundsätzlich Christ 1996, 40–48. Vgl. Latacz 1991, 162. Auch Latacz weist darauf hin, dass das alte Tyrtaiosbild Ergebnis der Rezeptionsgeschichte ist. Nationalistische Interpreten und die Glorifizierung des Kriegertodes sowie der Mythos Sparta hätten dieses Bild geprägt. Die gleiche Kritik an diesem Tyrtaiosbild übt auch Meier 1998, 241–242 mit Anm. 54, der sich deswegen insgesamt eine intensivere Auseinandersetzung der Forschung mit dem Autor selbst wünscht. Dadurch würde deutlich, dass andere Aspekte der Dichtung des Tyrtaios gegenüber der Kriegslyrik einen ebenbürtigen Stellenwert erhalten müssten. Vgl. Meier 1998, 237. Vgl. dazu die Ausführungen bei Bagordo 2011, 160. Suda s. v. Τυρταῖος Adler 1205. […] ἔγραψε πολιτείαν Λακεδαιμονίοις, καὶ ὑποθήκας δι’ ἐλεγείας, καὶ μέλη πολεμιστήρια, βιβλία εʹ.
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Tyrtaios von Sparta
doch nicht mehr als 200 Verse erhalten. Bei der Politeia, die die Geschichte und politische Ordnung Spartas zum Inhalt hat und mit welcher Tyrtaios vermutlich auf schwere innere Spannungen in Sparta reagierte, handelt es sich wohl um die bei Aristoteles und Strabon erwähnte Elegie Eunomia – die „gute Ordnung“ des Staates.8 Neben der Eunomia sind von Tyrtaios Elegien erhalten, die als Kampfparänesen bezeichnet werden. Wahrscheinlich dienten sie dazu, den Spartanern vor dem Kampfe Mut zuzusprechen oder sie nach der Niederlage neu zu bestärken. Tyrtaios zählt insofern zu denjenigen Dichtern, aus deren Dichtung ein expliziter Bezug zur Heimatpolis erkennbar wird. Dieser Polisbezug zeigt sich besonders in seinen der Eunomia zugerechneten Fragmenten sowie seiner Kriegslyrik. In dieser Studie sollen daher die Eunomia-Fragmente sowie ein Kampfparänese-Gedicht des Tyrtaios untersucht werden. Hierbei handelt es sich um Fr. 7 D, weil in diesem Fragment, anders als bei anderen Kampfliedern des Tyrtaios, der performative Charakter deutlich hervortritt: Die direkte Ansprache an die νέοι in Fr. 7 D lässt einen konkreten Situationsbezug erkennen. Für eine Analyse der Sprechakte der Gedichte des Tyrtaios muss der historische Kontext, in welchem diese zu verorten sind, eruiert werden. Bevor die beiden hier zu analysierenden Gedichte jedoch in den jeweiligen Kontext eingeordnet werden, bedarf es vorab einiger grundlegender Informationen über den Dichter selbst. Über die Herkunft des Tyrtaios herrscht Unklarheit. In den Testimonien werden keine eindeutigen Aussagen über seine Herkunft getroffen. So behauptet die Suda, Tyrtaios sei Lakonier oder Mileser.9 Attische Autoren halten ihn hingegen für einen Athener. Bei Platon etwa heißt es: Stellen wir also den Tyrtaios voran, einen Athener von Geburt, der aber bei diesen (den Lakedaimoniern, Anm. AvdD) das Bürgerrecht erhielt […]10 (Übers. Müller 1962)
Der athenische Redner Lykurg spezifiziert dies, indem er davon spricht, dass Tyrtaios als Stratege aus Athen nach Sparta geholt wurde: Weiß jemand unter den Hellenen denn nicht, daß sie aus unserer Stadt den Tyrtaios als Strategen genommen haben, mit seiner Hilfe die Feinde besiegten […].11 (Übers. Engels 2008)
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Arist. pol. V, 7 1306b 40; Strab. VIII, 4, 10. Vgl. dazu auch Meier 1998, 239. Harder 1972, 149 sieht in der Eunomia ein „Kampfgedicht“ für die staatliche Grundordnung. Suda s. v. Τυρταῖος Adler 1205. Ἀρχεμβρότου, Λάκων ἢ Μιλήσιος, ἐλεγειοποιὸς καὶ αὐλητής·; Dass Tyrtaios Mileser gewesen sein könnte, wurde aufgrund der sprachlichen Nähe zu Kallinos und Homer nicht direkt verworfen, jedoch gibt es keine weiteren Anhaltspunkte für diese Theorie, vgl. Meier 1998, 238. Plat. leg. 1, 629 b: προστησώμεθα γοῦν Τυρταῖον, τὸν φύσει μὲν Ἀθηναῖον, τῶνδε δὲ πολίτην γενόμενον […] Lykurg. Leokr. 106: τίς γὰρ οὐκ οἶδε τῶν Ἑλλήνων, ὅτι Τυρταῖον στρατηγὸν ἔλαβον παρὰ τῆς πόλεως, μεθ’ οὗ καὶ τῶν πολεμίων ἐκράτησαν […].
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Andere Testimonien verleihen Tyrtaios’ Biografie legendenhafte Züge.12 So sei er aufgrund eines Orakelspruchs als Anführer aus Athen nach Sparta geholt worden, um die Feinde zu besiegen. Strabon berichtet: […] und mehreren Anderen, die gesagt haben, er (Tyrtaios, Anm. AvdD) sei aus Athen gekommen auf Bitten der Spartaner wegen eines Orakelspruchs, der ihnen früher aufgetragen hatte, sich einen Führer aus Athen zu nehmen).13 (Übers. Radt 2003)
In der Forschung wird jedoch mehrheitlich davon ausgegangen, dass Tyrtaios Spartaner und nicht Athener gewesen ist, weil Vieles in seiner Dichtung für eine spartanische Herkunft spricht. Dass Tyrtaios für einen Athener gehalten wurde, mag daran gelegen haben, dass seine Dichtweise und die mythischen Anspielungen ihn, wie Bowie darstellt, als differenzierten und kultivierten Dichter erscheinen ließen und Athen ihn deswegen als Athener beanspruchte.14 Es handelt sich bei der Vorstellung, Tyrtaios sei Athener gewesen, aber vermutlich um eine lokalpatriotische Legende.15 Bei einer genaueren Untersuchung der Tyrtäischen Dichtung wird nämlich deutlich, warum vielmehr von einer spartanischen Herkunft ausgegangen werden kann: So verwendet Tyrtaios in der Eunomia mehrmals die 1. Person Plural, zählt sich also selbst zu einem der Herakliden, denen Zeus die Stadt Sparta schenkte.16 Zudem zeugen Tyrtaios’ Gedichte von einer gewissen Autorität, die darauf schließen lassen, dass er Lakedaimonier gewesen sein muss, wie Harder schlüssig darstellt: „Denn ließ man sich auch im frühen Sparta von auswärtigen Dichtern gern die Festchöre einstudieren – jene bürgerliche und kriegerische Autorität konnte ein Landfremder nie beanspruchen.“17 Es kann also davon ausgegangen werden, dass Tyrtaios Spartaner und nicht Athener gewesen ist. Die Datierung des Tyrtaios fällt hingegen leichter, da seine Lebenszeit aus den Resten seiner Dichtung und aus späteren Bezeugungen entnommen werden kann und anhand von zwei Kriegen festzumachen ist. In dem ersten Krieg hat Sparta seinen westlichen Nachbarn Messenien unterworfen und dessen Untertanen helotisiert. In dem zweiten, dem aus Tyrtaios’ Sicht gegenwärtigen Krieg, musste Sparta der unterworfenen messenischen Heloten, die in einem Aufstand gegen ihre Unterdrückung
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Pausanias berichtet gar, Tyrtaios sei ein athenischer Schreiblehrer mit niederem Verstand, der auf einem Bein gehinkt hätte (Paus. IV, 15, 6). Strab. VIII, 4, 10: […] καὶ ἄλλοις πλείοσι τοῖς εἰποῦσιν ἐξ Ἀθηνῶν ἀφικέσθαι δεηθέντων Λακεδαιμονίων κατὰ χρησμόν, ὃς ἐπέταττε παρ’ Ἀθηναίων λαβεῖν ἡγεμόνα. Vgl. etwa auch Diod. VIII, 27; Diod. XV, 66; Paus. IV, 15, 6 Insbesondere Fr. 9 D zeugt davon. Vgl. dazu auch Bowie 2002, Sp. 957. Vgl. Harder 1972, 149; Müller 1999, 67. Dass Tyrtaios Athener gewesen ist, schließt van Wees 1999, 2–6 hingegen nicht aus. Vgl. Fr. 2 D und Fr. 4 D. Die Performativität der Tyrtäischen Dichtung wird am Gebrauch der 1. Ps. Pl. deutlich. Harder 1972, 149. Ähnlich Bowra 1960, 40–41.
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aufbegehrten, Herr werden.18 Hierbei handelt es sich um die beiden aus anderen Quellen bekannten Messenischen Kriege. Strabon weiß darüber Folgendes zu berichten: Kriege haben sie (die Lakedaimonier, Anm. AvdD) mehrmals geführt wegen der Aufstände der Messenier. Ihre erste Unterwerfung, sagt Tyrtaios in seinen Gedichten (fr. 5 West), habe zur Zeit der Väter der Väter stattgefunden; die zweite sei gewesen als sie sich mit den Argivern ‚Arkadern‘, Eleern und Pisatern als Verbündeten losgesagt hatten, wobei die Arkader Aristokrates, den König von Orchomenos, und die Pisater Pantaleon, den Sohn Omphalions, als Heerführer stellten; damals sagte er (fr. 8 West), sei er selber Anführer der Spartaner im Krieg gewesen […].19 (Übers. Radt 2003)
Strabon zu Folge hat Tyrtaios also selbst aktiv am Zweiten Messenischen Krieg teilgenommen. Da Tyrtaios in seinen eigenen Gedichten als Zeitzeuge des Zweiten Messenischen Krieges über den Ersten berichtet, kann über eine ungefähre Datierung der Messenischen Kriege seine Lebenszeit festgemacht werden.20 So erwähnt er in Fr. 4 D frühere Kämpfe zwischen Sparta und Messenien zur Zeit der Großväter, die 20 Jahre gedauert haben sollen und mit König Theopomp in Verbindung gebracht wurden.21 Diese Verse bildeten seither den Ausgangspunkt für die Festlegung des Ersten und Zweiten Messenischen Krieges.22 Jedoch muss eine genaue Datierung der Kriege schon in der Antike Probleme bereitet haben, da die antiken Datierungen beträchtlich differieren.23 In der neueren Forschung wird der Zweite Messenische Krieg generell in die zweite Hälfte des 7. Jh. v. Chr. datiert.24 Diese zeitliche Einordnung geht mit neueren Überlegungen zu Tyrtaios’ Sprache einher, aufgrund derer davon ausgegangen wird,
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Vgl. Latacz 1991, 160. Strab. VIII, 4, 10: Πλεονάκις δ’ ἐπολέμησαν διὰ τὰς ἀποστάσεις τῶν Μεσσηνίων. τὴν μὲν οὖν πρώτην κατάκτησιν αὐτῶν φησι Τυρταῖος ἐν τοῖς ποιήμασι (fr. 5 West) κατὰ τοὺς τῶν πατέρων πατέρας γενέσθαι· τὴν δὲ δευτέραν, καθ’ ἣν ἑλόμενοι συμμάχους Ἀργείους τε καὶ ‚Ἀρκάδας καὶ‘ Ἠλείους καὶ Πισάτας ἀπέστησαν, Ἀρκάδων μὲν Ἀριστοκράτην τὸν Ὀρχομενοῦ βασιλέα παρεχομένων στρατηγόν, Πισατῶν δὲ Πανταλέοντα τὸν Ὀμφαλίωνος· ἡνίκα φησὶν αὐτὸς στρατηγῆσαι τὸν πόλεμον τοῖς Λακεδαιμονίοις (fr. 8 West)[…]. Die Rekonstruktion der Messenischen Kriege – im Übrigen sinnbildlich für die gesamte Frühgeschichte Spartas – gestaltet sich jedoch aufgrund der schlechten Quellenlage als schwierig und wird in der Forschung kontrovers betrachtet, vgl. dazu Tausend 1992, 146–166. Ob der Krieg tatsächlich 20 Jahre gedauert hat, ist jedoch fraglich. Die Angabe einer solch genauen Zahl erinnert an sagenhafte Erzählungen wie etwa die zehnjährige Belagerung Trojas, vgl. Thommen 1996, 31, Anm. 38. Wahrscheinlich haben die Auseinandersetzungen zwischen Sparta und Messenien durchgängig angehalten, die beiden Kriege bildeten dabei aber vermutlich die Höhepunkte des Konflikts, vgl. Meier 1998, 72. Vgl. Thommen 1996, 31. Kritisch Osborne 1996, 177–178, der gänzlich in Frage stellt, ob es den Zweiten Messenischen Krieg je gegeben hat. Vgl. Meier 1998, 91 mit Angaben zu den antiken Autoren. Vgl. Link 2000, 98–99; Meier 1998, 91–99. Welwei 2007, 70–71 hingegen datiert den Zweiten Messenischen Krieg später auf etwa 600 v. Chr.
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dass keines der Gedichte des Tyrtaios vor 640 v. Chr. entstanden ist.25 Diese Annahme entspricht wiederum den Aussagen der Suda, die Tyrtaios’ Akme in die 35. Olympiade, also um das Jahr 640 v. Chr. setzt.26 Wenn wir Tyrtaios Glauben schenken können, erfolgte der Erste Messenische Krieg zwei Generationen vorher und muss demnach zu Beginn des 7. Jh. v. Chr. ausgetragen worden sein. Schlussendlich können wir den Zweiten Messenischen Krieg und damit Tyrtaios’ Lebenszeit also lediglich grob in die zweite Hälfte des 7. Jh. datieren. Bei Tyrtaios handelt es sich also um einen Spartaner, der gegen Ende des 7. Jh. v. Chr. zur Zeit des Zweiten Messenischen Krieges dichtete. Was können wir darüber hinaus über die Person des Dichters erfahren? Die Forschung geht davon aus, dass Tyrtaios kein Berufsdichter gewesen ist, da sein Stil dies nicht vermuten lässt.27 Dafür dichtete er aber mit voller Hingabe, wie Gerber betont: „[…] there are striking phrases and effective imagery, and there is no denying the impassioned earnestness with which he sets forth his exhortations.“28 Harder nimmt an, dass jemand, der in diesem Maße in die Grundfragen des Staates eingreifen konnte, eine außergewöhnliche Autorität mitbringen musste.29 Die intensive Teilnahme an der Politik der Polis lässt vermuten, dass Tyrtaios eine bestimmte politische Funktion innegehabt haben muss. Latacz glaubt zudem, Tyrtaios sei von altem spartanischem Adel und habe eine hervorragende Bildung genossen, was ihn für Führungsaufgaben in der Elite gerüstet habe.30 Neben seiner politischen Autorität ist zudem denkbar, dass Tyrtaios zu Kriegszeiten eine hohe militärische Funktion ausübte: „Politischer Führer im Frieden, wurde er – wie es in den griechischen Städten bis zur Alexanderzeit der Brauch war – zum militärischen Führer in der Not des Krieges.“31 Papyrusfunde lassen es schließlich nicht unwahrscheinlich machen, dass Tyrtaios aktiv, vielleicht sogar als Feldherr, am Zweiten Messenischen Krieg teilgenommen hat.32 In den folgenden Analysekapiteln sollen die Eunomia-Elegie und das kampfparänetische Fragment 7 D des Tyrtaios auf ihre Sprechakte hin untersucht werden. Vor der 25 26 27 28 29 30 31 32
Vgl. Parker 1991, 35. Für eine eingehende Auseinandersetzung mit der Chronologie der Messenierkriege im 7. Jh. v. Chr. vgl. darüber hinaus Meier 1998, 91–99; Thommen 1996, 31; Kiechle 1959. Suda s. v. Τυρταῖος Adler 1205. ἤκμαζε γοῦν κατὰ τὴν λεʹὀλυμπιάδα Etwa Harder 1972, 149; Latacz 1991, 164; Meier 1998, 239. Gerber 1997, 106. Vgl. Harder 1972, 150. Vgl. Latacz 1991, 164. Meier 1998, 64 glaubt, dass Tyrtaios ein wohlhabender Oikosherr gewesen ist, der kein Interesse daran hatte, Teile seiner Besitzungen an den Demos abzugeben. Latacz 1991, 164. Eine solche Funktionszuschreibung erinnert an die Aufgaben der Könige in Sparta. Ein solcher ist Tyrtaios aber nicht gewesen. P. Berol. 11675 = Frr. 18–23 W/10 G/P, in dem Tyrtaios die Ordnung und Aufstellung des spartanischen Heeres auf Grundlage der Phylen vornimmt (Fr. 10 G/P, ab V. 16) sowie die Schlachtenbeschreibung in P. Oxy. 3316 = 23a W/10a G/P (im Anhang der Textausgabe von Gentili/Prato abgedruckt)), vgl. zu letzterem Haslam 1980, 1–6. Gerber 1997, 102, Anm. 1 wirft hingegen ein, dass nicht gesichert ist, dass nur Männer in hoher militärischer Funktion militärische Anweisungen erteilen durften. Zur Frage danach, ob Tyrtaios Feldherr gewesen ist vgl. auch S. 141, Anm. 155.
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Tyrtaios von Sparta
Analyse müssen die beiden Gedichte jedoch noch einmal unabhängig voneinander in ihren jeweils konkreten außerliterarischen Kontext eingeordnet werden. 5.1 Die Eunomia-Elegie des Tyrtaios 5.1.1 Der außerliterarische Kontext Bevor die Eunomia-Gedichte des Tyrtaios in ihren historischen Kontext – insbesondere verbunden mit der Frage, in welchem Zusammenhang die Dichtung mit den Messenischen Kriegen steht – eingeordnet wird, muss geklärt werden, welche Tyrtäischen Fragmente überhaupt dem Eunomia-Gedicht zuzurechnen sind. Denn in der Frage danach, welche der verstreut erhaltenen Fragmente inhaltlich (das heißt die Geschichte und die politische Ordnung Spartas thematisierend) zur Eunomia gerechnet werden können, besteht kein Konsens. Auch ist unklar, ob es sich bei der Eunomia um ein einzelnes Werk oder um einen größeren Komplex politischer Dichtung gehandelt hat.33 Nur bei Strabon und Aristoteles ist der Terminus „Eunomia“ nachzuvollziehen und nur Strabon überliefert im Zuge dessen drei Verse (Fr. 2 D).34 Einschlägige Editionen zählen jedoch neben den bei Strabon angegebenen Versen Fr. 2 D auch die Verse Fr. 3a/b D zur Eunomia, weil darin konkrete politische Töne und göttliche Anspielungen anklingen.35 Die Stellung der Tyrtäischen Frr. 4 D und 5 D, die von Meier und Walter aufgrund inhaltlicher Zusammengehörigkeit ebenfalls zum Gesamtkomplex Eunomia gerechnet werden, ist im Gesamtwerk des Dichters ungewiss. Im Folgenden sollen dennoch alle vier Fragmente Berücksichtigung finden, weil sich alle Gedichte dem gleichen historischen Kontext zurechnen lassen, nämlich den innen- und außenpolitischen Spannungen innerhalb Spartas zur Zeit des Zweiten Messenischen Krieges. Diesen Ansatz verfolgen auch Walter und Meier, die in diesem Sinne jeweils einen eigenen Gedankengang der Eunomia-Fragmente rekonstruiert haben.36 In dieser Arbeit sollen alle genannten Fragmente auf ihre Sprechakte hin untersucht werden. Dabei wird zuerst Fr. 2 D analysiert, worauf Fr. 4 D und Fr. 5 D folgen. Zum Schluss 33 34 35 36
Vgl. Meier 1998, 239. S. S. 108, Anm. 8. Strabon zitiert drei Zeilen (V. 12–15) des ansonsten nicht weiter identifizierbaren P. Oxy. 2824 (= Strab. XIII, 4, 10). West 1992; Diehl 1936 oder Gentili/Prato 1979. Vgl. auch Steinmetz 1969, 63–65; Andrewes 1938, 95–100; Bagordo 2011, 161. Walter 1993, 166–168 mit Anm. 118 sieht aufgrund der Thematisierung der spartanischen Vergangenheit eine Verbindung zwischen Fr. 2 D und Fr. 4 D und rekonstruiert einen möglichen Gedankengang der Eunomia, indem er auch die Fragmente 5 D und 3b D in diese Rekonstruktion einfügt; Ähnlich Meier 1998, 259, der jedoch zurecht darauf hinweist, dass die beiden Fragmente aus formalen Gründen nicht direkt aufeinander folgen können. Vgl. auch die eigene Rekonstruktion von Meier 1998, 270–272. Gegen einen inhaltlichen Zusammenhang der Fragmente spricht sich Kiechle 1959, 57 aus.
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wird Fr. 3a D analysiert. Nach dieser Reihenfolge geht es zuerst um die Ursprungsgeschichte der Spartaner, dann um die Erinnerung an die glänzenden Taten der Vorväter im Ersten Messenischen Krieg, danach folgt die abschreckende Vision eines unterlegenen Volkes und zum Schluss wird von einem delphischen Orakel erzählt, das die Stellung der einzelnen Schichten in der spartanischen Gemeindeordnung diktiert. Dabei müssen die einzelnen Fragmente aufgrund der Schwierigkeit ihrer Zusammengehörigkeit – obwohl sie vorerst als Teil des Gesamtkomplexes Eunomia verstanden werden – unabhängig voneinander auf ihre Sprechakte hin untersucht werden. Eine Verbindung etwa von dominanten und subordinierten illokutionären Akten darf nur innerhalb eines Fragmentes, nicht fragmentübergreifend, angenommen werden. Im Anschluss an die Sprechaktanalyse soll geschaut werden, ob und inwiefern die Fragmente tatsächlich Teil eines Ganzen gewesen sein können. Das zentrale Element der Eunomia ist Fr. 3a/b D das Orakel über die spartanische Verfassung. Hier thematisiert Tyrtaios die staatsrechtlichen Grundlagen des spartanischen Gemeinwesens. Dabei kann möglicherweise ein Bezug der Tyrtäischen Verse zu der sogenannten Großen Rhetra hergestellt werden: Plutarch kannte die Große Rhetra, die um 650 v. Chr. anzusetzen ist,37 als Orakelspruch, der dem legendären Gründer der spartanischen Ordnung, Lykurg, Anweisungen für grundlegende Reformen im Gemeinschaftsleben gegeben hätte.38 Aufgrund der vielen Parallelen zwischen der Großen Rhetra und dem Tyrtäischen Eunomia-Fragment 3a/b D wird häufig davon ausgegangen, dass Tyrtaios den Inhalt der Rhetra oder Teile davon in seiner Elegie paraphrasierte und damit versuchte, den Bürgern die Bestimmungen der Großen Rhetra zu vermitteln.39 Fr. 3a/b D liegt dabei in zwei Fassungen vor, sowohl bei Plutarch (= 3b D) als auch bei Diodor (= 3a D).40 Plutarchs Text geht vermutlich auf Aristoteles zurück, das Di-
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Die Forschung ist sich über eine genaue Datierung der Rhetra nicht einig. vgl. dazu etwa Welwei 1986, 428. Es ist jedoch anzunehmen, dass sie wegen der darauffolgenden sozialen Unruhen zeitlich nach dem Ersten Messenischen Krieg aber noch vor Tyrtaios, der sie möglicherweise paraphrasierte, anzusetzen ist. Hauptteil: Plut. Lyk. 6, 2. Späterer Zusatz: Plut. Lyk. 6, 8. Zur Bedeutung der Großen Rhetra für die innere Entwicklung Spartas vgl. Welwei 1986. Vgl. etwa Stein-Hölkeskamp 2015, 147; Raaflaub 2006, 394–398 („[…] the poet chose for his rendition of what he (and presumably the backers of the rhêtra) claimed to be an oracle only the strict political section of the rhêtra […]“(397)) ; Link 2003; Walter 1993, 159; Welwei 1981, 17; Bringmann 1975, 514, 517; West 1974, 185. Vgl. darüber hinaus für weitere Literatur Meier 1998, 191 mit Anm. 23. Ob Tyrtaios die Große Rhetra wirklich kannte, wird teilweise auch bezweifelt. Vgl. dazu insbesondere die Auseinandersetzung zwischen van Wees 1999, der keinen Bezug zwischen Tyrtaios und Großer Rhetra erkennen will und Tyrtaios’ Eunomia noch vor die Rhetra datiert, und Meier 2002, der in den Tyrtaios-Versen eine selektive Deutung der Rhetra erkennt (vgl. dazu auch die früheren Ausführungen in Meier 1998, 191). Im selben Band noch einmal die Erwiderung von van Wees 2002. Plut. Lyk. 6, 10 und Diod. VII, 12, 6. Keine der beiden Quellen spricht diese Verse ausdrücklich der Eunomia zu und nur Plutarch schreibt die Verse explizit Tyrtaios zu, jedoch ist allgemein anerkannt, so van Wees 1999, 29, Anm. 21, dass die Verse der Eunomia zugerechnet werden müssten.
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odor-Fragment ist in einer mittelalterich-byzantinistischen Exzerptsammlung enthalten, lässt sich aber nicht mehr einem bestimmten Kontext zuordnen. Dem Diodor-Fragment lag wohl Ephoros zugrunde.41 Die beiden Versionen unterscheiden sich darin, dass bei Plutarch nicht näher spezifizierte Spartaner das Orakel nach Hause bringen, bei Diodor hingegen wurde das Orakle der Polis erteilt.42 Entsprechend sind die einleitenden Verse 1–2 in beiden Gedichten verschieden. Die Verse 3–6, der Inhalt des Orakelspruches, sind wiederum fast identisch. Das Plutarch-Fragment endet schließlich nach Vers 6, wohingegen das Diodor-Fragment um die Verse 7–10 erweitert ist. Aufgrund dieser Erweiterung bei Diodor, insbesondere aufgrund der in Vers 9 genannten Bestimmung, dass die Versammlung durch den Sieg der Stimmen entscheiden solle, wurde früher oft behauptet, diese Fassung sei demokratischer als die Plutarch-Fassung, die antidemokratische oder aristokratische Tendenzen aufweise.43 Die Mehrheit der Forschung gibt dabei der Version Plutarchs den Vorzug, vor allem, wie van Wees darlegt, „because he (Plutarch, Anm. AvdD) drew on a reputable, scholarly authority, whereas Diodorus ultimate source was a work of political propaganda which has been suspected of forging evidence.“44 Van Wees zeigt dann jedoch plausibel, dass Plutarch und Diodor nicht zwangsläufig eine richtige und eine falsche Version des Tyrtaios-Gedichtes wiedergeben müssen, sondern möglicherweise unterschiedliche Teile eines ursprünglich identischen Gedichtes.45 Dabei zeigt er gleichsam auf, dass vielmehr Plutarch aufgrund seiner selektiven Zitierweise (an Solonischen Versen beispielhaft dargestellt) im Hinblick auf die einführenden Verse über die Herkunft des Orakels der weniger verlässliche Zitatträger ist.46 Meier, der wie van Wees grundsätzlich glaubt, dass sowohl die Plutarch- als auch die Diodor-Variante dem gleichen Ursprungsgedicht entsprängen, geht aus syntaktischen Gründen davon aus, dass das Orakel in V. 6 endet (hier endet auch die Plutarch-Version) und es sich
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Vgl. Steinmetz 1969, 63; West 1974, 185. Vgl. Thommen 1996, 33. Vgl. dazu die Ausführungen von Meier 1998, 244; Hölscher 1994, 84. Die Übersetzung, die van Wees 1999, 9 für V. 9 vorschlägt: „Victory and power will attend the multitude of the people“ erscheint in Anbetracht des ansonsten sich rein auf die innere Ordnung Spartas beziehenden Orakels unwahrscheinlich, vgl. dazu auch Dreher 2001, 42, Anm. 46. Van Wees 1999, 7. Vgl. für einen Überblick der gegenläufigen Forschungsmeinungen Meier 2003, 67, Anm. 7. Eine Verbindung beider Varianten hat Steinmetz 1969 vorgenommen. Auch Meier 1998, 243–247 versucht, beide Texte zusammenzubringen, da er davon ausgeht, dass beide Varianten auf dasselbe Ursprungsgedicht zurückgehen; vgl. auch Meier 2003, 68, Anm. 8. Van Wees vermutet, dass Plutarch die beiden Einleitungsverse, wonach „sie“, also ein plurales Subjekt, Empfänger des Orakels gewesen seien, einer anderen Stelle des ursprünglichen Gedichtes entnommen hätte und diesen dann – dabei die bei Diodor zitierten Einleitungsverse auslassend – den Inhalt des Orakels unmittelbar folgen ließ. Im Gegensatz dazu stellt van Wees 1999, 7 fest: „Since Diodorus’ lines prove nothing either way concerning the oracle’s recipient(s), and otherwise provide a perfectly suitable introduction to the oracle’s text, we have no grounds for suspecting their authority.“ Eine selektive Zitierweise des Plutarch nimmt auch Hölscher 1986, 419 an.
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bei den Versen 7 und 8 um eine Erläuterung des Orakels durch den Dichter selbst, also Tyrtaios, handelt.47 Dass der Orakelspruch durch Tyrtaios erläutert wird, nimmt Meier aufgrund des deiktischen τῇδε (V. 7) an: „Dieses Wort, das sich unmittelbar auf die Polis selbst bezieht, setzt voraus, daß sowohl Sprecher als auch Adressaten aus der Perspektive Spartas heraus denken, das heißt es kann nur aus der Sichtweise des Tyrtaios gesprochen worden, nicht aber Bestandteil des Orakels gewesen sein.“48 Ob τῇδε hier tatsächlich als ein Hinweis auf eine tyrtäische Erläuterung angesehen werden muss, ist jedoch fraglich, schließlich spricht nichts dagegen, dass der Orakelspruch auch aus sich selbst heraus schon auf Sparta hätte Bezug nehmen können, was Tyrtaios in der Situation des Vortrages dann entsprechend wiedergibt. Eine letztgültige Entscheidung darüber kann an dieser Stelle aufgrund der komplexen philologischen Schwierigkeiten der Überlieferung nicht getroffen werden. Weil die Diodor-Verse jedoch durch die Verwendung von τῇδε tatsächlich einen konkreten Situationsbezug aufweisen (auch die Übersetzung von Maehler/Snell 1971 enthält insofern schon eine Interpretation, wenn er von „heimisch“ spricht)49 und weil Diodor, wie van Wees zeigt, hier als der verlässlichere Zitatträger erscheint, soll der Diodor-Variante in dieser Arbeit der Vorzug gegenüber der Plutarch-Fassung gegeben werden.50 Wie dargestellt, lassen Tyrtaios’ Dichtungen darauf schließen, dass er zu der Zeit des Zweiten Messenischen Krieges dichtete. Inwiefern passt die Eunomia-Elegie, mit der Tyrtaios die politische Wohlordnung Spartas propagierte, in diese Zeit? Eine Antwort erhalten wir, wenn wir die Umstände des Zweiten Messenischen Krieges kennen. Hierfür muss auch der Erste Messenische Krieg einbezogen werden, da er die Ursache für die inneren Unruhen in Sparta war.51 Sparta hatte im Ersten Messenischen Krieg Teile seines westlichen Nachbarn Messenien unterworfen (wohlgemerkt nicht ganz
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Grundlage für die These von Meier 1998, 246, dass das Orakel in V. 6 abgeschlossen ist, sind die Ergebnisse der Untersuchung von Steinmetz 1969 (wie S. 114, Anm. 45), wonach ἀνταπαμειβομένους (V. 6) kein übergeordnetes Verbum braucht und insofern μυθεῖσθαι (V. 7) nicht als Prädikat auf die Verse 5 und 6 bezogen werden muss. In V. 7 beginne insofern ein neues Satzgebilde. Meier 1998, 246. In diesem Sinne ebenfalls Hölscher 1986, 419; Walter 1993, 163, Anm. 97. Dagegen Link 2000, 22–23, Anm. 81. Vgl. Meier 1998, 251. Anders als ebd., 246–247 vorschlägt, soll dabei auch das letzte Distichon (V. 9 und 10) als Teil des Gedichtes aufgefasst werden. Dass die letzten vier Verse der Diodor-Verse authentisch sind, glaubt van Wees 1999, 9. Er beruft sich dabei auf „the most authoritative edition of the fragments“: Martin West, vgl. West 1974, 184, Anm. 12. Die Diodor-Verse werden ebenfalls herangezogen von Thommen 1996, 33 und Dreher 2001, 41–42. Meier 1998, 55–58 und 62 bringt die Unruhen nach dem Ende des Ersten Messenischen Krieges mit dem in einem Diodor-Fragment angeführten Bericht über den Dichter Terpandros in Zusammenhang, welcher nach Sparta geholt worden sei, um dort in Zeiten der Stasis die streitenden Parteien zu versöhnen. Vgl. zum Wirken Terpandros’ auch Itgenshorst 2014, 101–103.
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Messenien)52 und dessen fruchtbares Land und Reichtum erobern können.53 Dabei wurde der Krieg vermutlich vor allem von spartanischen Aristokraten verursacht und ausgetragen und war keine Angelegenheit des spartanischen Gemeinwesens. Und so fielen die Früchte dieses Krieges, wie Link darstellt, zum größten Teil den Adligen zu.54 Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Adligen die Güter der vertriebenen Messenier aneigneten. Damit funktionalisierten sie den Krieg für ihre eigenen Interessen und bauten ihre Stellung innerhalb der Gemeinde aus. Dies rief wiederum Spannungen zwischen den siegreichen Aristokraten und dem spartanischen Demos, der zwar am Krieg unbeteiligt, aber durch ihn mitbetroffen war, hervor.55 Diese Spannungen hielten wohl auch in der Zwischenphase des Ersten und Zweiten Messenischen Krieges an. Problematisch wurde möglicherweise auch die sich durch die Verschiebung von Besitzverhältnissen ändernde Zugehörigkeit innerhalb des sich wandelnden Gemeinwesens. Die Umstände für die Gründung der Kolonie Tarent im Zuge der Verbannung der Partheniai könnten dafür sprechen. Der genaue Hergang der Partheniai-Affäre ist schwierig nachzuvollziehen und braucht an dieser Stelle auch nicht wiedergegeben zu werden. Entscheidend ist, dass es im Kontext des Messenischen Krieges Spartaner, hier namentlich die Partheniai, gab, die ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde und damit ihren Bürgerstatus verloren, was wiederum innere Konflikte auslöste.56 Welwei vermutet, dass die Geschichte im Kern auf einer Überlieferung über inneraristokratische Rivalitäten unter führenden aristokratischen Gruppen basierte. Die Verbannung der Partheniai entspreche demgemäß einem gängigen Muster archaischer Zeit, wobei unterlegene Gruppen innerhalb eines aristokratischen Machtkampfes ausgeschaltet wurden.57 Der Ausbruch des Zweiten Messenischen Krieges stellte Sparta sodann vor neue Herausforderungen: Die im Ersten Messenischen Krieg unterworfenen Messenier mussten vermutlich, so jedenfalls nimmt es der Großteil der Forschung an, als Heloten ihr Land für die Spartaner bestellen und Abgaben an ihre Herren leisten.58 Dieser
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Es wird davon ausgegangen, dass im Ersten Messenischen Krieg nur die obere Pamisosebene erobert wurde, vgl. dazu Meier 1998, 71, Anm. 10. Vgl. Baltrusch 1998, 38. Vgl. Link 1991, 95. Vgl. Meier 1998, 62. Es existieren zwei unterschiedliche Versionen des Herganges, beide bei Strabon dargestellt (Strab. VI, 3, 2 und Strab. VI, 3, 3). Vgl. dazu Walter 1993, 155–157 und das eigene Kapitel zu den Partheniai bei Meier 1998, 121–136. Vgl. Welwei 2007, 57–59. Die Frage, ob die Messenier nach dem Ersten Messenischen Krieg wirklich in spartanische Helotie gerieten oder nicht, entzündet sich an unterschiedlichen Interpretationen von Tyrtaios Fr. 5 D. Einen knappen, aber guten Überblick über die Forschungssituation gibt Meier 1998, 267. Unabhängig davon, ob die Messenier tatsächlich helotisiert waren oder nicht, kam es im Zuge der Unterdrückung als Folge des Ersten Messenischen Krieges zu einem Aufstand gegen die Spartaner im Zweiten Messenischen Krieg.
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drückende Status war es, der sie im Laufe der Zeit immer wieder zu Aufständen gegen ihre spartanischen Herren trieb. Als Sparta in einem Krieg gegen seinen nördlichen Nachbarn Argos eine herbe Niederlage einstecken musste, schien die Gelegenheit für eine große Revolte günstig und es kam zu einem Aufstand der Messenier gegen ihre Herren. Dieser Aufstand der Messenier ist als der Zweite Messenische Krieg in die Geschichtsbücher eingegangen.59 Neben der Sorge um den Verlust Messeniens durch den Aufstand der Heloten,60 hielt auch der frühere Konflikt zwischen Adel und Demos im Zweiten Messenischen Krieg an. Dies zeigt sich an einem Zeugnis des Aristoteles, das in die Phase des Zweiten Messenischen Krieges führt: Oder es sind die einen allzu reich, die andern allzu arm, was vor allem im Kriege leicht geschehen kann. So geschah es in Sparta in den Messenischen Kriegen (sic), wie sich das an der Dichtung des Tyrtaios „Eunomia“ zeigt. Denn da waren einige durch den Krieg in größte Bedrängnis geraten und wünschten eine Landaufteilung.61 (Übers. Gigon 1971)
Die Forderungen nach einer Neuverteilung des ungerecht aufgeteilten Landes wurden offenbar während des Zweiten Messenischen Krieges, bei dem nun die gesamte Gemeinde um ihre Existenz kämpfen musste, immer lauter.62 Der Konflikt verschärfte sich zudem durch eine stetige Bevölkerungszunahme sowie die Einführung der Hoplitenphalanx, die vermutlich einen gesellschaftlich-sozialen Umbruch nach sich zog.63 Die Hauptlast des Zweiten Messenischen Krieges lag jetzt nicht mehr allein bei den Adligen, sondern bei der Gesamtheit der Wehrfähigen, die nun als gleichberechtigte Bürger politische Forderungen stellten.64
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Vgl. Baltrusch 1998, 39. Vgl. Walter 1993, 166. Aristot. pol. V, 7 1306 b 36–41: […] ἔτι ὅταν οἱ μὲν ἀπορῶσι λίαν οἱ δ’ εὐπορῶσιν (καὶ μάλιστα ἐν τοῖς πολέμοις τοῦτο γίνεται· συνέβη δὲ καὶ τοῦτο ἐν Λακεδαίμονι ὑπὸ τὸν Μεσηνιακὸν πόλεμον· δῆλον δὲ [καὶ] τοῦτο ἐκ τῆς Τυρταίου ποιήσεως τῆς καλουμένης Εὐνομίας· θλιβόμενοι γάρ τινες διὰ τὸν πόλεμον ἠξίουν ἀνάδαστον ποιεῖν τὴν χώραν). Steinmetz 1969, 61 nimmt an, dass jene Gruppe von Bürgern, die nach dem Ersten Messenischen Krieg Land in Messenien erhielt, durch die Anfangserfolge der Messenier im Zweiten Messenischen Krieg diesen Besitz wieder verloren hatte und nun verlangte, das alte Land zurückzuerhalten. Ähnlich Fränkel 1969, 173. Die neue militärische Funktion der Phalanx wird meist aus den Versen des Tyrtaios gelesen, s. etwa Fr. 8 D, insbesondere V. 31–34. Vgl. Meier 1998, 229. Anderer Ansicht ist Latacz 1977, 243, der nachzuweisen versucht, dass bereits in der Ilias die Phalanxtaktik zum Einsatz kam. Krentz 2002, 23–39 stellt den Zusammenhang zwischen einer sich herausbildenden Hoplitenschicht und einer damit einhergehenden Forderung nach politischer Teilhabe jedoch in Frage, da seiner Meinung nach die Entwicklung hin zu einer voll ausgebildeten Hoplitenschicht erst Anfang des 5. Jh. abgeschlossen gewesen sei. Hall 2013, 15 merkt in diesem Sinne an, dass nicht alle Hopliten sich die gleiche Ausrüstung leisten konnten und sich die Statusunterschiede insofern in der Hoplitenphalanx manifestierten.
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Tyrtaios dichtete seine Eunomia also in einer Zeit, die durch innere Zerwürfnisse innerhalb der spartanischen Gesellschaft geprägt war. Der Demos, der nun als Hoplit im Zweiten Messenischen Krieg in die Hauptverantwortung gezogen wurde, kritisierte die aus dem Ersten Messenischen Krieg entstandene ungerechte Landaufteilung und forderte seinen gerechten Anteil. Innerhalb dieses gesellschaftspolitischen und hierbei insbesondere schichtenspezifischen Spannungsfeldes muss Tyrtaios seine Eunomia verfasst und vorgetragen haben. Zuletzt muss auf die konkrete Gelegenheit der Gedichtaufführung sowie das Publikum, vor welchem Tyrtaios seine Eunomia-Elegie vorgetragen haben könnte, eingegangen werden. Für Stehle ergibt sich der Aufführungsort der Eunomia dabei aufgrund ihres Inhalts: „The Eunomia is Tyrtaios’ most ambitious poem, so the occasion of its performance was probably a ceremony of reaffirmation of the political order.“65 In eine ähnliche Richtung geht Herington, der glaubt, dass Tyrtaios seine Dichtung für seine militärische und gesellschaftliche Politik instrumentalisierte. Die Eunomia sei insofern der „community as a whole“66 vorgetragen worden.67 Andererseits wurden politische und gesellschaftliche Themen gerade auch bei Symposien verhandelt und insofern ist es auch für die Dichtung des Tyrtaios möglich, dass sie in das spartanische Symposion Eingang fand. Rösler glaubt, dass der patriotische Anklang der Tyrtäischen Gedichte für das Symposion bzw. eine Syssitia spricht68 und Dihle vermutet, dass Tyrtaios „in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation für die Oberschicht des spartanischen Staates“69 dichtete. Meier verbindet hingegen öffentlichen und privaten Bereich, da er annimmt, dass die Dichter – und so auch Tyrtaios – den sympotischen Rahmen durchaus auch verlassen haben, um ursprünglich sympotische Themen einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und deren jeweilige Reaktion zu beobachten.70 So sind sowohl der sympotische als auch ein öffentlicher Rahmen für die Eunomia-Elegie denkbar. Auf Grundlage der Ergebnisse der Analyse soll sich hinsichtlich dieser Frage positioniert werden.
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Stehle 1997, 52. Herington 1985, 33. So auch Romney 2020, 54. Bowie 1986, 30–35 nimmt grundsätzlich an, dass längere Elegien in eine andere Kategorie fallen als die kurzen, für das Symposion bestimmten Elegien, und bei öffentlichen Wettkämpfen vorgetragen worden seien. Dazu zählt er auch die Tyrtäische Politeia bzw. Eunomia. Vgl. Rösler 1990, 234–235. Die Möglichkeit, dass Tyrtäische Dichtung in der Syssitia erklungen ist, ziehen auch Schmitt-Pantel 1990, 20 und Osborne 1996, 177 in Betracht. Dihle 1991, 47 Vgl. Meier 1998, 172 und 240.
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5.1.2 Analyse der Sprechakte Strab. VIII, 4, 10 = Fr. 2 D71 1 αὐτὸς γὰρ Κρονίων, καλλιστεφάνου πόσις Ἥρης, Ζεὺς Ἡρακλείδαις τήνδε δέδωκε πόλιν · οἷσιν ἅμα προλιπόντες Ἐρινεὸν ἠνεμόεντα εὐρεῖαν Πέλοπος νῆσον ἀφικόμεθα. 1 Zeus war es selbst, der Kronide, der Gatte der kränzegeschmückten Hera, welcher die Stadt euch, Herakliden, geschenkt; Ihnen waren wir einst von Erineos’ luftigen Höhen Nieder zu Pelops’ weit-räumiger Insel gefolgt.
Paus. IV, 6, 5 = Tyrtaios Fr. 4 D, V. 1–2 1 ἡμετέρωι βασιλῆϊ, θεοῖσι φίλωι Θεοπόμπωι, ὃν διὰ Μεσσήνην εἵλομεν εὐρύχορον, 1 Unserem König von einst, dem Götterfreund Theopompos, Der in Messenien uns weite Gebiete (sic) gewann;
Schol. Plat. leg. I, 629a = Tyrtaios Fr. 4D, V. 3 3 Μεσσήνην ἀγαθὸν μὲν ἀροῦν, ἀγαθὸν δὲ φυτεύειν 3 Ist doch Messenien gut zu säen und Bäume zu pflanzen.
Paus. IV, 15, 6 (sowie Strab. VI, 3, 3) = Tyrtaios Fr. 4 D, V. 4–6 4
ἀμφ’ αὐτὴν δ’ ἐμάχοντ’ ἐννεακαίδεκ’ ἔτη νωλεμέως αἰεί, ταλασίφρονα θυμὸν ἔχοντες, αἰχμηταὶ πατέρων ἡμετέρων πατέρες·
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Neunzehn Jahre hindurch, mußten um dieses Gebiet Unaufhörlich ringen mit langausharrendem Mute Unseres Vatergeschlechts kämpfende Väter von einst.
Paus. IV, 13, 6 (sowie Strab. VI, 3, 3) = Tyrtaios Fr. 4 D, V. 7–8 7 εἰκοστῶι δ’ οἵ μὲν κατὰ πίονα ἔργα λιπόντες φεῦγον Ἰθωμαίων ἐκ μεγάλων ὀρέων
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Die Tyrtäischen Eunomia-Fragmente sind hier und im Folgenden zitiert nach Diehl 1936. Die Übersetzung stammt von Maehler/Snell 1971. Textkritische Anmerkungen und abweichende Deutungen werden von der Verfasserin an entsprechender Stelle diskutiert.
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7 Endlich im zwanzigsten Jahre verließen jene die fetten Fluren und flohen hinab von den ithomischen Höhn
Paus. IV, 14, 5 = Tyrtaios Fr. 5 D 1
ὥσπερ ὄνοι μεγάλοισ’ ἄχθεσι τειρόμενοι, δεσποσύνοισι φέροντες ἀναγκαίης ὑπὸ λυγρῆς ἥμισυ πᾶν ὅσσων καρπὸν ἄρουρα φέρει. * δεσπότας οἰμώζοντες ὁμῶς ἄλοχοί τε καὶ αὐτοί, 5 εὖτέ τιν’ οὐλομένη μοῖρα κίχοι θανάτου. 1
So wie ein Esel, vom Joch mächtiger Lasten gedrückt, Tragen auch sie, gebückt von traurigem Zwange, die Hälfte Sämtlicher Früchte des Lands in seine Scheuern dem Herrn * Klagend um die Gebieter, sie selbst und all ihre Frauen, 5 Wenn der verderbliche Tod einen der Herren ergriff. (V. 1–5)
Diod. VII, 12, 6 = Fr. 3a D 1 ‚῟Ωδε‘ γὰρ ἀργυρότοξος ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων χρυσοκόμης ἔχρη πίονος ἐξ ἀδύτου· „ἄρχειν μὲν βουλῆι θεοτιμήτους βασιλῆας, οἷσι μέλει Σπάρτης ἱμερόεσσα πόλις, 5 πρεσβυγενεῖς τε γέροντας, ἔπειτα δὲ δημότας ἄνδρας εὐθείαις ῥήτραις ἀνταπαμειβομένους· μυθεῖσθαι δὲ τὰ καλὰ καὶ ἕρδειν πάντα δίκαια μηδέ τι βουλεύειν τῆιδε πόλει ‚σκολιόν‘· δήμου δε πλήθει νίκην καὶ κάρτος ἕπεσθαι.“ 10 Φοῖβος γὰρ περὶ τῶν ὧδ’ ἀνέφηνε πόλει. 1 So hat der Goldgelockte, der Gott mit dem silbernen Bogen, Phoibos Apoll in der reich prunkenden Halle verfügt: „Herrschen sollen im Rate die Könige, götterbegnadet, Denen am Herzen die Stadt Sparta, die ewige (sic), liegt. 5 Herrschen die würdigen Greise, mit ihnen die Bürger des Volkes, Wahrend das gültige Recht, wie es der Satzung entspricht Sollen Geziemendes reden und alles Gerechte erwirken, Nie unredlichen Rat geben der heimischen Stadt, Und die Versammlung soll durch den Sieg der Stimmen entscheiden!“ 10 Phoibos selber hat dies also verkündet der Stadt.
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Fr. 2 D Wie oben dargestellt, verfasste Tyrtaios in Zeiten äußerer Bedrohung sowie innerer Unruhe seine Eunomia. Die Sprechaktanalyse der Eunomia beginnt mit Fr. 2 D: In den ersten beiden Versen behauptet Tyrtaios, dass ihnen, den Herakliden, ihre Stadt von Zeus selbst geschenkt wurde. Zeus war es selbst, der Kronide, der Gatte der kränzegeschmückten Hera, welcher die Stadt euch, Herakliden, geschenkt;72 (V. 1–2)
In diesen Versen liegt also ein repräsentativer Sprechakt der Behauptung vor. Tyrtaios möchte damit die Bedeutung und Wichtigkeit Spartas betonen. Die Standard-Perlokution eines Repräsentativums ist epistemisch. Durch den Sprechakt der Behauptung ruft Tyrtaios den Spartanern ins Bewusstsein, dass es Zeus selbst αὐτὸς (zumal prominent am Versanfang (V. 1)) ist, der den Herakliden die Stadt geschenkt hat.73 Damit verleiht er seiner Aussage gleichsam besonderes Gewicht, indem er Sparta in den „Kontext göttlichen Wirkens und Waltens“74 stellt. Aus performativer Sicht ist hier zudem hervorzuheben, dass das Demonstrativpronomen τὴνδε (V. 2) den situationsbezogenen Charakter der Elegie anzeigt. Tyrtaios spricht unmittelbar zu den spartanischen Politen. Nachdem Tyrtaios in den ersten beiden Versen also an den Ursprung der göttlich gegebenen Stadt und damit an ihre Bedeutung für jeden einzelnen Spartaner erinnert hat, erinnert er seine Zuhörer in den folgenden Versen des Fragmentes an die Einwanderung der Lakedaimonier auf die Peloponnes: Ihnen waren wir einst von Erineos’ luftigen Höhen Nieder zu Pelops’ weit-räumiger Insel gefolgt.75 (V. 3–4)
Tyrtaios erinnert hier nun, dass die Spartaner einst (insofern also die Vorväter der Zuhörer) den Göttern auf die weiträumige Insel der Peloponnes folgten. Im Hinblick auf
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Fr. 2 D, V. 1–2: αὐτὸς γὰρ Κρονίων, καλλιστεφάνου πόσις Ἥρης, / Ζεὺς Ἡρακλείδαις τήνδε δέδωκε πόλιν; West 1992 ergänzt in V. 2 nicht „τήνδε δέδωκε πόλιν“, sondern „ἄστυ δέδωκε τό¢⸤δε“. Die Frage, welcher Variante hier der Vorzug zu geben ist, braucht an dieser Stelle jedoch nicht erörtert zu werden, weil der Sprechakt in beiden Varianten derselbe bleibt: Die Behauptung, dass Zeus den Herakliden die Stadt geschenkt habe. Noussia-Fantuzzi 2010, 73 erkennt darin eine spezifische Rhetorik des Tyrtaios, mit der er an eine gemeinsame Vergangenheit erinnert: „Tyrtaios, by contrast, leads his audience to ‚recognise’ or remember the images which he proposes as belonging to a shared tradition which he presents or reconstructs as inherited from the past […].“ Baltrusch 1998, 16–17 glaubt, dass Tyrtaios durch diese Behauptung die dorische Präsenz auf der Peloponnes legitimieren wollte. Meier 1998, 255. Fr. 2 D, V. 3–4: οἷσιν ἅμα προλιπόντες Ἐρινεὸν ἠνεμόεντα / εὐρεῖαν Πέλοπος νῆσον ἀφικόμεθα. Bei Erineos handelt es sich um eine Siedlung in der mittelgriechischen Landschaft Doris, die als letzter Ort der Dorer, in diesem Kontext also die (Vorfahren der) Lakedaimonier, vor der Einwanderung in die Peleponnes galt, vgl. Meier 1998, 257 mit Anm. 75.
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die bedrohliche Situation, in der sich die Spartaner zur Stunde des Gedichtvortrages befanden, in der nämlich zum einen der Verlust Messeniens durch den Aufstand der helotisierten Messenier drohte und zum anderen eine Forderung nach einer Neuverteilung des ungerecht aufgeteilten Landes durch den Demos laut wurden, wird deutlich, dass Tyrtaios mit diesen Versen nicht allein an die Einwanderung der Vorfahren in die Peloponnes erinnern möchte (sekundärer illokutionärer Akt), sondern primär seine Zuhörer, die sich der akuten Lage im gleichen Maße wie Tyrtaios bewusst sind, im Hier und Jetzt dazu aufruft, die Peloponnes – und im Speziellen Messenien – einzunehmen. Es handelt sich hier also aus sprechakttheoretischer Sicht um einen indirekten Sprechakt der Mahnung. Die Illokution der Mahnung gehört dabei in die Sprechaktklasse der Direktiva, es handelt sich also um eine Handlungsaufforderung. Schon Meier befand: „Inhaltlich sind die beiden Distichen […] sicherlich als indirekter Aufruf zur göttlich legitimierten Eroberung der Peloponnes, das heißt konkret Messeniens, anzusehen.“76 Interessant ist dabei, dass Tyrtaios in diesen Versen immer wieder den Bezug zum Göttlichen sucht und damit den Anspruch auf die Insel göttlich legitimiert. Dies stützt die These, dass es sich hier um einen Sprechakt der Mahnung handelt, da Mahnungen nach Harras bedeuten, „jemanden auffordern, etwas zu tun, das zu seinen Pflichten gehört.“77 Tyrtaios verkauft seinen Zuhörern die Eroberung Messeniens demnach als göttliche Pflicht. Steinmetz formuliert es noch schärfer: „Der Verzicht auf das messenische Land wäre demnach wider die göttliche Ordnung.“78 Durch die Erweiterungsprobe wird dabei ersichtlich, dass ein weiterer illokutionärer Akt in diesen Versen steckt: Durch den illokutionären Akt der Information setzt Tyrtaios seine Zuhörer darüber in Kenntnis, dass die Peloponnes εὐρεῖα ist. Diese Information stützt dabei jedoch den Sprechakt der Aufforderung zur Eroberung, weil er zu verstehen gibt, dass die Insel, respektive Messenien, genau das bietet, weswegen sie eingenommen werden muss: Weiträumiges Land. Hier wird auch begreiflich, dass auch der vorausgegangene Sprechakt der Behauptung, Zeus habe den Herakliden ihre Stadt geschenkt, den folgenden Sprechakt der Aufforderung stützt, weil durch die Erinnerung an die Bedeutung der Stadt (V. 1–2) eine religiöse Verpflichtung ihr gegenüber erwächst, der durch die Eroberung Messeniens und einer damit einhergehenden Lösung des Landproblems Rechnung getragen wird.
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Meier 1998, 257. Auch Walter 1993, 168 interpretiert Fr. 2 D als Aufruf zur Eroberung der ganzen Peloponnes. Er nimmt das γὰρ in V. 1 zum Anlass, davon auszugehen, dass in den vorausgehenden, nicht mehr existierenden Versen, „noch einmal eingeschärft wurde, sich nicht mit dem Eurotastal zufriedenzugeben, sondern um die ganze Peloponnes zu kämpfen […].“ Vgl. auch Baltrusch 1998, 16–17: „Tyrtaios deutet die dorische Wanderung genial um als legitime (Wieder-) Inbesitznahme eines von Zeus zugewiesenen Erbteils […]“. Vgl. darüber hinaus Steinmetz 1969, 61–62. Harras 2004, 134. Steinmetz 1969, 62.
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Vergangenheit und Gegenwart werden in diesen Versen also verschmolzen,79 sodass „der Mythos zur Geschichte wird, die wiederum das gegenwärtige Handeln legitimiert“80. Dieser Interpretation zu Folge hat Tyrtaios mit seinen sprachlichen Handlungen beabsichtigt, den Bürgern die Pflicht ins Bewusstsein zu rufen, die Stadt sowohl von innen zu erhalten als auch von außen gegen die Messenier zu verteidigen. Im Ganzen kann Fr. 2 D demnach als eine Handlungsaufforderung verstanden werden.81 Fr. 4 D Im Folgenden soll Fr. 4 D auf seine Sprechakte hin untersucht werden. Auch dieses Fragment bezieht sich auf Messenien und die Wichtigkeit seiner Eroberung. Gemeinhin werden die einzelnen Verse (Fr. 4 D, V. 1–2, V. 3, V. 4–6 und V. 7–8) trotz ihrer unabhängigen Überlieferung als zusammenhängender Text betrachtet.82 Meier hält es für angebracht, „die drei Messenien-Fragmente zwar als inhaltlich weitestgehend kohärent zu betrachten, von einem Zusammenschluß der Verse zu einem einzigen Fragment jedoch Abstand zu nehmen.“83 Für die Analyse der Sprechakte von Fr. 4 D bedeutet dies, dass die einzelnen Verse unabhängig voneinander auf ihre Sprechakte hin untersucht werden. Dass es wichtig ist, den Aufstand der Messenier abzuwehren, um damit die eigene, gottgegebene Stadt zu schützen, verdeutlicht Tyrtaios auch zu Beginn von Fr. 4 D: Unserem König von einst, dem Götterfreund Theopompos, Der in Messenien uns weite Gebiete (sic) gewann;84 (V. 1–2)
Auch hier beginnt Tyrtaios das Gedicht mit einer Erinnerung. Diesmal erinnert er an die Leistung König Theopomps, der für die Spartaner Land eroberte. Erneut realisiert Tyrtaios über das Erinnern dabei indirekt einen Sprechakt der Mahnung, weil er seinen Zuhörern die heroische Leistung eines spartanischen Königs vor Augen führt und damit gleichzeitig und eigentlich die Mahnung ausspricht, an die einstige Errun79 80 81
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So auch Walter 1993, 168. Meier 1998, 257. Vgl. ähnlich Baltrusch 1998, 17. Die Verse wurden teilweise als Aufruf zum Gehorsam gegenüber dem von Gott eingesetzten Königshaus interpretiert. Etwa van Wees 2002, 92–93; West 1974, 184; Jacoby 1918, 285. Eine solche Interpretation setzt jedoch voraus, dass mit den Herakliden nicht die Gesamtheit der spartanischen Bürger, sondern lediglich das Königsgeschlecht oder herausragende Familien gemeint sind. Zur Diskussion dieser Fragestellung vgl. Huttner 1997, 44–47. Hier soll aber davon ausgegangen werden, dass Tyrtaios alle Spartaner anspricht, was sich auch mit der Übersetzung von Maehler/ Snell 1971 von „euch, Herakliden“ deckt. Zudem sprich Tyrtaios an anderer Stelle die Spartaner als Nachkommen des Herakles an: Fr. 8 D, V. 1. Vgl. hierzu die Ausführungen von Meier 1998, 258–260. Ebd., 260. Fr. 4 D, V. 1–2: ἡμετέρωι βασιλῆϊ, θεοῖσι φίλωι Θεοπόμπωι, / ὃν διὰ Μεσσήνην εἵλομεν εὐρύχορον,
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genschaft anzuknüpfen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen auch hier, weil einstige Erfolge bis jetzt Bedeutung haben und auf die Zuhörer nachwirken. Tyrtaios’ Anliegen ähnelt hier also seiner Intention in Fr. 2 D, was sich auch daran zeigt, dass er es durch die Bezeichnung Theopomps als Götterfreund ebenfalls religiös legitimiert.85 So erzeugt Tyrtaios durch diesen Sprechakt auch hier bei seinen Zuhörern Gefühle der Verpflichtung gegenüber einem göttlichen Akt der Unterstützung. Wie oben dargestellt, befindet sich Sparta zu diesem Zeitpunkt in einer äußeren wie inneren Krise. Außenpolitisch muss es, wie Tyrtaios indirekt fordert, Messenien halten. Innenpolitisch verlangt das Zerwürfnis der Bürger untereinander, insbesondere zwischen Adel und Demos, eine Lösung in Bezug auf die Frage nach einer gerechten Landverteilung. In diesem Kontext ist der folgende Vers zu verorten. Wieder bringt Tyrtaios darin Messenien ins Spiel: Ist doch Messenien gut zu säen und Bäume zu pflanzen.86 (V. 3)
Was sekundär eine Behauptung ist, kann hier, das heißt im Hinblick auf die gegebene Situation, in der sich Sprecher und Hörer befinden, als eine Aufforderung zur Eroberung des fruchtbaren Messeniens gelesen werden. Denn durch eine Eroberung Messeniens, welches im Ersten Messenischen Krieg ja nur zu Teilen okkupiert worden war, könnte die Frage nach dem Landproblem kompensiert werden. Auch Meier findet, dass dieser Vers „zweifellos ein paränetischer Appell an die Spartaner [war], der vor dem Hintergrund des spartanischen Landproblems und seiner Kanalisation nach außen zu bewerten ist […]“87 Allerdings soll hier bewusst von Aufforderung und nicht von Appell gesprochen werden, weil ein Appell nach Harras stets moralisch konnotiert ist,88 wovon an dieser Stelle nicht auszugehen ist. Ähnlich wie in Fr. 2 D und in den V. 1–2 von Fr. 4 D erinnert Tyrtaios auch in den Versen 4–6 von Fr. 4 D an rühmliche Vorfahren: Neunzehn Jahre hindurch, mußten um dieses Gebiet Unaufhörlich ringen mit langausharrendem Mute Unseres Vatergeschlechts kämpfende Väter von einst.89(V. 4–6)
Tyrtaios erinnert mit diesen Versen an den langen und zehrenden Ersten Messenischen Krieg, den die Vorfahren 19 Jahre lang austrugen. Wie schon an anderer Stelle, so will Tyrtaios jedoch auch hier mehr tun, als lediglich an die Leistungen der Vorväter zu erinnern. Vielmehr möchte er seine Zuhörer dazu bewegen, dieselbe Leistung zu erbrin85 86 87 88 89
Walter 1993, 168 glaubt, dass Tyrtaios hier auf Theopomp verweist, weil er damit andeuten will, dass eine starke Führung die Voraussetzung für den Erfolg sei. Fr. 4 D, V. 3: Μεσσήνην ἀγαθὸν μὲν ἀροῦν, ἀγαθὸν δὲ φυτεύειν Meier 1998, 261. Vgl. Harras 2004, 161. Fr. 4 D, V. 4–6: ἀμφ’ αὐτὴν δ’ ἐμάχοντ’ ἐννεακαίδεκ’ ἔτη / νωλεμέως αἰεί, ταλασίφρονα θυμὸν ἔχοντες, / αἰχμηταὶ πατέρων ἡμετέρων πατέρες·
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gen wie einst die vorbildhaften Vorfahren. Die Zuhörer sollen in die Fußstapfen ihrer Vorväter treten und in den Kampf um Messenien ziehen. Es handelt sich hier demnach erneut um einen indirekten Sprechakt der Mahnung. Welwei formuliert prägnant: „Die Spartaner des zweiten Messenischen Krieges sollen würdige Nachfahren der einstigen Gefolgschaft des Geschlechts des unbesiegbaren Herakles sein.“90 Die Erinnerung an die tapferen Vorfahren soll das Pflichtbewusstsein der Zuhörer hervorrufen. Die Illokution der Mahnung wird dabei dreimal von Tyrtaios realisiert: 1) Weil die Vorväter 19 Jahre lang kämpften, darf dieses Gebiet nicht aufgegeben werden und deswegen muss 2) unaufhörlich gerungen werden und 3) langausharrender Mut muss bewiesen werden. All dies, das implizieren die Mahnungen, erwartet Tyrtaios nun auch von seinen Zuhörern.91 Wie Meier aufzeigt, bedient sich Tyrtaios dabei der epischen Sprache, um seinen Worten größtmöglichen Nachdruck zu verleihen.92 Interessant ist hier auch die Verwendung des Possessivpronomens ἡμέτερος. Tyrtaios spricht demnach nicht allein zu den Männern, sondern begreift sich gleichsam als Teil der Gruppe. Die Handlungsanweisungen, die er den Zuhörern gibt, betreffen ihn also genauso, er schließt sich selbst mit ein. ἡμέτερος verweist zudem auf den performativen Charakter des Gedichtes. In den letzten Versen des Fragments erinnert Tyrtaios schließlich an den Ausgang des vergangenen Ersten Messenischen Krieges: Endlich im zwanzigsten Jahre verließen jene die fetten Fluren und flohen hinab von den ithomischen Höhn.93 (V. 7–8)
So wie die vorausgegangenen Verse, sind auch diese Verse indirekt zu verstehen. Denn hier macht Tyrtaios über den Vollzug der vermeintlich neutralen Erinnerung eine Prophezeiung. Er zeigt den Spartanern auf, dass langausharrendes Kämpfen belohnt wird. Durch die Erweiterungsprobe kann dabei ein weiterer Sprechakt herausgelesen werden: In V. 7 liegt ein illokutionärer Akt der Information vor, denn Tyrtaios gibt den Zuhörern zu verstehen, dass den Spartanern im Falle eines Sieges in Messenien große Beute, nämlich die fetten Fluren, zufallen wird. Dies sollte sicherlich den Anreiz bei den Zuhörern steigern, den Aufstand der Messenier niederzuschlagen und im Zuge dessen das messenische Land, wie bereits mehrfach gefordert, (zurück zu) erobern. Dass Messenien fruchtbar ist, ging bereits aus Fr. 4 D, V. 3 hervor. Der illokutionäre
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Welwei 2007, 76. So auch Welwei 2007, 76. Vgl. Meier 1998, 263–265. Meier 1998, 265 interpretiert den homerischen Sprachgebrauch zudem als gewollten Ausdruck einer „politisch-zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber dem äußeren Gegner Messenien.“ Dass Tyrtaios’ Zuhörer in der Lage waren, die epische Kunstsprache zu verstehen, zeigt Rösler 1980, 70. Zum Gebrauch homerischer Wörter bei Tyrtaios vgl. grundsätzlich Snell 1969. Fr. 4 D, V. 7–8: εἰκοστῶι δ’ οἵ μὲν κατὰ πίονα ἔργα λιπόντες / φεῦγον Ἰθωμαίων ἐκ μεγάλων ὀρέων.
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Akt der Information unterstützt hier den Sprechakt der Prophezeiung, weil einmal mehr verdeutlicht wird, warum tapferes Kämpfen belohnt wird. Schlussendlich will Tyrtaios seine Zuhörer also davon überzeugen, dass der Kampf um Messenien gewonnen werden kann.94 Die an die repräsentative Illokution der Prophezeiung gebundene Perlokution ist epistemisch, besteht also darin, dass der Hörer glauben soll, was der Sprecher gesagt hat. Die hier gemachte Prophezeiung ist dabei schlussendlich auch dazu da, die Hauptintention Tyrtaios’, nämlich die Spartaner dazu zu ermahnen, Messenien zu erobern, zu unterstützen. Der Sprechakt der Prophezeiung ist dem vorausgegangenen Sprechakt der Mahnung deswegen subordiniert. Fr. 5 D Es geht Tyrtaios aber nicht nur um die Fruchtbarkeit des Landes, dessen Besitz zur Lösung der sozialen Krise beitragen könnte, sondern auch um die Freiheit selbst, wie Fr. 5 D zeigt: So wie ein Esel, vom Joch mächtiger Lasten gedrückt, Tragen auch sie, gebückt von traurigem Zwange, die Hälfte Sämtlicher Früchte des Lands in seine Scheuern dem Herrn * Klagend um die Gebieter, sie selbst und all ihre Frauen, Wenn der verderbliche Tod einen der Herren ergriff.95 (V. 1–5)
In diesen Versen beschreibt Tyrtaios das Schicksal von Menschen, die von ihren Herren unterdrückt werden. Dabei vergleicht er einen Unfreien mit einem Esel, der, erdrückt von der großen Last, die Hälfte seines Ertrages an seinen Herren abgeben und selbst an der Trauerfeier des Feindes teilnehmen muss. Die Mehrheit der Forschung nimmt an, dass hiermit das Schicksal der Messenier beschrieben wird, die nach dem Ersten Messenischen Krieg in Helotie gerieten.96 Mit Sicherheit kann dies jedoch keinesfalls gesagt werden, wie Meier schlüssig dar-
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95 96
So auch schon Meier 1998, 264: „Indem Tyrtaios somit die ungeheure Größe des 1. Messenischen Krieges in aller Deutlichkeit hervorhebt, relativiert er zugleich die Probleme, die der gegenwärtige messenische Aufstand bereitet; eine Polis, der es immerhin gelungen ist, aus diesem ersten Krieg siegreich hervorzugehen, wird an der Erhebung der Messenier kaum zugrunde gehen.“ Fr. 5 D, V. 1–5: ὥσπερ ὄνοι μεγάλοισ’ ἄχθεσι τειρόμενοι, / δεσποσύνοισι φέροντες ἀναγκαίης ὑπὸ λυγρῆς / ἥμισυ πᾶν ὅσσων καρπὸν ἄρουρα φέρει. / * / δεσπότας οἰμώζοντες ὁμῶς ἄλοχοί τε καὶ αὐτοί, / εὖτέ τιν’ οὐλομένη μοῖρα κίχοι θανάτου. Etwa Bringmann 2016, 162–163; Baltrusch 1998, 38; Osborne 1996, 177; Thommen 1996, 51–52; Fränkel 1969, 172; Bowra 1960, 47.
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stellt:97 Es ist ebenfalls möglich, dass Tyrtaios hier nicht das Schicksal der Messenier beschreibt, sondern hier ganz allgemein das Schicksal eines Volkes (jeglicher Polis), das im Krieg unterliegt, darstellt.98 Für die Analyse der Sprechakte in diesen Versen ist eine konkrete Zuschreibung jedoch nicht entscheidend. Denn unabhängig davon, ob Tyrtaios hier an das Schicksal der Messenier nach dem Ersten Messenischen Krieg erinnert oder aber ganz allgemein die Unterdrückung eines Volkes beschreibt, ist aufgrund der gegebenen Situation, in der der Gedichtvortrag stattfand, nämlich die militärische Auseinandersetzung Spartas mit Messenien, klar, dass Tyrtaios durch das Bild der drückenden Situation von Besiegten hier primär einen illokutionären Akt der Warnung vollzieht und zwar eine Warnung vor den Folgen einer Niederlage gegen Messenien für die Spartaner. Dabei beinhalten die Verse gleich mehrere illokutionäre Akte der Warnung: 1) Eine Warnung vor dem Verlust der Lebensfreude 2) Eine Warnung vor dem Verlust der Hälfte der Ernte sowie insbesondere 3) Eine Warnung vor dem Verlust der Ehre.99 Zudem zeigt die Erweiterungsprobe, dass in den Versen auch zwei Behauptungen vorliegen, indem Tyrtaios nämlich die zu tragenden Lasten (V. 1: μεγάλοισ’ ἄχθεσι) und den zu ertragenden Zwang (V. 2: λυγρῆς ἀναγκαίης) nennt. Diese Behauptungen unterstützen dabei die dominierenden Sprechakte der Warnung. Neben dem repräsentativen Charakter der Warnungen (Tyrtaios will seinen Zuhörern klarmachen, dass die angedrohte Situation Wirklichkeit werden kann (epistemische Standard-Perlokution)) zeigt sich hier auch der direktive Charakter der Warnungen: Weil Tyrtaios im Kontext der schweren außenpolitischen Spannungen mit Messenien primär erreichen will, den Aufstand der messenischen Heloten niederzuschlagen und das messenische Land zu erobern, will er mit Hilfe der Warnungen gleichfalls erreichen, dass die Zuhörer zur Tat schreiten, bevor das beschriebene Schreckensszenario überhaupt wahr werden kann (motivationale Standard-Perlokution). Fr. 3a D Das folgende Fragment gilt als Herzstück der Eunomia.100 Bezog sich Tyrtaios in den oben analysierten Fragmenten noch auf die äußere Bedrohung durch die Messenier, kommt es ihm in Fr. 3a D auf innere Eintracht der poli97
Meier 1998, 267 listet die verschiedenen Forschungsmeinungen bzgl. des Verständnisses der Verse auf. 98 Vgl. ebd., 266–269. 99 Link 2000, 54 glaubt hingegen, dass Tyrtaios seine Zuhörer hier mit der Aussicht darauf anspornen wollte, dass die helotisierten Messenier nach einem Sieg der Spartaner ihren Herren (erneut) Abgaben leisten mussten. Nach dieser Interpretation würde es sich demnach nicht um einen Sprechakt der Warnung, sondern um einen Sprechakt der Prophezeiung handeln. 100 Vgl. etwa Hölscher 1994, 82.
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tischen Gemeinde an. In diesem Fragment gibt Tyrtaios einen Orakelspruch wieder, den Lykurg von der Pythia in Delphi erhalten hat. Tyrtaios beginnt dabei mit den einleitenden Worten: So hat der Goldgelockte, der Gott mit dem silbernen Bogen, Phoibos Apoll in der reich prunkenden Halle verfügt:101 (V. 1–2)
Hier stellt Tyrtaios die Behauptung auf, dass der delphische Gott Apoll etwas verfügt habe. Was genau er verfügt hat, erfährt das Publikum erst im weiteren Verlauf des Gedichtes. Eingeleitet wird der Inhalt dieser Verfügung, der der zentrale Teil des Gedichtes ist, jedoch durch die Behauptung, dass Apoll dies selbst verfügt habe. Damit will Tyrtaios an dieser Stelle verdeutlichen, dass die nun folgenden Bestimmungen göttlich – durch Apoll, dem Gott, der, wie Meier anmerkt, schon immer eine besondere Bedeutung für die Spartaner hatte – sanktioniert sind.102 Nun folgt die Bestimmung des Gottes, die Tyrtaios in direkter Rede wiedergibt.103 Dabei bezieht sich der Dichter nacheinander auf die unterschiedlichen Polisorgane.104 Er beginnt mit dem Rat: „Herrschen sollen im Rate die Könige, götterbegnadet, Denen am Herzen die Stadt Sparta, die ewige (sic), liegt.105 (V. 3–4)
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Fr. 3a D, V. 1–2: ‚῟Ωδε‘ γὰρ ἀργυρότοξος ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων / χρυσοκόμης ἔχρη πίονος ἐξ ἀδύτου· 102 Vgl. Meier 1998, 247. Wie ebd. 248 richtig anmerkt, wurden die Bestimmungen der Großen Rhetra, die dem Gedicht möglicherweise zugrunde liegen, sehr wahrscheinlich „aufgrund eines allgemeinen Konsenses ausgehandelt und nicht durch einen Gott diktiert; die Verbindung mit dem delphischen Apoll dient daher in erster Linie der Sanktionierung des in der Rhetra und von Tyrtaios Ausgesagten.“ Baltrusch 1998, 25 stellt ganz allgemein für die spartanische Verfassung in frühgriechischer Zeit fest: „Die Anbindung der Verfassung an die Götter, von denen man sich Schutz, Hilfe und Begünstigung erhoffte, verhinderte, daß über diese Verfassung beliebig disponiert wurde.“ Vgl. ähnlich Thommen 1996, 33 103 Eine Redewiedergabe kann in ihrer Gesamtheit illokutionäres Potential enthalten, weil sie eine bestimmte kommunikative Funktion übernimmt. So kann etwa über die Äußerung „Der Chef hat mir aber gesagt, dass ich es so machen soll“ (indirekte Rede) oder „Der Chef hat gesagt: ‚Das soll ich so machen‘“ (direkte Rede) ein illokutionärer Akt der Rechtfertigung vollzogen werden, vgl. Hindelang 2010, 35–36. Hier sind die in direkter Rede wiedergegebenen Verfügungen des Apoll, wie die Analyse zeigen wird, als göttlich sanktionierte Anordnung zu verstehen, die Tyrtaios seinen Zuhörern über die Redewiedergabe erteilt. Dabei gibt Tyrtaios zwar vermeintlich die Worte des Apoll wieder, spricht jedoch vielmehr durch ihn selbst zu den Adressaten. Es soll hier insofern nicht von indirekten Sprechakten gesprochen werden. Dass es sich hier nicht um direkte Rede handelt, glaubt Hölscher 1968, 419; er begründet jedoch wenig überzeugend: „Tyrtaios jedenfalls hat sie (die Orakelanweisung, Anm. AvdD) nicht als den Wortlaut des Orakels gemeint, das wird durch τῆιδε πόλει, d. h. „unsere Stadt“ ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird es auch durch Diodors Schlußvers Φοῖβος γάρ …, der keine wörtlich gesprochene Rede des Apolls abschließen kann.“ 104 Für eine nähere Beschäftigung mit den einzelnen von Tyrtaios genannten Organen vgl. Thommen 2003, 33–37. 105 Fr. 3a D, V. 3–4: „ἄρχειν μὲν βουλῆι θεοτιμήτους βασιλῆας, / οἷσι μέλει Σπάρτης ἱμερόεσσα πόλις, Maehler/Snell 1971 ersetzen in ihrer Ausgabe „ἱμερόεσσα“ (V. 4) durch „ἰσχερόεσσα“, woraus sich
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Tyrtaios sagt in diesen Versen, dass die Könige im Rat herrschen sollen. Wie eingangs dargelegt, ist es möglich, dass Tyrtaios sich mit seinen Worten auf die Bestimmungen der Großen Rhetra bezieht, welche die einzelnen politischen Institutionen der spartanischen Gemeindeordnung festlegte.106 Unabhängig davon, ob hier tatsächlich die Große Rhetra paraphrasiert wird,107 beruft Tyrtaios sich an dieser Stelle, wie er selbst eingangs behauptet hat, auf eine von Apoll gegebene Bestimmung. Insofern handelt es sich aus sprechakttheoretischer Sicht um einen Sprechakt der Anordnung. Weil Tyrtaios sich hier auf eine bereits eingerichtete Bestimmung des Apoll beruft, die er nun an seine Zuhörer heranträgt, soll seine Äußerung als sprachliche Handlung des Anordnens interpretiert werden. Die Verwendung des imperativischen Infinitivs ἄρχειν unterstützt diese Deutung. Tyrtaios ordnet an, dass die Könige im Rat herrschen sollen. Im vierten Vers der Elegie behauptet Tyrtaios dann, dass den Königen die Stadt Sparta am Herzen liege. Eigentlich möchte er damit jedoch vielmehr ausdrücken, dass den Königen für die Erfüllung ihrer Aufgaben die Stadt am Herzen liegen soll. Die Beschreibung der Stadt als ἱμερόεσσα stützt diese Auffassung, weil dadurch die Bedeutung und Wichtigkeit der Heimatpolis, die es zu schützen gilt, betont wird. Der illokutionäre Zweck dieser Aussage ist also primär eine Aufforderung, auch wenn der sekundäre illokutionäre Akt eigentlich eine Behauptung ist. Die in V. 4 vorliegende Aufforderung ist dem vorausgegangenen Sprechakt der Anordnung jedoch subordiniert. Der Sprechakt der Anordnung findet sich auch im folgenden Vers, mit dem sich Tyrtaios wieder auf die Institutionen bezieht: Herrschen die würdigen Greise, mit ihnen die Bürger des Volkes,108 (V. 5)
Wie in V. 3 gibt Tyrtaios hier erneut Anordnungen. Diesmal sind es Anordnungen in Bezug darauf, wer neben den Königen in der Polis herrschen soll: Zum einen sind das die würdigen Greise, die γέροντες – hier bezieht Tyrtaios sich auf den Ältestenrat, die Gerusia – zum anderen sind es die Bürger des Volkes, die δημόται, in der Apella. Hat Tyrtaios sich bis hierhin mit den einzelnen Institutionen der Gemeinschaft auseinandergesetzt, geht es in den nun folgenden Versen um das Verhalten der Politen. Wie zuvor, vollzieht Tyrtaios auch hier direktive Sprechakte: Wahrend das gültige Recht, wie es der Satzung entspricht Sollen Geziemendes reden und alles Gerechte erwirken,
die Übersetzung von „ewig“ ergibt. Für den Sprechakt spielt die Bedeutung des Wortes jedoch keine Rolle, da unabhängig vom ergänzten Wort die Illokution der Aufforderung dieselbe bleibt. 106 Für Meier 1998, 250 ist auch die Verwendung des Begriffes ῥήτρα in V. 6 ein Indiz dafür, dass hier auf die Große Rhetra Bezug genommen wird. 107 S. hierzu S. 113, Anm. 39. 108 Fr. 3a D, V. 5: πρεσβυγενεῖς τε γέροντας, ἔπειτα δὲ δημότας ἄνδρας
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Nie unredlichen Rat geben der heimischen Stadt, Und die Versammlung soll durch den Sieg der Stimmen entscheiden!“109 (V. 6–9)
In den Versen 6, 7 und 9 liegen wieder Sprechakte der Anordnung vor. Tyrtaios gibt die Anordnung, das gültige Recht zu wahren,110 Geziemendes zu reden, Gerechtes zu erwirken sowie die Anordnung, dass die Versammlung durch den Sieg der Stimmen entscheiden soll. Meier begründet schlüssig, dass damit wahrscheinlich sowohl die Könige als auch die Gerusia und die Apella angesprochen sind.111 Die Anordnungen richten sich demnach an alle an der Macht beteiligten Personengruppen.112 Hat Tyrtaios in den Versen 6, 7 und 9 Anordnungen gegeben, auf welche Weise gehandelt werden soll, geht es in V. 8 im Gegensatz dazu darum, wie nicht gehandelt werden soll: Kein unredlicher Rat darf der Stadt gegeben werden. Hierbei handelt es sich demnach um einen Sprechakt der N-Anordnung. Auch dies ist ein direktiver Sprechakt, also eine Handlungsanweisungen, weil von jemandem gefordert wird, etwas nicht zu tun. Interessant ist hier zudem die (bereits oben erwähnte) Verwendung von τῇδε. Meier weist darauf hin, dass damit einerseits klar der Bezug zur Polis Sparta gegeben ist. Andererseits, so Meier weiter, wird dadurch auch die aus der gegenwärtigen Situation heraus abgeleitete unmittelbare Absicht der Verse offensichtlich: „Als Element lokaler Deixis bezeichnet das Wort klar den unmittelbaren, aus der gegenwärtigen Situation heraus abzuleitenden Zweck der Eunomia-Verse, die offenbar zum direkten mündlichen Vortrag vor dem spartanischen Publikum komponiert wurden.“113 Mit Vers 9 endet hier die Redewiedergabe des Apoll.114 Um jedoch noch einmal zu unterstreichen, dass die vielen Anordnungen, die Tyrtaios seinen Zuhörern durch die Wiedergabe des Orakels gibt, auch wirklich befolgt werden, greift der Dichter am Schluss des Fragmentes den eingangs hergestellten Bezug zum delphischen Gott noch einmal auf: Phoibos selber hat dies also verkündet der Stadt.115 (V. 10)
109 Fr. 3a D, V. 6–9: „εὐθείαις ῥήτραις ἀνταπαμειβομένους· / μυθεῖσθαι δὲ τὰ καλὰ καὶ ἕρδειν πάντα δίκαια / μηδέ τι βουλεύειν τῆιδε πόλει ‚σκολιόν‘· / δήμου δε πλήθει νίκην καὶ κάρτος ἕπεσθαι.“ 110 Van Wees 1999, 10 nimmt an, dass in V. 6 deutlich werde, dass das Volk die Anweisungen der Autoritäten zu akzeptieren habe und sich so verhalten sollen, wie es die „ruler“ vorgeben. Er gründet diese Interpretation auf der Annahme, dass zu Tyrtaios’ Zeit das Volk den Herrschern gegenüber zu Gehorsam verpflichtet war. Ähnlich Walter 1993, 162. Dagegen Raaflaub 2006, 397: „[…] the dêmos is not supposed to be silent and simply rubberstamp proposals from above. Rather, debate and sovereignty are placed in the assembly, even if this assembly does not have the right of initiative […].“ 111 Vgl. Meier 1998, 250. 112 Ebd., 248 erkennt in dem Wechsel von der Darstellung der Institution (etwa V. 5 und V. 7) und ihrer Bedeutung für die Polis Sparta (etwa V. 6 und V. 8) die ideale wechselseitige Verbindung von Staat und Politen. 113 Ebd., 251. 114 Wie oben dargestellt, geht ebd., 251 von einem Ende des Orakelspruches nach V. 8 aus. 115 Fr. 3a D, V. 10: Φοῖβος γὰρ περὶ τῶν ὧδ’ ἀνέφηνε πόλει.
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So wie zu Beginn des Gedichtes, handelt es sich bei diesem abschließenden illokutionären Akt um eine Behauptung. Wieder geht es darum, zu betonen, dass die Bestimmungen von einem Gott kommen. Die Zuhörer sollen diese Tatsache glauben. Die Standard-Perlokution des repräsentativen Sprechaktes der Behauptung ist epistemisch. Noch einmal will Tyrtaios hier also verdeutlichen, dass die politische Ordnung durch den Bezug zum Gott religiös sanktioniert ist. Die Forderungen, die Tyrtaios durch die Redewiedergabe an seine Zuhörer – und im weiteren Sinn an die einzelnen Polisorgane – stellt, legitimiert er also durch die Verbindung zu dem Orakel von Delphi. Dadurch erhält sie besonderes Gewicht und Autorität. Schon die beiden ersten Verse haben diese verpflichtende Wirkung auf die Zuhörer entfaltet. Diesen verpflichtenden Charakter seiner Äußerungen festigt Tyrtaios nun auch im letzten Vers des Gedichtes, wenn er noch einmal behauptet, dass Phoibos dies der Stadt verkündet habe. 5.1.3 Ergebnisse Die Gedichte des Tyrtaios spiegeln eine Zeit wider, die durch außenpolitische Konflikte mit dem messenischen Nachbarn und damit einhergehenden innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Sparta geprägt ist. Mit seinen später so genannten Eunomia-Gedichten reagiert Tyrtaios auf diese schweren außen- und innenpolitischen Spannungen. In der Untersuchung wurden dabei die Frr. 2 D, 4 D, 5 D und 3a D als Teile des Gesamtkomplexes Eunomia verstanden, weil in ihnen ein (un-) mittelbarer Bezug zur Krise der Polis erkennbar ist. Sie wurden deswegen (in obiger Reihenfolge) jeweils auf ihre Sprechakte hin untersucht. In Fr. 2 D behauptet Tyrtaios, dass die Gründung der Stadt Sparta auf Göttervater Zeus zurückgehe und fordert seine Zuhörer durch einen Sprechakt der Mahnung dazu auf, die Peloponnes zu erobern. In Fr. 4 D mahnt Tyrtaios seine Zuhörer, Messenien zu erobern, indem er an die heroischen und erfolgreichen Taten der Vorfahren im Ersten Messenischen Krieg erinnert und den Spartanern gleichfalls durch Sprechakte der Prophezeiung das fruchtbare Land in Aussicht stellt. In Fr. 5 D warnt Tyrtaios seine spartanischen Zuhörer vor den Folgen einer Niederlage gegen die Messenier. In Fr. 3a D behauptet er, dass der Gott Apoll gewisse Bestimmungen verfügt habe. Durch die Wiedergabe der Worte des Gottes gibt Tyrtaios Anordnungen in Bezug auf das Zusammenspiel der einzelnen spartanischen Verfassungsorgane. Die analysierten Gedichte bestehen größtenteils aus direktiven, also handlungsanweisenden, Sprechakten: Mahnungen, (Auf-) Forderungen und Anordnungen prägen hier die Dichtung des Tyrtaios. Das perlokutionäre Ziel ist insofern fast ausschließlich das gleiche: Tyrtaios möchte seine Zuhörer zum Handeln bewegen (motivationale Standard-Perlokution). Dabei ist jedoch auffällig, dass sich die Sprechakte in den Frr. 2 D, 4 D und 5 D von denen in Fr. 3a D deutlich unterscheiden: Liegen in den
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Tyrtaios von Sparta
erstgenannten Gedichten vorrangig Mahnungen (insbesondere Fr. 2 D und Fr. 4 D) und Warnungen (Fr. 5 D), aber auch repräsentative Sprechakte, vor, ist Fr. 3a D von Sprechakten des Anordnens geprägt. Die Sprechakte in den Frr. 2 D, 4 D, und 5 D sind dabei zudem indirekt, wohingegen die Anordnungen in Fragment 3a D direkt vollzogen werden.116 Diese Unterscheidung der Sprechakte entspricht dabei einer inhaltlichen Unterscheidung: Beziehen sich die Frr. 2 D, 4 D und 5 D auf ein außenpolitisches Thema, nämlich die Eroberung Messeniens, geht es in Fr. 3a D um innenpolitische Angelegenheiten. Es erscheint insofern folgerichtig, entgegen der Mehrheit der Forschung, vorerst eine Trennung zwischen Fr. 3a D und den anderen Fragmenten vorzunehmen. Die folgenden Rückschlüsse, die die jeweiligen Sprechakte auf den historischen Kontext, in dem gesprochen wurde, zulassen, sollen deswegen getrennt voneinander gezogen werden. a) In den Frr. 2 D und 4 D dominieren Sprechakte der Mahnung. Primäres Ziel des Tyrtaios ist hier, die Zuhörer zum Handeln zu bewegen. Er möchte, dass sie die eigene Stadt vor dem messenischen Aufstand schützen und im Zuge dessen das ganze messenische Land erobern. Auch die in Fr. 5 D vollzogenen Warnungen dienen dem Ziel, die Zuhörer zum Kämpfen anzuspornen. Die durch die Warnung ausgelösten Gefühle der Angst sollen die Zuhörer dazu veranlassen, den angedrohten Zustand nicht eintreten zu lassen. Das bedeutet hier konkret, die militärische Auseinandersetzung mit den Messeniern zu suchen und zu gewinnen, um nicht in den Status eines unterdrückten Volkes zu gelangen. Tyrtaios will seine Zuhörer also zum Handeln bewegen. Dafür muss er sie jedoch erst noch überzeugen. Aus diesem Grund vollzieht er ebenfalls repräsentative Sprechakte der Information, Prophezeiung und Warnung. Die in den Frr. 2 D und 4 D dominierenden Sprechakte der Mahnung zeigen dabei, dass das, was Tyrtaios hier fordert, nicht aus eigenem Antrieb geschehen würde. Ansonsten bräuchte er seine Zuhörer nicht dazu zu ermahnen (Einleitungsregel einer Mahnung). Zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages (wobei hier nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Fragmente nahtlos aufeinander folgten, vielmehr werden sie zu einem nicht näher bestimmbaren Gesamtgebilde gezählt) muss demnach erst
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Aus diesem Grund wird Fr. 2 D hier zu den Fragmenten 4 D und 5 D gerechnet. Denn wie in Fr. 4 D erinnert Tyrtaios in Fr. 2 D an vergangene Ereignisse, die die Existenz Spartas als dominierende Polis auf der Peloponnes bedingen. Auch für Fr. 5 D ist nicht ausgeschlossen, dass Tyrtaios sich an den Zustand der helotisierten Messenier erinnert. Rechnet man Fr. 5 D dazu, geht es insofern in allen drei Fragmenten um die Erinnerung an vergangene Ereignisse, die der Grund für ein Handeln in der Gegenwart sind.
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noch der Entschluss gefasst werden, erneut gegen Messenien in den Krieg zu ziehen und das messenische Land zu erobern. Dabei geht es primär nicht um die Niederschlagung des Messenischen Aufstandes – dies brauchte Tyrtaios sicherlich nicht erst von den Spartanern einzufordern – sondern vielmehr um den Kampf um ganz Messenien zur Kompensation der Landnot, was zum Abbau der Spannungen zwischen Adel und Demos führen sollte. Die repräsentativen Sprechakte, mit denen Tyrtaios Wahrheit für das Gesagte beansprucht (etwa die Aussicht auf den Besitz des fruchtbaren Messeniens oder das Gegenteil: Der drückende Status von Besiegten), stützen deswegen seine Handlungsanweisungen. Tyrtaios gibt in den Frr. 2 D, 4 D und 5 D keine Anweisungen oder Befehle, sondern muss die zuhörenden Männer offenbar erst noch dazu bewegen, sich für das militärisches Vorhaben zu entscheiden. Zum einen zeigt dies, dass der Einsatz um Messenien zum Zeitpunkt des Vortrages dieser Verse noch bevorstand. Damit sind sie vermutlich zeitlich früher anzusetzen als das im Folgenden untersuchte Fr. 7 D. Zum anderen wird durch die Tatsache, dass hier noch vom Kampf überzeugt werden muss, das Symposion als Aufführungsort wahrscheinlich. Die Sprechakte deuten darauf hin, dass Tyrtaios sich in einem Kommunikationskontext befand, in welchem in der „Messenischen Angelegenheit“ erst noch über das weitere Vorgehen diskutiert und entschieden werden musste. Dies spricht dagegen, dass Tyrtaios die Verse vor der Polis im Ganzen gesprochen hat. Vielmehr ist ein privaterer Zirkel denkbar, in dem über das weitere Vorgehen vorberaten wurde. Dafür spräche auch die Tatsache, dass alle von Tyrtaios in den Frr. 2 D, 4 D und 5 D gegebenen Handlungsanweisungen indirekt sind. Indirekte Direktiva sind aus sprechakttheoretischer Sicht (nach Searle) Ausdruck von Höflichkeit. Im Gegensatz dazu werden explizite Performative oder „platte“ Imperative häufig als ungehobelt empfunden.117 Möglich also, dass Tyrtaios seine Ziele hier noch vorsichtiger formulieren musste und nicht durch „platte“ Aufforderungen sein Ziel verfehlen wollte. Er sprach insofern vielleicht zu Angehörigen der gleichen, vermutlich exklusiven Oberschicht, denen er nicht übergeordnet zu sein schien.118 Seine Handlungsanweisungen formuliert er deswegen nicht direkt, sondern schonender, auf indirekte Weise. Die durch die Sprechakte gewonnene Annahme, dass Tyrtaios hier zu Standesgenossen im Symposion spricht, würde auch Meiers These stützen, der in Tyrtaios einen wohlhabenden Oikosherren sieht, der als solcher kein Interesse daran hatte, Teile seines Besitzes an den Demos neu zu verteilen, weswegen er eine Ablenkung nach außen vornahm.119 Diese Annahme wird dadurch erhärtet, dass Tyrtaios von den Vorvätern, die im Ersten Messenischen Krieg kämpften, redet. Weil dieser Krieg vermutlich größtenteils von der Aristokratie ausgefochten wurde, scheinen auch die Zuhörer, die er 117 118 119
Vgl. Searle 1982, 57. Dass er sich als Teil der anwesenden Zuhörer begreift, könnte auch der Hinweis auf die gemeinsamen Vorfahren, die ἡμέτερος πατέρες, (Fr. 4 D, V. 6), deutlich machen. Vgl. Meier 1998, 64.
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als Nachfahren der Kämpfer anspricht, aristokratischen Hintergrund gehabt zu haben. Vor einem solchen Hintergrund wäre auch die Unterjochung der Besiegten, die Tyrtaios den Zuhörern als Warnung ausmalt, für die Aristokratie aufgrund der damit verbundenen Fallhöhe eine besonders angsteinflößende Vorstellung. Mit der Annahme, dass Tyrtaios solche Sprechakte vollzog, von denen er wusste, dass sie ihre Wirkung erzielen, also glücken, würden, ist ein aristokratisches Publikum also anzunehmende. Die analysierten Sprechakte stützen insofern die Hinweise darauf, dass Tyrtaios mit den Frr. 2 D, 4 D und 5 D im Symposion vor einem und für ein exklusives Publikum auftrat. Für die Eroberung Messeniens mussten jedoch auch die restlichen Bürger gewonnen werden, die, wie bereits erwähnt, als Hopliten eine entscheidende Rolle spielten. Insofern ist denkbar, dass Tyrtaios die im Symposion ausgehandelten Themen zu einem späteren Zeitpunkt auch der Öffentlichkeit präsentierte und somit, wie Gentili es für die archaischen Dichter annimmt, als „Vermittler und Sprecher zwischen dem Demos und der politischen Aristokratie“120 wirkte. Insgesamt können die Frr. 2 D, 4 D und 5 D damit als (indirekter) Aufruf zur Eroberung ganz Messeniens gelesen werden. Zwar passen sie insofern thematisch in das Konzept Eunomia, weil damit ein politisches Problem – die aus der ungerechten Aufteilung des Landes entstandene Landnot in Sparta und damit einhergehende Spannungen zwischen Adel und Demos – gelöst werden konnte. Jedoch liegen ihnen aufgrund der enthaltenen Sprechakte – die durch die Mahnungen ausgedrückte Verpflichtung gegenüber der Heimatpolis sowie die durch die Warnungen beabsichtigte Verstärkung der Kampfbereitschaft – kampfparänetische Tendenzen zugrunde, die nur mittelbar in den Kontext von Eunomia, also Wohlordnung, gehören.121 b) Dies unterscheidet sie maßgeblich von Fr. 3a D. In diesem Fragment, in welchem es um die Ordnung der spartanischen Verfassungsorgane geht, finden sich (neben der einleitenden und abschließenden Behauptung) primär direktive Sprechakte der Anordnung. Der kommunikative Zweck des Gedichtes ist es also, die Zuhörer dazu zu bewegen, eine bereits angeordnete Handlung auszuführen. Im gegebenen Fall bezieht sich Tyrtaios vermutlich auf die Befolgung der Bestimmungen der Großen Rhetra, die er seinen Zuhörern auf diese Weise vermittelt und deren Inhalt er durch die Anordnungen von seinen Zuhörern befolgt wissen will.
120 Gentili 1990, 1 mit Anm. 3. Auch bei Pausanias heißt es, Tyrtaios hätte seine Elegien sowohl den Beamten als auch beliebig versammelten Leuten gesungen (Paus. IV, 15, 6). 121 Auch Tausend 1992, 147 spricht in Bezug auf Fr. 4 D von „Kampfparainese“.
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Wie Meier richtig zusammenfasst, handelt es sich bei Fr. 3a D also „weder um einen Aufruf zu unbedingter Loyalität gegenüber den Königen noch um die Darstellung einer ‚aristokratischen‘ Verfassung noch um einen Appell an den Damos, seine politischen Rechte einzufordern.“122 Jedoch reicht es auch nicht, in Fr. 3a D lediglich den Versuch zu erkennen, den Spartanern das Bild einer optimal funktionierenden Gemeinschaftsordnung zu vermitteln123 oder sie zu der Orientierung an einer neuen Werteordnung anzurufen.124 Zwar mag es sein, dass Tyrtaios’ Eunomia eine „klassische Urkunde der Entstehung des frühesten religiös-ethischen Denkens über die menschliche Gesellschaft“125 ist, jedoch vermittelt das Gedicht in allererster Linie klare Handlungsanweisungen, die von Nöten waren, damit sich die politische Ordnung in Sparta überhaupt erst etablieren konnte. Jeder Spartaner wird im Zuge dessen als aktiv handelndes Subjekt anerkannt,126 seiner Funktion entsprechend angesprochen und mit einer speziellen Aufgabe bedacht. Diese Aufgabe, dies wird durch die Sprechakte der Anordnung deutlich, ist bereits festgelegt worden und bedarf keiner weiteren Hinterfragung. Die Zuhörer sollen die Anordnungen befolgen. Hintergrund der Tyrtäischen Eunomia war die schwere innere Krise, die Sparta im Zuge des Zweiten Messenischen Krieges erlitt. Aristoteles berichtet, dass der Krieg zu schweren sozialen Belastungen innerhalb der Gesellschaft Spartas geführt hat. Zusätzlich herrschte in Sparta ein großes Landproblem, aus dem erhebliche Spannungen erwuchsen und das Tyrtaios’ zum Aufruf zur Eroberung des fruchtbaren Messeniens (Frr. 2 D, 4 D und 5 D) veranlasste. Die gespannte Lage innerhalb der Polis spiegelt sich auch in den Versen von Fr. 3a D wider: Die direkten Anordnungen, die keine Diskussion erlauben, zeugen von Zeiten äußerster Bedrängnis. Das „nicht scheuende Einhämmern“127 der Normen und Verhaltensregeln in Form von illokutionären Akten der Anordnung zeigen, inwiefern Tyrtaios in einer Zeit, in welcher Spartas Zusammenhalt auseinanderzufallen drohte, das Wort ergriff, um die Ordnung des Staates zu etablieren. Demgemäß können auch Rückschlüsse zum Verhältnis zwischen Sprecher und Zuhörern gezogen werden. Wie die Searlsche Einleitungsregel für Sprechakte des Anordnens besagt, ist der Sprecher dem Hörer „in einer überlegenen Position“128. Die direkten Handlungsanweisungen, die Tyrtaios ohne Umschweife an seine Zuhörer richtet, verstärken den Eindruck, dass er seinen Zuhörern gegenüber eine weisungsbefugte
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Meier 1998, 252. Auch wird es sich weder, wie Harder 1972, 149 annimmt, um ein „Kampfgedicht [ ] in Sachen der staatlichen Grundordnung“ gehandelt haben, noch, wie Thommen 1996, 35 glaubt, um den Versuch, durch den Hinweis auf die göttliche Polisordnung vor allem die Standhaftigkeit der Bürger im Krieg gegen Messenien zu festigen. 123 Vgl. Meier 1998, 252. 124 Vgl. Welwei 2007, 77. 125 Jaeger 1972, 103. 126 So schon Meier 1998, 252. 127 Rösler 1980, 71. 128 Searle 1971, 100.
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Position innehatte und insofern als Verkünder der Worte des Apoll auftreten konnte. Hier wird nicht über eine potenzielle Ordnung debattiert oder entschieden, sondern hier geht es lediglich darum, die Ordnung umzusetzen. Es entsteht insofern der Eindruck, als würde Tyrtaios mit seinen Worten zu der versammelten spartanischen Gemeinschaft im Ganzen sprechen. An dieser Stelle ist Meiers Vermutung interessant, dass Dichter wie Tyrtaios den sympotischen Rahmen verlassen haben, um ursprünglich sympotische Themen einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und deren jeweilige Reaktion zu beobachten.129 Auch weil sich die Anordnungen dabei an alle Mitglieder der Polis wenden, ist anzunehmen, dass Tyrtaios Fr. 3a D vor einer größeren Menge von Spartanern in einem öffentlichen Kontext vorgetragen hat. Worin genau diese Öffentlichkeit bestand, ist kaum mehr nachzuvollziehen. Hübner weist richtigerweise darauf hin, dass der spartanische Demos im 7. Jh. v. Chr. über öffentliche Einrichtungen, wie den Menelaos-Kult in Therapne oder die gymnopaidischen Feste der Karnia oder Hykinthia verfügte.130 Ob bei einem Kult oder Fest, oder aber einer anderen Form der Öffentlichkeit wie dem Vortrag von Dichtung auf der Agora131 – die Sprechakte in Fr. 3a D weisen darauf hin, dass sie im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung erklungen sind und damit in das politische Leben der Polis eingebunden waren.132 Insgesamt hat die Analyse der Sprechakte ergeben, dass die Frr. 2 D, 4 D und 5 D in Zusammenhang stehen. Dabei lassen insbesondere die in Frr. 2 D und Fr. 4 D sich wiederholenden indirekten Sprechakte der Mahnung, realisiert durch Erinnerungen an die spartanische Herkunft, vermuten, dass sie Teil eines einzigen Textes gewesen sind.133 Die in Fr. 5 D realisierten indirekten Sprechakte der Warnung passen thematisch zu den Frr. 2 D und 4 D. Daraus darf jedoch nicht zwangsweis abgeleitet werden, dass sie ebenfalls Teil desselben Gedichtes gewesen sind. Möglich ist, dass sie wiederum Teil eines anderen Gedichtes gewesen sind. Nichtsdestoweniger lassen alle drei Gedichte dieselbe Intention des Sprechers erkennen: Die Mobilisierung für den Kampf. Dagegen zeigen die dominierenden Sprechakte der Anordnung in Fr. 3a D, dass es nicht in unmittelbarem Zusammenhang zu den anderen Fragmenten steht. Es ist insofern denkbar, dass die Verkündung des Apollonorakels ein anderes, eigenes Gedicht, gewesen ist. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass erstere von einer Situation zeugen, in der erst noch eine Entscheidung für oder gegen die Eroberung ganz Mes129 130 131 132 133
Vgl. Meier 1998, 172 und 240. Vgl. Hübner 2019, 84. Vgl. auch Meier 1998, 39–40. Zum öffentlichen Fest als Vortragsort von Dichtung vgl. Bowie 1986, 27–34. Die Möglichkeit des Vortrages von Dichtung auf der Agora wird aufgrund der Solonischen Salamis-Elegie erwogen, in der der Dichter selbst von ἀγορά (Sol. Fr. 1–3 D, V. 2) spricht. Zur Frage nach der Bedeutung von ἀγορά im Kontext Solons s. Kap. 7.1.1., S. 191. Vgl. grundsätzlich Meier 1998, 240. Ebd., 259 und Walter 1993, 167 weisen jedoch darauf hin, dass zwischen ihnen eine unbestimmte Anzahl an verlorenen Versen gestanden haben muss.
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seniens getroffen werden musste, wohingegen die Anordnungen in Fr. 3a D keinen Entscheidungsspielraum mehr zulassen, sondern klar auf die Befolgung der Bestimmungen des Orakels abzielen. Insofern ist denkbar, dass die Frr. 2 D, 4 D und 5 D Teil des Programmes Eunomia gewesen sind, wie Strabon dies nachweislich auch für Fr. D angibt,134 jedoch weisen die Fragmente einen deutlich kampfparänetischeren Charakter auf als die Anordnungen des Fr. 3a D. Aus sprechakttheoretischer Sicht ergibt sich insofern ein unterschiedlicher Adressatenkreis der Gedichte: Für die Frr. 2 D, 4 D und 5 D werden Zuhörer angesprochen, die von dem Kampf um Messenien überzeugt werden müssen. Fr. 3a D richtet sich hingegen an Zuhörer, die die gegebene Anordnung der guten Ordnung umsetzen sollen. In beiden Fällen hat die Analyse der Sprechakte jedoch gezeigt, dass Tyrtaios die Krise des Staates nicht nur besingen wollte, sondern aktiv, sowohl in Bezug auf die nach außen gerichtete Politik (Frr. 2 D, 4 D und 5 D) als auch auf die nach innen gerichtete Politik (Fr. 3a D), in die Belange seiner Heimatpolis eingriff. 5.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel Ob Tyrtaios Sprechakte tatsächlich die von ihm intendierte Wirkung erzielten, kann nur aus den auf seine Worte folgenden Ereignissen geschlussfolgert werden. So ist in Bezug auf die Fragmente, die zur Eroberung Messeniens aufrufen, festzuhalten, dass es den Spartanern sehr wahrscheinlich tatsächlich gelang, im Anschluss an die Niederschlagung des Heloten-Aufstandes das übrige Messenien zu erobern. Die Quellenlage zu den Messenischen Kriegen ist äußerst schwierig, wie schon die Problematik der Datierung der Kriege gezeigt hat.135 Nach Auswertung der Überlieferungen kommt Tausend jedoch zu dem Schluss: „Als Ergebnis dieses Krieges darf jedenfalls die vollständige Unterwerfung des gesamten messenischen Gebietes unter spartanische Herrschaft angesehen werden.“136 Der von Tyrtaios intendierte perlokutionäre Effekt seiner Dichtung, die Zuhörer vom Eintritt ins Kriegsgeschehen zu überzeugen, ist demnach eingetreten. Ob es eine direkte Verbindung zwischen Tyrtaios’ Aufruf zur Eroberung Messeniens und dem weiteren Verlauf der Ereignisse gegeben hat, kann jedoch nicht rekonstruiert werden. Die vermutlich autoritäre Stellung des Dichters (was insbesondere auf Grund der Sprechakte in Fr. 3a D geschlussfolgert werden kann) lässt es je134 135
136
Strab. VIII, 4, 10. Vgl. Strab. VIII, 4, 10. Zum Kriegsverlauf vgl. insbesondere Pausanias, dessen Bericht, so Welwei 2007, 70 jedoch von „geringer historischer Aussagekraft“ ist, weil seine Quellen (die Messeniaka des Rhianos von Bene aus dem 3. Jh. v. Chr. sowie des Myron von Priene, wohl auch aus dem 3. Jh. v. Chr.) stilisierte Versionen des Freiheitskampfes der Messenier unter dem Volkshelden Aristomenes gewesen seien (Paus. IV, 15, 1–23, 4). Vgl. zu den Verbündeten auf beiden Seiten sowie dem Sieg der Spartaner auch Tausend 1992, 146–161; Kiechle 1959, 131–132. Tausend 1992, 148.
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doch nicht undenkbar erscheinen einen Zusammenhang zwischen sprachlichem Handeln und Kriegseintritt herzustellen. Zudem kann auch die Tatsache, dass die Verse des Tyrtaios überhaupt tradiert worden sind schon als Indiz dafür angesehen werden, dass die Spartaner siegreich gegen die Messeniern vorgegangen sind. Welche Entwicklungen können mit Tyrtaios’ Versuch, die neue gute Ordnung, die Eunomia, zu etablieren (Fr. 3a D) möglicherweise in Zusammenhang gebracht werden? Von einer Eunomia in Sparta hören wir bei Herodot. Einem Bericht des Geschichtsschreibers lässt sich entnehmen, dass die Eunomia zur Zeit der Könige Leon und Hegesikles, also in der ersten Hälfte des 6. Jh. v. Chr., bereits etabliert war. Herodot bringt die Eunomia dabei mit der Legende des Gesetzgebers Lykurg in Verbindung, die wohl im 5. Jh. v. Chr. aufkam:137 Unter den Königen Leon und Hegesikles von Sparta waren die Lakedaimonier in allen Kriegen erfolgreich gewesen, nur gegen die Tegeaten waren sie unterlegen. Noch früher bestanden bei ihnen die schlechtesten Gesetze fast aller Griechen; sie waren so abweisend gegen Fremde, daß sie keinen Verkehr mit ihnen pflegten. Aber auf diese Weise erhielten sie eine gute Verfassung (εὐνομία, Anm. AvdD): Als Lykurgos, ein angesehener Spartiate, nach Delphi zum Orakel kam, sprach die Pythia gleich, als er den Saal betrat, folgende Worte: „Du bist gekommen, Lykurgos, zu meinem begüterten Tempel, Teuer dem Zeus und allen, die wohnen im hohen Olympos. Soll ich als Gott dich bezeichnen, ich zweifle noch, oder als Menschen? Aber doch eher als Gott, Lykurgus, will es mir scheinen.“ Nach einigen Berichten lehrte die Pythia ihn sogar die Ordnung, die noch heute in Sparta besteht.138 (Übers. Feix 1980)
Unabhängig vom Wahrheitsgehalt des Lykurgischen Ursprunges der Ordnung, muss es demnach zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. in Sparta schon ein bestehendes Ordnungsprinzip gegeben haben. Die Einführung der Eunomia fällt insofern mit dem Ende des Zweiten Messenischen Krieges zusammen. Im Anschluss daran versiegen denn auch für längere Zeit 137
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Thukydides nimmt hingegen an, dass in Sparta seit Urzeiten durch eine Verfassung, eine πολιτεία, Gesetz und Ordnung geherrscht habe (Thuk. I, 18, 1). Zum Zusammenhang der beiden Quellen und ihre komplizierte geschichtliche Einordnung (einhergehend mit der kaum zu lösenden Frage nach der „lykurgischen Ordnung“) vgl. Meier 1998, 45–55; Kiechle 1963, 193–202. Hdt. I, 65, 1–4: ἐπὶ γὰρ Λέοντος βασιλεύοντος καὶ Ἡγησικλέος ἐν Σπάρτῃ τοὺς ἄλλους πολέμους εὐτυχέοντες οἱ Λακεδαιμόνιοι πρὸς Τεγεήτας μούνους προσέπταιον. τὸ δὲ ἔτι πρότερον τούτων καὶ κακονομώτατοι ἦσαν σχεδὸν πάντων Ἑλλήνων κατά τε σφέας αὐτοὺς καὶ ξείνοισι ἀπρόσμικτοι. μετέβαλον δὲ ὧδε ἐς εὐνομίην· Λυκούργου τῶν Σπαρτιητέων δοκίμου ἀνδρὸς ἐλθόντος ἐς Δελφοὺς ἐπὶ τὸχρηστήριον, ὡς ἐσήιε ἐς τὸ μέγαρον, ἰθὺς ἡ Πυθίη λέγει τάδε· / ἥκεις, ὦ Λυκόοργε, ἐμὸν ποτὶ πίονα νηὸν / Ζηνὶ φίλος καὶ πᾶσιν Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσι. / δίζω ἤ σε θεὸν μαντεύσομαι ἢ ἄνθρωπον· / ἀλλ’ ἔτι καὶ μᾶλλον θεὸν ἔλπομαι, ὦ Λυκόοργε. / οἱ μὲν δή τινες πρὸς τούτοισι λέγουσι καὶ φράσαι αὐτῷ τὴν Πυθίην τὸν νῦν κατεστεῶτα κόσμον Σπαρτιήτῃσι, […].
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die Quellen, die auf innere Unruhen in Sparta hinweisen. Dies auf ein Quellenproblem zurückzuführen sei, so Meier, zu einfach.139 Meier nimmt vielmehr an, dass die Unterwerfung der Messenier im Zweiten Messenischen Krieg und die Eintracht der Eunomia in der Polis zusammenhängen: Die Kontrolle der unterworfenen Messenier, die in ihrer Zahl die Anzahl der Spartaner überstiegen, erforderte eine Beilegung der internen Zwistigkeiten zugunsten einer gemeinsamen Identität. Die sozialen Spannungen mussten eingedämmt werden, es galt ein Zusammenhalten aller Spartiaten gegenüber den Messeniern zu demonstrieren. Im Zuge dessen war eine gesellschaftliche Umorientierung jedes einzelnen Spartaners von Nöten. Eben dies zu definieren und zu klären und den Spartaner dabei eine einheitliche Grundordnung aufzutragen, erreichte Tyrtaios durch seine Dichtung.140 Möglich also, dass Tyrtaios, so Meiers plausible Vermutung, die ideellen Grundlagen dieser neuen Ordnung durch seine später so genannte Eunomia-Dichtung legte.141 Seine auf der Großen Rhetra basierenden Anordnungen können einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung der neuen Ordnung gegeben haben.142 Es ist grundsätzlich nicht abwegig, dass in archaischer Zeit Gesetze gesungen und auch von Dichtern verbreitet wurden, wie es etwa auch der Dichter Terpandros in Sparta getan haben soll.143 Gesetztestexte wurden (auch) in Prosa verfasst, da Dichtung in einer durch mündliche Kommunikation geprägten Gesellschaft ein geeignetes Kommunikationsmittel war, um politisches Gedankengut zu transportieren.144Aufgrund der gebundenen Sprachform waren die Texte für die Zuhörer zugänglicher und konnten besser memoriert werden. Auch von Solon wissen wir, dass seine Dichtung die von ihm etablierten Gesetze und Reformen flankierten, um für diese zu werben und sie den Menschen auf einprägsame Weise näher zu bringen.145 Eine genaue zeitliche Einordnung der Tyrtäischen Gedichte ist jedoch schwierig und da auch die Ereignisse der spartanischen Geschichte zur Zeit der Messenischen Kriege nicht eindeutig bestimmt werden kann, können die Überlegungen zum perlokutionären Nachspiel an dieser Stelle nicht über die der hier geäußerten Vermutungen hinausgehen.
139 140 141 142
Vgl. Meier 1998, 185. Vgl. ebd., 67–69. Vgl. ebd., 207. Dies gilt umso mehr, wenn zutrifft, dass es in Sparta zu dieser Zeit einen weitgehenden Verzicht auf schriftliche Gesetzgebung gegeben hat, vgl. Thommen 1996, 43. Bei Plutarch heißt es gar, Lykurg habe schriftliche Gesetze verboten (Plut. Lyk. 13, 3). Thomas 1996, 18 glaubt jedoch, dass die Große Rhetra „clearly a written law“ gewesen ist. 143 Vgl. zum Aspekt der mündlichen und gesungenen Verbreitung und Überlieferung von Recht und Gesetzen in früharchaischer Zeit Thomas 1996, 14–16. 144 Vgl. Tsigarida 2006, 29. 145 Vgl. dazu die Ausführungen zu Solon in Kapitel 7.
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5.2 Fr. 7 D 5.2.1 Der außerliterarische Kontext Wie viele der Tyrtäischen Gedichte, zeugt auch Fr. 7 D von einem kriegerischen Kontext. In dieser Elegie befeuert Tyrtaios den Mut der Zuhörer für den bevorstehenden Kampf. Er ruft sie in dem Gedicht dazu auf, niemals dem Gefecht zu entfliehen, flößt ihnen Kampfesmut ein und will sie das höchste Ideal im Tod für das gottgeliebte Vaterland erkennen lassen. Wie bereits ausgeführt, geht es hierbei aller Wahrscheinlichkeit nach um den Zweiten Messenischen Krieg, dem Kampf gegen den Messenischen Aufstand. Fr. 7 D ist mit Fr. 6 D in der Leokratisrede des Lykurg als zusammenhängendes Textstück überliefert (= Fr. 10 W).146 Es ist jedoch anzunehmen, dass die beiden Stücke erst nachträglich miteinander verbunden wurden und ursprünglich einzelne Gedichte waren. Die Frage ist in der Forschung jedoch umstritten.147 Fr. 7 D soll in dieser Arbeit dennoch als unabhängiges Gedicht untersucht werden, weil es, wie bereits Meier darstellt, einen deutlich konkreteren Charakter besitzt als die allgemein gehaltenen Formulierungen aus Fr. 6 D.148 Aus sprechakttheoretischer Perspektive liegen in Fr. 6 D vorrangig repräsentative Sprechakte der Behauptung und Warnung vor, wohingegen Fr. 7 D, wie sich zeigen wird, fast ausschließlich direktive Sprechakte aufweist.149 In Fr. 6 D geht es Tyrtaios darum, seine Zuhörer davon zu überzeugen, für die Heimatpolis zu kämpfen.150 In Fr. 7 D, wie noch deutlich herausgearbeitet werden wird, geht es primär um die richtige Einstellung im Kampf. Beide Stücke zeugen insofern von einem unterschiedlichen Kontext und sind daher zu trennen. Neben der erfolgten Einordnung des zu analysierenden Gedichtes in seinen historischen Kontext (Zweiter Messenischer Krieg) soll hier nur noch auf die konkrete Gelegenheit der Gedichtaufführung eingegangen werden. Aufgrund des kriegerischen Inhaltes der Paränese steht die Frage im Raum, ob das Gedicht unmittelbar vor der Schlacht vorgetragen wurde. In der Forschung ist dies umstritten. Sowohl Bowie als 146 Lykurg. Leokr. 107. 147 Für eine Trennung plädieren etwa auch Meier 1998, 293; Fränkel 1969, 173; Lesky 1971, 113; Maehler/Snell 1971, 20–21; Jacoby 1918, 12–14. Anders etwa Latacz 1991, 164 mit Anm. 1. Latacz geht sogar davon aus, dass die Fragmente 6 D und 7 D zusammen nur den zweiten Teil eines Kampfappelles darstellen. 148 Vgl. Meier 1998, 293–294. Meier findet zudem den plötzlichen Übergang von der 1. Ps. Pl. (Fr. 6, V. 13: μαχώμεθα) zur 2. Ps. Pl. (Fr. 7, V. 15: μάχεσθε) schwer nachvollziehbar. Ähnlich argumentiert Fränkel 1969, 173: Er teilt die Tyrtäische Kriegslyrik grundsätzlich in zwei Klassen, nach denen sich ein Teil der Gedichte an ältere Zuhörer wende, was durch den höflichen Konjunktiv oder die WirForm angezeigt würde (wie in Fr. 6 D). Der andere Teil der Lyrik wende sich an junge Zuhörer, die mit „ihr“ angesprochen werden und direkte Imperative aufweisen, wie etwa Fr. D. 149 Fr. 7 D steht insofern dem Tyrtäischen Fr. 8 D (= 11 W) näher als Fr. 6 D. 150 Fr. 6 D steht insofern dem Kallinischen Fr. 1 D (= 1 W) nahe.
Fr. 7 D
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auch Harder empfinden die Dichtung etwa als zu allgemein gehalten, als dass sie unmittelbar vor einer Schlacht vorgetragen wurde.151 Irwin geht ganz grundsätzlich davon aus, dass die „martial exhortation elegy“ und insofern auch die Tyrtäische Kriegsdichtung für das Symposion bestimmt war.152 Auch Herington glaubt nicht, dass die erhaltenen Kriegslieder des Tyrtaios in der Schlacht gesungen wurden: „Such poems can hardly have been chanted by the soldiers on the march (as anyone who has tripped over his own feet while trying to recite an elegiac couplet on the march will know to his cost!), or in the battle line itself.“153 Und Pausanias berichtet, Tyrtaios hätte nicht am Kampf teilgenommen, aber die Kämpfer angespornt.154 Andererseits belegen Papyrusfunde, wie oben dargelegt, dass Tyrtaios in einem engen Zusammenhang zu konkreten Schlachtszenen gesehen werden muss.155 Es ist daher keinesfalls unmöglich, dass Tyrtaios einige seiner Elegien, vielleicht in der Funktion eines Feldherrn,156 zur Motivation direkt vor der Schlacht auf dem Schlachtfeld vorgetragen hat. In diesem Fall würde Tyrtaios nicht vor Symposiasten, sondern vielleicht direkt zu Soldaten sprechen. Welwei nimmt wiederum an, dass der Demos der Adressat der Kriegsdichtung des Tyrtaios war, der „offensichtlich kriegsunwillig und undiszipliniert und den Anforderungen, die die neue Kampfesweise der Phalanxtaktik stellte, keineswegs schon in jeder Hinsicht gewachsen [war]. In dieser Situation war das unbedingte Ausharren in Reih und Glied und Schild and Schild in der geschlossenen Schlachtreihe verlangt.“157 Die Analyse der Sprechakte soll eine mögliche Antwort auf die Frage des konkreten Aufführungskontextes finden.
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Vgl. Harder 1972, 150–151; Bowie 1990, 224–228 und ders. 1986, 15–16. Ähnlich auch Aloni 2009, 173: „Tyrtaeus, in the Spartiates’ symposia, sings and gives a heroic dimension to a new way of fighting, and turns it into an ethical principle valid for all.“ Irwin 2005, 15–62 (bes. 37–41). Herington 1985, 33. Paus. IV, 16, 2. S. S. 111, Anm. 32. Da Tyrtaios’ Kampfparänesen an die Feldherrenreden aus der Ilias erinnern, wird oftmals auch deswegen angenommen, dass er selbst ein solcher gewesen sei. Dieser Rückschluss ist aber nicht unbedingt zulässig. Stehle 1997, 54 erkennt in den Kriegsliedern des Tyrtaios grundsätzlich keine gebieterischen Tendenzen: „They are also careful not to present the performer as imperious toward the audience.“ Dass Tyrtaios Feldherr gewesen sein könnte, glauben hingegen Meier 1998, 239; Walter 1993, 166; Latacz 1991, 165. Welwei 1991, 136.
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Tyrtaios von Sparta
5.2.2 Analyse der Sprechakte Lykurg. Leokr. 107 = Tyrtaios Fr. 7 D158 15 Ὦ νέοι, ἀλλὰ μάχεσθε παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες, μὴ δὲ φυγῆς αἰσχρῆς ἄρχετε μηδὲ φόβου, ἀλλὰ μέγαν ποιεῖσθτε καὶ ἄλκιμον ἐν φρεσὶ θυμόν μὴ δὲ φιλοψυχεῖτ’ ἀνδράσι μαρνάμενοι· τοὺς δὲ παλαιοτέρους, ὧν οὐκέτι γούνατ’ ἐλαφρά, 20 μὴ καταλείποντες φεύγετε, τοὺς γεραιούς. αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο μετὰ προμάχοισι πεσόντα κεῖσθαι πρόσθε νέων ἄνδρα παλαιότερον ἤδη λευκὸν ἔχοντα κάρη πολιόν τε γένειον θυμὸν ἀποπνείοντ’ ἄλκιμον ἐν κονίηι, 25 αἱματόεντ’ αἰδοῖα φίλαισ’ ἐν χερσὶν ἔχοντα – αἰσχρὰ τά γ’ ὀφθαλμοῖς καὶ νεμεσητὸν ἰδεῖν – καὶ χρόα γυμνωθέντα· νέοισι δὲ πάντ’ ἐπέοικεν, ὄφρ’ ἐρατῆς ἥβης ἀγλαὸν ἄνθος ἔχηι · ἀνδράσι μὲν θηητὸς ἰδεῖν, ἐρατὸς δὲ γυναιξὶν 30 ζωὸς ἐών, καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών. ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω ποσὶν ἀμφοτέροισιν στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς, χεῖλος ὀδοῦσι δακών. 15 Auf denn, Jünglinge, zieht in den Kampf aneinander geschlossen, Weigert euch jeglicher Angst und der beschämenden Flucht! Sondern macht groß und wehrhaft den Drang des zagenden Herzens; Habt nicht das Leben zu lieb, wenn ihr dem Feinde euch stellt. Laßt nicht die älteren Streiter, die weniger flink auf den Beinen, 20 Wenn ihr zur Flucht euch kehrt, nicht die Bejahrten zurück! Denn wie beschämend ist’s, wenn in der vordersten Reihe, Weit vor dem jüngeren Volk, liegt der betagtere Mann, Welcher mit weiß gewordenem Haupt, mit ergrauendem Barte Seinen wehrhaften Mut sterbend im Staube verhaucht. 25 Seine blutige Scham verdeckt er mit eigenen Händen Welch ein schimpfliches Bild böte dem Auge sich dar,
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Die Tyrtäischen Verse sind auch hier und im Folgenden zitiert nach Diehl 1936. Die Übersetzung stammt von Maehler/Snell 1971. Textkritische Anmerkungen und abweichende Deutungen werden von der Verfasserin an entsprechender Stelle diskutiert. Obwohl Diehl 1936 aus dem zusammenhängenden Textstück in der Leokratisrede des Lykurg zwei einzelne Fragmente auflistet (Frr. 6 D und 7 D), behält er die Verszählung des gesamten Stückes bei und lässt Fr. 7 D mit V. 15 beginnen.
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Läge der Tote entblößt. Dies alles ziemt sich dem Jungen, Der noch die Blüte, den Glanz leuchtender Jugend besitzt; Lebend wird er von Männern bestaunt, von Frauen umworben; 30 Fällt er am Feinde, – er bleibt sterbend im Tode noch schön. Bleibt, wo ihr steht, und stemmt mit wuchtig gespreizten Beinen Beide Füße ins Feld, beißt in die Lippe den Zahn!
Wie eingangs dargestellt, lassen formale und inhaltliche Aspekte von Fr. 7 D darauf schließen, dass Tyrtaios seine Worte an eine Gruppe von Männern richtete, die er mit seinen Versen für den Kampf gegen die Messenier im Zweiten Messenischen Krieg mobilisieren wollte. Dass seine Sprache dabei entscheidenden Einfluss auf den Sieg der Spartaner gehabt hat, glaubt Gerber: „Various sources attribute Sparta’s success in the war to Tyrtaeus’ encouragement, and although this can be merely a deduction on their part, there is no reason to doubt that his verses helped bolster morale and inspired greater courage in battle.“159 Inwiefern Tyrtaios in seinen Versen tatsächlich sprachlich handelte und welche Wirkung dies auf seine Zuhörer gehabt haben kann, soll im Folgenden analysiert werden. Das Fragment beginnt mit den Versen: Auf denn, Jünglinge, zieht in den Kampf aneinander geschlossen,160 (V. 15)
Die direkte Ansprache an die Jünglinge, Ὦ νέοι, sowie der Imperativ μάχεσθε zeugen in diesem Vers vom performativen Charakter des Gedichtes. Der Imperativ ist dabei gleichsam Illokutionsindikator und zeigt an, dass es sich bei dieser Äußerung um einen illokutionären Akt der Aufforderung handelt. Tyrtaios weist die jungen Männer an, in den Kampf zu ziehen. Dabei fordert er sie zudem dazu auf, aneinander geschlossen, ἀλλήλων μένω, zu kämpfen.161 Auf den ersten direktiven Sprechakt folgt der nächste: Weigert euch jeglicher Angst und der beschämenden Flucht!162 (V. 16)
Auch hier handelt es sich um einen Sprechakt, mit welchem Tyrtaios seine Zuhörer dazu bewegen möchte, etwas Bestimmtes zu tun. In diesem Fall möchte er sie davon abhalten, Angst zuzulassen und dem Kampf zu entfliehen. Insofern liegen hier Handlungsaufforderungen vor, mit welchen Tyrtaios dafür sorgen möchte, dass seine Hörer
159 Gerber 1997, 104. 160 Fr. 7 D, V. 15: Ὦ νέοι, ἀλλὰ μάχεσθε παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες, 161 Die Anweisung lässt vermuten, dass es sich bei der von Tyrtaios thematisierten Kampfesweise um die Kampfformation der Hoplitenphalax handelt, bei der die Soldaten in dichter Formation und in eng geschlossenen Kriegsreihen im Gleichschritt dem Kampf begegneten. 162 Fr. 7 D, V. 16: μὴ δὲ φυγῆς αἰσχρῆς ἄρχετε μηδὲ φόβου,
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Tyrtaios von Sparta
etwas nicht tun (werden). Der verneinte Imperativ μὴ ἄρχετε macht dies deutlich. Diese Art der Sprechakte soll hier N-Aufforderung genannt werden. Die Erweiterungsprobe zeigt dabei, dass Tyrtaios gleichzeitig einen illokutionären Akt der Behauptung vollzieht, wenn er die Flucht αἰσχρός nennt. Damit verleiht er seiner Handlungsanweisung Gewicht. Tyrtaios fordert von seinen Adressaten also, etwas Bestimmtes nicht zu tun. Nun folgt darauf, was die Hörer stattdessen tun sollen: Sondern macht groß und wehrhaft den Drang des zagenden Herzens;163 (V. 17)
Auch hier ist der Imperativ ποιεῖσθτε Illokutionsindikator für den Sprechakt der Aufforderung. Tyrtaios möchte, dass seine Zuhörer ihre Angst überwinden und mutig im Kampf agieren. Zur Verstärkung dieser Absicht, fügt er an: Habt nicht das Leben zu lieb, wenn ihr dem Feinde euch stellt.164 (V. 18)
Hier vollzieht Tyrtaios wieder einen Sprechakt der N-Aufforderung, denn er möchte seine Zuhörer davon abhalten, zu sehr am Leben zu klammern. Vielmehr möchte er, dass die Männer todesmutig in den Kampf ziehen. Hier wird also die vorausgegangene Aufforderung, ohne Angst in den Krieg zu ziehen, unterstützt. Klar stellt Tyrtaios bis hierhin gegeneinander, was getan werden muss und was nicht getan werden darf. Alle Sprechakte eint, dass es sich bei ihnen um strikte Handlungsaufforderungen handelt. Tyrtaios geht es hier noch nicht um die Darstellung eines guten Soldaten oder einer bestimmten Kriegsphilosophie, sondern er möchte, weil Sparta sich während des Zweiten Messenischen Krieges zeitweise am „Rand der militärischen Katastrophe“165 befand, von Beginn an klarmachen, dass es primär darum geht, dass jetzt in den unerbittlichen Kampf gegen Messenien gezogen werden muss. Die Standard-Perlokution direktiver Sprechakte ist motivational. Erst in den folgenden Versen kommt Tyrtaios auf das Verhalten der Soldaten im Gefecht zu sprechen: Laßt nicht die älteren Streiter, die weniger flink auf den Beinen, Wenn ihr zur Flucht euch kehrt, nicht die Bejahrten zurück!166 (V. 19–20)
Auch bei dem in diesen Versen vollzogenen Sprechakt handelt es sich um eine N-Aufforderung. Und auch hier zeigt der verneinte Imperativ μὴ φεύγετε die Illokution an. Tyrtaios möchte nicht, dass die jungen Soldaten fliehen, schon gar nicht, indem sie die älteren, weniger agilen Kämpfer zurücklassen.
163 164 165 166
Fr. 7 D, V. 17: ἀλλὰ μέγαν ποιεῖσθτε καὶ ἄλκιμον ἐν φρεσὶ θυμόν Fr. 7 D, V. 18: μὴ δὲ φιλοψυχεῖτ’ ἀνδράσι μαρνάμενοι· Müller 1999, 60. Fr. 7 D, V. 19–20: τοὺς δὲ παλαιοτέρους, ὧν οὐκέτι γούνατ’ ἐλαφρά, / μὴ καταλείποντες φεύγετε, τοὺς γεραιούς.
Fr. 7 D
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Zudem zeigt die Erweiterungsprobe, dass in diesen Versen auch ein illokutionärer Akt der Behauptung vorliegt, denn Tyrtaios impliziert gleichsam, dass die älteren Soldaten, im Gegensatz zu den Angesprochenen, ἐλαφρός seien. Die Behauptung stützt dabei die N-Aufforderung, weil die Soldaten durch sie zur Einsicht gebracht werden sollen, dass es ihnen als junge Kämpfer nicht zusteht, die älteren Mitstreiter zurückzulassen. Um zu erreichen, dass die Soldaten tatsächlich zu dieser Einsicht gelangen, nicht zu fliehen und damit die N-Aufforderung zu unterstützen, fügt Tyrtaios in ausführlicher Weise an: Denn wie beschämend ist’s, wenn in der vordersten Reihe, Weit vor dem jüngeren Volk, liegt der betagtere Mann, Welcher mit weiß gewordenem Haupt, mit ergrauendem Barte Seinen wehrhaften Mut sterbend im Staube verhaucht. Seine blutige Scham verdeckt er mit eigenen Händen Welch ein schimpfliches Bild böte dem Auge sich dar, Läge der Tote entblößt […]167 (V. 21–27)
In diesen fünf Versen stellt Tyrtaios die Behauptung auf, dass es beschämend für junge Soldaten sei, einen betagteren Mann an vorderster Front kämpfen zu lassen und gar dabei zuzuschauen, wie dieser im Kampfe stirbt. Dies sei, so behauptet Tyrtaios, schimpflich. Was vordergründig wie eine durch drastische Bildsprache ausgedrückte Behauptung aussieht, sind aus sprechakttheoretischer Sicht jedoch vielmehr Warnungen. Tyrtaios warnt seine Zuhörer davor, dass, wenn sie tatsächlich dem Kampfe entfliehen sollten und die älteren Mitstreiter zurücklassen sollten, dies negative Folgen für sie haben werde. Denn dies bedeute, Schimpf und Schande ausgesetzt zu sein. Damit möchte Tyrtaios die Männer davon überzeugen, stattdessen selbst an vorderster Front zu kämpfen. Mit der Darstellung des alten Mannes appelliert Tyrtaios dabei an einen griechischen Grundwert: Die Ehre.168 Für Harder zeigt sich die Ehre dabei in der Ehrfurcht vor dem Alter: „Die Ehre der Jungen ist die Ehrfurcht vor dem Alter. Diese uralte Verpflichtung erscheint in echt griechischer Färbung: es sieht nicht gut aus, es ist ein unerträglicher Anblick, es ist nicht schön zu sehen, wenn ein alter Mann gefallen vor der Reihe der Jungen liegt – während das Nacktdaliegen dem Jungen wohl ansteht.“169 Diesem Ehr-Modell folgend ist möglich, dass Tyrtaios’ Rekurs auf das beschämende Schicksal eines alten Soldaten und einem damit einhergehenden Ehrverlust für den
167 Fr. 7 D, V. 21–27: αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο μετὰ προμάχοισι πεσόντα / κεῖσθαι πρόσθε νέων ἄνδρα παλαιότερον / ἤδη λευκὸν ἔχοντα κάρη πολιόν τε γένειον / θυμὸν ἀποπνείοντ’ ἄλκιμον ἐν κονίηι, / αἱματόεντ’ αἰδοῖα φίλαισ’ ἐν χερσὶν ἔχοντα – / αἰσχρὰ τά γ’ ὀφθαλμοῖς καὶ νεμεσητὸν ἰδεῖν – / καὶ χρόα γυμνωθέντα· […] 168 Vgl. Harder 1972, 161. 169 Ebd., 193.
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jungen Soldaten bei seinen Zuhörern die Überzeugung erreichen konnte, die vorher ausgesprochene N-Aufforderung, nämlich den älteren Streiter nicht zurückzulassen (V. 19–20), tatsächlich zu befolgen. Auch Müller erkennt in diesen Versen einen stimulierenden Effekt: „die Vergegenwärtigung der gegnerischen Brutalität im Anblick der Leiche des verstümmelten Greises – die Gräßlichkeiten sind absichtsvoll kumuliert – ist ein zeitloses Mittel der Stimulierung, die Zögernden in die rechte Kampfstimmung zu versetzen.“170 In den nun folgenden Versen formuliert Tyrtaios, wie es sich eigentlich gehört. So behauptet er denn: […] Dies alles ziemt sich dem Jungen, Der noch die Blüte, den Glanz leuchtender Jugend besitzt;171 (V. 27–28)
Mit dieser Behauptung, dass all dies, nämlich in vorderster Reihe seinen wehrhaften Mut unter Beweis zu stellen, sich dem Jungen ziemt, vollzieht Tyrtaios vielmehr einen indirekten illokutionären Akt der Aufforderung. Da Tyrtaios zu Männern spricht, die er selbst im ersten Vers des Gedichtes als νέοι bezeichnet, und weil sich Sparta zur Stunde durch den Aufstand der Messenier bedroht sah, wird ersichtlich, dass Tyrtaios hier nicht allein das Gegenbild zu der vorausgegangenen Darstellung eines alten Mannes zeichnen möchte, sondern indirekt damit eine Aufforderung formuliert. Unterstützt wird diese durch die in V. 28 implizierte Behauptung, dass die Jungen noch die leuchtende Jugend besitzen – ein Synonym für ihre Tatkraft. Damit gibt Tyrtaios den jungen Männern also indirekt zu verstehen, dass er ihren Kampfeinsatz erwartet. Um diese Aufforderung zum Kampf zu unterstützen, zeigt er seinen Zuhörern in den folgenden Versen auf, welche Ehren derjenige erfahren würde, der tapfer kämpft und für seine Heimatpolis stirbt: Lebend wird er von Männern bestaunt, von Frauen umworben; Fällt er am Feinde, – er bleibt sterbend im Tode noch schön.172 (V. 29–30)
Durch diese illokutionären Akte der Prophezeiung stützt Tyrtaios die vorausgehende Aufforderung zu kämpfen. Er prophezeit, dass ihnen bei einem kämpferischen Einsatz für die Polis größte Ehre zu Teil werde. Dabei ist die Polis, repräsentiert durch die beeindruckten Männer und Frauen, die beurteilende Instanz. Ehre erfährt dabei sowohl derjenige, der lebend heimkehrt, als auch derjenige, der im Kampfe stirbt.173 Mit die170 Müller 1999, 65. Müller will in diesen Versen sogar erkennen, dass Tyrtaios hier von persönlichem Verrat am Kampfgefährten spricht. 171 Fr. 7 D, V. 27–28: […] νέοισι δὲ πάντ’ ἐπέοικεν, / ὄφρ’ ἐρατῆς ἥβης ἀγλαὸν ἄνθος ἔχηι · 172 Fr. 7 D, V. 29–30: ἀνδράσι μὲν θηητὸς ἰδεῖν, ἐρατὸς δὲ γυναιξὶν / ζωὸς ἐών, καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών. 173 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Fuqua 1981, 223–224, der annimmt, dass Tyrtaios für die gefallenen Spartaner eine Verehrung verlangte, wie sie den epischen Helden im Heroenkult zu Teil wurde.
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ser Prophezeiung schafft Tyrtaios Anreize für den Kampf und will bewirken, dass die Männer mit höchster Motivation in den Krieg ziehen. Dabei geht es ihm, wie schon Wißmann darstellt, nicht allein um das Kämpfen, sondern auch um das Ausharren bis zum Tod.174 Deswegen nennt er den Kriegertod καλὸς, was hier vielmehr als gut oder ehrenhaft zu verstehen ist.175 Nachdem Tyrtaios in seiner Elegie bis hierhin „das Wiederholungen nicht scheuende Einhämmern der immer gleichen Normen und Verhaltensregeln“176 vollzog, endet die Ansprache an seine Zuhörer mit drei abschließenden Aufforderungen: Bleibt, wo ihr steht, und stemmt mit wuchtig gespreizten Beinen Beide Füße ins Feld, beißt in die Lippe den Zahn!177 (V. 31–32)
Im griechischen Original beinhaltet nur die erste Aufforderung („Bleibt, wo ihr steht“) einen Imperativ. Die folgenden im Partizip angefügten Aufforderungen ergänzen die Grundaufforderung, die Kampfeshaltung einzunehmen. 5.2.3 Ergebnisse In dieser kampfparänetischen Elegie geht es Tyrtaios primär darum, seine Zuhörer zum rechten Verhalten im Kampf aufzurufen. Das Gedicht beginnt mit der Aufforderung, geschlossen in den Kampf zu ziehen. Darauf folgen klare Handlungsanweisungen in Bezug darauf, wie sich im Kampf verhalten werden muss: Tyrtaios fordert von den Männern, keine Angst zuzulassen oder gar zu flüchten und fordert sie stattdessen dazu auf, die Angst zu überwinden. Zudem fordert er, das Leben im Kampf nicht all zu lieb zu haben. Es folgen sodann Ausführungen dazu, wie ein Soldat sich nicht verhalten dürfe: Tyrtaios fordert von den Zuhörern, den älteren Kämpfer bei der Flucht nicht zurückzulassen. Diese N-Aufforderung stützt er durch die Warnung, dass es beschämend für einen jungen Kämpfer sei, den betagteren Mann an vorderster Front kämpfen und sterben zu lassen. Dies, so die folgende Aufforderung, sei Aufgabe des jungen Soldaten. Für diesen Einsatz, so prophezeit Tyrtaios, würde der Soldat von der Polis verehrt werden. Und so fordert Tyrtaios die Angesprochenen abschließend dazu auf, die rechte Kampfeshaltung einzunehmen. Die Kampfparänese des Tyrtaios besteht zum größten Teil aus direktiven, also handlungsauffordernden Sprechakten, wobei Aufforderungen und N-Aufforderungen dominieren. Daneben liegen auch einige repräsentative Sprechakte, wie die Behaup-
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Vgl. Wißmann 1997, 107. Vgl. Dingel 2003, 390. Rösler 1980, 71. Ähnlich Lesky 1971, 112, der in dieser Hinsicht von „Einprägungspoesie“ spricht. Fr. 7 D, V. 31–32: ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω ποσὶν ἀμφοτέροισιν / στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς, χεῖλος ὀδοῦσι δακών.
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tungen oder die Warnung, vor, mit denen Tyrtaios seinen Zuhörern Glauben machen möchte, dass das, was er sagt, wahr ist (etwa, dass es beschämend ist, einen älteren Mann in vorderster Front kämpfen zu lassen oder, dass mutiges Kämpfen von der Polis mit Anerkennung und Ehre entlohnt wird). Das Gedicht lässt sich dabei in drei Abschnitte teilen: Im ersten Teil gibt Tyrtaios klare Handlungsaufforderungen, die er im zweiten Teil begründet, woraufhin er im dritten Teil die Aufforderung, zu kämpfen, wieder aufnimmt. Dabei dienen die repräsentativen Sprechakte im Mittelteil jedoch ausschließlich dazu, die direktiven Sprechakte zu stützen. Sie sind diesen subordiniert. Die dominanten Sprechakte des Gedichtes – und damit maßgeblich für die primäre Intention des Tyrtaios – sind also die Handlungsaufforderungen. Welche Rückschlüsse lassen die in den Elegien dominierenden Sprechakte über den historischen Kontext, in dem das Gedicht zu verorten ist, sowie über die Aufführungssituation und über den Dichter selbst zu? Zum einen dominieren in der Tyrtäischen Kampfparänese die Aufforderungen. Hieraus geht deutlich hervor, dass Tyrtaios glaubt, dass die Angesprochenen in der Lage sind, die geforderten Handlungen auszuführen (Einleitungsregel einer Aufforderung). Die Aufforderungen beziehen sich dabei auf das Verhalten im Kampf. Die repräsentativen Sprechakte stützen genau diese Aufforderung zur rechten Kampfesweise, indem sie explizit darauf Bezug nehmen: Es ist beschämend, feige zu kämpfen (V. 21–28), und wiederum ruhmvoll, ehrenhaft zu kämpfen (V. 29–30). Dadurch wird deutlich, dass Tyrtaios die Angesprochenen nicht mehr dazu auffordern muss, überhaupt in den Krieg zu ziehen. Das Ziel der Aufforderungen ist hier vielmehr, die Angesprochenen zu einer bestimmten Verhaltensweise im Kampf zu motivieren.178 Es muss sich nicht mehr für oder gegen einen Kampfeinsatz entschieden werden. Der Kampf gegen die Messenier steht hier also wahrscheinlich unmittelbar bevor.179 Aus einem rein sprechakttheoretischen Blickwinkel werden die Zuhörer des Tyrtäischen Fr. 7 D in den Kampf geschickt. Die Sprechakte der Aufforderung richten sich an Männer, die diesen Aufforderungen nachkommen können und sollen. Ein sympotischer Kontext kann aus dieser Sicht in Frage gestellt werden. Das Fragment passt aufgrund seiner enthaltenen Sprechakte eher in einen kriegerischen Kontext.180 Ob
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Harder 1972, 174 nimmt an, dass es zu Tyrtaios’ Zeit „noch keine eigene soldatische Manneszucht, keinen militärischen Gehorsam“ gegeben habe. 179 So auch ebd., 232. 180 Das gleiche gilt im Übrigen für das Tyrtäische Fr. 8 D, das inhaltlich sowie in Bezug auf die in ihm vorliegenden Sprechakte Fr. 7 D nahe steht. Anders wiederum die Tyrtäischen Frr. 6 D und 9 D. Aus sprechakttheoretischer Perspektive verbleiben sie auf einem repräsentativen Niveau, hier geht es vorrangig um die Beschreibung eines guten Kämpfers. Direktive Sprechakte lassen sich hier kaum finden (vgl. diesbezüglich im Hinblick auf die Tyrtäische arete-Elegie (Fr. 9 D) neuerdings Hübner 2019, 76–85. Ebd., 84 spricht dabei von einer „thetischen Argumentationsweise“. Er plädiert in Bezug auf die arete-Elegie deswegen für einen sympotischen Aufführungskontext, schließt
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Tyrtaios dabei tatsächlich vor den Schlachtreihen der Soldaten stand und diese anfeuerte, kann zwar auch aus den gewonnenen Sprechakten nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden, soll jedoch keinesfalls ausgeschlossen werden. Denn alles deutet darauf hin, dass der Kampf – der Zweite Messenische Krieg – unmittelbar bevorstand. Die Sprechakte zeigen, dass Tyrtaios mit diesem Gedicht intendierte, die Krieger zur rechten Verhaltensweise im Kampf zu animieren. Die These eines kriegerischen Kontextes wird dabei auch durch Berichte von Lykurg181 (Fragment 6 D und 7 D zitierend) und Philochorus182 (der davon ausgeht, dass diese Sitte bis in Tyrtäische Zeit zurückging) gestützt, in denen es heißt, dass die Tyrtäischen Kriegslieder während spartanischer Kriegszüge gesungen werden mussten.183 Auch die schon mehrfach genannten Papyrusfunde zeugen von einem aktiven Einbringen ins kriegerische Geschehen durch Tyrtaios.184 Es ist daher keinesfalls unmöglich, dass Tyrtaios einige seiner Elegien – und dazu zählt auch Fr. 7 D – zur Motivation direkt vor der Schlacht auf dem Schlachtfeld vorgetragen hat. Dies wiederum lässt Vermutungen über die Funktion zu, in der Tyrtaios aufgetreten ist. Voraussetzung bei der Rekonstruktion der Funktion ist, dass Tyrtaios in seinem Gedicht keine spezifische Rolle eingenommen hat, um eine bestimmte Situation zu imaginieren, was auch die zeitliche Dimension der Texte beeinflussen würde, sondern als er selbst zu den Männern spricht. Wenn davon ausgegangen wird, dass hier keine Rolle gespielt wird, zeigen die direktiven Sprechakte, dass Tyrtaios sich in einer weisungsbefugten Position befunden hat. Dass er seine Handlungsanweisungen dabei direkt und ohne Umschweife an die Soldaten richtet, lässt zum anderen vermuten, dass er ihnen überlegen gewesen ist. Darauf deuten auch die Sprechakte der N-Aufforderung (V. 16, V. 18–20) hin. Ähnliches gilt für die in den letzten Versen gemachten Aufforderungen, mit denen Tyrtaios von den Soldaten verlangt, eine festgelegte Vorgabe (die vorgesehene Kampfesformation) zu befolgen. Dabei richtet er seine Handlungsaufforderungen ohne Umschweife an die Männer. Er bringt seine Handlungsaufforderun-
aber einen öffentlicheren Rahmen der Aufführung (etwa beim Menelaos-Kult in Therapne oder die gymnopaidischen Feste der Hyakinthia und Karneia) aufgrund der in dem Gedicht vorliegenden Polis-Ethik nicht aus. 181 Lykurg. Leokr. 107. 182 FGrH 328 F 216 = Athen. XIV, 630, f. 183 Vgl. West 1974, 11. Vgl. dazu besonders auch Bowie 1990, 222–238, der auf Grundlage der Zeugnisse von Lykurg und Philochoros davon ausgeht, dass die Tyrtäischen Elegien in der königlichen Skene während des Feldzuges gesungen wurden. Grundsätzlich sieht er in den Liedern sympotische Texte, da es nicht möglich ist, aus ihnen zu lesen, ob ein Kampf unmittelbar bevorstand oder erst Tage später erfolgte. Er glaubt, dass die Sänger die Lebendigkeit des Kampfes lediglich vor den Augen der Zuhörer im Symposion hervorrufen wollten (dieser Auffassung schließt sich Irwin 2005, 32–33 an). Bowie bezieht sich dabei jedoch nicht auf die primäre Aufführungssituation, sondern nur auf die spätere Praktik des Singens Tyrtäischer Lieder. Verkürzt dargestellt in Bowie 1986, 15–16. Vgl. auch Meier 1998, 239–240 mit Anm. 38. 184 S. S. 111, Anm. 32.
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gen nicht indirekt vor, sondern in der eindeutigen Mehrheit direkt. Dies ist ebenfalls ein Argument für einen kriegerischen Kontext, denn unmittelbar vor dem Kampf will man nicht etwas sagen, aber eigentlich etwas anderes meinen.185 Es kann insofern dafür plädiert werden, dass Tyrtaios in militärischer Hinsicht eine übergeordnete Stellung einnahm. Es soll insofern auch nicht ausgeschlossen werden, dass Tyrtaios tatsächlich in der Funktion als Feldherr agierte. Ob es sich dabei allerdings lediglich um die Rolle des Feldherrn handelt, die Tyrtaios für den Gedichtvortrag einnimmt, kann nicht abschließend entschieden werden. Allerdings gibt es in den uns erhaltenen Gedichten des Tyratios keine Hinweise darauf, dass er – anders als etwa Solon oder Alkaios186 – bestimmte Rollen für den Gedichtvortrag eingenommen hat. 5.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel Welchen Einfluss Tyrtaios’ Worte hatten, kann auch hier nicht unmittelbar beurteilt werden. Es steht jedoch fest, dass Tyrtaios Sprechakte vollzog, mit denen er die Männer zu einer bestimmten Verhaltensweise bewegen wollte. Dass seine sprachlichen Handlungen dabei eine bestimmte Wirkung auf die Soldaten gehabt haben, kann angenommen werden. Dies gilt insbesondere, da Tyrtaios’ Sprache seit je her eine besondere Kraft zugesprochen wird.187 Schon Lykurg führte die Tapferkeit der Spartaner auf die Tyrtäische Dichtung zurück: Die Männer, die diese Gedichte zu hören gewohnt waren, waren so tapfer, daß sie mit unserer Polis um die Vorherrschaft kämpften, und das zu Recht.188 (Übers. Engels 2008)
Auch andere Testimonien berichten davon, dass die Spartaner durch Tyrtaios’ Worte kampfeshungrig wurden189 bzw. gar dank ihm die Feinde besiegt hätten.190 So wird denn auch in der Forschung davon ausgegangen, dass Tyrtaios’ Worte eine große Wirkkraft gehabt hatten. Harder etwa formuliert pathetisch: „Hier ist das gesteigerte Wort des Aufrufs nicht Begleitmusik, zweithändig, Literatur – sondern selber Kampfhandlung.“191 Es ist insofern nicht ausgeschlossen, dass Tyrtaios sein Ziel schlussendlich erreichen konnte, was sich darin zeigt, dass die Spartaner die aufständischen Mes-
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Der Vermutung, dass es sich hierbei möglicherweise um einen bestimmten Stil des Tyrtaios handelt, kann entgegengehalten werden, dass es Elegien gibt (etwa die bereits analysierten Frr. 2 D, 4 D und 5 D), in denen er die Direktiva indirekt formuliert. 186 Solon Fr. 1 W; Alkaios Fr. 10 V. 187 Etwa Rösler 1980, 71; ähnlich Müller 1999, 60; Latacz 1991, 162. 188 Vgl. Lykurg. Leokr. 108: οὕτω τοίνυν εἶχον πρὸς ἀνδρείαν οἱ τούτων ἀκούοντες ὥστε πρὸς τὴν πόλιν ἡμῶν περὶ τῆς ἡγεμονίας ἀμφισβητεῖν, εἰκότως· 189 Etwa Diod. VIII, 27; Paus. IV, 16, 6; Lykurg. Leokr. 108. 190 Lykurg. Leokr. 106. 191 Harder 1972, 147.
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senier besiegen konnten. Wie bereits im Hinblick auf das perlokutionäre Nachspiel der Frr. 2 D, 4 D und 5 D dargestellt, gelang es den Spartanern, den messenischen Aufstand zu bezwingen und schlussendlich vollständig zu unterwerfen.
6 Alkaios von Mytilene Der Dichter Alkaios von der Insel Lesbos lebte zu einer Zeit des politischen und sozialen Wandels: In seiner Heimatstadt Mytilene, der nach Yatromanolakis „most important Lesbian city“1 kämpften im 7. Jh. v. Chr. verschiedene aristokratische Gruppierungen um die Vormachtstellung. Alkaios, selbst Teil einer solchen Gruppe, gewährt uns durch seine Gedichte eine Innensicht auf die Machtkämpfe jener Zeit. Dabei thematisiert seine Lyrik jedoch, wie Page anmerkt, ausschließlich Personen und Familien hohen Standes, weswegen er konstatiert, dass nirgends sonst die Geschichte der Machtergreifung von Tyrannen in der griechischen Welt zu dieser Zeit besser verdeutlicht werde.2 Alkaios’ Ausführungen sind daher auch nicht objektiv, sondern beschränken sich auf die Teilaspekte der Geschehnisse, die den Dichter selbst betreffen.3 Der Reiz der Alkäischen Dichtung liegt jedoch gerade in dieser Subjektivität. Fränkel kann zugestimmt werden, wenn er in Alkaios’ Lyrik „eine unbändige Willkür spontaner Empfindungen und hemmungsloser Mitteilungen“4 erkennt. Auf leidenschaftliche Weise kommentiere Alkaios, wenn auch in einer „engen und selbstverfangenen Weise“, alles, was ihm begegne.5 Anders als gewöhnlich, gewährt uns Alkaios dabei historische Einblick in die Rolle des Verlierers: „we have an extraordinary instance of history written by the ‚losers‘.“6 Selten spricht aus der archaischen Lyrik eine solch situative Konkretheit, wie aus den erhaltenen Gedichten des Alkaios. Die Gedichte des Alkaios sind in der alexandrinischen Ausgabe in mindestens zehn Büchern herausgegeben worden. Heute existieren jedoch lediglich rund 400 Fragmente, von denen auch nur etwa 25 Gedichte einen Umfang von vier bis 30 Versen, teilweise lückenhaft, aufweisen.7 Die Überlieferung ist also spärlich und geht aus kurzen 1 2 3 4 5 6 7
Yatromanolakis 2009, 206. Vgl. Page 1955, 175. Vgl. dazu auch Pallantza 2005, 18 mit Anm. 4 und 19; Burnett 1983, 116–117. Fränkel 1969, 216. Ebd., 228; Vgl. auch Gentili 1988, 197. Kurke 1994, 67. Vgl. Latacz 1991, 365.
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Zitaten bei späteren Autoren und einigen fragmentarischen Papyri (zumeist aus Oxyrhynchos) hervor.8 Alkaios’ Bücher wurden ursprünglich in Alexandria katalogisiert, doch wissen wir nicht, in welcher Weise sie geordnet waren.9 Nach Latacz bezeugt Horaz, der die alexandrinischen Bücher kannte und einer der größten Alkaios-Verehrer der römische Periode war, in der insgesamt vier große Themenbereiche für sein dichterisches Vorbild: Wein- und Trinklieder, mythologische Lieder, Liebeslieder und Bürgerkriegslieder.10 Besonders Letztere scheinen Interesse hervorgerufen zu haben, erhielten sie von Strabon doch eine eigene Bezeichnung: Die Stasiotika11: Die Stadt wurde in jenen Zeiten infolge der Parteizwiste von mehreren Tyrannen beherrscht, und die sogenannten Parteikampfgedichte (στασιωτικά, Anm. AvdD) des Alkaios handeln davon.12 (Übers. Radt 2004)
Weil eben jene Stasiotika sich also konkret auf eine ganz bestimmte historische Situation in Mytilene beziehen und dabei die subjektive Perspektive des Alkaios transportieren, eignen sie sich für eine Analyse der Sprechakte und sollen daher Eingang in diese Untersuchung finden. Dabei werden zwei Gedichte herangezogen, die, im Unterschied zu den meisten anderen der alkäischen Gedichte, verhältnismäßig intakt geblieben sind und daher wenig Raum für Spekulationen bieten: Fr. 6 V und Fr. 43 D (= 70V)13. Beide Gedichte zeugen dabei von einer situativen Konkretheit, weil sie sich deutlich auf die (von Alkaios so empfundene) Krise in Lesbos beziehen. Sie lassen sich insofern in einen bestimmten historischen Kontext einordnen und bieten damit inhaltlich wie pragmatisch eine Grundlage für die Analyse der Sprechakte. Bevor die beiden Fragmente auf ihre Sprechakte hin untersucht werden, soll jedoch einführend der Blick auf den Dichter selbst gerichtet werden. Bagordo setzt Alkaios’ Geburt auf Grundlage einer bei Eusebius gemachten Angabe, nach der Alkaios seine Blüte in der 45. Olympiade, also etwa 600–597 v. Chr. hatte, etwa auf das Jahr 8
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Die ersten Alkäischen Texte wurden 1902, 1907 und 1914 herausgegeben, vgl. Rutherford 2019, 8. Treu 1963, 103 nimmt an, dass der Inhalt der Alkäischen Gedichte, besonderes seine Stasis-Dichtung, zu zeit- und situationsgebunden waren und sie insofern kein Interesse der zitierenden Nachwelt gefunden hätten. Dem schließt sich Koster 1980, 60 an. Vgl. MacLachlan 1997, 140. Hor. carm. 1, 32, 5–12. Vgl. Latacz 1991, 367. Vgl. in Bezug auf die thematische wie metrische Übernahme Alkäischer Lyrik durch Horaz Frank 1927. Eine Einordnung einzelner Fragmente in die unterschiedlichen Themenbereiche findet sich übersichtlich bei Bagordo 2011, 208–211. Auch Horaz betont den thematischen Schwerpunkt kriegerischer Themen bei Alkaios (Hor. carm. 2, 13, 26–28). Vgl. diesbezüglich auch Kistler 2020, der aufgrund archäologisch nachzuvollziehender „Banketthäuser“ der Archaik davon ausgeht, dass megaloi domoi oder oikia mächtiger Abstammungslinien, wie sie auch aus Alkaios’ Lyrik hervorgehen (besonders Alk. Fr. 383 V) im Mittelpunkt des Kampfes um zentrale Machtgewalt, sinnbildlich als Architektur der Stasis, standen. Strab. XIII, 2, 3: ἐτυραννήθη δὲ ἡ πόλις κατὰ τοὺς χρόνους τούτους ὑπὸ πλειόνων διὰ τὰς διχοστασίας, καὶ τὰ στασιωτικὰ καλούμενα τοῦ Ἀλκαίου ποιήματα περὶ τούτων ἐστίν· Im Hinblick auf die Textergänzungen der korrupten Verse von Alk. Fr. 70V/43 D wurde sich für die Textgrundlage von Diehl entschieden, was im Analysekapitel näher ausgeführt wird.
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Alkaios von Mytilene
640 v. Chr.14 Uneingeschränkte Jahreszahlen können für Alkaios jedoch nicht gegeben werden, wie Trumpf richtigerweise zu bedenken gibt.15 Für seinen Zeitgenossen Pittakos ist dies jedoch möglich, weswegen dieser als Orientierungspunkt für die Lebensdaten des Alkaios dienen kann.16 Hauptquelle für das Leben des Pittakos ist Diogenes Laertios. Dieser setzt Pittakos’ Blüte in die 42. Olympiade und seinen Tod in die 52. Olympiade.17 Demnach war Alkaios etwas jünger als Pittakos, beide lebten aber ungefähr zur gleichen Zeit, also um die Wende vom 7. zum 6. Jh. v. Chr. Die Alkäische Dichtung steht grundsätzlich in einem engen Zusammenhang zu den politischen Ereignissen des 7. und 6. Jh. v. Chr. in Mytilene. Zum besseren Verständnis der unten folgenden Einordnung der beiden hier zu analysierenden Alkäischen Gedichte in ihren je konkreten Kontext soll deswegen zuerst ein kurzer Überblick über die politischen Geschehnisse in Mytilene zur Zeit des Alkaios gegeben werden.18 Im 7. und 6. Jh. v. Chr. lassen sich in Mytilene Entwicklungen beobachtet, die auch andernorts zur gleichen Zeit vonstattengingen: Erste demokratisch anmutende Tendenzen führten dazu, dass sich Adlige in sogenannten Hetairien zusammenfanden, um ihre Machtstellung aufrecht zu erhalten. Daraus entwickelten sich oligarchische Regierungssysteme, die jedoch immer wieder durch die Etablierung einer Tyrannenherrschaft unterbrochen wurden. So gelang es verschiedenen Männern in einigen Abständen, die Gunst des Volkes zu gewinnen und sich mit dessen Hilfe zum Tyrannen aufzuschwingen.19 In Mytilene regierte zum Ende des 7. Jh. v. Chr. das alte Königsgeschlecht der Penthiliden.20 Die Penthiliden bildeten eine dynastische Oligarchie, die alle Macht in ihren Händen vereinte. Bald regte sich jedoch Widerstand gegen das brutale Auftreten der Penthiliden und der Aristokrat Megakles initiierte mit seiner Hetairie einen Aufstand gegen den Clan. Aristoteles weiß davon zu berichten:
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Vgl. Bagordo 2011, 208. Vgl. Trumpf 1958, 34, Anm. 2. Page 1955, 150 verweist für eine Gesamtdarstellung der Ereignisse zur Zeit des Alkaios auf die Atthis des Hellanikos von Lesbos. Zur Datierung des Alkaios vgl. auch Hutchinson 2001, 187–188. So schon Meyerhoff 1984, 10; Page 1955, 152. Diog. Laert. I, 79. Für den folgenden Abschnitt über die politischen Ereignisse in Mytilene vgl. nach wie vor grundlegend Page 1955. Daneben (und teilweise auf Page basierend) Pallantza 2005, 17–21; Gehrke 1986, 122–125; Boruhovic 1981; Rösler 1980; Steffen 1969; Berve 1967; Trumpf 1958. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Texte des Alkaios schon in der Antike als Hauptquelle für die frühe Geschichte Mytilenes dienten und insofern bis heute die einzige Grundlage für die Kenntnis der politischen Ereignisse Mytilenes sind. Vgl. Steffen 1969, 7; Welwei 1992 b, 495. Die Penthiliden führen ihre Abstammung auf Penthilos zurück, Sohn des sagenhaften Orestes. Page 1955, 149 sieht in der Herrschaft der Penthiliden das Beispiel einer Regierungsform, die auf das homerische Königtum folgte und innerhalb deren es aber keinen König mehr gab, sondern regierende Clans.
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So verübte in Mytilene Megakles mit seinen Freunden einen Anschlag auf die Penthiliden, die umhergingen und die Bürger mit Stäben schlugen, und beseitigte sie; […]21 (Übers. Gigon 1971)
Megakles schaffte es jedoch nicht, die Penthiliden endgültig zu besiegen und einen Machtwechsel herbeizuführen. Dennoch verloren die Penthiliden im Laufe der Zeit an Macht. Die politische Situation in Mytilene blieb unruhig: Aristokratische Familien stritten um die Vormachtstellung, doch konnte sich niemand für längere Zeit als herrschende Familie an der Spitze der Polis etablieren. Erst einem Mann namens Melanchros gelang es um 600 v. Chr. mit Hilfe seiner Freunde, sich zum Tyrannen über Mytilene aufzuschwingen. Von nun an begegnet uns auch Alkaios auf der politischen Bühne, wobei er jedoch noch nicht aktiv in Erscheinung tritt. Von Diogenes Laertios erfahren wir nur, dass eine Hetairie um Pittakos, zu der auch Alkaios’ Brüder Antimenidais und Kikis sowie vermutlich Alkaios selbst gehörte, den Sturz Melanchros’ herbeiführten: Pittakos, des Hyrradios Sohn, stammte aus Mytilene. Duris dagegen berichtet, sein Vater sei ein Thrakier gewesen. Er stürzte in Verbindung mit den Brüdern des Alkaios den Melanchros, den Tyrannen von Lesbos.22 (Übers. Apelt 1967)
Laut der Suda fällt das Datum des Umsturzes in die 42. Olympiade, also 612/609 v. Chr. Unklar ist jedoch, ob Alkaios an der Verschwörung gegen Melanchros, an deren Ende wohl dessen Tod stand, teilnahm oder ob er dafür noch zu jung war.23 Unter den Verschwörern gegen Melanchros begegnet uns zum ersten Mal auch Pittakos, der in der Antike zu den Sieben Weisen gezählt wurde.24 Pittakos war Sohn eines vornehmen thrakischen Einwanderers, um den sich die Hetairie der Brüder des Alkaios scharte.25 Gemeinsam sind Alkaios und Pittakos wohl auch in den Sigeischen Krieg gezogen, der auf den Sturz Melanchros folgte und wohl dazu beitrug, dass die Machtkämpfe 21 22 23
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Arist. pol. V, 10 1311b 26–28: οἷον ἐν Μυτιλήνῃ τοὺς Πενθιλίδας Μεγακλῆς περιιόντας καὶ τύπτοντας ταῖς κορύναις ἐπιθέμενος μετὰ τῶν φίλων ἀνεῖλεν, […]. Diog. Laert. I, 74: Πιττακὸς Ὑρραδίου Μυτιληναῖος. φησὶ δὲ Δοῦρις τὸν πατέρα αὐτοῦ Θρᾷκα εἶναι. οὗτος μετὰ τῶν Ἀλκαίου γενόμενος ἀδελφῶν Μέλαγχρον καθεῖλε τὸν τῆς Λέσβου τύραννον· Steffen 1969, 8 glaubt, dass, wenn sich Fr. 75 V auf den Sturz Melanchros’ bezieht, Alkaios noch zu jung war. Ähnlich Page 1955, 151–152. Trumpf 1958, 40 geht nicht davon aus, dass Alkaios zu jung war, sondern vielmehr, dass er Mitverschworener gewesen ist, jedoch zur Zeit nicht in Mytilene gewesen ist. Dies nimmt er an, da Strabon Melanchros als einen der Politiker nennt, die Alkaios in seinen Liedern verhöhnt (Strab. XIII, 2, 3). Wäre Melanchros schon zu Kinderzeiten des Alkaios von der politischen Bühne verschwunden, hätte es eine Verhöhnung in den Liedern des Alkaios, so Trumpf, wahrscheinlich nicht gegeben. Vgl. Engels 2010, 47–49. Vgl. Trumpf 1958, 39. Pittakos wurde zu Weilen auch für einen Mann niederer Herkunft gehalten, weil er von Alkaios in Fr. 348 V als κακοπατρίδαν bezeichnet wird. Fraglich ist, ob sich diese Äußerung wirklich auf eine niedere Herkunft des Pittakos bezieht, oder von Alkaios lediglich zum Zwecke der Diffamierung des Feindes benutzt wurde. Vermutlich gehörte Pittakos in den Kreis
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in Mytilene eine Zeit lang ruhten. In diesem Krieg der Mytilener gegen die Athener um Sigeion am Eingang des Hellesponts bewährte sich vor allem Pittakos in einem siegreichen Zweikampf gegen den athenischen Olympiasieger Phrynon26, was ihm vermutlich nachhaltiges Ansehen einbrachte. Alkaios hingegen, so steht es bei Herodot und Strabon, habe in einem Kampf die Waffen niedergeworfen und die Flucht ergriffen.27 Nach dem Ende des Krieges loderten die Streitigkeiten um die Vormachtstellung in Mytilene erneut auf. Bald traten neue Aspiranten der Tyrannis auf den Plan, wie der Kleanaktide Myrsilos. Laut Trumpf war Myrsilos einst Anhänger Melanchros’ und wurde nach dessen Sturz aus Mytilene vertrieben. Nun kehrte er mit Hilfe alter Freunde zurück in die Stadt, wo er dank seiner verbliebenen Gefolgschaft an die Spitze der Macht strebte.28 Die drohende Tyrannis des Myrsilos scheint ein Grund dafür zu sein, dass Alkaios sich plötzlich aktiv in die Politik einmischte. Zusammen mit seiner Hetairie, zu der auch Pittakos nach wie vor zählte, versuchte er, Myrsilos an der Machtübernahme zu hindern. Wahrscheinlich gehört Fr. 6 V in eben jene Zeit, weil Alkaios hier in allegorischem Stil über die drohende Gefahr spricht.29 Es gelang Alkaios’ Hetairie jedoch nicht, Myrsilos aufzuhalten: Myrsilos konnte sich als Tyrann in Mytilene etablieren. Für Alkaios und seine Freunde, die sich mit einem Eid gegen Myrsilos verschworen hatten,30 bedeutete dies, dass sie ins Exil nach Pyrrha fliehen mussten.31 Aus dem Exil heraus scheinen Alkaios und seine Sinnesgenossen weiterhin versucht zu haben, Myrsilos zu stürzen und nach Mytilene zurückzukehren.32 Dies gelang ihnen jedoch nicht, wie aus Fr. 69 V hervorgeht: War ja nie Erfolg unsrem Tun beschieden, nie auch nur bedacht, was der rechte Plan sei. […]33 (V. 5–6, Übers. Treu 1963)
Ein Faktor für das Misslingen der Verschwörung könnte der Verrat des Pittakos gewesen sein. Denn aus vielen Fragmente des Alkaios wird ersichtlich, dass Pittakos mit
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adliger Familien, da er der gleichen Hetairie wie Alkaios angehörte, vgl. dazu besonders Rösler 1980, 186–191 und Page 1955, 169–179. Vgl. Diog. Laert. I, 74. Strab. XIII, 1, 38; Hdt. V, 95. Vgl. zu Herodots Bericht auch Plut. mor. 858a. Vgl. Trumpf 1959, 46. Eine genauere Einordnung von Fr. 6 V. in seinen historischen Kontext erfolgt in Kap. 6.1.1. Fr. 129 V, V. 13–16. Schol. Alk. 114 V. Möglicherweise auch verschiedene Fragmente aus P. Oxy 2307= Frr. 306 V, vgl. Dale 2011, 16. Alkaios scheint im Laufe seines Lebens mehrmals im Exil gewesen zu sein, vgl. de Libero 1996, 324 mit Anm. 45. Dass das Exil in Pyrrha sein erstes Exil gewesen ist, glaubt Trumpf 1959, 52–53. Über die sozialen Auswirkungen des Exil-Aufenthalts bei Alkaios vgl. Yatromanolakis 2009, 211–212. Alkaios selbst berichtet in Fr. 69 V, dass die Lyder ihnen im Exil in Pyrrha Geld für dieses Vorhaben gaben. Welchen Nutzen sich die Lyder davon erhofften, ist unklar. Fr. 69 V, V. 5–6: οὐ πάθοντες οὐδάμα πὦσλον οὐ[δἒ]ν / οὐδὲ γινώσκοντες· […]
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seinen einstigen Freunden gebrochen hat.34 Aus Fr. 129 V geht etwa hervor, dass Pittakos gar die Seiten gewechselt und sich dem Lager des Feindes Myrsilos angeschlossen habe. Zusammen mit diesem regierte er vielleicht auch eine Zeit lang in Mytilene.35 Alkaios’ Bemühen, die bestehenden Verhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern, hatte nun keinen Rückhalt mehr. Erst der Tod des Myrsilos machte es Alkaios und seinen Freunden möglich, zurück nach Mytilene zu kehren.36 Hier bekleidete jedoch mittlerweile Pittakos als Nachfolger des Myrsilos die führende Stellung in der Polis. Später wird dieser sogar vom Demos zum Aisymneten gewählt (laut Suda etwa 590 v. Chr.)37. Alkaios dichtet darüber äußerst verärgert: Eines Unedlen Sohn, Pittakos, ward unserer alten Stadt Zum Tyrannen gesetzt! All ihren Groll hat, vom Dämon verführt, sie vergessen, und laut riefen sogar alle ihm Beifall zu!38 (Übers. Treu 1963)
Offenbar war Pittakos mit großer Zustimmung zum Aisymneten berufen worden. Er konnte sich dabei anscheinend auch auf eine nichtadlige Basis stützen, der er, wie Rösler vermutet, entsprechende politische Zugeständnisse machte und damit entgegen
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Fr. 129 V; Fr. 43 D; Fr. 348 V. Bei Diogenes findet sich eine Auflistung der Beleidigungen des Alkaios gegen Pittakos (Diog. Laert. I, 81). Zu den Invektiven gegen Pittakos vgl. auch Lennartz 2010, 298–299. Vgl. auch Davies 1985, der den topischen Charakter der Invektive betont und vor einer allzu historischen Auslegung der Alkäischen Invektive warnt. Dagegen jedoch schlüssig Koster 1980, 61: „Das auffallendste Kennzeichen der hier weitgehend vermuteten archaischen Invektive gegenüber der homerischen ist, daß sie direkte Äußerung des Dichters und zugleich Ausdruck seines Charakters ist und so unmittelbaren historischen Bezug hat. Sie erscheint im privaten und politischen Bereich und bestätigt durch die Konsequenzen für die Urheber den direkten Zusammenhang von Literatur und Politik.“ Kistler 2012, 66–67 sieht in der Beleidigung des Pittakos als „Dickwanst“ das soziale Erkennungsmerkmal eines politischen „Schwergewichtes“. Vgl. grundsätzlich zur Kraft verbaler Verletzungen durch Sprechakte neuerdings Gehring 2019. Interessant, jedoch in der Forschung nicht weiter aufgegriffen, ist eine Hypothese von Dale 2011, nach der „Myrsilos“ lediglich ein aus dem Hethitischen übernommener Ausdruck für einen König oder Herrscher sei und ein Mann namens Myrsilos insofern auf Lesbos nie existiert habe, sondern mit diesem Titel vielmehr sowohl Melanchros als auch Pittakos gemeint gewesen sein könnten. In Fr. 332 V bricht Alkaios über den Tod des Myrsilos in Freude aus. Ob Myrsilos gewaltsam umkam oder eines natürlichen Todes starb, kann nicht eindeutig gesagt werden. Steffen 1969, 9 vermutet jedoch einen gewaltsamen Tod mit der Begründung, dass Alkaios’ überschwängliche Freude auf einen unerwarteten oder plötzlichen Tod deute. Anders Burnett 1983, 114 mit Anm. 24. Zudem kann auch nur spekuliert werden, dass Alkaios nach dessen Tod zurück nach Mytilene kommen konnte. Wahrscheinlich ist aber, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt noch einmal in Mytilene gewesen ist, da öfters von einer „ersten“ Flucht die Rede ist und es insofern eine zweite Flucht und eine Zwischenzeit, in der Alkaios in Mytilene sein konnte, gegeben haben muss, vgl. Trumpf 1958, 59, Anm. 2. Suda s. v. Πιττακός Adler 1659. Fr. 348 V: … τὸν κακοπατρίδα‹ν› / Φίττακον πόλιος τὰς ἀχόλω καὶ βαρυδαίμονος / ἐστάσαντο τύραννον μέγ’ ἐπαίνεντες ἀόλλεες
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den konservativen Vorstellungen eines Alkaios handelte.39 Alkaios und seine Hetairie sahen in Pittakos freilich immer noch einen Verräter und wurden nicht müde, ihn zu beschimpfen. Das feindlich gesinnte Verhalten der Gruppe um Alkaios hatte schlussendlich zur Folge, dass sie abermals, diesmal vermutlich von Pittakos, verbannt wurde.40 Dieser leitete daraufhin für zehn Jahre die Geschicke der Stadt als Aisymnet, bevor er sein Amt freiwillig niederlegte.41 Nach der Pittakos-Vita des Diogenes Laertios führte er sein Amt mit großer Milde und Nachsicht.42 Auch Alkaios durfte schlussendlich in die Heimat zurückkehren.43 Über sein späteres Leben wissen wir jedoch kaum noch etwas. Bevor die beiden hier zu analysierenden Gedichte auf Grundlage dieses vorab gegebenen historischen Überblickes noch einmal in ihren je konkreten außerliterarischen Kontext eingeordnet werden, soll abschließend auf Alkaios’ gesellschaftlichen Status eingegangen werden: Dass Alkaios hohen Standes war, impliziert eine Zahl an Passagen seiner Dichtung, in denen er von einer edlen Herkunft spricht, die schon seit Generationen Teil politischer Institutionen gewesen ist.44 Auch seine Beleidigung gegen Pittakos, den er in Fr. 348 V als κακοπατρίδας beschimpft, lässt einen gewissen Adelsstolz vermuten.45 Latacz glaubt sogar, dass Alkaios innerhalb der Hetairie eine führende politische Stellung bekleidete und sich durch seine künstlerische Produktivität herausgehoben wusste.46 Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass Alkaios zur Wende vom 7. zum 6. Jh. v. Chr. in Mytilene auf Lesbos lebte und wirkte. Als Zeitzeuge erlebte er die politischen Wirren um die Vormachtstellung seiner Heimatpolis am eigenen Leibe. Dabei erzählt seine Dichtung von aristokratischen Machtkämpfen, in die er selbst und seine Hetairie, insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Tyrannen Myrsilos und später Pittakos, verwickelt waren.
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Vgl. Rösler 1980, 30 (mit Anm. 10) und 31. Zur Aisymnetie des Pittakos in den Quellen s. etwa Diog. Laert. I, 74–75; Arist. pol. III, 14 1285a 33–42; Strab. XIII 2, 3; zum Vergleich des Aisymnetiebegriffes bei Aristoteles (etwa Arist. pol. III, 14 1285b 25–26 und Arist. pol. IV, 10 1295a 11–14) und dem Alkäischen Tyrannnisbegriff für Pittakos vgl. de Libero 1996, 324–328. Für weiterführende Literatur zur Aisymnetie des Pittakos vgl. Pallantza 2005, 18, Anm. 3. Zur Unterscheidung von Tyrann und Aisymnet im Fall von Pittakos vgl. Berve 1967, 93–95; vgl. grundsätzlich zur Aisymnetie des Pittkos Hölkeskamp 1999, 219–226. Arist. pol. III, 14 1285a 33–42. Bei der Zeitangabe von zehn Jahren der Amtsleitung, die auch Solon zugesprochen wird, handelt es sich vermutlich um einen Allgemeinplatz, weil der genaue Zeitraum nicht mehr rekonstruierbar war, vgl. de Libero 1996, 327, Anm. 62 mit Bezug auf Romer 1982, 37: For the Greeks, counting by tens or multiples of tens was a commonplace of historical technique in writing about their remote past.“ Diog. Laert. I, 74–81. Bei Diodor heißt es, Pittakos habe die Polis vor Bürgerkrieg, Krieg und Tyrannis bewahrt (Diod. IX, 11, 1). Diog. Laert. I, 76. Fr. 6 V, V. 13; Fr. 130b V, V. 4–7. Darüber, dass Alkaios zu der Oberschicht gehörte, ist sich die Forschung einig, vgl. etwa MacLachlan 1997, 137; Steffen 1969, 7; Page 1955, 174. Vgl. Snell 1958, 52. Vgl. Latacz 1991, 366.
Fr. 6 V
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6.1 Fr. 6 V 6.1.1 Der außerliterarische Kontext Das Alkäische Fr. 6 V handelt von einem Schiff, das auf hoher See in einen gefährlichen Sturm geraten ist und welches es zu schützen gilt. Als Alkaios diese Verse vortrug, befand sich Mytilene inmitten der Wirren um die Vormachtstellung der Polis. Alkaios und seine Hetairie, zu diesem Zeitpunkt noch vereint mit Pittakos, versuchten, Myrsilos entgegenzutreten. Dieser strebte die Tyrannis über die Stadt an.47 Es ist davon auszugehen, dass Alkaios mit dem in Seenot geratenen Schiff auf die stürmischen Zeiten anspielt, in denen sich die Polis während der Machtkämpfe und insbesondere der Tyrannis-Bestrebungen des Myrsilos befand.48 Der Grammatiker Heraklit (1./2. Jh. n. Chr.) schreibt, dass das Fragment allegorisch zu interpretieren sei und sich der beschriebene Sturm, in dem sich das Schiff befindet, auf den Aufstand in Mytilene beziehe, der in Myrsilos’ Tyrannis mündete.49 Dass es hier um Myrsilos geht, zeigt auch die Erwähnung seines Namens, die weiter unten im Gedicht entziffert werden konnte.50 In der Forschung umstritten ist jedoch, ob das Gedicht vor der Erringung der Alleinherrschaft durch Myrsilos entstanden ist oder aber während des Aufenthalts der Hetairie des Alkaios in dem auf die Erringung der Macht des Myrsilos folgenden Exil.51 Weil die Sprechaktanalyse die Intention des Sprechers und den Zusammenhang zwischen Sprechen und Kontext erhellen kann, soll diese Frage durch die Analyse der Sprechakte geprüft werden. Fraglich ist, für wen das Schiff in der Allegorie steht. Rösler glaubt, dass damit nicht das vielbemühte Staatsschiff gemeint ist, sondern vielmehr allein die Alkäische He47 48 49
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Vgl. Berve 1967, 92. Vgl. Gentili 1988, 199; Fränkel 1969, 216; Podlecki 1969, 77–78; Berve 1967, S: 92–93; Trumpf 1958, 49–50. Herakl. all. Hom. 5, 5. Zur allegorischen Deutung Homers mit dem Ziel der Befreiung Homers vom Vorwurf der Asebie durch Heraklit vgl. Lanzinger 2016, 52–72. Die Absurdität der Annahme, Alkaios hätte das Gedicht tatsächlich auf einem Schiff in Seenot vorgetragen, verdeutlicht bereits Page 1955, 185, der schon vor den Bemühungen der Rekonstruktion des performativen Kontextes im Zuge des performative turn von einer allegorischen Deutung des Fragmentes ausging. Uhlig 2018 plädiert hingegen neuerdings dafür, sich wieder mehr der textlichen Oberfläche der Alkäischen „Staatsschiff “-Lyrik zu widmen, da diese nicht nur einen wichtigen Teil des realen Lebens in Mytilene des 6. Jh. v. Chr., die Seefahrt, reflektiere und gleichsam ästhetisiere, sondern auch zeigt, wie imaginative Räume außerhalb der Aufführungssituation geschaffen würden. Den allegorischen Charakter der Gedichte leugnet sie jedoch auch nicht. Vgl. Treu 1963, 163. Informationen über konkrete Gegebenheiten lassen sich häufig aus den Alkäischen Gedichten selbst entnehmen, wie MacLachlan 1997, 137 aufzeigt: „There is an immediacy about the songs of Alcaeus […] where specific individuals and circumstances are named and emotions are aroused by a single event.“ Der spätere Teil des Gedichtes, in welchem Myrsilos’ Name fällt, ist jedoch so korrupt, dass er nicht in die Untersuchung einbezogen werden kann. Vgl. dazu Rösler 1980, 131 mit Anm. 44 und 45. Rösler selbst glaubt, dass diese Frage müßig ist, da eine genaue zeitliche Einordnung des Gedichtes nicht möglich sei.
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tairie. Er argumentiert überzeugend: „Dies wird bereits in Z. 2 des Gedichts deutlich, in der Alkaios davon spricht, daß die drohende Überflutung des Schiffes der Gruppe (ἄμμι; vgl. auch den Rest einer Verbform in der 1. Ps. Pl. in V. 4) gegebenenfalls viel Schöpfarbeit bringen werde. Die έταῖροι befinden sich also in einer gemeinsamen Gefahr, deren Bedrohlichkeit der Dichter mit dem Mittel der Allegorie einzuschärfen bemüht ist.“52 Auch hier soll demnach davon ausgegangen werden, dass Alkaios mit „Schiff “ auf die eigene politische Gruppe abzielt. Für die Analyse von Fr. 6 V ist zuletzt wesentlich, auch die Gelegenheit, bei der Alkaios auftrat, sowie die Zuhörer, an die sich das Gedichte richtete, zu kennen. Rösler hat in seiner grundlegenden Untersuchung, der sich die Forschung mehrheitlich angeschlossen hat, herausgearbeitet, dass die Hetairie der primäre Aufführungsort der Alkäischen Lyrik gewesen ist.53 Die im Gedicht gemachte Andeutungen einer gemeinsamen Vergangenheit und edler Vorfahren verstärken diesen Eindruck. Rösler definiert die Hetairie – zumindest während der politisch ereignisreichen Zeit in Mytilene – als eine Form des „politischen Clubs“, in welchem „Männer, die ein gemeinsames politisches Ziel verfolgen, [ ] sich zusammen[schließen] und schwören, dieses Zeil miteinander durchzusetzen.“54 Dabei war eine solche Gruppe aber nicht nur auf eine politische Funktion beschränkt, sondern bildete laut Rösler auch die zentrale Form männlichen Zusammenlebens, hinter der etwa der Familienverband deutlich zurücktrat.55 In solchen Lebensgemeinschaften, die auf Freundschaft basierten, wurde das Zusammenleben durch „gemeinsame kultische Handlungen und andere Formen des Beisammenseins, vornehmlich im festlichen Symposium“56 gepflegt. Laut Rösler sind in diesem Aufführungskontext unzweifelhaft fast alle Gedichte des Alkaios zu verorten. Er geht sogar so weit, zu sagen: „Ohne Hetairie kein Lyriker Alkaios.“57 Alkaios hat seine Gedichte – und so auch Fr. 6 V – also vermutlich an seine Standesgenossen der Hetairie gerichtet. Dennoch darf nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass Alkaios’ Lyrik grundsätzlich auch an anderer Stelle Gehör fand.58 Sollten die ana52 53 54 55 56 57 58
Rösler 1980, 128. Dieser Argumentation folgt Nünlist 1998, 320–321. Ähnlich auch Spahn 1993, 359. In der Forschung wird größtenteils jedoch auch in Fr. 6 V von Staatsschiff gesprochen, welches an anderer Stelle (etwa Fr. 326 V und Fr. 73 V) als ein solches interpretiert werden kann. Vgl. Rösler 1980, insbesondere 37–45; Zur Hetaire-Dichtung des Alkaios vgl. auch Pallantza 2005, 17–22 (bes. 19 mit Anm. 8). Rösler 1980, 34. Vgl. ebd., 33. Ebd., 34–35. Snell/Franyó 1976, 12 glauben, dass das Verschworensein für ein bestimmtes Ziel wichtiger war als die Abstammung. Rösler 1980, 40. Etwa im Symposion: Tsomis 2001, 21; MacLachlan 1997, 138; Yatromanolakis 2009, 207. Bei (religiösen) Festen: MacLachlan 1997, 138. Oder vor lokalen griechischen Adelskreisen in der Verbannung: Tsomis 2001, 21. Ebd. weist zudem auf eine Erwähnung bei Himerios hin, aus der hervorgehe, dass Alkaios auch bei einer πανήγυρις von Lesbos auftrat. Grundsätzlich muss angenommen werden, dass die Lyrik der Archaik eine sekundäre Rezeptionsstufe schon mitgedacht hatte, das heißt, dass die Gedichte auf unterschiedlichem Wege einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ge-
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lysierten Sprechakte für einen anderen, öffentlicheren, Aufführungskontext sprechen, muss diese Ansicht also revidiert werden. 6.1.2 Analyse der Sprechakte Fr. 6 V:59 1 Tόδ’ αὖ]τε κῦμα τὼ π[ρ]οτέρ[ω ¢ ’νέμω στείχει,] παρέξει δ’ ἄ[μμι πόνον π]όλυν ἄντλην, ἐπ]εί κε νᾶ[ος ἔμβαι [ ].όμεθ’ ἐ[ * 7 φαρξώμεθ’ ὠς ὤκιστα¢ [ ἐς δ’ ἔχυρον λίμενα δρό[μωμεν καὶ μή τιν’ ὄκνος μόλθ[ακος 10 λάβη· πρόδῃλον γάρ μέγ’ [ἀέθλιον] μνάσθητε τῶν πάροιθε μ¢[όχθων] νῦν τις ἄνηρ δόκιμος γε¢[νέσθω καὶ μὴ καταισχύνωμεν [ ἔσλοις τόκηας γᾶς ὔπα κε¢[ιμένοις 15 […] 1 Da! Wieder kommt eine Woge des vergangenen Sturmes Heran; sie wird uns viel Mühe bescheren beim Schöpfen, wenn sie einmal ins Schiff gekommen ist. […] * 7 Lasst uns so schnell wie möglich (das Schiff) mit einem Schanzkleid versehen und in einen sicheren Hafen laufen. Dass nur keinen von uns weichliches Zaudern
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macht wurden, vgl. Lennartz 2010, 258–276; Welwei 1992b, 496 für die Alkäische Lyrik. Auch Rösler 1984, 202, Anm. 56 räumte später ein, dass der in Dichter und Gruppe (1980) gezogene Schluss „eine über den Rahmen der eigenen Hetairie hinaus ausstrahlende mittelbare Wirkung habe außerhalb seines (Alkaios’, Anm. AvdD) Horizontes gelegen, allzu rigide gewesen sein mag.“ Diese Kritik brachte bereits Gelzer 1982 an. Hier der Text zitiert nach Voigt 1971, leicht modifiziert durch Ergänzung mit Diehl 1963 V. 10–11. Die Übersetzung stammt von Nünlist 1998, ebenfalls modifiziert in den Versen 10–11 durch Übersetzung von Treu 1963. Weil die Alkäischen Gedichte deutlich korrupter sind als die anderen hier untersuchten Gedichte, wurde im Einzelfall eine alternative Textausgabe herangezogen. Entsprechende Begründungen für die Wahl der Übersetzung sind an gegebener Stelle angefügt. Anders als bei den anderen in dieser Arbeit untersuchten Dichtern wird der Übersetzer daher im Folgende für jeden einzelnen Versabschnitt genannt.
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Alkaios von Mytilene
10 ergreift! Ein hartes Ringen wird es, das ist gewiß. Erinnert euch, was wir ertrugen! Jetzt beweise ein Jeder, daß er glaubwürdig ist. Und laßt uns nicht beschämen die edlen Eltern, die unter der Erde liegen 15 […].
In diesem Gedicht wendet Alkaios sich vermutlich an seine Standesgenossen in der Hetairie. In allegorischem Stil spricht er über die gefährliche Situation, in die seine Hetairie durch die Machtbestrebungen des Myrsilos geraten ist. Die Interpretation von Sprechakten in einer Allegorie unterscheidet sich dabei nicht von der Vorgehensweise in Bezug auf die Metapher. Searle sagt, dass bei einer Metapher, wie im Falle der indirekten Sprechakte, die Äußerungsbedeutung, also der primäre illokutionäre Akt, über den sekundären illokutionären Akt erreicht wird.60 Dass Alkaios’ Zuhörer die durch die Allegorie ausgedrückten Sprechakte dabei verstehen konnten, glaubt Rösler: Wenn er (Alkaios, Anm. AvdD) nun aus aktuellem Anlaß bestimmte politische oder auch andere Geschehnisse mit dem Mittel der Allegorie besprach, so wußten seine Zuhörer aufgrund ihrer eigenen Teilnahme an eben jenem Geschehen, worum es in dem betreffenden Gedicht ging, bedurften also nicht fester Gleichungen, um allegorische Aussagen verstehen zu können.61
Im Folgenden soll analysiert werden, welche Intention Alkaios mit der Schiffs-Allegorie verband, welche sprachlichen Handlungen er also vollzog. Das Fragment beginnt dabei mit folgenden Worten: Da! Wieder kommt eine Woge des vergangenen Sturmes Heran; sie wird uns viel Mühe bescheren beim Schöpfen, wenn sie einmal ins Schiff gekommen ist. […]62 (V. 1–4) (Übers. Nünlist 1998, 320–321)
60 61
62
Vgl. Searle 1982, 137. Rösler 1980, 119. Ähnlich auch Gentili 1990, 7–8 sowie Nagy 1985, 24, der die Schiffsallegorie des Theognis untersucht, dabei jedoch annimmt, dass die allegorische Ausdrucksweise von Theognis bewusst gewählt wurde, weil diese allein den edlen Standesgenossen verständlich war und insofern eine versteckte Botschaft übermittelt werden konnte: „The equation is made, as the poetry itself reveals, in a cryptic and ambiguous poetic langauge that is meant to be understood by the agathoi or ‚noble‘ only – to the exclusion of those who are kakoi oder ‚base‘.“ Die kollektive Identifikation der poetischen Sprache in der Heitairie bzw. im Symposion betont auch Pallantza 2005, S: 21: „Durch das elaborierte Zeichensystem der poetischen Sprache – in Form von Aufrufen, Allegorien, Metaphern, Bildern oder Mythen – werden die eigenen Grenzen bestimmt und die inneren Spannungen gemäßigt: Freunde werden von den Feinden getrennt […]“ Fr. 6 V, V. 1–4: Tόδ’ αὖ]τε κῦμα τὼ π[ρ]οτέρ[ω’ ¢ νέμω / στείχει,] παρέξει δ’ ἄ[μμι πόνον π]όλυν / ἄντλην, ἐπ]εί κε νᾶ[ος ἔμβαι / [ ].όμεθ’ ἐ[
Fr. 6 V
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Hier wird die Behauptung aufgestellt, dass die Woge eines früheren Sturmes naht. Sodann behauptet Alkaios, dass sie, wenn sie erst einmal ins Schiff eingedrungen ist, viel Mühe bereiten werde. Im Hinblick auf die Situation, in der sich Alkaios und seine Heitairie befinden, nämlich inmitten der Machtkämpfe um die Vorherrschaft der Stadt, bedroht durch die Machtbestrebungen des verfeindeten Myrsilos, ist eindeutig, dass Alkaios hier primäre illokutionäre Akt der Warnung vollzieht. Er warnt seine Hetairie – als diese kann, wie oben dargelegt, das Schiff, oder vielmehr die Besatzung des Schiffes, interpretiert werden – vor einer drohenden Tyrannis des Myrsilos.63 Die anschwellende Woge steht hier bildlich für den Machtzuwachs des Myrsilos. Ob er mit dem vergangenen Sturm dabei auf eine vorhergehende Tyrannis (z. B. die des Melanchros) anspielt oder auf die generellen Machkämpfe der Zeit, kann nicht gesagt werden, zumal das Fragment an dieser Stelle abbricht und nicht klar ist, wieviel mehr Alkaios über die drohende Gefahr gesagt hat.64 Deutlich ist jedoch, dass Alkaios an dieser Stelle klare Warnungen ausspricht und dass er demnach weiß, dass es große Mühe kosten wird, den Tyrannen, hat er sich einmal etabliert, wieder aus Mytilene zu vertreiben (bildlich gesprochen: Das Wasser, das es mühevoll auszuschöpfen gilt).65 Warnungen sind Sprechakte der Klasse der Repräsentativa, mit welchen der Sprecher dem Hörer verdeutlichen will, dass das, was er sagt, wahr ist (epistemische Standard-Perlokution). Die Zuhörer sollen Alkaios also glauben, dass eine Gefahr naht. Gleichzeitig haben Warnungen auch direktiven Charakter, weil mit ihnen das zukünftige Verhalten der Angesprochenen beeinflusst werden soll (motivationale Standard-Perlokution).66 Denn die Warnung vor der drohenden Gefahr soll die Zuhörer ängstigen, was sie schlussendlich zur Verhinderung des angedrohten Zustandes bewegen soll. Dieses Ziel möchte Alkaios, wie sich zeigen wird, auch mit den folgenden Versen erreichen. Die Sprechakte der Warnung, mit denen das Gedicht hier allegorisch eingeleitet wird, stützen deswegen die folgenden Sprechakte. Zwischen den ersten vier Versen und den nächsten erhaltenen Versen gibt es jedoch, wie bereits erwähnt, eine Lücke, deren Größe unbekannt ist. Da es thematisch jedoch keine große Veränderung zwischen den ersten vier Versen und dem folgenden Abschnitt des Gedichtes gibt, ist der Ausfall an Versen vermutlich gering.67 In den einschlägigen Editionen wird das Gedicht ab Vers 7 fortgesetzt:
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Rösler 1980, 131, der in Bezug auf die Deutung einzelner Elemente eine sehr schlüssige Interpretation der Textstelle vorlegt (126–132), macht noch einmal deutlich, dass an dieser Stelle „etwas Feindliches aktiv auf die Gruppe zukommt, sie sich somit in Abwehrhaltung befindet.“ Vgl. ebd., 127. So auch Trumpf 1958, 49. Vgl. Harras 2004, 94. Vgl. Rösler 1980, 127.
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Alkaios von Mytilene
Lasst uns so schnell wie möglich (das Schiff) mit einem Schanzkleid versehen und in einen sicheren Hafen laufen.68 (V. 7–8) (Übers. Nünlist 1998)
In diesen beiden Versen befinden sich zwei indirekte Sprechakte der Aufforderung. Immer noch im allegorischen Stil, fordert Alkaios seine Zuhörer einerseits dazu auf, das Schiff gegen die drohende Welle zu schützen und andererseits, in einen sicheren Hafen laufen zu lassen. Dabei schließt sich Alkaios in die beiden Handlungsaufforderungen ein. Der die Verse einleitende Coniunctivus (ad)hortativus φαρξώμεθα ist Indikator für die illokutionären Akte der Aufforderung. Durch die Erweiterungsprobe wird ersichtlich, dass zudem ein illokutionärer Akt der Behauptung vorliegt, der dem Sprechakt der Aufforderung jedoch subordiniert ist: Alkaios behauptet in diesen Versen nämlich auch, dass es einen Hafen gebe, der sicher, ἐχυρός, sei (V. 8). Es erscheint plausibel, dass es sich bei diesem sicheren Hafen, wie Tsomis darlegt, um einen Rückzugsort, eine sichere Position handelt, von wo aus die Hetairie sich neu im Kampf gegen Myrsilos formieren kann.69 Die primären Sprechakte der Verse, die Aufforderungen, sind sehr wahrscheinlich in einem Zusammenhang zu den vorausgegangenen Warnungen zu sehen, auch wenn dies aufgrund der nach V. 3 fehlenden Verse nicht mit Sicherheit gesagt werden kann. Deutlich wird jedoch, dass Alkaios dazu auffordert, sich zu schützen. Weil er eingangs vor der herannahenden Woge warnt, ist es wahrscheinlich, dass er davor warnt, sich vor eben jener Gefahr zu schützen. Das Schiff – die Hetairie – soll in einen Verteidigungsmodus gehen. Sodann kann es in den sicheren Hafen fahren. Im übertragenen Sinne kann das bedeuten, dass die Hetairie sich gegen die kommende Gefahr (Myrsilos) wappnen soll, indem sie sich aktiv verteidigt (Schanzkleid) und zurückzieht (Hafen). Von hier aus, das zeigen die folgenden Verse, kann dann zu einem neuen Gegenschlag ausgeholt werden. Mit den ersten Versen warnt der Dichter die Hetairie also vor einer herannahenden Gefahr und macht sodann in zwei Handlungsanweisungen deutlich, wie auf diese Gefahr zu reagieren ist. Die Verse beziehen sich damit ganz allgemein auf die drohende Gefahr und die Verhinderung derselben. Dazu bedient sich der Dichter des Mittels der Allegorie. In den nun folgenden Versen konkretisiert Alkaios hingegen die einzelnen Schritte, die erfolgen müssen, damit die drohende Gefahr abgewandt werden kann. Dafür verlässt er den allegorischen Stil und bezieht sich mit seinen Versen nun ganz auf das Hier und Jetzt der Aufführungssituation:70
68 69 70
Fr. 6 V, V. 7–8: φαρξώμεθ’ ὠς ὤκιστα¢ [ / ἐς δ’ ἔχυρον λίμενα δρό[μωμεν, Vgl. Tsomis 2001, 189. Vgl. zum Übergang von Allegorie zur Realität Tsomis 2001, 189.
Fr. 6 V
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Dass nur keinen von uns weichliches Zaudern ergreift! […]71 (V. 9–10) (Übers. Nünlist 1998)
In diesen Versen vollzieht Alkaios einen illokutionären Akt der Aufforderung. Jedoch möchte Alkaios seine Zuhörer nicht dazu bewegen, etwas Bestimmtes zu tun, sondern vielmehr, etwas Bestimmtes nicht zu tun. Es handelt es sich hier also um einen illokutionären Akt der N-Aufforderung. Waren die vorausgegangenen Sprechakte noch indirekt, ist die hier geäußerte N-Aufforderung direkt. Damit wird der Wechsel von Allegorie zur Realität unterstrichen. Der verneinte Imperativ μή λάβη ist dabei Indikator für den illokutionären Akt der N-Aufforderung. Alkaios will hier also verhindern, dass seine Zuhörer in Anbetracht der Gefahr den Mut verlieren. Rösler versteht die Verse als Ergänzung zu den vorausgegangenen Aufforderungen: „[…] denn die schnellstmöglich zu verrichtende Arbeit (die Sicherung des Schiffes, Anm. AvdD) erfordert das beherzte Anpacken aller Besatzungsmitglieder.“72 M. E. erscheint es jedoch plausibler, dass hier nicht auf den Schutz des Schiffes Bezug genommen wird, sondern sich die N-Aufforderung vielmehr auf den im weiteren Verlauf thematisierten, noch bevorstehenden Machtkampf bezieht, bei welchem niemanden weichliches Zaudern ergreifen darf. Denn so heißt es weiter: […] Ein hartes Ringen wird es, das ist gewiß. Erinnert euch, was wir ertrugen!73 (V. 10–11) (Übers. Treu 1963)
In V. 10 vollzieht Alkaios erneut (über den sekundären illokutionären Akt der Versicherung) einen illokutionären Akt der Warnung. Er möchte mit dieser Warnung ausdrücken, dass es der Wahrheit entspricht, dass ein schwerer Kampf um die Macht auf die Gruppe zukommt. Offenbar geht es dabei um eine bittere Auseinandersetzung zwischen den verfeindeten Hetairien des Alkaios und der des Tyrannis-Aspiranten Myrsilos. Ob dieser Machtkampf kämpferisch ausgetragen werden muss, ist den Versen nicht zu entnehmen. Jedoch möchte Alkaios, dass seine Hetairoi, nachdem er sie dazu aufgefordert hat, sich zuerst gegen die drohende Gefahr zu verteidigen, aktiv gegen die Machtbestrebungen des Myrsilos vorgehen. Insofern dienen Warnungen, indem sie Angst bei den Zuhörern hervorrufen, auch dazu, den Handlungswillen der Zuhörer auszulösen (direktiver Charakter einer Warnung). Dass es Alkaios darum geht, seine Hetairie zur aktiven Handlung zu bewegen, zeigt auch der folgende Sprechakt der Mahnung in V. 11. Dieser Sprechakt vollzieht sich indi-
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Fr. 6 V, V. 9–10: καὶ μή τιν’ ὄκνος μόλθ[ακος / λάβη· […] Rösler 1980, 132. Fr. 6 V, V. 10–11: […] πρόδῃλον γάρ μέγ’ [ / μνάσθητε τῶν πάροιθε ν¢[ ; Eine sinnvolle Ergänzung der Verse 10 und 11, auf der die Übersetzung und auch die Interpretation der Sprechakte an dieser Stelle beruht, schlägt Diehl 1936 (= Fr. 119/120/122 D, V. 10–11) vor: […] πρόδηλον γάρ μέγ’ [ἀέθλιον] / μνάσθητε τῶν πάροιθε μ¢[όχθων]
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Alkaios von Mytilene
rekt über die Realisierung der Aufforderung, sich an vergangene Kämpfe zu erinnern. Wahrscheinlich bezieht sich Alkaios hier auf die früheren Machtkämpfe in Mytilene, in welche die Hetairie involviert gewesen ist, wie etwa der Widerstand gegen die Tyrannis des Melanchros, der schlussendlich erfolgreich von Alkaios’ Brüdern gestürzt wurde.74 Sprechakte der Mahnung gehören dabei in die Sprechaktklasse der Direktiva, weil mit ihnen der Zuhörer dazu aufgefordert wird, etwas zu tun, das zu seinen Pflichten gehört. Durch die Anspielung an die einst ertragene Mühen um der Freiheit willen appelliert Alkaios an die Pflicht, diese Freiheit nicht einfach wieder herzugeben. Dadurch will er den Handlungswillen der Hetairoi hervorrufen. Anders als in den vorausgegangenen Versen, für die die Übersetzung von Nünlist 1998 herangezogen wurde, wird für die Verse 10 und 11 der Textausgabe von Diehl 1936 (Fr. 6 V = Frr. 119/120/122 D) und der Übersetzung von Treu 1963 gefolgt. Die beiden Verse haben wegen ihrer Korruptheit in unterschiedlichen Editionen zu verschiedenen Ergänzungen und insofern zu verschiedenen Deutungen geführt. Je nachdem, welcher Textfassung man folgt, hat dies Einfluss auf die Interpretation der vorausgegangenen und folgenden Verse. Insbesondere das letzte Wort in V. 11 ist ganz unsicher, da nicht einmal der erste Buchstabe klar bestimmt werden kann. Nünlist folgt der Edition von Voigt 1971, nach der es heißt: πρόδηλον γάρ· μεγ[(V. 10), μνάσθητε τὼν πάροιθε ν¢[ (V. 11). Er übersetzt entsprechend: „Denn es ist nur zu deutlich: Seid eingedenk der früheren (Worte).“ Nünlist übernimmt zwar den Hochpunkt und gibt diesen als Doppelpunkt wieder, ignoriert aber μεγ[. In Vers 11 vermutet er in Bezug auf das unsichere letzte Wort des Verses, dass ν¢[ durch Worte ergänzt werden könnte (wobei er nicht angibt, warum er hier Worte ergänzt). Eine derartige Deutung könnte im Gesamtzusammenhang nur dann Sinn ergeben, wenn damit gemeint ist, dass Alkaios möchte, dass die Hetairoi sich an einen einst gemeinsam geleisteten Eid erinnern sollen. Übernimmt man die von Nünlist für V. 10–12 vorgeschlagenen Deutung, würde Alkaios mit seinen Worten bis dahin folgende Intention verfolgen: Er warnt seine Zuhörer vor der drohenden Gefahr der Tyrannis des Myrsilos, fordert sie deswegen auf, zusammenzuhalten und der Gruppenideologie treu zu sein, fordert von ihnen, diesbezüglich nicht zu zaudern und mahnt sie, pflichtbewusst nach den Prinzipien des Eides zu handeln. Treus Deutung, der hier gefolgt wird, ergibt sich hingegen auf Textgrundlage von Diehl 1936 (Fr. 6 V = 119/120/122 D). Diehl ergänzt das Fragment in folgendem Sinne: πρόδηλον γάρ μέγ’ [ἀέθλιον] (V. 10), μνάσθητε τῶν πάροιθε μ¢[όχθων] (V. 11). Treu übersetzt entsprechend: „Ein hartes Ringen wird es, das ist gewiß. Erinnert euch, was wir ertrugen!“75 Entscheidender Unterschied bei dieser Übersetzung ist, dass Diehl, der Metrik gerecht werdend, μέγ’ [άέθλιον] (V. 10) und μ[όχθων] (V. 11) ergänzt und Alkaios somit über ein hartes Ringen sprechen lässt, an dessen Mühen 74 75
Rösler 1980, 133, Anm. 52 sieht hier einen Zusammenhang zu dem in der Allegorie erwähnten früheren Sturm (V. 1). Ähnlich Page 1955, 183; Liberman 2002, 24–25.
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die Hetairoi sich erinnern sollen. Damit ergibt sich gegenüber Nünlists Deutung ein weitaus aktiverer, vielleicht sogar kämpferischer Kontext, wodurch der ursprüngliche Text m. E. treffender rekonstruiert wird. Interpretiert man diese Textfassung, so geht es Alkaios nicht darum, die Zuhörer zu ermahnen, pflichtbewusst nach den Prinzipien des Eides zu handeln, sondern, wie bereits dargestellt, davor zu Warnen, dass der Kampf um die Tyrannis ein hartes Ringen werden wird, worauf die Mahnung folgt, sich an frühere Kämpfe zu erinnern. Weil nicht verständlich ist, warum Nünlist in V. 11 Worte ergänzt, Diehls Ergänzungen hingegen metrisch und inhaltlich stimmig sind, soll der sprechakttheoretischen Interpretation dieser Verse hier die auf Diehl basierende Übersetzung Treus zugrunde gelegt werden. Die Hetairoi zum Handeln zu bewegen, ist also das zentrale Anliegen des Gedichtes. Die in V. 11 vollzogene Mahnung stützt deswegen die kommunikative Funktion des folgenden, zentralen Verses des Gedichtes: Jetzt beweise ein Jeder, daß er glaubwürdig ist.76 (V. 12) (Übers. Nünlist 1998, 321)
So wie die N-Aufforderung und die Behauptung, ist diese Aufforderung direkt. Anders als die eben noch indirekte Anweisung in Form der Mahnung, will Alkaios nun unmissverständlich klarmachen, worum es ihm im Kern geht: Die Männer sollen sich (erneut) der drohenden Tyrannis (vielleicht im Kampf?) stellen. Die Direktheit der Aufforderung zeugt dabei von der Eindringlichkeit, mit welcher Alkaios zu seinen Zuhörern spricht. Die letzten in diese Untersuchung einbezogenen Verse77 dienen ebenfalls der Stützung der eben von Alkaios gemachten Aufforderung: Und laßt uns nicht beschämen die edlen Eltern, die unter der Erde liegen […].78 (V. 13–14) (Übers. Nünlist 1998, 321)
Indem Alkaios dazu auffordert, die edlen Eltern nicht zu beschämen, vollzieht er erneut primär einen illokutionären Akt der Mahnung. Das oben angesprochene Pflichtgefühl, welches mit dem Sprechakt der Mahnung einhergeht, zeigt sich auch hier: Die von Alkaios vollzogene Mahnung bezieht sich auf ein Pflichtbewusstsein den Eltern gegenüber, in deren Tradition die Heitaire steht.79 Dabei schließt sich Alkaios, wie 76 77 78 79
Fr. 6 V, V. 12: νῦν τις ἄνηρ δόκιμος γε¢[νέσθω Das Gedicht ist an dieser Stelle nicht zu Ende, jedoch so korrupt, dass eine überzeugende Interpretation der letzten Verse nicht mehr gewährleistet ist. Fr. 6 V, V. 13–14: καὶ μὴ καταισχύνωμεν [ / ἔσλοις τόκηας γᾶς ὔπα κε¢[ιμένοις / […] Yatromanolakis 2009, 210 vermutet, dass es im Kontext der Hetairie besonders wichtig gewesen zu sein scheint, eine Kontinuität zwischen der politischen Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen: „Noble ancestry functions as symbolic capital that is employed to suggest a seamless continuity between the past authority of his/their family and the fighting or somewhat politically disempowered hetairia of the present“. Die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart
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Alkaios von Mytilene
schon zuvor, in den Kreis der Angesprochenen ein, wie die 1. Ps. Pl. zu erkennen gibt (μὴ καταισχύνωμεν). Die Erweiterungsprobe zeigt, dass Alkaios seine Mahnung durch einen Sprechakt der Behauptung stärkt, indem er äußert, dass die Eltern ἐσθλοί seien. Er will die Hetairoi somit von der Richtigkeit seiner Handlungsanweisung überzeugen. So wie durch die vorher vollzogene Aufforderung, will Alkaios also schlussendlich durch einen Sprechakt der Mahnung erreichen, dass die zuhörenden Hetairoi keine Mühen scheuen, um die drohende Tyrannis des Myrsilos abzuwenden. 6.1.3 Ergebnisse Aus den Versen von Fr. 6 V geht deutlich hervor, dass Alkaios sich aktiv in die politischen Geschehnisse seiner Heimatpolis einmischte. In dem Gedicht warnt er seine Zuhörer, sehr wahrscheinlich seine eigene Hetairie, die er hier mit einem auf hoher See in einen Sturm geratenen Schiff vergleicht, vor einer herannahenden Woge. Diese steht wohl allegorisch für die Gefahr, die der Tyrannis-Aspirant Myrsilos für die Gruppe bedeutet. Alkaios warnt, dass es viel Mühe bereiten werde, wenn die Woge erst einmal ins Schiff eingedrungen ist. Deswegen fordert er seine Zuhörer auf, das Schiff, also die eigene Hetairie, zu schützen und zu verteidigen und in einen sicheren Hafen einlaufen zu lassen. Er will seine Zuhörer davon abhalten, den Mut zu verlieren, und warnt sie davor, dass eine schwere Auseinandersetzung bevorsteht. Um seine Freunde dennoch zum Kämpfen zu bewegen, mahnt er sie, sich daran zu erinnern, welche politischen Anstrengungen sie bereits ertrugen. Er fordert sie auf, sich als tapfer zu erweisen und mahnt sie dabei noch einmal, nicht durch Feigheit die verstorbenen Eltern zu beschämen. Alkaios vollzieht in diesem Fragment vorrangig direktive Sprechakte, also Handlungsanweisungen, und zwar in Form von Aufforderungen, etwas zu tun bzw. nicht zu tun, und Mahnungen.80 Daneben finden sich Warnungen, mit denen Alkaios seine Zuhörer einerseits über die Gefahren aufklären möchte (repräsentativer Charakter der Warnung), andererseits aber auch durch die mit den Warnungen ausgelösten Gefühlen der Angst dazu bewegen möchte, einen bestimmten Zustand nicht eintreten zu lassen (direktiver Charakter der Warnung). Konkret möchte Alkaios, insbesondere durch das eingangs gezeichnete Bild des Schiffes in Seenot, seine Hetairie dazu bewegen, sich der drohenden Gefahr der Tyrannis des Myrsilos bewusst zu werden und entsprechend zu handeln. Insgesamt vollzieht Alkaios demnach zwar verschiedene
80
findet sich auch im Tyrtäischen Fr. 2 D, das aufgrund seiner Sprechakte im Symposion verortet wurde. Vermutlich aufgrund des handlungsauffordernden Charakters der Elegie findet Fränkel 1969, 217, dass hier „Töne angeschlagen [werden] die an Tyrtaios erinnern“.
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Sprechakte, die jedoch alle dem primären Ziel dienen, die Gruppe zum Handeln gegen die drohende Gefahr des Myrsilos zu bewegen. Da Sprechakte immer in Abhängigkeit der Situation, in der sich Sprecher und Hörer befinden, gewählt werden, soll im Folgenden geschaut werden, welche Rückschlüsse die Wahl der Alkäischen Sprechakte auf den Kontext, in dem sie vollzogen wurden, zulässt. Die Warnungen, die Alkaios zu Beginn des Gedichtes vollzieht, zeigen deutlich, dass es sich bei dem zu befürchtenden Ereignis um ein zukünftiges Ereignis handelt und dieses noch nicht eingetreten ist, denn es kann nur vor etwas gewarnt werden, was in der Zukunft liegt (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Es ist also wahrscheinlich, dass Myrsilos zu dieser Zeit noch nicht Tyrann gewesen ist und sich die Hetairie noch in Mytilene und noch nicht im Exil befand. Die Frage danach, ob das Gedicht noch in Mytilene oder schon im Exil entstanden ist, kann auf Grundlage der sprechakttheoretischen Untersuchung also zugunsten Mytilenes beantwortet werden. Dafür sprechen im Übrigen auch die konkreten Aufforderungen, die Alkaios an seine Zuhörer richtet. Aus dem Exil heraus würde es wenig Sinn ergeben, die Hetairoi vor einem harten Ringen zu warnen und zu Standhaftigkeit im drohenden Kampf aufzufordern. Die Warnungen zeigen zudem, dass Alkaios es für notwendig erachtet, seinen Zuhörern noch einmal deutlich zu machen, wie gefährlich die gegenwärtige Situation für die Hetairie ist. Er scheint die Gefahr, vor der er warnt, gut zu kennen, spricht er doch von einem vergangenen Sturm, der diese neue Woge – und damit große Mühen – erschaffen wird. Ob den Zuhörern hingegen nicht bewusst war, wie brenzlich die aktuelle Lage ist (Einleitungsregel einer Warnung), kann nicht beurteilt werden. Vielleicht wollte Alkaios zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages lediglich noch einmal auf die allen bereits bekannte kritische Situation zu sprechen kommen. Deutlich wird jedoch, dass bis zu diesem Zeitpunkt offenbar noch keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen worden waren, um den drohenden Zustand zu verhindern. Dies möchte Alkaios denn durch seine in dem Gedicht vollzogenen Handlungsaufforderungen erreichen. Die Sprechakte der Aufforderung zeigen also zum einen, dass Alkaios nicht davon ausgeht, dass seine Zuhörer aus eigenem Antrieb handeln würden und zum anderen, dass Alkaios die Angesprochenen für in der Lage dazu hält, die von ihm geforderten Handlungen auszuführen (Einleitungsregel des einer Aufforderung). Die direktiven Sprechakte der Mahnung und die N-Aufforderung, dass ja niemanden ein weichliches Zaudern ergreifen dürfe (V. 9), zeigen dies ebenfalls. Offenbar muss Alkaios seine hetairischen Freunde erst noch dazu bewegen, überhaupt etwas gegen die drohende Gefahr zu tun. Die Männer haben sich demnach noch nicht entschieden, tatsächlich Widerstand zu leisten (dies zeigen auch die Sprechakte der Warnung). Die Erinnerungen an die bereits erlebten Anstrengungen (V. 11) und die edlen Eltern (V. 13–14) und das damit hervorgerufene Pflichtgefühl gegenüber der (vielleicht schon seit Generationen bestehenden) Gruppe machen deutlich, dass es offenbar nicht selbstverständlich war, dass alle Hetairie-Teilnehmer immer am gleichen Strang zogen. So wie es der
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Alkaios von Mytilene
später von Alkaios beklagte Verrat des Pittakos zeigt, gab es vermutlich immer wieder Einzelne, die sich einer anderen, vielleicht einflussreicheren Hetairie anschlossen.81 In diesem Gedicht geht es Alkaios also darum, alle Hetairie-Teilnehmer von der gemeinsamen Aufgabe zu überzeugen und zum Handeln zu motivieren. Insofern kann der Forschung zugestimmt werden, dass Alkaios’ Gedicht einen paränetischen Charakter aufweist, der an Gedichte von Tyrtaios oder Kallinos erinnert.82 Weil Alkaios die Zuhörer mit seinem Gedicht erst noch dazu bewegen muss, sich für einen gemeinsamen Einsatz zu entscheiden, soll ausgeschlossen werden, dass er die Verse aus Fr. 6 V vor einem anderen Publikum als vor der eigenen Hetairie vorgetragen hat, im Kreise derer Umsturzversuche geplant und durchgeführt wurden.83 Die auffordernden Sprechakte bestätigen noch einmal die Annahme, dass es sich bei Alkaios’ Zuhörern um eine verschworene Gemeinschaft von Freunden handelt, die das gleiche politische Ziel im Blick hatte, nämlich die Verhinderung der Machtergreifung durch Myrsilos. Es gibt keinerlei Anzeichen darauf, dass Alkaios hier in einem öffentlicheren Kontext spricht. Möglicherweise war Alkaios dabei ein führender Kopf der Gruppe, schließlich deuten die vielen in Fr. 6 V analysierten direktiven Sprechakte darauf hin, dass er nicht davor zurückscheute, seinen Zuhörern Anweisungen zu geben. 6.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel Welche konkrete Wirkung die Sprechakte des Alkaios auf ihre Zuhörer hatten, kann nur schwer erschlossen werden. Der Verlauf der Geschehnisse zeigt, dass Myrsilos trotz Alkaios’ Widerstand die Tyrannis erlangte und Alkaios und seine Hetairie schlussendlich nach Pyrrah fliehen mussten. Einem Scholion zu Folge wurden die Anschlagspläne der Alkäische Hetairie gegen Myrsilos verraten, woraufhin Alkaios und seine Freunde aus Angst vor der Rache des Myrsilos nach Pyrrah geflohen seien.84 Vielleicht lassen sich diese Ereignisse, wenn sie sich denn tatsächlich so zugetragen haben, auf die in Fr. 6 V geforderten Gegenmaßnahmen gegen die drohende Tyrannis des Myrsilos zurückführen. Immerhin muss es einen Plan oder eine Aktion gegeben haben, die dann durch den Verrat vereitelt worden ist. Alkaios Sprechakte hätten demnach ihre Wirkung, nämlich die Freunde zum Kampf gegen Myrsilos zu bewegen, erzielt. Eine Rekonstruktion des tatsächlichen „Tatherganges“ ist allerdings aufgrund der Quellenarmut nicht möglich, sodass eine Verbindung zwischen den Widerstandsbestrebungen der Alkäischen Hetairie und den darauffolgenden Ereignissen, wie einem etwaigen Verrat und der Flucht, nicht sicher hergestellt werden kann. Zudem geht die 81 82 83 84
Vgl. diesbezüglich auch Burnett 1983, 156. Vgl. etwa Fränkel 1969, 217; MacLachlan 1997, 145; Tsomis 2001, 189–190; Rösler 1980, 134. Vgl. Welwei 1992b, 495. Schol. Alk. 114 V; vgl. auch Fr. 129 V. Vgl. dazu de Libero 1996, 317.
Fr. 43 D
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Feindschaft zu Myrsilos nicht allein aus Fr.6 V hervor und der politische Kampf verfeindeter Hetairoi-Gruppen war kein einmaliges Ereignis, sondern ein über einen langen Zeitraum hinweg stetig vorherrschender Umstand. Ein Urteil über die Wirkmacht der Alkäischen Verse kann an dieser Stelle daher nicht getroffen werden. 6.2 Fr. 43 D 6.2.1 Der außerliterarische Kontext Richtete sich Fr. 6 V noch gegen Myrsilos, muss das Gedichtfragment 43 D (von dem noch drei verhältnismäßig gut erhaltene, vierzeilige Strophen überliefert sind)85 einige Jahre später entstanden sein. Denn in diesem Gedicht richtet sich Alkaios’ Wut nunmehr gegen Pittakos, seinen einstigen Freund und Mitstreiter, der mittlerweile die Seiten gewechselt und sich dem Tyrannen Myrsilos angeschlossen hat. Alkaios beleidigt seinen früheren Freund Pittakos in diesen Versen, indem er ihn als sozialen Aufsteiger degradiert und sich wünscht, dass dessen Herrschaft bald ein Ende gesetzt werden wird.86 Durch den Verweis des Gedichtes auf eine vergangene Kooperation zwischen Myrsilos und Pittakos (V. 7) und die explizite Bezugnahme auf Pittakos’ Stellung und (negativ bewertete) Handlungen (V. 6–7) gibt es konkrete Anhaltspunkte für eine zeitliche Einordnung des Gedichtes: Die Aisymnetie des Pittakos und damit die erste Hälfte des 6. Jh. v. Chr.87 Der Aufenthaltsort der Abfassung des Gedichtes ist hingegen umstritten. Auch hier stellt sich die Frage, ob sich Alkaios zu diesem Zeitpunkt im Exil befand, in welches er aufgrund seines feindlich gesinnten Denkens von Pittakos verbannt wurde, oder ob das Gedicht noch vor der Verbannung durch Pittakos in Mytilene entstanden ist. Anders als Rösler, der davon ausgeht, Fr. 43 D sei im Exil entstanden,88 glaubt Trumpf, das Gedicht sei noch in Mytilene entstanden, denn „in seiner letzten Exilzeit hatte er (Alkaios, Anm. AvdD) nicht mehr die Macht, überhaupt noch einmal eine spätere Wendung der Dinge zu seinen Gunsten (v. 8) ins Auge zu fassen.“89 Wie für Fr. 6 V soll sich einer Antwort dieser Frage mit Hilfe der Analyse der Sprechakte genähert werden.
85 86 87
88 89
Vgl. Rösler 1980, 159. Eine rezeptionsorientierte Untersuchung dieses Fragmentes wurde bereits überzeugend von ebd., 159–170 vorgenommen, weswegen an vielen Stellen auf Röslers Ergebnisse aufgebaut wird. Wilamowitz-Moellendorff 1935, 400 geht davon aus, dass zur Zeit des Gedichtes noch der Bürgerkrieg tobte, aus dem erst die Tyrannis des Pittakos hervorging. Allerdings argumentiert Rösler 1980, 159–160 schlüssig, dass aus dem Gedicht hervorgehe, dass Pittakos bereits durch das Volk bzw. einen Gott an die Macht gelangt sei (V. 13) und dass er bereits die Stadt würge (V. 7) und insofern zu dem Zeitpunkt des Gedichtvortrages schon Aisymnet gewesen sein müsste. Vgl. Rösler 1980, 160. So auch de Libero 1996, 325 mit Verweis auf Arist. pol. III, 14 1285a 33–42. Trumpf 1958, 65. So auch Meier 1998, 174.
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Zuletzt bleibt auch für Fr. 43 D noch zu fragen, in welchem konkreten Aufführungskontext und vor welchem Publikum Alkaios aufgetreten ist. Wie schon für Fr. 6 V – und die Alkäische Lyrik im Allgemeinen – dargestellt, kann auch in Bezug auf Fr. 43 D davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um hetairische Lyrik handelt. Herrmann argumentiert jedoch, dass Alkaios mit einigen seiner Gedichte, etwa auch mit dem hier zu analysierenden Fr. 43 D, auch Rezipienten außerhalb der eigenen Hetairie von seinen Ansichten habe überzeugen wollte. Dies erscheine mit Blick auf thematische Schwerpunkt einzelner Gedichte (in denen Alkaios beispielsweise um das Wohl der ganzen Polis besorgt ist) plausibel: „Wenn sich Alkaios daher etwa in Fr. 70 LP (43 D) ein Ende der internen Streitigkeiten wünscht, zielt er doch mit hoher Wahrscheinlichkeit – zumindest auch – auf Rezipienten außerhalb seiner Hetairie, die er davon zu überzeugen sucht.“90 Möglich ist also, dass der von Rösler gesetzte Rezeptionsrahmen allein auf die eigene Hetairie „unplausibel einschränkend“ ist, wie auch Gelzer in Rekurs auf Rösler postuliert.91 Der primäre Aufführungskontext bleibt dabei jedoch, unabhängig von einer sekundären Rezeptionsstufe, am wahrscheinlichsten die eigene Hetairie. 6.2.2 Analyse der Sprechakte Fr 43 D (= 70V)92 κῆνος δὲ παώθεις Ἀτρεΐδα[ν γάμω] δαπτέτω πόλιν ὠς καὶ πεδὰ Μυρσ[ίλ]ω¢, θᾶς κ’ ἄμμε βόλλητ’ Ἄρευς ἐπì τε¢ύχεα¢ τρόπην. ἐκ δὲ χόλω τῶδε λαθοίμεθ’ α¢ν ¢, 10 χαλάσσομεν δὲ τᾶς θυμοβόρω λύας ἐμφύλω τε μάχας, τάν τις Ὀλυμπίων ἔνωρσε, δᾶμον μὲν εἰς ἀυάταν ἄγων, Φιττάκωι δὲ δίδοις κῦδος ἐπήρ[ατ]ọν¢. So mag er denn, erhöht durch die Atrideneh’, würgen unsere Stadt wie einst mit Myrsilos, Bis uns andern der Krieg wieder Erfolg Beschert, daß man den Groll wieder vergessen kann. 10 Daß nachläßt einst der Streit, der unser Herz zermürbt,
90 91 92
Herrmann 2014, 226, Anm. 422. Ähnlich Welwei 1992b, 496. Gelzer 1982, 325, 325. Später räumt Rösler dies selbst ein (s. S. 160, Anm. 58). Hier der Text zitiert nach Diehl 1936. Die Übersetzung stammt von Treu 1963, modifiziert in den Versen 8–9 durch die Übersetzung von Fränkel 1969. Textkritische Anmerkungen und abweichende Deutungen werden von der Verfasserin an entsprechender Stelle diskutiert.
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der Bruderkampf im Volke, den ein Olympier entfacht hat, als er die Bürger verblendete und dem Pittakos Macht, die er ersehnte, gab.
Anders als bei vielen anderen Gedichten aus archaischer Zeit, haben wir mit Fr. 43 D ein Gedicht vorliegen, dessen Schluss erhalten und gut analysierbar ist. Allerdings liegen im Ganzen nur noch die letzten drei Strophen des Gedichtes vor, die oben angegeben sind. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, wie viele Strophen verlorenen gegangen sind. Von den drei erhaltenen Strophen sind insbesondere die letzten beiden gut erhalten, wohingegen alle Versenden der ersten erhaltenen Strophen korrupt sind.93 Weil nicht eindeutig gesagt werden kann, inwiefern diese Verse sinnvoll zu ergänzen sind, muss auf eine sprechakttheoretische Analyse der ersten Strophe verzichtet werden. Dennoch lässt sich aus den erhaltenen Resten dieser ersten Strophe ein Eindruck von Alkaios’ kommunikativer Intention gewinnen, weswegen in diesem Sinne hier eine kurze Zusammenfassung der ersten erhaltenen Strophe angebracht ist: Alkaios beschreibt das Zusammensein eines Symposions, bei welchem „schurkische, eitle Gesellen“ den „prahlenden Herrn“94 (Pittakos) umgeben und diesem huldigen. Indem Alkaios diese Behauptungen über Pittakos und seine Freunde aufstellt, diffamiert er die Gesellschaft des politischen Gegners und zeichnet gleichsam das Gegenbild zu seiner eigenen, kultivierten Hetairie.95 Aus sprechakttheoretischer Perspektive vollzieht Alkaios hier also vermutlich expressive Sprechakte, also solche Sprechakte, mit denen eine bestimmte psychische Einstellung zum Gesagten ausgedrückt wird. Mit dem expressiven Zweck ist eine emotionale Perlokution verbunden. Insofern kann Rösler darin zugestimmt werden, dass Alkaios mit seinen Äußerungen bei seinen Zuhörern eine „emotionale Distanzierung“ zu Pittakos erreichen möchte.96 Auf diese Grundlage bauen die folgenden, gut erhaltenen Verse des Gedichtes auf, die nun auf Sprechakte hin untersucht werden sollen.97 Alkaios beginnt die zweite erhaltene Strophe des Gedichtes mit einer Behauptung:
93 94 95
96 97
Fr. 43 D, V. 1–5: ].χ¢ [. .]μ¢[ / [λέ]π¢τως ¢ τάδ’ εἴπην ὀδ[.]υ[ / ἀθύ¢ρει πεδέχων συμποσίω ν¢ [ / βάρμος∙ φιλώνων πεδ’ ἀλεμ[άτων / εὐωχήμενος αὔτοισιν ἐπα[ Vgl. die Übersetzung von Treu 1963, hier 45. Vgl. auch Tsomis 2001, 169; Gagné 2009, 40. Die Kritik an Pittakos’ Verhalten beim Mahl steht dabei wahrscheinlich sinnbildlich für eine Kritik an seiner Politik. Diese Auffassung orientiert sich an der Untersuchung von Levine 1985, die für die Dichtung der Theognidea gezeigt hat, dass „the archaic poet’s description of communal eating and drinking parallel his description of the polis […]. The Symposium is a microcosm of the state“ (194). Vgl. Rösler 1980, 165. Vgl. grundsätzlich auch die knappe, aber gute, Analyse von Stehle 1997, 234–246.
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So mag er denn, erhöht durch die Atrideneh’, würgen unsere Stadt wie einst mit Myrsilos,98 (V. 6–7) (Übers. Treu 1963)
Durch das Bild des die Stadt verschlingenden99 Pittakos wird jedoch deutlich, dass hier keine wertfreie Behauptung in Bezug auf den aktuellen politischen Zustand aufgestellt wird, sondern Alkaios Pittakos’ Verhalten negativ bewertet. Mit diesen Versen vollzieht Alkaios demzufolge einen Sprechakt der Beschuldigung.100 Alkaios beschuldigt Pittakos dafür, dass er die Stadt, wie einst mit Myrsilos im Bunde, ausnimmt. Sprechakte des Beschuldigens gehören in die Sprechaktklasse der Expressiva, weil mit expressiven Sprechakten eine bestimmte psychische Einstellung zu der in der Äußerung enthaltenen Proposition ausgedrückt wird.101 Alkaios möchte also, dass seine Zuhörer erkennen, dass er die gegebene Situation, dass nämlich Pittakos die Stadt würgt, kritisch sieht. Zudem möchte er bestimmte Gefühle, hier Gefühle negativer Art, gegenüber dem Beschuldigten bei seinen Hörern auslösen.102 Die Standard-Perlokution von Expressiva ist deswegen emotional. Insofern gilt auch für diese Verse, was Rösler bereits für die vorausgegangenen Verse postuliert hat, nämlich dass Alkaios eine emotionale Distanzierung seiner Zuhörer zu Pittakos erreichen möchte.103 Die Erweiterungsprobe zeigt, dass darüber hinaus eine weitere Illokution in Alkaios’ Äußerung vorliegt: Durch die Feststellung, Pittakos würde durch die Atriden-Ehe erhöht werden, vollzieht Alkaios zugleich einen indirekten Sprechakt der Diffamierung. Denn einerseits suggeriert er mit dem Hinweis auf die Atriden-Ehe, dass Pittakos selbst nicht edel genug sei und er zur Machtsicherung in das einst herrschende Geschlecht der Penthiliden einheiraten müsse. Andererseits wirft die Verbindung zu den Penthiliden aus anderen Gründen ein schlechtes Licht auf Pittakos, wie MacLachlan
98 99
Fr. 43 D, V. 6–7: κῆνος δὲ παώθεις Ἀτρεΐδα[ν γάμω] / δαπτέτω πόλιν ὠς καὶ πεδὰ Μυρσ[ίλ]ω¢, Treu übersetzt δάπτω mit würgen. Diese Deutung ist nicht präzise, vielmehr kann δάπτω nach LSJ mit devour (= verschlingen oder fressen) übersetzt werden. Das Gemeinte bleibt jedoch unabhängig von der genauen Übersetzung gleich: Pittakos fügt der Stadt großen Schaden zu. 100 Vgl. Harras 2004, 297. 101 Vgl. Searle 1982, 34. 102 Pallantza 2005, 33 vermutet, dass Alkaios hier eine Parallele zum rechtswidrigen Verhalten des Paris herstellt. In beiden Fällen hat das Verhalten Einfluss auf die Gemeinschaft: „Alkaios wiederholt in seinen politischen Gedichten das Bild einer zerstörten Stadt als unheilvolle Folge der Machtergreifung des Pittakos, die in dieser Hinsicht mit dem Verhältnis des Paris zu Troia korrespondiert […]“ In ihrer Arbeit untersucht Pallantza im Allgemeinen die soziale Funktion des Homerischen bei Alkaios. Vgl. dazu auch Hübner 2019, 87–88. 103 Vgl. Rösler 1980, 169. Ebd., 166 findet, dass es sich hier um eine „sarkastisch-drohende Aufforderung“ handelt. Aus sprechakttheoretischer Sicht kann es sich jedoch nicht um eine Aufforderung an Pittakos handeln, da dieser nicht primärer Rezipient des Gedichtes gewesen ist. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass Alkaios mit seinen Gedichten auch ein überindividuelles Publikum erreichen wollte, was generell für die Dichtung der Archaik angenommen werden muss. Im Kontext des primären Gedichtvortrages vor der eigenen Hetairie, wovon hier ausgegangen wird, kann es sich jedoch nicht um einen Sprechakt der Aufforderung handeln.
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aufzeigt: „A reminder of this marriage alliance sustains the invective in another way: the Penthilidae as a dynastic tyranny had a reputation for physical cruelty (Arist. Pol. 1311b26).“104 Diffamierungen gehören ebenfalls in die Sprechaktklasse der Expressiva und dienen dem Ausdruck von Gefühlen gegenüber einem bestimmten Sachverhalt. Bei den Zuhörern sollen hier also erneut negative Emotionen ausgelöst werden. Die Standard-Perlokution ist emotional. Der Unterschied zwischen einer Beschuldigung und einer Diffamierung ist dabei, dass Diffamierungen zur gesellschaftlichen Herabsetzung der betreffenden Person führen sollen,105 wohingegen durch eine Beschuldigung primär zum Ausdruck gebracht wird, dass eine (vergangene oder noch andauernde) Handlung einer Person negativ bewertet wird und die Person für diese Tat verantwortlich gemacht wird.106 Im obigen Abschnitt geht es Alkaios demnach darum, Pittakos eines moralisch schlechten Verhaltens zu beschuldigen, gleichzeitig beleidigt er ihn aber auch. Die Diffamierung stützt dabei die Beschuldigung. Wie in der sehr fragmentierten ersten (erhaltenen) Strophe, beschuldigt und diffamiert Alkaios auch zu Beginn der nächsten Strophe Pittakos’ Verhalten, indem er behauptet, dass dieser die Stadt, wie einst mit Myrsilos im Bunde, würgen würde. Dies, so der Inhalt des folgenden Verses, ende jedoch, wenn der Hetairie von Alkaios Erfolg beschieden ist: Bis uns andern der Krieg wieder Erfolg beschert […]107 (V. 8–9) (Übers. Fränkel 1969, 220)
Bevor auf den illokutionären Akt dieser Äußerung eingegangen wird, muss jedoch begründet werden, warum an dieser Stelle die Übersetzung von Fränkel bevorzugt wurde: Aufgrund des unvollständig überlieferten Verses 8 und daraus resultierenden unterschiedlichen Ergänzungen des Versendes ἐπιτ.ύχε..[ sind mehrere Übersetzungen der Verse 8–9 möglich, was wiederum zu verschiedenen Interpretationen des Alkäischen Gedankenganges geführt hat. So gehen etwa Treu, Maehler/Snell, Page und Liberman davon aus, dass es hier ἐπὶ τε¢ύχεα¢ geheißen haben muss. Hieraus ergibt sich eine Übersetzung, die einen kämpferisch-auffordernden Charakter besitzt, wie etwa anschaulich bei Treu: „… bis Ares es einmal will, daß die Waffen wir holen“.108 Auch Page konstatiert: „I see no alternative to ἐπὶ τε¢ύχεα¢, ‚until Ares be willing that
104 MacLachlan 1997, 149. Ähnlich Tsomis 2001, 169–170; Page 1955, 150. Vgl. auch Gagné 2009, 42 zum Konzept des „ancestral fault“: „Whatever the case, the mention of the Atreids in fragment 70V of Alkaios is an early example of ancestral fault, of the idea that children can inherit the fault of their parents.“ 105 Vgl. Harras 2004, 305. 106 Vgl. ebd., 297. 107 Fr. 43 D, V. 8–9: θᾶς κ’ ἄμμε βόλλητ’ Ἄρευς ἐπì τε¢ύχεα¢ / τρόπην. […] 108 Treu 1963, 44. Ähnlich übersetzen diese Stelle Maehler/Snell 1971, 77; Page 1955, 235–236; Liberman 2002, 49.
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we turn us to our armour‘, i. e. to turn our minds towards resistance in arms.“109 Jedoch argumentiert Rösler schlüssig, dass die Aufnahme bewaffneter Auseinandersetzung nicht mit dem Inhalt der folgenden Verse des Gedichtes sinnvoll in Zusammenhang gebracht werden kann. Hier geht es nämlich darum, dass nach einem Sieg über Pittakos der alte Groll und Streit endlich vergessen werden kann. Um jedoch, so Rösler, „späterhin von Vergessen und Nachgeben sprechen zu können, muß Alkaios an dieser Stelle den Erfolg, nicht die Aufnahme bewaffneter Auseinandersetzungen ins Auge gefaßt haben.“110 Rösler plädiert deswegen für ἐπιτε¢ύχεα¢ς als Ergänzung des korrupten Versendes, was zu einer Übersetzung im Sinne von „‚… uns(ere Lage) zum Erfolg hin zu wenden‘“111 führt.112 Dies sei auch deswegen die sinnvollere Deutung, weil davon auszugehen ist, dass zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages bereits bewaffnete Kampfhandlungen erfolgt sind113 und insofern nicht erst zu einem bewaffneten Kampf aufgerufen werden muss. Weil die oben angegebene Übersetzung von Fränkel diesem Verständnis entspricht und sie dabei m. E. alle wesentlichen inhaltlichen Aspekte benennt, dient sie an dieser Stelle als Untersuchungsgrundlage. Alkaios möchte demnach mit dieser Äußerung nicht dazu auffordern, in den Kampf gegen Pittakos zu ziehen, sondern seinen Zuhörern vielmehr darlegen, dass eines Tages der Zeitpunkt kommen werde, an dem der eigenen Hetairie wieder das Glück beschert sein wird. Insofern handelt es sich an dieser Stelle um einen repräsentativen Sprechakt der Prophezeiung. Indem etwas prophezeit wird, so Harras, wird eine „Vermutung über das Eintreten zukünftiger Ereignisse [ge]äußert.“114 Dabei ist prophezeien positiv konnotiert und entspricht hier dem, was Rösler als „sehnsuchtsvolle Vorstellung einer heilen Polis-Welt“115 bezeichnet hat. Alkaios möchte seinen Zuhörern mit seiner Prophezeiung Mut machen und den Glauben an eine bessere Zukunft stärken. Einen Ausblick auf eine bessere, friedliche Zukunft gibt Alkaios denn auch in den darauffolgenden Versen: […] daß man den Groll wieder vergessen kann. Daß nachläßt einst der Streit, der unser Herz zermürbt, der Bruderkampf im Volke, […]116 (V. 9–11) (Übers. Treu 1963)
109 110 111 112 113 114 115 116
Page 1955, 236. Rösler 1980, 168. Ebd., 168 und auch 166. So auch Grenfell/Hunt 1914, 73 und 78; Wilamowitz-Moellendorff 1935, 399. Zur Problematik der Ergänzung vgl. Tsomis 2001, 170 mit Anm. 12. So ebenfalls Rösler 1980, 168. Harras 2004, 93. Rösler 1980, 169. Fr. 43 D, V. 9–11: […] ἐκ δὲ χόλω τῶδε λαθοίμεθ’ α¢ν,¢ / χαλάσσομεν δὲ τᾶς θυμοβόρω λύας / ἐμφύλω τε μάχας, […]
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Hier vollzieht Alkaios ebenfalls Sprechakte der Prophezeiung. Er prophezeit den Zuhörern, dass nach der Entmachtung Pittakos’ durch einen Sieg im Kampf ein Ende des Grolls (χόλος kann nach LSJ auch mit gall, bitter anger, wrath (= Galle, Wut oder Zorn)) übersetzt werden), des herzzermürbenden Streites sowie des Bruderkampfes eintreten werde.117 Alkaios möchte, dass seine Zuhörer glauben, dass er die Wahrheit spricht: Ein Sieg über Pittakos führt in eine heile Polis-Welt. Dann, so prophezeit Alkaios, kann der alte Groll und Streit endlich vergessen werden.118 Die Erweiterungsprobe zeigt, dass in der Aussage, der Streit sei θυμοβόρος (V. 10), ein illokutionärer Akt der Behauptung vorliegt. Mit dieser Behauptung will Alkaios seinen Zuhörern noch einmal ins Bewusstsein rufen, wie schlimm die derzeitige (von Pittakos verursachte Situation) ist. Damit stützt die Behauptung den Sprechakt der Prophezeiung, weil sie verdeutlicht, wie wünschenswert im Gegensatz dazu eine friedvolle Polis ist. Diese heile Polis-Welt steht dabei also im Gegensatz zu der (auch anfänglich) beschriebenen, durch Pittakos gewürgten, Polis. Der Gedankengang ist schlüssig: Derzeit wird die Polis noch durch Pittakos’ grausame Hand geführt, bis Ares es einmal will, dass Alkaios und seine Anhänger den Tyrannen besiegen. Dann kehrt der erstrebenswerte Frieden zurück in die Stadt – nicht nur, weil Pittakos beseitigt wurde, sondern auch, weil nun Alkaios und seine Anhänger die Polis führen.119 Um noch einmal zu betonen, dass Pittakos der Grund des Übels ist, endet das Gedicht mit den Worten: […] den (Bruderkampf, Anm. AvdD) ein Olympier entfacht hat, als er die Bürger verblendete und dem Pittakos Macht, die er ersehnte, gab.120 (V. 11–13) (Übers. Treu 1963)
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MacLachlan 1997, 149 vermutet, dass Alkaios sich in Bezug auf die Streitigkeiten auf einen internen Streit der Hetairie bezieht, doch gibt es keine weiteren Anhaltspunkte für diese These. Dass Alkaios sich auf die gesamte Polis bezieht, befinden Rösler 1980, 169; Trumpf 1958, 65. 118 Deswegen wird hier davon ausgegangen, dass es sich bei χαλάσσομεν nicht um einen (kurzvokalischen) Coniunctivus (ad)hortativus handelt, vgl. etwa Page 1955, 236; Wilamowitz-Moellendorff 1935, 399 (der allerdings χαλάσσωμεν schreibt, da er eine kurzvokalische Konjunktivform an dieser Stelle für nicht zulässig hält)), sondern um eine Futur-Form, vgl. etwa Rösler 1980, 168–169; Liberman 2002, 49. Auch hier wird aufgrund von inhaltlicher Kohärenz argumentiert: Eine Aufforderung, vom Streit abzulassen, wie sie ein Coniunctivus (ad)hortativus verlangt, erscheint im Hinblick darauf, dass zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages noch keine Entscheidung zu Gunsten der Alkäischen Hetairie gefallen ist, widersinnig. Vielmehr bezieht sich χαλάσσομεν deswegen auf einen in der Zukunft liegenden, herbeigesehnten, Zustand. Erst, wenn Ares der Hetairie erfolgreich beisteht, kann vom Streit abgelassen werden. Aus dem gleichen Grund soll dafür plädiert werden, dass es sich bei λαθοίμεθ..[· (V. 9) um einen Potentialis handelt. Diese Argumentation wurde bereits von Rösler 1980, 166–169 verfolgt. 119 Eine ähnliche Ansicht vertreten Rösler 1980, 169 und Fränkel 1969, 220. 120 Fr. 43 D, V. 11–13: […] τάν τις Ὀλυμπίων / ἔνωρσε, δᾶμον μὲν εἰς ἀυάταν ἄγων, / Φιττάκω δὲ δίδοις κῦδος ἐπήρ[ατ]ọν¢.
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Hier vollzieht Alkaios einen illokutionären Akt der Behauptung. Er behauptet, dass ein Olympischer Gott die Stasis entfacht habe, indem er die Bürger verblendete und Pittakos die Macht gegeben habe. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation und den vorausgegangenen Invektiven gegen Pittakos ist anzunehmen, dass es Alkaios’ Absicht ist, die Zuhörer hier zu der Überzeugung gelangen zu lassen, dass Pittakos der Auslöser des Bürgerkrieges ist, nachdem er die Macht aufgrund der Verblendung des Volkes durch einen Gott erhielt.121 Durch die Erweiterungsprobe zeigt sich, dass dabei auch ein illokutionärer Akt der Diffamierung vorliegt, wenn Alkaios behauptet, dass Pittakos die Macht dadurch erhalten habe, dass ein Gott die Bürger verblendete, die daraufhin Pittakos die Macht gaben. Damit unterstellt er, dass Pittakos nur deswegen an die Macht gelangt ist, weil die Bürger bei seiner Wahl nicht im vollen Besitz ihres Verstandes, ἄτη, waren. Es ist also nicht Pittakos’ Kompetenz, sondern vielmehr ein günstiger Umstand, welcher ihm zur Macht verhalf.122 6.2.3 Ergebnisse In den erhaltenen Strophen dieses Alkäischen Gedichtes, dessen Anfang wir leider nicht kennen, äußerst sich Alkaios zunächst auffallend diffamierend im Hinblick auf das Verhalten des einstigen Freundes und mittlerweile politischen Gegners Pittakos im elitären Symposion (V. 1–5). In den weitgehend intakten letzten beiden Strophen des Fragmentes, die auf ihre Sprechakte hin untersucht wurden, beschuldigt Alkaios den politischen Kontrahenten sodann dafür, dass er die Stadt, wie einst im Bund mit Myrsilos, schädigen würde. Gleichsam diffamiert er den Gegner, indem er feststellt, dass dieser lediglich dank der Heirat einer aristokratischen Frau aus dem Geschlecht der Atriden in die edlen Kreise aufgestiegen sei. Nachdem Alkaios bis hierhin den
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Hier wird der Übersetzung Treus gefolgt, der ἄτη (V. 12) mit Verblendung übersetzt und einen Zusammenhang zwischen der Verblendung des Volkes und dem Machtgewinn des Pittakos herstellt. Da Pittakos tatsächlich Anfang des 6. Jh. v. Chr. vom Volk zum Aisymneten gewählt wurde (s. Arist. pol. III, 14 1285a 33–42; Diog. Laert. I, 74) und hier Röslers Ansicht gefolgt wird, dass das Gedicht in den Zeitraum der Aisymnetie des Pittakos fällt, soll dem in Treus Übersetzung hergestellten Zusammenhang zugestimmt werden. Dafür spricht auch die Bedeutung von ἄτη, die weniger Verderben (so übersetzt von Maehler/Snell 1971, 77; ähnlich West 1994, 57; Liberman 2002, 49), als vielmehr Verwirrung/Verblendung meint. In diesem Sinne auch Rösler 1980, 30 und 166; Fränkel 1969, 220. Dass Alkaios das Volk für die Macht des Pittakos verantwortlich macht, zeigt auch Fr. 348 V. Damit befreit Alkaios gleichzeitig auch die Bürger von der Schuld, einen solch inkompetenten Mann gewählt zu haben. Unter der Annahme, dass eine zweite, über den primären Aufführungskontext hinausgehende Rezeptionsstufe in der Lyrik mitgedacht wurde, vermeidet Alkaios es auf diese Weise, den Demos, auf dessen Unterstützung er vielleicht eines Tages noch einmal angewiesen sein würde, zu verprellen.
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Gegner verunglimpft, richtet sich die Aufmerksamkeit nun der eigenen Hetairie zu.123 Dieser prophezeit er, dass der Kriegsgott Ares ihnen eines Tages Erfolg in der Auseinandersetzung mit Pittakos bescheren werde. Dies, so prophezeit er weiter, werde ein Ende des zermürbenden Streites sowie des Bruderkampfes bedeuten. Zum Schluss klagt er noch einmal verbittert, dass Pittakos verantwortlich für besagten Bruderkrieg sei, nachdem er die Macht durch das von einem olympischen Gott verblendete Volk erhielt. Bei einem Blick auf die Sprechakte in den beiden enthaltenen Strophen des Gedichtfragmentes fällt auf, dass lediglich expressive und repräsentative Sprechakte vorliegen. Mit den expressiven Sprechakten bringt Alkaios seine Gefühle und Einstellung zum Ausdruck. Die expressiven Sprechakte der Beschuldigung und Diffamierungen sind dabei zwar nicht explizit performativ, dennoch wird deutlich, dass Alkaios seinen Kontrahenten verunglimpfen möchte und bei seinen Zuhörern, den Hetairoi, diesem gegenüber negative Gefühle – Rösler spricht von emotionaler Distanzierung – hervorrufen möchte. Damit wird Pittakos einerseits klar als unkultiviertes Gegenbild zur eigenen distinguierten Hetairie gezeichnet (V. 1–5), andererseits ist sein Umgang in Bezug auf die Polis nicht weniger ungesittet und steht damit konträr zu der am Ende prophezeiten heilen Polis-Welt. Vom Eintreten des Friedens, nachdem der für die Stasis verantwortliche Pittakos eines Tages beseitig sein sollte, ist Alkaios – das verdeutlichen die repräsentativen Sprechakte der Prophezeiung – überzeugt. Alkaios möchte, dass seine Zuhörer diese von ihm postulierte Wahrheit ebenfalls glauben. Die aus den erhaltenen Versen hervorgehende Intention des Alkaios ist es also, einen deutlichen Gegensatz zwischen dem sich beim Gelage unkultiviert verhaltenden und die Polis grausam führenden Pittakos und einer potenziell kultivierten und friedvollen Polis-Welt nach einer Überwindung der Herrschaft des Pittakos herzustellen. Im Folgenden soll darüber hinaus der Blick auf den historischen Kontext der Gedichtaufführung geworfen werden, über den auf Grundlage der gegebenen Sprechakte Rückschlüsse gezogen werden können. Dabei muss freilich berücksichtigt werden, dass lediglich der letzte Teil des Gedichtes, dessen Gesamtlänge wir nicht kennen, vorliegt und daher nur aus diesem erhaltenen Teil des Gedichtes Rückschlüsse gezogen werden können. Der Sprechakt der Beschuldigung des Verhaltens des Pittakos (dieser würde die Stadt würgen) macht deutlich, dass Alkaios sich hier auf bereits geschehene Handlungen des Pittakos bezieht (Regel des propositionalen Gehaltes einer Beschuldigung). Wie zuvor postuliert, scheint Pittakos demnach schon die politischen Geschicke der Stadt als Aisymnent zu lenken. Dies macht überdies der Hinweis auf das einstige gemeinsame Bündnis mit Myrsilos (V. 7) deutlich. Gleichzeitig ist durch die Kritik an Pittakos eindeutig, dass die Handlungen desselben Alkaios und seiner Hetairie scha-
123
Vgl. Rösler 1980, 159.
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den. Zudem scheint Alkaios durch die eigene Machtlosigkeit stark gekränkt zu sein. Deutlich zeigt sich hier also der stets präsente Konflikt zwischen den politisch konkurrierenden Hetairien, was im Allgemeinen für die Lyrik des Alkaios gilt. Wie bereits Hübner auf Grundlage der Arbeit von Pallantza zeigen konnte, grenzt sich Alkaios auch in anderen Gedichten (durch gezielten Einsatz von Homerischem) klar von verfeindeten Hetairien ab.124 Dabei bewegen sich seine Gedanken jedoch allein vor dem eigenen, elitären Horizont und haben dabei nichts „demokratisches“.125 Demgemäß ist schlüssig, dass Alkaios im Schlussteil des Gedichtes eine heile Polis-Welt prophezeit, sobald die Herrschaft des Pittakos erfolgreich überwunden ist. Eine Änderung der Verhältnisse befindet sich demnach noch im Bereich des Möglichen, sonst würde Alkaios seinen Zuhörern gegenüber keine Prophezeiungen machen. Noch einmal zeigt sich hier deutlich, wie stark die politische Machthabe in Mytilene einem ständigen Wechsel unterzogen war. Alkaios sieht die Verhältnisse in Mytilene nicht als unwiderruflich gegeben an. Auffällig ist jedoch, dass aus den erhaltenen Versen von Fr. 43 D keinerlei Aktivierung der Zuhörer hervorgeht. Alkaios will seine Hetairoi zwar von der Schlechtigkeit des Pittakos überzeugen und macht deutlich, dass es ohne ihn klar besser um die Polis bestellt wäre und dass eine solche Zukunftsvision im Bereich des Möglich ist, doch ruft er nicht zu gezieltem Widerstand auf. In den erhaltenen Versen findet sich kein einziger direktiver Sprechakt, das heißt keine einzige Handlungsanweisung.126 Freilich kann nicht mehr nachvollzogen werden, ob in den uns nicht erhaltenen Versen ein Aufruf zum Widerstand gegen den Kontrahenten enthalten ist. Jedoch ist auffällig, dass gerade zum Schluss des Gedichtes, als Resümee des vorher Gesagten, ein Aufruf zum Kampf ausbleibt.127 Schon Rösler erkannte: „Indessen muß schon die Art und Weise aufhorchen lassen, in der vom Widerstand die Rede ist: nur vager Hinweis auf die erhoffte Wende, ohne daß zu konkreten Maßnahmen aufgerufen und an den Behauptungswillen der ἑταῖροι appelliert wird.“128 Dies deutet darauf hin, dass sich Al-
124 Vgl. Hübner 2019, 87–88; Pallantza 2005, 17–57. Vgl. dazu auch grundsätzlich Stein-Hölkeskamp 1989, 231–233. Carey 2009, 38 stellt in seiner Untersuchung zur sympotischen Lyrik generell fest: „If the symposion defines and unites the group, it offers the opportunity to isolate either a group member or an outsider by exposing him to criticism and mockery.“ 125 Vgl. Pallantza 2005, 18 mit Anm. 4. Beispielhaft für Fr. 348 V zeigen dies Page 1955, 177 und Burnett 1983, 115 mit Anm. 27. 126 Wie bereits erläutert, wird m. E. in V. 8 nicht die Aufnahme bewaffneter Kampfhandlung von Alkaios gefordert. 127 In den kampfparänetischen Fragmenten des Kallinos (Fr. 1 D) und Tyrtaios (Fr. 7 D) kann, wie in dieser Arbeit gezeigt, hingegen ein Zusammenhang zwischen den in den Gedichten enthaltenen Sprechakten der Prophezeiungen und den darauffolgenden Aufforderungen zum Kampf hergestellt werden. Diesen Zusammenhang beschreibt Mülke 2002, 76 in Bezug auf die Elegie: „Diese Sequenz von Erzeugung emotionaler Empfänglichkeit bei den Zuhörern und Aussprache der Paränese scheint für die elegische Kampfparänese typisch zu sein, auch im stetigen Wechsel […].“ 128 Rösler 1980, 169.
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kaios und seine Hetairoi in einer Situation befanden, in der ihre Möglichkeiten zum Eingriff in die politische Lage beschränkt waren. Nichts verweist darauf, dass Alkaios zum Zeitpunkt des Vortrages von Fr. 43 D einen Handlungsspielraum für eine Veränderung der Situation für sich und seine Zuhörer erkannte. Vermutlich waren sie dabei auch keiner akuten Bedrohung ausgesetzt. All dies deutet darauf hin, dass Alkaios und seine Hetairie sich zur Zeit des Gedichtvortrages im politischen Abseits, also im Exil befanden.129 6.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel Das perlokutionäre Nachspiel, das heißt die kontingenten Folgen der in diesem Fragment enthaltenen Illokution, ist für Fr. 43 D schwer bis kaum zu rekonstruieren. Dies liegt zum einen daran, dass Alkaios in dem uns erhaltenen Teil des Gedichtes zu keiner Handlung aufruft und die perlokutionären Akte insofern lediglich auf die Überzeugung der Schlechtigkeit des Pittakos abzielten. Dass die perlokutionären Akte dabei erfolgreich waren, ist aufgrund des sich an den Erwartungshorizont des Publikums orientierenden Inhaltes des Gedichtes anzunehmen. Jedoch kann nicht nachvollzogen werden, ob dies in irgendeiner Form zu einer tatsächlichen Reaktion gegen die Macht des Pittakos aus dem Exil herausgeführt hat. Dass kein konkreter Versuch der Rückeroberung der Macht in Mytilene durch Alkaios bekannt ist (was freilich der Überlieferung geschuldet sein kann) und dass Pittakos für zehn Jahre ungehindert die Geschicke der Stadt als Aisymnet leiten konnte,130 spricht jedoch mehr gegen als für einen erneuten Versuch der Machtergreifung. Jedoch zielen die in den beiden Strophen von Fr. 43 D erhaltenen illokutionären Akte, wie dargestellt, auch gar nicht darauf ab.
129 130
Vgl. Rösler 1980, 169, der glaubt, dass die Verse eine kollektive Ersatzbefriedigung für die fehlende Gelegenheit waren, die Aggressionen in reale Kampfhandlungen umzusetzen. Anders Trumpf 1958, 65. Vgl. S. 159, Anm. 41.
7 Solon von Athen Solon von Athen ist wohl der Prominenteste unter den archaischen Lyrikern. Seine Reformen und Gesetze, die er während seines politischen Wirkens zu Beginn des 6. Jh. v Chr. für die Polis Athen etablierte, gelten gemeinhin als Grundstein für die Entwicklung eines athenischen Staates und überdauerten seine Zeit.1 Doch waren es nicht allein seine Gesetzgebungen, die Solon berühmt machten. Späteren Generationen galt er als einer der sieben Weisen und Gründervater der Demokratie. Dies führte dazu, dass er nicht nur in der antiken Literatur „überragende Bedeutung“2 erlangte, sondern noch viele Jahrhunderte später als „Figur der Weltgeschichte“3 mit „geistige[m] Führungsanspruch“4 in Erinnerung blieb. Dazu hat beigetragen, dass Solons Wirken eines der bestdokumentierten Ereignisse in der Geschichte des frühen Griechenlands ist. Testimonien und biographische Quellen zu Solon sind umfangreich.5 Bei Herodot finden wir die früheste Erwähnung Solons in der antiken Literatur. Herodot, der Solon von allen Zitatträgern chronologisch am nächsten steht, zeichnet in seiner legendenhaften Erzählung über das Zusammentreffen Solons mit dem Lyderkönig Kroisos das Bild eines weitgereisten und weisen Ratgebers.6 Nur an einer Stelle erwähnt er, dass Solon den Athenern Gesetze gegeben
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Aufgrund mehrfacher Beschreibung, wird davon ausgegangen, dass die Gesetze Solons auf hölzerne Axones oder bronzene Kyrbeis aufgezeichnet und der Öffentlichkeit zugänglich aufgestellt wurden. Oliva 1988, 59 vermutet, dass „[…] die Buchstaben in das Holz eingeschnitzt und mit Farbe ausgemalt [wurden], ähnlich wie es bei den in steinerne Stelen eingemeißelten Inschriften üblich war.“ Murray 1982, 231 glaubt, dass diese Inschriftenträger noch bis ins 3. Jh. v. Chr. erhalten blieben und den damaligen Forschern zugänglich waren. Schubert 2012, 7. Gudopp von Behm 2009, 12. Latacz 1991, 184. Einen guten Überblick über die Quellenlage geben Bagordo 2011, 170–173; Schubert 2012, 9–17; Noussia-Fantuzzi 2010, 3, Anm. 1. Bei Martina 1968 sind alle 735 Testimonien aufgeführt. Hdt. I, 29–34. Schon in der Antike wurde an der Historizität des Zusammentreffens gezweifelt, wie aus Plutarch hervorgeht (Plut. Sol. 27, 1); Stahl/Walter 2009, 142 halten es jedoch für falsch, die bei Herodot beschriebene Begegnung zwischen Solon und Kroisos von vornherein als fiktiv abzutun.
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habe.7 Auf seine gesetzgeberische Tätigkeit gehen spätere Autoren intensiver ein. Als wichtigste Zitatträger werden diesbezüglich meist Plutarch, der Verfasser der Athenaion Politeia und Diogenes Laertios genannt.8 Die Solon-Biografie Plutarchs ist vollständig erhalten „und damit die wichtigste Quelle zu seinem Leben und Werdegang.“9 Die früheste Solon-Biografie hat jedoch wahrscheinlich ein Mann namens Hermippos im 3. Jh. v. Chr. verfasst. Schubert vermutet, dass Hermippos ein Gelehrter gewesen ist, der in Alexandria arbeitete und damit die beste Bibliothek der Antike zur Verfügung hatte.10 Die Solon-Biographie des Hermippos ist zwar nicht mehr erhalten, jedoch bezieht sich Plutarch ausdrücklich auf Hermippos.11 Neben Plutarch ist eine Passage aus der Athenaion Politeia die ausführlichste Quelle zu Solon.12 In ihr werden die Krise Athens und insofern die Ursache für Solons Reformen sowie die Reformen selbst genau wiedergegeben.13 Mülke verweist jedoch darauf, dass bei kritischer Betrachtung nur Solons eigene erhaltene Gedichtfragmente eine authentische Quelle sind, weil alle Angaben von Autoren späterer Zeit darauf zurückzuführen seien.14 Solon erließ nicht nur Gesetze, die der Nachwelt erhalten blieben, sondern verfasste auch eine Reihe von Gedichten. In seiner Solon-Biografie schreibt Plutarch, dass Solon anfänglich nur zur eigenen Aufheiterung während der Mußestunden dichtete. Erst später bediente er sich des Dichtens zu politischen Zwecken. Plutarch berichtet: Später hat er philosophische Sprüche in Verse gebracht und viele politischen Gedanken in seine Gedichte verwoben, […] bisweilen, um die Athener zu mahnen, zu warnen und ihnen den Kopf zurechtzusetzen.15 (Übers. Ziegler 1954)
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Hdt. I, 29. Zu Solon bei Herodot vgl. Oliva 1988, 11–17. Fragmente der Solonischen Gesetze finden sich verstreut bei verschiedenen antiken Autoren. Gesammelt, übersetzt und kommentiert sind sie bei Ruschenbusch 2010. Zu den Gesetzen und Reformen mit aktueller Literatur vgl. Noussia-Fantuzzi 2010 23–32. Einen guten Überblick bietet auch Welwei 1992a, 161–206. Vgl. auch das in konzentrischen Kreisen angeordnete, übersichtliche Schema von Rieß 2018, 74, das die Solonischen Gesetze in ihrem Wirkzusammenhang zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen innerhalb der Polis darstellt. Aufgrund der Fülle der Forschungskontroversen und -literatur zu Solon muss sich in dieser Arbeit jedoch auf die für die Fragestellung relevante Literatur, das heißt primär zu Solons Dichtung und weniger zu seiner reformerischen Tätigkeit, beschränkt werden. Schubert 2012, 9. Zu Solon bei Plutarch vgl. etwa De Blois 2006; Ruschenbusch 1994. Vgl. Schubert 2012, 9. Plut. Sol. 2, 1. Schubert 2012, 9 und Ruschenbusch 1994, 375 glauben, dass neben Plutarch auch Diogenes Laertios und Diodor auf Hermippos zurückgehen. [Arist.] ath. pol. 5–12. Zu Solon in der Athenaion Politeia vgl. Gehrke 2006. Vgl. Mülke 2002, 13. Murray 1982, 232 weist ebenfalls darauf hin, dass die beiden Hauptquellen für Solon, die Plutarch-Biographie und die Athenaion Politeia, mit Skepsis zu betrachten sind, weil die verschiedenen attischen Lokalhistoriker des 4. Jh. v. Chr., die die Grundlage der beiden Quellen bilden, oft eine bestimmte politische Meinung in ihren Texten propagierten und insofern keine objektive Quelle gewesen sein können. Plut. Sol. 3, 4: ὕστερον δὲ καὶ γνώμας ἐνέτεινε φιλοσόφους, καὶ τῶν πολιτικῶν πολλὰ συγκατέπλεκε τοῖς ποιήμασιν, […] καὶ νουθεσίας καὶ ἐπιπλήξεις πρὸς τοὺς Ἀθηναίους.
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Henderson nimmt an, dass Solons Gedichte dabei stets sein Tun begleiteten: „It is evident from the extant fragments that his poetry actually accompanied his thought, experience and work at different stages of his life.“16 Siegmann geht sogar so weit zu behaupten, dass Solon ohne seine Dichtung bloß einer von vielen Gesetzgebern des frühen Griechenlandes gewesen wäre. Erst durch seine Dichtung gewinne er „das Format des Staatstheoretikers und Rechtsphilosophen, dessen praktische Wirksamkeit nur die Konsequenz seiner Reflexion ist.“17 Die Gedichte sind dabei thematisch vielfältig: Politische Lyrik, klassische Symposionsdichtung, Gedichte über Knabenliebe, geographische Angaben oder Dichtung, die Lebensweisheiten beinhaltet. Bei Diogenes Laertios heißt es: Was er schriftlich hinterlassen, besteht vor allem bekanntlich aus seinen Gesetzen, sodann aus seinen Volksreden, seinen Mahnungen an sich selbst, seinen Elegien über Salamis und den athenischen Staat, fünftausend Zeilen, ferner aus den Jamben und Epoden.18 (Übers. Apelt 1967)
Die von Diogenes erwähnten Epoden sind nicht überliefert. Vorrangig existieren von Solon heute elegische und iambische Gedichte.19 Die Wege der Überlieferung der Gedichte Solons, der ausschließlich sekundär überliefert wurde, können vielfältig sein.20 Den frühesten Hinweis auf die Solonischen Gedichte gibt Kritias in Platons Timaios, woraus hervorgeht, dass Solons Gedichte zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. von Knaben auf dem Apaturienfest vorgetragen wurden.21 Dass die Texte Solons noch im 4. Jh. v. Chr. bekannt und öffentlich zugänglich waren, zeigt die Erwähnung der Gedichte oder Anspielungen darauf bei antiken Autoren wie
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Henderson 1982 21. Vgl. auch Rieß 2018, 62: „Solons (Reform)werk ist nicht nur politische und soziale Gesetzgebung, sondern in seiner Lyrik auch Morallehre, Philosophie, Soziologie und Politologie in einem, die auf didaktische und das heißt auch künstlerische Art und Weise an eine breite Öffentlichkeit vermittelt wurden.“ Siegmann 1975, 267. Diog. Laert. I, 61: Γέγραφε δὲ δῆλον μὲν ὅτι τοὺς νόμους, καὶ δημηγορίας καὶ εἰς ἑαυτὸν ὑποθήκας, ἐλεγεῖα, καὶ τὰ περὶ Σαλαμῖνος καὶ τῆς Ἀθηναίων πολιτείας ἔπη πεντακισχίλια, καὶ ἰάμβους καὶ ἐπῳδούς. Henderson 1982, 21 glaubt trotz einiger Skepsis in der Forschung, dass es möglich ist, dass Solon, tatsächlich 5000 Verse elegischer Dichtung (wie bei Diogenes angegeben) verfasst hat. Denn auch wenn Solon kein Vollzeitdichter gewesen ist, habe er ein langes Leben geführt, das nur sehr kurz von seiner reformerischen Tätigkeit bestimmt war und insofern genug Zeit für die Verfassung vieler Gedichte geboten habe. In Wests Edition sind Solon 30 Elegien, ein Hexameter, vier Tetrameter und fünf Iamben zugeschrieben. Ein (auch thematisch) guter Überblick über die Gedichte Solons findet sich bei Bagordo 2011, 170–173. Mülke 2002, 20 merkt an, dass „die Quellen des zitierenden Autors oftmals erneut Sekundärüberlieferung sein können, daß der Text vom zitierenden Autor bewußt oder unbewußt verändert ist oder daß die Überlieferung des zitierenden Autors die Überlieferung des zitierten Autors überlagert.“ Plat. Tim. 21 a–b.
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Herodot, Kratinos, in der Theognidea, bei Aischylos oder eben Platon.22 Mülke schließt deswegen auf eine gründliche Sammlung der Gedichte in „Buchform“.23 Auch Noussia-Fantuzzi hält es für möglich, dass die Solonischen Texte erst schriftlich vorgelegen haben, bevor sie auf dieser Grundlage im Laufe der Zeit mündlich vorgetragen wurden.24 Ausführliche Zitate Solons finden sich sodann in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. bei Demosthenes und in der Athenaion Politeia.25 Nach wie vor wird in der Forschung darüber gestritten, wie genau die Texte Solons auf uns gekommen sind und welche von ihnen tatsächlich authentisch sind. Lange Zeit war Linforths Ansatz, Solon habe seine Texte selbst schriftlich festgehalten, akzeptiert: „It seems almost necessary to believe that Solon’s poems were recorded in writing by himself.“26 Stehle glaubt jedoch, dass Linforths These nur deswegen so lange überlebt habe, weil sie es einerseits möglich mache, eine Vorstellung von Solons persönlicher Einstellung zu spezifischen politischen Ereignissen und andererseits ein lebendiges Bild dieser Persönlichkeit zu erhalten. Stehle glaubt vielmehr, dass diese selbstreflexive Persona Solons eine Konstruktion des 4. Jh. v. Chr. gewesen ist. Zudem würden die Gedichte nicht in den Kontext des 6. Jh. v. Chr. passen.27 Auch Lardinois zweifelt an der Authentizität „of the last part of the collection of fragments preserved under Solon’s name.“28 Es sei in der Antike nicht unüblich gewesen, bekannten Autoren im Nachhinein Werke unbekannter Autoren zuzuweisen.29 Noussia-Fantuzzi ist in Bezug auf Stehles und Lardinois Meinungen jedoch skeptisch. Sie glaubt vielmehr, dass diejenigen Gedichte Solons, die einen spezifischen Kontext beschreiben (indem sie etwa Namen wie „Solon“, „Athen“ oder „Attika“ verwenden), von Solon selbst sind.30 Dies betrifft auch die beiden Gedichte, die in dieser Arbeit sprechakttheoretisch untersucht werden: Die Salamis-Elegie (Frr. 1–3 W) sowie die Eunomia-Elegie (Fr. 4 W). Beide Gedichte lassen sich also historisch kontextualisieren und sind dabei an ein athenisches Publikum adressiert. Weil sowohl die Salamis-Elegie als auch die Eunomia-Elegie auf eine politische (Krisen-)Situation Bezug nehmen und Solon durch sie dezidiert auf die Geschehnisse innerhalb Athens einwirken will, werden sie hier auf ihre Sprechakte hin untersucht. Die beiden Gedichte bieten sich auch deswegen zur
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Vgl. Bagordo 2011, 174. Vgl. Mülke 2002, 20. Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 52–53. Ebd. schließt nicht aus, dass eine Kopie der Texte bei der Familie oder einer anderen Institution vorlag und von dort weitergegeben wurde. Es müsse nicht immer zwingend der mündliche dem geschriebenen Text vorausgehen. Vgl. Mülke 2002, 19–20. Linforth 1919, 9. Vgl. Stehle 2006, 109–110. Lardinois 2006, 15. Vgl. ebd., 15. Vgl. dazu auch zusammenfassend das Fazit von ebd., 32–33. Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 52. Vgl. dazu auch Rösler 1980, 13.
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Analyse an, weil sie thematisch mit den hier untersuchten Gedichten der anderen Lyriker vergleichbar sind.31 Bevor Solons Salamis-Elegie und seine Eunomia-Elegie noch einmal in ihren je konkreten Kontext eingeordnet werden, soll jedoch zum besseren Gesamtverständnis ein kurzer Überblick über Solons Leben und die damit verbundenen Ereignisse in Athen um die Wende vom 7. zum 6. Jh. v. Chr. gegeben werden. Dabei ist es jedoch nicht leicht, über Solons Leben exakte Aussagen zu treffen.32 Zwar sind, anders als bei anderen archaischen Dichtern, viele Zeugnisse über ihn erhalten,33 jedoch gilt zu bedenken, dass die antiken Autoren häufig auch aus Solons Poesie selbst Details über das Leben des Dichters ableiteten. So erfahren wir von Plutarch, dass Solons Vater Exekestides aus dem Geschlecht des Kodros stammte. In späteren Quellen heißt es, Solon habe einen Bruder namens Dropides gehabt. Mütterlicherseits ist Solon laut Plutarch mit der Mutter des Peisistratos verwandt.34 Die Verbindung zu Peisistratos ist interessant, da dieser zuweilen als Solons Geliebter bezeichnet wird.35 Andere Hinweise zeugen wiederum davon, dass er vielmehr Solons Feindbild gewesen ist, vor dessen Tyrannis er die Bürger warnte.36 Diese Interpretation erscheint dabei schlüssiger, da etwa auch in der Athenaion Politeia berichtet wird, dass Solon die Bürger vor Peisistratos warnte.37 Weiter heißt es dort, dass Solon – als dies jedoch nicht gelang – die Waffen niederlegte und sich aus der Politik zurückzog.38 Solon muss also noch gelebt haben, als Peisistratos Tyrann wurde. Seine Lebensdaten lassen sich jedoch nicht exakt bestimmen. Laut der Suda fällt seine Blüte entweder in die 47. oder in die 56. Olympiade. Vermutlich lebte er also um die Wende vom 7. ins 6. Jh. v. Chr.39 Gestorben ist er nach Diogenes Laertios im Alter von 80 Jahren.40 In Bezug auf Solons Tod verweisen Oliva und Noussia-Fantuzzi auf Phainias von Eresos, einen Schüler des Aristoteles, der behauptet, Solon sei ein Jahr nach der Usurpation des Peisistratos gestorben, zu der Zeit als Hegestratos Archon war, also 560/559.41
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Auch Tyrtaios, Kallinos und Alkaios verfassten Gedichte, mit denen sie, wie in Solons Salamis-Elegie, zum Kampf aufrufen. Und Theognis und wiederum Tyrtaios wird jeweils eine Elegie zugesprochen, in denen sie die Wohlordnung ihrer Heimatpolis, die Eunomia, thematisieren. Einen guten Überblick mit entsprechender Bibliografie geben etwa Noussia-Fantuzzi 2010; Mülke 2002; Oliva 1988. Vgl. hierfür insbesondere Noussia-Fantuzzi 2010, 3, Anm. 1. Plut. Sol. 1, 3. Plut. Sol. 1, 4. Sol. Fr. 11 W. Für eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Frage, die durchaus kontrovers diskutiert wird, vgl. die Ausführungen bei Mülke 2002, 202 und 217 mit weiterführender Literatur. [Arist.] ath. pol. 14, 2. Suda s. v. Σόλων Adler 776. Diog. Laert. I, 62. Bei Diogenes heißt es an dieser Stelle auch, Solon habe den Auftrag erteilt, seine Asche nach seinem Tod über Salamis auszustreuen. Plutarch bezweifelt allerdings, dass dies je geschehen ist (Plut. Sol. 32, 4). Vgl. Oliva 1988, 36; Noussia-Fantuzzi 2010, 4.
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Sowohl Plutarch als auch die Athenaion Politeia bescheinigen Solon eine vornehme Abstammung. Beide weisen jedoch auch darauf hin, dass er in Bezug auf materielle Mittel zum Mittelstand zählte. In der Athenaion Politeia heißt es etwa: Solon war von seiner Abstammung und seinem Ruf her einer der führenden Bürger, seinem Besitz und seiner Beschäftigung nach jedoch gehörte er zur mittleren Klasse […].42 (Übers. Chambers 1990)
Plutarch schreibt, dass sich Solon wegen des geringen Vermögens seines Vaters schämte und sich deswegen schon früh dem Handel zuwandte und so auf Reisen die Welt kennenlernte.43 Oliva hält dies für unglaubwürdig.44 Möglicherweise halfen ihm seine Bildungsreisen jedoch dabei, die politischen Ämter, die er später – vielleicht aufgrund seiner vornehmen Herkunft – erlangte,45 mit dem nötigen Weitblick auszuführen. Solons politische Laufbahn (und damit eine Chronologie seines Lebens) muss mit Hilfe der Testimonien und den Hinweisen aus den Solonischen Elegien selbst rekonstruiert werden. An dieser Stelle soll jedoch nur ein grober Überblick über die Ereignisse seines Lebens gegeben werden. Eine genauere Darstellung der historischen Umstände erfolgt im Zuge der Einordnung der zu analysierenden Gedichte Salamis-Elegie und Eunomia-Elegie. Politisch trat Solon erstmals um 600 v. Chr. hervor, als er in der Auseinandersetzung mit den Megarern um den Besitz Insel Salamis die Athener zur Eroberung der Insel aufrief. Seinen Einsatz für die Wiederaufnahme des Krieges gegen Megara um die Insel Salamis bezeichnet Diogenes Laertios als seine größte Tat.46 In welcher Funktion Solon dabei agierte, ist unklar. Gesichert scheint jedoch, dass er großes Ansehen bei der Schlacht um Salamis erworben hatte. Schubert hält es für möglich, dass dieses Ansehen dafür verantwortlich war, dass Solon von den Athenern in einer Zeit, in der es in Athen zu einer schweren „ökonomischen, sozialen, politischen und auch moralischen Krise“47 kam, als Schlichter und Vermittler akzeptiert wurde.48
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[Arist.] ath. pol. 5, 3: ἦν δ’ ὁ Σόλων τῇ μὲν φύσει καὶ τῇ δόξῃ τῶν πρώτων, τῇ δ’ οὐσίᾳ καὶ τοῖς πράγμασι τῶν μέσων […]. Plut. Sol. 2, 1. Vgl. Oliva 1988, 37. Dennoch sind die Reisen, die Solon unternommen haben soll, berühmt. Gudopp von Behm 2012, 90 nimmt an, dass es sich dabei um Bildungsreisen im Sinne einer weltmännischen Bildung Ioniens handelte. Schubert 2012, 10 nennt Solon gar einen „Kulturheros“, der sein Wissen durch seine Reisen erworben hätte und schon im 5. Jh. v. Chr. als Inbegriff des weisen Ratgebers galt. Beispielhaft dafür sei etwa Herodot, wo über den Weisen Solon berichtet wird, der den Lyderkönig Kroisos an dessen Hof besucht (Hdt. I, 29, 1–2). Zu Solon als Weisen vgl. auch Noussia-Fantuzzi 2010, 9–17. So auch Gudopp von Behm 2009, 105; Mülke 2002, 15; Stahl/Walter 2009, 143. Diog. Laert. I, 46. Rieß 2018, 61. Vgl. Schubert 2012, 13; Gudopp von Behm 2009, 105.
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Die genauen Ursachen dieser Krise sind nicht eindeutig rekonstruierbar. Wahrscheinlich ist jedoch, dass reiche Adlige unter Ausnutzung ärmerer Bauern ihre Ländereien arrondierten. Es entstanden Schuld- und Abhängigkeitsverhältnisse und gleichzeitig eine wachsende Kluft zwischen ärmeren Bauern und reichen Adligen, die das politische, rechtliche und soziale Leben dominierten.49 Solon jedenfalls, so geht es aus seiner Eunomia-Elegie hervor, sieht die Ursache für die Krise in Athen in der Gewinnsucht und Habgier einer führenden Gruppe Adliger. Wir wissen, dass diese Krise der Hintergrund dafür war, dass Solon 594/593 v. Chr. zum Archon und Vermittler gewählt wurde.50 In diese Zeit fällt auch Solons Eunomia-Elegie.51 Sie bildete den Startpunkt für seine Maßnahmen gegen die Krise in Athen. Als er später zum Archon gewählt wurde, etablierte er zahlreiche Einzelmaßnahmen,52 die zu einer umfangreichen Gesetzes-, Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialreform führten.53 Die Fragmente Solons zeigen jedoch, dass seine Maßnahmen nicht überall wohlwollend aufgenommen wurden und auch die Athenaion Politeia berichtet davon.54 Hier heißt es sogar, dass es, nachdem Solon, um seine Reformen wirken zu lassen, zehn Jahre auf Reisen ging, erneut zu Streitereien gekommen sei, die schlussendlich in die Tyrannis des Peisistratos mündeten.55 Gestorben ist Solon wahrscheinlich gegen Ende der 60er Jahre des 6. Jh. v. Chr. 7.1 Die Salamis-Elegie 7.1.1 Der außerliterarische Kontext In dieser Elegie behauptet Solon, kein Athener mehr sein zu wollen, sollte Athen die Insel Salamis aufgeben. Deswegen fordert er seine Zuhörer dazu auf, in den Kampf um die Insel zu ziehen. Von dieser sogenannten Salamis-Elegie sind dabei nur noch drei Fragmente mit acht Versen einer ursprünglich, laut Plutarch, 100 Verse umfassenden Elegie erhalten. Überliefert ist die Salamis-Elegie bei Plutarch sowie Diogenes Laertios.56 Dass die drei Fragmente ursprünglich eine Elegie gewesen sind, ist plausibel.57
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Vgl. dazu Rieß 2018, 61. Diog. Laert. I, 62; [Arist.] ath. pol. 5, 1–2. Fr. 4 W. S. Fr. 36 W. S. S. 183, Anm. 8. Zur Frage danach, wann Solon Archon wurde vgl. etwa Oliva 1988, 47–48; Noussia-Fantuzzi 2010, 6–7. Fr. 7 W und Fr. 34 W; [Arist.] ath. pol. 11, 1–2. [Arist.] ath. pol. 13, 1–3. Plut. Sol. 8, 1–3 (= Fr. 1 W); Diog. Laert. I, 47 (= Frr. 2 und 3 W) Vgl. Mülke 2002, 73, Anm. 1.
Die Salamis-Elegie
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Um die Salamis-Elegie auf die in ihr enthaltenen Sprechakte hin zu untersuchen, soll sie in ihren konkreten historischen Kontext eingeordnet werden. Bei dem Kampf um Salamis handelte es sich um langwierige Auseinandersetzungen zwischen den Nachbargemeinden Megara und Athen um den Besitz der Insel Salamis.58 Dabei ist nicht klar, ob die aggressive Außenpolitik Athens „Folge der innenpolitischen Konsolidierung war oder aber Auftakt zur Identitätsbildung, ein Zusammenschweißen der Bürger bevor größere innere Reformen, die hohe Kompromissbereitschaft verlangten, in Angriff genommen werden konnten.“59 Eine Datierung des Ereignisses ist schwierig. Oft wird die Salamis-Elegie jedoch noch vor Solons Archontat datiert.60 Der Kriegsgrund hingegen ist bekannt: Für Athen hatte die Insel insbesondere strategischen Wert, wie Stahl zusammenfasst: So ist das Ziel der athenischen Kriegsführung wohl zum einen aus der geographischen Lage des zu erobernden Gebiets zu erklären: Von diesem aus konnte man auf der einen Seite die Bucht von Eleusis und den Sund von Salamis abschirmen und damit von der Seeseite her den Zugang zum eleusischen Heiligtum kontrollieren. Auf der anderen Seite verbesserte der Besitzt von Salamis den Schutz des eigenen Hafens von Athen – wohl in erster Linie gegen Eingriffe der Aegineten.61
Doch auch Megara erkannte in Salamis einen wichtigen Stützpunkt, um von dort aus den ganzen Saronischen Meerbusen zu beherrschen. Athen und Megara stritten also um ein Gebiet, das zu diesem Zeitpunkt keiner der beiden Poleis gehörte. Beide beanspruchten die Insel aber für sich.62 Es kam deswegen zu einem Krieg, der laut Plutarch lang und verlustreich gewesen ist.63 Plutarch berichtet weiter (diese Episode findet sich auch bei Diogenes Laertios),64 dass die Athener dieses Krieges irgendwann überdrüssig geworden seien. Deswegen hätten sie ein Gesetz erlassen, dass niemand, weder schriftlich noch mündlich, die erneute Eroberung von Salamis beantragen dürfe.
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Einen guten Überblick über die Ereignisse geben Taylor 1997 (auch zum athenischen Dekret über Salamis); Stahl 1987 und Oliva 1988. Rieß 2018, 71. So etwa Bagordo 2011; Latacz 1991; Oliva 1988. Stahl 1987, 205. Oliva 1988, 40 sieht den Konflikt auch in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Athens zu dieser Zeit. Noussia-Fantuzzi 2010, 208–209 verweist darauf, dass sowohl Athen als auch Megara ihren Anspruch auf die Insel auf die jeweilige Verwandtschaft mit dem homerischen Helden Aias zurückführen, der von Salamis stammt (Hom. Il. II, 557–558). Mit Verweis auf entsprechenden Quellenstellen zeigt sie, dass sowohl die Megarer als auch die Athener (durch Solon) die homerische Stelle für ihre Zwecke interpolierten. Vgl. zur Interpolation durch die Athener Taylor 1997, 21–22; Oliva 1988, 44. Plut. Sol. 8, 1. Diog. Laert. I, 46.
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Solon von Athen
An dieser Stelle tritt nun Solon auf die politische Bühne, da er die Kämpfe um Salamis wieder aufnehmen wollte. Bei Plutarch heißt es diesbezüglich, dass Solon erkannt habe, dass viele junge Athener den Wiederbeginn des Krieges wünschten. Weil Solon selbst unter der Schmach der nicht eroberten Insel litt, schritt er zur Tat und verfasste eine Elegie – die berühmte Salamis-Elegie – mit welcher er die Bürger Athens im paränetischen Stil dazu aufrief, für ihre Heimatpolis einzutreten und in den Krieg um die Insel Salamis zu ziehen. Plutarch und Diogenes Laertios berichten, dass Solon durch seine Worte sein Ziel erreichen konnte und die Athener den Kampf um Salamis wieder aufnahmen und schlussendlich sogar gewannen.65 Der historische Kontext, in welchem Solon seine Elegie vortrug, ist bereits abgesteckt worden. Für die Analyse der Sprechakte sollen aber auch die möglichen Aufführungsumstände sowie die Funktion, in welcher Solon dichtete, diskutiert werden. Darüber, wo und wie Solon die Salamis-Elegie vortrug, erfahren wir auch bei Plutarch: […] so stellte er (Solon, Anm. AvdD) sich wahnsinnig und ließ aus seinem Hause in der Stadt das Gerücht verbreiten, daß er verrückt geworden sei. Indessen dichtete er heimlich eine Elegie, übte sie sich ein, daß er sie frei vortragen konnte, und sprang plötzlich auf den Markt, ein Hütchen auf dem Kopf. Als sich viel Volk versammelt hatte, stieg er auf den Stein des Heroldes und sang die Elegie vor […].66 (Übers. Ziegler 1954)
Diese Erzählung von Solon, der sich als Herold verkleidet und Wahnsinn vortäuscht, wird allerdings zumeist nicht als authentisch angesehen, sondern in den Bereich der Legende verwiesen.67 Bei der Analyse der Sprechakte wird hierauf genauer eingegangen werden. Wir erhalten zudem die Information, dass Solon seine Elegie auf dem Markt, der Agora, vorgetragen habe. Solon selbst spricht in seiner Salamis-Elegie davon, dass er statt einer Rede nun ein kunstvolles Lied vorbringen werde: κόσμον ἐπέων ὠιδὴν ἀντ’ ἀγορῆς θέμενος (Fr. 2 W, V. 2). Häufig wird diese Stelle so interpretiert, dass Solon sich – wie Plutarch es auch beschreibt – in einem öffentlichen Kontext befindet, wo er statt einer Rede nun ein kunstvolles Lied vortragen möchte.68 Ein Teil der
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Vgl. Diog. Laert. I, 46 und Plut. Sol. 8, 3. Über den Verlauf des Krieges und auch die Entstehung des Sieges der Athener herrscht jedoch Unklarheit. So gibt es allein zwei Versionen des Kriegsverlaufes bei Plutarch und teilweise heißt es auch, dass Peisistratos entscheidend beteiligt war. Vgl. dazu Noussia-Fantuzzi 2010, 209–210; 40–46; Taylor 1997, 12–25; Oliva 1988. Da der genaue Kriegsverlauf für die Analyse der Sprechakte aber keine weitere Bedeutung hat, wird hier nicht weiter darauf eingegangen. Plut. Sol. 8, 1–2: […] ἐσκήψατο μὲν ἔκστασιν τῶν λογισμῶν, καὶ λόγος εἰς τὴν πόλιν ἐκ τῆς οἰκίας διεδόθη παρακινητικῶς ἔχειν αὐτόν· ἐλεγεῖα δὲ κρύφα συνθεὶς καὶμελετήσας ὥστε λέγειν ἀπὸ στόματος, ἐξεπήδησεν εἰς τὴν ἀγορὰν ἄφνω, πιλίδιον περιθέμενος. ὄχλου δὲ πολλοῦ συνδραμόντος, ἀναβὰς ἐπὶ τὸν τοῦ κήρυκος λίθον, ἐν ᾠδῇ διεξῆλθε τὴν ἐλεγείαν […]. Noussia-Fantuzzi 2010, 206. Vgl. auch Bowie 1986, 19 und Stehle 1997, 61. Zu dieser Frage vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 205. Zur Bedeutung von ἀγορη in diesem Kontext vgl. Mülke 2002, 81–82. Bartol 1993, 55, deren Ansicht jedoch mehrheitlich abgelehnt wird, glaubt, dass der Ausdruck „ἀντ’ ἀγορῆς would be understood as „instead in the agora“, as „not in the agora“ but in another place.“
Die Salamis-Elegie
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Forschung nimmt Plutarch und Diogenes Laertios beim Wort und geht davon aus, dass Solon seine Salamis-Elegie auf der Agora oder zumindest bei einer anderen öffentlichen Gelegenheit vorgetragen habe.69 Allerdings weist Nünlist darauf hin, dass Plutarch wahrscheinlich keinen Zugang zu textunabhängigen Informationen gehabt habe und insofern die Vortragssituation falsch gedeutet haben könnte. Interessant sei insofern auch, dass Demosthenes, der älter ist als Plutarch, zu den Vortragsumständen gänzlich schweigt.70 So wird denn in der Forschung auch an anderer Stelle hinterfragt, ob Solon tatsächlich mit der Salamis-Elegie auf der Agora aufgetreten ist. Bowie etwa meint: „Whether Solon had just come from Salamis or whether his hearers believed so we cannot know. But these hearers need be none other than his companions at a symposium, upper-class neoi who were a future archon’s natural drinking companions […]“71. Auch Stehle schließt nicht aus, dass das Gedicht vor einer Gruppe einflussreicher Männer im Symposion gehalten wurde, um sie zur Unterstützung für den Krieg zu mobilisieren.72 Mülke kritisiert jedoch zurecht, dass durch das Fehlen äußerer Anhaltspunkte in der Forschung der Einfachheit halber davon ausgegangen werde, dass im statistischen Mittel die meisten elegischen und iambischen Gedichte aus archaischer Zeit Symposionsdichtung waren, obwohl es stets mehrere Optionen in Bezug auf die ursprüngliche Vortragssituation gebe.73 Das Symposion als eine dieser Optionen schließt Mülke aber nicht grundsätzlich aus.74 Noussia-Fantuzzi zieht zudem die Möglichkeit in Betracht, dass Solon „may have staged a performance that was indeed sympotic, but which was based upon the pretense of a semi-theatrical recitation, where he enacted the role of a herald as if he were giving a speech before the assembly […].“75 Wichtig für die Analyse der Sprechakte ist zudem die Kenntnis darüber, in welcher Rolle oder Funktion Solon zu seinem Publikum sprach. Noussia-Fantuzzi glaubt, dass Solon bei der Eroberung von Salamis sowohl politisch als auch militärisch eine entscheidende Rolle spielte.76 Auch Schubert verweist mit Bezug auf Plutarch auf Solons erfolgreiche Rolle als Feldherr bei der Eroberung von Salamis.77 Möglich, dass Solon zu dem Zeitpunkt des Vortrages der Salamis-Elegie in der Funktion des Feldherren gesprochen hat. Bei Plutarch heißt es allerdings, dass die Athener Solon erst wegen des erfolgreichen 69 70 71 72 73 74 75 76 77
Vgl. etwa Tsomis 2001, 198; Meier 1998, 240; Herington 1985, 34; West 1974, 12. Rösler 1980, 70 glaubt, dass der Großteil der Solonischen Dichtung sich an die athenische Bürgerschaft richtete. Demosth. XIX, 252–253. Vgl. dazu Nünlist 1998, 69, Anm. 4. Bowie 1986, 19. Vgl. Stehle 1997, 61. Ebd. hält aber auch ein öffentliches Setting, etwa ein „public festival“, für denkbar. Mülke 2002, 11 und 131. Sollte der ursprüngliche Aufführungsort tatsächlich das Symposion gewesen sein, hält ebd., 74–75 es jedoch für möglich, dass die Verbreitung der Solonischen Gedanken angesichts der mündlichen Verbreitungsmechanismen auch über das Symposion hinaus gewährleistet gewesen wäre. Noussia-Fantuzzi 2010, 205. Ähnlich Anhalt 1993, 122. Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 6. Vgl. Schubert 2012, 12–13 zu Plut. Sol. 8–10. Podlecki 1969 nennt Solon gar, wie auch Archilochos und Alkaios, einen „soldier-poet“.
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Auftritts der Salamis-Elegie zu ihrem Anführer im Krieg machten.78 Demnach war er zu dem Zeitpunkt der Aufführung wohl noch nicht Feldherr. Mit Sicherheit kann dies jedoch nicht gesagt werden, da Plutarchs Schilderung im Allgemeinen, so Oliva, „bestimmt nicht als eine authentische Schilderung des Kriegsausbruchs betrachtet werden“79 könne. Mülke macht ebenfalls ganz deutlich, dass eine genaue Bestimmung der Beteiligung Solons bei der Gewinnung der Insel Salamis aus den späteren Quellen aufgrund der Verformungstendenzen der Überlieferung unmöglich ist. Einzige Grundlage bleibe deswegen Solons Elegie selbst, aus der sich nach Mülke lediglich schließen lasse, „daß Solon sich im Kreise von politisch Gewichtigen gegen eine Aufgabe der Insel aussprach.“80 7.1.2 Analyse der Sprechakte Plut. Sol. 8, 1–3 = Solon Fr. 1 W81 1 αὐτὸς κῆρυξ ἦλθον ἀφ’ ἱμερτῆς Σαλαμῖνος, κόσμον ἐπέων ὠιδὴν ἀντ’ ἀγορῆς θέμενος. 1 Selbst bin als Herold ich gekommen vom lieblichen Salamis her, die Ordnung der Worte zu Gesang statt Rede mir setzend.
Diog. Laert. I, 47 = Solon Frr. 2 W und 3 W 1 εἴην δὴ τότ’ ἐγὼ Φολεγάνδριος ἢ Σικινήτης ἀντί γ’ Ἀθηναίου πατρίδ’ ἀμειψάμενος· αἶψα γὰρ ἂν φάτις ἥδε μετ’ ἀνθρώποισι γένοιτο· „Ἀττικὸς οὗτος ἀνήρ, τῶν Σαλαμιναφετέων.“ 1 Dann möcht’ ich lieber Pholegandrier oder Sikinete sein statt eines Atheners – durch des Vaterlands Tausch. Denn sogleich dürfte diese Rede unter den Menschen aufkommen: „Aus Attika kommt dieser Kerl, gehört zu diesen Salamisabtretern.“ 1 ἴομεν ἐς Σαλαμῖνα μαχησόμενοι περὶ νήσου ἱμερτῆς χαλεπόν τ’ αἶσχος ἀπωσόμενοι. 1 Laßt uns ziehen gen Salamis, zu streiten um die Insel, die liebliche, und die schlimme Schande abzuschütteln!
78 79 80 81
Plut. Sol. 8, 3. Oliva 1988, 41. Mülke 2002, 15. Die Solonischen Fragmente sind hier und im Folgenden zitiert nach West 1992 und übersetzt von Mülke 2002.
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Wie oben dargestellt, erfahren wir bei Plutarch, dass Solon sich als Herold verkleidete, Wahnsinn vortäuschte, in dieser Verkleidung auf die Agora sprang und dort seine Salamis-Elegie vortrug. Wie ebenfalls oben angemerkt, wird dieser Bericht oft in den Bereich der Legende verwiesen. Oliva und Mülke denken, dass der ungewöhnliche Auftritt Solons erst im Nachhinein erfunden worden ist. Mülke verweist etwa darauf, dass die Legende typisch für die Überlieferung frühgriechischer Dichterbiographien sei und aufgrund der bedeutenden politischen Rolle Solons später den Mechanismen der mündlichen und schriftlichen Überlieferung ausgesetzt gewesen sei.82 Oliva nimmt hingegen an, dass die Vorstellung eines verrückten Solon nur deswegen entstanden ist, weil Solon teilweise in seinen Gedichten selbst davon spricht, den Verstand verloren zu haben.83 Besonders schlüssig erscheint jedoch Stehles Erklärung: „Plutarch’s story (unless it has a core of truth) seems to have developed as a way to account for the poem’s remarkable staging of its performer.“84 Insofern soll die Analyse der Sprechakte auf die tatsächlichen Äußerungen Solons beschränkt bleiben, was bedeutet, dass nicht davon ausgegangen werden soll, dass Solon Verrücktheit vorgetäuscht hat, um der vermeintlichen Strafe bei einer Thematisierung des Salamiskrieges zu entgehen. Vielmehr kann das Hineinschlüpfen in die Rolle des Herolds als ein Motiv der Rhetorik angesehen werden, das der Erregung von Aufmerksamkeit diente.85 Durch das Hineinschlüpfen in die Rolle eines Herolds aus Salamis wird Solons Auftritt ungewöhnlich. Dieser Überraschungseffekt sorgt für die richtige Aufmerksamkeit der Zuhörer. Sich dieser Aufmerksamkeit also gewiss seiend, beginnt Solon seine Salamis-Elegie mit folgenden Versen: Selbst bin als Herold ich gekommen vom lieblichen Salamis her, die Ordnung der Worte zu Gesang statt Rede mir setzend.86 (V. 1–2)
Im ersten Vers vollzieht Solon einen Sprechakt der Behauptung nämlich die Behauptung, dass er selbst als Herold von Salamis gekommen sei. Die Erweiterungsprobe zeigt, dass er dabei noch eine zweite Behauptung aufstellt, wenn er davon spricht, dass Salamis ἱμερτή sei. Im zweiten Vers folgt sodann die Ankündigung, dass er nun einen Gesang statt einer Rede vortragen werde. Sowohl Behauptungen als auch Ankündigungen sind repräsentative Sprechakte, das heißt, der Zuhörer soll glauben, dass das, was der Sprecher sagt, wahr ist. Die Standard-Perlokution ist epistemisch. In seiner Rolle als Herold kann Solon diesen Wahrheitsanspruch durch Autopsie erheben: Er selbst, αὐτός, kann auf diese Weise persönlich von den Zuständen in Salamis berich-
82 83 84 85 86
Vgl. Mülke 2002, 74. Vgl. Oliva 1988, 41. Stehle 1997, 62. Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 207 mit Hinweis auf Arist. rhet. 1415b; ähnlich Mülke 2002, 75; Anhalt 1993, 122. Vgl. zu den rhetorischen Strategien in Solons Lyrik auch Noussia-Fantuzzi 2006. Fr. 1 W, V. 1–2: αὐτὸς κῆρυξ ἦλθον ἀφ’ ἱμερτῆς Σαλαμῖνος, / κόσμον ἐπέων ὠιδὴν ἀντ’ ἀγορῆς θέμενος.
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ten.87 Stehle bezeichnet Solons Auftritt als Herold dabei als „theatrical coup.“88 Nünlist expliziert, warum Solon sich dabei für die Rolle des Herolds entscheidet und welche Argumente mit dieser Rolle einhergehen: „(1) Er kommt direkt vom Schauplatz, ist also ein verläßlicher Augenzeuge. (2) Er kommt als κῆρυξ in ‚offizieller Mission‘. (3) Die Sache ist so dringend, daß er gleich selbst gekommen ist und nicht einen anderen als Herold geschickt hat.“89 Mit diesem Auftritt liegt ein besonderer Fall von Performance vor. Folgt man Searles Verständnis von fiktionaler Rede, gibt Solon hier vor, die Sprechakte eines Herolds zu vollziehen.90 Jedoch ist dies keine absichtlich täuschende Vorgabe. Zwar stehen Solons Sprechakte in einem fiktionalen Kontext, weil er sie als vermeintlicher Herold spricht, doch trifft er dabei keine vorgeblichen, sondern zwei echte Behauptungen und eine Ankündigung, da er von realen Gegebenheiten spricht (er bezieht sich ja auf die Insel Salamis, eine aktuelle außenpolitische Aufgabe).91 Insofern muss „in einem fiktionalen Diskurs nicht alles fiktional sein.“92 Dem Publikum muss dabei zudem bewusst gewesen sein, dass Solon hier lediglich eine Rolle spielte, denn, wie Noussia-Fantuzzi zusammenfasst: „Solon’s self-declaration as a herald from Salamis in the first line of the Salamis poem (αὐτὸς κῆρυξ ἦλθον ἀφ’ ἱμερτῆς Σαλαμῖνος) itself carries a high degree of logical anomaly because an Athenian could not sensibly declare himself to be a herald from an island held in enemy hands.“93 Wie oben angemerkt, handelt es sich hierbei wohl um eine bewusst angewandte rhetorische Strategie, die den Athenern dabei möglicherweise nicht unbekannt gewesen ist. Das Publikum kann sich insofern bereitwillig auf den Fiktionalitätsvertrag einlassen. Damit ist die etwaige „Lüge“ in der Äußerung Solons aber aufgehoben und die Sprechakte konnten glücken. In den folgenden Fragmenten der Salamis-Elegie tritt Solon nicht mehr als Herold auf, sondern spricht wieder in seinem eigenen Namen:94
87 88 89 90 91 92 93
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So auch Mülke 2002, 75 und 77; Noussia-Fantuzzi 2010, 206. Stehle 1997, 63. Nünlist 1998, 69. Vgl. Searle 1982, 80–97. Vgl. diesbezüglich ebd., 94. Onea 2014, 75. Noussia-Fantuzzi, 137. Interessant ist daneben auch die bereits oben erwähnte Einschätzung von Bowie 1986, 19: „Whether Solon had just come from Salamis or whether his hearers believed so we cannot know“. In der Tat kann nicht ausgeschlossen werden, dass Solon, der, wie sich später zeigen wird, einen engen Bezug zu Salamis gehabt haben soll, tatsächlich gerade von der Insel zurückgekehrt ist. Damit wäre eine etwaige Problematik der fiktionalen Sprechakte aufgelöst, weil Solon in diesem Falle tatsächlich eine Art Herold-Funktion innegehabt hätte. Diese Variante widerspricht allerdings der bei Plutarch und Diogenes beschriebenen Rahmenhandlung einer bewussten Herold-Inszenierung. Allerdings müssen diese antiken Berichte, wie gezeigt wurde, wiederum ebenfalls mit Vorsicht interpretiert werden. So auch Mülke 2002, 75; Fränkel 1969, 251.
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Dann möcht’ ich lieber Pholegandrier oder Sikinete sein statt eines Atheners – durch des Vaterlands Tausch. Denn sogleich dürfte diese Rede unter den Menschen aufkommen: „Aus Attika kommt dieser Kerl, gehört zu diesen Salamisabtretern.“95 (V. 1–4)
In diesen Versen beginnt Solon damit, einen Sprechakt der Behauptung zu vollziehen, indem er sagt, lieber Pholegandrier oder Sikinet sein zu wollen, als ein Athener.96 Die Verse 1–2 stellen wohl den zweiten Teil eines Konditionalsatzes dar, dessen Beginn dem Fragment ursprünglich vorausging Der Konditionalsatz könnte vollständig gemeint haben: Wenn ihr nicht in den Kampf zieht, dann möchte ich lieber Pholegandrier oder Sikinet sein.97 Bei Pholegandros und Sikinos handelt es sich um zwei sehr kleine Inseln in der Ägäis. Die steinigen, unwirtlichen Inseln stehen symbolisch für die Erniedrigung, die Athen erleiden würde, wenn es Salamis abgeben würde.98 Auf eben jene Erniedrigung kommt Solon denn in den folgenden Versen zu sprechen, die diesen Versabschnitt dominieren. Denn Solon behauptet, dass im Falle des Abtretens der Insel unter den Menschen das Gerede aufkommen würde, dass man als Athener zu einem der Salamis-Abtreter gehören würde. Was auf der sprachlichen Oberfläche eine Behauptung ist, ist aus sprechakttheoretischer Sicht jedoch vielmehr eine Warnung. Denn indem Solon behauptet, als Salamis-Abtreter von den Menschen, also den Nicht-Athenern,99 verachtet zu werden, warnt er eigentlich vor genau diesem Zustand.100 Dieser besteht darin, dass ein Athener, der die Insel aufgibt, zum Gegenstand des Geredes der Menschen wird und zum „Salamisabtreter“ degradiert wird.
95
Fr. 2 W, V. 1–4: εἴην δὴ τότ’ ἐγὼ Φολεγάνδριος ἢ Σικινήτης / ἀντί γ’ Ἀθηναίου πατρίδ’ ἀμειψάμενος· / αἶψα γὰρ ἂν φάτις ἥδε μετ’ ἀνθρώποισι γένοιτο· / „Ἀττικὸς οὗτος ἀνήρ, τῶν Σαλαμιναφετέων.“ 96 Die finite Verbform im Optativ εἴην ist dabei Illokutionsindikator dafür, dass Solon hier einen Wunsch äußerst. Wie Rolf 2006, 2528–2530 sowie ders. 1997, 57–66 aufzeigt, handelt es sich bei Einstellungs-Bekundungen, wie dem Wunsch, nicht um expressive, sondern um repräsentative Sprechakte. Damit möchte der Sprecher keine Emotion bei den Zuhörern auslösen (wie es bei einem expressiven Sprechakt der Fall ist), sondern vielmehr, dass die Zuhörer wissen, dass der Sprecher eine bestimmte Einstellung vertritt. Insofern handelt es sich bei Solons Äußerung, lieber Pholegandrier oder Sikinete sein zu wollen um einen repräsentativen Sprechakt der Behauptung im Sinne einer Einstellungs-Bekundung. So stellte bereits Fränkel 1969, 169 fest: „Griechische Lyriker wollen sich nicht mit eigentümlichen Empfindungen interessant machen, sondern am eigenen Beispiel das Allgemeine und Grundsätzliche aufzeigen.“ 97 τότε weist darauf hin, dass V. 1 die Fortsetzung eines offenbar verlorengegangenen Temporal- oder Konditionalsatzes ist, vgl. dazu Mülke 2002, 82. 98 Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 212–213; Mülke 2002, 82–83; Walter 1993, 195; Fränkel 1969, 252. 99 Die Annahmen von Mülke 2002, 85, dass mit dem Plural ἅνθρωποι (Fr. 2 W, V. 3) seit dem Epos „das Kollektiv aller Menschen ohne Unterschied“ gemeint ist, erscheint schlüssig. Es handle sich bei den ἅνθρωποι demnach um Nicht-Athener. 100 So schon Fränkel 1969, 251.
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Obwohl Solon dabei von sich selbst spricht, ist das „ich“ hier inklusiv, die Zuhörergruppe also durch die Schande mit betroffen. Insofern redet Solon eben nicht nur von sich selbst, sondern warnt seine Zuhörer auch vor ihrem eigenen Schicksal, sollten sie Salamis abtreten. Die Wahl des Sprechaktes ergibt sich dabei aus den Handlungsbedingungen: Sowohl Solon als auch seinem Publikum ist bewusst, dass der Besitz der Insel Salamis einen erheblichen Gewinn darstellen, bzw. vielmehr der Verlust der Insel Schmach bedeuten würde. Fränkel resümiert, dass Warnungen nicht selten Motive einer anspornenden Rede gewesen sind.101 Daran zeigt sich deutlich, dass Warnungen, die eigentlich zur Gruppe der repräsentativen Sprechakte zählen, auch direktive Anteile haben können: Die durch die Warnung ausgelösten Gefühle der Angst vor der Verachtung der Menschen sollen dazu führen, einen Handlungswillen bei den Zuhörern auszulösen, der darin besteht, den angedrohten Zustand zu vermeiden. Das bedeutet im gegebenen Kontext, den Krieg um Salamis wieder aufzunehmen.102 Dies ist es denn auch, was Solon mit seiner Salamis-Elegie primär erreichen möchte, wie die letzten beiden uns erhaltenen Verse zeigen. Die Verse werden dabei mit der ersten Person Plural (Coniunctivus (Ad)hortativus) eröffnet, Sprecher und Publikum sind also erstmals vereint: Laßt uns ziehen gen Salamis, zu streiten um die Insel, die liebliche, und die schlimme Schande abzuschütteln!103 (V. 1–2)
Das durch die vorherige Warnung erzeugte Gefühl der Angst vor einer Bloßstellung nutzt Solon als Grundlage für den in diesen Versen vollzogenen illokutionären Akt der Aufforderung. Solon fordert seine Zuhörer dazu auf, nach Salamis zu ziehen und um die Insel zu streiten und damit gleichsam die schlimme Schande abzuschütteln. Die Standard-Perlokution eines direktiven Sprechaktes wie der Aufforderung ist motivational. Der die Verse einleitende Coniunctivus (Ad)hortativus ἴομεν ist dabei eindeutiger Indikator für den illokutionären Akt der Aufforderung. Zudem lassen sich durch die Erweiterungsprobe zwei weitere Illokutionen herauskristallisieren, die dazu dienen, den dominanten Sprechakt der Aufforderung, nach Salamis zu ziehen, zu stützen: So stellt Solon in V. 2 erneut die Behauptung auf, dass die Insel Salamis ἱμερτή sei. Schon in Fr. 1 West, V. 1 behauptet er, dass er vom lieblichen Salamis käme. Mülke glaubt, dass Solons Argumentation durch die Verwendung von ἱμερτή „ein gefühlsbetontes Moment“ gewinne. Solcher Art Adjektive, so Mülke schlüssig, dienen in der frühgriechischen Lyrik als Attribut für ein militärisches oder politisches Ziel.104 Darüber hinaus findet sich in Fr. 3 W, V. 2 ein weiterer illokutionä-
101 102
Vgl. Fränkel 1969, 251. Schon laut Diogenes waren es diese Worte Solons, die den Athenern am wirksamsten das Gewissen schärften (Diog. Laert. I, 47) 103 Fr. 3 W, V. 1–2: ἴομεν ἐς Σαλαμῖνα μαχησόμενοι περὶ νήσου / ἱμερτῆς χαλεπόν τ’ αἶσχος ἀπωσόμενοι. 104 Vgl. Mülke 2002, 78.
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rer Akt der Behauptung, nämlich die Behauptung, dass es eine χαλεπός αἶσχος sei, die Insel nicht zu besitzen. Diese Behauptung ist damit das Gegenstück zu der in dem Vers ebenfalls vorliegenden Behauptung, dass die zu erobernde Insel lieblich sei. Beide Behauptungen dienen dem gleichen Ziel: Die Zuhörer davon zu überzeugen, dass der Kampf um Salamis notwendig ist. Damit stützen sie den dominanten Sprechakt der Aufforderung. 7.1.3 Ergebnisse Die sogenannte Salamis-Elegie beginnt mit der Behauptung des Dichters, dass er als Herold von der Insel Salamis, die – so behauptet er ebenfalls – lieblich sei, gekommen sei. Sodann kündigt Solon an, nun ein Lied vortragen zu wollen. Im weiteren Verlauf des Gedichtes behauptet er, dass er lieber Pholegandrier oder Sikinete sein wolle als ein Athener. Denn unter den Menschen, so warnt Solon seine Zuhörer, würde er als solcher als Salamis-Abtreter verachtet werden. Deswegen fordert er die Zuhörer zum Schluss der erhaltenen Verse dazu auf, nach Salamis zu fahren und um die liebliche Insel zu kämpfen und somit gleichsam die schlimme Schande abzuwerfen. Die erhaltenen Verse der Salamis-Elegie bestehen aus repräsentativen Sprechakten, wie den Behauptungen und Ankündigungen, sowie einem Sprechakt der Warnung (repräsentativ/direktiv) und einem Sprechakt der Aufforderung (direktiv). Im fiktionalen Beginn der Elegie (Fr. 1 W, V. 1–2) liegen repräsentative Sprechakte vor, mit denen Solon erreichen möchte, dass die Zuhörer ihm glauben (epistemische Standard-Perlokution). Die Zuschauer erkennen zwar, dass es sich bei Solon nicht wirklich um einen Herold aus Salamis handelt, verstehen aber, dass Solon damit Glaubund Vertrauenswürdigkeit erlangen möchte. Der fiktionale Beginn der Elegie dient also grundsätzlich dazu, den Boden für die folgenden Sprechhandlungen zu bereiten. Solons primäres Ziel ist es, die Zuhörer dazu zu bewegen, den Krieg gegen Megara wieder aufzunehmen. Dies zeigen der direktive Sprechakt der Aufforderung (motivationale Standard-Perlokution) und die der Aufforderung vorausgegangene Warnung (epistemische und motivationale Standard-Perlokution), die die Aufforderung stützt. Solon intendiert mit den erhaltenen Versen der Salamis-Elegie also, zu sagen, wie es ist, den Zuhörern zu verstehen zu geben, wie es nicht sein soll und – vor allem – sie dazu aufzufordern, etwas dagegen zu tun. Welche Rückschlüsse auf den außerliterarischen Kontext lässt die Wahl der Sprechakte zu? Die repräsentativen Sprechakte der Behauptung im Anfangsteil der Elegie, zeigen, dass Solon davon überzeugt ist, dass es äußerst lohnend ist, das liebliche Salamis zu erobern (der Aufwand, den Solon mit seinem theatralen Auftritt als Herold betreibt, deutet ebenfalls auf die Wichtigkeit der Eroberung der Insel hin). Der Sprechakt der Warnung zeigt hingegen, dass Solon seinen Zuhörern gleichfalls verdeutlichen möchte, was der Verlust der Insel für sie bedeuten könnte (Einleitungsregel
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einer Warnung). Ob die Zuhörer sich dabei tatsächlich nicht ausmalen konnten oder wollten, was der Verlust der Insel bedeuten würde oder aber ob Solon zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages nur noch einmal auf die bereits bekannte und pikante Situation zu sprechen kommen wollte, kann nicht gesagt werden. Jedenfalls wurden zu diesem Zeitpunkt offenbar noch keine Maßnahmen zur Lösung der Situation ergriffen. Der Sprechakt der Warnung zeigt denn auch klar, dass die Insel zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht verloren ist. Der Zustand, vor dem Solon warnt, ist noch nicht eingetreten, ansonsten müsste Solon nicht vor ihm warnen (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Das Gleiche zeigt auch der folgende Sprechakt der Aufforderung, um die Insel Salamis zu streiten. Es handelt sich um eine zukünftige von Solon geforderte Handlung (Regel des propositionalen Gehaltes einer Aufforderung). Der Sprechakt der Aufforderung zeigt auch, dass der Kampf um Salamis wahrscheinlich nicht aus eigenem Antrieb wieder aufgenommen werden würde, sonst würde Solon die Zuhörer nicht dazu auffordern müssen (Einleitungsregel einer Aufforderung). Zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages muss demnach erst noch der Entschluss gefasst werden, überhaupt in den Krieg um Salamis zu ziehen. Dabei vollzieht Solon hier keine Anweisungen oder Befehle, sondern muss die anwesenden Zuhörer erst noch dazu bringen, sich überhaupt für das militärische Vorhaben zu entscheiden. Zu wem spricht Solon also seine Verse? Wer waren die Zuhörer seiner Salamis-Elegie? Möglich, dass Solon tatsächlich auf der Agora vor den versammelten Athenern stand und diesen seine Salamis-Verse vortrug. Aufgrund der hier analysierten Sprechakte soll sich jedoch für einen sympotischen Kontext ausgesprochen werden. Denn Solon will mit seinen Versen die Meinung der Zuhörer beeinflussen, er will sie für einen Kampf um Salamis gewogen machen. Das lässt gleichsam den Schluss zu, dass er zu Zuhörern spricht, die offenbar darüber entscheiden konnten, ob ein Einsatz um die Insel stattfinden sollte oder nicht. Es macht den Anschein, als würde Solon hier zu Menschen sprechen, die eine solche Entscheidung in der Polis treffen konnten: Die Führungselite, die „politisch Gewichtigen“105, mit denen Solon vielleicht das gemeinsame Symposion beging. Diese These würde dagegensprechen, dass Solon die Salamis-Elegie in einem öffentlichen Kontext – etwa der Agora – vortrug, auch wenn der Demos in politischen Aushandlungsprozessen eine wichtige Rolle gespielt haben muss, wie sich bereits in den homerischen Epen zeigt.106 Es waren jedoch primär die Aristokraten, die im Zuge der Institutionalisierung die einst durch basileis ausgeübten Herrschaftsfunktionen übernahmen und damit die politische Macht in ihren Händen hielten. Daher ist denkbar, dass die Primärsituation der Salamis-Elegie tatsächlich das Symposion war. Diesbezüglich sollen auch die Überlegungen Mülkes, die Zuhörer der Elegie betreffend, aufgegriffen werden: Mülke nimmt an, dass primär diejenigen Men-
105 Vgl. Mülke 2002, 15. 106 Vgl. etwa Hom. Il. XVIII, 497–508 oder Hom. Od. VIII, 5–16.
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schen durch die Warnung Solons, dass nämlich der Verlust der Insel ein Grund zum Schämen sei, betroffen waren, die überhaupt regelmäßig in Kontakt mit Nicht-Athenern gekommen sind. Das seien der Adel (über die ξένοι) oder aber Kaufleute und Handwerker.107 Die Angst vor einem solchen Ehrverlust muss dabei insbesondere für den Adel in seinem kompetitiven Ethos eine zentrale Bedeutung gehabt haben.108 Weil Solon, wie der Sprechakt der Warnung zeigt, eben diesen perlokutionären Effekt der Scham bei seinen Zuhörern auslösen wollte, ist der Gedanke nicht abwegig, dass die Salamis-Elegie tatsächlich vor einer ausgewählten Gruppe elitärer Entscheidungsträger vorgetragen wurde. Dass die Worte Solons in einem zweiten Rezeptionsschritt auch eine größere Öffentlichkeit erreichten, bleibt dabei unbenommen. 7.1.4 Das perlokutionäre Nachspiel Zuletzt soll ein Blick auf die Wirkung der sprachlichen Handlungen Solons geworfen werden. Wie mehrfach betont, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, welche perlokutionären Akte die illokutionären Akte der Dichter evoziert haben. Mit einem Blick auf den Fortgang der Ereignisse, sollen jedoch Vermutungen über das perlokutionäre Nachspiel der Worte Solons gemacht werden. Dass die von Solon intendierte Wirkung, nämlich die Wiederaufnahme der Kampfhandlung, eingetreten ist, zeigen Berichte antiker Autoren über den Fortgang der Geschehnisse. So sollen die Athener laut Plutarch und Diogenes Laertios, und zwar angefeuert durch die Worte Solons, wieder in den Krieg um Salamis gezogen sein.109 Ob das Engagement der Athener dabei jedoch tatsächlich auf Solons Worte zurückgeht, kann nicht nachvollzogen werden.110 Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht jedoch, dass
107 Vgl. Mülke 2002, 85. Hölkeskamp 2018, 39 nennt diese der archaischen Elite eigenen panhellenischen Netzwerke ihr soziales Kapital im Sinne Bourdieus (vgl. zum „Sozialen Kapital“ Bourdieu 1983, 189–195). Nach Kurke 1989, 538 war der Fernhandel – im Gegensatz zum einfachen, auf der Agora stattfindende Einzelhandel – eine dem Adel vorbehaltene Tätigkeit. 108 Zur Konkurrenz der Aristokraten untereinander, insbesondere über die Polisgrenzen hinweg vgl. Stein-Hölkeskamp 2015, 198–201 und dies. 2019, 121: „Die Aristokraten bewegten sich in einer geschlossenen Welt, deren Rhythmus von Festen und Spielen, Gastmählern, ausgedehnten Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten, öffentlichen Prozessionen, Schönheitskonkurrenzen, athletischen und musischen Agonen, Jagd und Wagenrennen und nicht zuletzt von glanzvollen Auftritten bei den panhellenischen Spielen bestimmt wurde, jenen regelmäßig stattfindenden überregionalen Wettkämpfen in Heiligtümern wie etwa Olympia oder Delphi, zu denen Aristokraten aus dem gesamten griechischen Kulturraum anreisten, um sich vor einem exklusiven ‚internationalen‘ Publikum miteinander zu messen.“ Vgl. auch dies. 1989, 84, die ganz grundsätzlich die „verheerenden sozialen Konsequenzen für den einzelnen Aristokraten“ u. a. als wiederholte Topoi der archaischen Lyrik sieht. 109 Plut. Sol. 8, 3; Diogenes berichtet, die Athener hätten dank Solon den Krieg gewonnen (Diog. Laert. I, 46). 110 Diesbezüglich skeptisch ist etwa Mülke 2002, 15.
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Solon und Salamis bei den antiken Autoren häufig in Zusammenhang gebracht werden. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Solon sich erfolgreich um die Insel verdient gemacht hat.111 So berichtet etwa Diogenes Laertios, Solon habe den Auftrag erteilt, seine Asche nach seinem Tod über Salamis auszustreuen.112 Diodor behauptet gar, dass Solons Geschlecht von der Insel stamme: Solon war der Sohn des Exekestides, und sein Geschlecht stammte aus Salamis in Attika.113 (Übers. Wirth 1992)
Demosthenes und Aischines wiederum sprechen von einer Statue, die zu Ehren Solons in Salamis aufgestellt worden sein soll.114 Die Insel Salamis und Solon stehen bei den antiken Autoren also in einer engen Beziehung zueinander. Salamis muss demnach eine entscheidende Rolle in Solons Leben gespielt haben. Insofern soll nicht ausgeschlossen werden, dass Solons Einsatz für den Kampf um Salamis erfolgreich gewesen ist und er deswegen (im Nachhinein) stets mit der Insel in Verbindung gebracht wurde.115 7.2 Die Eunomia-Elegie des Solon 7.2.1 Der außerliterarische Kontext In seiner berühmten Eunomia-Elegie zeichnet Solon das Bild einer schweren innenpolitischen Krise, die durch die Hybris einer Gruppe führender Adliger ausgelöst wurde und das Gemeinwesen in Unordnung, Dysnomia, gebracht habe. Erstrebenswert sei jedoch vielmehr ein Zustand guter Ordnung, der Eunomia. Die Eunomia-Elegie, die aus 39 Versen besteht, ist bei Demosthenes überliefert.116 Auch wenn mit den 39 bei Demosthenes überlieferten Versen nicht die gesamte Elegie erhalten ist,117 soll Jaeger zugestimmt werden, dass die existierenden Verse dennoch als
111 112 113 114 115 116
117
Vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 4. Diog. Laert. I, 62. Plut. Sol. 32, 4 bezweifelt allerdings, dass dies je geschehen ist. Diod. IX, 1, 1: Ἦν δὲ καὶ Σόλων πατρὸς μὲν Ἐξηκεστίδου, τὸ γένος ἐκ Σαλαμῖνος τῆς Ἀττικῆς […] Aisch. I, 25; Demosth. XIX, 251. Vgl. zur Bezugnahme des Demosthenes auf Aischines Jaeger 1926, 69–71. Vgl. auch Stehle 1997, 62: „Solon is reported to have carried his point; the Athenians took up the fight again and won Salamis.“ Vgl. Podlecki 1969, 80. Demosth. XIX, 255. Der Gedichttitel Eunomia wurde dem Gedicht von Jaeger 1926, 82 in Anlehnung an das Eunomia-Gedicht von Tyrtaios gegeben. Ebd. nimmt zugleich an, dass Demosthenes das Solonische Gedicht ursprünglich nicht selbst angeführt habe, sondern es vielmehr später von einem antiken Grammatiker und Demosthenesherausgeber nachgeschlagen und im Nachhinein in den Text hinzugefügt wurde. Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 217. Zur Frage nach dem Gedichtanfang und der Vollständigkeit der Elegie vgl. auch Manuwald 1989, 3, Anm. 19, der sich
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ein Ganzes betrachtet werden können.118 Der Kontext, in welchen die Eunomia-Elegie zu verorten ist, ist die ökonomische und soziale Krise, in der sich die Polis Athen in spätarchaischer Zeit befand. Die tatsächlichen Gründe und der Charakter der Krise sind jedoch nicht einfach zu erfassen. Was wir über die Krise wissen, erfahren wir aus den erhaltenen Solonischen Gedichtfragmenten selbst sowie insbesondere aus der Athenaion Politeia (und später bei Plutarch, der diesbezüglich aber auf die Athenaion Politeia zurückgeht119).120 Es wird also von zwei Gruppen berichtet, die sich unversöhnlich gegenüberstanden und offenbar in „extrem ungleicher Weise über politische, wirtschaftliche und soziale Ressourcen verfügten.“121 Gemeint sind dabei auf der einen Seite die reiche Elite und auf der anderen Seite die Bauern, die sich bei den Reichen verschuldet hatten. Dieses Schuldenproblem wird in den Solonischen Fragmenten (etwa Fr. 4 W und Fr. 36 W) hinreichend deutlich und spiegelt sich auch in seinen späteren Reformen wider.122 Solon selbst sieht die Behebung des Schuldenproblems, die sogenannte Lastenabschüttlung, die Seisachtheia, als entscheidende Leistung an.123 Jedoch werden die Ursachen für die Verschuldung und die genauen Umstände der sie betreffenden Akteure in den Quellen nicht genannt.124 Klar ist lediglich, dass Athen von einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise ergriffen wurde und dass diese Krise vor allem die bäuerliche Schicht getroffen hatte.125 Schmitz fasst das Ausmaß der Krise deutlich zusammen: „Viele Bau-
dagegen ausspricht, dass wir den Anfang des Gedichtes vorliegen haben, was wiederum bedeute, dass nicht das vollständige Gedicht vorliege. Ähnlich Anhalt 1993, 73. Dass mit dem Ende der Verse auch das Ende des gesamten Gedichtes vorliegt, begründet plausibel Siegmann 1975, 278 und 280–281. Siegmann zeigt dabei, dass einzelne Teile des Gedichtes durch Vor- und Rückverweise aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind und das gesamte Gedicht hierdurch eine von Solon beabsichtigte „Wohlgefügtheit“ (281) erhalte. 118 Vgl. Jaeger 1926, 71. 119 Vgl. Meier 2010, 1, Anm. 2. 120 [Arist.] ath. pol. 4, 4; [Arist.] ath. pol. 5, 1; Zur den der Krise vorausgehenden Geschehnissen (Kylonischer Frevel, Drakons Gesetzte) vgl. überblicksartig Gudopp von Behm 2009, 81–85. 121 Schubert 2012, 28. Grundsätzlich wird jedoch davor gewarnt, in Bezug auf die athenische Gesellschaft der Einfachheit halber von einem simplen Zwei-Schichten Modell zu sprechen, was der Komplexität der Krise nicht entspräche, vgl. Meier 2012, 2; Noussia-Fantuzzi 2010, 22; Bintliff 2006; Welwei 1992a, 152. 122 Fr. 4 W und Fr. 36 W; vgl. auch die (Land-)Wirtschaftlichen Reformen Solons in Ruschenbusch 2010, 130–137. 123 Fr. 36 W. Zu den Maßnahmen der Seisachtheia vgl. Ruschenbusch 2010, 132–133; Schubert 2012, 36–38; Oliva 1988, 47–48. Dass die Seisachtheia Solons erste politische Tat war, behauptet Plutarch (Plut. Sol. 15, 2) 124 Welwei 2005, 29 und Meier 2012, 2 stellen zudem die Zuverlässigkeit der Quellen (Athenaion Politeia und Plutarch) in Frage. 125 Vgl. Schmitz 2004, 249–250; Stahl/Walter 2009, 138–161; Eine gute Zusammenfassung der Krise auch bei Tsigarida 2006, 29–45. Welwei 1992a, 152 weist jedoch richtigerweise darauf hin, dass nicht die gesamte bäuerliche Schicht betroffen sein kann: „Zweifellos hatte aber ein Großteil jener Bauern, die den Kern des attischen Aufgebotes bildeten, noch die wirtschaftliche Unabhängigkeit gewahrt. Die auf der alten Aufgebotsordnung basierende „solonische“ Gliederung der Athener in
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ern waren in Verschuldung geraten. Wurden die Schulden nicht zurückgezahlt, konnten die Gläubiger Zugriff auf den Boden, dann aber auch auf die Person nehmen. Die Bauern gerieten in verschiedene Formen der Abhängigkeit, mußten Teile ihrer Erträge an die Gläubiger abtreten oder verloren ihren Grundbesitz; manche gerieten in eine direkte Abhängigkeit von reicheren Bauern, wurden zu Pächtern auf ihrem früheren Besitz oder sanken in eine den Kaufsklaven vergleichbare Stellung; andere wurden als Sklaven in Gebiete außerhalb Attikas verkauft oder entzogen sich durch Flucht der Abhängigkeit oder Sklaverei.“126 In der Forschung hat sich dabei eine intensive Diskussion um die genauen Abhängigkeitsverhältnisse ergeben, die durch die Frage nach der Bedeutung der in der Athenaion Politeia und bei Plutarch erwähnten sogenannten Sechstler, die ἑκτήμοροι,127 sowie der bei Solon erwähnten Grenzsteine, die ὅροι,128 entstanden ist. Man ging davon aus, dass ὅροι Markierungssteine gewesen seien, die als Zeichen der Belastung auf den Parzellen der ἑκτήμοροι standen. Die ἑκτήμοροι wiederum, so die Annahme, seien die abgabepflichtigen Schuldner, die nach Plutarch ein Sechstel ihrer Erträge an ihre Herren abgeben mussten,129 wobei unklar ist, ob die ἑκτήμοροι fünf Sechstel ihrer Ernteerträge an ihren Herren abgeben mussten oder nur ein Sechstel. Seit Meiers überzeugender Untersuchung der Textpassage und der These, dass das Erscheinen der ἑκτήμοροι das Resultat eines Lesefehlers des Verfassers der Athenaion Politeia oder seiner Quelle im 4. Jh. v. Chr. sei,130 wird die Existenz der ἑκτήμοροι jedoch grundsätzlich bezweifelt.131 Davon unbenommen bleibt jedoch, dass sich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen ärmeren Bauern und reicheren Landbesitzern ergeben hat. Die Ursachen für dieses Schuldverhältnis können vielfältig gewesen sein.132 Welche These am plausibelsten ist
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Besitz- bzw. Einkommensklassen setzt eine relativ breite Hoplitenschicht voraus, die Solon nicht erst neu zu konstituieren braucht.“ [Arist.] ath. pol. 2, 2; Plut. Sol. 13, 4–5. [Arist.] ath. pol. 2, 2; Plut. Sol. 13, 4–5. Fr. 36 W, V. 6. Plut. Sol. 13, 4 Vgl. Meier 2012. Vgl. Schubert 2012, 33–36; Welwei 2005, 156–158; Link 1991, 25–30. Vgl. zur jüngeren Forschung Stahl/Walter 2009; Welwei 2005. Einen Überblick über die ältere Forschungsliteratur gibt Schmitz 2004, 249, Anm. 2. So wird die Verschuldung teilweise mit dem Bevölkerungswachstum im 8. und 7. Jh. v. Chr. (festgemacht an der steigenden Zahl an Gräbern und Brunnen) in Zusammenhang gebracht, welche erst zu Landnot und daraufhin zu Armut und Elend führte. Das starke demographische Wachstum soll dazu geführt haben, dass das Land trotz attischer Binnenkolonisation knapp wurde. Möglicherweise sind Landparzellen einzelner Familien durch Erbteilung immer kleiner geworden, was wiederum zu Verarmung führte, weil Kleinbauern, besonders bei Missernten, nicht mehr in der Lage waren, ihre Familien zu ernähren. Welwei 1992a, 154 stellt die Parzellierung des Bodens jedoch in Frage. Zum Bevölkerungswachstum als Auslöser der Krise vgl. beispielhaft Murray 1982, 80–81 und 235. Mittlerweile wird das anhand der wachsenden Gräberzahl festgemachte Bevölkerungswachstum allerdings auch hinterfragt, vgl. dazu mit weiterführender Literatur Stahl/Walter 2009, 144; Stein-Hölkeskamp 2019, 120; Meier 2012, 12. Ein anderer Faktor der Verarmung könnte gewesen sein, dass aristokratische Herren, des größeren
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oder aber ob die Entstehung der Krise vielmehr das Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener Faktoren ist, bleibt ungewiss. Aus der Landwirtschaft erwuchsen jedenfalls Probleme, die das Gleichgewicht der Polis bedrohten. Stahl/Walter formulieren prägnant: „The agrarian society of Attica was in danger of becoming dependent and feudal through the establishment of structures of clientele.“133 Neben den landwirtschaftlichen Verschuldungsgründen kann zudem die aufkommende Geldwirtschaft und das damit einhergehende Schuldenmachen und Zinsennehmen verantwortlich für das entstandene Ungleichgewicht gewesen sein, wodurch sich die ärmere Bevölkerung immer mehr bei den reichen Geldgebern verschuldete. Hinzu kam, dass die Reichen seit langer Zeit die Rechtsprechung dominierten.134 All dies führte dazu, dass die Gesellschaft Athens um 600 v. Chr. immer weiter auseinanderdriftete. Es muss jedoch betont werden, dass die athenische Gesellschaft dabei komplexer und ausdifferenzierter war als es die antiken Autoren darstellen. Die Protestbewegungen waren heterogen und die politischen, ökonomischen und sozialen Ziele einzelner Gruppen – von mehr politischer Partizipation bis hin zur Neuverteilung des Landes – unterschieden sich.135 In dieser Situation setzt nun Solon ein, der, wie oben genannt, mit seiner Eunomia-Elegie die bestehenden Verhältnisse in Athen und dabei insbesondere die Unersättlichkeit der Reichen kritisierte und gleichzeitig das Ideal einer guten Ordnung des Staates, der Eunomia, propagierte.136 Welwei glaubt, dass Solon dabei für diese Aufgabe ideal besetzt war, da er als „Mann der Mitte“ von allen Parteien akzeptiert wurde.137 Der Zeitpunkt des Gedichtvortrages wird dabei in der Forschung zumeist vor Solons Archontat datiert.138 Noussia-Fantuzzi zieht dahingehend sogar in Erwägung, dass das Gedicht verantwortlich für die Wahl Solons zum Schlichter bzw. Mediator gewesen sein könnte: „In fact, if the poem does precede Solon’s reforms, his moralizing stance together with his frank and fearless criticism of those responsible and his vision of a better Athens, might support the idea that Solon was chosen to act as mediator.“139
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Gewinns wegen, den Anbau von Wein und Oliven anstrebten (im späten 7. Jh. begann Athen damit, Öl zu exportieren). Die Kleinbauern brauchten aber mehr Getreide für die eigene Ernährung und konnten nicht Pflanzen anbauen, die erst nach Jahren Ertrag brachten, vgl. Gudopp von Behm 2009, 86; Oliva 1988, 28. Eine weitere These ist, dass reiche Großgrundbesitzer im Zuge der Binnenkolonisation unter Ausnutzung der Not ärmerer Bauern bestrebt waren, ihre Ländereien zu arrondieren und damit gleichzeitig Kleinbauern verdrängten, vgl. Welwei 1992a, 153. Stahl/Walter 2009, 145. Vgl. Rieß 2018, 61; Schmitz 2014, 57–59. S. S. 201, Anm. 121. Nicht selten wurde die Eunomia-Elegie deswegen als Zeugnis der Geburtsstunde der Demokratie angesehen, vgl. etwa Stahl 1992, 406. Vgl. dazu auch Itgenshorst 2014, 171 mit entsprechender Literatur. Vgl. Welwei 1992, 158–159. Vgl. etwa Schmitz 2014, 61; Stehle 2006, 83; Mülke 2002, 89; Jaeger 1926, 69. Noussia-Fantuzzi 2010, 219. Ähnlich Tsigarida 2006, 28; Mülke 2002, 99.
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Erst im Zuge des Archontats oder noch später erließ Solon seine Gesetze.140 Es muss also die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass Solon noch nicht in seiner offiziellen Rolle als Archon zu den Bürgern sprach. Zuletzt bleibt noch zu fragen, in welchen Aufführungskontext die Eunomia in der Forschung eingeordnet wurde.141 Wie bei der Solonischen Salamis-Elegie stellt sich hier die Frage, ob Solon die Eunomia im Symposion oder aber vor einer größeren Menge von Leuten, etwa auf der Agora, vorgetragen hat. Stahl erkennt in der Eunomia eine Ansprache an die ganze Gemeinschaft, was nicht nur die Nennung der Adressaten, nämlich der Athener, in V. 30 zeige, sondern auch im Gedichtanfang mit der Äußerung ἡμετέρη δὲ πόλις (Fr. 4 W, V. 1) deutlich werde.142 Auch Walter zieht deswegen den Schluss, dass Solon die „Gemeindeöffentlichkeit“ als Adressaten hatte.143 Henderson glaubt unter Bezugnahme auf West: „Solon’s audience was the Athenian citizen-body, in all probability assembled in the agora.“144 Murray glaubt ebenfalls, dass Solon seine Gedichte öffentlich vortrug und damit erreichen wollte, dass diese von anderen wiederholt und somit verbreitet werden würden.145 Bowie ist hingegen skeptischer und bemerkt, dass es keinen direkten Adressaten gebe und insofern das Symposion bzw. die Hetairie als Aufführungsort nicht ausgeschlossen werden könne. Von hier aus hätte die Botschaft horizontal und vertikal durch die athenische Gesellschaft vordringen können.146 Auch Tedeschi denkt, dass die Eunomia im Symposion vorgetragen wurde, weil der Beginn der Verse, die Versicherung der Göttergunst, ἡσυχία, Teil eines guten Symposions nach Platon sei.147 Eine mittlere Position in Bezug auf die Adressaten nimmt Stein-Hölkeskamp ein. Sie glaubt, dass es sich bei den Adressaten der Verse um eine Gruppe handelt, die weder zu den ἡγεμόνες gehören, die für die Krise verantwortlich seien, noch zu den von der Krise unmittelbar Betroffenen. Vielmehr werde hier eine Gruppe angesprochen, die noch in relativem Wohlstand und in gesicherten Verhältnissen des eigenen Hofes lebe und sich dementsprechend passiv verhalte und in der Auseinandersetzung noch nicht positioniert habe.148 Die Analyse der Sprechakte soll nun einen neuen Zugang darstellen, um eine Antwort auf die Frage nach dem Aufführungskontext zu ermöglichen. 140 Zur Frage danach, wann Solon seine Gesetze erlassen hat vgl. Schubert 2012, 45; Noussia-Fantuzzi 2010, 6–7, Welwei 1992a, 158, Anm. 55. 141 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Forschungspositionen bietet Mülke 2002, 97– 99, der eine Positionierung hinsichtlich dieser Frage jedoch offenbar nicht für möglich hält. 142 Vgl. Stahl 1992, 386. So auch Tsigarida 2006, 29. 143 Vgl. Walter 1993, 107. 144 Henderson 1982, 29; vgl. auch West 1974, 12. 145 Vgl. Murray 1982, 230. 146 Vgl. Bowie 1986, 25. 147 Plat. symp. 176 a. Vgl. dazu Tedeschi 1982, 34–39. 148 Vgl. Stein-Hölkeskamp 1997, 26. Ebd. glaubt, dass die Adressaten der Solonischen Eunomia-Elegie mit den bei Theognis (V. 39–52W) genannten ἀστοὶ strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen würden. Vgl. ähnlich Spahn 1977, 136–138.
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7.2.2 Analyse der Sprechakte Demosth. XIX, 255 = Solon Fr. 4 W 1 ἡμετέρη δὲ πόλις κατὰ μὲν Διὸς οὔποτ’ ὀλεῖται αἶσαν καὶ μακάρων θεῶν φρένας ἀθανάτων· τοίη γὰρ μεγάθυμος ἐπίσκοπος ὀβριμοπάτρη Παλλὰς Ἀθηναίη χεῖρας ὕπερθεν ἔχει· 5 αὐτοὶ δὲ φθείρειν μεγάλην πόλιν ἀφραδίηισιν ἀστοὶ βούλονται χρήμασι πειθόμενοι δήμου θ’ ἡγεμόνων ἄδικος νόος, οἷσιν ἑτοῖμον ὕβριος ἐκ μεγάλης ἄλγεα πολλὰ παθεῖν· οὐ γὰρ ἐπίστανται κατέχειν κόρον οὐδὲ παρούσας 10 εὐφροσύνας κοσμεῖν δαιτὸς ἐν ἡσυχί πλουτέουσιν δ’ ἀδίκοις ἔργμασι πειθόμενοι * οὔθ’ ἱερῶν κτεάνων οὔτε τι δημοσίων φειδόμενοι κλέπτουσιν ἀφαρπαγῆι ἄλλοθεν ἄλλος, οὐδὲ φυλάσσονται σεμνὰ Δίκης θέμεθλα 15 ἣ σιγῶσα σύνοιδε τὰ γιγνόμενα πρό τ’ ἐόντα, τῶι δὲ χρόνωι πάντως ἦλθ’ ἀποτεισομένη· τοῦτ’ ἤδη πάσηι πόλει ἔρχεται ἕλκος ἄφυκτον, ἐς δὲ κακὴν ταχέως ἤλυθε δουλοσύνην, ἣ στάσιν ἔμφυλον πόλεμόν θ’ εὕδοντ’ ἐπεγείρει, 20 ὃς πολλῶν ἐρατὴν ὤλεσεν ἡλικίην· ἐκ γὰρ δυσμενέων ταχέως πολυήρατον ἄστυ τρύχεται ἐν συνόδοις τοῖς ἀδικέουσι φίλους. ταῦτα μὲν ἐν δήμωι στρέφεται κακά·τῶν δὲ πενιχρῶν ἱκνέονται πολλοὶ γαῖαν ἐς ἀλλοδαπὴν 25 πραθέντες δεσμοῖσί τ’ ἀεικελίοισι δεθέντες οὕτω δημόσιον κακὸν ἔρχεται οἴκαδ’ ἑκάστωι, αὔλειοι δ’ ἔτ’ ἔχειν οὐκ ἐθέλουσι θύραι, ὑψηλὸν δ’ ὑπὲρ ἕρκος ὑπέρθορεν, εὗρε δὲ πάντως, εἰ καί τις φεύγων ἐν μυχῶι ἦι θαλάμου. 30 ταῦτα διδάξαι θυμὸς Ἀθηναίους με κελεύει, ὡς κακὰ πλεῖστα πόλει Δυσνομίη παρέχει· Εὐνομίη δ’ εὔκοσμα καὶ ἄρτια πάντ’ ἀποφαίνει, καὶ θαμὰ τοῖς ἀδίκοις ἀμφιτίθησι πέδας· τραχέα λειαίνει, παύει κόρον, ὕβριν ἀμαυροῖ, 35 αὑαίνει δ’ ἄτης ἄνθεα φυόμενα, εὐθύνει δὲ δίκας σκολιάς, ὑπερήφανά τ’ ἔργα
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πραΰνει, παύει δ’ ἔργα διχοστασίης, παύει δ’ ἀργαλέης ἔριδος χόλον, ἔστι δ’ ὑπ’ αὐτῆς πάντα κατ’ ἀνθρώπους ἄρτια καὶ πινυτά. 1 Unsere Stadt wird niemals untergehen nach des Zeus Fügung und der glückseligen Götter Willen, der unsterblichen. Denn ebenso, mit großer Regung, Wächterin, Tochter des gewaltigen Vaters hält Pallas Athene ihre Hände darüber. 5 Selbst jedoch wollen sie lieber die mächtige Stadt durch ihr blindes Unvermögen vernichten, die Bewohner, weil sie dem Besitze gehorchen, und der Führer des Volkes rechtlose Gesinnung, denen bestimmt ist, infolge ihres großen Frevels der Schmerzen viele zu erdulden. Denn sie kennen kein Genug und verstehen sich nicht darauf, die vorhandenen 10 Festfreuden zu ordnen in der Ruhe des Festmahls Sie sind reich, weil sie rechtlosen Werken gehorchen * weder der Götter Güter noch erst recht die des Volkes schonend stehlen sie wegraffend, ein jeder anderswoher, und nicht beachten sie Dikes heilige Grundsteine, 15 die es schweigend miterlebt hat und weiß, das, was geschieht, und das, was vorher war, und die mit der Zeit in jedem Fall kommt, um dafür zu strafen; dies kommt nunmehr über die ganze Stadt als eine Wunde, eine unausweichliche und schnell gerät sie da in schlimme Knechtschaft, die Zwist in der Gemeinschaft und Krieg, den schlafenden, aufweckt, 20 der dann die liebliche Jugend vieler vernichtet; Denn unter den Händen der Feinde wird schnell die vielgeliebte Stadt aufgezehrt in Zusammenkünften denen, die ihren eigenen Leuten Unrecht tun. Das sind die Übel, die in der Gemeinde umherziehen; von den Armen aber kommen viele in ein fremdes Land, 25 verkauft und in Fesseln, schimpfliche, gebunden Und so kommt das Volksübel ins Haus einem jeden, es aufzuhalten ist nicht mehr willens das Hoftor, über die hohe Umfriedung springt es und findet ihn in jedem Fall, wenn auch einer flüchtend im Winkel des Schlafgemachs steckt. 30 Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung, wie die größten Übel der Stadt Mißordnung bringt. Wohlordnung jedoch bringt alles klar gut geordnet und passend heraus, und dicht an dicht legt sie den Ungerechten Fußfesseln um. Rauhes glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, 35 und dörrt der Blindheit Blüten, die sprossenden, aus.
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Gerade richtet sie die Rechtssprüche, die krummen, und hochfahrende Werke besänftigt sie; sie endet die Werke der Zwietracht, endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie alles unter den Menschen passend und vernünftig.
Solon verfasste seine Eunomia-Elegie zu einer Zeit, in der Athen von einer schweren inneren Krise getroffen war. In der Elegie benennt er die Ursachen, die zu dieser Zuspitzung geführt haben, und stellt der dadurch entstandenen Dysnomia, der Unordnung, die Eunomia, die gute Ordnung, gegenüber. Im Folgenden sollen die Sprechakte, die Solon in seiner Eunomia-Elegie vollzog, sichtbar gemacht und interpretiert werden. Das Gedicht beginnt mit der Erwähnung der Gunst der Götter:149 Unsere Stadt wird niemals untergehen nach des Zeus Fügung und der glückseligen Götter Willen, der unsterblichen.150 (V. 1–2)
Mit diesen Versen versichert Solon seinen Zuhörern, dass die Stadt dank der Götter niemals untergehen werde. Es handelt sich hierbei also um einen Sprechakt der Versicherung. Ein Illokutionsindikator für den Sprechakt der Versicherung ist dabei das Wörtchen οὔποτε, weil damit die Entschiedenheit der Aussage deutlich wird (deswegen geht der Sprechakt an dieser Stelle über den einer Behauptung hinaus). Sprechakte der Versicherung gehören in die Sprechaktklasse der Repräsentativa. Hier soll also mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht werden, dass Solon die von ihm geäußerten Worte für wahr hält. Er möchte seine Zuhörer davon überzeugen, dass Zeus und die unsterblichen Götter nicht zulassen werden, dass die Stadt jemals untergehen wird (epistemische Standard-Perlokution). Gleichsam stilisiert sich Solon durch den Sprechakt der Versicherung als Garant der Wahrheit und bringt sich somit gleich zu Beginn des Gedichtes als Autorität ins Spiel.151 Interessant ist in diesen einleitenden Versen zudem, dass Solon von ἡμετέρη πόλις spricht. Damit macht er schon mit den ersten beiden Wörtern des Gedichtes deutlich, was der zentrale Inhalt des Folgenden sein wird: Die Heimatpolis. Bedeutsam ist aber vor allem das prominent an den Anfang des Gedichtes gestellte ἡμετέρη. Hieran wird einerseits deutlich, dass Solon sich als Teil der Bürgerschaft Athens, also als Teil des Kollektivs begreift. Andererseits wird mit „unsere Stadt“ auch ein Besitzanspruch ausgedrückt. Solon macht deutlich, dass niemand anderem als den Athenern selbst die Stadt gehört. Damit will er eine Verbundenheit der Zuhörer zu ihrer Stadt und gleich-
149 Irwin 2005, 101 sieht hier zu Recht eine Parallele zu dem Gedichtanfang von Tyrtaios Fr. 2 D, wo ebenfalls eine Verbindung zwischen Zeus und der Heimatpolis hergestellt wird. 150 Fr. 4 W, V. 1–2: ἡμετέρη δὲ πόλις κατὰ μὲν Διὸς οὔποτ’ ὀλεῖται / αἶσαν καὶ μακάρων θεῶν φρένας ἀθανάτων· 151 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Sprechakt des Versicherns von Rolf 1997, 160.
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zeitig ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Stadt hervorrufen.152 Dieses Anliegen tritt im weiteren Verlauf des Gedichtes noch deutlicher hervor. Wie in den ersten beiden Versen, stellt Solon auch in den anschließenden Versen eine Verbindung zwischen der Heimatstadt und den Göttern her: Denn ebenso, mit großer Regung, Wächterin, Tochter des gewaltigen Vaters hält Pallas Athene ihre Hände darüber.153 (V. 3–4)
Auch hier vollzieht Solon einen Sprechakt der Versicherung. Durch die Versicherung, dass Athene ihre Hände schützend über die Stadt hält, will Solon noch einmal verdeutlichen, dass die Stadt durch die Götter keinesfalls Schaden nehmen wird. Nicht nur könne ganz allgemein auf den Schutz der Götter vertraut werden, sondern im Besonderen werde Athen, so die Versicherung Solons, zusätzlich durch seine Schutzgöttin Athene beschützt.154 Auch bei dieser Versicherung handelt es sich um einen repräsentativen Sprechakt. Die Zuhörer sollen Solon glauben. Er möchte, dass sie erkennen, dass Athene sie immer beschützten wird und sie insofern ganz grundsätzlich den Göttern vertrauen können. Diese Überzeugung bildet die Grundlage für die nun folgenden Äußerungen Solons, die in antithetischem Gegensatz zu den einleitenden Versen stehen: Hatte Solon den Zuhörern bis hierhin noch die Gunst der Götter versichert, beginnt er nun damit, im Gegensatz dazu das Verhalten der Menschen zu kritisieren:155 Selbst jedoch wollen sie lieber die mächtige Stadt durch ihr blindes Unvermögen vernichten, die Bewohner, weil sie dem Besitze gehorchen, und der Führer des Volkes rechtlose Gesinnung, […]156 (V. 5–7)
Solon erklärt seinen Zuhörern in diesen Versen, dass die ἀστοί die Stadt durch ihr blindes Unvermögen vernichten wollen, denn sie streben nach Besitz. Gleiches geschehe durch die rechtlose Gesinnung der Führer des Volkes, der ἡγεμόνες.157 Bei dieser Äußerung handelt es sich um Sprechakte der Beschuldigung. Solons primäre Intention ist es hier, zum Ausdruck zu bringen, dass er die Bürger und die Führer des Volkes für die
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Ähnlich Noussia-Fantuzzi 2010, 221; Mülke 2002, 93 und 102. Schubert 2012, 43 versteht ἡμετέρη als „integrativ-inklusiv“, womit Solon die widerstreitenden Interessen einzelner Gruppen vereine. Fr. 4 W, V. 3–4: τοίη γὰρ μεγάθυμος ἐπίσκοπος ὀβριμοπάτρη / Παλλὰς Ἀθηναίη χεῖρας ὕπερθεν ἔχει· Ähnlich Stahl 1992, 387; Siegmann 1975, 272 sieht in dem Namen der Göttin einen Beweis für ihre Schutzkraft: „Für einen Athener ist die Tatsache, daß Athene Athene heißt, gleichbedeutend damit, daß sie die Stadt, die ihren Namen trägt, schützt. Wäre es anders, hieße Athene eben nicht Athene. In der Namensgleichheit liegt also die Beweiskraft der Aussage. Der Untergang Athens wäre sozusagen gleichbedeutend mit dem Untergang Athenes – d. h.: undenkbar.“ Fränkel 1969, 594 nennt dies ein „Pendeln zwischen Gegensätzen“, was für die archaische Lyrik typisch sei. Vgl. auch Mülke 2002, 90–91; Henderson 1982, 27. Fr. 4 W, V. 5–7: αὐτοὶ δὲ φθείρειν μεγάλην πόλιν ἀφραδίηισιν / ἀστοὶ βούλονται χρήμασι πειθόμενοι / δήμου θ’ ἡγεμόνων ἄδικος νόος, […] Mülke 2002, 112 (unter Angabe weiterer Literatur) zeigt, dass die ἡγεμόνες ein weiteres Subjekt zu βούλονται sind, weil τε (V. 7) einen engen Anschluss an das vorher Gesagte nahelegt.
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Vernichtung der Stadt für verantwortlich hält. Gleichzeitig geht damit eine negative Bewertung einher. Illokutionsindikator für den Sprechakt der Beschuldigung ist dabei der Gebrauch des Verbes βούλονται. Damit unterstellt Solon den Gemeinten, dass sie vorsätzlich die Stadt vernichten wollen, um sich selbst zu bereichern. Mit ἀστοί ist dabei wohl die Gesamtheit der Bewohner der Polis gemeint,158 wohingegen es sich bei den ἡγεμόνες vielmehr um einen kleineren Kreis der Elite, der Führungsschicht innerhalb der Polis handelte.159 Durch die Erweiterungsprobe wird ersichtlich, dass hier noch weitere Illokutionen enthalten sind. Denn nicht nur beschuldigt Solon die ἀστοί und ἡγεμόνες dafür, dass sie die Stadt durch ihr Verhalten und ihre Gesinnung vernichten, sondern diffamiert die Bürger gleichsam ganz konkret für ihr Unvermögen (V. 5)160 und dafür, dass sie dem Besitz gehorchen würden (V. 6), die Führer des Volkes diffamiert er hingegen, indem er ihnen eine rechtlose Gesinnung (V. 7) unterstellt. An dieser Stelle soll der Unterschied zwischen einer Beschuldigung und einer Diffamierung noch einmal klar gemacht werden: Durch eine Beschuldigung soll vorrangig zum Ausdruck gebracht werden, dass der Sprecher es für wahr hält, dass der oder die Hörer oder eine dritte Person oder Personengruppe für eine Tat, die negativ bewertet wird, verantwortlich ist. Durch einen Sprechakt der Diffamierung wird hingegen gezielt eine gesellschaftliche Herabsetzung der betreffenden Person (oder Personengruppe) angestrebt.161 Weil Solon die Bürger und die Führer des Volkes für die Vernichtung der Stadt verantwortlich macht, kann hier grundsätzlich von einem Sprechakt der Beschuldigung ausgegangen werden. Weil er dabei jedoch gleichsam auch auf die moralisch verfehlten Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen der Beschuldigten eingeht und damit das Ansehen dieser Personengruppen entschieden herabsetzten will, liegen darüber hinaus gezielte Diffamierungen vor.162 Sowohl Beschuldigungen als auch Diffamierungen gehören dabei in die Sprechaktklasse der Expressiva, mit denen der Sprecher eine bestimmte psychische Einstellung 158
So etwa Noussia-Fantuzzi 2010, 225–226; Lahr 1992, 31; Stahl 1992, 388, Anm. 6; Manuwald 1989, 4; Mülke 2002, 108 mit weiterer Literatur, auch zu der veralteten Ansicht, es handle sich bei ἀστοί um eine Bezeichnung für Adel. Spahn 1977, 137 sieht in ihnen im Gegensatz zu der reichen Spitze und der „bäuerliche[n] Unterschicht“ eine unpolitische „breite Mittelschicht“. So auch Stein-Hölkeskamp 1997, 26. 159 So Noussia-Fanuzzi 2010, 228; Manuwald 1989, 4; Nagy 1985, 43 („catchword of ‚government‘“); Stahl 1992, 388; Adkins 1985, 114; Welwei 2005, 33. 160 Vgl. zum Motiv des Nicht-Wissens (hier V. 5: ἀφραδία) in der frühgriechischen Lyrik und seiner Funktion, die Rezipienten zum Handeln zu bewegen Föllinger 2007. 161 Vgl. Harras 2004, 297 zum Sprechakt der Beschuldigung und 305 zum Sprechakt der Diffamierung. 162 Diffamierungen richten sich nach Harras 2004, 305 gegen Personen, die von der Hörerschaft verschieden sind. Das bedeutet an dieser Stelle jedoch nicht, dass die Personen, die Solon hier verunglimpft, nicht auch beim Vortrag anwesend gewesen sein können. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Solon vor einer größeren Gruppe an Menschen aufgetreten ist und er sich mit seinen Diffamierungen dabei an je unterschiedliche Gruppen von Zuhörern gewandt hat. Auch West 1974, 12 glaubt, Solon „addressed different sections of the community in turn.“
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zu der in der Äußerung gemachten Proposition ausdrückt. Solon will also sein negatives Urteil gegenüber dem Handeln der Bewohner und der Führer des Volkes zum Ausdruck bringen. Sein Ziel ist es, damit auf die Emotionen seiner Adressaten einzuwirken (emotionale Standard-Perlokution). Durch die Anklage gegen die Bürger macht Solon deutlich, dass er die Wirren der Krise nicht als göttliche Strafe, sondern als Auswirkungen des menschlichen Fehlverhaltens ansieht. Er nimmt hier also die Menschen – und nicht die Götter – in die Verantwortung für den Untergang der Stadt.163 Durch die Verwendung von αὐτοὶ am Versanfang wird diese Verantwortung der Bürger deutlich betont. Die Kritik an den Mitbürgern ist dadurch umso größer, weil es offenbar gerade nicht der Wille der Götter ist, dass die Stadt zugrunde geht (wie Solon in den Versen 1–4 darlegt). Interessant ist dabei der Gegensatz zwischen der anfänglichen Versicherung, dass die Stadt dank der Götter nicht untergehen werde und der im weiteren Verlauf des Gedichtes auf die Menschen übertragenen Verantwortung des Wohlergehens ihrer Stadt. Blaise erkennt hierin zwei von Solon unterschiedlich definierte Bereiche, wobei in einem Bereich die Götter und in einem anderen Bereich die Menschen die Verantwortung tragen würden. Nach Blaise bestreitet das Gedicht nicht die Existenz der Götter, jedoch fehlten die Götter in einer Sphäre des politischen Handelns, in welcher die Menschen eine gewisse Autonomie haben. Insofern würde Athen zwar nicht untergehen – das göttliche Schicksal bewahrt die Polis davor – jedoch ernsthaften Schaden durch das Handeln der Menschen nehmen.164 Diesen Schaden, so die vorausgegangenen Beschuldigungen, erfährt die Stadt durch das Verhalten ihrer Bewohner. Dabei sind es insbesondere die Führer, die durch ihr rechtloses Schaffen den Polisfrieden gefährden. Deswegen geht Solon im weiteren Verlauf des Gedichtes dezidiert darauf ein, welche Folgen das verderbliche Handeln für die Schuldigen selbst hat. So fügt er an die vorausgegangene Beschuldigung an: […] denen bestimmt ist, infolge ihres großen Frevels der Schmerzen viele zu erdulden.165 (V. 7–8)
Solon behauptet hier, dass denen, οἷσιν, als Konsequenz ihres Verhaltens großer Schmerz, ἄλγεα πολλὰ, drohe. In der Forschung wird gemeinhin angenommen, dass mit οἷσιν die in V. 7 genannten Führer gemeint sind. Stahl erklärt, dass Solon keinen Zweifel daran lasse, „dass die Athener insgesamt von einer Ethik geprägt sind, die er in dieser extremen und einseitigen Zuspitzung für den entscheidenden und die Stadt ruinierenden Fehler hält, die allerdings erst durch das Handeln der Führer des Vol-
163
So auch Tsigarida 2006, 32–33; Stahl 1992, 387; Welwei 1992a, 151; Oliva 1988, 48–49; Murray 1982, 237; Fränkel 1969, 253. 164 Vgl. Blaise 2006, 125–126. Ähnlich Stahl 1992, 387–388. 165 Fr. 4 W, V. 7–8: […] οἷσιν ἑτοῖμον / ὕβριος ἐκ μεγάλης ἄλγεα πολλὰ παθεῖν·
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kes, δήμου ἡγεμόνες (V. 7), ihre verheerende Wirkung entfaltet.“166 Aus sprechakttheoretischer Sicht handelt es sich in den Versen 7–8 demnach um einen Sprechakt der Warnung, der sich an die Führer richtet. Solon warnt davor, dass die ἡγεμόνες viel Leid werden erdulden müssen. Die Erweiterungsprobe macht darüber hinaus sichtbar, dass hier auch ein illokutionärer Akt der Diffamierung vorliegt, wenn Solon noch einmal erwähnt, dass die Führer der ὕβρις (V. 8) erlegen seien.167 Zudem wird der Sprechakt der Warnung auch durch die Behauptung gestützt, dass die Verantwortlichen der Schmerzen viele, ἄλγεα πολλά, werden erleiden müssen. Auch die nun folgenden Verse der Elegie beziehen sich auf das Verhalten der ἡγεμόνες.168 Dezidiert zählt Solon auf, worin die Hybris der ἡγεμόνες genau besteht: Denn sie kennen kein Genug und verstehen sich nicht darauf, die vorhandenen Festfreuden zu ordnen in der Ruhe des Festmahls169 (V. 9–10)
Solon erklärt hier, die ἡγεμόνες wären maßlos und verständen es nicht, sich beim Festmahl zu zügeln. Weil sich Solons Kritik erneut gegen die Charaktereigenschaften und die unmoralischen Verhaltensweisen der Führer richtet, handelt es sich auch hier um Sprechakte der Diffamierung. Stahl vermutet dabei zu Recht, dass Solons Kritik am Verhalten der Aristokraten bei dem Festmahl sinnbildlich für das Verhalten in der Gemeinschaft steht: Wer die Regeln des gemeinsamen Mahles (Stahl spricht von Symposion) verletze, zerstöre auch das Zusammenleben in der Gemeinschaft.170 Auch in den folgenden Versen prangert Solon das Unrecht der Führer an: Sie sind reich, weil sie rechtlosen Werken gehorchen *** weder der Götter Güter noch erst recht die des Volkes schonend stehlen sie wegraffend, ein jeder anderswoher, und nicht beachten sie Dikes heilige Grundsteine,171 (V. 11–14)
166 Stahl 1992, 388. Vgl. auch Fr. 11 W, in welchem Solon den Demos des Mitläufertums beschuldigt. 167 Herrmann 2014, 72 versteht den Ausdruck „Hybris“ in den Quellen der Archaik, wenn er das Handeln von Menschen beschreibt, immer als Anklage. 168 Dass der folgende Abschnitt sich auf die das Verhalten der ἡγεμόνες bezieht, glauben Noussia-Fantuzzi 2010, 225 u. 228; Mülke 2002, 90; Stahl 1992, 390; Henderson 1982, 27; Römisch 1933, 39. Anders Manuwald 1989, 4, der Bürger und ihre Führer gleichermaßen angesprochen sieht. 169 Fr. 4 W, V. 9–10: οὐ γὰρ ἐπίστανται κατέχειν κόρον οὐδὲ παρούσας / εὐφροσύνας κοσμεῖν δαιτὸς ἐν ἡσυχί 170 Vgl. Stahl 1992, 389. Ähnlich Noussia-Fantuzzi, 231–232 mit Verweis auf Levine 1985, 176–196: Levine konnte anhand der Dichtung der Theognidea zeigen, dass das Symposion bei Theognis den Mikrokosmos der Polis darstellt: Das gut organisierte Symposion entspricht einer gut organisierten Polis. Anders Anhalt 1993, 81–82. 171 Fr. 4 W, V. 11–14: / πλουτέουσιν δ’ ἀδίκοις ἔργμασι πειθόμενοι / *** / οὔθ’ ἱερῶν κτεάνων οὔτε τι δημοσίων / φειδόμενοι κλέπτουσιν ἀφαρπαγῆι ἄλλοθεν ἄλλος, / οὐδὲ φυλάσσονται σεμνὰ Δίκης θέμεθλα
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Solon von Athen
Erneut diffamiert Solon die ἡγεμόνες indem er erklärt, dass sie rechtlosen Werken, ἀδίκοις ἔργμασι (V. 11), gehorchen würden. Wieder handelt es sich also um einen Sprechakt der Diffamierung. In den Versen 12, 13 und 14 wird Solon konkreter: Ohne jede Rücksicht würden sich die Reichen an den Gütern der Götter und des Volkes vergreifen und würden, wo sie könnten, alles wegraffen. Sie würden sogar Dike, die Personifikation der Gerechtigkeit, missachten. Diese letzte Kritik wiegt besonders schwer, weil dadurch die θέμεθλα (V. 14), das heißt die Regeln der menschlichen Gemeinschaft, missachtet werden. Stahl bringt den Aussagegehalt dieser Diffamierungen auf den Punkt: „Die Untertanen der δήμου ἡγεμόνες vernichten die herkömmliche Ordnung der Gemeinde und schänden dadurch die Göttin Dike.“172 Bei Hesiod ist Dike die Tochter des Zeus und der Themis und Schwester von Eunomia und Eirene.173 Damit ist sie Teil der Dreiheit der guten staatlichen Ordnung. Solon verweist somit an dieser Stelle das erste Mal indirekt darauf, dass die Eunomia, die gute Ordnung, gestört ist. Insgesamt liegen also drei Sprechakte der Diffamierung vor. Erneut drückt Solon hier seine psychische Einstellung zu dem Fehlverhalten der ἡγεμόνες aus und möchte damit Einfluss auf die Emotionen seiner Zuhörer ausüben (emotionale Standard-Perlokution). Mülke vermutet, dass Solon hier die drängendsten Probleme der gegenwärtigen Lage benennt und damit auf die größte Überzeugungskraft, die πειθώ, bei seinen Zuhörern abzielt.174 Das ist schlüssig, weil es Solons primäres Ziel ist, seine Zuhörer durch die in V. 7–8 vollzogene Warnung davon zu überzeugen, dass den Frevlern großer Schmerz droht und insofern implizit dazu motivieren will, das frevelhafte Verhalten zu unterlassen. Durch die Aufzählung des Fehlverhaltens, also die expressiven Sprechakte der Diffamierung, wird Solons primäre Intention gestützt: „Wer einen Vorwurf erhebt, möchte verhindern, daß sich wiederholt, was Anlaß zu dem Vorwurf gegeben hat.“175 Bis hierhin kann die Eunomia-Elegie, dies zeigt die Wahl der bisher untersuchten Sprechakte, in zwei Abschnitte eingeteilt werden:176 Im ersten Abschnitt (V. 1–4) geht es Solon darum, die Leute davon zu überzeugen, dass die Stadt dank der Götter niemals untergehen werde (repräsentative Sprechakte). Im zweiten Gedichtabschnitt (V. 5–14) diffamiert Solon das habsüchtige Verhalten der ἡγεμόνες (expressive Sprechakte). Dieses Verhalten ist für ihn der Grund dafür, dass Athen sich in einer tiefen inneren Krise befindet, in welcher ein großes Ungleichgewicht zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen herrscht und das die Gesellschaft Athens an den Rand des Abgrundes drängt. 172 173 174 175 176
Stahl 1992, 390. Hes. theog. 901–903. Zu den Hesiodschen Anklängen in Solons Eunomia vgl. etwa Mülke 2002, 94; Manuwaldt 1989; Jaeger 1926. Vgl. Mülke 2002, 90. Rolf 1997, 239. Einteilungen in gedankliche Abschnitte der Eunomia finden sich auch bei Noussia-Fantuzzi 2010, 217–218; Mülke 2002, 89–90; Stahl 1992, 388–394; Manuwald 1989, 4.
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Nun folgt ein dritter gedanklicher Abschnitt, in welchem Solon wieder auf die göttliche Sphäre Bezug nimmt, indem er darlegt, wie Dike auf das menschliche Fehlverhalten reagieren wird:177 die (Dike, Anm. AvdD) es schweigend miterlebt hat und weiß, das, was geschieht, und das, was vorher war, und die mit der Zeit in jedem Fall kommt, um dafür zu strafen;178 (V. 15–16)
Im Unterschied zu den vorausgegangenen Sprechakten vollzieht Solon in V. 15 einen Sprechakt der Behauptung. Er behauptet, dass Dike all diese Schandtaten der Menschen schweigend, das heißt „allen menschlichen Sinnen unzugänglich“179 miterlebt habe und alles zu jeder Zeit sehe. So wie Solon zu Beginn der Elegie versichert hat, dass Athene die Polis beschützt, behauptet er nun, dass Dike allwissend sei. Nachdem Solon in den vorausgegangenen Versen, in denen er die Schandtaten der Menschen anprangerte, expressive Sprechakte vollzog, vollzieht er in Bezug auf eine Gottheit (erneut) repräsentative Sprechakte, mit denen er sich auf eine bestimmte Wahrheit festlegt und seine Zuhörer von dem Gesagten überzeugen möchte (epistemische Standard-Perlokution). Dabei dient die über die allwissende Dike aufgestellte Behauptung dazu, den Sprechakt des folgenden Verses zu stützen, der den Versabschnitt dominiert: Die Warnung davor, dass Dike, die Allwissende, kommen wird, um die Menschen für ihre Vergehen zu bestrafen. Henderson weist darauf hin, dass dabei durch die Verwendung des generischen Aorists ἦλθε eine Zeitlosigkeit ausgedrückt werde, wodurch Solon das Bild eines „ever-present view of Justice“180 aufwerfe. Dass Dike kommen werde, sei gewiss. Wann sie jedoch kommt, sei ungewiss.181 Damit greift Solon die bereits in V. 7–8 formulierte Warnung vor der Strafe des Fehlverhaltens auf. Welche Folgen das Fehlverhalten der ἡγεμόνες für die Gemeinschaft hat, wird in den nun folgenden Versen der Eunomia-Elegie expliziert: dies kommt nunmehr über die ganze Stadt als eine Wunde, eine unausweichliche und schnell gerät sie da in schlimme Knechtschaft, die Zwist in der Gemeinschaft und Krieg, den schlafenden, aufweckt, der dann die liebliche Jugend vieler vernichtet;182 (V. 17–20)
177 178
Vgl. Blaise 2006, 116. Ähnlich Stahl 1992, 390–391. Fr. 4 W, V. 15–16: ἣ σιγῶσα σύνοιδε τὰ γιγνόμενα πρό τ’ ἐόντα, / τῶι δὲ χρόνωι πάντως ἦλθ’ ἀποτεισομένη· 179 Mülke 2002, 122. 180 Henderson 1982, 27–28. Zum gnomischen Aorist vgl. auch Mülke 2002, 124; Manuwald 1989, 5 versteht den gnomischen Aoristen als Ausdruck von etwas, das „erfahrungsgemäß“ passiert. 181 Vgl. ebd., 5. 182 Fr. 4 W, V. 17–20: τοῦτ’ ἤδη πάσηι πόλει ἔρχεται ἕλκος ἄφυκτον, / ἐς δὲ κακὴν ταχέως ἤλυθε δουλοσύνην, / ἣ στάσιν ἔμφυλον πόλεμόν θ’ εὕδοντ’ ἐπεγείρει, / ὃς πολλῶν ἐρατὴν ὤλεσεν ἡλικίην·
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In diesem Abschnitt des Gedichtes stellt Solon die Behauptung auf, dass dies, τοῦτο, wie eine unausweichliche Wunde die ganze Stadt in tiefe Knechtschaft reiße. Daraus, so behauptet Solon weiter, entstehe Bürgerkrieg, der dann die liebliche Jugend Vieler verderbe. Ob sich τοῦτο (V. 17) dabei auf Dikes zukünftige Strafe bezieht oder aber auf das in den Versen 5–14 beschriebene Fehlverhalten der ἡγεμόνες, ist eine philologisch umstrittene Frage, die keine eindeutige Lösung zulässt.183 Damit einher geht die Frage, ob Solon in den Versen 17–20 (und dann im weiteren Verlauf des Gedichtes bis V. 29) einen bereits eingetretenen Zustand in Athen beschreibt oder aber von einem unmittelbar bevorstehenden Unglück spricht.184 Vieles spricht dafür, dass hier ein bereits existierender Zustand dargestellt wird, wie er etwa auch in der Athenaion Politeia beschrieben wird.185 Nur aus einer solchen Situation heraus, die hier zudem auffällig konkret von Solon beschrieben wird, ist denn auch erklärlich, warum Solon mit seiner Eunomia-Elegie überhaupt das Wort ergreift. Trotzdem gehen die in diesen Versen gemachten Äußerungen aus performativer Sicht über eine reine Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes hinaus. Denn Solon betrachtet, wie Mülke richtig anmerkt, das Unglück der Polis Athen als noch revidierbar, ansonsten würde er nicht am Schluss des Gedichtes die gute Ordnung, die Eunomia, propagieren.186 Noussia-Fantuzzi bietet in dieser Hinsicht eine plausible Erklärung, die die schwierig zu rekonstruierenden Zeitdimensionen des Gedichtes erhellen kann. Dabei bezieht sie sich auf V. 17: „Nevertheless Solons’s present tense ἔρχεται, with the help of ἤδη, is intended to figuratively descripe this future as a result of a process that is already in progress […].“187 Aus sprechakttheoretischer Sicht handelt es sich, Noussia-Fantuzzi folgend, hier demnach um Sprechakte der Warnung. Solon warnt vor δουλόσύνη, στάσις und πόλεμος, jedoch – so lassen sich die unklaren Zeitverhältnisse am stimmigsten in Einklang bringen – basieren diese Warnungen auf einer bereits „allen Zuhörern zugänglichen Erfahrung“.188 Das heißt, dass Solon hier durch die Darstellung des bereits (wahr-
183
Dass hier die Strafe Dikes gemeint ist, glauben etwa Irwin 2005, 96–97; Mülke 2002, 125–129; Siegmann 1975, 277; Römisch 1933, 39; Jaeger 1926, 79. Dass hier vielmehr auf die direkten Konsequenzen des frevelhaften Verhaltens Bezug genommen wird, glauben hingegen Stahl 1992, 391–392; Manuwald 1989, 5–7; Noussia-Fantuzzi 2010, 244–245 hält beide Varianten für denkbar. 184 Für eine tiefere Auseinandersetzung mit dieser aus philologischer Perspektive kaum lösbaren Frage vgl. Noussia-Fantuzzi 2010, 242–256; Mülke 2002, 126–145. 185 Ein Argument dafür wäre der Bezug auf δουλοσύνη (V. 18), womit möglicherweise die Schuldknechtschaft gemeint ist, auf die Solon wohl auch in den Versen 24–25 Bezug nimmt, vgl. Manuwald 1989, 5–6; Römisch 1933, 39. Teilweise wird in δουλοσύνη hingegen auch eine Tyrannis gesehen, vgl. etwa Mülke 2002, 131; Anhalt 1993, 103; Stahl 1992, 392–393. Irwin 2005, 98 versteht unter δουλοσύνη hingegen eine metaphorische Beschreibung für die versklavte Bürgerschaft. 186 Vgl. Mülke 2002, 128. Ähnlich Herrmann 2014, 73. 187 Noussia-Fantuzzi 2010, 243. 188 Mülke 2002, 128.
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scheinlich schon im Ansatz) vorherrschenden Zustandes gleichsam eine Warnung vor der Zukunft unter diesen Umständen ausspricht.189 Dabei ist entscheidend, dass die Wunde die ganze Stadt, πᾶσα πόλις, betrifft und nicht allein diejenigen, die maßgeblich für den Zustand verantwortlich sind.190 Die Warnung richtet sich hier also nicht nur an die Führer, die für ihre Vergehen eines Tages von Dike bestraft werden (V. 16), sondern an die Polis, die als Kollektiv durch die Taten gefährdet ist (wie auch im weiteren Verlauf des Gedichtes deutlich wird, wenn Solon davor warnt, dass das Volksübel in das Haus eines jeden komme (V. 26)). Auch in V. 18 vollzieht Solon demnach einen Sprechakt der Warnung. Er führt nun aus, was genau er unter der eben genannten Wunde, die die gesamte Stadt befällt, versteht: Die Stadt werde in schlimme Knechtschaft, δουλοσύνη, geraten. Und auch in den Versen 19 und 20 liegen zwei Sprechakte der Warnung vor, weil Solon hier als Konsequenz der Knechtschaft zum einen davor warnt, dass Zwist und Bürgerkrieg entstehen,191 und zum anderen davor warnt, dass dies die liebliche Jugend vieler Bewohner vernichten werde. Die Erweiterungsprobe zeigt dabei, dass Solon die hier vollzogenen Warnungen durch verschiedene illokutionäre Akte der Behauptung stützt. So behauptet er, dass die Wunde, die die Stadt befällt, ἄφυκτον sei. Die Knechtschaft (ob Schuldknechtschaft oder Tyrannis) sei κακή und die Jugend, die vernichtet wird, sei besonders ἐρατή. All diese Behauptungen dienen dazu, den Zustand, vor dem Solon hier warnt, besonders schmerzlich erscheinen zu lassen. Damit unterstützen sie den primären kommunikativen Zweck der Verse, der darin besteht, deutlich zu machen, dass das frevelhafte Verhalten eine Verschlimmerung der Zustände der Stadt zur Folge haben wird (epistemische Standard-Perlokution einer Warnung) und dass dieses Verhalten deswegen unterlassen werden müsse (motivationale Standard-Perlokution einer Warnung). In den folgenden Versen beschreibt Solon, wie es zu diesen Zuständen kommen kann: Denn unter den Händen der Feinde wird schnell die vielgeliebte Stadt aufgezehrt in Zusammenkünften denen, die ihren eigenen Leuten Unrecht tun.192 (V. 21–22)
189
Vergleichbar ist dies etwa mit dem heutigen Sprechen über den Klimawandel: Ein bereits existierendes Problem wird immer wieder thematisiert, um vor einer noch bedrohlicheren Zukunft zu warnen (und damit dazu aufzurufen, sein Verhalten zu einem Besseren zu verändern). 190 Vgl. Irwin 2005, 108; Mülke 2002, 129–130; Stahl 1992, 392 mit Anm. 21. 191 Hiermit ist wahrscheinlich nur ein interner Krieg gemeint. Irwin 2005, 97–98 glaubt, dass στάσις und πόλεμος den gleichen Zustand meinen. Ähnlich Noussia-Fantuzzi 2010, 248; Mülke 2002, 133 expliziert, dass mit στάσις im 6. Jh. v. Chr. immer Auseinandersetzungen innerhalb des Adels gemeint war. Stahl 1992, 393 schließt einen externen Krieg hingegen nicht gänzlich aus. 192 Fr. 4 W, V. 20–21: ἐκ γὰρ δυσμενέων ταχέως πολυήρατον ἄστυ / τρύχεται ἐν συνόδοις τοῖς ἀδικέουσι φίλους.
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Unter der oben begründeten Annahme, dass Solon weiterhin von einem noch nicht endgültig eingetretenen Zustand spricht, soll auch hier in sprechakttheoretischer Hinsicht angenommen werden, dass es Solons primäre Intention ist, davor zu Warnen, dass die vielgeliebte Stadt unter den Händen der Feinde in privaten Zusammenkünften aufgezehrt werde.193 Der durch die Erweiterungsprobe sichtbar werdende und ebenfalls in der Äußerung vorliegende illokutionäre Akt der Behauptung, dass die Stadt πολυήρατος sei, stützt dabei den Sprechakt der Warnung, weil er die Angst an der Zerstörung der geliebten Stadt, die mit der Warnung einhergeht, verstärkt. Ebenso die Verwendung von ταχέως.194 Was genau Solon dabei mit τρύχεται meint und wer hier in welcher Form zusammenkommt (ἐν σύνοδοι), ist jedoch unklar. Mülke plädiert aufgrund der Unkenntnis über die inneren Strukturen und Diskursformen sozialer Gruppen und politischer Institutionen zur Zeit Solons für eine vorsichtige Interpretation und nimmt an, dass es sich hier um „Versammlungen jeder Art auf politischer oder sozialer Ebene [handelt], in denen das Geschick der Polis beeinflußt wird, unabhängig von ihrem Öffentlichkeitscharakter.“195 Weil sich die Verse 21–22 jedoch wahrscheinlich auf die in V. 19 genannte στάσις und den ἔμφυλος πόλεμός beziehen und weil Solon eingangs das Verhalten der ἡγεμόνες diffamiert hat und, worauf Noussia-Fantuzzi hinweist, schon in V. 9 auf das schlechte Verhalten beim Festmahl eingegangen ist, ist es eher wahrscheinlich, dass es sich hier um private aristokratische Zusammenkünfte handelt „where the members of the politial factions used to gather“, ähnlich einem Symposion.196 Solon warnt also vor einer Gruppe von Menschen, vermutlich ein exklusiver Kreis der besitzenden Schicht, die sich in internen Zusammenkünften trifft, um ihre Machtinteressen durchzusetzen und dabei die Stadt zugrunde richtet. Nachdem Solon in seiner Eunomia-Elegie die Frevler beschuldigt und diffamiert hat und vor den Folgen ihres Handelns gewarnt hat, fügt er an:
193
Bei den Feinden handelt es sich nicht im äußere, sondern um innere Feinde, wie Mülke 2002, 135 schlüssig darlegt. 194 Dennoch wird hier die Schwierigkeit der Zeitverhältnisse noch einmal deutlich: Die konkrete Darstellung des zerstörerischen Zusammenkommens feindlich gesinnter Gruppierungen lässt vermuten, dass diese Treffen in Athen zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages bereits praktiziert wurden. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass es gleichsam Solons kommunikative Intention ist, die Teilnehmer dieser Treffen, die δυσμενέες, zu kritisieren und sie dafür zu diffamieren, dass sie ihren eigenen Leuten Unrecht tun. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Solon seine Äußerungen auf Grundlage bereits gemachter Erfahrungen vollzieht, soll deswegen davon ausgegangen werden, dass hier der Sprechakt der Warnung vorliegt. Nichtsdestoweniger impliziert die Warnung eine Beschuldigung (für die vorherrschende Praxis der Zerstörung der Stadt) und eine Diffamierung (in Bezug auf das unrechte Verhalten gegenüber den eigenen Leuten). 195 Mülke 2002, 138. 196 Vgl. Noussia 2010, 251. Vgl. auch Stahl 1992, 393. Herrmann 2014, 233 plädiert dafür, dass sich alle Bürger (also nicht allein der Adel) in einer feindlichen Grundhaltung befanden und sich in verschiedenen Faktionen gegenüberstanden.
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Das sind die Übel, die in der Gemeinde umherziehen; von den Armen aber kommen viele in ein fremdes Land, verkauft und in Fesseln, schimpfliche, gebunden197 (V. 23–25)
Hier behauptet Solon, dass das die Übel sind, die in der Gemeinde umherziehen. Daraufhin spezifiziert er dies und behauptet, dass von den Armen viele in ein fremdes Land kommen, und zwar in Fesseln gebunden. Aus den gleichen Gründen wie oben, soll auch hier davon ausgegangen werden, dass Solon auf Grundlage bereits sich vollziehender Praktiken vor der äußersten Konsequenz dieses Verhaltens warnt. Solon warnt davor, dass die Übel in der ganzen Polis, dem Demos, umherziehen.198 Diese ist also als Kollektiv getroffen. Inwiefern gerade die Armen innerhalb des Demos darunter zu leiden hatten, veranschaulicht Solon in den folgenden Versen. Die Folge des menschgemachten Übels, davor warnt Solon weiter, war also der (sich fortführende) Verkauf von verarmten Bürgern in die Fremde. Wie bereits Stahl postulierte, warnt Solon hier vor der „äußersten Konsequenz, zu der die soziale Krise der Bauernschaft führen konnte.“199 Möglich ist, dass hier die Schuldknechtschaft, in die viele Bauern gegenüber ihren Gläubigern gerieten,200 angesprochen ist, der Solon später durch seine Seisachtheia ein Ende bereitete.201 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Verkauf von Armen in fremde Länder auf die Auswirkung einer Tyrannis zurückgehen.202 Wie schon mehrfach deutlich wurde, können auch hier keine konkreten historischen Ereignisse anhand der Verse Solons rekonstruiert werden. Dazu verbleiben seine Ausführungen in der Eunomia-Elegie auf einem zu oberflächlichen und allgemeinen Niveau.203 Dies hindert jedoch nicht daran, die vorhandenen Sprechakte innerhalb der Verse sichtbar zu machen und zu deuten: Dass es sich hier um Sprechakte der Warnung vor dem Verkauf der Armen ins Ausland handelt, gilt unabhängig von der genauen Ursache des Verkaufes. Mülke weist zudem darauf hin, dass die Verse ihre emotionale Note insbesondere aufgrund der engen Beziehung des archaischen Individuums zu seinem οἶκος erhalten würden, weil eine Trennung vom οἶκος besonders schmerzhaft sei.204 Die in den Versen ebenfalls vorliegende und durch die Er197 198 199 200 201 202 203 204
Fr. 4 W, V. 23–25: ταῦτα μὲν ἐν δήμωι στρέφεται κακά·τῶν δὲ πενιχρῶν / ἱκνέονται πολλοὶ γαῖαν ἐς ἀλλοδαπὴν / πραθέντες δεσμοῖσί τ’ ἀεικελίοισι δεθέντες Mülke 2002, 140 und Noussia-Fantuzzi, 252 sprechen sich dafür aus, dass mit „ἐν δήμωι“ nicht „Land“ (was Adkins 1985, 120 nicht ausschließt), sondern „in der Gemeinde“ (Mülke), „the global citizen community“ / „among the people“ (Noussia-Fantuzzi) gemeint ist. Stahl 1992, 393. Stahl sieht im Übrigen darin zudem die physische Existenz der Polis in Gefahr, weil die Bürgerschaft dadurch dezimiert werde. Vgl. auch Sol. Fr. 36 W. Manuwald 1989, 6; Römisch 1933, 39; Jaeger 1926, 330. Wie bereits oben angemerkt, ist möglich, dass δουλοσύνη (V. 18) damit gemeint ist. Vgl. Mülke 2002, 141; Anhalt 1993, 103; Welwei 2005, 33. Dagegen jedoch Noussia-Fantuzzi 2010, 253. Vgl. Herrmann 2014, 232. Vgl. Mülke 2002, 141.
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weiterungsprobe sichtbar werdende Behauptung, dass die Fesseln der Knechtschaft ἀεικέλιοι seien, stärkt dabei die von Solon vollzogene Warnung. Solon warnt zunächst also die Schuldigen selbst vor ihrer Strafe (V. 16), kommt dann auf die allgemeinen Folgen des frevelhaften Handelns der Bürger und Führer für die Polis zu sprechen (V. 17–20) und expliziert die äußerste Konsequenz für den am schlimmsten betroffenen Teil der Gemeinschaft (V. 24–25). Dabei waren jedoch keinesfalls alle ἀστοὶ Athens in Unfreiheit geraten. Dennoch betrifft das Volksübel im Endeffekt jeden Einzelnen.205 Es dringt sogar in den privatesten Lebensbereich der Bewohner („an der Basis seiner gesellschaftlichen Existenz überhaupt“206), den οἰκός, ein, wie Solon in den folgenden Versen veranschaulicht:207 Und so kommt das Volksübel ins Haus einem jeden, es aufzuhalten ist nicht mehr willens das Hoftor, über die hohe Umfriedung springt es und findet ihn in jedem Fall, wenn auch einer flüchtend im Winkel des Schlafgemachs steckt.208 (V. 26–29)
Auch in diesen Versen finden sich Sprechakte der Warnung: Das Volksübel, so versichert Solon, komme ins Haus eines jeden (V. 26) und das Hoftor sei nicht in der Lage, es aufzuhalten (V. 27). Solon behauptet, dass das Übel selbst die hohe Umfriedung überwinde (V. 28) und jeden einzelnen Bürger, auch wenn er sich noch so gut zu verstecken suche, finden würde (V. 29).209 Dass Solon hier jedoch keine allgemeinen Versicherungen und Behauptungen macht, sondern spezifische Warnungen ausspricht, zeigt sich auch daran, dass er sich hier, wie Mülke anmerkt, auf die konkrete Lebensrealität seiner Zuhörer, ihren οἶκος, bezieht.210 Damit stimmt Solon seine Worte bewusst auf seine Zuhörerschaft ab. Es wird insofern deutlich, dass Solon intendierte, die
205 Schon in V. 17 wird darauf mit dem Hinweis auf die Folgen für die πᾶςα πόλις verwiesen. Spahn 1977, 136 weist darauf hin, dass hier die neue Erkenntnis Solons aufscheine: „Grundsätzlich meint er (wie mit den ‚astoi‘) jeden, den es angeht – und daß es jeden angeht, ist ja gerade Solons neue Erkenntnis.“ 206 Stahl 1992, 394. 207 Bis hierhin sieht ebd., 192 in der Gedankenfolge der Eunomia – Die Krise als Verantwortungsbereich der Menschen, die zwangsläufige Entstehung von Unordnung (Dysnomia) und die Bestrafung der Bürger in ihrer Gesamtheit – den Beginn des politischen Denkens bei den Griechen. Vgl. auch Meier 1969, 543–544. 208 Fr. 4 W, V. 26–29: οὕτω δημόσιον κακὸν ἔρχεται οἴκαδ’ ἑκάστωι, / αὔλειοι δ’ ἔτ’ ἔχειν οὐκ ἐθέλουσι θύραι, / ὑψηλὸν δ’ ὑπὲρ ἕρκος ὑπέρθορεν, εὗρε δὲ πάντως, / εἰ καί τις φεύγων ἐν μυχῶι ἦι θαλάμου. 209 Die Verse weisen homerischen Charakter auf, weswegen Mülke 2002, 142 an dieser Stelle darauf hinweist, dass „zu Solons Zeit der epischen Sprache bei bestimmten Gelegenheiten eine besonders hohe kommunikative Kraft zugebilligt wurde.“ Anhalt 1993, 108–110 sieht hier einen konkreten Bezug zu homerischen Haushalten. 210 Mülke 2002, 142–143. Vgl. auch Stahl 1992, 394, Anm. 25. Diese Strategie beschreibt auch Noussia-Fantuzzi 2010, 255, allerdings unter der Annahme, dass Solons Zuhörer Aristokraten waren: „The emphasis on architectural details reminds the aristocratic members of Solon’s audience of their own concrete οἶκος, and thus of the vulnerability of their private sphere as individuals;“
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Zuhörer in Alarmbereitschaft zu versetzten und es sich deswegen hier um Sprechakte der Warnung handelt. Zum einen möchte Solon den Zuhörern damit verdeutlichen, dass er glaubt, dass das, was er beschreibt, mit Sicherheit eintreten wird (epistemische Standard-Perlokution einer Warnung), gleichzeitig aber auch damit impliziert, die Zuhörer zur Vermeidung des angedrohten Zustandes zum Handeln zu bewegen (motivationale Standard-Perlokution einer Warnung). Durch die Erweiterungsprobe wird ersichtlich, dass Solon in V. 28 auch die Behauptung aufstellt, dass die Umfriedung ὑψηλόν sei. Die Behauptung stützt dabei die Warnung, weil sie verdeutlicht, wie unaufhaltsam das Übel ist. Die Dringlichkeit, die mit den Warnungen einhergeht, erkennt Meier dabei auch in dem von Solon eingebrachten Aspekt der Geschwindigkeit des Prozesses, der „davoneilenden (und grade noch zu fassenden) Zeit“.211 Die hohe Anzahl an Sprechakten der Warnung innerhalb der Solonischen Eunomia-Elegie ist auffällig. Die primäre Intention Solons war es bis zu diesem Punkt des Gedichtes also, der athenischen Zuhörerschaft vor Augen zu führen, welche Konsequenzen das verurteilungswürdige Verhalten besitzhungriger ἀστοὶ und ἡγεμόνες für die Polis als Ganzes haben wird (und sie gleichsam damit zum Handeln zu bringen). Eben dieses Ziel nennt Solon denn auch reflektierend im folgenden Vers selbst: Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung, wie die größten Übel der Stadt Mißordnung bringt.212 (V. 30–31)
Diese beiden Verse werden oft als „Gelenkverse“213 oder als der „Angelpunkt“214 des Gedichtes bezeichnet, weil mit ihnen die vorausgegangenen Inhalte des Gedichtes zusammengefasst und der darauffolgende, entscheidende Teil des Gedichtes vorbereitet wird. Solon vollzieht hier einen implizit performativen Sprechakt der Behauptung. Er behauptet, dass er den Athenern ταῦτα, das heißt den in den Versen 5–29 dargestellten Zusammenhang zwischen Fehlverhalten und Konsequenz, lehren müsse.215 In Vers 31 macht Solon den Inhalt dieser Lehre dabei noch einmal explizit und gebraucht erstmals den Begriff Dysnomia (welchem er danach die Eunomia als positives Modell gegenüberstellt). Mit dem repräsentativen Sprechakt der Behauptung möchte Solon die Zuhörer davon überzeugen, dass der Inhalt seiner Äußerung der
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Vgl. Meier 2009, 264. Fr. 4 W, V. 30–31: ταῦτα διδάξαι θυμὸς Ἀθηναίους με κελεύει, / ὡς κακὰ πλεῖστα πόλει Δυσνομίη παρέχει· 213 Mülke 2002, 145. 214 Stahl 1992, 395. 215 Die Tatsache, dass Solon die Zuhörer belehren möchte, kann die Annahme unterstützen, dass Solon in den vorausgehenden Versen primär Sprechakte der Warnung vollzieht, mit denen er ein zukünftiges Schreckensszenario vor den Augen der Zuhörer entstehen lassen will. Denn wer belehrt, möchte seinem Gegenüber meist etwas beibringen oder verständlich machen, was dieser noch nicht kennt.
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Wahrheit entspricht. Damit will er gleichsam die Wichtigkeit seiner Lehre betonen.216 Die Verwendung des Begriffs θυμός, den Mülke mit „drängende Regung“217 übersetzt, hilft ihm dabei, seine Behauptung zu stützen. Solon will damit sagen, dass ihm gar keine andere Wahl gelassen werde, als seinen Zuhörern diese Lehren zu vermitteln. Noussia-Fantuzzi erkennt richtig, dass Solon hiermit Objektivität schaffen will: „In any case, this phrase, which allows Solon to present his advice not as his own initiative, but as an inner command to which Solon himself has to submit, reduces the impression of subjectiveness in Solon’s advice.“218 Gleichzeitig präsentiert sich Solon hier, wie schon an anderer Stelle des Gedichtes, als geistige Autorität, da er, anders als seine Zuhörer, die genannten Erkenntnisse zu besitzen vorgibt, seine Zuhörer hingegen darüber noch aufgeklärt werden müssen.219 Dabei beruft sich Solon nicht auf eine göttliche Offenbarung, sondern, wie Stahl richtig anmerkt, stützt sich auf seine eigenen Erkenntnisse: „Niemand anderes als die Person Solon spricht hier, und sie spricht nur für sich selbst.“220 Nicht ganz zu Unrecht hält Jaeger Vers 30 deswegen für den „Höhepunkt des Gedichtes“.221 An diesen beiden Versen zeigt sich deutlich der performative Charakter des Eunomia- Gedichtes. Solon sagt hier selbst, dass er die Athener mit seinen Worten belehren (διδάσκω) wolle. Das Ziel der Lehre Solons ist es, eine Veränderung des Verhaltens bei seinen Mitbürgern zu erreichen.222 Er versteht hier also Sprache als Form des Handelns. Insofern können auch die folgenden Verse, die die letzte Einheit des Eunomia-Gedichtes darstellen, nicht nur als die Beschreibung eines erstrebenswerten Zustanden gelesen, sondern als indirekte Handlungsanweisung verstanden werden: Wohlordnung jedoch bringt alles klar gut geordnet und passend heraus, und dicht an dicht legt sie den Ungerechten Fußfesseln um. Rauhes glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, und dörrt der Blindheit Blüten, die sprossenden, aus. Gerade richtet sie die Rechtssprüche, die krummen, und hochfahrende Werke besänftigt sie; sie endet die Werke der Zwietracht, 216
Henderson 1982, 29 erkennt in Vers 30 den deutlichsten Beweis für das persönliches Anliegen, das Solon in Bezug auf Athen und Attika durchgängig im Eunomia-Gedicht erkennen lässt. 217 Vgl. zur Bedeutung des Wortes von Homer bis Platon Mülke 2002, 146. 218 Noussia-Fantuzzi 2010, 257. 219 Vgl. mit ähnlichem Ansatz Noussia-Fantuzzi 2010, 257; Jaeger 1926, 76. Hier sei auch auf die Salamis-Elegie hingewiesen, in der Solon aus dem gleichen Grund – sein Zuhörer über einen bestimmten Zustand aufzuklären – als Belehrender in der Rolle als Herold aus Salamis auftritt (Fr. 1 W, V. 1–2). 220 Stahl 1992, 395. 221 Jaeger 1926, 76. 222 Vgl. Mülke 2002, 146. Ebd. weist zudem darauf hin, dass Solon das Nicht-Wissen seiner Zuhörer bereits angenommen hat (V. 6 und 9–10). Hier soll auch noch einmal auf das Erkennen der handlungsauffordernden Funktion des Motives des Nicht-Wissens von Föllinger 2007 hingewiesen werden (s. S. 209, Anm. 160).
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endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie alles unter den Menschen passend und vernünftig.223 (Fr. 4, V. 32–39)
Sekundär handelt es sich bei diesen Äußerungen um Sprechakte der Behauptung. Εὐνομίη, so behauptet Solon zu Beginn in V. 32, würde die Polis wieder ordnen und passend machen. In den folgenden sieben Versen behauptet er dann, dass mit ihrem Eintritt alle Übel, die die Polis im Inneren krank werden lassen (V. 33: Unrecht, V. 34: Gier, V. 34: Frevel, V. 35: Blindheit, V. 36: krumme Rechtssprüche, V. 37: Zwietracht und V. 38: Streit) beseitigt werden würden. Hier stellt Solon das Wirken von Εὐνομία dem Wirken von Δυσνομία antithetisch gegenüber.224 Jaeger sagt: „Er (Solon, Anm. AvdD) setzt dem Dunkel das volle Licht entgegen.“225 Hatte Solon die Bewohner und die Führer des Volkes anfangs noch des schlechten Verhaltens beschuldigt, das die Dysnomia hervorgerufen hat, behauptet er nun, dass es einen Zustand der guten Ordnung, Eunomia, gebe. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass mit Eunomia ebenfalls ein entsprechendes Verhalten einhergehen muss. Weil hier grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass Solon mit seiner Sprache die Welt nicht nur beschreiben wollte, sondern vielmehr eine bestimmte Wirkung bei seinen Zuhörern auszulösen beabsichtigte, handelt es sich aus sprechakttheoretischer Sicht in den V. 32–39 zwar sekundär um einen Sprechakt der Behauptung, primär vollzieht Solon hier jedoch vielmehr einen direktiven Sprechakt des Rates. Ein Ratschlag besteht laut Harras darin, dass der Sprecher dem Hörer gegenüber zum Ausdruck bringen möchte, dass es für den Hörer das Beste ist, etwas Bestimmtes (die in der Äußerung enthaltene Proposition) zu tun.226 Durch die Behauptung, dass Eunomia alles gut und passend hervorbringen werde, rät Solon seinen Zuhörern also indirekt, sich so zu verhalten, dass Eunomia entsteht.227 Wie genau dieses Verhalten aussieht, sagt Solon allerdings
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Vgl. Fr. 4 W, V. 32–39: Εὐνομίη δ’ εὔκοσμα καὶ ἄρτια πάντ’ ἀποφαίνει, / καὶ θαμὰ τοῖς ἀδίκοις ἀμφιτίθησι πέδας· / τραχέα λειαίνει, παύει κόρον, ὕβριν ἀμαυροῖ, / αὑαίνει δ’ ἄτης ἄνθεα φυόμενα, / εὐθύνει δὲ δίκας σκολιάς, ὑπερήφανά τ’ ἔργα / πραΰνει, παύει δ’ ἔργα διχοστασίης, / παύει δ’ ἀργαλέης ἔριδος χόλον, ἔστι δ’ ὑπ’ αὐτῆς / πάντα κατ’ ἀνθρώπους ἄρτια καὶ πινυτά. 224 Vgl. Stahl 1992, 396. 225 Jaeger 1926, 81. 226 Vgl. Harras 2004, 154. Insofern handelt es sich hier auch nicht um einen Sprechakt der Prophezeiung, wie er etwa von Kallinos, Tyrtaios oder Alkaios zur Darstellung eines zukünftigen, wünschenswerten Zustandes gebraucht wird, weil es sich bei der Prophezeiung um einen zukünftigen Zustand oder eine zukünftige Handlung von Dritten handelt, vgl. ebd., 92, wohingegen sich ein Ratschlag immer auf eine Handlung des Hörers bezieht, vgl. ebd., 154. Da Solon seine Hörer hier indirekt dazu bewegen möchte, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, handelt es sich hier also nicht um eine Prophezeiung, sondern um einen Rat. Dass es sich hier um einen Sprechakt des Rates handelt, liegt in der Tatsache begründet, dass einem Ratschlag in der Regel die Schilderung einer Problemsituation vorausgeht, vgl. Weigand 2003, 146. Dies ist bei der Eunomia-Elegie durch die Gegendarstellung der vorherrschenden Dysnomia klar der Fall. 227 Auch in der Forschung wird Eunomia denn nicht immer als Zustand empfunden, sondern vielmehr (auch) als eine von den Menschen ausgehende Verhaltensweise in Abgrenzung zum schlech-
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nicht. Klar ist lediglich, dass es die Negation des schlechten Verhaltens ist. Stahl erkennt darüber hinaus im letzten Wort der Elegie, πινυτός, zumindest eine Eigenschaft des guten Verhaltens. Die Standard-Perlokution eines Rates ist, wie bei jedem Direktivum, motivational. Der Sprecher möchte, dass der Hörer nach seiner Äußerung eine bestimmte Handlungsabsicht hat. Und so setzt Solon mit der Beschreibung der Eunomia den Schlusspunkt des Gedichtes und rät seinen Zuhörern damit, von nun an nach den Prinzipien der guten Ordnung zu handeln. 7.2.3 Ergebnisse Solons politisches Wirken in Athen des 6. Jh. v. Chr. bestand nicht allein aus seinen berühmten reformerischen Tätigkeiten. Auch bediente er sich des Dichtens zu politischen Zwecken. Die Eunomia-Elegie steht dabei repräsentativ für die politische Dichtung Solons. Mit ihr reagierte Solon auf die gegenwärtigen inneren Spannungen in Athen. Dabei versichert er seinem Publikum in dem Gedicht, dass es die Götter niemals zulassen werden, die Heimatpolis untergehen zu lassen. Er beschuldigt die Bewohner und die Führer des Volkes jedoch, dass sie die Stadt durch ihre Hybris vernichten wollen. Solon warnt davor, dass die Übeltäter aufgrund ihres frevelhaften Verhaltens, welches er gleichzeitig diffamiert, eines Tages viele Schmerzen werden erdulden müssen. Denn Dike, so warnt er weiter, würde alles miterleben und eines Tages kommen und dafür strafen. Doch auch zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages ist bereits die ganze Stadt durch die Taten, insbesondere die der Führer des Volkes, verwundet worden. Solon warnt seine Zuhörer deswegen vor den langfristigen Konsequenzen dieser Taten für die gesamte Polis, die in Knechtschaft, Stasis und Bürgerkrieg bestehen und dazu führen, dass Arme als Sklaven in fremde Länder verkauft werden. Niemand bleibe am Ende verschont. Solon warnt weiter, dass selbst in den privatesten Lebensbereich der Bewohner, den οἰκός, das Übel eindringen werde. Das alles, so behauptet er, müsse er den Athenern lehren. Zum Schluss zeichnet er deswegen das Bild der guten Ordnung, der Eunomia, das dem der aktuell vorherrschenden schlechten Ordnung, der Dysnomia, entgegensteht. Dadurch rät Solon seinen Zuhörern indirekt, das schlechte Verhalten durch gutes Verhalten zu ersetzen, weil dies das Beste für die Polis sei. Die Sprechaktanalyse der Eunomia-Elegie hat ergeben, dass die Elegie aus repräsentativen und expressiven Sprechakten sowie einem direktiven Sprechakt besteht. Dabei können aus Sicht der Sprechakte grob vier Gedichtabschnitte unterschieden werden:
ten Verhalten (Dysnomia), vgl. etwa Schubert 2012, 43; Tsigarida 2006, 62–62; Blaise 2006, 122– 123; Mülke 2002, 151; Stahl 1992, 397–398; Manuwald 1989, 8; Ehrenberg 1965, 151.
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Zu Beginn dominiert ein repräsentativer Sprechakt der Versicherung der Göttergunst. Danach folgt kontrastierend ein Abschnitt, der vorrangig aus expressiven Sprechakten der Beschuldigung und der Diffamierung der Bewohner und Führer der Polis besteht. Es folgt ein langer Mittelteil, der von Sprechakten der Warnungen vor den Konsequenzen des verurteilten Verhaltens dominiert wird. Die Warnungen machen dabei insgesamt den größten und auch wichtigsten Anteil der im Gedicht vollzogenen Sprechakte aus. Am Schluss der erhaltenen Elegie steht dann ein indirekter Sprechakt des Rates. Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass es Solons primäre Absicht ist, Kritik an der Ursache der Krise zu benennen sowie die Folgen des Fehlverhaltens für den Einzelnen wie für die Polis im Ganzen darzustellen. Sowohl die expressiven Sprechakte als auch die Sprechakte der Warnungen dienen ihm dabei aber nicht allein dazu, seine Gefühle gegenüber dem schlechten Verhalten der Menschen auszudrücken und damit auf die Emotionen seiner Zuhörer einzuwirken sowie die Folgen dieses Verhaltens anzukündigen, sondern sie sind gleichsam die Voraussetzung für den abschließenden Sprechakt des Rates, das schlechte Verhalten zu unterlassen und stattdessen ein gutes Verhalten an den Tag zu legen.228 Welche Erkenntnisse können auf Grund der Sichtbarmachung der Solonischen Sprechakte über die Situation, in der gesprochen wurde, gewonnen werden? Die expressiven Sprechakte im anfänglichen Teil der Elegie machen deutlich, dass Solon sich hier auf bereits geschehene Handlungen bezieht (Regel des propositionalen Gehaltes einer Beschuldigung). Die Bewohner der Stadt und insbesondere ihre Führer sind schon großer Schlechtigkeit verfallen. Die Polis Athen befindet sich zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages mitten in der Krise und in der Gefahr, durch die eigenen Bewohner vernichtet zu werden. Die Sprechakte der Warnung zeigen jedoch, dass der endgültige Zustand, vor dem Solon warnt, noch nicht eingetreten ist. Warnungen beziehen sich immer auf eine zukünftige Sachlage (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Hier muss allerdings berücksichtig werden, dass die Entscheidung dafür, dass Solon im Mittelteil der Eunomia primär Sprechakte der Warnung vollzieht, nicht ohne Schwierigkeiten getroffen werden konnte. Wahrscheinlich ist, dass Solon vor den äußersten Konsequenzen eines bereits in Ansätzen vorherrschenden Zustandes innerhalb der Polis warnt. Die Polis Athen befand sich zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages demnach an der Schwelle zur Katastrophe: Die Übel, die die Polis langfristig vernichten werden, sind bereits im Gang, doch ist der endgültige Zustand der Zerstörung noch nicht eingetreten. Das zeigt im Übrigen auch der ganz am Anfang vorliegende Sprechakt der Versicherung, mit welchem Solon nachdrücklich seinen Glauben zum Ausdruck bringt, dass die Stadt dank der Götter niemals untergehen werde. Den endgültigen, menschgemachten Untergang der Polis möchte Solon verhindern. 228 Diese Struktur ähnelt derjenigen der erhaltenen Verse der Salamis-Elegie (Frr. 1–3 W). Hier stellt Solon eine Behauptung darüber auf, wie es ist, warnt davor, wie es nicht sein soll und fordert deswegen dazu auf, etwas dagegen zu tun.
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Deswegen vollzieht er Sprechakte der Warnungen, die immer auch eine direktive, also handlungsanweisende, Komponente in sich tragen: Die Bewohner der Stadt sollen ihr Verhalten ändern. Die Sprechakte der Warnung verdeutlichen zudem, dass es offenbar notwendig war, den Zuhörern das drohende Unheil in all seiner Deutlichkeit noch einmal vor Augen zu führen. Offenbar wurden bisher noch keine (wirksamen) Maßnahmen ergriffen, um den für die Polis drohenden Zustand zu verhindern. So zeigt denn auch der Sprechakt des Rates am Schluss des Gedichtes, dass ein Umdenken noch nicht stattgefunden hat und eine Änderung des Verhaltens nicht aus eigenem Antrieb stattfinden würde (Einleitungsregel eines Ratschlages). In der Eunomia-Elegie liegt demnach nicht bloß eine Ursachenanalyse bzw. Krisendiagnose vor.229 Vielmehr möchte Solon mit seinen Worten auch dazu beitragen, den gegenwärtigen Zustand zu verändern.230 Allerdings schlägt er keine konkreten Maßnahmen vor oder fordert seine Zuhörer dazu auf, etwas Bestimmtes zu tun, wie er es etwa in der Salamis-Elegie tut. Stattdessen gibt er ihnen bloß einen Ratschlag, der zudem indirekt ist: „Beraten ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, eine Art des Aufforderns. […] Jemanden beraten bedeutet nicht, ihn zu überreden versuchen, etwas zu tun – wie das beim Auffordern der Fall ist. Beraten bedeutet vielmehr, jemandem zu sagen, was das Beste für ihn ist.“231 Solon erwartet von seinen Zuhörern in der Situation der Aufführung demnach nicht, dass sie auf eine bestimmte Weise reagieren oder einer bestimmten Aufforderung zustimmen und sie umsetzen. Es scheint eine Kommunikationssituation vorzuliegen, die keine unmittelbare Reaktion der Zuhörer erforderte. Hier sollen keine Entscheidungen getroffen werden. Trotzdem möchte Solon seine Zuhörer mit seinen Worten erreichen, sie berühren, zum Umdenken bewegen und ihnen dabei gleichsam einen Lösungsvorschlag unterbreiten.232 Interessant ist nun, dass dieser Lösungsvorschlag, der in dem Ratschlag an die Zuhörer besteht, sich so zu verhalten, dass Eunomia eintritt, sich auf das Verhalten einer großen Gruppe von Menschen (die Bewohner, die Führer, die Privatpersonen), also eine breite Hörerschaft, bezieht,233 von der Solon glaubt, dass der Inhalt des Ratschlages ihr nützen wird (Einleitungsregel eines Ratschlages). Das gleiche gilt für die vorausgegangenen Warnungen, deren Inhalt, um zu glücken, nicht im Interesse der Hörerschaft bestehen darf (Einleitungsregel einer Warnung) sowie
229 So etwa Siegmann 1975, 268. Die Eunomia wird auch als Vermittlung der eigenen (Solons) Erkenntnisse gesehen, vgl. etwa Römisch 1993, 45; Fränkel 1969, 253. 230 Vgl. Rieß 2018, 61, Anm. 1. Schubert 2012, 43; Stahl 1992, 396 erkennt in Solons Eunomia hingegen „eine Form des Handelns in einer konkreten politischen Situation. Solon richtet sich an ein bestimmtes Publikum, das seine Belehrungen braucht, ja sie vielleicht sogar erwartet. Was es erhält, ist eine Aufforderung zum Handeln.“ 231 Searle 1971, 176. 232 In eine ähnliche Richtung denken Mülke 2002, 92; Anhalt 1993, 113 und Stahl 1992, 395, die in der Eunomia einen von Solon gegebenen Lösungsansatz erkennen. 233 Ähnlich Raaflaub 2001, 92–93.
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die expressiven Sprechakte der Beschuldigung und der Diffamierung, mit denen Solon auf die Emotionen der Zuhörer – sei es in Bezug auf ihr eigenes Verhalten oder aber in Bezug auf das Verhalten der Mitbewohner – einwirken wollte.234 Die hier analysierten Sprechakte sprechen demnach dafür, dass Solon mit seiner Eunomia-Elegie in einem öffentlich Kontext aufgetreten ist, in welchem er die im Gedicht thematisierten Menschen erreichen konnte und für das gemeinsame, verbindende Ziel, ἡμετέρη πόλις, gewinnen konnte. Kann das Symposion als Aufführungsort also gänzlich ausgeschlossen werden? Mit letzter Sicherheit ist dies sicher nicht möglich. Wenn man die Glückensbedingungen von Sprechakten berücksichtigt, spricht jedoch vieles für einen öffentlichen und gegen einen privat-elitären Kontext: Vollzieht ein Sprecher einen bestimmten Sprechakt, dann setzt er gewisse Zustände voraus, die die defektfreie Ausführung, also das Glücken des Sprechaktes, ermöglichen. Diese Zustände müssen also im gegebenen Kontext vorliegen. Wenn Solon Sprechakte der Warnung vollzieht, in denen er seine Adressaten vor unterschiedlichen Konsequenzen – Schmerzen, Sklaverei, Krieg – warnt, dann muss es sich bei diesen Adressaten, damit die Sprechakte der Warnung glücken, um Menschen handeln, die eben jene Konsequenzen betreffen: Die Bürger, die Führer des Volkes, die liebliche Jugend und die Armen – das heißt die gesamte athenische Gemeinde.235 Würde Solon zu Standesgenossen im Symposion sprechen, müsste er bei diesen eine entsprechende Empathie für die persönlichen Schicksale der Mitbewohner und ein Interesse am Gemeinwohl der Polis voraussetzen, damit seine Sprechakte der Warnung, Kritik und des Ratschlages glücken. Das kann an dieser Stelle zwar nicht ausgeschlossen werden, jedoch leuchtet nicht ein, warum Solon den „Umweg“ über das Symposion gehen sollte,236 wenn es doch sein Ziel ist, alle Bewohner zum Umdenken zu bewegen.237 Unter der Annahme, dass Solon in einem öffentlichen Kontext aufgetreten ist, kann die Wahl der Sprechakte möglicherweise Rückschlüsse auf Solon selbst und seine Rol234 Die expressiven Sprechakte entfalten dabei je nach Zuhörer eine andere intendierte emotionale Wirkung: Die Beschuldigten selbst sollen Gefühle der Scham und Schuld erfahren. Bei unbeteiligten, schuldlosen Zuhörern sollen hingegen negative Emotionen, wie z. B. Wut gegenüber den Beschuldigten hervorgerufen werden. 235 Vgl. auch Tsigarida 2006, 58. 236 Mülke 2002, 98, der aufgrund von V. 30 („Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung“) ebenfalls davon ausgeht, dass die Elegie für einen weiteren Kreis der Bürgerschaft gedacht war, hält diese Möglichkeit allerdings nicht für ausgeschlossen: „Waren die Zuhörer hauptsächlich Standesgenossen, mag die Paränese das Ziel gehabt haben, sie zu Trägern der politischen Botschaft der Elegie zu machen.“ 237 Anders in der Salamis-Elegie: Auch hier ist es Solons Interesse, im Sinne des Gemeinwohls, die Insel Salamis zu erobern. Anders als in der Eunomia, in der es um das persönliche Schicksal einzelner Polisbewohner geht, handelt es sich hier jedoch um einen strategischen Zug, mit dem Athen wirtschaftliche Interessen verband. Zu diesem musste Solon, so wurde hier argumentiert, politisch Gewichtige der Polis erst noch überzeugen und diese zu einer Entscheidung für den Kriegseintritt bewegen.
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le bzw. Funktion zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages geben. Insgesamt entsteht auf Grundlage der von Solon geäußerten Sprechhandlungen das Bild eines überlegenen Ratgebers, der keine Scheu davor hatte, sein Publikum scharf zu kritisieren und gleichzeitig zu belehren. Zudem gibt Solon mit seiner Behauptung, die Athener belehren zu müssen, vor, eine gewisse Erkenntnis zu besitzen, die seine Zuhörer noch nicht haben.238 Solon scheint demnach in einer Position gewesen zu sein, in welcher sein Ansehen schon eine gewisse Festigung erreicht hatte, die es ihm erlaubte, die anwesenden Zuhörer in der Öffentlichkeit zu verurteilen, ohne dabei Angst vor einem Verlust dieser Position haben zu müssen. Es scheint insofern plausible, dass Solon zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages bereits das Amt des Archons innehatte. Solon nutze seine Dichtung und dabei insbesondere die Eunomia-Elegie als Möglichkeit, den Weg für seine politische Aktivität im Bewusstsein der Bürger zu ebnen und damit den Grundstein zur Akzeptanz seiner Reformen und Gesetze zu legen.239Mit seiner Dichtung konnte er sein Reformwerk flankieren und es damit in einen größeren moralischen Kontext stellen. Dafür spricht auch, dass Solon – anders als etwa Tyrtaios in Sparta – keine konkreten Anweisungen gibt. Mit seiner Eunomia will er seine Zuhörer vielmehr davon überzeugen, dass eine Änderung des Verhaltens angebracht ist. Die konkrete Verhaltensänderungen reguliert Solon schlussendlich über seine Gesetzgebung. 7.2.4 Das perlokutionäre Nachspiel Zum Schluss soll noch ein Blick auf das perlokutionäre Nachspiel, also die kontingenten Folgen, die der Vortrag der Eunomia-Elegie ausgelöst haben kann, geworfen werfen. Hat Solon mit seiner Eunomia tatsächlich die intendierten Veränderungen bewirken und einen entscheidenden Sinneswandel bei seinen Zuhörern hervorrufen können? Anders als bei der Salamis-Elegie, kann keine mittelbare Reaktion auf die Sprechakte in der Eunomia-Elegie sichtbar gemacht werden. Was wir wissen, ist, dass Solon nach seiner Wahl zum Archon eine Reihe von Reformen und Gesetzen etabliert hat, um der gegenwärtigen Krise der Polis entgegenzuwirken.240 Diese Reformen können dabei in einen Zusammenhang mit dem Inhalt der Eunomia-Elegie gestellt werden.241 238 Vgl. Stahl 1992, 395. 239 Siegmann 1975, 280 spricht von „ethischen und sozialen Grundlagen der Gesetzgebung“. Vgl. auch Noussia-Fantuzzi 2010, 220. Walter 1993, 192, Anm. 90 hält das Archontat als Jahresamt jedoch für relativ schwach und glaubt deswegen nicht, dass Solons umfassende Kompetenzen der Streitschlichtung und Gesetzgebung mit dem Amt des Archons in Verbindung standen. Vielmehr seien Solons Reformtätigkeiten auf sein in langen Jahren erworbenen Ansehen zurückzuführen. Vgl. auch Stahl/Walter 2009, 142–143. 240 Vgl. Rhodes 2006. 241 Vgl. Raaflaub 2006, 390. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Tsigarida 2006, 67–135.
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Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang in Solons Beseitigung der Schuldknechtschaft und der Schuldentilgung, der sogenannten Seisachtheia, von der auch Aristoteles und Plutarch berichten.242 Auch Solon selbst bezieht sich später in Fr. 36 W, häufig auch Rechenschaftsgedicht genannt, auf diese von ihm eingeführte Maßnahme. Darüber hinaus erwähnt er hier zwei weitere, die Lastenabschüttelung flankierende, Maßnahmen, nämlich den Rückkauf von ins Ausland verkauften Sklaven sowie die straflose Rückkehr geflohener Schuldner,243 mit denen er offenbar die bereits in der Eunomia angeklungene Probleme (bes. V. 23–25) gesetzlich aufgegriffen zu haben scheint: Bezeugen könnte das für mich, wenn Recht die Zeit mir spricht, die größte Mutter der Götter, der Olympischen, am besten, die schwarze Gottheit Erde, aus der ich einst die Grenzsteine aushob, die vielerorts eingepflockten, und die zuvor, versklavt, jetzt frei. Viele führt’ ich nach Athen, ins Vaterland, das gottgegründete, zurück, die Verkauften – der eine außerhalb der Rechts, der andre rechtens -, andre dann, die durch zwingende Not sich auf die Flucht gemacht – ihre Zunge sprach mehr attisch, da sie doch vielerorts umhergeirrt. Und die, die hier an Ort und Stelle Knechtschaft, ungebührliche zu leiden hatten – vor dem Gebahren ihrer Herrn erzitterten sie –, die macht’ ich frei. Dies habe ich kraft meiner Macht, Gewalt und Recht in eins verfugend, getan und ging es durch, wie ich’s versprochen.244 (V. 3–17) (Übers. Mülke 2002)
Dem in der Eunomia aufgeworfene Problem der innergesellschaftlichen (Schulden-) Krise in Athen hat Solon demnach durch seine Gesetze entgegenzuwirken versucht. Damit hatte Solon kurzfristig Erfolg: Die Eunomia scheint sich tatsächlich in Athen etabliert zu haben, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Aus der Athenaion Politeia geht hervor, dass im fünften Jahr nach Solons Rückzug der Bürgerkrieg erneut ausbrach.245 Dennoch wurden Solons Reformen und Institutionen, so Rieß, langfristig nie rück-
242 [Arist.] ath. pol. 6, 1; Plut. Sol. 15, 2. 243 Vgl. Welwei 1998, 160–161. 244 Fr. 36 W, V. 3–17. συμμαρτυροίη ταῦτ’ ἂν ἐν δίκηι Χρόνου / μήτηρ μεγίστη δαιμόνων Ὀλυμπίων / ἄριστα, Γῆ μέλαινα, τῆς ἐγώ ποτε / ὅρους ἀνεῖλον πολλαχῆι πεπηγότας, / πρόσθεν δὲ δουλεύουσα, νῦν ἐλευθέρη. / πολλοὺς δ’ Ἀθήνας πατρίδ’ ἐς θεόκτιτον / ἀνήγαγον πραθέντας, ἄλλον ἐκδίκως, / ἄλλον δικαίως, τοὺς δ’ ἀναγκαίης ὑπὸ / χρειοῦς φυγόντας, γλῶσσαν οὐκέτ’ Ἀττικὴν / ἱέντας, ὡς δὴ πολλαχῆι πλανωμένους· / τοὺς δ’ ἐνθάδ’ αὐτοῦ δουλίην ἀεικέα / ἔχοντας, ἤθη δεσποτέων τρομεομένους, / ἐλευθέρους ἔθηκα. ταῦτα μὲν κράτει / ὁμοῦ βίην τε καὶ δίκην ξυναρμόσας / ἔρεξα, καὶ διῆλθον ὡς ὑπεσχόμην· 245 [Arist.] ath. pol. 13, 1–3.
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gängig gemacht und wirkten noch während der Tyrannis des Peisistratos weiter und „ermöglichten die Entstehung der athenischen Demokratie und den Aufstieg der Stadt zum Hegemon der griechischen Welt im 5. Jh. v. Chr. mit.“246 Welche Bedeutung die Worte Solons in seiner Eunomia-Elegie neben den eingeführten Maßnahmen für die Durchsetzung der neuen Ordnung gespielt haben mögen, ist nicht mehr zu bestimmen. Hier soll jedoch noch einmal die bereits von Noussia-Fantuzzi geäußerte Vermutung, dass Solon seine Dichtung nutze, um den Weg für seine politische Aktivität im Bewusstsein der Bürger zu ebnen und die Akzeptanz seiner folgenden Reformen vorzubereiten, betont werden. Der Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Eunomia-Elegie und dem politischen Programm Solons ist hinreichend deutlich geworden. Es ist insofern nicht undenkbar, dass Solons Eunomia-Elegie, in einer Zeit, in der politische Lyrik ihren Sitz im Leben hatte, dazu beigetragen hat, bei den Athenern die nötige Überzeugung zur kurze Zeit später erfolgten Umsetzung der Reformen zu bedingen. So darf denn auch die Rolle der Mündlichkeit der Gesellschaft zu Solons Zeit nicht unterschätzt werden. Henderson postuliert etwa: We learn that in Athens in Solon’s time poetry (specifically elegy and iambus) was still the recognized means of forming, preserving and transmitting information and doctrine, for communicating with and persuading the public at large. Poetry in ancient Greece, particularly in Solon’s case, fulfilled the functions of modernday mass media and information storage-systems.247
Die betrifft besonders auch den Bereich der Gesetzgebung: Auch diese wurde bisweilen in Prosa verfasst, so etwa der früheste attische Gesetzestext von Drakon. Dichtung diente als Mittel, den Menschen auf einprägsame Weise Gesetze zu erläutern, sie zu vermitteln und zu kommentieren. Gehrke betont diesen Zusammenhang auch im Hinblick auf die Solonische Lyrik. Solon habe die neuen Ordnungen nicht nur auf Stein und Bronze festgehalten, sondern schrieb seine Prinzipien und Programme in
246 Rieß 2018, 63; vgl. auch Allan 2017, 15; Günther 2011, 72. Später wurde Solon deswegen auch als entscheidender Akteur für den Prozess der Demokratisierung angesehen: Arist pol. II, 1273b 35–37; [Arist.] ath. pol. 41, 2; Isokr. VII, 16; Isokr. XV, 232. Diese Berichte sollten jedoch kritisch unter dem Aspekt der aufkommenden staatstheoretischen Diskussionen im 4. Jh. v. Chr. und der damit einhergehenden Stilisierung Solons zum „Vater der Demokratie“ gesehen werden, vgl. Tsigarida 2006, 11. 247 Henderson 1982, 24. Vgl. auch Tsigarida 2006, 29: „In einer durch „mündliche“ Kommunikation geprägte Gesellschaft der archaischen Zeit Griechenlands war die Form der Elegie ein geeignetes Kommunikationsmittel, um politisches Gedankengut zu verbreiten. So konnte der Inhalt politisch-elegischer Dichtung beispielsweise durch öffentliche Vorträge bei adligen Symposien und auf der Agora einem breiten Publikum nähergebracht werden. Mit Hilfe der Stilmittel der elegischen Dichtung konnten bei den Zuhörern unterschiedliche psychologische Wirkungen ausgelöst werde, denn neben dem Verstand wurden auch Gefühle […] angesprochen.“
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Form adhortativer Lyrik „[…] auch in die Köpfe und Herzen ein[].“248 Ein Zusammenhang zwischen Eunomia-Elegie, Etablierung der Reformen und dem Eintritt der Eunomia in Athen kann insofern angenommen werden.
248 Gehrke 1998, 49. Vgl. auch Hölkeskamp 1999, 275–278; Ähnlich Stahl 1992, 403. Auch Raaflaub 2006, 398 erkennt: „ […] the combination of reform with the traditional idea of eunomia and religious authority helped legitimate this reform and tie it into the framework of traditional values and norms“.
8 Theognis von Megara Die unter dem Namen des Theognis auf uns gekommene Lyrik ist zusammengefasst im sogenannten Corpus Theognideum (C. Th.). Die dem Theognis zugeschriebene Lyrik ist dabei, wie Selle in seinem grundlegenden Theognis-Werk darlegt, doppelt so umfangreich wie die gesamte Dichtung aller anderen elegischen Dichter zusammen.1 Dabei hat das Corpus einen besonderen Aussagewert für die archaische Zeit, weil die in ihm enthaltenen Gedichtstücke das Leben in der archaischen Polis aus aristokratischer Sicht darstellen.2 Irwin fasst den Inhalt der Dichtung prägnant zusammen: The poetry’s staunchly aristocratic „I“ inveighs against class mobility through marriage (lines 183–192) and trade, false friendship (93–100, 415–418), the threat of tyranny (39–52), the woes of poverty (173–182) and exile (209–210), the stupidity of the demos or common people (847–850), and infidelity among boys (254–255), as well as advising on how to navigate these treacherous and dangerous waters.3
Aus dem Corpus erfahren wir demnach vieles über den allgemeinen Zeitgeist der Epoche, jedoch wenig Konkretes über den Verfasser (bzw. die Verfasser) der Dichtung selbst. Insbesondere der Dichter Theognis von Megara, dessen Namen die Sammlung trägt und der sich an einer Stelle (V. 22–23 W) selbst als Urheber der Dichtung nennt, bleibt eine schwer fassbare und historisch undurchsichtige Figur.4 Um dennoch eine Analyse von Sprechakten eines Theognideischen Gedichtes vornehmen zu können, muss versucht werden, dem Dichter und der ihm zugeschriebenen Dichtung so nahe wie möglich zu kommen. Dazu muss zunächst ein Blick auf den Inhalt des C. Th. und seine Entstehung geworfen werden. Das C. Th., auch Theognidea genannt, enthält 1431 elegische Verse und besteht aus 360 einzelnen Gedichten (wobei nicht immer deutlich ist, wo die Grenze zwischen
1 2 3 4
Vgl. Selle 2008, 3. Vgl. Figueira/Nagy 2018, 1. Irwin 2010, 38. Vgl. Figueira/Nagy 2018, 1.
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zwei Gedichten verläuft).5 Aufgrund sprachlicher und metrischer Indizien sowie historischer Anspielungen und Testimonien geht Selle davon aus, dass die ältesten Gedichte des Corpus’ vor 625 v. Chr. und die jüngsten nach 450 v. Chr. abgefasst wurden.6 Das C. Th. ist eine schon in der Antike zusammengestellte Sammlung elegischer Dichtung, welche trotz ihres Namens nur zu Teilen dem Theognis zugeschrieben werden kann.7 Sammlungen wie das C. Th. waren keine Seltenheit und dienten wohl dazu, Gedichte derselben Gattung (und damit gesellschaftlichen Funktion) zusammenzutragen. Beim C. Th. handelt es sich um eine Sammlung elegischer Symposionsdichtung aus einem kulturell konservativen Kreis.8 Das Corpus bleibt jedoch eine unübersichtliche Quelle, weil nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, wann und wie die Sammlung entstanden ist, aus welchen Bestandteilen sie besteht, welchen genauen Zweck sie verfolgte und, vor allem, welche Gedichte darin Theognis zugeschrieben werden können.9 Im Folgenden soll sich diesen Fragen – insgesamt als die Thegonideische Frage bekannt – mit Blick auf die aktuelle Forschungsliteratur genähert werden. Das C. Th. wird in zwei Bücher unterteilt, wobei die Verse 1–1200 in den Editionen zumeist zu Buch 1, die Verse 1231–1389 zu Buch 2 gezählt werden.10 Aufgrund der vielen im Corpus enthaltenen Wiederholungen und Dubletten ist anzunehmen, dass das Corpus ursprünglich aus mehreren selbstständigen Sammlungen zusammengesetzt wurde.11 An vielen Stellen ähnelt das Corpus laut Selle „einem wüsten Meer, aus dem allenthalben Inseln von durch gemeinsame Eigenschaften verbundenen Gedichten hervorragen.“12 Nichtsdestoweniger hat West in einer vielbeachteten Untersuchung versucht, die Anordnung und Entwicklung der Theognideischen Sammlung zu rekonstruieren.13 Buch 1 wird dabei von ihm in drei Abschnitte unterteilt: A) Die Verse 19–254, welche er das Florilegium Purum nennt: „The form and content of 19–254 are so clearly distinct from the rest that we must recognize in it a separate constituent. I call it the Florilegium Purum – purum because of its virtual restriction to Theognis and to serious subjects.“14 Wie West geht die Mehrheit der Forschung davon aus, dass dieser
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. Selle 2008, 1. Vgl. ebd., 373–374. Vgl. Hansen 2005, X. Vgl. Selle 2008, 386. Vgl. Lahr 1992, 6. Vgl. Bagordo 2011, 176. Einen umfassenden Überblick über die Forschungsgeschichte zur Entstehung des Corpus’ gibt Selle 2008, 4–16. Vgl. zur älteren Forschung auch Bowie 1997, 62, Anm. 11. Selle 2008, 186. Vgl. West 1974, 40–61, der insgesamt drei Abschnitte in Buch 1 ausmacht: A) Florilegium Purum B) Excerpta Meliora C) Excerpta Deteriora. Darauf folgt Buch 2. Vgl. auch Hansen 2005, XII–XIII, der Wests Einordnung nachzeichnet und Lahr 1992, 40. West 1974, 45. Die Verse 1–18 sind vermutlich bei der Zusammenstellung der Sammlung nachträglich vorangestellt worden. Hierbei handelt es sich um vier kurze Hymnen, dem sympotischen Brauch entsprechend, vgl. Selle 2008, 175–176. Anders als West 1974, 59, der die unter Theognis’
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Teil eine Sammlung von größtenteils originalen Gedichten des Theognis von Megara ist bzw. eine solche sein sollte.15 Buch 1 besteht laut West darüber hinaus aus zwei weiteren Teilen: B) Die Verse 255–1022, nach West die Excerpta Meliora und C) Die Verse 1023–1220, nach West die Excerpta Deteriora.16 In B und C sind auch bekannte Gedichte anderer Elegiker versammelt.17 In diesem Teil des Corpus’ liegen Dopplungen und Wiederholungen vor und ein struktureller Ansatz ist nicht erkennbar. Buch 2 des C. Th., V. 1231–1389, besteht wiederum zur Gänze aus Gedichten über die Knabenliebe und unterscheidet sich insofern nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich und in Bezug auf das Metrum von Buch 1.18 Dennoch handelt es sich auch in Buch 2 um eine Sammlung elegischer Symposionslieder unterschiedlicher Dichter, hier jedoch zum Thema der Knabenliebe.19 Fraglich ist, wann und wie das Corpus in seiner heutigen Form entstanden ist. Wahrscheinlich ist, dass die sympotischen Elegien, die anfangs mündlich überliefert wurden, spätestens jedoch zu Beginn des 4. Jh. v. Chr., als die Symposionskultur ausstarb, auch schriftlich erfasst wurden.20 Mündliche Überlieferung kann aber parallel dazu noch stattgefunden haben.21 So entstanden im Laufe der Zeit vermutlich verschiedene private Aufzeichnungen und Sammlungen, die sich innerhalb der griechischen Welt von einer Symposionsgemeinschaft zur nächsten verbreiteten.22 Ob die Dichter des C. Th. ihre Gedichte dabei selbst schriftlich niederlegten, ist unklar. Diese Frage stellt sich insbesondere für den dem Theognis zugeschriebenen Teil des Corpus’, weil der Dichter sich an einer Stelle, dem berühmten Siegelgedicht (V. 19–26 W), selbst als Autor nennt. War ein Mann namens Theognis vielleicht der erste Dichter, der seine Elegien zu einem Gedichtbuch zusammenfügte und verschriftlichte, um seinem Werk größere Dauer zu verleihen?23
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Namen überlieferte Sammlung als absichtslos und zufällig erachtet, erkennt Hansen 2005, XIII– XV im Theognis-Block (V. 1–254) eine gestalterische Absicht. Vgl. etwa Selle 2008; Bowie 1997 (in Weiterentwicklung von West 1974); Lane Fox 2000; Nünlist 1998; Gerber 1997; Stein-Hölkeskamp 1997; Jarcho 1990; Rösler 1980. Anders Figueira/Nagy 1985. Zur Diskussion der beiden Forschungsmeinungen vgl. Lear 2011, der sich tendenziell Figueira/ Nagy 1985 anschließt. West 1974, 55–61 vermutet, dass Meliora und Deteriora aus einer, ursprünglich verschiedene Dichter vereinenden, Sammlung, dem Florilegium Magnum, zusammengestellt worden sind. Aufgrund der vielen Wiederholungen einzelner Verse und Distichen in B und C gehen Bowie 1997, 62 und Selle 2008, 384 jedoch davon aus, dass die Verse 255–1220 aus mindesten zwei Vorläufersammlungen entnommen worden sind, die sich teilweise überlappen (was die Dopplungen erklärt). Nagy 1985, 50 macht in dem von West als „Meliora“ bezeichneten Teil einen panhellenischen Charakter aus, wohingegen die Deteriora mehr auf Megara ausgerichtet sind. Vgl. Selle 2008, 385. Vgl. ebd., 385–386. Vgl. Bowie 1997, 58; Selle 2008, 383. Vgl. ebd., 379–380. Vgl. Rösler 1980, 87–88; Lane Fox 2000, 45. So etwa Rösler 1980, 81–84 und ders. 2004, 52; Friis Johansen 1993, 28–29. Vgl. auch, wenn auch zu einem anderen Ergebnis kommend, Selle 2008, 382, Anm. 47 mit weiterer Literatur.
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Dagegen spricht allerdings, dass in der antiken Literatur nie von einem Theognis-Buch die Rede ist, sondern lediglich von Theognideischen Gedichten. Selle nimmt deswegen an, dass die Verse 1–254 W, also Teil A von Buch 1, von Dritten in einer Sammlung unter dem Namen des Theognis zusammengestellt wurden.24 Vermutlich geschah dieser Vorgang im 5. oder 4. Jh. v. Chr., als die Symposionsdichtung im Niedergang begriffen war und man darum bemüht war, typisch sympotische Gedichte zusammenzutragen, um sie dem Vergessen zu entreißen.25 Ähnliches gilt wahrscheinlich für den Rest der Sammlung: Die Teile B und C von Buch 1, also die Verse 255–1038 W, die insgesamt eine größere Bandbreite an Themen aufweisen, sind vermutlich mit dem Ziel angelegt worden, eine Auswahl elegischer Symposionsdichtung unterschiedlicher Dichter bereitzustellen.26 Dadurch unterlag die Sammlung einem natürlichen Wachstum, was auch die Unordnung innerhalb der Teile B und C erklären kann.27 Papyri, die bestimmte Zeilenfolgen enthalten, belegen, dass eine Sammlung in jedem Fall vor dem 2. Jh. n. Chr. entstanden sein muss.28 Abgeschlossen war die Sammlung aber vielleicht schon im 4. oder 3. Jh. v. Chr., weil sie kein einziges hellenistisches Stück enthält.29 Buch 2, wie bereits erwähnt, war vermutlich ursprünglich eine eigenständige Sammlung zum Thema Knabenliebe. Die Gedichte aus Buch 2 sind Selle zur Folge älter als der Rest des C. Th.30 Selle glaubt deswegen, dass Buch 2 schon früh, vielleicht schon im 5. Jh. v. Chr., seine endgültige Fassung erhalten hatte.31 West glaubt hingegen, Buch 2 entstand schlussendlich erst im 9. Jh. n. Chr. in byzantinischer Zeit, wo alle als verdächtig erotisch eingestuften Stücke ans Ende der Sammlung verbannt wurden.32 Eine genaue Antwort auf diese Frage kann hier nicht gegeben werden. Das C. Th. war wohl weniger zum Nachschlagen von Liedtexten oder zur fortlaufenden Lektüre gedacht. Vielmehr ging es hier um die Sammlung und Vereinigung möglichst viel Materials.33 Die vier Teile des Corpus sind dabei vermutlich mechanisch aneinandergefügt, aber nicht miteinander verzahnt worden.34 Laut Selle lässt sich nicht sagen, ob sie auf einmal oder in mehreren Schritten zusammengefügt wur-
24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Vgl. Selle 2008, 383. Vgl. Bagordo 2011, 177. Vgl. Selle 2008, 384. Vgl. ebd., 384. Nach Nagy 1985, 48–49 sind die Variationen der Dubletten dem Charakter der oral poetry, also dem Veränderungsprozess durch mündliche performance, geschuldet. Vgl. Selle 2008, 106–109. Vgl. ebd., 385. So auch West 1974, 43: „ […] there is nothing in them (Gedichte aus Buch 2, Anm. AvdD) that looks later than the fifth century B. C.“ Vgl. Selle 2008, 385–386. Vgl. West 1974, 43–45. Anders Selle 2008, 119–120. Vgl. Bagordo 2011, 177; Selle 2008, 387. Vgl. hierzu auch Bowie 1997, 63–64. Ebd., 64 nimmt an, dass der Kompilator dabei lediglich ausgewählte Stücke zusammentrug, nach seiner Definition „Fragmente“, sodass spätere Kopisten ebenfalls lediglich Fragmente kopierten.
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den. Ihre Reihenfolge deute jedoch daraufhin, dass die Verse 1–254 W die Grundlage bildeten und Buch 2 als letztes angefügt wurde.35 Die Gedichte der Theognidea waren in der Antike dabei offenbar schon recht bald populär, insbesondere in Athen, wie sich an antiken Zitaten etwa bei Platon oder Isokrates zeigt.36 Im Laufe der Zeit erfuhr die Dichtung jedoch einen Funktionswandel: War sie anfangs noch dazu gedacht, junge Männer in die Welt des Symposions einzuführen, erfreute sie sich in der Spätantike aufgrund ihres moralischen Inhaltes großer Beliebtheit im Schulunterricht und die Gedichte avancierten zu lehrhaften Sprichwörtern über das rechte Verhalten. Von Theognis, dem die Gedichte zugeschrieben wurden, entstand über Generationen hinweg das Bild eines alten, langweilige Lehren erteilenden Weisen.37 Doch hat es eine historische Figur namens Theognis überhaupt gegeben und wenn ja, welche Gedichte des großen Corpus’ können Theognis überhaupt zugesprochen werden? Die antiken biographischen Zeugnisse über Theognis sind im Verhältnis zu anderen Dichtern gering. Es fehlen Angaben zu den Namen der Eltern, zu Ereignissen seines Lebens oder seiner gesellschaftlichen Stellung. In den Berichten der Testimonien bleibt Theognis eine verschwommene Gestalt. Ob es den antiken Autoren lediglich am Interesse für den Megarer mangelte, oder aber darüber hinaus schon damals über ihn nicht mehr bekannt war, bleibt unklar.38 Teilweise wurde Theognis’ Existenz deswegen angezweifelt: So glaubt Nagy etwa nicht, dass Theognis eine historische Person gewesen ist, vielmehr sei er der Name einer kollektiven Stimme, die Nagy Persona nennt.39 Selle argumentiert hingegen, dass aufgrund der Nennungen in den Testimonien kein Zweifel an der Existenz des Theognis bestehe. Wer einen historischen Theognis mit dem Argument der Unzuverlässigkeit der antiken Zeugnisse dennoch abtun möchte, müsse dies konsequenterweise auch für andere Gestalten der Archaik tun.40 Auch Friis Johansen ist sich sicher, dass Theognis existiert hat. Er begründet dies mit der Selbstnennung im Siegelgedicht: „However we regard the corpus, the presence in it of lines 22–23 is incontrovertible proof that there once existed a poet names Theognis of Megara […].“41 Eine letztgültige Entscheidung kann diesbezüglich aber nicht getroffen werden. Wie einleitend dargelegt, soll jedoch grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass aus den Gedichten eine subjektive Sichtweise des Sprechers durchscheint. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass es einen Dichter namens Theognis gegeben hat und dass die hier untersuchten Gedichte auf persönlichen Erfahrungen
35 36 37 38 39 40 41
Vgl. Selle 2008, 195–196. Plat. leg. 1, 630a und Plat. Men. 95 d–e; Isokr. II, 42–44; vgl. auch Bagordo 2011, 177–178. Eine Zusammenstellung aller Testimonien gibt Selle 2008, 394–423. Vgl. ebd., 391. Vgl. ebd., 37. Vgl. Nagy 1985, 33. Dass es „Theognis“ nicht gegeben hat, glaubt auch Edmunds 1997, 46. Vgl. Selle 2008, 20–21. Friis Johansen 1991, 7–8.
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dieses Dichters fußen, soll hier vielmehr der Versuch unternommen werden, sich über die Sprechaktanalyse der Gedichte dem Dichter Theognis zu nähern. Namentlich wird Theognis zuerst von Platon, Xenophon und Isokrates erwähnt,42 was bedeutet, dass er vor 400 v. Chr. oder früher geboren sein muss. Denn von Isokrates wird Theognis in eine Reihe mit Hesiod und Phokylides gestellt, wodurch er als frühe Dichterpersönlichkeit erscheint. All drei werden bei Isokrates als weise Ratgeber genannt: Als Beispiel könnte man die Dichtungen des Hesiod, Theognis und Phokylides anführen, denn es heißt, sie hätten den Menschen die besten Ratschläge für ihr Leben erteilt. […].43 (Übers. Ley-Hutton 1993)
Auch Selle nimmt an, dass die Nennung von Theognis in einem Atemzug mit Hesiod und Phokylides bedeutet, dass Isokrates für alle drei Dichter dieselbe archaische Epoche angenommen hat.44 Eine genauere Datierung kann mit Hilfe der Chronographen erfolgen, die Theognis’ Blüte in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. datieren und seine Geburt entsprechend an den Anfang des 6. Jh. v. Chr. stellen.45 Für eine frühere Datierung hat sich hingegen West ausgesprochen: Er glaubt, dass Theognis um 630 v. Chr. in Megara dichtete. Denn die Verse 39–52 W, in denen der Megarer Theognis vor einer Alleinherrschaft, μόναρχος, warnt, richten sich nach West an ein Publikum, dem eine Tyrannis gänzlich unbekannt gewesen sein muss. Die Verse müssten demnach noch vor der Herrschaft des Tyrannen Theagenes in Megara (um 600 v. Chr.) gedichtet worden sein, denn sonst hätte sich eine Anspielung auf dessen Tyrannis in ihnen finden müssen.46 Dabei ist jedoch gar nicht sicher, ob sich die besagten Verse überhaupt auf Theagenes beziehen. Auch Lahr hält Wests frühe Datierung für nicht schlüssig. Er hat dafür jedoch einen anderen Grund: Er sieht in den Versen eine Abhängigkeit von Solons Eunomia-Elegie, was bedeute, dass Theognis später als Solon gedichtet haben
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S. S. 234, Anm. 36; Xen. symp. 2, 4–5. Isokr. II, 43: Σημεῖον δ’ ἄν τις ποιήσαιτο τὴν Ἡσιόδου καὶ Θεόγνιδος καὶ Φωκυλίδου ποίησιν· καὶ γὰρ τούτους φασὶ μὲν ἀρίστους γεγενῆσθαι συμβούλους τῷ βίῳ τῷ τῶν ἀνθρώπων, […]. Vgl. Selle 2008, 21. Vgl. Lane Fox, 37. Vgl. auch Selle 2008, 22–26 für eine tiefere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Chronographen und dem Ursprung ihrer Angaben. Vgl. West 1974, 65–68. Die Tyrannis des Theagenes lässt sich durch Thukydides’ Bericht über dessen Schwiegersohne Kylon chronologisch einordnen (Thuk. I, 26, 3–11): Kylon, Sieger im Doppellauf bei den Olympischen Spielen 640 v. Chr., versuchte – u. a. mit Hilfe seines Schwiegervaters Theagenes – eine Tyrannis in Athen zu errichten, was bekanntlich misslang und den „Kylonischen Frevel“ durch die Alkmeonieden nach sich zog. Der Putsch des Kylon muss zwischen seinem Sieg bei den Olympischen Spielen 640 v. Chr. und Drakons gesetzliche Maßnahmen gegen die, möglicherweise durch den Kylonischen Frevel zum Problem gewordene, Blutrache 621 v. Chr. stattgefunden haben. Die Tyrannis des Theagenes lässt sich demnach in das letzte Viertel des 7. Jh. v. Chr. einordnen. Zur Tyrannis des Theagenes vgl. auch de Libero 1996, 225–230; Legon 1981, 93–94.
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muss, also nach 594/593 v. Chr.47 Auch Selle hält eine Datierung des Theognis in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. aufgrund der Einordnung durch die Chroniken für plausibel. Darüber hinaus sieht er auch das Siegelgedicht als Anhaltspunkt für diese Datierung, da dieses aufgrund seines Wortschatzes und der Erwähnung des Plagiates ins 6. Jh. v. Chr. passe.48 Insgesamt überwiegen also die Argumente, nach denen Theognis’ Blüte in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. zu datieren ist. Nicht eindeutig ist auch, woher Theognis stammt. Seinen eigenen Worten zufolge kommt er aus Megara (V. 22–23 W). Er spezifiziert aber nicht, ob er die Stadt auf dem Isthmus oder das gleichnamige Hybläische Megara, eine im 8. Jh. v. Chr. auf Sizilien gegründeten Kolonie, meint.49 Umstritten war diese Frage schon im Altertum, wo Theognis einerseits dem sizilianischen Megara, andererseits dem mutterländischen Megara zugeordnet wurde.50 Das älteste Zeugnis zu dieser Frage findet sich in Platons Gesetzen. Platon gehört dabei zu denjenigen, die Theognis im sizilianischen Megara verorten: Zum Gewährsmann haben wir auch einen Dichter, den Theognis, den Landsmann der Megarer in Sizilien […].51 (Übers. Müller 1962)
Platons Ansicht fand zwar einige Zustimmung,52 jedoch wurde ihm nicht uneingeschränkt gefolgt. So hält etwa der Gelehrte Harpokration (2. Jh. n. Chr.) das mutterländische Megara für Theognis’ Heimatstadt.53 Er begründet dies damit, dass Theognis an einer Stelle im Corpus behauptet, er sei einmal in das sizilianische Land gekommen. In V. 783 W der Theognidea heißt es tatsächlich: Denn ich kam auch einmal in das sizilianische Land54 (V. 783 W, Übers. Hasnen 2005)
Laut Harpokration schließe diese Äußerung aus, dass Theognis auf Sizilien geboren ist. Sie sei zudem von Platon übersehen worden. Vermittelnd äußert sich ein Scholiast 47 48 49
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54
Vgl. Lahr 1992, 10. Das Jahr 594/593 v. Chr. wird gemeinhin als Zeitpunkt genannt, zu dem Solon zum Archon in Athen gewählt wurde. Vgl. Selle 2008, 372. Vgl. auch Rösler 1980, 86–87. Figueira/Nagy 1985, 3 hingegen erachten die Frage nach der Heimatstadt des Theognis – der für sie jedoch nur die Stellvertreterfigur eines megarischen Adligen ist – als nicht entscheidend: „The ‚Megara‘ of our title is neither Nisean nor Sicilian Megara, but Theognidean Megara, a paradigmatic homeland for all archaic Greeks, and even for the dead as well as fort he living.“ Vgl. Lahr 1999, 39. Plat. leg. 1, 630 a: ποιητὴν δὲ καὶ ἡμεῖς μάρτυρ’ ἔχομεν, Θέογνιν, πολίτην τῶν ἐν Σικελίᾳ Μεγαρέων […]. Auch der Kirchenhistoriker Theodoretus (= T. 114–115 bei Selle 2008, 413) sowie die Suda s. v. Θέογνις Adler 136–137 geben das sizilianische Megara als Heimatort des Theognis an. Neben Harpokration (= T. 59 bei Selle 2008, 406) sprechen sich auch Didymos (= T. 34 bei Selle 2008, 402), auf den der Lexikograph Harpokration sich laut Selle 2008, 28–29 bezieht, und Stephanos von Byzanz (= T. 135 bei Selle 2008, 416) gegen das sizilianische Megara und für das isthmische Megara aus. V. 783 W: ἦλθον μὲν γὰρ ἔγωγε καὶ εἰς Σικελήν ποτε γαῖαν
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der Platon-Stelle, der spekuliert, dass Theognis zwar im isthmischen Megara geboren, jedoch irgendwann ausgewandert und ins sizilianische Megara eingebürgert worden sei.55 Insgesamt ist unklar, aus welchen Gründen sich die Testimonien für eine der beiden Städte entschieden haben. Selle glaubt, dass allein Platons Äußerung und der von Harpokration geäußerte Einwand auf Basis von V. 783 W der Theognidea Grundlage der antiken Debatte um Theognis’ Heimatstadt war. Weil Letzteres aber auf einem Vers der Theognidea basiere, sieht Selle lediglich in Platons Hinweis ein Zeugnis mit unabhängigem Wert, zumal Platon von allen Testimonien der Lebenszeit des Theognis am nächsten steht. Selle kommt nach ausführlicher Abwägung verschiedener Motive für Platons Behauptung jedoch zu dem Schluss, dass auch Platon nicht mit letzter Sicherheit wissen konnte, woher Theognis stammte und dass seine Angabe insofern nicht stichhaltig ist.56 Heute wird vor allem nach Indizien innerhalb des Corpus’ selbst gesucht. So geht Lane Fox nicht davon aus, dass Theognis aus dem sizilianischen Megara stamme: „Nothing in the first block or the Cyrnus poems which follow implies that the poet was familiar with the western Mediterranean.“57 Auch Selle findet keine Stelle im Corpus, die sich auf das sizilianische Megara bezieht.58 Dagegen sieht er aber in den Versen 773–782 W eine eindeutige Anspielung auf das isthmische Megara. Weil darauf der bereits von Harpokration als Argument gegen das sizilianische Megara herangezogene V. 783 W folgt, findet Selle, dass das sizilianische Megara als Heimatstadt ausscheide.59 Für das isthmische Megara sprechen nach Selle auch die Verse 11–14 W, in denen Artemis angerufen wird, die im isthmischen Megara verehrt wurde.60 Es ist deswegen plausibler, dass das Megara, welches Theognis in V. 22 W explizit als seine Heimatstadt vorstellt, das Megara auf dem Isthmus gewesen ist.61 Wenn es einen Dichter namens Theognis gegeben hat, der wahrscheinlich aus dem griechischen Megara stammte und dessen Namen eine Sammlung von elegischen Gedichten trägt, ist anzunehmen, dass einige der Gedichte von ihm selbst sind. Doch welche Gedichte sind dies und aus welchen Gründen werden sie Theognis zugeschrieben? Dass die Gedichte des C. Th. nicht von einem Dichter allein stammen können, wurde bereits dargestellt. Es ist ausgeschlossen, dass ein einziger Dichter alle Gedichte selbst produzierte. Allein sprachliche Form und Anspielungen lassen unterschiedliche Entstehungsorte der Gedichte wie Athen, Megara, vielleicht Aulis oder Euböa erken-
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Schol. Plat. leg. 630 a. Vgl. Selle 2008, 29–36. Lane Fox 2000, 36–37. Vgl. Selle 2008, 372–373. Vgl. ebd., 235–236 und 247–248. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass die Verse 773–788 W wirklich von Theognis stammen. Vgl. ebd., 252–253. Vgl. ebd., 373.
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nen.62 Zudem sind die Gedichte vermutlich in einem Zeitraum von etwa 200 Jahren entstanden.63 So können denn auch einige Autoren, wie Tyrtaios, Solon, Mimnermos, Phokylides und Euenos, identifiziert werden, weil ihre Gedichte auch an anderer Stelle überliefert sind.64 Der Großteil der Dichter des C. Th. bleibt aber anonym. Figueira/ Nagy glauben gar, dass es unmöglich ist, Theognis bestimmte Gedichte zuzuschreiben, da sein Name vielmehr eine kumulative Synthese megarischer Dichtertradition darstelle: „Theognis is the self-representation of whoever chose to articulate the social values contained in these traditions.“65 Dies erkläre auch die pan-hellenische Tendenz der Gedichte des Corpus’, die sich eben nicht auf spezielle Personen oder Poleis beziehe.66 Jedoch erscheint es andererseits plausibel, dass, wie Rösler darlegt, ein Dichter seine Gedichte ganz bewusst vage formulierte, damit diese „nicht nur innerhalb des persönlichen Lebensbereiches des Verfassers, sondern auch für ein hiervon entferntes Publikum rezipierbar [sind].“67 Und so wird denn auch in der Forschung bis auf die wenigen genannten Ausnahmen davon ausgegangen, dass ein Drittel aller Verse – und dabei die Mehrheit der Verse 19–254 W aus Buch 1 – einem Dichter namens Theognis zugeschrieben werden können.68 Doch welche Gedichte sind das? Eine Möglichkeit der Zuschreibung gewisser Gedichte an Theognis geschieht unter Bezugnahme auf das Siegelgedicht. In diesem berühmten Gedicht (insgesamt V. 19–26 W) bezeichnet Theognis sich selbst als Autor und nennt seine Herkunft: Kyrnos, schlau habe ich mir ein Siegel ausgedacht, das auf diesen Worten liegen soll. So kann sie niemand unbemerkt stehlen, niemand sie zum Schlechteren ändern, weil das Gute ja da ist, und so wird ein jeder sagen: „Dies sind die Worte des Theognis aus Megara.“ […]69 (V. 19–22 W, Übers. Hansen 2005)
Demzufolge könnten all jene Gedichte von Theognis sein, die dieses Siegel tragen. Die Frage ist jedoch, worin genau das Siegel überhaupt besteht. Eine gängige Hypothese ist, dass die Anrede des Kyrnos das Siegel darstellt und damit die Echtheit der betroffenen Gedichte anzeige. Demnach seien alle Gedichte, die an Kyrnos oder Polypaides 62 63 64 65 66 67 68 69
Selle 2008, 253 gibt eine kurze Übersicht über einige Gedichte und ihre etwaigen Entstehungsorte. Vgl. ebd., 374–375. Diese Ansicht wird in der jüngeren Forschung fast ausschließlich geteilt mit Ausnahme von Dovatur 1972. Vgl. Selle 2008 377, Anm. 23; Nagy 1985, 48; West 1974, 40. Figueira/Nagy 1985, 2. Ähnlich Lane Fox 2000, 37; Stein-Hölkeskamp 1997, 21–22. Vgl. Nagy 1985, 50–51. Rösler 1980, 80. Vgl. auch ders. 1983, bes. 21–23. Selle 2008, 273–274 zieht darüber hinaus auch in Erwägung, dass die Vagheit der Corpus-Gedichte auch im Nachhinein entstanden sein kann, indem Gedichte mit konkreten Anspielungen nicht überliefert wurden. S. S. 232, Anm. 15. V. 19–21 W: Κύρνε, σοφιζομένωι μὲν ἐμοὶ σφρηγὶς ἐπικείσθω / τοῖσδ’ ἔπεσιν, λήσει δ’ οὔποτε κλεπτόμενα, / οὐδέ τις ἀλλάξει κάκιον τοὐσθλοῦ παρεόντος, / ὧδε δὲ πᾶς τις ἐρεῖ· ‘Θεύγνιδός ἐστιν ἔπη / τοῦ Μεγαρέως· […]
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(Sohn des Polypaos) im Vokativ adressiert sind, ursprünglich von Theognis.70 Selle steht dieser These jedoch zurecht kritisch gegenüber. Er glaubt keinesfalls, dass die Anrede des Kyrnos das Siegel darstellt.71 Zwar liefere die Anrede ein Indiz für die Unechtheit von Gedichten, die andere Personen ansprechen. Jedoch kann sie keinesfalls als Mittel zur Identifikation der Echtheit genutzt werden, „da sie nachweislich nachgeahmt wurde, ja sich anscheinend sogar zu einem traditionellen Gestaltungsmittel der Gattung entwickelte“72. Das einzige Gedicht, das nahezu sicher von Theognis ist – weil der Dichter hier seinen eigenen Namen nennt73 – ist nach Selle also nur das Siegelgedicht. Die Echtheit der übrigen Stücke könne lediglich durch einen Abgleich von Ähnlichkeiten mit dem Siegelgedicht überprüft werden. Da das Siegelgedicht aber kurz ist, biete es insgesamt nur wenig brauchbare Anhaltspunkte. Diese sind die Anrede an Kyrnos, eine Verortung in Megara und ein lehrhafter Inhalt.74 Eine andere Möglichkeit sei, die wenigen biographischen Angaben zu Theognis mit einzelnen Gedichten in Verbindung zu bringen. Selle kommt durch dieses Vorgehen zu dem Schluss, dass von 360 Stücken des Corpus’ 32 Stücke wahrscheinlich und eins (das Siegelgedicht) sicher von Theognis sind.75 Insgesamt bleibt der Versuch, Theognis als historische Figur zu fassen, schwierig. Die Gedichte des Corpus’ und die Testimonien bieten nur wenige Anhaltspunkte, um über Datierung, Heimat und Leben ihrer Verfasser konkrete Aussagen zu treffen. Über Theognis selbst erfahren wir fast gar nichts.76 Nach Auseinandersetzung mit der jüngeren Forschungsliteratur konnte sich der Figur des Theognis jedoch angenähert werden. So kann festgehalten werden, dass es einen Dichter namens Theognis, wie die Erwähnungen in den Testimonien und das Siegelgedicht zeigen, gegeben haben muss. Er lebte vermutlich in der Mitte des 6. Jh. v. Chr. und stammte wahrscheinlich aus Megara am Isthmus. In keinem Fall war er jedoch der einzige Dichter des C. Th. Vermutlich kann ihm aber die Mehrheit der Verse 19–254 W zugesprochen werden. Mit Sicherheit von Theognis ist dabei lediglich das Siegelgedicht V. 19–26 W. (Andere Verse, die diesem Gedicht ähneln und die in zeitlicher Hinsicht passen, können Theognis jedoch ebenfalls zugesprochen werden.)
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Vgl. Selle 2008, 291 mit Anm. 254. So auch Bakker 2017, 106–107. Interessant ist auch der Ansatz einer performativen Herstellung des Siegels in V. 19 von ebd., 110: „[…] what we are witnessing here is not a reference to the placement of a seal, nor the statment of the need for a seal to be placed, but the placement of the seal itself. The verb (ἐπικείσθω (V. 19), Anm. AvdD) is „performative“ in the strict sense in which the term is used in speech-act-theory.“ Selle 2008, 376. Vgl. ebd., 292. Vgl. ebd., 281. Vgl. ebd., 376–377. Ebd., 377, Anm. 23 listet diejenigen Gedichte auf, die er Theognis (sowie anderen Dichtern) zuschreibt. Vgl. ebd., 281.
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Theognis von Megara
Für die Analyse von Sprechakten in Theognideischen Gedichten bedeutet das, dass solche Gedichte herangezogen werden müssen, die aus oben genannten Gründen Theognis zugesprochen werden können und die, um mit den analysierten Gedichten der anderen hier untersuchten Dichter vergleichbar zu sein, polisbezogen sind. Hier bietet sich besonders ein Versabschnitt an, der für Stein-Hölkeskamp das „vielschichtigste und komplexeste Gedicht der Theognidea […]“77 darstellt: Die Verse 39–60 W. In der Forschung wird dabei diskutiert, ob es sich hierbei um ein zusammenhängendes Gedicht oder um zwei oder mehrere einzelne Gedichte handelt.78 Unter der Prämisse, Abschnitte im Zweifel lieber zu trennen, teilt etwa Selle die Verse in drei einzelne Teile (V. 39–42 W / V. 43–52 W / V. 53–60 W).79 Dagegen, dass zwischen V. 39 W und V. 52 W eine Trennung erfolgen muss, argumentiert jedoch von der Lahr. Er glaubt nicht, dass nach Vers 42 W eine Gedankenstruktur endet und in Vers 43 W eine neue beginnt.80 Dem Argument, dass hier durch die erneute „Kyrnos“ Anrede in V. 42 W eine Gedichtgrenze anzusetzen ist, wie Selle es annimmt, begegnet Lahr u. a. mit dem Argument, dass wiederholte persönliche Anrede ein gern angewandtes rhetorisches Mittel sei, um die Aufmerksamkeit des Adressaten zu steigern.81 Ob hier tatsächlich nur ein Gedicht vorliegt, oder aber von zwei einzelnen Gedichten ausgegangen werden sollte, kann an dieser Stelle noch nicht entschieden werden. Aufgrund der thematischen Einheitlichkeit der Verse 39–52 W soll der gesamte Verskomplex 39–60 W vorerst lediglich in zwei Abschnitte unterteilt werden, wobei die Verse 39–52 W und die Verse 53–60 W als zusammengehörig betrachtet werden.82 Die beiden Gedichte sollen dabei unabhängig voneinander untersucht werden. Erst im Anschluss an die Analyse der Sprechakte soll dann noch einmal geprüft werden, ob sich die einzelnen Teile doch zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen, oder ob möglicherweise doch eine Binnenunterteilung (Trennung nach V. 42 W) vorgenommen werden muss. Bevor die Sprechakte der Verse 39–52 W und 53–60 W analysiert werden können, muss jedoch der je individuelle Kontext der Verse bestmöglich ermittelt werden. Denn nur in Kenntnis der Handlungsbedingungen lassen sich die Sprechakte sinnvoll deuten. 77 78 79 80 81 82
Stein-Hölkeskamp 1997, 23 (allerdings nur in Bezug auf die Verse 39–52 W). Vgl. dazu die von Lahr 1992, 11–12 gegenübergestellten Forschungspositionen der „Zwei-Gedichte-Theorie“ und der „Unitaristen“. Vgl. Selle 2008, 262–263. Ähnlich Becker 2018, 107; Kroll 1936, 117–122. Vgl. Lahr 1992, 11–17. Ähnlich Friis Johansen 1993, 23 mit Anm. 61. Vgl. Lahr 1992, 13. Dass die Verse 61–68 W nicht mehr dazugerechnet werden, begründet Selle 2008, 262–263 schlüssig damit, dass hier einerseits ein neues Thema beginnt (bis V. 60 W: Zustand der Stadt; ab V. 60 W: Freundschaft), andererseits mit dem Hinweis auf das Demonstrativpronomen τῶνδε (ἀστῶν) (V. 60 W). Dieses werde häufig als Rückverweis auf die vorausgehenden Verse interpretiert, deute jedoch gar nicht auf etwas zurück, sondern verweise vielmehr in aller Regel auf etwas Folgendes oder Außertextuelles. Aus diesem Grund und, weil ein neues Thema beginnt, nimmt Selle nach V. 60 W eine Trennung vor. Ähnlich Gärtner 2007, 10. Dagegen Hasler 1959, 49.
Die Verse 39–52 W
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8.1 Die Verse 39–52 W 8.1.1 Der außerliterarische Kontext In diesem Gedicht geht es um einen machtpolitischen Wandlungsprozess innerhalb der Polis: Die altbekannte Ordnung, in welcher traditionellerweise die Guten das Sagen hatten, droht auseinanderzubrechen. Die Schlechten übernehmen die Führung in der Polis. Theognis befürchtet, dass dies zu Bürgerkrieg und gar der Übernahme der Macht durch einen Alleinherrscher, einen Tyrannen, führt. Diese Verse mit der Geschichte Megaras in archaischer Zeit in Einklang zu bringen, ist äußerst schwierig.83 Es gibt jedoch zwei Quellen, die hier von Bedeutung sein können. Nicht nur, weil ihr Inhalt sich teilweise überschneidet, sondern auch, weil möglicherweise ein Bezug zu den bei Theognis beschriebenen politischen Verhältnissen hergestellt werden kann. Es handelt sich hierbei um Beschreibungen in Aristoteles’ Politik sowie den Quaestiones Graecae (Moralia) Plutarchs. Von Aristoteles erfahren wir, dass ein Mann namens Theagenes eine Tyrannis in Megara errichtet hat: Alle (Tyrannen, Anm. AvdD) taten dies als Vertrauensleute des Volkes; gegründet war dies Vertrauen auf dem Haß gegen die Reichen, so wie in Athen Peisistratos im Aufstand gegen die Großgrundbesitzer unterstützt wurde, und Theagenes von Megara, der sich der Herden der Wohlhabenden, die am Fluss weideten, bemächtigte und sie hinschlachtete […]84 (Übers. Gigon 1971)
Auch Plutarch berichtet von der Tyrannis des Theagenes sowie einer darauffolgenden zügellosen Demokratie:
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Die Hauptquellen für die Geschichte Megaras in Bezug auf eine Tyrannis des Theagenes sind neben Arist. pol. V, 5 1305a 15–28, Arist. rhet. 1357b 33 auch Paus. I, 40. 1. Zu den Verhältnissen (wahrscheinlich) nach der Tyrannis des Theagenes s. Plut. mor. 295 c–d; Plut. mor. 304 e–f; Arist. pol. IV, 15 1300a 17–19; Arist. pol. V, 3 1302b 31; Arist. pol. V, 5 1304b 34–36. Okin 1985, 14 zeigt jedoch, dass Pausanias gegenüber Aristoteles und Plutarch nichts Neues bringt und dass Plutarchs Berichte in den Moralia vermutlich auf Aristotels zurückgehen. Eine Rekonstruktion der Geschichte des archaischen Megaras anhand antiker Zeugnisse versucht etwa Forsdyke 2005, 48–59. Vgl. zur Geschichte Megaras umfassend Legon 1981, bes. 86–157 und überblicksartig Welwei 1998, 255–257; Walter 1993, 98–112; Gehrke 1986, 140–144. Arist. pol. V, 5 1305a 21–26: πάντες δὲ τοῦτο ἔδρων ὑπὸ τοῦ δήμου πιστευθέντες, ἡ δὲ πίστις ἦν ἡ ἀπέχθεια ἡ πρὸς τοὺς πλουσίους, οἷον Ἀθήνησί τε Πεισίστρατος στασιάσας πρὸς τοὺς πεδιακούς, καὶ Θεαγένης ἐν Μεγάροις τῶν εὐπόρων τὰ κτήνη ἀποσφάξας, λαβὼν παρὰ τὸν ποταμὸν ἐπινέμοντας, […] Vgl. auch Arist. rhet. 1357b 33 und Paus. I, 40. 1. Bereits Berve 1967, 52–53 hat Aristoteles’ Bericht über das Abschlachten der Herden zur Gewinnung der Gunst des Volkes als anachronistisch abgetan. Vgl. auch De Libero 1996, 226–227. Tausend 2013, 532 erkennt richtig, dass hier wohl die Absicht des aufstrebenden Alleinherrschers sichtbar werde, die Existenzgrundlage der aristokratischen Widersacher dauerhaft zu vernichten.
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Theognis von Megara
Als die Megarer den Tyrannen Theagenes vertrieben hatten, waren sie hinsichtlich ihrer Gesellschaftsordnung für kurze Zeit vernünftig. Dann wurden sie, nachdem ihnen die Demagogen, wie Platon sagt, den Wein der Freiheit reichlich und unverdünnt eingeschenkt hatten, völlig verdorben und benahmen sich den Reichen gegenüber unverschämt. Insbesondere betraten die Armen unter ihnen die Häuser der Reichen und wollten bewirtet werden und billig schmausen; und wenn sie dies nicht erhielten, behandelten sie alle gewalttätig und frech. Am Ende stellten sie ein Gesetz auf, nach dem sie die Zinsen zurückerhielten, die sie den Geldverleihern gezahlt hatten; das nannten sie Zinserstattung. (Übers. Selle 2008, 231–232)85
Und auch Aristoteles erwähnt eine Demokratie in Megara, die jedoch ein Ende gefunden habe, als die vom Volk verbannten Vornehmen sich zusammentaten, die Macht zurückeroberten und eine Oligarchie errichteten (ein zeitlicher Zusammenhang zu der ersten genannten Aristoteles-Stelle ist nicht herstellbar): Ebenso erging es der Demokratie in Megara. Um die Vermögen konfiszieren zu können, schickten die Volksführer viele der Angesehenen in die Verbannung, bis es eine Menge von Verbannten gab. Da kehrten diese zurück und besiegten in der Schlacht die Demokraten und richteten eine Oligarchie ein.86 (Übers. Gigon 1971)
Sowohl Aristoteles als auch Plutarch berichten demnach von der Tyrannis des Theagenes und erwähnen beide eine ausschweifende Volksherrschaft. Würde man die Informationen beider Autoren zusammenbringen wollen, ergäbe sich – unter der ungewissen Voraussetzung, dass beide die gleiche zeitliche Epoche beschreiben – folgende Abfolge der politischen Verhältnisse in Megara: Tyrannis des Theagenes (Arist. pol. V, 5 1305 21–26), Sturz der Tyrannis und kurze Phase der „Vernunft“ (Plut. mor. 295 c), „Demokratie“/Ochlokratie (Arist. pol. V, 5 1304b, 34–36; Plut. mor. 295 d), Oligarchie (Arist. pol. IV, 15 1300a 17–19 und Arist. pol. V, 5 1304b, 35–36).87
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Plut. mor. 295 c–d: Μεγαρεῖς Θεαγένη τον τύραννον έκβαλόντες ὀλίγον χρόνον ἐσωφρόνησαν κατὰ τὴν πολιτείαν· εἶτα πολλήν κατὰ Πλάτωνα (Rep. 562 d) καὶ ἄκρατον ἀυτοῖς έλευθερίαν τῶν δημαγωγῶν οἰνοχοούντων διαφθαρέντες παντάπασι τά τ’ ἄλλά τοῖς πλουσίοις ἀσελγῶς προσεφέροντο, καὶ παριόντες εἰς τάς οἰκίας αὐτῶν οἱ πένητες ἠξίουν ἑστιᾶσθαι καὶ δειπνεῖν πολυτελῶς· εἰ δὲ μὴ τυγχάνοιεν, πρὸς βίαν καὶ μεθ’ ὕβρεως ἐχρῶντο πᾶσι. τέλος δὲ δόγμα θέμενοι τοὺς τόκους ἀνεπράττοντο παρὰ τῶν δανειστῶν οὕς δεδωκότες ἐτύγχανoν, ‚παλιντοκίαν‘ τὸ γινόμενον προσαγορεύσαντες. Vgl. zur „zügellosen Demokratie“ auch Plut. mor. 304 e–f. Arist. pol. V, 5 1304b 34–36: παραπλησίως δὲ καὶ ἡ ἐν Μεγάροις κατελύθη δημοκρατία· οἱγὰρ δημαγωγοί, ἵνα χρήματα ἔχωσι δημεύειν, ἐξέβαλον πολλοὺς τῶν γνωρίμων, ἕως πολλοὺς ἐποίησαν τοὺς φεύγοντας, οἱ δὲ κατιόντες ἐνίκησαν μαχόμενοι τὸν δῆμον καὶ κατέστησαν τὴν ὀλιγαρχίαν. Vom Ende der „Demokratie“ in Megara erfahren wir auch in Arist. pol. V, 3 1302b 31 und Arist. pol. IV, 15 1300a 17–19, wo es heißt, dass die Ämter an diejenigen vergeben wurden, die aus dem Kreis der Verbannten stammten und am Kampf gegen den Demos teilgenommen hätten. So auch Selle 2008, 232. Der Demokratie-Begriff ist hier natürlich anachronistisch, vgl. Walter 1993, 102; Welwei 1998, 255. Dennoch zweifelt ebd. nicht an der Existenz einer Volksversammlung und
Die Verse 39–52 W
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Wollte man nun die Verse 39–52 W mit den geschilderten Ereignissen in Einklang bringen, so ließe sich dies auf den ersten Blick einfach bewerkstelligen: Die bei Aristoteles erwähnten Oligarchen könnten die bei Theognis genannten ἀγαθοὶ ἄνδρες (V. 43 W) sein. Bei den von Theognis kritisierten κακοί (V. 44 W) handelte es sich vielleicht um das bei Plutarch beschriebene unverschämte Volk. Bei einem zweiten Blick zeigt sich jedoch die Willkürlichkeit einer solchen Zuordnung. Denn die κακοί könnten ebenso gut die bei Aristoteles genannten Demagogen gewesen sein und mit den ἀγαθοὶ ἄνδρες könnte auch die Zeit der vernünftigen Gesellschaftsordnung, beschrieben bei Plutarch, gemeint sein.88 Zudem gibt es keinerlei Übereinstimmung der in den Quellen oder bei Theognis genannten Details.89 Ein Zusammenbringen von Gedicht und den spärlichen Berichten der antiken Zeugnisse über die Lokalgeschichte des isthmischen Megara in archaischer Zeit lässt sich insofern nicht sinnvoll bewerkstelligen und würde der Gefahr eines Konstruktes unterliegen. Nichtsdestoweniger hat West einen Zusammenhang erkennen wollen. Er bezieht die Verse (wie schon in Bezug auf die Datierung des Theognis erwähnt) auf die Situation vor der Machtergreifung des Tyrannen Theagenes in Megara im letzten Viertel des 7. Jh. v. Chr.90 Lahr folgt West in der Annahme, dass ein megarischer Dichter, der die Tyrannis thematisiert, sich auf den megarischen Tyrannen Theagenes beziehen müsste. Lahr schließt daraus jedoch nicht, anders als West, dass das Gedicht vor dessen Tyrannis entstanden sein muss, sondern – weil er es aufgrund der Ähnlichkeit zu Solons Salamis-Elegie in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. datiert – dass Megara nicht der Entstehungsort der Elegie sein kann.91 Beide Argumentationsketten haben ihre Berechtigung, wenn angenommen wird, dass das Gedicht tatsächlich auf die Machtergreifung des Theagenes anspielt. Es ist jedoch völlig unklar, ob es hier um Theagenes geht. Genauso kann der Aufstieg eines jeden beliebigen Machthabers gemeint sein. So postuliert Friis Johansen korrekt: But there is nothing – not even 52 πόλει μήποτε τῆιδε ἅδοι – in the poem to substantiate West’s claim that these things are in danger of happening in Megara for the first time
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sieht auch in der bei Plutarch beschriebenen Forderung der Zinserstattung durch den Demos ein stabilisierendes Element. Vgl. Welwei 1998, 232. Okins 1985, 15–18 zeigt, dass weder Aristoteles noch Plutarch für ihre Berichte auf die Gedichte der Theognidea zurückgreifen, was unüblich gewesen sei: „Their usual method was to pay close attention to poetry as a historical source.“ (15). Er nimmt deswegen an, dass Aristoteles (der Plutarchs Quelle gewesen sei) das Theognideische Corpus als Quelle für die Geschichte ignorierte. Möglicherweise hielt er es gar für irrelevant, weil er, wie sein Lehrer Platon, davon ausgegangen sein könnte, Theognis stamme nicht aus Megara am Isthmus, sondern vom sizilianischen Megara. Vgl. West 1974, 68. Dagegen (mit Bezug auf die antiken Berichte) Selle 2008, 229–235. Vgl. Lahr 1992, 10.
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(p.68); nor have we any right to assume that the tyranny feared by Theognis was ever realized, i. e. that it was that of Theagenes, the only Megarian tyrant known to posterity.92
Weil Theognis’ Blüte aus oben genannten Gründen vermutlich in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. datiert werden kann, ist eher davon auszugehen, dass sich die Verse 39–52 W auf Machtkämpfe der Zeit nach der Tyrannis des Theagenes in Megara beziehen.93 Es bleibt insofern nur die Erkenntnis, dass es kaum möglich ist, für das Gedicht einen konkreten geographischen oder historischen Bezugsrahmen auszumachen.94 Auch in den Versen 39–52 W bleiben der Name der Stadt sowie der Name des Tyrannen im Dunkeln. Diese Unbestimmtheit kann dabei bewusst gewählt worden sein, damit die Gedichte auch an anderen Orten und für ein anderes Publikum rezipierbar waren,95 zumal es in Griechenland, wie Selle richtig anmerkt, kein Gemeinwesen gegeben hat, dessen Führung nicht zu irgendeiner Zeit als unmoralisch und korrupt hätte angesehen werden können.96 Die bewusst gewählte Unbestimmtheit zeigt Rösler wiederum an den in dem Gedicht enthaltenen deiktischen Elementen, wie etwa der Ansprache des Kyrnos, dem Verweis des Dichters auf sich selbst oder der Zeigwörtern wie ὅδε oder ἡμέτερος: „Gewiß, aus einer rekonstruierenden Haltung heraus ließe sich der Bezug zu den historischen Personen Theognis und Kyrnos und damit zu Megara, der Heimatstadt des Dichters, herstellen, doch mochte andererseits mancher Sprecher oder Hörer das Gedicht, die Anrede an Kyrnos verdrängend und zugleich die Deixis am Phantasma in Demonstratio ad oculos überführend, statt dessen an die eigenen Stadt denken, in der man gerade das Symposion beging.“97 Gleichwohl hält Rösler es für „unbezweifelbar“, dass den Theognideischen Elegien, bevor sie bei der Umsetzung in Dichtung generalisiert wurden, Theognis’ eigene Erfahrungen und Erlebnisse zugrunde liegen.98 Auch Becker glaubt, dass „der Inhalt der Gedichte aus der Reflexion und Deutung zwar nicht näher bestimmbarer, jedoch realer historischer Er-
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Friis Johansen 1993, 23–24 (mit Anm. 64, 23). Vgl. auch Lane Fox 2000, 41; Tausend 2013, 533; Allan 2019, 167. Vgl. etwa Bannert 2013, 23; Lane Fox 2000, 41. Dass die Verse für einen allgemeinen Zeitraum zwischen dem Ende des 7. und dem Ende des 6. Jh. v. Chr. kompatibel sind, glaubt Friis Johansen 1993, 25–26. So auch Hansen 2005, XIV; Lane Fox 2000, 38; Friis Johansen 1993, 25; Lahr 1992, 9; Nagy 1985, 51; Okin 1985, 21. Vgl. Rösler 1980, 80; ders. 1983, 21–23; Nagy 1983, 90–91; Becker 2018, 106; Lane Fox 2000, 45; Bakker 2017, 103–104. Vgl. Selle 2008, 231. Vgl. diesbezüglich auch Rösler 1983, 23. Rösler 1983, 23. Die Begriffe „Deixis am Phantasma“ (Hinweis auf lediglich Imaginiertes) und „Demonstratio ad oculos“ (Hinweis auf unmittelbar Präsentes) entnimmt Rösler Bühler 1934 und macht sie für die frühgriechische Dichtung fruchtbar. Vgl. ähnlich Bakker 2017, der diesbezüglich von „projected indexicality“ (104) spricht. Vgl. auch Nünlist 1998, 8–9. Vgl. Rösler 1980, 80. Vgl. in diesem Sinne auch Gentili 1988, 44 für Alkaios. Anders Stein-Hölkekskamp 1997, 22 und Nagy 1985, 33–34.
Die Verse 39–52 W
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eignisse erwachsen ist […].“99 Selle hält dabei diejenigen Gedichte für eher echt, die Besitzverlust oder eine politischer Situation schildern.100 Dies trifft auch auf die Verse 39–52 W zu. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass die Verse 39–52 W einer realen Situation entsprungen sind, die in der Heimatstadt des Dichters gegeben war. Weil die Elegie zu denjenigen Gedichten gehört, die wahrscheinlich von Theognis stammen, ist es möglich, dass es sich bei der angesprochenen Stadt um Megara am Isthmus handelt. Denn wie bereits Lahr angenommen hat, ist davon auszugehen, dass es sich bei der im Gedicht thematisierten Stadt aufgrund des Selbstbezuges durch ἡμετέρης (V. 40 W) um die Heimatstadt des Dichters handelt, deren Schicksal ihm am Herzen liegt.101 In den Versen 39–52 W wird also möglicherweise eine Situation beschrieben, die im 6. Jh. v. Chr., der Zeit, in die Theognis datiert wird, in Megara gegeben war. Auf Grundlage der wenigen erhaltenen Quellen lässt sich über diese Situation grob nur so viel sagen: Nach dem Sturz des Tyrannen Theagenes ist es in Megara zu innenpolitischen Wirren gekommen (vielleicht noch verstärkt durch die Niederlage im Kampf um Salamis gegen Athen)102. Möglicherweise wurde eine auf die Tyrannis des Theagenes folgende Oligarchie dabei durch aufstrebende Männer aus dem einfachen Volk abgelöst. Wie genau die politischen Verhältnisse aussahen, ob die „Demokratie“ erst vernünftig und dann zügellos gewesen ist und ob sie wiederum später erneut durch eine Oligarchie ersetzt wurde,103 kann aufgrund der Vagheit der Verse des Theognis und der Quellenarmut für das 6. Jh. in Megara nicht mehr rekonstruiert werden. Anders als für den Kontext der Dichtung der anderen hier untersuchten Dichter, können keine weiteren Angaben zur historischen Situation der Verse 39–52 W gemacht werden als diejenigen, die aus den Versen selbst ersichtlich werden. Dies bedeutet auch, dass, ebenfalls im Unterschied zu den Untersuchungen der anderen Dichter, das perlokutionäre Nachspiel der Sprechakte nicht rekonstruiert werden kann. Es ist nicht möglich, politische Entwicklungen auf die von Theognis geäußerten Worte zurückzuführen. Die Analyse der Sprechakte kann hier also lediglich dazu dienen, sich einem potenziellen historischen Setting im Megara des 6. Jh. v. Chr. sowie der Person des Dichters und seinem spezifischen Zuhörerkreis zu nähern. Hierauf liegt der Fokus der folgenden Untersuchung. Mit größerer Sicherheit kann dafür der Aufführungskontext der Dichtung bestimmt werden. Denn obwohl die einzelnen Stücke der Theognidea bezüglich Zeit und Ort unterschiedlicher Herkunft sind, legen ihre literarisch-dichterische Form und die Konzentration auf stets wiederkehrende Themenbereiche den gleichen Zweck bzw.
99 Becker 2018, 107. 100 Vgl. Selle 2008, 276–277. 101 Vgl. Lahr 1992, 17 und 53–55. Dass damit allerdings auch eine „Deixis am Phantasma“ vorliegen könnte, zeigt Rösler 1983, 21–23. 102 Vgl. Walter 1993, 103–105. 103 So angenommen von Welwei 1998, 255.
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gesellschaftlichen Anlass nahe: Das adlige Symposion.104 Aus einer Stelle des Corpus’ geht dies besonders deutlich hervor:105 Dir habe ich Flügel gegeben, mit denen du über das unermessliche Meer fliegen wirst und hoch über die ganze Erde hin mit Leichtigkeit. Bei allen Mählern und Festen wirst du dabei sein, in vieler Munde geführt106 (V. 237–240 W, Übers. Hansen 2005)
Hier zeigt sich, dass die Gedichte für das Abendessen und das Festgelage gedacht waren. Andere Verse im Corpus benennen explizit, dass der Vortrag der Gedichte im Symposion stattfand, das im Anschluss an das Mahl abgehalten wurde:107 Aber ihr, redet gut, wenn ihr beim Mischkrug bleibt, haltet Streitigkeiten untereinander weit fern und sprecht offen, zu allen zugleich so wie zu einem allein, dann wird das Symposium fröhlich sein.108 (V. 493–496 W, Übers. Hansen 2005)
Die Gedichte dienten offenbar vielfach dazu, die Zuhörer zu belehren und ihnen gute Ratschläge zu erteilen, häufig in Bezug auf ein angemessenes Verhalten innerhalb der Symposionskultur selbst. Irwin nennt die Theognidea aus diesem Grund „a handbook for aristocratic symposiasts“109. Oft wurde dabei das rechte Verhalten eines wahren ἀγαθός reflektiert. Als ein solcher sieht Theognis sich selbst, wie vielfach aus seiner Dichtung hervorgeht.: „His stance is unmistakably the stance of an agathos, a true aristocrat, true to aristocratic values.“110 Eine vornehme Herkunft legt auch V. 27 W nahe. Daraus ergibt sich auch ein möglicher Zuhörerkreis für die hier untersuchten Verse 39–52 W: Die beim Symposion versammelten Angehörigen oder Gastfreunde eines wohl aristokratischen Freundeskreises, der Hetairie.111 Es ist denkbar, dass Theognis als Teil der einstigen Führungsschicht, deren Wohlstand und Machtposition von Nichtadligen übernommen worden ist, im geschützten Rahmen des Symposions mit dem Gedicht sein Missfallen über die politische Umbruchsituation, innerhalb deren
104 Vgl. Stein-Hölkeskamp 1997, 22. Schon in Bezug auf die Entstehung der Sammlung ist deutlich geworden, dass es sich bei der Theognidea um eine Sammlung sympotischer Elegien handelt, die in Zeiten des Aussterbens der Symposionskultur dem Vergessen entzogen werden sollten. 105 Die Verse 237–252 W des C. Th. werden häufig als Beweis dafür herangezogen, dass die archaische Lyrik Symposionslyrik gewesen sein muss. Vgl. dazu Kap. 1.2., S 24–25. 106 V. 237–240 W: σοὶ μὲν ἐγὼ πτέρ’ ἔδωκα, σὺν οἷσ’ ἐπ’ ἀπείρονα πόντον / πωτήσηι κατὰ γῆν πᾶσαν ἀειρόμενος / ῥηϊδίως· θοίνηις δὲ καὶ εἰλαπίνηισι παρέσσηι / ἐν πάσαις πολλῶν κείμενος ἐν στόμασιν 107 Vgl. Selle 2008, 283 mit Stellenangaben. 108 V. 493–496 W: ὑμεῖς δ’ εὖ μυθεῖσθε παρὰ κρητῆρι μένοντες, / ἀλλήλων ἔριδος δὴν ἀπερυκόμενοι, / εἰς τὸ μέσον φωνεῦντες ὁμῶς ἑνὶ καὶ συνάπασιν· / χοὔτως συμπόσιον γίνεται οὐκ ἄχαρι 109 Irwin 2010, 37. 110 Lane Fox 2000, 40; Lahr 1999, 39; Figueira/Nagy 1985, 7. 111 Vgl. Meier 2009, 284–295; Selle 2008, 283–284. Der Begriff Hetairie kommt allerdings an keiner Stelle des Corpus’ vor, vgl. ebd., 259.
Die Verse 39–52 W
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die Machtverhältnisse sich umzukehren drohten, ausdrückte. Für eben jene Sorgen und Nöte, aber auch Meinungen und Proteste bot das Symposion unter Standesgenossen den geeigneten Raum.112 Interessant und viel diskutiert ist in Bezug auf den Adressatenkreis auch „Kyrnos“, der auffallend häufig – so auch in den Versen 39–52 W – der Adressat der Verse ist. Dabei tritt er als jugendlicher Freund (vielleicht auch Geliebter) des Sprechers in Erscheinung, dem der weise Dichter Lebensweisheiten und Ratschläge erteilt.113 Weil die Inhalte der Gedichte jedoch weiter keinen persönlichen Bezug auf den Angeredeten nehmen, handelt es sich bei Kyrnos sehr wahrscheinlich um eine vom Sprecher erfundene Kunstfigur.114 Wahrscheinlich war die Anrede dabei ein bewusst gewähltes Stilmittel: Im Stil des erfahrenen Weisen wird dem jungen und unerfahrenen Schüler Kyrnos die allgemeine Adelsmoral verkündet. Zugleich steht die ausschließliche Anrede an Kyrnos wohl auch für die bereits angesprochene beabsichtigte Ungebundenheit der Gedichte und das intendierte, überindividuelle Publikum. Es erscheint plausibel, dass Kyrnos den typischen Adressaten darstellen sollte, in dessen Hörerrolle jedes beliebige Publikum schlüpfen konnte und sollte.115 So wie die generelle Unbestimmtheit innerhalb der Gedichte, kann auch die Kyrnos-Anrede als Indiz dafür gesehen werden, dass die Gedichte überall und zu jeder Zeit einsetzbar sein sollten. Nicht zuletzt das Siegel-Gedicht belegt schließlich die Hoffnung des Theognis, dass seine Gedichte in Zukunft ein jeder kennen würde.116 Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Verse 39–52 W wahrscheinlich im Symposion erklungen sind, wobei eine politische Situation aus der Perspektive eines Mitglieds der (ehemaligen?) Führungsschicht thematisiert wird, die die am Symposion teilnehmenden Standesgenossen im negativen Sinne zu betreffen scheint. Es ist möglich, dass diese Situation ursprünglich die des Theognis selbst in seiner Heimatstadt Megara gewesen ist und dabei aus einem konkreten historischen Setting heraus entstanden ist. Dieser Situation, die möglicherweise Mitte es 6. Jh. v. Chr. in Megara gegeben war, soll sich mit Hilfe der Sprechaktanalyse genähert werden. Die Tatsache, dass die Verse im Laufe der Zeit auch einem weiter entfernten Publikum zugänglich gemacht wurden, bedeutet dabei nicht, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Auffüh-
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Vgl. Meier 2009, 253; Schmitt-Pantel 1990, 15. Zur Frage nach der Herkunft des Namens „Kyrnos“ vgl. Nagy 1985, 54; Lane Fox 2000, 40; Selle 2008, 277–278. Vgl. ebd., 277–280; Hansen 2005 XVI; Rösler 1980, 80; West 1974, 41–42. Vgl. Becker 2018, 105–106. Dass sowohl Sprecher als auch Hörer einer anderen Polis zu einer anderen Zeit in die Rolle eines Theognis oder Kyrnos schlüpfen sollten, meint Nagy 1983, 82: „In terms of such a poetic convention, as we shall see, the poet can picture himself in an historical setting that may or may not be contemporaneous.“ Vgl. auch Selle 2008, 280. Vgl. Rösler 1980, 84.
248
Theognis von Megara
rung keinem ganz konkreten Zweck dienten bzw. eine konkrete Funktion innegehabt haben können.117 8.1.2 Analyse der Sprechakte Corpus Theognideum V. 39–52 W118 Κύρνε, κύει πόλις ἥδε, δέδοικα δὲ μὴ τέκηι ἄνδρα εὐθυντῆρα κακῆς ὕβριος ἡμετέρης. ἀστοὶ μὲν γὰρ ἔθ’ οἵδε σαόφρονες, ἡγεμόνες δέ τετράφαται πολλὴν εἰς κακότητα πεσεῖν. οὐδεμίαν πω, Κύρν’, ἀγαθοὶ πόλιν ὤλεσαν ἄνδρες· ἀλλ’ ὅταν ὑβρίζειν τοῖσι κακοῖσιν ἅδηι 45 δῆμόν τε φθείρουσι δίκας τ’ ἀδίκοισι διδοῦσιν οἰκείων κερδέων εἵνεκα καὶ κράτεος· ἔλπεο μὴ δηρὸν κείνην πόλιν ἀτρεμέ’ ἧσθαι, μηδ’ εἰ νῦν κεῖται πολλῆι ἐν ἡσυχίηι, εὖτ’ ἂν τοῖσι κακοῖσι φίλ’ ἀνδράσι ταῦτα γένηται, 50 κέρδεα δημοσίωι σὺν κακῶι ἐρχόμενα. ἐκ τῶν γὰρ στάσιές τε καὶ ἔμφυλοι φόνοι ἀνδρῶν· μούναρχοι τε· πόλει μήποτε τῆιδε ἅδοι.
40
Kyrnos, diese Stadt geht schwanger, und ich fürchte, sie wird 40 den Rächer unseres üblen Frevels gebären. Denn noch sind ihre Bürger zwar besonnen, aber die Führer haben sich schon großer Schlechtigkeit anheimgegeben. Niemals, Kyrnos, haben gute Männer eine Stadt zugrunde gerichtet, doch wenn den Schlechten zu freveln einfällt, 45 sie das Volk verderben und das Gesetz in die Hände der Ungerechten legen, um des eigenen Gewinnes willen und der eigenen Macht, dann erwarte nicht, dass diese Stadt noch lange unerschüttert bleibt, selbst wenn sie jetzt in tiefer Ruhe liegt, wenn diesen Schlechten der Gewinn gefällt 50 der mit Schaden für die Gemeinschaft einhergeht. 117
118
Eine Analyse und Interpretation der Sprechakte der Verse muss dabei, wie etwa Föllinger 2007, 55 in ihrer Untersuchung verdeutlicht, nicht einmal zwingend von der Annahme eines hörenden Primärpublikums abhängen, wenn die Elegie(n) zu einem späteren Zeitpunkt in einer anderen Polis erklungen sind. Der Appellcharakter der Elegien war nach wie vor spürbar und würde noch immer von der ursprünglichen Vortragssituation zeugen. Die Theognideischen Verse sind hier und im Folgenden zitiert nach West 1989. Die Übersetzung stammt von Hansen 2005.
Die Verse 39–52 W
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Denn daraus entstehen Aufstände, Bürgerkriege und Alleinherrscher; unserer Stadt soll das niemals gefallen.
In dem Gedicht V. 39–52 W wird das Missfallen über die gegebene politische Situation der Polis ausgedrückt. Die Elegie beginnt mit den Worten: Kyrnos, diese Stadt geht schwanger, und ich fürchte, sie wird den Rächer unseres üblen Frevels gebären.119 (V. 39–40 W)
Hier liegen insgesamt drei illokutionäre Akte vor. Theognis beginnt mit dem Vollzug eines illokutionären Aktes der Behauptung (V. 39 W). Er behauptet, dass die Stadt schwanger gehe. Indikatoren für den Sprechakt der Behauptung sind der Aussagesatz und das Verb im Indikativ. Theognis möchte seinen Zuhörern durch die Behauptung vermitteln, dass es für ihn eine Tatsache ist, dass die Stadt schwanger geht, dass in ihr also bereits „unumkehrbare politische Entwicklungen“120 stattgefunden haben. Dies sollen ihm die Zuhörer glauben. Die Standard-Perlokution einer Behauptung ist, weil sie ein Sprechakt der Sprechaktklasse der Repräsentativa ist, epistemisch. Die Behauptung ist jedoch nicht das Hauptanliegen der Verse. Sie stützt vielmehr die folgende, dominante Illokution der Warnung, dass die eigenen Frevel die Geburt eines ἀνὴρ εὐθυντήρ, hier übersetzt mit Rächer, zur Folge haben werden (V. 39–40 W). Wörtlich übersetzt ist ein ἀνὴρ εὐθυντήρ ein Korrektor, jemand, der ordnet, was in Unordnung geraten ist.121 Jedoch ist der ἀνὴρ εὐθυντήρ hier offenbar negativ konnotiert, weil er als Reaktion aus den üblen Freveln der Angesprochenen hervorgeht und Theognis sein Erscheinen fürchtet. Lahr erkennt in ihm einen Tyrannen: „Wer anders soll der ἀνὴρ εὐθυντήρ sein als der Monarchos, der Tyrann selbst, der die eitlen Hoffnungen jener bestrafen wird […].“122 Die Warnung vor diesem Rächer ist dabei jedoch indirekt, weil es sich bei der rein sprachlichen, oberflächlichen Repräsentation der Äußerung lediglich um eine Bekundung der Furcht handelt, nämlich der Furcht davor, dass die jetzige Situation einen Rächer hervorbringen werde.123 Es ist der Ausdruck der Furcht und der damit einhergehende Verweis auf ein in der Zukunft liegendes, zu fürchtendes Ereignis, was eine 119 120 121 122 123
V. 39–40 W: Κύρνε, κύει πόλις ἥδε, δέδοικα δὲ μὴ τέκηι ἄνδρα / εὐθυντῆρα κακῆς ὕβριος ἡμετέρης. Becker 2018, 107. Vgl. Lahr 1992, 72. Lahr 1992, 79. Ähnlich Hasler 1959, 35. Nagy 1985, 44 merkt zurecht an, dass, obwohl Theognis das Auftreten eines Tyrannen fürchtet, er in diesem gleichzeitig auch einen Mann sieht, der die Exzesse der Oligarchie reguliert. Weil Theognis behauptet, dass er sich fürchte (δείδω), kann darüber diskutiert werden, ob es sich hierbei um einen expressiven Sprechakt handelt. Zur Diskussion, ob Einstellungs-Bekundungen expressive oder repräsentative Sprechakte sind vgl. Rolf 2006, 2528–2530 und ders. 1997, 57–66 sowie Staffeldt 2011. Beide sprechen sich dafür aus, dass es sich bei Einstellungs-Bekundungen um repräsentative (bzw. nach Austin „assertive“) Sprechakte handelt. An dieser Diskussion zeigt sich ganz grundsätzlich, dass expressive Sprechakte immer einen repräsentativen Anteil in sich tragen.
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über die reine Furcht-Bekundung hinausgehende primäre Intention ersichtlich werden lässt: Die Warnung vor dem Eintritt der Geburt des Rächers. Die Metaphorik der schwangeren Stadt ist dabei ein weiterer Grund für die Annahme, dass es sich hier um eine Warnung handelt, weil sie die nahende Gefahr vor dem Tyrannen verdeutlicht: Die Zeit bis zum Eintritt des Rächers schreitet unaufhaltsam voran und wird stetig knapper.124 Weil Theognis in V. 40 W den Grund nennt, der seiner Meinung nach zur Geburt des Rächers führen wird, nämlich das eigene frevelhafte Verhalten, kann in seiner Warnung gleichzeitig die Aufforderung impliziert sein, dieses frevelhafte Verhalten zu unterlassen oder zu unterbinden. Durch die Erwähnung des eigenen frevelhaften Verhaltens wird dabei, wie die Erweiterungsprobe zeigt, noch ein dritter illokutionärer Akt vollzogen: Die indirekte Beschuldigung, dass das eigene Fehlverhalten, ὕβριος ἡμετέρης, der Grund für die Geburt des Rächers ist. Dabei ist an dieser Stelle jedoch nicht klar, wer genau mit ἡμετέρης gemeint ist. Einerseits können die im Folgenden genannten und kritisierten Führer der Stadt gemeint sein, zu denen oder zu deren Stand sich Theognis vielleicht selbst zählt.125 Andererseits könnte sich ἡμετέρης, wie Selle annimmt, auch auf das frevelhafte Verhalten der gesamten Stadt aus Sicht der Götter beziehen.126 Diese Deutung ist jedoch eher unwahrscheinlich, da Theognis im Folgenden behauptet, dass die Bürger, die ἀστοί, noch besonnen seien, die Führer jedoch dezidiert für ihre Schlechtigkeit kritisiert. Interessant ist dabei, dass er hier, wie schon Solon in seiner Eunomia-Elegie, nicht die Götter und das Schicksal für die Krise verantwortlich macht, sondern die Hybris der Menschen selbst.127 Mit den beiden folgenden Versen der Elegie unterstützt Theognis die vorausgegangene Warnung, indem er seinem Publikum den Grund für die Warnung darlegt: Denn noch sind ihre Bürger zwar besonnen, aber die Führer haben sich schon großer Schlechtigkeit anheimgegeben.128 (V. 41–42 W)
Theognis gibt hier die Erklärung für die vorausgehende Behauptung, dass die Stadt schwanger gehe und für die Warnung vor dem Rächer. Er erklärt, dass die Bewohner zwar noch besonnen sind, die Führer sich jedoch schon großer Schlechtigkeit anheimgegeben hätten. Die Konjunktion γὰρ zeigt an, dass es sich hierbei um einen Sprechakt der Erklärung handelt, mit dem Theognis das Zustandekommen eines bestimmten Sachverhaltes, nämlich besagter Tatsache, dass die Stadt schwanger geht, erklärt. Die Erklärung, dass die Führer sich schon großer Schlechtigkeit anheimgegeben hätten,
124 Vgl. Becker 2018, 108. 125 So angenommen etwa von Kroll 1936, 116–117: „Aus dem Zusammenhang ist klar, daß sich der Sprecher mit den ἡγεμόνες identifiziert. Es spricht hier also ein Aristokrat von seiner Besorgnis.“ 126 Vgl. Selle 2008, 264. 127 Vgl. Lahr 1992, 77–78; Tausend 2013, 533. 128 V. 41–42 W: ἀστοὶ μὲν γὰρ ἔθ’ οἵδε σαόφρονες, ἡγεμόνες δέ / τετράφαται πολλὴν εἰς κακότητα πεσεῖν.
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beinhaltet darüber hinaus jedoch auch einen Sprechakt der Diffamierung, weil Theognis den Führern hier gleichsam „große Schlechtigkeit“ – πολλὴ κακότης unterstellt. Er gibt hier also nicht nur eine Erklärung, sondern will gleichzeitig auch zu verstehen geben, dass er das Verhalten der Führer negativ bewertet. Hatte Theognis im vorausgegangenen Vers noch vor einem Rächer gewarnt, der eines Tages erscheinen wird, spricht er nun über den derzeitigen Zustand der Stadt. Zum einen will er seinen Zuhörern einen Bericht darüber geben, wie die Verhältnisse sind (epistemische Standard-Perlokution der Erklärung), zum anderen transportiert er mit seinen Worten gleichsam negative Emotion gegenüber den Führern, welche sich auch bei seinen Zuhörern einstellen soll (emotionale Standard-Perlokution der Diffamierung). Grundsätzlich unterstützen die beiden Verse jedoch die eingangs vollzogene Warnung (die in diesem Abschnitt des Gedichtes dominant ist). Dies verdeutlicht auch die durch das Zeitpartikel ἔτι (V. 41 W) zum Ausdruck gebrachte Zeitdimension: Die Bürger sind zwar noch besonnen, doch lange wird dieser Zustand nicht mehr anhalten, die negative Entwicklung schreitet unaufhaltsam voran und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Bürger von der Schlechtigkeit der Führer „infiziert“ werden.129 Bis hierhin erfahren wir aus dem Gedicht, dass die Bürger (ἀστοί) sich noch bedacht verhalten, die Führer (ἡγεμόνες) hingegen schon schlecht geworden sind. Wer die einzelnen Personengruppen innerhalb der Verse sind, ist nicht leicht zu beantworten.130 Klar ist nur, dass die ἀστοὶ von den ἡγεμόνες abzugrenzen sind, weil sie im Gegensatz zu jenen noch σώφρων sind.131 Die ἡγεμόνες stellen die Führungsschicht der Polis dar, die großer Schlechtigkeit verfallen ist. Wer genau die ἡγεμόνες sind (ob adlig oder nicht und ob sie mit den im Folgenden genannten κακοί gleichzusetzen sind) ist jedoch nicht klar. Die Mehrheit der Forschung erkennt in ihnen eine Gruppe von Adligen, die sich nicht mehr gemäß den traditionellen Werten der guten Adligen ver129 130
131
Vgl. Becker 2018, 108. Dies liegt insbesondere an den unterschiedlichen Begrifflichkeiten in Bezug auf die einzelnen Personengruppen innerhalb der Elegie. In der Forschung wird häufig durch einen Vergleich der Versabschnitte versucht, die genannten Personengruppen zu identifizieren und miteinander in Einklang zu bringen, was jedoch keine befriedigenden Ergebnisse hervorgebracht hat. Vgl. dazu die Ausführungen im Ergebnisteil dieses Kapitels (Kap. 8.1.3.). Wahrscheinlich, so nimmt es die Mehrheit der Forschung an, handelt es sich bei den ἀστοὶ um eine große Gruppe von einfachen Bürgern, vgl. Selle 2008, 263. Ebd., 263, Anm. 153 geht davon aus, dass die ἀστοὶ deckungsgleich mit dem δημός sind; Kroll 1936, 114–115; Nagy 1985, 54; Ulf 2014, 425. Teilweise werden sie jedoch auch für eine Gruppe noch besonnener Adliger (im Sinne der alten Wertetradition) gehalten, vgl. Lahr 1992, 29–32; Steffen 1969, 294–295; Hasler 1959, 35–37. Für Stein-Hölkeskamp 1997, 26 sind die ἀστοὶ weder das eine noch das andere. Sie sieht in ihnen vielmehr aufgrund eines Vergleiches mit Solons Eunomia-Elegie eine Gruppe, die „nicht aktiv am politischen Geschehen beteiligt [ist]. Außerdem scheint auch ihre wirtschaftliche, rechtliche und politische Situation im Gegensatz zu der des δημός bzw. der (später noch thematisierten) ἀδικοῖ nicht so schlecht zu sein, daß sie für eine Verführung durch die κακοῖ ἡγεμόνες empfänglich sind.“ So bereits Spahn 1977, 136–138.
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Theognis von Megara
hält.132 Auf die Interpretation der Sprechakte hat eine genaue Zuschreibung jedoch auch vorerst keinen Einfluss. Die Sprechakte bleiben unabhängig von der konkreten Zusammensetzung der Gruppe dieselben. Auf die Frage nach der Zuschreibung der Gruppen soll im Anschluss an die Analyse noch einmal zurückgekommen werden. Nachdem Theognis in den vorausgegangenen Versen seine Zuhörer vor dem Erscheinen eines Rächers gewarnt und die Führer für ihr schlechtes Verhalten diffamiert hat, heißt es in den folgenden Versen: Niemals, Kyrnos, haben gute Männer eine Stadt zugrunde gerichtet,133 (V. 43 W)
Hiermit vollzieht Theognis einen illokutionären Akt der Versicherung. Er versichert seinen Zuhörern, dass ἀγαθοὶ ἄνδρες noch niemals eine Stadt zerstört hätten – also: auch niemals tun werden. Das Wörtchen οὐδείς ist dabei Illokutionsindikator, weil es die Absolutheit der Aussage und damit die Eindringlichkeit, die für eine Versicherung charakteristisch ist, verdeutlicht. Anders als in Bezug auf die ἡγεμόνες ist es für die ἀγαθοὶ ἄνδρες leichter, eine Zuschreibung zu finden. Sehr wahrscheinlich handelte es sich, wie Stein-Hölkeskamp prägnant zusammenfasst, bei ihnen um eine Gruppe, die „mit dem traditionellen, umfassend positiven Begriff für die moralisch, gesellschaftlich und politisch führende Schicht der Polis belegt ist.“134 Im Gegensatz dazu thematisiert Theognis in den folgenden Versen eine zu den ἀγαθοὶ ἄνδρες konträr stehende Gruppe: Die κακοί.135 Er bringt zur Sprache, was passieren kann, wenn sie die κακοί zu Freveltaten hinreißen lassen: doch wenn den Schlechten zu freveln einfällt, sie das Volk verderben und das Gesetz in die Hände der Ungerechten legen,
132 133 134
135
Dass es sich bei den ἡγεμόνες um Adlige handelt, die sich zu schlechten Taten haben hinreißen lassen, glauben Lahr 1992, 24–25; Stein-Hölkeskamp 1997, 24; Nagy 1985, 43–44; Selle 2008, 264; Hasler 1959, 38. Anders West 1974, 68, der sie für „popular leaders“ hält; Dovatur 1972, 83. V. 43 W: οὐδεμίαν πω, Κύρν’, ἀγαθοὶ πόλιν ὤλεσαν ἄνδρες· Stein-Hölkeskamp 1997, 25. Ähnlich Lahr 1992, 20–21. Für Selle 2008, 265 sind die ἀγαθοὶ ἄνδρες Adlige, denn für ihn ist es logisch, dass der Begriff ἀγαθός hier sozial und nicht moralisch konnotiert ist: „Bei einer moralischen Auslegung (des Begriffes ἀγαθός, Anm. AvdD) ist die Aussage „Nicht die Guten, sondern die Schlechten sind schuld an der Krise“ gehaltlos. Anders aber, wenn hier ein Adliger den Vorwurf von sich weist und den Gemeinen zuschiebt.“ Auch in Bezug auf die Definition der Gruppe der κακοί besteht Unsicherheit. Fraglich ist, ob die κακοί hier eine soziale oder moralische Zuschreibung erfahren. Lahr 1992, 24–25 glaubt, dass κακός (das für ihn in Bezug auf eine Person sowohl sozial (ein Angehöriger der Unterschicht) als auch moralisch (ein Angehöriger des Adels, der sich mit dem einfachen Volk eingelassen hat) gemeint sein kann) an dieser Stelle moralisch konnotiert ist und dass mit κακοί in V. 44 die vorher schon erwähnten (adligen) ἡγεμόνες (V. 41–42 W) gemeint sind. Er kommt zu diesem Ergebnis, weil er in den Versen 39–52W– ein zusammenhängendes Gedicht sieht. Dem schließt sich Stein-Hölkeskamp 1997, 24 an. Für Selle 2008, 265–266 ergibt eine soziale Konnotation (die seiner Meinung nach in den Gedichten des Corpus’ für die Begriffe ἀγαθός und κακός grundsätzlich überwiegt) mehr Sinn. Für ihn sind die κακοί aufgestiegene Nichtadlige. Anders als Lahr und Stein-Hölkeskamp versucht Selle jedoch auch nicht, die Verse 39–42 W mit den Versen 43–52 W in Einklang zu bringen.
Die Verse 39–52 W
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um des eigenen Gewinnes willen und der eigenen Macht, dann erwarte nicht, dass diese Stadt noch lange unerschüttert bleibt, selbst wenn sie jetzt in tiefer Ruhe liegt,136 (V. 44–48 W)
Theognis vollzieht in diesen Versen illokutionäre Akte der Warnung. Er warnt davor, dass die frevelhaften Taten der κακοί dazu führen werden, die Stadt in den Untergang zu treiben (V. 47 W), selbst wenn jetzt noch Eintracht in ihr zu herrschen scheint (V. 48 W). An der Äußerung, dass die Hörer etwas nicht erwarten sollen (angezeigt durch den verneinten Imperativ in V. 47 W: ἔλπεο μὴ, zeigt sich der direktive Charakter der Warnung: Zwar will Theognis einerseits, dass seine Zuhörer erkennen, dass der Zustand, vor dem er warnt, eintreten kann. Andererseits will er aber gleichsam dazu beitragen, dass sich seine Zuhörer auf diesen Zustand vorbereiten und vielleicht sogar gegen diesen vorgehen, bevor es zu spät ist. Er will sie in diesem Sinne also auch zum Handeln animieren. Denn zu spät ist es noch nicht, wie die durch die Erweiterungsprobe sichtbar werdende Behauptung, dass die Stadt zur Stunde noch in tiefer Ruhe liegt (V. 48 W), verdeutlicht. Was genau dazu führt, dass die Stadt dem Untergang geweiht ist, wird mit Hilfe der temporal-bedingenden Nebensätze der Verse 45–46 W thematisiert.137 Sie modifizieren die Sprechakte der Warnung, weil in ihnen die Bedingungen und Voraussetzungen für den Untergang der Stadt geäußert werden. Theognis warnt: Die Schlechten werden das Volk verderben; sie werden das Gesetz in die Hände der Ungerechten legen; sie werden dies für den eigenen Gewinn und die eigene Macht tun.138 Auch in diesen Versen nennt Theognis verschiedene Personengruppen, deren Identität jedoch nicht eindeutig ist. Wer ist der δῆμος, der durch die schlechten Führer verdorben wird? Und wer sind die ἄδικοι, denen die Schlechten das Gesetz in die Hände legen (beide V. 45 W)? Sehr wahrscheinlich ist, dass unter δῆμος eine Gruppe verstanden werden muss, die weder zu den ἀγαθοί, noch zu den κακοί gehört. Sie ist die Zielgruppe der κακοί und an sie legt der Dichter, wie Selle verdeutlicht, offenbar keine moralischen Maßstäbe: „Es ist eine verstandeslose Herde, die nach Naturgesetzen auf die Handlungen der Herrschenden reagiert.“139 Ebenso wie der δῆμος erscheinen die ἄδικοι als passi136 137 138 139
V. 44–48 W: ἀλλ’ ὅταν ὑβρίζειν τοῖσι κακοῖσιν ἅδηι / δῆμόν τε φθείρουσι δίκας τ’ ἀδίκοισι διδοῦσιν / οἰκείων κερδέων εἵνεκα καὶ κράτεος· / ἔλπεο μὴ δηρὸν κείνην πόλιν ἀτρεμέ’ ἧσθαι, / μηδ’ εἰ νῦν κεῖται πολλῆι ἐν ἡσυχίηι, Für eine Auseinandersetzung mit der sprechakttheoretisch komplexen Frage danach, ob Nebensätze (wie die hier vorliegenden „wenn-dann“ Konstruktion) eigenständiges illokutives Potential haben oder lediglich die Illokution des gesamten Sprechaktes modifizieren s. S. 64, Anm. 46. Lahr 1992, 51 sieht dabei das von Theognis kritisierte Streben nach κέρδος (Gewinn) und κράτος (Macht) in V. 46 W als zentralen Grund für den unüberwindbaren Konflikt zwischen Theognis und den „verdorbenen Adligen“. Selle 2008, 266. Ähnlich Tausend 2013, 533–534; Stein-Hölkeskamp 1997, 24; Lahr 1992, 34. Ebd., 84–85 nimmt aufgrund eines Vergleiches mit anderen Stellen im C. Th. an, dass der δῆμος eine Gruppe überwiegend armer Leute ist, die Unterschicht, von der aus jedoch erste Emanzipations-
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ve Gruppe. Laut Theognis legen die Schlechten diesen Menschen das Gesetz in die Hände (V. 45 W). Lahr und Stein-Hölkeskamp nehmen an, dass dies bedeutet, dass den ἄδικοι von den κακοί zum Zwecke des Gewinn- und Machtzuwachses neuerdings Rechte zuerkannt werden.140 Selle versteht die Passage hingegen so, dass nun – aus den gleichen Gründen des Machtstrebens – Urteile zugunsten derjenigen gesprochen werden, die im Unrecht sind. Diese Interpretation lässt sich in der Tat mit κερδέων εἵνεκα besser in Einklang bringen.141 Ein genauer Erklärungsversuch in Bezug auf die rechtliche Begünstigung der ἄδικοι ist für die Sprechaktanalyse allerdings ebenfalls nicht entscheidend. Grundsätzlich zeugen die von Theognis gemachten Äußerungen davon, dass es eine zivile Auseinandersetzung über die Frage nach Recht und Gesetz gegeben haben muss und dass diese an wirtschaftliche Interessen gebunden war.142 Für eine sprechakttheoretische Argumentation reicht jedoch die grundlegende Tatsache, dass Theognis davor warnt, dass das Verhalten der κακοί die Stadt bald zur Erschütterung bringen wird. Und so fährt er denn auch in den folgenden Versen fort, indem er noch einmal betont: wenn diesen Schlechten der Gewinn gefällt, der mit Schaden für die Gemeinschaft einhergeht. Denn daraus entstehen Aufstände, Bürgerkriege und Alleinherrscher; […]143 (V. 49–52 W)
So wie in den vorausgegangenen Versen vollzieht Theognis hier erneut illokutionäre Akte der Warnung.144 Indem er behauptet, dass Schaden für die Gemeinschaft entsteht, wenn diesen Schlechten der Gewinn gefalle, warnt er vor eben jenem Zustand. Dies spezifiziert er, indem er davor warnt, dass Aufstände, Bürgerkriege und gar Alleinherrschaft daraus hervorgehen. Dass hier nicht bloß Behauptungen aufgestellt werden, sondern indirekt Warnungen vollzogen werden, ergibt sich aus dem Kontext: Theo-
bestrebungen ausgehen, insofern als sie sich einen sozialen Aufstieg wünscht. Die κακοί nutzen dieses politische Streben des δῆμος für ihre eigenen Interessen, indem sie das Volk durch Zugeständnisse und Versprechungen für sich gewinnen und es dadurch als Gefolgschaft (für eine potenzielle Tyrannis) hinter sich bringen. 140 So Lahr 1992, 85; Stein-Hölkeskamp 1997, 24. 141 Vgl. Selle 2008, 265 mit Anm. 157. Ähnlich Ulf 2014, 23–27; Link 1991, 138. 142 Für eine vertiefende Auseinandersetzung zur Frage nach der (wechselnden) Rechtsprechung bei Theognis vgl. Papakonstantinou 2004. 143 V. 49–52 W: εὖτ’ ἂν τοῖσι κακοῖσι φίλ’ ἀνδράσι ταῦτα γένηται, / κέρδεα δημοσίωι σὺν κακῶι ἐρχόμενα. / ἐκ τῶν γὰρ στάσιές τε καὶ ἔμφυλοι φόνοι ἀνδρῶν· / μούναρχοι τε· […]. 144 Dovatur 1972, 83 erkennt in den Versen 47–52 W „reine Drohungen“. Von Drohungen soll hier jedoch nicht gesprochen werden, da Drohungen im Sinne der Sprechakttheorie zu den kommissiven Sprechakten zählen, also zu solchen, mit denen der Sprecher die Absicht ausdrückt, eine bestimmte Handlung zu tun oder zu unterlassen. Hier jedoch wird keine Handlungsabsicht des Sprechers ausgedrückt, sondern vor einem zukünftigen Zustand gewarnt.
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gnis und die anwesenden Zuhörer sind keine unbeteiligten Bürger, sondern von den Entwicklungen in der Polis unmittelbar betroffen. Aufstände, Bürgerkriege und eine drohende Tyrannis bedeuten für sie vermutlich einen Verlust des Einflusses und der Macht. Theognis’ Intention geht hier also über die reine Tatsachenbeschreibung einer Behauptung hinaus. Er möchte seine Zuhörer zwar einerseits darüber informieren, dass all die drohenden Ereignisse eintreten können, von denen er spricht (repräsentativer Zweck der Warnung), andererseits aber gleichzeitig auch dazu bewegen, diesen Zustand nicht wahr werden zu lassen (direktiver Zweck der Warnung). Die Standard-Perlokution einer Warnung ist insofern sowohl epistemisch als auch motivational. Wie drastisch der drohende Zustand ist, vor dem Theognis warnt, verdeutlicht Lahr: „Den Gipfelpunkt der prophezeiten Veränderungen bilden die Alleinherrscher. Sie gelten dem Dichter als die extremste Hervorbringung der Hybris-gezeugten Selbstsucht und erheben sich als letzte mögliche, monströse Steigerung des Unheils, das die Polis in ein blutiges Schlachtfeld zu verwandeln droht.“145 Und so verwundert es nicht, dass Theognis seine Elegie mit folgenden Worten beendet: […] unserer Stadt soll das niemals gefallen.146 (V. 52 W)
Hiermit drückt Theognis, wie das Verb im Optativ (ἅδοι) zeigt, den Wunsch aus, dass all dies sich niemals ereignen möge.147 Jedoch geht die primäre Intention dieser Äußerung über den expressiven Sprechakt des Wunsches hinaus. Vielmehr verbirgt sich hinter dem hier geäußerten Wunsch eine Handlungsabsicht:148 Theognis will die Angesprochenen dazu bewegen, niemals zuzulassen, dass die Schlechten die Stadt zugrunde richten. Es handelt sich hier demnach primär um einen direktiven Sprechakt der Aufforderung. Die Standard-Perlokution des Sprechaktes ist dementsprechend motivational. Jedoch ist die Aufforderung indirekt formuliert, zudem gibt Theognis keine konkreten Hinweise darauf, wie der Untergang verhindert werden soll.149 Das Handlungsauffordernde bleibt an dieser Stelle also schwach.150
145 Lahr 1992, 64. 146 V. 52 W: […] πόλει μήποτε τῆιδε ἅδοι. 147 Auch Kroll 1936, 120 spricht in Bezug auf V. 52 W von einem „Wunsche“. Für Lahr 1992 zeigt der Wunsch, wie sehr Theognis das Wohl der Polis am Herzen liegt: „Die Stadt, das Wohl der Gemeinschaft, hat für den Dichter die höchste Bedeutung; die Polis bestimmt sein Denken und ist somit sein bewußtseinsmäßiger, ideologischer Standort.“ (53). 148 Möglich ist, in dem Wunsch selbst schon einen direktiven und nicht bloß expressiven Sprechakt zu erkennen. Jedoch spricht sich Weigand 2003, 115 richtig dagegen aus, dass Wünsche zu den Direktiva gezählt werden sollten: „Sprechakte des Wünschens sind keine direktiven Sprechakte: Sie stehen nicht unter dem Anspruch, dass eine Handlung ausgeführt werden soll.“ 149 Vgl. Rösler 1980, 79. 150 Ähnlich erkennt dies Becker 2018, 109–110: „Zwar impliziert der letzte Satz, dass die Adressaten dem potentiellen Eintreten der Bedrohung etwas entgegensetzen sollen, appelliert doch der Sprecher daran, dass „diese Stadt“ keinen Gefallen an Stasis, Bürgerkrieg und Tyrannen entwickeln
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8.1.3 Ergebnisse Wie Latacz richtig erkennt, ist Theognis „kein harmloser Unterhaltungsdichter. Er ist ein politischer Kopf und klarsichtiger Zeitdiagnostiker.“151 Die Sprechakte der Verse 39–52 W spiegeln dies wider: Theognis behauptet zu Beginn der Elegie, dass die Stadt schwanger gehe und warnt seine Zuhörer davor, dass die gegenwärtigen Umstände einen Rächer, einen Tyrannen, hervorbringen werden. Schuld daran sei der eigene üble Frevel. Daraufhin begründet Theognis die vorausgegangene Warnung, indem er erklärt, dass die Bürger noch besonnen seien, die Führer sich hingegen schon von schädlichen Handlungstendenzen leiten lassen. Damit diffamiert er diese gleichsam. V. 43 W beginnt sodann damit, dass Theognis seinen Zuhörern versichert, dass gute Männer noch niemals eine Stadt hätten zugrunde gehen lassen. Wenn jedoch die Schlechten ihre frevelhaften Bestrebungen in die Tat umsetzen würden, sei dies der sichere Untergang der Stadt. Theognis warnt, dass dies eintreten werde, wenn die Schlechten zur Erlangung von Gewinn und Macht das Volk verderben und die Gesetze missbrauchen sollten, selbst, wenn in der Stadt, so behauptet Theognis, scheinbar noch Ruhe und Frieden herrsche. All dies, so warnt Theognis, führe zu Aufständen, Bürgerkrieg und Alleinherrschaft. Die Verse schließen mit der indirekten Aufforderung, dass die Stadt dies niemals zulassen dürfe. Die Anzahl der sich unterscheidenden Sprechakte innerhalb der Verse 39–52 W ist gering. Am häufigsten und dabei auch am öftesten dominant sind Sprechakte der Warnung. Sie finden sich besonders im hinteren Teil des Gedichtes, in dem Theognis sowohl vor dem Untergang der Stadt als auch konkret vor dem Verhalten der κακοί warnt (V. 44–52 W). In den Versen 39–42 W liegen im Gegensatz zu den Versen 43–52 W, wie durch die Erweiterungsprobe sichtbar werden konnte, auch expressive Sprechakte der Beschuldigung und Diffamierung vor, wobei sich diese gegen die eigene ὕβρις (V. 40 W) sowie die Schlechtigkeit der ἡγεμόνες (V. 41–42 W) richten. Die Tatsache, dass im vorderen Teil des Gedichtes expressive Sprechakte vorliegen, im hinteren Teil hingegen vorrangig Warnungen, ist ein auffälliger Gegensatz, der in seiner Konsequenz eine Trennung des Gedichtes nach V. 42 W denkbar werden lässt. Um die Bedeutung dieses Unterschiedes und den Grund für eine potenzielle Trennung zu verstehen, muss ein Blick auf die Rückschlüsse, die die Wahl der Sprechakte über den außerliterarischen Kontext der Versabschnitte 39–42 W und 42–52 W zulassen, gelegt werden: In den Versen 39–42 W drückt Theognis durch die repräsentativen Sprechakte der Behauptung (dass die Stadt schwanger gehe) und der Erklärung (dass die Bürger noch
151
mögen. Doch angesichts des ausgemalten Szenarios, das die generelle Verschlechterung der Missstände in der Polis heraufbeschwört, erscheint dieser Wunsch des Sprechers doch als eine große Herausforderung.“ Latacz 1991, 215.
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besonnen seien, die Führer hingegen schon schlecht geworden seien) den Ist-Zustand der Polis aus. Die Polis, von der der Dichter hier spricht und in welcher er sich, wie die Verwendung des deiktischen Pronomens ἥδε zeigt, aufzuhalten scheint, befindet sich demnach an der Schwelle zu einer Katastrophe. Diese Katastrophe ist der Eintritt einer Tyrannis, das Erscheinen eines Korrektors. Der Korrektor ist jedoch noch nicht da, vor ihm warnt Theognis lediglich. Es handelt sich dabei also um ein zukünftiges Ereignis, denn nur vor einem zukünftigen Ereignis kann gewarnt werden (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Dennoch wird durch den in der Warnung ebenfalls enthaltenen illokutionären Akt der Beschuldigung des eigenen üblen Frevels, welcher der Grund für das Erscheinen des Rächers ist, sowie der darauffolgenden Diffamierung der Führer, die sich schon großer Schlechtigkeit anheim gegeben hätten, gleichsam deutlich, dass Theognis sich hier auf ein bereits geschehenes Verhalten der Führer bezieht, denn kritisiert werden kann nur etwas, das bereits geschehen ist (Regel des propositionalen Gehaltes einer Diffamierung). Hierin liegt der Gegensatz zu den (darauffolgenden) Versen 43–52 W: Die Stadt, so versichert Theognis hier, ist noch nie durch gute Männer zugrunde gerichtet worden (V. 43 W). Zur Stunde liege sie denn auch noch in tiefer Ruhe (V. 48 W). Die beiden repräsentativen Sprechakte der Versicherung und der Behauptung verdeutlichen auch hier den Ist-Zustand der Stadt.152 Jedoch, so warnt der Dichter, werde die Stadt nicht unerschüttert bleiben, wenn die Schlechten zu freveln beginnen, sie das Volk verderben und das Gesetz in die Hände der Ungerechten legen. Daraus entstünden Aufstände, Bürgerkriege und Alleinherrscher. Diese Ereignisabfolge, so fordert der Dichter zum Schluss indirekt von der Stadt, müsse verhindert werden. Auch hier wird durch die Sprechakte der Warnung ein zukünftiger Zustand – die Schlechten entscheiden sich zu frevelhaftem Verhalten, was den Untergang der Stadt zur Folge hat – beschrieben (Regel des propositionalen Gehaltes einer Warnung). Der entscheidende Unterschied zu den vorausgegangenen Versen besteht jedoch darin, dass in den Versen 43–52 W vor dem Verhalten der Schlechten gewarnt wird, dieses also noch bevorsteht (angezeigt durch die Konjunktiv-Konstruktion (ἅδηι mit ὅταν (V. 44 W)), wohingegen in den Versen 39–42 W das schlechte Verhalten bereits geschehen ist (das Perfekt τετράφαται verweist auf einen bereits eingetretenen Zustand).153 Es läge insofern ein Bruch der Logik vor, wenn mit ἡγεμόνες und κακοί dieselbe Personengruppe gemeint ist. Es ist deswegen nicht auszuschließen, dass auf zwei unterschiedliche Akteursgruppen angespielt wird und deswegen auch zwei unterschiedliche Gedichte mit je unterschiedli152
153
Schon hier zeichnet sich ein Unterschied ab, der darin besteht, dass in den Versen 39–42 W die Stadt bereits schwanger geht, in den Versen 43–52 W jedoch noch in tiefer Ruhe liegt. Nicht nachvollziehbar ist die Ansicht von Lahr 1992, 15, dass „die schwangere und zu gebären bereite Stadt (39) und die noch in völliger Ruhe liegende Polis, mit deren Frieden es bald vorbei sein soll (47 f.) nur zwei Metaphernvariationen desselben Bildes [sind], das die beiden Teile des einen Gedichtes verbindet.“ Dagegen Lahr 1992, 13–15.
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Theognis von Megara
chen außerliterarischen Situationen vorliegen: Situation a) V. 39–42 W: Die Stadt geht schwanger, die Bürger sind noch besonnen aber die Führer haben sich bereits schlecht benommen, es droht die Ankunft eines Rächers. Situation b) V. 43–52 W: Die Stadt liegt noch – dank der ἀγαθοὶ ἄνδρες – in Ruhe. Doch sollten die Schlechten eines Tages zu freveln beginnen, drohen Aufstände, Bürgerkriege und Alleinherrschaft.154 Natürlich ist es möglich, dass in literarischen Texten, wie etwa in Solons Eunomia, zwischen (zeitlichen) Zuständen hin und her gewechselt wird. Doch unter der Annahme, dass nicht ein Gedicht, sondern zwei Gedichte vorliegen, in denen je verschiedene Zustände der Polis geschildert werden, fallen weitere Unterschiede innerhalb der Textabschnitte ins Auge, die eine Trennung wahrscheinlich machen: In den Versen 39–42 W bezieht sich Theognis auf die sogenannten ἡγεμόνες, die schon großer Schlechtigkeit anheimgefallen sind. In den Versen 43–53 W verwendet er diesen Begriff jedoch nicht mehr, sondern spricht von da ab an nur noch von den κακοί.155 Natürlich kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass damit die gleiche Personengruppe gemeint ist, nämlich (beide Begriffe zusammenführend), die „κακοὶ ἡγεμόνες“156. Es ist jedoch auffällig, dass Theognis im gesamten Versabschnitt 43–52 W nicht noch einmal von ἡγεμόνες spricht. Möglich ist also, dass in den beiden Gedichtabschnitten unterschiedliche Akteure gemeint sind. Eingewandt werden könnte nun, dass in beiden Versabschnitten vor einem Unheil gewarnt wird, dass sich die Warnungen auf die gleiche Situation beziehen und insofern ein zusammengehörendes Gedicht vorliege. Es ist jedoch auffällig, dass sich die in den Versen 39–42 W vollzogene Warnung lediglich auf die Ankunft eines ἀνὴρ εὐθυντήρ bezieht, wohingegen in den Versen 43–52 W neben den μούναρχοι auch vor στάσιες und ἔμφυλοι φόνοι gewarnt wird. Es besteht also ein Unterschied zwischen der Schilderung der Schreckensszenarien. Dieser Unterschied wird dabei insbesondere auch in den für die jeweiligen Szenarien gebrauchten Worte deutlich. Auffällig in Bezug auf die unterschiedliche Wortwahl in beiden Abschnitten ist zudem, dass in den Versen 39–42 W in Bezug auf die breitere Masse von Menschen bzw. Bürgern von ἀστοί (V. 41 W) gesprochen wird, in den Versen 43–52 W hingegen von δῆμος (V. 45 W). All dies deutet auf eine Trennung der Gedichtabschnitte. Für eine Trennung spricht zuletzt, dass es allein für die Verse 39–42 W eine Variation in den Versen 1081–1083 W des C. Th. gibt. Auf Grundlage der Analyse der Sprechakte ist demnach eine Störung der Kohärenz innerhalb des Gedichtes erkennbar geworden, die durch weitere Unstimmigkeiten in Bezug auf den Gebrauch von unterschiedlichen Begriffen innerhalb der Gedichtab154
155 156
Becker 2018, 107 hält es aufgrund der beiden unterschiedlichen außerliterarischen Situationen für möglich, dass (auch aufgrund der mannigfaltigen Unsicherheiten der im C. Th. gesammelten Gedichte) noch nicht einmal auf die sozialen Entwicklungen ein und derselben Stadt (vielleicht Megara) Bezug genommen werde, sondern möglicherweise auf unterschiedliche Poleis. Auch Selle 2008, 265 erkennt: „Auch in v. 43–52 prophezeit der Sprecher trotz der äußerlichen Ruhe (v. 48) Aufstand und Tyrannis (v. 51 f.), doch die Handelnden heißen anders als in v. 39–42.“ So etwa angenommen von Lahr 1992 24–25 und Stein-Hölkeskamp 1997, 24.
Die Verse 39–52 W
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schnitte bestätigt wird. Es kann insofern auf zwei unterschiedliche außerliterarische Situationen rückgeschlossen werden, weswegen sich hier innerhalb des Forschungsdiskurses der „Zwei-Gedichte-Theorie“ angeschlossen wird.157 In den Versen 39–42 W bezieht sich Theognis also auf die Schlechtigkeit einer Gruppe von Führern, zu deren Stand er sich vielleicht selbst zählt, schließlich sieht er im eigenen Frevel, ὕβριος ἡμετέρης, den Grund für den Eintritt eines Rächers. Das wiederum würde bedeuten, dass hier die Führungsschicht, der megarische Adel, kritisiert wird, weil Theognis sehr wahrscheinlich selbst ein Adliger war. Demnach würden die Verse von einem oligarchischen Regierungssystem in Megara zeugen. In diesem Setting geht es Theognis primär darum, seine adligen Zuhörer über den gegebenen Zustand der Stadt aufzuklären und Kritik am eigenen Stand zu üben. Durch die Warnung vor dem Rächer will er dabei seine Standesgenossen auf die potenziellen Folgen ihrer Verfehlungen aufmerksam machen und sie damit gleichzeitig – weil Warnungen immer auch einen direktiven Anteil haben – dazu bewegen, ihr frevelhaftes Verhalten zu unterlassen. In den Versen 43–52 W spricht er lediglich von den Schlechten, die dabei aber nicht zwangsweise der ursprünglichen adligen Elite zugerechnet werden müssen, schließlich werden sie explizit als Gegenbild der ἀγαθοὶ ἄνδρες – sehr wahrscheinlich die guten Adligen – dargestellt. Dass „die Schlechten“ hier tatsächlich sozial und nicht moralisch konnotiert sind, glaubt auch Selle, weil die Aussage, dass nicht die Guten, sondern die Schlechten an der Krise schuld sind, im moralischen Sinne gehaltlos wäre.158 Die außerliterarische Situation stellt sich im Gegensatz zu den Versen 39–42 W dann etwas anders dar: Die primäre kommunikative Intention der Verse 43–52 W ist es, die anderen Adligen davor zu warnen, dass die schlechten Nichtadligen eines Tages ein frevelhaftes Verhalten annehmen und das Volk auf ihre Seite ziehen. Theognis warnt vor diesen Ereignissen, sie können insofern nicht im Interesse seiner Zuhörer sein (Einleitungsregel und Aufrichtigkeitsregel einer Warnung). So wie er selbst, sind seine adligen Zuhörer offenbar in einer Situation, in welcher ihr Reichtum gefährdet ist,159 157
158 159
Vgl. hier insbesondere Kroll 1936, 120 der zu einer ähnlichen Erkenntnis gekommen ist: „Wir haben völlig verschiedene Situationen. In VII (= V. 39–42 W, Anm. AvdD) wird auf eine akute Gefahr aufmerksam gemacht; das Unheil hat sich infolge der sich auswirkenden Frevelgesinnung […] schon angebahnt; man muß befürchten, daß es mit unausweichlicher Folgerichtigkeit seinen Fortgang nehmen wird. Nichts davon in VIII (= V. 43–52 W, Anm. AvdD). Hier wird rein theoretisch eine allgemeine Wahrheit abgehandelt und nur der Wunsch angefügt, daß die eigene Stadt nie dergleichen durchmachen müsse. Dieser Wunsch hat zur Voraussetzung, daß die eigene Stadt, wie es bei der generellen Darlegung angenommen wird, noch κεῖται πολλῇ ἐν ἡσυχίῃ, ja daß auch von einem ὑβρίζειν der κακοί bislang noch nichts zu spüren ist.“ Vgl. auch Selle 2008, 262–263; Friedländer 1913, 578–579. Dagegen Lahr 1992, bes. 13–17: Ebd. glaubt, dass „das Indiz der Ringkomposition sowie die äußeren (Solon) und inneren Verweisungen (Schwangerschaftsmetapher, Hybris) zeigen, daß es sich bei den Versen 39–52 um ein Werk ‚aus einem Guß‘ handelt […].“ (17). Ähnlich Friis Johansen 1993, 23 mit Anm. 61. Vgl. Selle 2008, 265. Einige Stellen innerhalb der Theognidea lassen vermuten, dass Theognis bzw. Teile des Adels nicht nur einen politischen Verlust, sondern auch einen (damit einhergehenden bzw. sich gegenseitig
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Theognis von Megara
und sie zunehmend an politischer Macht gegenüber nichtadligen Aufsteigern verlieren. Theognis warnt, dass dies für die gesamte Stadt zum Untergang (Aufstände, Bürgerkriege, Alleinherrscher) führen werde. Aus diesem Grund fordert er zum Schluss, dass der Stadt dieses niemals widerfahren dürfe, dass der Eintritt dieser Szenarien also verhindert werden muss.160 Offenbar wurden demnach noch keine (wirksamen) Maßnahmen ergriffen, um den für die Gruppe der Angesprochenen drohenden Zustand abzuwenden. Der handlungsauffordernde Charakter dieses indirekten Sprechaktes der Aufforderung am Ende der Verse ist jedoch schwach.161 Möglicherweise waren die angesprochenen Adligen im Grunde nicht mehr wirklich fähig dazu, um die Herrschaft in der Polis zu kämpfen. Ihre Macht drohte sich durch den Aufstieg nichtadliger Schlechter dem Ende zuzuneigen.162 Beide Gedichtabschnitte sprechen demnach davon, dass durch das Fehlverhalten einer Gruppe von Menschen – in Vers 39–42 W die Führer (vermutlich die alte adlige Elite), in V. 43–52 W die Schlechten (vermutlich nichtadlige Aufsteiger) – der Untergang der Stadt droht. Im ersten Fall richtet Theognis seine Kritik an die zurzeit noch führende Elite der Stadt163, die sich bereits schlecht benommen hat. Im zweiten Fall warnt er seine Zuhörer vor den aufsteigenden Nichtadligen. Ihr schlechtes Verhalten hat sich zwar noch nicht endgültig durchgesetzt, jedoch ist ein Machtverlust der ehemaligen aristokratischen Elite absehbar. Selle, der die Verse 39–52 W ebenfalls nach V. 42 W trennt, nimmt deswegen richtig an, dass „V. 39–42 und 43–52 [ ] sich auf dieselbe Situation – die Krise der Oligarchie – beziehen; das zweite Gedicht ist jedoch genauer, indem es die Beteiligung des Adels (ἀγαθοὶ ἄνδρες, Anm. AvdD) als auch der Nichtadligen an der Macht andeutet.“164 bedingenden) Verlust materiellen Reichtums hinnehmen mussten, vgl. Selle 2008, 256–257 (mit Versangaben). 160 In eine ähnliche Richtung geht Lahr 1992, 83, der in der Elegie eine Aufforderung versteht, künftige Generationen von Aristokraten zu schützen und zu pflegen. Auch van Wees 2000, 66 (indem er die Theognideischen Gesellschaftsstrukturen mit der italienischen und amerikanischen Mafia vergleicht) geht davon aus, dass Machtkämpfe im archaischen Griechenland – und so auch bei Theognis – durch gewaltvolle Auseinandersetzungen ausgetragen wurden: „Poetry – notably the remainder of the Theognid corpus and the work of Alcaeus – and oral tradition both suggest that violent struggle among the élite were common and invariably involved groups of people going into exile or fighting their way back“ 161 Dennoch reicht es nicht, wie Rösler 1980, 79 in Bezug auf den Inhalt der Elegie von einem durchgängigen Verbleib „auf der Ebene allgemeiner, ins Grundsätzliche gehender Reflexion über die Gefahren, die aus Schlechtigkeit erwachsen“ zu sprechen oder davon, wie Lane Fox 2000, 44 annimmt, dass Theognis in einer Situation der zunehmenden Veränderung innerhalb der Gesellschaft in seinen Gedichten ganz grundsätzlich dazu rät „to adopt a stance of superior non-involvment“. Die Sprechakte der Warnung sowie die indirekte Aufforderung am Schluss der Elegie zeigen, dass der Dichter sich von seinen Zuhörern wünschte, dass sie handelten. 162 So etwa Meier 2009, 252–253. 163 Selle 2008, 264 kommt zur gleichen Erkenntnis: „Die Herrschenden führen sich unmoralisch auf. Ihre Macht ist jedoch noch unerschüttert.“ 164 Ebd., 266.
Die Verse 53–60 W
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Auch wenn die Einordnung der Theognideischen Versen in die Geschichte Megaras aufgrund fehlender Anhaltspunkte historischer Ereignisse kaum möglich ist, so hat die Sprechaktanalyse der Theognideischen Gedichte zumindest ergeben, dass die Verse 39–52 W von zwei unterschiedlichen, möglicherweise zeitlich aufeinanderfolgenden Geschehnissen in Megara im 6. Jh. v. Chr. sprechen: Im ersten Fall scheint die Elite noch an der Macht zu sein, sich jedoch schlecht zu benehmen. Ihr Verhalten hat dabei offenbar noch entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse in der Polis. Die Angst vor einem Rächer ist präsent, möglicherweise liegt die Tyrannis des Theagenes noch nicht allzu weit zurück. Im zweiten Fall scheinen die Ereignisse schon weiter fortgeschritten zu sein: Die Elite ist bereits abgedrängt worden. Es zeichnet sich deutlich der Aufstieg nichtadliger Machthaber an. Wurde in den Versen 39–42 W noch vor einem Rächer aus den eigenen Reihen der Führungselite gewarnt, zeigen sich hier schon Ansätze eines durch Demagogen bedingten drohenden Aufruhrs innerhalb der Stadt. In beiden Szenarien wird schließlich eins deutlich: Bei Theognis handelt es sich um einen Aristokraten alten Schlages, der die sich wandelnden Verhältnisse in Megara kritisch beobachtet. Insbesondere in den Versen 43–52 W zeigt sich sein Bemühen, die Standesgenossen auf die sich ändernden Verhältnisse vorzubereiten, ja, diese verhindern zu wollen. Die entscheidende Kraft dazu scheint in den eigenen Reihen jedoch nicht mehr vorzuliegen. Die Zeiten des Führ ungsanspruches der alten Elite, der Theognis zugerechnet werden kann, sind vorbei. 8.2 Die Verse 53–60 W 8.2.1 Der außerliterarische Kontext Wie in den vorausgehenden Versen 39–52 W wird in diesen Versen eine politische Situation thematisiert, innerhalb deren ein Wandel vonstattengeht: Die gesellschaftliche Hierarchie der Polis kehrt sich zum Missfallen des Dichters um. Wer früher gut war, ist nun schlecht und wer früher schlecht war, ist nun gut. Teilweise wurde der Versuch unternommen, aus den Theognideischen Versen 53– 60 W konkrete zeitgeschichtliche Ereignisse herauszulesen. So nimmt etwa West an, dass das Gedicht die Situation nach dem Tyrannen Theagenes in Megara beschreiben.165 Dovatur liest hingegen aus den Versen, dass die Staatsordnung demokratisiert wurde und die Landbevölkerung das volle und uneingeschränkte Bürgerrecht erhalten habe.166 Lane Fox hat eine andere Erklärung für den Hintergrund der Verse: „Not ‚de-
165 Vgl. West 1974, 70. 166 Vgl. Dovatur 1972 84. Diesbezüglich skeptisch ist Walter 1993, 111.
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Theognis von Megara
mocracy‘ but some such reshuffling could neatly explain Theognis’ discontent: the old ‚hundreds‘ of kinship (dominated by the agathoi) had turned into hundreds based on locality (even bearing the names of the ancient villages).“167 Was jedoch schon für die Verse 39–52 W galt, gilt auch hier: Eine historische Einordnung ist aufgrund des Mangels an Informationen kaum möglich. Aus diesem Grund ist es auch hier unmöglich, das perlokutionäre Nachspiel der Sprechakte zu rekonstruieren. Da die Verse 53–60 W ebenfalls Theognis zugesprochen werden,168 kann jedoch zumindest davon ausgegangen werden, dass ihnen Theognis’ eigene Erfahrungen und Erlebnisse zugrunde liegen und sie sich demnach wohl auch auf die Heimatstadt des Dichters, also vermutlich Megara am Isthmus, beziehen. Und ebenso wie bei den Versen 39–52 W ist der Aufführungskontext der Verse 53–60 W sehr wahrscheinlich das Symposion gewesen. Auch hier spricht Theognis zu Angehörigen seines Standes, vielleicht Freunden, mit denen er die gleichen Ansichten teilt.169 8.2.2 Analyse der Sprechakte Corpus Theognideum V. 53–60 W Κύρνε, πόλις μὲν ἔθ’ ἥδε πόλις, λαοὶ δὲ δὴ ἄλλοι, οἳ πρόσθ’ οὔτε δίκας ἤιδεσαν οὔτε νόμους, 55 ἀλλ’ ἀμφὶ πλευραῖσι δορὰς αἰγῶν κατέτριβον, ἔξω δ’ ὥστ’ ἔλαφοι τῆσδ’ ἐνέμοντο πόλεος. καὶ νῦν εἰσ’ ἀγαθοί, Πολυπαΐδη· οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοί νῦν δειλοί. τίς κεν ταῦτ’ ἀνέχοιτ’ ἐσορῶν; ἀλλήλους δ’ ἀπατῶσιν ἐπ’ ἀλλήλοισι γελῶντες, 60 οὔτε κακῶν γνώμας εἰδότες οὔτ’ ἀγαθῶν Kyrnos, unsere Stadt ist noch dieselbe, die Bewohner aber sind andere; die, die zuvor kein Recht und kein Gesetz kannten, 55 die an ihren Hüften rauhe Ziegenfelle scheuern ließen und draußen vor der Stadt wie Hirsche ihr Leben fristeten. Und jetzt sind sie die Guten, Polypaide, und, die früher Edle waren, sind jetzt die Erniedrigten. Wer könnte das ruhig mit ansehen? Sie betrügen einander, sie lachen dabei übereinander 60 und wissen weder gut noch schlecht zu unterscheiden.
167 Lane Fox 2000, 43. 168 Vgl. Selle 2008, 276–277. 169 Vgl. hierzu die ausführlicheren Ausführungen in Kap. 8.1.1.
Die Verse 53–60 W
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Die Elegie beginnt ähnlich wie die vorausgegangene. Auch hier leitet Theognis die Verse mit einem repräsentativen Sprechakt der Behauptung ein: Kyrnos, unsere Stadt ist noch dieselbe, die Bewohner aber sind andere;170 (V. 53 W)
Theognis behauptet, dass die Bewohner der Stadt, die λαοὶ, nicht mehr dieselben seien wie früher. Offenbar hat es in Megara einen Austausch innerhalb der Bürgerschaft gegeben.171 Aus sprechakttheoretischer Perspektive erhebt Theognis mit dem Sprechakt der Behauptung einen Wahrheitsanspruch. Die Zuhörer sollen ihm glauben, dass die Stadt von außen noch dieselbe, von innen jedoch verändert ist, weil die Bürgerschaft nun eine andere ist. Die Standard-Perlokution einer Behauptung ist deswegen epistemisch. Auch diesmal spricht Theognis dabei seinen jugendlichen Freund Kyrnos an. An ihn richten sich die Worte des Dichters. Doch wie schon in der Elegie zuvor, möchte Theognis ein überindividuelles Publikum erreichen. Nicht Kyrnos, den es vermutlich gar nicht gegeben hat, sondern die adligen Symposiasten, sind die primären Empfänger seiner Worte. Mit ihnen hat Theognis sich versammelt und im Rahmen des Symposions können sie sich über ihre Sorgen und Nöte austauschen. Was genau Theognis mit dem Wandel der Bürgerschaft innerhalb der Polis meint, erfahren wir aus den folgenden Versen des Corpus’: die, die zuvor kein Recht und kein Gesetz kannten, die an ihren Hüften rauhe Ziegenfelle scheuern ließen und draußen vor der Stadt wie Hirsche ihr Leben fristeten. Und jetzt sind sie die Guten, Polypaide, und, die früher Edle waren, sind jetzt die Erniedrigten. […]172 (V. 54–58 W)
Hier vollzieht Theognis einen illokutionären Akt der Erklärung. Er erklärt, dass die Bewohner, die früher die hoch angesehenen Leute, die ἐσθλοί, waren, nun die Erniedrigten, die δειλοί, seien. Die Erklärung schließt sich hier an die vorausgehende Behauptung, dass die Stadt noch dieselbe, die Bewohner aber schon andere sind, an. Theognis erklärt hier also primär das Zustandekommen eines bestimmten Sachverhaltes.173 Mit der Erklärung führt Theognis seinen Zuhörern deutlich vor Augen, dass sich die Situation in der Polis grundlegend geändert hat. Diese Wandlung wird, so Becker, in den
170 V. 53 W: Κύρνε, πόλις μὲν ἔθ’ ἥδε πόλις, λαοὶ δὲ δὴ ἄλλοι, 171 Gärtner 2007, 10 erkennt im Gebrauch des Begriffs λαοί bereits eine Wertung, weil hier nicht von „Bürgern“ gesprochen werde, sondern ein „bewußt abqualifizierend gebrauchter Begriff “ verwendet werde. 172 V. 54–58 W: οἳ πρόσθ’ οὔτε δίκας ἤιδεσαν οὔτε νόμους, / ἀλλ’ ἀμφὶ πλευραῖσι δορὰς αἰγῶν κατέτριβον, / ἔξω δ’ ὥστ’ ἔλαφοι τῆσδ’ ἐνέμοντο πόλεος. / καὶ νῦν εἰσ’ ἀγαθοί, Πολυπαΐδη· οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοί / νῦν δειλοί. […] 173 So definiert Rolf 1997, 149 einen Sprechakt der Erklärung.
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Theognis von Megara
Versen 54–58 W „durch einen geschickten Einst-Jetzt-Vergleich präzisiert“.174 Anders als in V. 41 W der vorausgegangenen Elegie, in welchem durch die Zeitpartikel ἔτι auf einen drohenden, jedoch noch nicht eingetretenen Zustand verwiesen wird, verdeutlichen die Zeitpartikel νῦν (V. 57 W und V. 58 W) hier, dass der Austausch der Bewohner bereits stattgefunden hat. Dass die Menschen, die draußen vor der Stadt wie Tiere hausten nun die Guten, die ἀγαθοί (V. 57–58 W) sind, ist ein Zustand, den Theognis nicht positiv bewertet. Und so zeigt die Erweiterungsprobe denn auch, dass die Erklärung nicht die einzige in diesen Versen enthaltene Illokution ist. Bei einem Blick auf die einzelnen Propositionen innerhalb der Äußerung wird deutlich, dass Theognis mit seiner Äußerung noch mehr intendiert, als lediglich zu erklären, dass die ἀγαθοί nun durch andere Bewohner repräsentiert werden. Über die Beschreibung der neuen ἀγαθοί in den Versen 54–56 W vollzieht Theognis indirekt auch illokutionäre Akte der Diffamierung: Die neuen Guten kannten kein Recht und kein Gesetz (V. 54 W), sie waren primitiv gekleidet (V. 55 W) und fristeten ihr Leben draußen vor der Stadt wie Hirsche (V. 56 W). Mit der Metapher der wie wilde Tiere hausenden, kein Recht und kein Gesetz kennenden Menschen will Theognis die Primitivität dieser Leute verdeutlichen. Hiermit vollzieht er expressive Sprechakte der Diffamierung, mit denen das gesellschaftliche Ansehen von Personen herabgesetzt wird.175 Theognis’ Ausführungen lassen dabei Rückschlüsse auf Herkunft und Hintergrund dieser Gruppe von Menschen zu. Stein-Hölkeskamp befindet: „Nach den üblichen Maßstäben galten sie (die späteren Aufsteiger, Anm. AvdD) als ungebildet, sie waren offensichtlich nicht stadtsässig und auch nicht wohlhabend. Ihre äußere Erscheinung war dementsprechend ärmlich und ungepflegt und ihr Lebensstil roh und unzivilisiert.“176 Wie Selle richtig erkennt, kann „gut“ (V. 57 W) aus diesem Grund nicht im moralischen Sinne verstanden werden, weil die neuen „Guten“ sich, wie ferner in V. 59 W beschrieben wird, in keiner Weise „gut“ verhalten. Insofern handelt es sich bei den neuen ἀγαθοί wahrscheinlich um eine den Aristokraten einst sozial unterlegene Schicht, die jetzt in den Status von Adligen emporgeklommen ist.177 Dabei sind sie zwar dem Status nach die neuen ἀγαθοί, die gesellschaftlich und moralisch führende Gruppe der Polis, jedoch zeigen Theognis’ Diffamierungen, für wie abwegig er diese Zuschreibung hält. Denn seine herabwürdigende Beschreibung der neuen ἀγαθοί 174 175 176 177
Becker 2018, 111. Vgl. Harras 2004, 305. Stein-Hölkeskamp 1997, 27. Gentili 1990, 8 argumentiert, dass die Metapher aus dem Bereich der Tierwelt ein gängiges Mittel war, um moralische oder politische Verhaltensweisen zu veranschaulichen. Vgl. Becker 2018, 111; Selle 2008, 266 („Die einstigen Bauerntölpel“, „unzivilisierte Nomaden“); Stein-Hölkeskamp 1997, 27–28 („primitive[] Gesellen“); dies. 1989, 88. Anders Tausend 2013, 539, die in den Primitiven Adlige erkennt, die ein unpolitisches Leben im ländlichen Ambiente führten und mit Hilfe eines Usurpators an die Macht gelangten.
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zeichnet das genaue Gegenbild zu den „positiven Überlegenheitsmerkmalen“ der alten Elite, die sich traditionell durch Wissen um Regeln und Recht, Einsicht und Moral, Reichtum und Stadtansässigkeit auszeichnet.178 Nichtsdestoweniger haben sich die Verhältnisse in der Polis umgekehrt, die einstige Elite wird von Theognis nun als δειλοί bezeichnet. Aus Theognis’ Versen geht jedoch nicht hervor, wie der Machtwechsel vonstattengegangen ist. Möglich ist, dass eine ererbte Vormachtstellung durch Wohlstand abgelöst wurde.179 Selle hält es für denkbar, dass zu Wohlstand gelangte Nichtadlige in Machtpositionen vorrückten und den Adel zunehmend dominierten. Einen vollständigen Rollentausch muss es dabei aber nicht zwingend gegeben haben.180 Aus den Sprechakten der Diffamierung geht jedoch deutlich hervor, dass Theognis zu der neuen Gruppe der Benachteiligten der Polis gehört. Wieviel Macht er und Seinesgleichen dabei noch besaßen, bleibt aber ebenfalls im Dunkeln. Nachdem Theognis seinen Zuhörern also durch Sprechakte der Behauptung und Klage die missliche Lage der Polis vor Augen geführt hat und gleichsam seine Kritik über die neuen Guten durch Diffamierungen an seine Zuhörer heranträgt, stellt er die Frage: […] Wer könnte das ruhig mit ansehen?181 (V. 58 W)
Bei dieser Äußerung handelt es auf der sprachlichen Oberfläche zwar um eine Frage, jedoch verfolgt Theognis hier sehr wahrscheinlich nicht das Ziel, eine Antwort darauf zu erhalten. Denn die Antwort, die ihm die zuhörenden Standesgenossen, die ebenso wie Theognis dem Wandel der Machtverhältnisse in ihrer Polis zum Opfer gefallen sind, geben würden, liegt auf der Hand: Niemand der im Symposion Anwesenden könnte den Austausch der Guten durch Schlechte ruhig mit ansehen. Die Tatsache, dass eine Frage im gegebenen Kontext also wenig Sinn ergibt, verweist darauf, dass hier ein indirekter Sprechakt vorliegt. M. E. handelt es sich bei der primären Illokution der Äußerung deswegen vielmehr um eine Mahnung. Denn Theognis suggeriert durch die rhetorische Frage, dass ein ruhiges Mitansehen der Situation nicht denkbar ist. Daraus ergibt sich, dass er es für die Pflicht der Symposiasten, die sich bis zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht gänzlich passiv verhalten haben, hält, an den gegebenen Umständen etwas zu ändern.182 Mahnungen gehören zur Sprechaktklasse der Direktiva, sind also handlungsauffordernd.
178 179
Vgl. Stein-Hölkeskamp 1997, 28. Van Wees 2000 geht davon aus, dass die Staatsform zu Theognis’ Zeiten in Megara eine Timokratie gewesen ist und der soziale Status nicht mehr von der Geburt abhing. Ähnlich Dovatur 1972, 84–85. 180 Vgl. Selle 2008, 267. 181 V. 58 W: […] τίς κεν ταῦτ’ ἀνέχοιτ’ ἐσορῶν; 182 Mit einem Sprechakt der Mahnung fordert ein Sprecher einen Hörer dazu auf, etwas zu tun, das zu seiner Pflicht gehört, vgl. Harras 2004, 134.
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Theognis von Megara
Die Mahnung ist dabei jedoch lediglich indirekt. Ihr Aufforderungscharakter ist schwach. Theognis gibt auch keine weiteren Hinweise in Bezug auf konkrete Gegenmaßnahmen. Insgesamt hat es deswegen den Anschein, als ob Theognis hier zwar betonen möchte, dass es sinnvoll wäre, zu handeln, jedoch wenig Möglichkeiten sieht, tatsächlich noch etwas gegen die gegebenen Umstände ausrichten zu können. Und so schließt er denn die Elegie mit den Worten: Sie betrügen einander, sie lachen dabei übereinander und wissen weder gut noch schlecht zu unterscheiden.183 (V. 59–60 W)
Noch einmal vollzieht Theognis hier illokutionäre Akte der Diffamierung. Erneut unterstellt er den Emporkömmlingen negative Eigenschaften. Sie würden einander betrügen, dabei übereinander lachen und gut und schlecht nicht zu unterscheiden wissen.184 Die Diffamierungen, mit denen Theognis negative Gefühle in Bezug auf die sittenlosen Aufsteiger bei seinen Zuhörern auslösen möchte (emotionale Standard-Perlokution), unterstützen dabei insofern die Mahnung, als dass die Einsicht verstärkt wird, dass niemand ein solches Verhalten ruhig mit ansehen könne und insofern deswegen dagegen vorgegangen werden müsse. 8.2.3 Ergebnisse Die Lieder der Theognidea, so Filser, der sie klar im Symposion verortet, „beanspruchen [ ] mehr, als nur zu kommentieren. Sie zielen im wichtigsten politischen Raum auf Einflussnahme und ein „politischer Gestaltungswille“ liege ihnen zugrunde.185 Auch in der Elegie V. 53–60 W wird ein aktuelles politisches Thema verhandelt, jedoch zeigen die hierhin vollzogenen Sprechakte, dass durch die Elegie keine aktive Einmischung zur Bewältigung der Krise geschieht: Theognis behauptet lediglich, dass sich die Bürgerschaft der Stadt geändert habe. Er erklärt, dass die Guten nun die Schlechten sind und umgekehrt. Dabei diffamiert er die neuen Guten, indem er sie als primitiv und unzivilisiert beschreibt und mahnt seine Zuhörer, dass das Mitansehen dieses Zustandes nicht ertragen werden könne. In den Versen 53–60 W finden sich mehrheitlich repräsentative und expressive Sprechakte: Das Gedicht besteht wesentlich aus Behauptungen, Erklärungen und Diffamierungen. Lediglich einmal wird ein direktiver Sprechakt in Form einer Mah-
183 V. 59–60 W: ἀλλήλους δ’ ἀπατῶσιν ἐπ’ ἀλλήλοισι γελῶντες, / οὔτε κακῶν γνώμας εἰδότες οὔτ’ ἀγαθῶν 184 Kurke 1989 kommt in ihrer Untersuchung der Verse 59–60 W zu dem Schluss, dass ἀλλήλους δ’ ἀπατῶσιν ἐπ’ ἀλλήλοισι γελῶντες (V. 59 W) eine gängige Umschreibung für den verachtenswerten Handel der einfachen Leute auf der Agora sei, der in der Antike stets mit Betrug verknüpft war. Das Übereinanderlachen ist dabei Teil des betrügerischen Gewerbes. 185 Filser 2017, 58.
Die Verse 53–60 W
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nung vollzogen, dieser ist dabei jedoch indirekt und, wie bereits angemerkt, zudem schwach. Theognis’ Hauptintention ist es in diesem Gedicht also, seine Zuhörer über einen gegebenen Zustand aufzuklären. Gleichzeitig zeigt er ihnen dabei, wie kritisch er diesem neuen Zustand gegenübersteht. Durch seine Kritik an den ehemals Primitiven und neuerdings Guten möchte Theognis diese dabei verunglimpfen und gleichsam bei seinen Zuhörern negative Gefühle und damit eine Distanzierung ihnen gegenüber hervorrufen. Welche Rückschlüsse lassen sich anhand der Sprechakte über die Situation, in der gesprochen wurde, ziehen? Die repräsentativen Sprechakte der Behauptung (die Stadt ist noch dieselbe, die Bewohner aber andere) und der Erklärung (die Schlechten sind jetzt die Guten und die Edlen nun die Erniedrigten) verdeutlichen, dass die Situation, von der Theognis spricht, schon eingetreten ist. Die Verhältnisse haben sich bereits umgekehrt. Auch die Sprechakte der Diffamierung, mit denen Theognis die neuen Guten in ihrem Ansehen herabsetzen will, zeigen, dass die neue Situation bereits eingetreten ist, denn mit ihnen wird stets auf einen gegebenen bzw. sich aktuell vollziehenden Zustand eingegangen (Einleitungsregel einer Diffamierung). Die expressiven Sprechakte der Diffamierung verdeutlichen, dass Theognis sich zu der Gruppe der neuerdings Unterlegenen zählt. Die Diffamierungen zeugen von einer starken Kränkung, die Theognis durch den Machtverlust erlitten hat. Theognis klärt seine Zuhörer in diesem Gedicht also über einen gegebenen Sachverhalt auf und macht gleichsam klar, dass er diesem äußerst kritisch gegenübersteht. Auffällig ist dabei, dass Theognis nicht über Gegenmaßnahmen sinniert oder gar die Zuhörer dazu auffordert, zur Tat zu schreiten. Zwar mahnt Theognis an einer Stelle, dass dieser Zustand nicht zu ertragen ist (und impliziert damit, dass eigentlich etwas dagegen getan werden müsste), jedoch fällt er gleich darauf zurück in die Kritik an den neuen Guten und fordert nicht dazu auf, etwas gegen den gegebenen Zustand zu tun. Die von Theognis in diesem Gedicht vollzogenen Sprechakte deuten demnach nicht darauf hin, dass Theognis hier noch eine Möglichkeit des Widerstandes sieht. Er kann offenbar an der Lage nichts ändern, weswegen ihm lediglich bleibt, die Situation zu beklagen und gegen die Emporkömmlinge zu wettern. Auch Selle erkennt, dass Theognis hier nur „resigniert über einen Zustand [klagt]“.186 Hierin ist der größte Unterschied zu den vorausgehenden Versen zu erkennen, in welchen Sprechakte der Warnung dominieren: Die unterschiedlichen Sprechakte in den Elegien zeigen, dass der Kontext ein jeweils anderer gewesen sein muss: In den Versen 39–42 W und 43–52 W ist die Stadt noch nicht untergegangen, ein Austausch der Polisführung hat noch nicht gänzlich stattgefunden (wobei die Verse 43–52 W den zunehmenden Machtverlust der Elite anzeigen), die drohenden Szenarien sind noch nicht eingetreten und sind möglicherweise noch zu verhindern. Die Sprechakte der
186
Selle 2008, 266.
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Theognis von Megara
Behauptung, Erklärung und Diffamierung in den Versen 53–60 W zeigen hingegen, dass es hier für ein Eingreifen in den Veränderungsprozess in der Stadt bereits zu spät ist. Möglicherweise ist die Elegie V. 53–60 W in zeitlicher Hinsicht später als die Verse 39–42 W und 43–52 W zu datieren. Vielleicht zeugt sie von der endgültigen Ablöse des oligarchischen Regierungssystems in Megara und von einem eingetretenen Machtwechsel zugunsten breiterer Bevölkerungsschichten, was Plutarch anachronistisch als „ungezügelte Demokratie“ beschreibt.187 Sicher kann diese Verbindung jedoch nicht hergestellt werden, da ein Zusammenführen der Theognideischen Verse mit den spärlichen Berichten über die megarische Geschichte, wie mehrfach betont, ungewiss ist. Aus den analysierten Sprechakten kann jedoch zumindest bestätigt werden, dass im Gegensatz zu den im C. Th. vorausgehenden Versen 39–52 W eine klare Trennung erfolgen muss, da sie deutlich von anderen Umständen zeugen. Wie schon für die Trennung der Verse 39–52 W ersichtlich geworden, wird auch diese Trennung dadurch gestützt, dass in den Versen 53–60 W im Gegensatz zu den Versen 39–42 W und wiederum zu den Versen 43–52 W teilweise unterschiedliche Begriffe für die Zuschreibung von Personengruppen gebraucht wurden. So wird in den Versen 53–60 W von λαοί gesprochen, wohingegen in den Versen 39–52 W von ἀστοί und in den Versen 43–52 W vom δῆμος gesprochen wird. In den Versen 53–60 W tauchen plötzlich die Begriffe ἐσθλοί und δειλοί auf, wohingegen zuvor lediglich zwischen ἀγαθοί und κακοί unterschieden wurde. Die unterschiedliche Wortwahl ist als Argument für eine Trennung allein nicht stark genug. Im Hinblick darauf, dass sich die Sprechakte innerhalb der Gedichte jedoch unterscheiden und von unterschiedlichen außertextuellen Kontexten zeugen, kann die unterschiedliche Wortwahl die Trennungsthese aber unterstützen.
187
Plut. mor. 295 c; Plut. mor. 304 e–f.
9 Vergleich Die Sprechaktanalyse der einzelnen Gedichte, mit denen die Dichter sich in Zeiten externer wie interner Bedrohungen aktiv in die Belange ihrer Heimatpolis eingebracht haben, hat gezeigt, dass die Dichter mit ihren Gedichten in Abhängigkeit der jeweiligen historischen Situation ganz unterschiedliche kommunikative Ziele und Absichten verfolgten. Alle hier untersuchten Dichter setzen sich in ihren Gedichten mit einer die Polis betreffenden (teilweise als subjektiv empfundenen, teilweise die Gemeinschaft gefährdenden) Krisen auseinander. Kallinos und Tyrtaios rufen zum Kampf um den Erhalt der Polis auf. Alkaios und Solon wollen ihre Zuhörer vom Einsatz des Kampfes um die Vorherrschaft in der Polis bzw. der Region überzeugen. Solon und Theognis kritisieren innenpolitische Wandlungsprozesse und Tyrtaios will die rechte Ordnung im Staat herstellen. Im nun folgenden Vergleich soll auf Grundlage der gewonnen Einzelergebnisse untersucht werden, welche Dichter sich in welchem Maße für die Belange ihrer Heimatpolis einsetzten. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden sich in Bezug auf das mit den Gedichten vollführte politische Handeln der Dichter und was sagen uns diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede über das mit der Dichtung verfolgte politische Handeln sowie die jeweilige Polis, die Adressaten und die Dichter selbst? Ein solcher Vergleich der mit den Gedichten verfolgten Absichten, dargestellt durch die Sprechakte, zeigt also nicht nur die Unterschiedlichkeit des mit der Dichtung verfolgten politischen Handelns, sondern ist auch deswegen gewinnbringend, weil die dieser Arbeit zugrundliegenden Fragen nach den historischen Gegebenheiten, dem Aufführungssetting, der Adressatengruppe sowie dem Sprecher selbst auf diese Weise noch einmal schärfer, weil vergleichend, umrissen werden können und damit einen deutlichen Erkenntnisfortschritt gegenüber der Ausgangslage der Untersuchungen darstellen. Bei einem Vergleich aller aus den Gedichten extrahierten Sprechakte, zeigt sich, dass aufgrund der Häufung von Sprechakten einer bestimmten Sprechaktklasse insgesamt vier verschiedene primäre Zwecke bzw. Absichten ausgemacht werden können,1 die die Dichter mit ihren Gedichten verfolgten.2
1
Zur Erinnerung: Wenn jemand sprachlich handelt, dann geschieht dies stets zu einem ganz be-
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Vergleich
Im Sinne einer steigenden Intensität des Eingreifens in die Verhältnisse der Polis können die Gedichte insofern zu vier Gruppen systematisiert werden, wobei jede Gruppe für einen bestimmten Typ des Sprechens innerhalb einer Krisensituation steht: – Es wird Kritik an einer gegebenen Situation geäußert (Typ A) – Es wird vor einem bevorstehenden Ereignis gewarnt (Typ B) – Es wird versucht, zu einer Handlung zu motivieren (Typ C) – Es werden konkrete Handlungsanweisungen gegeben (Typ D) Im Folgenden werden die vier Typen vorgestellt. Im Zuge dessen kann zum einen die jeweilige historische Ausgangssituation, in der gesprochen wurde, noch einmal verdeutlicht werden. In einem zweiten Schritt kann sodann untersucht werden, ob sich der Ort der Aufführung und die Adressatengruppe innerhalb eines Typs unterscheiden und was das wiederum über den Dichter selbst sagt (Intragruppenvergleich). Im Anschluss an den Intragruppenvergleich soll zusammenfassend dargestellt werden, dass und inwiefern bestimmte Sprechakte auf einen bestimmen Aufführungskontext verweisen. Die Systematisierung in die vier Typen des sprachlichen Handelns soll darüber hinaus zudem veranschaulichen, dass althergebrachte Kategorisierungen auf Grundlage von Gedichtinhalten, wie etwa „Kampfparänese-“ oder „Eunomia“-Gedichte, aufgebrochen werden können. Dies soll im zweiten Teil des Kapitels dargestellt werden (Intergruppenvergleich). Der auf diese Weise von den ursprünglich individuellen Kontexten der Dichtung losgelöste Vergleich neu generierter Informationen, der Sprechakte, läuft insofern nicht Gefahr, im hermeneutischen Zirkel gefangen zu bleiben.
2
stimmten Zweck. Searle unterscheidet insgesamt fünf Zwecke, die beim Sprechen verfolgt werden. Sprechakte, die zu diesem Zweck vollzogen werden, lassen sich einer Oberkategorie, der Sprechaktklasse, zuordnen: Sagen, wie etwas ist (Repräsentativa), andere dazu bekommen, etwas zu tun (Direktiva), sich selbst darauf festlegen, etwas Bestimmtes zu tun (Kommissiva), eigene Gefühle und Einstellung ausdrücken (Expressiva) und eine Veränderung durch eine Äußerung bewirken (Deklarativa), vgl. Searle 1982, 31–39. Die den jeweiligen Gruppen zugeordneten Gedichte repräsentieren dabei einen bestimmten Typen von sprachlichem Handeln. Die Zuordnung erfolgt dabei über eine Schwerpunktsetzung, das heißt der Dominanz einer bestimmten Sprechaktklasse gegenüber anderen, möglicherweise ebenfalls in den Gedichten enthaltenen Sprechakten einer anderen Sprechaktklasse.
Intragruppen-Vergleich
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9.1 Intragruppen-Vergleich 9.1.1 Typ A: Kritik (Alk. Fr. 43 D, C. Th., V. 53–60 W) Die Sprechakte als Hinweis auf die historische Ausgangssituation Sowohl im Alkäischen Fr. 43 D als auch in den Theognideischen Versen 53–60 W finden sich vorrangig expressive und repräsentative Sprechakte.3 Die Sprechaktanalyse beider Gedichte hat ergeben, dass die Situation, von der die Dichter sprechen, bereits eingetreten ist. Beide befinden sich in einer Lage, in der ihre politischen Gegner – bei Alkaios der adlige Kontrahent Pittakos, bei Theognis die ehemaligen δειλοί – an die Macht gelangt sind und der Dichter und seine Freunde ins politische Abseits gedrängt wurden. Beiden Dichtern bleibt zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages nur noch, den Zuhörern die gegebenen Umstände darzulegen (angezeigt durch die repräsentativen Sprechakte, mit denen gesagt wird, wie etwas ist) oder die politischen Gegner zu diffamieren (durch expressive Sprechakte).4 Auffällig ist dabei, dass beide Dichter ihre politischen Gegner durch Sprechakte der Diffamierungen in ihrem Ansehen herabsetzen wollen. Da ihnen offenbar keine Möglichkeit des erfolgreichen Widerstandes gegeben ist, bleibt beiden lediglich, die Gegner zu verunglimpfen und damit bei den Zuhörern negative Gefühle diesen gegenüber auszulösen und eine emotionale Distanz zu den Gegnern zu schaffen.5 Dennoch lässt ein Vergleich der Sprechakte beider Gedichte auch Unterschiede im sprachlichen Handeln innerhalb der gleichen, aussichtslosen Situation zu Tage treten: Denn anders als im Alkäischen Gedicht, in welchem durch die Sprechakte der Prophezeiungen einer besseren Zukunft – zwar nicht zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages, jedoch grundsätzlich – theoretisch noch die Möglichkeit der Rückeroberung der 3
4 5
Auch in der Solonischen Eunomia-Elegie finden sich im ersten Teil des Gedichtes expressive Sprechakte. Jedoch ist ihre Anzahl gegenüber Sprechakten der Warnung, die das Gedicht dominieren, gering. Aus diesem Grund ordnet sich das Solonische Eunomia-Gedicht im folgenden Typ B unter. Wie Seelentag 2019, 42 erkennt, waren die Eliten bei Alkaios und Theognis also nicht „unumstößlich exklusiv“. In beiden Fällen werden die Gegner dabei durch animalische Attribute verunglimpft: Theognis vergleicht die neuen Machthaber mit Hirschen, die einst ein unzivilisiertes Leben außerhalb der Stadt führten. Alkaios unterstellt Pittakos, er würde die Stadt verschlingen bzw. fressen (zur Frage nach der Übersetzung von δάπτω s. S. 174, Anm. 99). Hiermit werden sie als besonders unzivilisiert dargestellt. Dies wird denn auch eigens betont, wenn Theognis etwa erklärt, dass die δειλοί kein Recht und kein Gesetzt kannten. Alkaios verweist hingegen auf die Primitivität des Pittakos’, indem er ihm zum einen ein unwürdiges Verhalten beim Gastmahl unterstellt und zum anderen auf seine niedere Herkunft anspielt, wenn er suggeriert, dass Pittakos lediglich durch die Ehe mit einer Frau aus dem Geschlecht der Atriden ein sozialer Aufstieg gelingen konnte. Vgl. zum Vergleich zwischen unrechtlichem Handeln und „tierischer Verrohung“ auch Becker 2018, 111, Anm. 239; Davies 1985, 36.
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Vergleich
Macht möglich ist und somit eine sich ständig ändernde Vorherrschaft adliger Gruppen sichtbar wird, bietet Theognis kein positives Gegenbild, keine Hoffnung auf eine Änderung der Zustände. Im Hinblick auf die historische Situation muss also noch einmal feindifferenziert werden: Bei Alkaios spiegeln sich die Machtkämpfe des 7. Jh. v. Chr. wider, wohingegen Theognis’ Gedicht von der zunehmenden Veränderung der politischen Verhältnisse im Megara des 6. Jh. v. Chr. zeugt, wo ein Elitenwechsel offenbar unumkehrbar stattgefunden hat.6 Der Dichter und die Adressaten der Sprechakte In beiden Gedichten spricht ein enttäuschter Adliger, der den Kampf um die Macht (vorerst) verloren hat. Bei Alkaios bezieht sich der verlorene Kampf dabei auf interne Machtkämpfe verfeindeter Hetairien. Bei Theognis zeigt sich hingegen ein grundlegender Wechsel innerhalb der Führungsschicht, bei welchem nichtadlige δειλοί den ehemaligen ἐσθλοί den Rang ablaufen. Beide Sprecher sind dabei Repräsentanten ihres Standes. Aus ihren Gedichten spricht jedoch keine aktive Einmischung in die Belange der Polis. Sie kümmern sich lediglich um interne Probleme ihrer jeweiligen (Hetairos-) Gruppe. Hier wird zu politisch Gleichgesinnten gesprochen, wobei die Gegner durch die auffallende Häufung expressiver Sprechakte von der eigenen Gruppe abgegrenzt werden.7 Es spricht insofern nichts dafür, dass Alkaios und Theognis mit ihren Gedichten in einem anderen Kontext aufgetreten sind als in einem privaten Zirkel. Bereits Rösler merkt in Bezug auf das Alkäische Fr. 43 D an, dass im Kreise der Hetairoi nicht auf eine argumentativ-sachliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner geachtet werden musste. Hier konnte Alkaios seine Beschimpfungen ohne Rücksicht äußern.8 Genauso kann für die Theognideischen Versen 53–60 W argumentiert werden. Die Analyse der Sprechakte bestätigen insofern die gängige Forschungsmeinung, die beide Dichter in den privat-aristokratischen Kontext verorten.9
6 7 8 9
Latacz erkennt bereits 1991, 215–215: „Wenn Alkaios die Adels-Opposition der Tat repräsentiert, so repräsentiert Theognis die des Wortes.“ Ulf 2011, 294 weist darauf hin, dass hier ein Bemühen erkennbar wird, in den neuen und größer werdenden Siedlungen eine gemeinsame Identität entstehen zu lassen. Rösler 1980, 162. Wie sich zeigen wird, gilt dies auch für die anderen der hier untersuchten Fragmente des Alkaios und Theognis. Vgl. zur Frage des Aufführungsortes in Bezug auf die Forschung für Alkaios und Theognis die entsprechenden Ausführungen in Kap. 6.2.1. und Kap. 8.2.1.
Intragruppen-Vergleich
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9.1.2 Typ B: Warnung (Sol. Fr. 4 W, C. Th., V. 39–42 W und 43–52 W) Die Sprechakte als Hinweis auf die historische Ausgangssituation Die Solonische Eunomia-Elegie und die Theognideischen Verse 39–42 W und 43–52 W weisen ähnliche Sprechakte auf. In allen drei Texten liegt eine auffallend hohe Anzahl von Sprechakten der Warnung vor. In Solons Eunomia sowie in Theognis’ V. 43–52 W findet sich zum Schluss des erhaltenen Gedichtes auch je ein indirekter direktiver Sprechakt. Zudem liegen in Solons Eunomia-Elegie aber auch in Theognis’ Versen 39–42 W expressive Sprechakte der Beschuldigung und Diffamierung vor. Alle Gedichte weisen auch repräsentative Sprechakte auf. Wie bereits für die Gedichte einzeln dargestellt, kann von den vollzogenen Sprechakten darauf rückgeschlossen werden, dass sich die Sprecher dieser Gedichte in einer Situation befanden, in der der Untergang der Stadt – bei Solon Athen, bei Theognis möglicherweise Megara – aufgrund verwerflichen Verhaltens ihrer Bewohner bevorstand. Dabei können Solons Eunomia und die Verse 39–42 W des Theognis in zeitlicher Hinsicht noch einmal von den Theognideischen Versen 43–52 W unterschieden werden, denn hier wird durch die in den Gedichten enthaltenen expressiven Sprechakte deutlich, dass sich eine Gruppe von Menschen (bei Solon das Volk im Ganzen, bei Theognis (V. 39–42 W) die ἡγεμόνες) bereits schlecht verhalten haben. Die Dichter reagieren auf dieses schon geschehene Benehmen. In den Theognideischen Versen 43–52 W zeigen die Sprechakte der Warnung vor dem Verhalten der κακοί, dass dieses noch bevorsteht, die sogenannten Schlechten sich also noch nicht in dem Maße schlecht verhalten haben.10 Alle drei Gedichte ähneln sich jedoch insofern, als dass sie davon zeugen, dass der endgültige Untergang der Stadt letztlich noch nicht eingetreten zu sein scheint, ansonsten würden die Dichter mit ihren Gedichten nicht davor warnen müssen. Diese Tatsache unterscheidet diese Gedichte grundlegend von den im vorangehenden Abschnitt genannten (Alk. Fr. 43 D und C. Th., V. 53–60 W), da dort der befürchtete Zustand bereits eingetreten ist und den Dichtern lediglich bleibt, die gegebene Situation zu bemängeln. Bemerkenswert ist in den drei Gedichten dieser Gruppe, dass zwar viele Warnungen ausgesprochen werden, die auch direktive Anteile in sich tragen, jedoch keine konkreten Handlungsanweisungen gegeben werden. Zwar fordert Theognis zum Schluss der Verse 43–52 W, dass die Stadt ihren Untergang niemals zulassen dürfe und Solon rät durch die Behauptung, dass Eunomia die Polis gut und ordentlich mache, zu der Umsetzung derselben (V. 32–39 W), jedoch sind beide handlungsauffordernden Sprechakte indirekt. Aus ihnen geht kein direkter Aufruf zu konkreten Gegenmaßnah10
Aus diesem Grund wurde im Anschluss an die Sprechaktanalyse eine Trennung zwischen V. 42 W und V. 43 W der ursprünglich als ein Gedicht verstandenen Verse 39–52 W des Theognis vorgenommen.
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men hervor. Zwar geht die durch das Sprechen verfolgte Intention der Gedichte über das reine Beklagen des Zustandes hinaus, wie es in den Gedichten der Gruppe A der Fall ist, jedoch bleiben Solons Eunomia und die Theognideischen Verse 39–42 W und 43–52 W in Bezug auf das Eingreifen in die Krise der Polis deutlich hinter den nachstehend erörterten Gedichten der Typen C und D zurück. Der Dichter und die Adressaten der Sprechakte Wie die Sprechakte des Eunomia-Gedichtes Solons und diejenigen der Verse 39–42 W und 43–52 W des Theognis zeigen, agierten die Dichter also in ähnlichen außerliterarischen Situationen auf ähnliche Art und Weise. Nicht selten wurden die Gedichte deswegen in Abhängigkeit zueinander gebracht.11 So behauptet Stein-Hölkeskamp gar, dass die Solonische Eunomia-Elegie „für den Verfasser der hier besprochenen Theognisverse ja ohnehin Vorbild und Referenzobjekt war“12. Blickt man vergleichend auf die Wahl der getroffenen Sprechakte fallen jedoch deutliche Unterschiede in Bezug auf den Sprecher und die Adressatengruppe der Gedichte auf. Im Folgenden soll dies anhand Solons Eunomia-Elegie und der Theognideischen Verse 43–52 W gezeigt werden.13 Wie eingangs dargelegt, sind Sprechakte der Warnungen in beiden Gedichten dominant. Bei einem Vergleich der jeweils vollzogenen Warnungen in den Gedichten wird jedoch deutlich, dass und inwiefern sich die Adressatengruppe und damit grundlegend das Setting, in welchem Solon und Theognis auftreten, voneinander unterscheiden. Methodische Prämisse für die Unterscheidung ist dabei, dass der Inhalt eines Sprechaktes der Warnung, um zu glücken, nicht im Interesse der Zuhörer sein darf: In Theognis’ Elegie richten sich die Warnungen an den fiktiven Adressaten Kyrnos. Dieser solle nicht erwarten, dass die Stadt noch lange unerschüttert bleibt, wenn den Schlechten zu freveln einfalle. Inhalt der Warnung ist also das frevelhafte Verhalten der Schlechten und der daraus hervorgehende Untergang der Stadt (V. 44–48 W). Die Adressaten des Gedichtes werden also auch vor den Schlechten gewarnt. Klar wird sich damit von einer außenstehenden, vermeintlich schlechten, zumindest jedoch fremden Gruppe von Menschen abgegrenzt. Bei den Adressaten der Dichtung muss es sich demnach um eine zu den κακοί konträr stehende Gruppe handeln: Die (vermeintlich) Guten, die niemals eine Stadt zugrunde gerichtet hätten. Theognis’ Intention ist
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Dabei werden die Theognideischen Verse 39–52 W allerdings zumeist als ein Gedicht angesehen. Stein-Hölkeskamp 1997, 26. Vgl. hinsichtlich der gegenseitigen Bezugnahme der Verse aber auch ihrer Unterschiedlichkeit etwa Tausend 2013, 533–534; Kroll 1936, 117; Hasler 1959, 41–44; van Wees 2000, 58–59; Gentili 1988, 62; Walter 1993, 107–109; Latacz 1991, 216–217; Tedeschi 1982, 36–38. Die Verse 39–42 W werden hier nicht in den Vergleich einbezogen, da sie aufgrund ihrer Kürze weniger aussagekräftig sind.
Intragruppen-Vergleich
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also, die eigene Gruppe vor den anderen zu warnen. Wie schon Walter richtig darstellt, ist sein Gedicht damit „als Diskurs zunächst innerhalb einer mit der Gemeinde nicht identischen Gruppe von mindestens zwei Personen gekennzeichnet, die besonders miteinander verbunden sind.“14 Ganz anders stellt es sich in Solons Eunomia-Elegie dar: Hier sind es zum einen die Verursacher der Krise selbst, also die Bewohner und die Führer des Volkes, denen Solons Warnungen gelten. Denn der Inhalt der an diese Personengruppe gerichteten Warnungen sind die Folgen ihres eigenen schlechten Handelns (V. 7–8 und V. 16).15 Zum anderen adressiert Solon mit seinen Warnungen die ganze Stadt (V. 17): Die liebliche Jugend (V. 20), die Armen (V. 23), jeden einzelnen Haushalt (V. 26); Inhalt der Warnungen ist dabei jeweils der Gruppe der Gemeinten entsprechend der Krieg (V. 19), die Sklaverei (V. 23–25) und das Volksübel (V. 26). Hier werden also unterschiedliche Gruppen von Menschen adressiert, denen je spezifische, in der Zukunft liegende negative Ereignisse angekündigt werden.16 Die intendierte Adressatengruppe geht insofern erkennbar über die des Theognis hinaus, es sind die in den Gedichten genannten Personengruppen. Dabei scheut Solon sich nicht, sie alle zu kritisieren. Anders bei Theognis: Hier sind nicht die Adressaten schlecht, sondern gerade die anderen. Die eindringlichen Warnungen vor dem frevelhaften Verhalten der Schlechten zeigen, wie sehr Theognis die Veränderungen innerhalb der Polis fürchtet. Die Herrschaft der Schlechten ist für ihn ein desaströses Szenario.17 Die bereits in der Forschung vertretene Ansicht und durch den Vergleich der Verse 53–60 W mit dem Alkäischen Fr. 43 D (Typ A) gewonnene Erkenntnis, bei Theognis handele es sich um einen echten ἁγαθός, der den Sittenverfall und eine damit einhergehende Verschiebung der Machtverhältnisse fürchtet, kann durch die Analyse der Sprechakte auch hier bestätigt werden. Hierin besteht der große Unterschied zu Solon, weshalb dessen Eunomia-Elegie schwerlich ein Vorbild für Theognis gewesen sein kann: Während Theognis aus einer gewissen Distanz zum Geschehen im Rahmen der vertrauten Gruppe seine Worte lediglich zu Seinesgleichen spricht und damit in keinerlei Hinsicht als einflussreicher 14 15 16 17
Walter 1993, 107. In dieser Hinsicht ähnelt Solons Salamis-Elegie den Theognideischen Versen 39–42 W. Das Gleiche gilt auch für den Sprechakt des Ratschlages (der in einem logischen Zusammenhang mit den vorausgehenden Beschuldigungen und Warnungen steht). Vgl. dazu auch Kap. 7.2.3., S. 223. Insofern erscheint die These von Lahr 1992, 53, dass Theognis’ Verhältnis zur Polis „tief und emotional“ sei und „die Stadt, das Wohl der Gemeinschaft, [ ] für den Dichter die höchste Bedeutung [hat];“ als eine zu sehr am Gemeinwohl interessierte Interpretation der Theognideischen Verse. Der Ansatz von Hasler 1959, 43 ist plausibler: „Welches aber ist die Rettung (vor dem Untergang der Stadt, Anm. AvdD) bei Theognis? Sie ist nicht expressis verbis da, kann aber nur darin bestehen, dass weiterhin die ἀγαθοί die Regierung innehaben, ein Gedanke, der 43 ausgedrückt ist.“ Vgl. in diesem Sinne auch Walter 1993, 109: „Im Gegensatz zu Solon durchdenkt Theognis die Probleme der Polis nicht von der Gesamtgemeinde und ihren einzelnen Mitgliedern, sondern ausschließlich von seinem Stand, der Aristokratie, ja noch enger von seiner eigenen Stasisgruppe her.“
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politischer Akteur erscheint,18 vollzieht Solon Sprechakte, die allen gesellschaftlichen Schichten der Polis gelten, von den Führern des Volkes bis zu den Ärmsten den Stadt.19 Seine politische Rolle geht insofern deutlich über die des Theognis hinaus.20 Dies zeigt sich auch an dem zum Schluss der Eunomia gegebenen Sprechakt des Ratschlages, mit dem Solon, anders als Theognis, der nur dazu aufruft, dass der Stadt der Wandel der Verhältnisse nicht gefallen dürfe, die Bewohner Athens zur Umsetzung einer besseren gesellschaftlichen Ordnung anregt. Solon tritt daher im Gegensatz zu Theognis deutlich politischer, im ursprünglichsten Wortsinn, auf.21 Ein öffentlicher Aufführungskontext ist wahrscheinlich. 9.1.3 Typ C: Handlungsaufforderung (Tyrt. Frr. 2 D, 4 D, 5 D, Sol. Frr. 1–3 W, Alk. Fr. 6 V, Kall. Fr. 1 D) Die Sprechakte als Hinweis auf die historische Ausgangssituation In allen der diesem Sprech-Typ zuzuordnenden Gedichte liegt eine hohe Anzahl von Sprechakten der Sprechaktklasse der Direktiva vor. Es handelt sich also um Gedichte, mit denen die Dichter ihre Zuhörer zu bestimmten Handlungen bewegen möchten: Die Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D, Solons Salamis-Elegie, Alkaios’ Fr. 6 V sowie Kallinos’ Fr. 1 D. Deutlich zeigt sich, dass sich die Dichter mit ihrer Dichtung in die politischen Geschehnisse ihrer Zeit einmischten, indem sie ihre Zuhörer zu etwas Bestimmtem bewegen wollten. Sie beschreiben oder sprechen nicht über die Situation, sondern wollen durch ihr Sprechen aktiv eine Veränderung herbeiführen. Wie in den jeweiligen Einzelanalysen herausgearbeitet, sind diese Gedichte in einen Kontext zu verorten, in dem ein ganz konkretes Ereignis – etwa ein Krieg (Tyrtaios möchte seine Zuhörer dazu bringen, die militärische Auseinandersetzung mit den Messeniern
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Auch in den Versen 39–42 W und insbesondere 53–60 W geht seine Funktion nicht über die eines Sprechers innerhalb eines privaten Zirkels hinaus. Ähnlich Hasler 1959, 43–44: „Der Aristokrat Theognis und mit ihm die Aristokratie ist bis ins Mark getroffen. Er kann deshalb nicht mit der Ruhe sprechen wie der μέσος ἀνήρ Solon, der über den Parteien steht und so doch objektiver urteilen kann.“ Ähnlich erneut Hasler 1959, 43: „Mit dem Wunsche, die Stadt möge davor bewahrt werden, schließt Theognis. Solon dagegen zeigt den Athenern die Rettung, die in der Eunomia besteht, während er die schlimmen Zustände der Δυσνομία zusammenfasst.“ Hier im Sinne von Raaflaub 1989, 6: „Denken und Handeln waren für die Griechen ‚politisch‘, wenn sie sich, in sehr weitem Sinne, auf die Gemeinschaft (und d. h. üblicherweise die Polis) richteten. Dieses Verständnis von „politischem Denken“ findet Itgenshorst 2014, 29 nicht differenziert genug. Sie versteht das Politische vielmehr als „de[n] Raum – in dem im topographischen wie personellen und imaginierten Sinne – […] über die individuellen Interessen der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft hinaus überindividuelle, das heißt die gemeinsamen Interessen, Gegenstände und Fragen thematisiert, verhandelt oder reflektiert werden können […].“
Intragruppen-Vergleich
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zu suchen; Solons Ziel ist es, den Kampf um Salamis wieder aufzunehmen; Kallinos will seine Zuhörer zum Kampf gegen die Kimmerier animieren) oder eine andere Art der Auseinandersetzung (Alkaios ruft zur Verteidigung der eigenen Hetairie gegen die Machtambitionen des Myrsilos auf) – bevorsteht und in dem die Dichter mit ihren Liedern aktiv in die jeweilige Situation eingreifen und ihre Zuhörer dazu bringen wollen, auf eine gewisse Art und Weise zu handeln. Gemeinsam ist diesen Gedichten neben der Häufung der in ihnen enthaltenen Direktiva jedoch auch, dass sich direktive und repräsentative Sprechakte abwechseln. Sowohl in Solons Salamis-Elegie als auch im Alkäischen Fr. 6 V und in Kallinos’ Fr. 1 D sowie in den Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D finden sich Direktiva, die von Sprechakten der Behauptung und Warnung flankiert werden.22 Darüber hinaus finden sich in diesen Gedichten (mit Ausnahme der Solonischen Salamis-Elegie, von der jedoch erhebliche Teile fehlen) auch Sprechakte der Mahnung, ebenfalls Direktiva, mit denen die Zuhörer im Hinblick auf eine bisher nicht nachgekommene Verpflichtung zum Handeln animiert werden sollen. In allen Gedichten dieses Typs geht es demnach nicht allein darum, die Zuhörer zum Handeln aufzufordern, sondern insbesondere auch darum, sie von einer bestimmten Handlung zu überzeugen. Der Dichter und die Adressaten der Sprechakte In den hier besprochenen Fragmenten, dies hat die Sprechaktanalyse gezeigt, muss erst noch der Entschluss gefasst werden, in den Kampf zu ziehen (oder eben nicht). Das bedeutet gleichsam, dass hier zu Adressaten gesprochen wird, die noch entscheiden können, ob sie der Aufforderung nachkommen oder nicht. Dies unterscheidet die Gedichte des Typs C von den im Anschluss erörterten Gedichten des Typs D. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, ist es lohnend, Hindelangs Ausführungen zur Intensität von Aufforderungen heranzuziehen: Hindelang kommt durch den Versuch, die Sprechaktklasse der Direktiva exemplarisch zu beschreiben zu dem Schluss, dass zwischen bindenden und nicht-bindenden Aufforderungen unterschieden werden muss: „Muss Sp2 (Sprecher 2, Anm. AvdD) die Handlung, zu der ihn Sp1 (Sprecher 1, Anm. AvdD) aufgefordert hat, ausführen, oder ist es in sein Belieben gestellt, ob er der Aufforderung von Sp1 nachkommt oder nicht? Aufforderungen, die Sp2 befolgen muss, sollen b i n d e n d genannt werden, solche, die er nicht ausführen muss, sollen n i c h t – b i n d e n d hei-
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Für die Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D, die zwar als Teil eines nicht näher bestimmbaren Gesamtgebildes verstanden werden, deren Zusammensetzung in Bezug auf die einzelnen Fragmente sowie die einzelnen Verse (in Fr. 4 D) jedoch nicht gesichert ist, muss einschränkend erwähnt werden, dass hier weniger von „flankieren“ gesprochen werden kann als vielmehr von einem parallelen Vorkommen repräsentativer und direktiver Sprechakte.
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ßen.“23 Rolf fasst Hindelangs Überlegungen prägnant zusammen: „Der Versuch, den Hörer dazu zu bringen, etwas ganz Bestimmtes zu tun, wird entweder auf eine Art (und Weise) gemacht, die dem Hörer die Option der Zurückweisung des an ihn herangetragenen Anliegens offenläßt, oder auf eine Art, in der eine Zurückweisung des Anliegens ausgeschlossen ist. Ersteres ist beispielsweise bei einer Bitte, letzteres ist beim Befehl der Fall. […] Dieser Tatbestand spiegelt sich in der von Hindelang als oberstes Gliederungsprinzip seiner Taxonomie der Aufforderungen in Anschlag gebrachten ‚Unterscheidung in bindende und nicht bindende Aufforderungen‘“24. Nach dieser Beschreibung von Aufforderungen handelt es sich bei den vollzogenen Aufforderungen der Gedichte des Typs C um nicht-bindende Aufforderungen, denn hier geht es darum, die Zuhörer zu einer bestimmten Variante von möglicherweise mehreren Optionen zu bewegen. Es ist ihnen dabei freigestellt, ob sie der Handlungsaufforderung nachkommen, oder nicht. Insbesondere in Solons Salamis-Elegie und im Alkäischen Fr. 6 V muten die Direktiva mehr als Handlungsvorschlag denn als konkret geforderte Anweisungen an, denn in beiden Fällen sind die Direktiva durch ein „Lasst uns …“ im Coniunctiuvs (Ad)hortativus formuliert (Solon Fr. 3 W, V. 1; Alkaios Fr. 6 V, V. 7 und V. 13). Hier werden also keine konkreten Anweisungen gegeben, sondern es wird vielmehr dafür plädiert, die vorgeschlagene Handlungsaufforderung (gemeinsam) umzusetzen.25 Bei allen Gedichten des Typs C ist zudem auffällig, dass die direktiven Sprechakte (ebenfalls im Unterschied zu den Gedichten des Typs D) in der Mehrheit indirekt und insofern rücksichtsvoller vollzogen wurden.26 In allen Gedichten des Typs C wird demnach zu Adressaten gesprochen, die noch darüber entscheiden können und dürfen, ob sie der an sie herangetragenen Handlungsaufforderung – in allen Fällen handelt es sich um die Aufforderung zum Kampf – nachkommen oder nicht. Wer aber kann diese Adressatengruppe gewesen sein? Wer sind diejenigen, deren Entscheidungsfindung hier beeinflusst werden soll? Wie bereits als Ergebnis in den jeweiligen Einzelanalysen angenommen, spricht einiges dafür, dass die Gedichte des Typs C im Symposion bzw. in der Hetairie, das heißt in einem privaten Rahmen vor
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Hindelang 2010, 54. Bereits Gudopp von Behm 2009, 344 erkannte: „Die Tyrtaios-Fragmente begründen und legitimieren Spartas Verfaßtheit theologisch-mythologisch; der Sänger der Zeus-gegebenen Herakliden-Stadt Sparta (2W, 12 f. (entspricht Fr. 2 D, Anm. AvdD)) spricht von der Weisung des delphischen Gottes, der Quelle und des weiterhin begleitenden Herrn der Rhētra (4 W, 1 f., 10 (entspricht Fr. 3a D, Anm. AvdD)); eine solche Weisung muß bewahrt werden.“ Rolf 1997, 177. Interessant ist, dass im Tyrtäischen Fr. 6 D, welches bereits aufgrund seines repräsentativen Charakters vom kriegerisch geprägten Fr. 7 D getrennt wurde (s. dazu Kap. 5.2.1., S. 140), und in welchem es primär darum geht, die Zuhörer davon zu überzeugen, für die Heimatpolis zu kämpfen, ebenfalls mit μαχώμεθα (Fr. 6 D, V. 13) ein Coniunctivus (Ad)Hortativus vorliegt. In Fr. 7 D gebraucht Tyrtaios hingegen vornehmlich die 2. Ps. Pl. für seine Aufforderungen. In der Sprechakttheorie gilt das Formulieren indirekter Direktiva als Ausdruck von Höflichkeit. Eine Handlungsanweisung direkt zu formulieren kann hingegen unhöflich wirken. Vgl. dazu Searle 1982, 56–57.
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vermutlich politisch Gleichgesinnten, vorgetragen wurden.27 Für das Kallinische Fragment und die Alkäische Lyrik im Allgemeinen wird dies in der Forschung bereits fast einstimmig vorausgesetzt.28 Es kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Solonische Salamis-Elegie oder die Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D vor einem größeren Adressatenkreis in einem öffentlicheren Setting, etwa der Agora, aufgeführt wurden.29 Denn auch wenn unsere Kenntnis über den Grad der Institutionalisierung politischer Räume im 7. und 6. Jh. v. Chr. – zumal diese Prozesse in den verschiedenen Poleis unterschiedlich verlaufen sein müssen – gering ist, so kann wohl davon ausgegangen werden, dass die Agora als Ort fungierte, an dem „nicht nur abgestimmt, sondern auch diskutiert“30 wurde.31 Schon bei Homer (Hom. Il. XVIII, 497–508, Hom. Od. VIII, 5–16) und Hesiod (Hes. erg. 29) wird die Agora als Ort der Versammlung und Beratung, besonders auch Gerichtsversammlungen, genannt.32 Aus den Gedichtfragmenten des Alkaios geht denn auch hervor, dass es um 600 v. Chr. in Mytilene schon eine Agora, die wohl als Volksversammlung zu interpretieren ist, gegeben hat, welche zudem bereits gewisse Kompetenzen besessen hatte, wie die Wahl des Pittakos zum Aisymneten zeigt.33 Und auch die Große Rhetra aus Sparta und Tyrtaios’ Paraphrase derselben bezeugen, dass es im 7. Jh. v. Chr. (nicht nur einen Rat, sondern auch) eine Volksversammlung gegeben hat. Wieviel Gewicht der Versammlung und der Stimme des Volkes in archaischer Zeit tatsächlich beigemessen werden kann, ist dabei jedoch schwierig zu beantworten.34 Unabhängig davon ist es jedoch nicht ausgeschlossen, 27 28 29
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Dafür spricht auch der Verweis der Dichter auf ruhmreiche Vorfahren und die Verpflichtung diesen gegenüber. Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zum Aufführungskontext in den einführenden Kapiteln der beiden Dichter: Kap. 4.1.1. (Kallinos) und 6.1.1. (Alkaios). Gerade für die Salamis-Elegie wird aufgrund des Berichtes Plutarchs, Solon sei als Herold auf die Agora gestürmt und hätte dort sein Gedicht vorgetragen (Plut. Sol. 8, 1–2), häufig eine öffentlichere Aufführungssituation als das Symposion angenommen. Bei den Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D ist hingegen letztlich nicht klar zu bestimmen, inwiefern sie nicht doch mit Fr. 3a D, für das ein öffentlicher Kontext anzunehmen ist, zusammenhängen. Meier 2009, 200; vgl. auch Hölkeskamp 2019, 111–112; Wallace 2013 Archäologische Zeugnisse von Versammlungsanlagen lassen darauf schließen, dass die archaische Agora schon früh ein öffentlicher Versammlungsort zu kultisch, festlichen und politischen Zwecken gewesen ist. Vgl. grundlegend zur gesellschaftlichen Bedeutung der Agora aus archäologischer Perspektive Camp 2016 („Agoras were the focal point of life in a Greek City“ (300)) sowie ders. 1989 umfassend zur athenischen Agora, die sich den archäologischen Rückschlüssen zu Folge um 600 v. Chr. entwickelte. Frühe öffentliche Gebäude datieren in die Zeit Solons zurück (ebd., 42). Vgl. auch Hölscher 1998, 29–45; Hölkeskamp 2019, 106–107 sowie ders. 1999, 270–273. Vgl. grundlegend Hölkeskamp 1997; vgl. auch. Kenzler 1999, 31–46, der 29–30 auch betont, dass die in den homerischen Epen präsentierte Agora keiner mythischen Vorzeit entspringt, sondern bereits die Form besaß, die sie im 8. Jh. v. Chr. innehatte. Alk. Fr. 43 D und Alk. Fr. 130 V, vgl. dazu auch Welwei 1992b, 495. Die Frage nach der Macht des Volkes entzündet sich auch an den in der Großen Rhetra genannten Bestimmungen für die Polis Sparta und aus dem Tyrtäischen Fr3a D, aus dem denn auch explizit hervorgeht, dass die Versammlung durch den Sieg der Stimmen entscheiden solle (V. 9), vgl. hierzu Raaflaub 2006, 394–398. Dass die Volksversammlung noch keinen entscheidenden Einfluss
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Vergleich
dass Solon und Tyrtaios den öffentlichen Raum nutzen, um ihre Anliegen mittels ihrer Gedichte auf der Agora zu verbreiten und Einfluss auf den Demos zu üben.35 Insgesamt erscheint es aufgrund der analysierten Sprechakte jedoch plausibler, dass die Gedichte des Typs C im elitären Symposion vorgetragen wurden. Denn auch wenn die Bedeutung der Stimme des Volkes nicht unterschätzt werden darf, lag die Entscheidungsgewalt wohl primär noch in den Händen der Elite. Es waren die Adligen, die in archaischer Zeit die politische und gesellschaftliche Macht in der Polis für sich beanspruchten.36 Im Zuge der Institutionalisierung gingen die ursprünglich durch basileis ausgeübten Herrschaftsfunktionen auf einen verbreiterten Kreis von Aristokraten über.37 Gehrke fasst prägnant zusammen: „Der Prozeß der Polisbildung steht in engem Zusammenhang mit einem bedeutenden Machtgewinn der Adligen beziehungsweise der Reichen. Diesen gelang es, unter Ausnutzung ihrer ökonomischen Ressourcen, ihres sozialen Gewichts und ihrer politischen Position als ritterliche Einzelkämpfer, Ratgeber und Richter, die politische Macht in den eigenen Reihen zu monopolisieren.“38 Deutlich zeigt sich dies am Beispiel Athens. In der Athenaion Politeia heißt es, dass schon zur Zeit Drakons (um 620 v. Chr.) die Ämter in Athen nach Abstammung und Besitz vergeben wurden.39 Und auch wenn Solon durch seine Reformen eine gerechtere Gesellschaft in Athen schaffen wollte,40 zeigen bestimmte Regelungen, wie das Stasis-Gesetz, nach dem insbesondere die adligen Areopagiten während einer Stasis dazu angehalten waren, zugunsten einer Partei
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üben konnte, glauben Hall 2013, 16; Raaflaub 2006, 398; Walter 1993, 162. Welwei 2011, 113 hält die Volksversammlung noch von „Aristokraten“ beherrscht. So auch de Libero 1996, 318, Anm. 21: „Ein eindringliches Beispiel für die Aktivität der Aristokraten in der Volksversammlung bietet Alkaios frg. 130b, 1–4, der im Exil nach eigener Aussage das ärmliche und damit apolitische Leben eines Kleinbauern fristet und sich nach dem politischen Treiben der Volksversammlung in seiner Stadt, in der sich schon seine Vorfahren engagierten, sehnt.“ Die Frage, wieviel Gewicht die Volksversammlung in den einzelnen Poleis in archaischer Zeit hatte, ist jedoch umstritten und lässt sich kaum beantworten. Hier sei noch einmal auf die kritische Anmerkung von Mülke 2002, 11 hingewiesen, dass nicht allein aufgrund mangelnder Kenntnis eines anderen Vortragsorten davon ausgegangen werden dürfe, dass die Mehrheit der Dichtung Symposionsdichtung gewesen ist. Vgl. grundlegend Schmitz 2008, der 36–37 betont, dass die Macht der sozial Überlegenden grundsätzlich von den Bauern akzeptiert wurde. Gleichzeitig zeigt ebd. aber auch auf, dass es die Aristokratie (besonders in Athen) verpasste, ihre Macht gegenüber dem Volk dauerhaft zu sichern. Vgl. Stein-Hölkeskamp 2015, 141. Gehrke 1986, 35. Vgl. in diesem Sinne auch Thomas 1996, die betont, dass die primäre Funktion der frühen niedergeschriebenen Gesetzte darin bestand, die Willkür der Rechtsprechung durch die Elite zu steuern. Diese privilegierte Schicht tritt dabei, wie Hall 2013, 13 zeigt, anhand der in der archaischen Lyrik verwendeten Terminologie für die Elite (ἁγαθοί, ἐσθλοί) bzw. für den großen Teil der ihr nicht zugehörigen Menschen (κακοί, δειλοί) hervor. Ebd. nimmt an, dass sich eine solche Schicht von Führungspersönlichkeiten bei der Zusammenlegung kleiner Gemeinschaften zu einen größeren Gemeinschaftsverband im 7. Jh. v. Chr. entwickelt hat. [Arist.] ath. pol. 3, 1. Rieß 2018 betont Solons streben nach einem Kompromiss zur Konfliktlösung innerhalb der Gesellschaft. Vgl. in diesem Sinne Sol. Fr. 5 W.
Intragruppen-Vergleich
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Stellung zu beziehen,41 oder die Einteilung der Gesellschaft in Vermögensklassen42 und der damit einhergehenden Besetzung der wichtigsten Ämter durch die der Klasse der „Fünfhundertscheffler“ (πεντακοσιομέδιμνοι) angehörenden adligen Grundbesitzer, dass Verfahrensregelungen und Ämtervergabe und damit die zentrale politische Handlungsmacht der reichen Elite vorbehalten blieb.43 Die politischen Kämpfe wurden demnach wohl primär noch inneraristokratisch ausgefochten.44 Die soziale Funktion des Symposions, in dem die Elite sich versammelte, darf hierbei nicht unterschätzt werden:45 „On the other hand, because the archaic polis was essentially controlled by the aristocracy, the symposion was interwoven with all the structures of the polis, and provided a focal space for common action both on behalf of and against the polis.“46 Die Annahme, dass die Gedichte aufgrund ihrer durch die Sprechaktanalyse sichtbar gewordenen kommunikativen Absicht, nämlich einen Entscheidungsfindungsprozess zu beeinflussen, im adligen Symposion bzw. der Hetairie aufgeführt wurden, fügt sich dabei auch in grundsätzliche Überlegungen zur Funktion des Symposions: Möglicherweise bot das gemeinsame Symposion die Bühne, vor einflussreichen Männern der Polis zu sprechen, um diese für ein bestimmtes politisches Vorhaben zu gewinnen, bevor es etwa in der Volksversammlung oder auf der Agora vor der Öffentlichkeit zur Disposition stand.47 Einen solch mehrstufigen Kommunikationsprozess des Vorentscheidens im privaten Club und der darauf folgenden Einflussnahme auf die öffentliche Willensbildung zeichnet Welwei denn schon für die homerische Gesellschaft nach, in welcher Hetairos-Gruppen48 noch einen Gefolgschaftsverband bzw. das Beratungsgremium eines einflussreichen basileus darstellten.49 Auch wenn nicht eindeutig bestimmt wer41 42 43
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[Arist.] ath. pol. 8, 4–5. Vgl. dazu Schmitz 2013. [Arist.] ath. pol. 7, 3–8, 1; Plut. Sol. 18, 1–2. Dass Solon die Macht der Eliten erhielt, betonen auch Hall 2013, 14–15; Raaflaub 2006, 401. Vgl. auch Schmitz 2014, 57–59; Rieß 2018, 10, die beide jedoch auch die neue vertikale Durchlässigkeit innerhalb der sozialen Schichten betonen. Die zunehmende Bedeutung des neuen „Geldadels“ wird besonders in den Gedichten des Theognis Mitte des 6. Jh. v. Chr. spürbar, vgl. dazu van Wees 2000. Stein-Hölkeskamp 1989, 103 nimmt an, dass die politischen Kämpfe in der Archaik primär noch neben den sich erst allmählich herausbildenden Institutionen durch die Machtausübung einzelner Adliger ausgetragen wurden. Den elitären Charakter des Symposions betont Stein-Hölkeskamp 1989, 131. Vgl. auch Romney 2020, 9–10. Murray 2009, 521. So nimmt es etwa Mülke 2002, 15 für Solons Salamis-Elegie an. Der Begriff ἑταῖρος ist in den Epen vielfach bezeugt. Jedoch handelt es sich dabei noch nicht um Hetairien im späteren Sinne, weswegen Welwei 1992b, 484–485 begrifflich zwischen „Hetairos-Gruppen“ (homerisch) und „Hetairien“ (Archaik) unterscheidet. Der Terminus ἑταιρείᾳ ist jedoch erst im 5. Jh. v. Chr. für eine exklusive Gruppe sozial Gleichgestellter, die sich auch zu politisieren vermochten, belegt, lässt sich aber laut Welwei bis ins 7. Jh. v. Chr. zurückverfolgen. Vgl. ebd., 489–493. In der Ilias versammeln Agamemnon oder Hektor häufig führende Männer zur Beratung um sich (Hom. Il. II, 53; 370–372; Hom. Il. XVIII, 313). Und dies manchmal auch beim gemeinsamen Mahl (Hom. Il. IX, 89–178).
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Vergleich
den kann, welche politische Rolle das Symposion bzw. die das Symposion gemeinsam begehenden Hetairien in nachhomerischer Zeit innegehabt hatten, so kann zumindest sicher angenommen werden, dass sie (auch) als Träger von Machtkämpfen innerhalb der Führungsschicht fungierten und damit einen immanent politischen Charakter aufwiesen:50 „Die jüngere Form der Hetairie ist offensichtlich aus den homerischen Tischgemeinschaften hervorgegangen und war das eigentliche Kampfinstrument bei den Rivalitäten der führenden Häuser sowie auch bei den Bemühungen der noch nicht zur engeren Führungsschicht zählenden Adligen, in die Polisämter zu gelangen und größeren Einfluß auszuüben.“51 Die Hetairos-Gruppen haben insofern wichtige Impulse zur Entwicklung von Staatlichkeit gegeben.52 Dies gilt insbesondere für das frühe Stadium der Institutionalisierungsprozesse, wo die Bekleidung der Ämter, wie Stein-Hölkeskamp darlegt, noch nicht geregelt bzw. klar definiert war und die Vergabe der Ämter nach dem „vorpolitischen“ Prinzip militärischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Überlegenheitsmerkmale vonstattenging.53 Durch die durch die Sprechaktanalyse gewonnene Erkenntnis, dass die Dichter (der Gedichte in Typ C) die Teilnehmer des Symposions bzw. der Hetairie dazu aufforderten, eine bestimmte, die aktuelle politische Situation der Polis oder die eigene Gruppe betreffende, Entscheidung zu treffen, erscheint das Symposion insofern als Ort, an dem politische Vorgänge ausgehandelt, möglicherweise sogar vorverhandelt wurden. Hier wurde darüber debattiert, ob in den Krieg gezogen werden sollte oder nicht. Dabei soll jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Dichter langfristig auch eine über das Symposion hinausgehende Zuhörerschaft anvisierten. Wie Meier es bereits für die Lyrik des Tyrtaios angenommen hat, erscheint es durchaus denkbar, dass die Dichter ursprünglich sympotische Themen auch der Öffentlichkeit vorstellten und auf diese Weise deren jeweilige Reaktionen beobachteten54 bzw., wie Gentili es formuliert, als Mittler zwischen Demos und der politischen Aristokratie wirkten.55 50 51 52 53
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Insbesondere die aus der Dichtung des Alkaios hervorscheinenden inneraristokratischen Machtkämpfe spiegeln dies wider. Auch Carey 2009a, 38 betont den politischen Charakter des Symposions: „the symposium as a forum of political expression“. Welwei 1998, 48; ausführlich ders. 1992b, bes. 496–497. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Meier 1998, 100–120. Vgl. Stein-Hölkeskamp 2015, 142; vgl. auch dies. 1989, 96: „Die Magistraturen wurden also aller Wahrscheinlichkeit nach jeweils von denjenigen Aristokraten bekleidet, die einflußreich und angesehen genug waren, um gegenüber den konkurrierenden Ambitionen ihrer Standesgenossen ihre eigenen Ansprüche auf diese neuartige und zusätzliche Überlegenheitsposition effektiv durchsetzen zu können.“ Dass es kein Bemühen innerhalb der Elite gab, eine Einheit gegenüber der „niederen“ Bevölkerung darzustellen, sondern die Aristokraten stehts gegen die andern und für ihren persönlichen Erfolg kämpften, betont auch Wallace 2013, 196. Vgl. Meier 1998, 172. Gentili 1990, 1 und ders. 1988, 155–176. Auch Spahn 1993, 360 nimmt an, dass hetairische Gruppen „von ihrer Mentalität und ihrem Verhalten her in mancher Hinsicht stilbildend auf die übrige Bürgerschaft [wirkten] und [ ] so indirekt das politische Denken beeinflußt [haben].“ Vgl. auch ders. 1977, 121; Stein-Hölkeskamp 1989, 130–133 (bes. 131); Welwei 1992b, 494–496.
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Auch wenn nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Gedichte des Typs C im Symposion vorgetragen wurden, so kann zumindest als zentrale Erkenntnis festgehalten werden, dass – unabhängig vom Ort der Aufführung – mit bestimmten Gedichten der archaischen Lyrik konkrete Handlungsoptionen zur Disposition gestellt wurden. Denn mit den Gedichten des Typs C wird nicht vor etwas gewarnt (Typ B) oder eine bestimmte Handlungsanweisung gegeben (Typ D), sondern vielmehr von den, vermutlichen elitären, Zuhörern eine Entscheidung über eine aktuelle innenoder außenpolitische Gegebenheit gefordert. 9.1.4 Typ D: Handlungsanweisung (Tyrt. Fr. 7 D, Tyrt. Fr. 3a D) Die Sprechakte als Hinweis auf die historische Ausgangssituation Beide Gedichte dieses Typs weisen im Gegensatz zu allen anderen Gedichten und insbesondere gegenüber den zuvor besprochenen Gedichten eine eindeutige Dominanz von direktiven Sprechakten auf. Sowohl im Tyrtäischen Fr. 7 D als auch im Tyrtäischen Fr. 3a D liegen vorrangig Sprechakte der Aufforderung bzw. Anordnung vor. Anders als in allen anderen Gedichten bleibt die Anzahl repräsentativer Sprechakte deutlich hinter der Anzahl der Direktiva zurück. Insgesamt ist die Varianz von Sprechakten in beiden Gedichten zudem äußerst niedrig. Auffällig ist auch, dass die direktiven Sprechakte in beiden Gedichten bis auf je ein Direktivum (Fr. 7 D, V. 27–28; Fr. 3a D, V. 4) ausschließlich direkt vollzogen werden. Beide Elegien stammen vom spartanischen Dichter Tyrtaios und in beiden Fällen gibt Tyrtaios seinen Zuhörern ganz konkrete, direkte Handlungsanweisungen. Die zwei Gedichte und die in ihnen enthaltenen Sprechakte zeugen von einer Situation, in der die (politischen) Ereignisse direkt an Sprecher und Hörer herangerückt sind: Der Zweite Messenische Krieg steht unmittelbar bevor (Fr. 7 D) und die spartanische Ordnung muss aufgrund der vorherrschenden Krise in Sparta dringend umgesetzt werden (Fr. 3a D). Hier wird weder über bereits geschehene Veränderungen lamentiert (Typ A), noch vor einer Gefahr gewarnt (Typ B). Auch wird nicht versucht, von einer Handlung zu überzeugen (Typ C). Vielmehr reagiert Tyrtaios mit beiden Gedichten auf eine unmittelbar gegebene Situation, indem er seinen Zuhörern in beiden Elegien Handlungsaufforderungen gibt, die diese umsetzen sollen. Der Dichter und die Adressaten der Sprechakte Die Zuhörer beider Gedichte sind Empfänger von Handlungsanweisungen. In der Kampfparänese (Fr. 7 D) sind dies Anweisungen bezüglich des richtigen Verhaltens im Kampf. In der Eunomia (Fr. 3a D) sind die Zuhörer Empfänger von Anordnungen
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bezüglich der spartanischen Ordnung. In beiden Fällen ist die Entscheidung, zu handeln (in den Zweiten Messenischen Krieg zu ziehen bzw. die spartanische Ordnung zu etablieren), bereits getroffen worden, was die beiden Gedichte von den Gedichten des Typs C unterscheidet. Die Zuhörer, an die sich die Dichtung wendet, hatten insofern in beiden Fällen keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung. Sie erscheinen in beiden Gedichten als passive Gruppe, die eine Order empfängt, die sie ausführen muss. Für Fr. 7 D wurde dabei eine Soldaten-ähnliche Zuhörergruppe angenommen, für Fr. 3a D der Demos oder eine andere, öffentlichere Zuhörerschaft. Im Gegensatz zu den Handlungsaufforderungen des vorausgegangenen Typs C kann hier deswegen im Sinne Hindelangs von bindenden Aufforderungen gesprochen werden.56 Interessant ist, dass beide Gedichte mit ihren deutlichen, bindend anmutenden Handlungsanweisungen und konkreten Anordnungen von demselben Dichter stammen: Tyrtaios. Sicherlich ist dies ein Grund dafür, warum Tyrtaios zum Sinnbild des autoritären und militärischen Spartas stilisiert wurde. Aus sprechakttheoretischer Perspektive erscheint Tyrtaios jedoch vielmehr als weisungsbefugter Politiker bzw. möglicherweise gar militärischer Führer, der seinen Zuhörern in einer übergeordneten Position gegenübertritt. Die vorliegenden Sprechakte lassen es denkbar erscheinen, dass er eine hohe (politische) Funktion bekleidete, die es ihm erlaubte, seinen Zuhörern Aufforderungen und Anordnungen zu erteilen, die diese umzusetzen hatten. 9.2 Intergruppen-Vergleich Der zweite Teil der Synthese soll über den Intragruppenvergleich hinausgehen. Bei einem Blick auf die nach Sprechakten erfolgte Zuordnung der einzelnen Gedichte in die oben angeführten Typen des Sprechens fällt auf, dass Gedichte, die aufgrund ihres Inhaltes gemeinhin in Kategorien wie Eunomia- oder Kampfparänese-Gedichte zusammengefasst werden, im Hinblick auf die mit dem Gedichtvortrag verfolgten Absichten deutlich voneinander abweichen. So hat sich gezeigt, dass die sogenannten Eunomia-Gedichte von Solon und Tyrtaios aufgrund der mit ihnen verfolgten kommunikativen Ziele zwei unterschiedlichen Sprechtypen zugeordnet werden müssen. Und auch das Tyrtäische Fr. 7 D wurde im Hinblick auf die mit dem Gedichtvortrag verfolgte Absicht einem anderen Sprechtypen zugeordnet als die anderen gemeinhin als kampfparänetisch eingestuften Gedichte. Im Folgenden soll die Bedeutung dieser Unterschiedlichkeit anhand der Eunomia-Gedichte von Solon und Tyrtaios sowie den „Kampfparänesen“ des Kallinos und Tyrtaios dargestellt werden.
56
Vgl. Hindelang 2010, 54.
Intergruppen-Vergleich
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9.2.1 Eunomia Sowohl Solon als auch Tyrtaios verfassten in Zeiten innerer Krisen ihrer jeweiligen Heimatpolis ein Gedicht, mit welchem sie auf die gesellschaftliche Instabilität der Polis reagierten. In beiden Poleis kam es zu Konflikten zwischen der besser begüterten „Oberschicht“ der Stadt und einer ärmeren Schicht, die sich ebenfalls in beiden Fällen auch an ungleichen Besitzverhältnissen von Land entzündeten.57 Sowohl Tyrtaios als auch Solon thematisieren in ihren Gedichten deswegen die „gute Ordnung“, um auf die entstandenen innenpolitischen Schwierigkeiten zu reagieren. Hölscher glaubt aus diesem Grund, Eunomia meine bei Tyrtaios „wesentlich dasselbe, was sie bei Solon bedeutet: den ausgewogenen Zustand der Stadt, die Verpflichtung gegen das Recht.“58 Gudopp von Behm nimmt sogar an, dass die Beeinflussung Solons durch Tyrtaios unstrittig sei.59 Beiden Gedichten wurde denn auch im Nachhinein der Titel „Eunomia“ verliehen: Das Tyrtäische Gedicht erhielt diese Zuschreibung durch eine Erwähnung bei Aristoteles und durch Strabon.60 Das Solonische Äquivalent wird in der Forschung, nachdem Jaeger die Verse 1926 so betitelte, ebenfalls als Eunomia-Gedicht bezeichnet: „Solons Eunomia – so kann man die Elegie nach ihrem zweiten Teil nennen, da sie ein wirkliches Gegenstück der tyrtäischen ist […]“61. Vergleicht man nun mit einem rein sprachpragmatischen Blick die in den beiden Eunomia-Gedichten enthaltenen Sprechakte miteinander, treten jedoch deutliche Unterschiede bezüglich der mit dem Gedicht verfolgten kommunikativen Intention zu Tage (was die unterschiedliche Gruppenzugehörigkeit bereits voraussetzt). Dies wiederum lässt auf eine unterschiedliche außerliterarische Realität schließen. Zudem zeigt sich daran auch ein gänzlich verschiedenes Verständnis dessen, was mit Eunomia wirklich gemeint ist. Für den Vergleich der Tyrtäischen und Solonischen Eunomia wird dabei nur das Tyrtäische Eunomia-Fragment 3a D herangezogen, weil es nur in diesem Fragment – im Gegensatz zu den die Außenpolitik Spartas betreffenden Frr. 2 D, 4 F und 5 D62 –
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Vgl. van Wees 1999, 2–4. Hölscher 1986, 420. Vgl. auch Raaflaub 2006, 403. Vgl. zur Auseinandersetzung der Forschung mit dem Konzept der Eunomia Itgenshorst 2014, 21 mit Anm. 42. Zur Frage nach der Herkunft, der Bedeutung und dem Wirkungsbereich der Nomoi des archaischen und klassischen Athens wird sich umfassend die Hamburger Dissertation von Niklas Rempe widmen. Vgl. Gudopp von Behm 2009, 343. Arist. pol. V, 7 1306b 40 und Strab. VIII,4,10. Letzterer gibt unter der Bezeichnung Eunomia die Verse Fr. 2 D an. Die Tyrtäische Eunomia beinhaltet zudem, davon wird grundsätzlich ausgegangen, die bei Plutarch und Diodor angeführte Wiedergabe des Apollonorakels Fr. 3a/b D, vgl. van Wees 1999, 6, Anm. 21. Jaeger 1926, 82. Die Sprechaktanalyse aller der Eunomia zugerechneten Gedichte des Tyrtaios hat ergeben, dass Fr. 3a D im Hinblick auf die mit den Gedichten verfolgten Intention von den Frr. 2 D, 4 D und 5 D
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thematisch um die innere Ordnung der Polis geht, wie wir sie auch in Solons Eunomia vorfinden. Abgesehen davon, dass hier auf Grundlage der Sprechakte geschlussfolgert wurde, dass beide Dichter mit ihren Eunomia-Elegien in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, besteht ein grundlegender Unterschied im Verständnis von Eunomia in beiden Gedichten zunächst darin, dass es Solon um eine „menschengemachte“ Ordnung geht, wohingegen Tyrtaios die Ordnung dadurch, dass er behauptet, sie sei vom delphischen Orakel verkündet worden, göttlich sanktioniert.63 Entsprechend handelt es sich bei den im Tyrtäischen Fr. 3a D vorliegenden Sprechakten um Sprechakte der Anordnungen, die Tyrtaios aus den göttlichen Bestimmungen des Apoll ableitet. Hier liegen also klare Handlungsanweisungen vor, die Tyrtaios’ Zuhörer ausführen sollen. Auch Solon fordert seine Zuhörer zum Handeln auf, wenn er ihnen den Ratschlag gibt, ein Verhalten anzunehmen, das einen Zustand der Eunomia hervorruft. Insofern handelt es sich in beiden Gedichten in Bezug auf die gute Ordnung um eine Handlungsanweisung. Jedoch unterscheiden sich die Handlungsanweisungen deutlich in ihrem Stärkegrad. Liegt bei Solon ein Ratschlag vor, was laut Searle bedeutet, jemandem zu sagen, was das Beste für ihn ist,64 finden sich bei Tyrtaios klare Anordnungen. Derselbe intendierte Zweck, nämlich den Zuhörern zu sagen, was sie tun sollen, wird also durch sich deutlich unterscheidende Intensitätsgrade der Handlungsanweisung vermittelt. In Solons Fall handelt es sich insofern mehr um einen Handlungsvorschlag für das richtige Verhalten. Dazu evoziert er in seiner Eunomia vorher durch expressive Sprechakte der Kritik und Sprechakte der Warnung negative Emotionen und Angst, die seine Zuhörer schlussendlich davon überzeugen sollen, den Ratschlag umzusetzen. Solon will seine Zuhörer insofern erst noch in die richtige „Gefühlslage“ bringen, damit seine Handlungsanweisung akzeptiert wird. Ganz anders bei Tyrtaios: Hier werden klare Anordnungen gegeben. Es gibt – anders als bei Solon – keine kritische Auseinandersetzung mit dem Verhalten der spartanischen Bürger. Die Tyrtäischen Zuhörer werden in keiner Weise in den Aushandlungsprozess einbezogen.65 Die Entscheidung für die Umsetzung der spartanischen Gesellschaftsordnung ist bereits gefallen, sie muss nun nur noch von den Bewohnern der Stadt ausgeführt werden.66 In
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zu trennen ist. Insofern soll auch in diesem Vergleich Fr. 3a D von den anderen Eunomia-Fragmenten getrennt betrachtet werden. Diesen Unterschied erkennt bereits Jaeger 1926, 82, der sich dabei aber primär auf das Tyrtäische Fr. 2 D des Komplexes Eunomia bezieht. Vgl. Searle 1971, 176. Anders ist dies allerdings in den Frr. 2 D, 4 D und 5 D der Tyrtäischen Eunomia, auf die unten eingegangen werden wird. In die gleiche Richtung denkt Steinmetz 1969, 61: „Der Dichter wollte nicht eine poetische Darstellung der inneren Ordnung Spartas geben, sondern stellte den Bürgern bestimmte Aspekte der inneren Ordnung Spartas vor Augen, um sie in dieser Situation zum rechten Handeln zu veranlassen.“
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diesem Sinne tritt Tyrtaios auf. Mit kurzen klaren Sätzen ordnet er die Umsetzung der neuen Verfassung an.67 Andes als bei Solon erscheinen die Adressaten der Eunomia-Elegie des Tyrtaios lediglich als Empfänger der ihnen gegebenen Anordnungen. Solon hingegen möchte bei seinen Zuhörern eine Veränderung ihres Verhaltens herbeiführen. Dazu muss er ihre Gefühle beeinflussen und ihnen erst noch die Katastrophe vor Augen führen, bevor er ihnen rät, etwas dagegen zu unternehmen. Er ist langfristig auf das Mitwirken seiner Zuhörer angewiesen, er versucht, sie zu beeinflussen und erkennen zu lassen, was das Beste für die Polis ist. Tyrtaios tut dies nicht. Der Spartaner, dies erkannte bereits Meier, „muss das Handeln seiner Mitbürger noch anhand dieser Maßgaben […] bestimmen“68. Im Gegensatz zu Solon erscheint Tyrtaios insofern fast schon als übergeordneter „Gesetzgeber“, auch wenn dies freilich keinesfalls konkret in den Quellen nachgewiesen werden kann.69 Das sprachliche Handeln beider Dichter spiegelt demgemäß die historische Realität, in der die jeweilige Eunomia einzuordnen ist, wider: Sparta hatte nicht nur eine innere Krise zu bewältigen, sondern musste sich auch der äußeren Existenzbedrohung durch die aufständischen Messenier erwehren. Für Sparta war es insofern immens wichtig, eine stabile Einheit darzustellen, da der Zusammenhalt der Polis gefährdet war.70 Um das Auseinanderfallen zu verhindern, gibt Tyrtaios klare Anordnungen, die es zu befolgen gilt.71 Den Mangel an innergemeindlichem Diskurs hat dabei bereits Walter für das Sparta des Tyrtaios feststellen können.72 Die Sprechakte untermauern die Erkenntnis, dass der Konflikt nicht durch die Verantwortungsübernahme der Bürger, sondern durch die Befolgung der Anordnungen in Bezug auf Institutionen gelöst werden soll. Solons Eunomia zeugt hingegen von einem rein innerathenischen Konflikt. Hier erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Politen selbst. Eigenverantwortliches
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Insofern haben Tyrtaios’ Sprechakte fast schon den Charakter von Deklarationen, die sich laut Hindelang 2010, 46 darüber definieren, dass „eine bestimmte institutionelle Tatsache p [ ] eben dadurch herbeigeführt [wird], dass ein Vertreter der entsprechenden Institution erklärt, dass p besteht.“ Weil wir jedoch nicht wissen, ob Tyrtaios der Vertreter einer bestimmten Institution gewesen ist, wurde in der Analyse davon Abstand genommen, hier von deklarativen Sprechakten zu sprechen. Dennoch haben die Tyrtäischen Versen in der Forschung eine deklarative Zuschreibung erfahren. So spricht Walter 1993, 169 etwa von „klare[m] Kommando“ und West 1974, 185 erkennt in den Äußerungen gar Gesetzesstatus. Meier 1998, 316. Dass die allein durch Testimonien greifbare Tradition archaischer Gesetzgeber grundsätzlich mit Vorsicht behandelt werden muss, gibt Itgenshorst 2014, 74 zu bedenken. Vgl. auch Hölkeskamp 1999, 28–34, der dafür plädiert, die literarische Tradition zugunsten der epigraphischen zurückzustellen. Vgl. ähnlich bereits Meier 1998, 313. Gleichsam wurde dem Demos der Spartiaten auf diese Weise, wie Welwei 1981, 80 darstellt, „Recht eingeräumt [ ], wie sie im frühen 7. Jahrhundert noch keine andere Volksversammlung besaß.“ Vgl. Walter 1993, 164–165.
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Vergleich
Verhalten ist der Grund für die Krise und ebenso muss die Krise eigenverantwortlich behoben werden. Die Polisordnung muss von allen gemeinsam getragen werden.73 Ob die athenische Gesellschaft gegenüber der spartanischen deswegen schon fortschrittlicher, im Sinne von „demokratischer“ gewesen ist, ob das Volk also schon mehr Mitbestimmungsrecht hatte, ist eine kaum zu beantwortende Frage und kann auch anhand der analysierten Sprechakte nicht sicher gesagt werden. Deutlich wird jedoch, dass Solon in Athen anders zu seinen Zuhörern spricht, nämlich insofern, als dass er sie in die Diskussion um das richtige Verhalten einbezieht. Meier konstatiert, dass bei Solon schon der politisch mündige Bürger angesprochen werde und daher in den Aushandlungsprozess aktiv mit einbezogen werde. Die Sprechakte verdeutlichen dies.74 Bei Tyrtaios in Sparta erleben wir zwar einen politisch aktiven Bürger, jedoch noch nicht in dem Maße mündig, wie es Solons Zuhörerschaft zu sein scheint. Das tyrtäische Sparta ist vielmehr erst auf dem Weg dorthin, eine Gemeindeordnung mit festen politischen Aufgaben zu etablieren. Trotzdem bleibt der Gestaltungsfreiraum für den Einzelnen begrenzt.75 Tyrtaios gibt seinen Zuhörern vor, wie gehandelt werden muss und kommt der Krise von außen bei. Solon war zum Zeitpunkt des Gedichtvortrages auf die Mithilfe seiner Zuhörer angewiesen, die Krise musste von innen heraus behoben werden. Anders als in Sparta musste Athen trotz der eigenen Krise keine existentielle Bedrohung von außen fürchten, die den Bestand der Polis gefährdet hätte. Der Polisgedanke Athens war dem Spartas gegenüber schon gefestigt. Es existierte bereits ein Gemeinschaftsgedanke, der keine äußere, zusammenschweißende Kraft benötigte, wie dies in Sparta der Fall war und wovon Tyrtaios’ konkrete Handlungsanweisungen zeugen. Solons Lyrik steht vor dem Hintergrund einer gefestigten Polis-Gesinnung.76 Das Konzept Eunomia erfährt aus sprechakttheoretischer Sicht insofern eine völlig andere Bedeutungszuschreibung: Bei Solon ist Eunomia eine bestimmte (die richtige) Verhaltensweise, bei Tyrtaios meint Eunomia vielmehr die Umsetzung einer institutionalisierten Ordnung.77 Die Solonische wie die Tyrtäische Eunomia müssen in dieser Hinsicht voneinander unterschieden werden.
73 74
75 76 77
So schon Welwei 1992a, 150–151. Die Bedeutung, die Solon dem Polisverbund und dem einzelnen Politen zuschrieb, wird später an Herodots Erzählung des Zusammentreffens zwischen Solon und Kroisos deutlich: Solon antwortet Kroisos auf die Frage, wer denn der glücklichste aller Menschen sei, dass dies der Athener Tellos sei, aktiver Bürger einer blühenden Polis (Hdt. I, 29–33). Vgl. Meier 1998, 315–316. Vgl. ebd., 313. Raaflaub 2006, 391 formuliert prägnant: „eunomia as the goal of archaic reform and legislation.“
Intergruppen-Vergleich
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9.2.2 Kampfparänese Ein vielbemühter Terminus für eine bestimmte Art von Dichtung, der auch in dieser Arbeit verwendet wurde, ist der Begriff der Kampfparänese. Paränese, von gr. παραίνεσις bzw. παραινέω, versteht sich grundsätzlich „als Sammelbegriff für eine Vielfalt von literarischen Gattungen und inhaltlichen Ausrichtungen. Ganz allgemein kann P. stehen für Ermahnen, Aufrufen, Ratschlag geben, Anweisung erteilen, aber auch für Ermutigung und Zuspruch.“78 In dieser Arbeit wurden unter diesem Begriff diejenigen Gedichte gefasst, in denen die Zuhörer direkt oder indirekt zum Kämpfen aufgefordert werden. Es handelt sich dabei deswegen um sogenannte Kampfparänesen, die auch als „Feldherrnreden“ bekannt sind.79 Dazu zählen hier das Kallinische Fr. 1 D, die Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D, 5 D und 7 D, das Alkäische Fr. 6 V und die Solonische Salamis-Elegie. In all diesen Gedichten dominieren Sprechakte, die dazu dienen, die Zuhörer zum Kämpfen zu animieren, also direktive Sprechakte. Bei einem Blick auf die vorangegangene Systematisierung der Gedichte fällt auf, dass alle als Kampfparänese deklarierten Gedichte Typ C zugeordnet wurden. Eine Ausnahme stellt jedoch Fr. 7 D des Tyrtaios dar. Das Tyrtäische Fr. 7 D hebt sich aufgrund seiner Sprechakte von den anderen Gedichten ab. Hier sind die direktiven Sprechakte der Aufforderung bzw. N-Aufforderung gemessen an der Gesamtzahl der in dem Gedicht vollzogenen Sprechakte eindeutig am häufigsten vertreten. Anders als in den anderen kampfparänetischen Gedichten werden hier zudem fast alle direktiven Sprechakte der Aufforderung nicht indirekt, sondern direkt vollzogen. Die Unterschiedlichkeit zwischen dem Tyrtäischen Fr. 7 D und den anderen kampfparänetischen Gedichten zeigt, dass innerhalb der archaischen Lyrik offenbar unterschiedliche kommunikative Intentionen mit dem Vortrag von sogenannten „Kampfparänesen“ verbunden waren.80 Um diese Unterschiede aufzuzeigen und damit den Terminus der Kampfparänese aus sprechakttheoretischer Sicht differenzierter zu betrachten, sollen hier exemplarisch die Sprechakte zwischen dem Tyrtäischen Fr. 7 D sowie der Kampfparänese des Kallinos Fr. 1 D verglichen werden. Die Elegie des Kallinos soll deswegen als Vergleichsfolie dienen, da sie inhaltlich viele Parallelen zum Tyrtäischen Fr. 7 D aufweist: In beiden Gedichten wird dezidiert zum Kämpfen aufgefordert. Beide Dichter verwenden dabei homerisches Vokabular und in beiden Gedichten wird der Tod für die Heimatpolis gerühmt. Aus diesem Grund werden die beiden Fragmente oft in
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Grözinger 2003, 552. Vgl. Hambach 2003, 225–230. Schon Leimbach 1978, 266–267 differenziert dahingehend, dass er vier verschiedene Formen der Motivation in Kampfparänesen ausmacht: a) chancenorientierte Motivation (Chancen auf Rettung oder Sieg) b) sanktionsorientierte Motivation (sowohl Belohnung als auch Bestrafung) c) normorientierte Motivation d) affektorientierte Motivation (Gefühle wie Wut oder Rachegelüste hervorrufen).
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Vergleich
Zusammenhang gebracht und stehen exemplarisch für die klassische Kampfparänese archaischer Zeit.81 Vergleicht man die Sprechakte beider Gedichte miteinander, unterscheiden sie sich jedoch deutlich voneinander: Bei Kallinos wechseln sich die direktiven Sprechakte (Mahnungen und Aufforderungen) und die repräsentativen Sprechakte (Behauptungen und Prophezeiungen) sowie Sprechakte der Warnung ab. Bei Tyrtaios findet der Wechsel von Sprechakten viel seltener statt. Auch er warnt und prophezeit, jedoch dominieren eindeutig die direkten Aufforderungen, sich auf eine bestimmte Weise im Kampf zu verhalten. Laut Latacz folgt das Kallinische Fragment in seinem Aufbau damit „dem uralten Muster eines Kampfappells, wie es im traditionellen griechischen Heldenepos vorgegeben war; […] Die Struktur ist geprägt durch eine regelmäßige Abfolge der beiden Elemente ‚Appell‘ und ‚Argumentation‘.82 Eine solche Struktur liegt in allen Gedichten des Typs C vor. Bei Tyrtaios Fr. 7 D wird zwar auch aufgefordert und argumentiert, jedoch überwiegen die Sprechakte des Aufforderns deutlich. Aus sprechakttheoretischer Sicht lässt sich in Fr. 7 D insofern keine regelmäßige Abfolge der beiden Elemente Appell und Argumentation finden, sondern eine fast durchgängige Dominanz der Handlungsaufforderungen. Tyrtaios’ Priorität besteht nicht darin, Argumente für das Kämpfen zu finden, sondern vielmehr zur bedingungslosen Hingabe im Kampf aufzufordern. Schon Latacz erkannte: „Statt des eifrig um Beweis bemühten Vorrechnens bei Kallinos haben wir bei Tyrtaios ein selbstgewisses, selbstverständliches ‚So ist es!‘“.83 Tyrtaios’ Kampfparänese zeugt von einer größeren Dringlichkeit. Dies zeigt sich auch daran, dass Tyrtaios, anders als Kallinos bzw. die Verfasser der übrigen kampfparänetischen Gedichte, seine Aufforderungen in der Mehrheit direkt for-
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Vgl. dazu Wißmann 1997, 77–107; Müller 1999, 54–65, Latacz 1991, 162–164. Für einen Bezug der Gedichte zu Homer vgl. grundsätzlich Latacz 1977, 237, der eine sprachliche Abhängigkeit der Dichtung vom Epos erkennt und zu dem Ergebnis kommt, dass die Kampfdarstellung bei Kallinos und Tyrtaios derjenigen in der Ilias entsprechen. Den Vergleich zwischen Epos und Elegie rechtfertig er, indem er nachzuweisen sucht, dass die Kampfparänesen der Ilias die zeitgenössische Kriegsethik widerspiegeln. Vgl. zur Frage der Vergleichbarkeit der epischen und elegischen Paränese Leimbach 1978, 265, Anm. 5; Jaeger 1972, 107–108; Harder 1972, 152–156, Gerber 1997, 100 (für Kallinos) und 106 (für Tyrtaios); Fuqua 1981, 218–219; Vgl. insbesondere auch die Untersuchung der „martial exhortation elegy“ des Tyrtaios und Kallinos von Irwin 2005, die in ihrer Untersuchung durch einen Vergleich der Tyrtäischen und Kallinischen Kampfparänese mit Homer einen kritischen Blick auf die Entwicklung politischer und sozialer Konzepte wirft (bes. 22–29). Latacz 1991, 157. Ähnlich Leimbach 1978, 267–268. Latacz 1991, 163. Und ders. 1977, 232: „[…] Tyrtaios’ Paränese dagegen setzen stets den Krieg als Gegebenheit voraus, sie gehen nicht gegen Laschheit der Defätismus an, sie fordern nicht zum Ausmarsch gegen einen ins Land eingefallenen Feind auf, sondern sie geben sich durchweg als letzter Ansporn mitten im Kampf, unmittelbar vor dem Massenhandgemenge […].“ Ähnlich Müller 1999, 61, der dabei jedoch den imperativen Charakter der Tyrtäischen Fragmente betont: „Die Häufung der Imperative wirkt einhämmernd und wie ein magisches Beschwörungsritual mit dem Ziel, die Aufgerufenen in eine Art Kampfekstase zu versetzten.“
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291
muliert. Aus diesen Gründen wurde an anderer Stelle der Arbeit bereits festgestellt, dass Tyrtaios seine Zuhörer mit seinen Worten für den bevorstehenden Krieg rüsten möchte. Anders als im Ephesos des Kallinos ist im Sparta des Tyrtaios der Ernstfall bereits eingetreten: Der Kampf gegen die Messenier steht unmittelbar bevor. Hier muss keine Überzeugungsarbeit mehr geleistet werden, überhaupt in den Krieg zu ziehen, wie Kallinos dies noch tun muss. Die Kampfparänesen des Tyrtaios und des Kallinos (stellvertretend für die anderen Paränesen des Typs C) unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Sprechakte und insofern im Hinblick auf die pragmatische Bedeutung der jeweiligen Kampfparänese. Im Bedeutungsspektrum des Wortes παραινέω, das nach LSJ von ermahnen über empfehlen bis beraten reicht, finden sich insofern die Gedichtfragmente des Typs C wieder. Die Tyrtäische Kampfparänese Fr. 7 D geht darüber hinaus, weil in ihr nicht mehr vom Kämpfen überzeugt werden muss, sondern vielmehr in befehlsartiger Weise zum unmittelbar bevorstehenden Kampf aufgerufen wird.
10 Schlussbetrachtung Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik Seit den grundlegenden Untersuchungen des britischen Sprachphilosophen John L. Austins und der sich daraus entwickelten Sprechakttheorie in den 1960er Jahren wird davon ausgegangen, dass Sätze sich nicht darin erschöpfen, Tatsachen widerzuspiegeln und zu beschreiben, sondern dass Sprache vielmehr Fakten schafft und dass durch Äußerungen Handlungen, Sprechhandlungen, vollzogen werden. Diesem Ansatz folgend, hat es sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt, den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln in der polisbezogenen Lyrik der Archaik zu untersuchen. Indem die Sprache der Dichter als Handlung begriffen wurde, konnte eine neue, sprachpragmatische Perspektive auf die Lyrik der Archaik gelegt werden. Für die Untersuchung des Sprechhandelns in der archaischen Lyrik wurde diejenige Dichtung herangezogen, mit welcher sich Dichter aktiv in die Belange ihrer Heimatpolis eingemischt haben, weil ihre Heimatpolis durch externe wie interne Gefahren bedroht war: Gedichte der Dichter Kallinos, Tyrtaios, Alkaios, Solon und Theognis. Es galt, die politische Funktion der Gedichte in ihren je eigenen Handlungszusammenhängen sichtbar zu machen und auf diese Weise nicht nur die unterschiedlichen kommunikativen Absichten und Wirkungen der Dichter aufzuzeigen, sondern auch die Abhängigkeit von Sprechhandlung und historischem bzw. sozialem Kontext zu beleuchten, auf die ein Sprechakt, weil er stets in einen solchen Kontext eingebunden ist, rückverweist. Für jedes der hier untersuchten Gedichte wurde die Entstehungsabsicht, die historische Situation, das soziale Umfeld, die Rolle des Dichters sowie dessen durch die Gedichte erzielte Wirkung im Rahmen der Polis explorativ erforscht. Gleichzeitig gewährt uns die Sichtbarmachung der in den polisbezogenen Gedichten enthaltenen sprachlichen Handlungen einen Zugang zu den unterschiedlichen Aushandlungsprozessen der in den verschiedenen Poleis der Archaik vonstattengegangenen Polisgenese. Denn die in dieser Arbeit untersuchten Gedichte zeugen von einer Zeit des Umbruches, in welcher die Polis als Organisationsform in der Folge unterschiedlicher interner wie externer Krisen im 7. und 6. Jh. v. Chr. ihre zentrale Konso-
Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik
293
lidierungsphase durchlebte. Die Dichter verhandeln Themen wie die (Neu-)Ordnung des Staates, sich ändernde soziale Konstellationen, externe Bedrohungen und eigene Polisidentität oder die Sorge vor Tyrannenherrschaften: Das Ephesos des Kallinos muss sich der äußeren Gefahr der Kimmerier erwehren, in Sparta droht der Aufstand der Messenier. Sowohl Solon als auch Tyrtaios reagieren auf soziale Ungleichheit bezüglich Land- und Besitzverhältnisse der Bevölkerung innerhalb ihrer Poleis Sparta und Athen. Beide propagieren eine neue, gute Ordnung. In Mytilene auf Lesbos ist Alkaios in inneraristokratische Machtkämpfe verwickelt und Theognis wehrt sich gegen die vonstattengehende Veränderung der Sozialstrukturen seiner Heimatpolis. Schon D’Alessio erkannte: The formative period of the Greek poleis overlaps with the earliest phase of the development of archaic lyric poetry. The two phenomena are not unrelated, as both, the sympotic songs of solo lyric and public choral songs were among the most effective media used for negotiating the position of individuals and groups within the community, and for staging shared identities.1
Die Sprechaktanalyse der archaischen Lyrik hat es möglich gemacht, diese bei D’Alessio genannten Aushandlungsprozesse über die in den Gedichten enthaltenen Sprechakte sichtbar zu machen. Damit hat sich gezeigt, dass die Gedichte nicht lediglich Abbildungen der Krise und der Prozesse der Polisgenese sind, sondern vielmehr aktives Instrument der Politik- und damit Polisgestaltung in dieser Phase des Umbruches. Wie bereits Itgenshorst in ihrer umfassenden Studie zum politischen Denken der archaischen Lyriker herausgearbeitet hat, wurde das Politische zuweilen erst durch die Dichtung hergestellt. Itgenshorst versteht Dichtung als Medium des politischen Denkens.2 Präzisiert und erweitert wird diese Auffassung nun durch die Erkenntnis, dass über das sprachliche Handeln durch den Vortrag von Gedichten, auf unterschiedliche Weise mit Dichtung Politik betrieben wurde und so versucht wurde, Einfluss auf die Entwicklungen der Polis zu üben.3 Dichtung war also auch Medium des politischen Handelns. 1 2 3
D’Alessio 2009a, 137; vgl. auch Raaflaub 1993, bes. 64–82. Zum Zusammenhang von sympotischer Dichtung (Kriegs-, Exil- und politische Dichtung) und sozialer Gruppenidentität s. neuerdings Romney 2020. Itgenshorst 2014, 80. Vgl. speziell für Athen Mülke 2002, 162; Osborne 1996, 219. Vgl. insofern schon die Rezension der Arbeit Itgenshorsts von Horst: „Dass Sprache nicht nur auf gesellschaftliche Strukturen reagiert, sondern konstitutive Funktionen für die Entwicklung des Sozialen und des Politischen übernehmen kann, ist eine Erkenntnis moderner kulturwissenschaftlicher Überlegungen, an die hier nicht explizit angeknüpft wird.“ (25.11.2019). In extremer Weise formuliert es Dieckmann 1969, 29 für das 20. Jh.: „Handeln [ist] nur so lange politisches Handeln [ ], als es sprachliches Handeln ist. Wo Politik sprachlos wird, hört Politik auf.“ Auch Rutherford 2019, 13 nennt die archaische Lyrik bzw. die Lieder ein „political tool“. Und schon Gentili 1988, 42 erkannte (in Bezug auf die Alkäische Lyrik): „Poetry thereby becomes an indispensable weapon in the political struggle.“ Vgl. grundsätzlich Gentili 1988, 155–177.
294
Schlussbetrachtung
Wie der Vergleich aller in den Einzelanalysen gewonnenen Sprechakte zeigen konnte, haben die Dichter dabei ganz unterschiedliche Ziele und Absichten mit dem Vortrag der Dichtung verfolgt und insofern in unterschiedlich starkem Maße – vom reinen Beklagen des Zustandes bis hin zu konkreten Anweisungen in Bezug auf die richtige gesellschaftliche Ordnung – in die Verhältnisse der Polis eingriffen: Durch eine Kritik an der vorherrschenden Situation und der Abgrenzung vom politischen Gegner (Alk. 43 D und Theognis V. 53–60 W), durch das Warnen vor dem Untergang der Polis und einer gleichzeitigen Kritik an den für die Krise Verantwortlichen (Solons Eunomia-Elegie sowie Theognis V. 39–42 W und V. 43–52 W), durch den Versuch, die Zuhörer von bestimmten Maßnahmen zu überzeugen und zur Handlung aufzufordern (Kallinos Fr. 1 D, Tyrtaios Frr. 2 D, 4 D und 5 D, Solon Frr. 1–3 W und Alkaios Fr. 6 V) sowie durch das Geben von konkreten, bindenden, Handlungsanweisungen. Dabei hat sich zudem gezeigt, dass vormals aufgrund von Inhalt kategorisierte Gedichte, wie Eunomia- oder Kampfparänese-Gedichte, im Hinblick auf die mit dem Gedichtvortrag vollzogenen Handlungsabsichten voneinander unterschieden werden müssen: Eunomia bedeutet bei Solon den Versuch, die Zuhörer zu einer besseren Verhaltensweise zu bewegen, bei Tyrtaios hingegen das klare Anordnen von Aufgaben für einzelne Polisorgane. Kampfparänese wiederum heißt bei Kallinos, die Zuhörer vom Kämpfen zu überzeugen, bei Tyrtaios vielmehr die bedingungslose Hingabe im Kampf. Gemein ist den Dichtern der Eunomia- und Kampfparänese-Gedichte jedoch die grundsätzliche Absicht, ihre Zuhörer zum Handeln zu bewegen. Insbesondere an diesen Gedichten, mit welchen die Dichter es nicht darauf anlegten, ihr Publikum lediglich auf emotionale oder affektive Weise zu berühren (diese Gedichte (Alkaios Fr. 43 D und Theognis V. 53–60 W) zeugen ja gerade von ihrer politischen Außenseiterstellung), sondern vielmehr von ihren Zuhörern eine auf die Dichtung folgende Handlung forderten (Alkaios Fr. 6 V, Tyrtaios Frr. 2 D, 4 D und 5 D, Solon Frr. 1–3 W, Kallinos Fr. 1 D, Tyrtaios Fr. 3a D, Tyrtaios Fr. 7 D), lässt sich ein Zusammenhang zwischen intendiertem perlokutionärem Akt und erfolgreich eingetretenen perlokutionärem Effekt herstellen:4 Die Epheser scheinen in den Kampf gegen die Kimmerier eingetreten zu sein, wie Kallinos dies beabsichtigte. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass es einen erfolgreichen Gegenschlag der Epheser gegen Lygdamis’ Heer gegeben hat. Tyrtaios und Solon wollen ihre Zuhörer vom Kämpfen überzeugen. Dieser Wunsch scheint eingetreten zu sein: Nicht nur wird der Messenische Aufstand niedergeschlagen, auch gelingt es den Spartanern, ganz im Sinne Tyrtaios’, im Zuge der Niederschlagung des Heloten-Aufstandes das übrige Messenien zu erobern. Solon scheint entscheidenden Einfluss bei der Eroberung Salamis’ gehabt zu haben, noch bei späteren Autoren steht 4
Eine Ausnahme stellt lediglich das Alkäische Fr. 6 V da, weil ein erfolgreicher Gegenschlag gegen Myrsilos durch Alkaios’ Hetairie nicht nachvollzogen werden kann. Die Flucht nach Pyrrah zeigt jedoch, dass Alkaios’ Hetairie wahrscheinlich nicht untätig geblieben ist.
Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik
295
er in enger Verbindung mit der Insel. Die von Tyrtaios gegebenen Anordnungen bzgl. der guten spartanischen Ordnung, der Eunomia, scheinen ebenfalls, wie von ihm gefordert, umgesetzt worden zu sein. Zumindest versiegen in Sparta für längere Zeit die Quellen, die auf innere Unruhen deuten. Hier zeigt sich, dass Dichtung ein wirksames Instrument der Politikgestaltung gewesen ist. Diese Lyrik lässt sich insofern mit erfolgreichen Prozessen der außen – wie innenpolitischen Konstituierung der Heimatpolis in Verbindung bringen. Bemerkenswert ist dabei, dass diejenigen Sprechhandlungen eines Gedichtes eine nachvollziehbare Wirkung nach sich zogen, in denen die Sicherheit und Zufriedenheit der Polis und ihrer Bewohner im Fokus stand. Hier sind die Sprechakte, um es in Austins Terminologie auszudrücken, erfolgreich gewesen. Das betrifft nicht nur die eben erwähnten Gedichte Tyrtaios Frr. 2 D, 4 D, 5 D, Tyrtaios Fr. 7 D, Tyrtaios Fr. 3a D, Kallinos Fr. 1 D und Solon Frr. 1–3 W, sondern auch die Solonische Eunomia-Elegie: Tyrtaios reagiert in Frr. 2 D, 4 D und 5 D auf Forderungen aus dem Demos nach einer Neuverteilung des ungerecht aufgeteilten Landes, die im Zuge des Zweiten Messenischen Krieges, bei dem die Gesamtheit der wehrfähigen Bürger die Last des Krieges zu tragen hatte, lauter wurden. Tyrtaios Fr. 7 D und Kallinos Fr. 1 D rufen beide zum Kampf um das Gemeinwohl der Polis auf.5 In beiden Gedichten prophezeien die Dichter ihren Zuhörern Ruhm und Ehre, wobei der Referenzrahmen dieser Anerkennung die Polis, für die es zu sterben gilt, und ihre Bürger als die beurteilende Instanz sind.6 Auch aus Solons Salamis-Elegie spricht ein Verbundenheitsgefühl gegenüber einer bereits gefestigten Polis, die sich in außenpolitischen Angelegenheiten engagiert. Dabei möchte Solon das äußere Ansehen der Heimatpolis und seiner Bewohner bewahren. Solons Einsatz für den Demos und seine Kritik an der Hybris des Adels zeigt sich deutlich in seiner Eunomia-Elegie, die deswegen auch als Geburtsstunde des Bürgerstaates angesehen wurde. Und auch Tyrtaios’ Eunomia zielt darauf ab, ein Auseinanderfallen der Gemeinschaft zu verhindern und eine stabile Einheit der Polis herzustellen, indem er alle Bürger dazu anweist, sich für die geliebte Stadt einzusetzen. Dieser Zusammenhang von Wirksamkeit der Dichtung und bürgerschafts- bzw. polisorientiertem Sprechhandeln zeugt von einer sich wandelnden Ausrichtung zugunsten eines Wertesystems bürgerlicher Gemeinschaft mit gemeinsamen Zielen und Herausforderungen, die dabei teilweise auch innerhalb der Elite, der die Dichter angehörten, stattgefunden hat: Gemeinschaftssinn und Interessensvertretung des Demos und damit die Aufwertung der Bürgerschaft treffen auf größere Resonanz als die noch in alten Strukturen verhaftete aristokratische Lyrik eines Alkaios oder Theognis, deren
5 6
Parker 2005, 221 erkennt richtig, dass auch ein gemeinsamer Krieg das sich erst allmählich entwickelnde Gemeinschaftsgefühl stärken konnte, weil es hier um das Überleben aller bzw. einen Nutzen für alle geht. Diesen Aspekt hat besonders Hübner 2019, 58–89 herausgearbeitet.
296
Schlussbetrachtung
Inhalt die Gemeinschaft eher destabilisierte.7 Weder bei Theognis noch bei Alkaios in ihrer Kritik an nichtadligen Aufsteigern bzw. dem Festhalten an alten Machtstrukturen, lässt sich eine nachvollziehbare Wirkung erkennen. Dieser Umstand kann auf die mangelnde Quellenlage zurückzuführen sein. Es ist jedoch bezeichnend, dass beide Dichter gegenüber politischen Akteuren, wie dem vom Volk gewählten Pittakos in Mytilene oder den neuen, sich aus dem einfachen Volk rekrutierenden Führern in Megara, ins Hintertreffen geraten zu sein scheinen. Ihr politischer Einfluss als Dichterpersönlichkeit ist im Gegensatz zu den anderen drei hier untersuchten Lyrikern entsprechend gering: Während die hetairischen Dichter Theognis und Alkaios noch ganz als Aristokraten der alten Ordnung angesehen werden können und innerhalb ihres privaten Zirkels lediglich ihre eigenen Interessen im Sinn hatten, treten die Dichter Kallinos, Tyrtaios und Solon, der später nachweislich das Amt des Archon in Athen innehatte, als einflussreiche politische Akteure hervor. Die Sprechaktanalyse hat dabei insbesondere im Hinblick auf Tyrtaios das Bild eines weisungsbefugten politischen Führers, der den Spartanern die richtige Ordnung des Staates anordnete, sowie eines militärischen Führers, möglicherweise sogar Feldherren, gezeichnet und damit am deutlichsten dessen Autorität herausgestellt. Auch Solon erscheint als überlegener Ratgeber, der keine Scheu vor der Kritik seiner athenischen Zuhörer hatte. Durch die Sichtbarmachung der Abhängigkeit von Sprechakt und historischem Kontext und dem zusammenführenden Vergleich der einzelnen Ergebnisse konnte darüber hinaus nicht nur nachgezeichnet werden, dass und mit welcher Wirkung die Dichter ihre Gedichte zur Politikgestaltung einsetzen, sondern auch wo jene Handlungsprozesse zu verorten sind. Auch wenn aufgrund heterogener Entwicklungen innerhalb der einzelnen Poleis im 7. und 6. Jh. v. Chr. überregionale Aussagen nur mit Vorsicht getroffen werden können, lassen sich aufgrund der Übereinstimmung der Sprechakte der hier untersuchten Gedichte dennoch gewisse Grundmuster jener Diskursräume erkennen: Als Ort des politischen Handelns mit Dichtung hat sich erstens der private, auf Homogenität abzielende, aristokratisch-elitäre Freundschaftsverband der Hetairien gezeigt. Hier wurde sich durch expressive Sprechakte der Kritik an den anderen oder Warnungen vor den anderen von einer gegnerischen Gruppe abgegrenzt (Alkaios Fr. 43 D, Theognis V. 53–60 W und V. 39–42 W und V. 43–52 W). Dichtung diente dabei als Mittel der Distinktion und der eigenen Selbstvergewisserung durch die Abgrenzung zu den politischen Feinden. Die Machtkämpfe einzelner Stasis-Gruppe, wie der des Alkaios, fanden hier statt. Die Wirkung des Sprechhandelns blieb dabei wohl auf die eigene Gruppe beschränkt. Ein weitreichender Einfluss lässt sich an den hier untersuchten hetairischen Gedichten nicht nachvollziehen.
7
Vgl. zusammenfassend auch Stein-Hölkeskamp 1989, 123–133.
Dichtung als Mittel der Politikgestaltung und die Räume des Sprechens in der Archaik
297
Auf der nächsthöheren Stufe im Sinne der Einflussnahme durch sprachliches Handeln mit Dichtung stand zweitens der Diskursraum Symposion. Hier war es den Sprechern ein Anliegen, ihre Hörer von einer bestimmten, bemerkenswerterweise fast immer gemeinschaftsstiftenden Handlung, zu überzeugen (Solons Salamis-Elegie, Tyrtaios Frr. 2 D, 4 D und 5 D und Kallinos Fr. 1 D; im Hinblick auf den Gemeinschaftsbezug stellt Alkaios Fr. 6 V eine Ausnahme dar).8 Der Wechsel von direktiven und repräsentativen Sprechakten hat gezeigt, dass politische Entscheidungen, wie etwa die Verteidigung der Polis oder der Eintritt in einen Krieg, hier aus- bzw. vorverhandelt wurden. Im Symposion fungierte Lyrik insofern als Mittel, das politische Anliegen vor einflussreichen Männern der Polis – vermutlich Aristokraten mit gewisser Entscheidungskompetenz – darzulegen und diese für ein bestimmtes Vorhaben zu gewinnen, bevor dieses in der Volksversammlung oder auf der Agora vor einer größeren Öffentlichkeit zur Disposition stand. Seiner politischen Funktion nach kann das archaische Symposion insofern als Vorläuferin der klassischen Boule angesehen werden. An dieser Stelle könnte weitere sprechakttheoretische Forschung von Interesse sein: Hat es einen Zusammenhang zwischen dem Vortrag der Lyrik und einem Wettstreit um Ämter innerhalb der Polis gegeben? Wie Stein-Hölkeskamp festhält, war es in der Entstehungs- und Formierungsphase der neuen, zudem turnusmäßig wechselnden, Ämter und Magistraturen einer Polis gängig, dass führende Aristokraten untereinander um Ämter konkurrierten.9 Möglicherweise diente der Vortrag der Lyrik im Symposion den Aristokraten in ihrer Wettkampfethik insofern auch als Mittel, mit anderen Aristokraten um Führungsanspruch zu ringen. Zumindest lassen die hier vollzogenen direktiven Sprechakte darauf schließen, dass die Dichter einen Anspruch auf Weisung erhoben und insofern vielleicht – mit dem Wissen, dass die von ihnen genannten, polisorientierten Vorschläge in einer sekundären Rezeptionsstufe auch an die Öffentlichkeit gelangten – das Ziel verbanden, in Führungspositionen innerhalb der Polis zu gelangen. Als dritter Raum des politischen Handelns durch Dichtung hat sich ein öffentlicher Kontext, vermutlich der Vortrag auf der Agora, ergeben (die Eunomia-Gedichte des Tyrtaios und Solons). Hier wird die Polis in ihrer Gesamtheit angesprochen und öffentliche Angelegenheiten – in den hier untersuchten Gedichten geht es um die Etablierung der neuen, guten Ordnung – werden thematisiert. Die Adressatengruppe erscheint anonymer, gleichsam passiv. Bei Tyrtaios ist sie lediglich Empfänger der neuen Ordnung. Solon nutzt die Dichtung hingegen, um bei allen Athenern ein Umdenken 8
9
Hübner 2019, 85 kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass auch im exklusiven Rahmen des Symposions bürgerschaftsorientierte Zielrichtungen auftraten. So bereits Stein-Hölkeskamp 1989, 130–133. Vgl. kritisch zur These eines in der Archaik vorherrschenden Gegensatzes von Polis-Ideologie und Anti-Polis-Ideologie Hammer 2004. Vgl. Stein-Hölkeskamp 2015, 142 und dies. 1989, 96. Vgl. auch Raaflaub 2006, 397, der anmerkt, dass in einer „highly competitive society in which politics is performed and political decisions are the result of fierce clashes of egos and opinions.“
298
Schlussbetrachtung
zu bewirken. Möglich, dass die Agora der Ort war, an dem zuvor im Symposium ausgehandelte Themen der aktiven Öffentlichkeit präsentiert wurden. In diesem mehrstufigen Kommunikationsprozess wirkten die Dichter insofern als Mittelsmänner der politischen Aristokratie und dem Demos. Die Lyrik der Archaik präsentiert sich damit als Gattung, anhand derer die Überbleibsel des (politischen) Handelns in der Archaik sichtbar werden. Die Sprechakttheorie hat es möglich gemacht, die in der Lyrik enthaltenen Handlungen freizulegen und die Räume des Sprechens in der Archaik auszuleuchten. Wie sich gezeigt hat, wurde poetische Sprache in der Archaik dazu verwandt, die sie umgebende Realität zu verändern. Was in den 1960er Jahren von Austin erkannt wurde, hat sich demnach auch für die Lyrik der Archaik bewahrheitet: Sprache besitzt eine transformative Kraft, die in der Lage ist, die Wirklichkeit zu konstituieren. Sprache – und so auch Lyrik – ist performativ. Fazit: Die Anwendung der Sprechakttheorie Die hier zusammengetragenen Ergebnisse dieser Untersuchung, in welcher erstmals die Sprechakttheorie in systematischer Weise auf die Lyrik der Archaik angewandt wurde, zeigen, wie eine moderne Theorie gewinnbringend auf einen antiken Untersuchungsgegenstand angewandt werden kann. Es wurde ein alternativer Weg vorgestellt, den lyrischen Zeugnissen der Archaik neue Informationen zu entnehmen und eine historische Einordnung dieser so gewonnenen neuen Erkenntnisse – trotz der vielen Ungewissheiten in Bezug auf die Epoche der Archaik – vorgeschlagen. Dabei hat sich die Sprechakttheorie nicht nur in historischer Hinsicht als fruchtbar erwiesen, sondern konnte auch in philologischer Hinsicht einen lohnenden Beitrag leisten: Im Zuge der einzelnen Gedichtanalysen war es möglich, Gedichtfragmente oder -abschnitte aufgrund der in ihnen enthaltenen Sprechakte von anderen Teilen des Gedichtes zu trennen oder neu anzuordnen. In Bezug auf die Verse 39–52 W des Theognis konnte sich dabei für zwei Einheiten ausgesprochen werden (V. 39–42 W und V. 43–52 W) und die Tyrtäischen Frr. 2 D, 4 D und 5 D als Einheit gegenüber Fr. 3a D betrachtet werden. Das Erkenntnispotential der Anwendung der Sprechakttheorie ist dabei sicherlich noch nicht ausgeschöpft. Andere Fragestellungen, die sich im Laufe der Untersuchung ergeben haben, jedoch thematisch keinen Eingang in die Studie finden konnten, können auf Grundlage der Sprechakttheorie in Zukunft zu beantworten versucht werden: Unterscheiden sich Sprechakte von männlichen und weiblichen Sprechern? Hier könnte ein neuartiger Beitrag zu Genderforschung geleistet werden. Besonders lohnend erscheint hier ein Vergleich zur Sapphischen Lyrik und der Frage, inwiefern im Kreise des weiblichen Thiasos’ Politik betrieben wurde. Des Weiteren: Welche Erkenntnisse zeigen sich bei der Untersuchung des gesamten Œuvre eines Dichters
Fazit: Die Anwendung der Sprechakttheorie
299
oder einer Dichterin in Bezug auf Sprechakte? Dieser stärker biographisch orientierte Ansatz kann das Sprechen einer Persönlichkeit und ihrer Lebenswelt in diachroner Hinsicht beleuchten. Und zuletzt, insbesondere in philologischer Hinsicht gewinnbringend: Gibt es sprachpragmatische Unterschiede zwischen dem vermeintlichen Klagelied der Elegie und dem „biographischeren“ Iambos? Welche Form der sprachpragmatischen Einflussnahme lässt sich in Hymnen, Gebeten oder Flüchen, d. h. im rituell-religiösen Kontext, etwa im Rahmen eines Polisfestes, erkennen (hier wäre z. B. eine Untersuchung von Alkaios Fr. 129 V im Hinblick auf den Zusammenhang von Gebet und Diffamierung spannend). Die verschiedenen lyrischen Gattungen können auf diese Weise durch eine neue Brille betrachtet werden. Das Wagnis, eine moderne Theorie zur Untersuchung antiker Texte heranzuziehen, sollte also auch in Zukunft eingegangen werden.
Appendix Sprechakttabellen
Mahnung
Mahnung
EP: Information ἀμφιπερικτίονες
1–2
2–3
2
Aufforderung
Behauptung
6–8
8–9
θάνατος δὲ τότ’ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ Μοῖραι ἐπικλώσωσ’.
τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ’ ἀλόχου δυσμενέσιν∙
καί τις ἀποθνήσκων ὕστατ’ ἀκοντισάτω.
*
*
Aufforderung
*
5
ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει.
Warnung
4
ἐν εἰρήνηι δὲ δοκεῖτε ἧσθαι,
Behauptung
3–4
ὧδε λίην μεθιέντες;
οὐδ’ αἰδεῖσθ’ ἀμφιπερικτίονας
ὦ νέοι;
κότ’ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν,
Mέχρις τεῦ κατάκεισθε;
Mahnung
1
Text
Illokution
Vers
Kallinos Fr. 1 D, Übers. Maehler/Snell 1971.
Repräsentativ
Repräsentativ
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Sprachaktklasse
* Direktiv
Der Tod aber naht nur so, wie die Moiren Spinnen den Faden für ihn.
Repräsentativ
Glorreich ist es und herrliche Direktiv Tat dem Manne, zu schützen Heimat, Kinder und Weib, tapfer zu streiten im Kampf Gegen den Feind.
Sterbend, ein letztes Mal schleudre noch jeder den Speer!
*
doch überall wütet im Lande der Repräsentativ/ Krieg. Direktiv
Euch dünkt, ihr könntet Frieden Haben,
die Bewohner ringsum
Schämt ihr euch nicht vor den Bewohnern ringsum Dass ihr so müßig geht?
Wann fasst ihr den Mut, euch zu wehren, Jünglinge?
Wollt ihr noch lange so ruhn?
Übersetzung
epistemisch
epistemisch
motivational
motivational
motivational
StandardPerlokution
* motivational
direkt
epistemisch
indirekt motivational (Behauptung)
direkt
*
indirekt epistemisch/ (Behauptung) motivational
direkt
–
indirekt (Frage)
indirekt (Frage)
indirekt (Frage)
direkt/ indirekt
302 Appendix
Illokution
Aufforderung
Aufforderung
Aufforderung
Behauptung
Behauptung
2× Warnung
Prophezeiung
Prophezeiung
Prophezeiung
Vers
9
10
10–11
12–13
13
14–16
17
18–19
19
ζώων δ’ ἄξιος ἡμιθέων·
λαῷ γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς θνήσκοντος,
τὸν δ’ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθῃ·
ἔρχεται, ἐν δ’ οἴκωι μοῖρα κίχεν θανάτου, ἀλλ’ ὁ μὲν οὐκ ἔμπης δήμωι φίλος οὐδὲ ποθεινός·
πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων
οὐδ’ εἰ προγόνων ἦι γένος ἀθανάτων.
οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν ἄνδρ’,
ἔλσας τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου.
καὶ ὑπ’ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ
ἔγχος ἀνασχόμενος
ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω
Text
Ehrt einem Halbgott gleich freudig ihn, da er noch lebt.
Sehnend gedenkt die Gemeinde des Sterbebereiten, des Helden,
Jenen beweint, wenn er fällt, jeder, ob klein oder groß.
Oft ist einer, der Schlacht und dem Krachen der Speere entronnen, Glücklich nach Hause gekehrt; dort aber trifft ihn der Tod. Dennoch weckt er im Volk nicht Liebe, weckt auch kein Sehnen;
Selbst nicht ihm, der dem Stamm göttlicher Ahnen entspross.
Repräsentativ
Repräsentativ
Repräsentativ
Repräsentativa/ Direktiva
Repräsentativ
Repräsentativ
Direktiv
das mutige Herz an den Schildrand Drückend, sobald die Schlacht wild durcheinander gerät. Keinem Sterblichen ist es vergönnt, dem Tod zu entrinnen,
Direktiv
Direktiv
Sprachaktklasse
Mit erhobenem Speer
Schreite denn jeder voran
Übersetzung
epistemisch
epistemisch
motivational
motivational
motivational
StandardPerlokution
direkt
direkt
direkt
epistemisch
epistemisch
epistemisch
indirekt epistemisch/ (Behauptung) motivational
direkt
direkt
direkt
direkt
direkt
direkt/ indirekt
Appendix
303
Illokution
ἔρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών.
ὥσπερ γάρ μιν πύργον ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν·
Text
Mahnung
EP: Information εὐρεῖα νῆσος
3–4
4
οἷσιν ἅμα προλιπόντες Ἐρινεὸν ἠνεμόεντα εὐρεῖαν Πέλοπος νῆσον ἀφικομέθα.
αὐτὸς γὰρ Κρονίων καλλιστεφάνου πόσις Ἥρης, Ζεὺς Ἡρακλείδαις τήνδε δέδωκε πόλιν.
Behauptung
1–2
Text
Illokution
Vers
Tyrtaios Fr. 2 D, Übers. Maehler/Snell 1971.
20–21 Aufforderung
Vers
weiträumige Insel
Ihnen waren wir einst von Erineo’s luftigen Höhen Nieder zu Pelops’ weiträumiger Insel gefolgt.
Zeus war es selbst, der Kronide, der Gatte der kränzegeschmückten Hera, welcher die Stadt euch, Herakliden, geschenkt;
Übersetzung
Mächtig, ein Bollwerk, ragt er empor vor den Augen der Seinen: Was die gemeinsame Tat leistet, vollbringt er allein.
Übersetzung
Repräsentativ
Direktiv
Repräsentativ
Sprachaktklasse
Direktiv
Sprachaktklasse
–
indirekt (Erinnerung)
direkt
direkt/ indirekt
indirekt (Metapher)
direkt/ indirekt
epistemisch
motivational
epistemisch
StandardPerlokution
Motivational
StandardPerlokution
304 Appendix
Aufforderung
3× Mahnung
Prophezeiung
EP: Information πίονα ἔργα
3
4–6
7–8
7
εἰκοστῶι δ’ οἵ μὲν κατὰ πίονα ἔργα λιπόντες φεῦγον Ἰθωμαίων ἐκ μεγάλων ὀρέων.
ἀμφ’ αὐτὴν δ’ ἐμάχοντ’ ἐννεακαίδεκ’ ἔτη νωλεμέως αἰεί ταλασίφρονα θυμὸν ἔχοντες αἰχμηταὶ πατέρων ἡμετέρων πατέρες·
Μεσσήνην ἀγαθὸν μὲν ἀροῦν, ἀγαθὸν δὲ φυτεύειν·
ἡμετέρωι βασιλῆϊ, θεοῖσι φίλωι Θεοπόμπωι, ὃν διὰ Μεσσήνην εἵλομεν εὐρύχορον,
Mahnung
1–2
Text
Illokution
Vers
Tyrtaios Fr. 4 D, Übers. Maehler/Snell 1971.
Direktiva
Direktiv
Direktiv
Sprachaktklasse
fette Flure
Repräsentativ
Endlich im zwanzigsten Jahre Repräsentativ verließen jene die fetten Fluren und flohen hinab von den ithomischen Höhn.
Neunzehn Jahre hindurch mussten um dieses Gebiet Unaufhörlich ringen mit langausharrendem Mute Unseres Vatergeschlechts kämpfende Väter von einst.
Ist doch Messenien gut zu säen und Bäume zu pflanzen.
Unserem König von einst, dem Götterfreund Theopompos, Der in Messenien uns weite Gebiete gewann;
Übersetzung
epistemisch
StandardPerlokution
–
indirekt (Erinnerung)
indirekt (Erinnerung)
epistemisch
epistemisch
motivational
indirekt motivational (Behauptung)
indirekt (Erinnerung)
direkt/ indirekt
Appendix
305
EP: Behauptung μεγάλα ἄχθη
1
*
Warnung
*
4–5
δεσπότας οἰμώζοντες ὁμῶς ἄλοχοί τε καὶ αὐτοί, εὖτέ τιν’ οὐλομένη μοῖρα κίχοι θανάτου.
*
EP: Behauptung λυγρή ἀναγκαίη
2
δεσποσύνοισι φέροντες ἀναγκαίης ὑπὸ λυγρῆς ἥμισυ πᾶν ὅσσων καρπὸν ἄρουρα φέρει.
Warnung
2–3
ὥσπερ ὄνοι μεγάλοισ’ ἄχθεσι τειρόμενοι,
Warnung
1
Text
Illokution
Vers
Tyrtaios Fr. 5 D, Übers. Maehler/Snell 1971.
Klagend um die Gebieter, sie selbst und all ihre Frauen, Wenn der verderbliche Tod einen der Herren ergriff
*
Repräsentativ/ Direktiv
*
Repräsentativ
Repräsentativ/ Direktiv
trauriger Zwang
Repräsentativ
Tragen auch sie, gebückt von traurigem Zwange, die Hälfte Sämtlicher Früchte des Landes in seine Scheuern dem Herrn.
Repräsentativ/ Direktiv
StandardPerlokution
epistemisch
*
epistemisch indirekt epistemisch/ (Beschreibung) motivational
*
–
indirekt epistemisch/ (Beschreibung) motivational
–
indirekt epistemisch/ (Beschreibung) motivational
Sprachaktklasse direkt/ indirekt
mächtige Lasten
So wie ein Esel, vom Joch mächtiger Lasten gedrückt,
Übersetzung
306 Appendix
Anordnung
Anordnung
Anordnung
N-Anordnung
Anordnung
Behauptung
6
7
8
9
10
Aufforderung
4
Anordnung
Anordnung
3
5
Behauptung
1–2
5
Illokution
Vers
Φοῖβος γὰρ περὶ τῶν ὧδ’ ἀνέφηνε πόλει.
δήμου δε πλήθει νίκην καὶ κάρτος ἕπεσθαι.“
μηδέ τι βουλεύειν τῆιδε πόλει ‚σκολιόν‘·
μυθεῖσθαι δὲ τὰ καλὰ καὶ ἕρδειν πάντα δίκαια
εὐθείην ῥήτραις ἀνταπαμειβομένους
ἔπειτα δὲ δημότας ἄνδρας
πρεσβυγενεῖς τε γέροντας,
οἷσι μέλει Σπάρτης ἱμερόεσσα πόλις,
„ἄρχειν μὲν βουλῆι θεοτιμήτους βασιλῆας,
῟Ωδε γὰρ ἀργυρότοξος ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων χρυσοκόμης ἔχρη πίονος ἐξ ἀδύτου·
Text
Tyrtaios Fr. 3a D, Übers. Maehler/Snell 1971.
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Direktiv
Repräsentativ
Sprachaktklasse
Phoibos selbst hat dies also verkündet der Stadt.
Repräsentativ
Und die Versammlung soll durch Direktiv den Sieg der Stimmen entscheiden!“
Nie unredlichen Rat geben der heimischen Stadt
Sollen Geziemendes reden und alles Gerechte erwirken
Wahrend das gültige Recht, wie es der Satzung entspricht;
mit ihnen die Bürger des Volkes
Herrschen die würdigen Greise,
Denen am Herzen die Stadt Sparta, die ewige, liegt
„Herrschen sollen im Rate die Könige, götterbegnadet,
So hat der Goldgelockte, der Gott mit dem silbernen Bogen, Phoibos Apoll in der reich prunkenden Halle verfügt:
Übersetzung
motivational
epistemisch
StandardPerlokution
direkt
direkt
direkt
direkt
direkt
direkt
direkt
epistemisch
motivational
motivational
motivational
motivational
motivational
motivational
indirekt motivational (Behauptung)
direkt
direkt
direkt/ indirekt
Appendix
307
N-Aufforderung
18
21–25
19
τοὺς δὲ παλαιοτέρους, ὧν οὐκέτι γούνατ’ ἐλαφρά, μὴ καταλείποντες φεύγετε, τοὺς γεραιούς.
μὴ δὲ φιλοψυχεῖτ’ ἀνδράσι μαρνάμενοι·
ἀλλὰ μέγαν ποιεῖσθτε καὶ ἄλκιμον ἐν φρεσὶ θυμόν
μὴ δὲ φυγῆς αἰσχρῆς ἄρχετε μηδὲ φόβου,
Warnung
αἰσχρὸν γὰρ δὴ τοῦτο, μετὰ προμάχοισι πεσόντα κεῖσθαι πρόσθε νέων ἄνδρα παλαιότερον ἤδη λευκὸν ἔχοντα κάρη πολιόν τε γένειον θυμὸν ἀποπνείοντ’ ἄλκιμον ἐν κονίηι, αἱματόεντ’ αἰδοῖα φίλαισ’ ἐν χερσὶν ἔχοντα –
EP: Behauptung ὧν οὐκέτι γούνατ’ ἐλαφρά
19–20 N-Aufforderung
Aufforderung
EP: Behauptung φυγὴ αἰσχρή
16
17
2× NAufforderung
16
Ὦ νέοι, ἀλλὰ μάχεσθε παρ’ ἀλλήλοισι μένοντες,
2 × Aufforderung
15
Text
Illokution
Vers
Tyrtaios Fr. 7 D, Übers. Maehler/Snell 1971. Sprachaktklasse
Direktiv
Direktiv
Repräsentativ
Direktiva
Repräsentativ
Denn wie beschämend ist’s, Repräsentativ/ wenn in der vordersten Reihe, Direktiv Weit vor dem jüngeren Volk, liegt der betagtere Mann, Welcher mit weiß gewordenem Haupt, mit ergrauendem Barte Seinen wehrhaften Mut sterbend im Staube verhaucht. Seine blutige Scham verdeckt er mit eigenen Händen –
die weniger flink auf den Beinen
Lasst nicht die älteren Streiter, Direktiv die weniger flink auf den Beinen, Wenn ihr zur Flucht euch kehrt, nicht die Bejahrten zurück!
Habt nicht das Leben zu lieb, wenn ihr dem Feinde euch stellt.
Sondern macht groß und wehrhaft den Drang des zagenden Herzens;
beschämende Flucht
Weigert euch jeglicher Angst und der beschämenden Flucht
Auf denn, Jünglinge, zieht in den Direktiva Kampf aneinander geschlossen
Übersetzung
epistemisch
motivational
motivational
motivational
epistemisch
motivational
motivational
StandardPerlokution
indirekt epistemisch/ (Behauptung) motivational
–
direkt
direkt
direkt
–
direkt
direkt
direkt/ indirekt
308 Appendix
ἀλλά τις εὖ διαβὰς μενέτω ποσὶν ἀμφοτέροισιν στηριχθεὶς ἐπὶ γῆς, χεῖλος ὀδοῦσι δακών
31–32
2× Aufforderung
ἀνδράσι μὲν θηητὸς ἰδεῖν, ἐρατὸς δὲ γυναιξὶν ζωὸς ἐών, καλὸς δ’ ἐν προμάχοισι πεσών.
EP: Behauptung ἐρατῆς ἥβης ἀγλαὸν ἄνθος
29–30 Prophezeiung
28
ὄφρ’ ἐρατῆς ἥβης ἀγλαὸν ἄνθος ἔχηι ·
νέοισι δὲ πάντ’ ἐπέοικεν,
27–28 Aufforderung
Text
αἰσχρὰ τά γ’ ὀφθαλμοῖς καὶ νεμεσητὸν ἰδεῖν – καὶ χρόα γυμνωθέντα·
Illokution
26–27 Warnung
Vers
Bleibt, wo ihr steht, und stemmt mit wuchtig gespreizten Beinen Beide Füße ins Feld, beißt in die Lippe den Zahn!
Direktiva
Lebend wird er von Männern Repräsentativ bestaunt, von Frauen umworben; Fällt er am Feinde, – er bleibt sterbend im Tode noch schön.
Repräsentativ
Direktiv
Dies alles ziemt sich dem Jungen, Der noch die Blüte, den Glanz leuchtender Jugend besitzt Die Blüte, den Glanz leuchtender Jugend
Repräsentativ/ Direktiv
Sprachaktklasse
Welch ein schimpfliches Bild böte dem Auge sich dar, Läge der Tote entblößt
Übersetzung
StandardPerlokution
direkt
direkt
–
motivational
epistemisch
epistemisch
indirekt motivational (Behauptung)
indirekt epistemisch/ (Behauptung) motivational
direkt/ indirekt
Appendix
309
Warnung
Mahnung
Aufforderung
10
11
12
EP: Behauptung ἐχυρὸς λιμήν
8
N-Aufforderung
2× Aufforderung
7–8
9–10
*
*
νῦν τις ἄνηρ δόκιμος γε¢[νέσθω
μνάσθητε τῶν πάροιθε μ¢[όχθων]
πρόδηλον γάρ μέγ’ [ἀέθλιον]
λάβη·
καὶ μή τιν’ ὄκνος μόλθ[ακος
φαρξώμεθ’ ὠς ὤκιστα¢ [ ἐς δ’ ἔχυρον λίμενα δρό[μωμεν,
*
τόδ’ αὖ]τε κῦμα τὼ π[ρ]οτέρ[ω ¢ νέμω στείχει,] παρέξει δ’ ἄ[μμι πόνον π]όλυν ἄντλην, ἐπ]εί κε νᾶ[ος ἔμβαι [ ].όμεθ’ ἐ[
2× Warnung
1–4
Text
Illokution
Vers
*
Repräsentativ
Jetzt beweise ein Jeder, daß er glaubwürdig ist
Erinnert euch, was wir ertrugen
Ein hartes Ringen wird es, das ist gewiß
Direktiv
Direktiv
Repräsentativ/ Direktiv
Dass nur keinen von uns weichli- Direktiv ches Zaudern ergreift!
sicherer Hafen
epistemisch/ motivational
motivational
epistemisch
motivational
*
epistemisch/ motivational
StandardPerlokution
direkt
motivational
indirekt motivational (Aufforderung)
direkt
direkt
-
indirekt (Allegorie)
*
Repräsentativa/ indirekt Direktiva (Allegorie)
Sprachaktklasse direkt/ indirekt
Lasst uns so schnell wie möglich Direktiva (das Schiff) mit einem Schanzkleid versehen und in einen sicheren Hafen laufen
*
Da! Wieder kommt eine Woge des vergangenen Sturms heran; sie wird uns viel Mühe bescheren beim Schöpfen, wenn sie einmal ins Schiff gekommen ist.
Übersetzung
Alkaios Fr. 6 V, Übers. Nünlist 1998, mit Ausnahme von V. 10 und V. 11: Hier wurde der Übersetzung von Treu 1963, die auf der Ausgabe von Diehl 1936 basiert, gefolgt.
310 Appendix
EP: Behauptung ἐσθλοὶ τοκῆες
14
καὶ μὴ καταισχύνωμεν [ ἔσλοις τόκηας γᾶς ὔπα κε¢ιμένοις
Mahnung
13–14
Text
Illokution
Vers
die edlen Eltern
Und laßt uns nicht beschämen die edlen Eltern, die unter der Erde liegen
Übersetzung
Repräsentativ
Direktiv
StandardPerlokution
–
epistemisch
indirekt motivational (Aufforderung)
Sprachaktklasse direkt/ indirekt
Appendix
311
Beschuldigung
EP: Diffamierung
Prophezeiung
2× Prophezeiung
EP: Behauptung θυμοβόρος
6–7
6
8–9
9–11
10
χαλάσσομεν δὲ τᾶς θυμοβόρω λύας ἐμφύλω τε μάχας,
ἐκ δὲ χόλω τῶδε λαθοίμεθ’ α¢ν ¢,
θᾶς κ’ ἄμμε βόλλητ’ Ἄρευς ἐπì τε¢ύχεα¢ τρόπην·
παώθεις Ἀτρεΐδα[ν γάμω]
κῆνος δὲ παώθεις Ἀτρεΐδα[ν γάμω] δαπτέτω πόλιν ὠς καὶ πεδὰ Μυρσ[ίλ]ω¢,
εὐωχήμενος αὔτοισιν ἐπα[
βάρμος∙ φιλώνων πεδ’ ἀλεμ[άτων
ἀθύ¢ρει πεδέχων συμποσίω ν¢[
].χ¢ [. .]μ¢[ [λέ]π¢τως¢ τάδ’ εἴπην ὀδ[.]υ[
Diffamierungen
1–5
Text
Illokution
Vers
herzzermürbend
daß man den Groll wieder vergessen kann. Daß nachläßt einst der Streit, der unser Herz zermürbt, der Bruderkampf im Volke
Bis uns andern der Krieg wieder Erfolg beschert
durch die Atridenehe
So mag er denn, erhöht durch die Atrideneh’, würgen unsere Stadt wie einst mit Myrsilos
… (als erstem) dies zu sagen, doch er … da klingt Leierklang her, ist bei dem Mahl dabei, und unter schurkischen, eitlen Gesellen wird ihm, dem prahlenden Herrn, Beifall und Lied zuteil
Übersetzung
Repräsentativ
Repräsentativa
Repräsentativ
Expressiv
Expressiv
Expressiva
Sprachaktklasse
StandardPerlokution
–
direkt
direkt
–
direkt
epistemisch
epistemisch
epistemisch
emotional
emotional
indirekt emotional (Behauptung)
direkt/ indirekt
Alkaios Fr. 43 D, Übers. Treu 1963, mit Ausnahme von V. 8–9: Hier wurde der Übersetzung von Fränkel 1969 gefolgt.
312 Appendix
Behauptung
EP: Diffamierung
11–13
12
δᾶμον μὲν εἰς ἀυάταν ἄγων
τάν τις Ὀλυμπίων ἔνωρσε, δᾶμον μὲν εἰς ἀυάταν ἄγων Φιττάκωι δὲ δίδοις κῦδος ἐπήρ[ατ]ọν¢.
Text
2
Ankündigung
EP: Behauptung ἱμερτὴ Σαλαμíς
1
κόσμον ἐπέων ὠιδὴν ἀντ’ ἀγορῆς θέμενος.
αὐτὸς κῆρυξ ἦλθον ἀφ’ ἱμερτῆς Σαλαμῖνος,
Behauptung
1
Text
Illokution
Vers
Solon Fr. 1 W, Übers. Mülke 2002.
Illokution
Vers
die Ordnung der Worte zu Gesang statt Rede mir setzend
liebliches Salamis
Selbst bin als Herold ich gekommen vom lieblichen Salamis her,
Übersetzung
als er die Bürger verblendete
den ein Olympier entfacht hat, als er die Bürger verblendete und dem Pittakos Macht, die er ersehnte, gab
Übersetzung
Repräsentativ
Repräsentativ
Repräsentativ
Sprachaktklasse
Expressiv
Repräsentativ
Sprachaktklasse
direkt
–
direkt
direkt/ indirekt
–
direkt
direkt/ indirekt
epistemisch
epistemisch
epistemisch
StandardPerlokution
emotional
epistemisch
StandardPerlokution
Appendix
313
Behauptung
Warnung
1–2
3–4
„Ἀττικὸς οὗτος ἀνήρ, τῶν Σαλαμιναφετέων.“
αἶψα γὰρ ἂν φάτις ἥδε μετ’ ἀνθρώποισι γένοιτο·
εἴην δὴ τότ’ ἐγὼ Φολεγάνδριος ἢ Σικινήτης ἀντί γ’ Ἀθηναίου πατρίδ’ ἀμειψάμενος
Text
EP: Behauptung ἱμερτή
EP: Behauptung χαλεπὸν αἶσχος
2
2
ἴομεν ἐς Σαλαμῖνα μαχησόμενοι περὶ νήσου ἱμερτῆς χαλεπόν τ’ αἶσχος ἀπωσόμενοι.
Aufforderung
1–2
Text
Illokution
Vers
Solon Fr. 3 W, Übers. Mülke 2002.
Illokution
Vers
Solon Fr. 2 W, Übers. Mülke 2002.
schlimme Schande
lieblich
Laßt uns ziehen gen Salamis, zu streiten um die Insel, die liebliche, und die schlimme Schande abzuschütteln
Übersetzung
Denn sogleich dürfte diese Rede unter den Menschen aufkommen: „Aus Attika kommt dieser Kerl, gehört zu diesen Salamisabtretern“
Dann möchte’ ich lieber Pholegandrier oder Sikinete sein statt eines Atheners – durch des Vaterlands Tausch.
Übersetzung
Repräsentativ
Repräsentativ
Direktiv
Sprachaktklasse
Repräsentativ/ Direktiv
Repräsentativ
Sprachaktklasse
epistemisch
StandardPerlokution
–
–
direkt
direkt/ indirekt
epistemisch
epistemisch
motivational
StandardPerlokution
indirekt epistemisch/ (Behauptung) motivational
direkt
direkt/ indirekt
314 Appendix
Illokution
Versicherung
Versicherung
Beschuldigung
EP: Diffamierung
EP: Diffamierung
EP: Diffamierung
Warnung
Vers
1–2
3–4
5–7
5
6
7
7–8
οἷσιν ἑτοῖμον ὕβριος ἐκ μεγάλης ἄλγεα πολλὰ παθεῖν·
ἡγεμόνων ἄδικος νόος
χρήμασι πειθόμενοι
ἀφραδίη
δήμου θ’ ἡγεμόνων ἄδικος νόος,
αὐτοὶ δὲ φθείρειν μεγάλην πόλιν ἀφραδίηισιν ἀστοὶ βούλονται χρήμασι πειθόμενοι
Παλλὰς Ἀθηναίη χεῖρας ὕπερθεν ἔχει·
τοίη γὰρ μεγάθυμος ἐπίσκοπος ὀβριμοπάτρη
ἡμετέρη δὲ πόλις κατὰ μὲν Διὸς οὔποτ’ ὀλεῖται αἶσαν καὶ μακάρων θεῶν φρένας ἀθανάτων·
Text
Solon Fr. 4 W, Übers. Mülke 2002.
Repräsentativ
Denn ebenso, mit großer Regung, Wächterin, Tochter des gewaltigen Vaters hält Pallas Athene ihre Hände darüber
denen bestimmt ist, infolge ihres großen Frevels der Schmerzen viele zu erdulden
die rechtlose Gesinnung der Führer des Volkes
Besitz gehorchend
blindes Unvermögen
Repräsentativ/ Direktiv
Expressiv
Expressiv
Expressiv
Selbst jedoch wollen sie lieber Expressiv die mächtige Stadt durch ihr blindes Unvermögen vernichten, die Bewohner, weil sie dem Besitze gehorchen, und der Führer des Volkes rechtlose Gesinnung,
Repräsentativ
Sprachaktklasse
Unsere Stadt wird niemals untergehen nach des Zeus Fügung und der glückseligen Götter Willen, der unsterblichen
Übersetzung
direkt
–
–
–
direkt
direkt
direkt
direkt/ indirekt
epistemisch/ motivational
emotional
emotional
emotional
emotional
epistemisch
epistemisch
StandardPerlokution
Appendix
315
ὕβρις μεγάλη
Text
2 × Diffamierung
*
Diffamierung
*
2 × Diffamierung
Diffamierung
Behauptung
Warnung
9–10
*
11
*
12–13
14
15
16
τῶι δὲ χρόνωι πάντως ἦλθ’ ἀποτεισομένη
ἣ σιγῶσα σύνοιδε τὰ γιγνόμενα πρό τ’ ἐόντα,
οὐδὲ φυλάσσονται σεμνὰ Δίκης θέμεθλα,
οὔθ’ ἱερῶν κτεάνων οὔτε τι δημοσίων φειδόμενοι κλέπτουσιν ἀφαρπαγῆι ἄλλοθεν ἄλλος,
*
πλουτέουσιν δ’ ἀδίκοις ἔργμασι πειθόμενοι
*
οὐ γὰρ ἐπίστανται κατέχειν κόρον οὐδὲ παρούσας εὐφροσύνας κοσμεῖν δαιτὸς ἐν ἡσυχίηι
EP: Behauptung ἄλγεα πολλά
EP: Diffamierung
8
8
Illokution
Vers
*
*
und die mit der Zeit in jedem Fall kommt, um dafür zu strafen
die es schweigend miterlebt hat und weiß, das, was geschieht, und das, was vorher war,
und nicht beachten sie Dikes heilige Grundsteine,
Repräsentativ/ Direktiv
Repräsentativ
Expressiv
weder der Götter Güter noch Expressiva erst recht die des Volkes schonend stehlen sie wegraffend, ein jeder anderswoher
*
Sie sind reich, weil sie rechtlosen Expressiv Werken gehorchen
*
direkt
direkt
direkt
direkt
*
direkt
*
– direkt
Expressiv Expressiva
–
direkt/ indirekt
viele Schmerzen
Expressiv
Sprachaktklasse
Denn sie kennen kein Genug und verstehen sich nicht darauf, die vorhandene Festfreuden zu ordnen in der Ruhe des Festmahls
großer Frevel
Übersetzung
epistemisch/ motivational
epistemisch
emotional
emotional
*
emotional
*
emotional
emotional
emotional
StandardPerlokution
316 Appendix
EP: Behauptung ἕλκος ἄφυκτον
17
Warnung
2× Warnung
23–25
schlimme Knechtschaft
und schnell gerät sie da in schlimme Knechtschaft
unausweichliche Wunde
dies kommt nunmehr über die ganze Stadt als eine Wunde, eine unausweichliche
Übersetzung
ἱκνέονται πολλοὶ γαῖαν ἐς ἀλλοδαπὴν πραθέντες δεσμοῖσί τ’ ἀεικελίοισι δεθέντες
ταῦτα μὲν ἐν δήμωι στρέφεται κακά· τῶν δὲ πενιχρῶν
τρύχεται ἐν συνόδοις τοῖς ἀδικέουσι φίλους.
ἐκ γὰρ δυσμενέων ταχέως πολυήρατον ἄστυ
Das sind die Übel, die in der Gemeinde umherziehen; von den Armen aber kommen viele in ein fremdes Land, verkauft und in Fesseln, schimpfliche, gebunden
denn unter den Händen der Feinde wird schnell die vielgeliebte Stadt aufgezehrt in Zusammenkünften denen, die ihren eigenen Leuten Unrecht tun.
die liebliche Jugend
die Zwist in der Gemeinschaft und Krieg, den schlafenden, aufweckt, ὃς πολλῶν ἐρατὴν ὤλεσεν ἡλικίην· der dann die liebliche Jugend vieler vernichtet;
ἣ στάσιν ἔμφυλον πόλεμόν θ’ εὕδοντ’ ἐπεγείρει,
EP: Behauptung ἐρατὴ ἡλικίη
21–22
20
19–20 3 × Warnung
EP: Behauptung κάκὴ δουλοσύνη
18
ἐς δὲ κακὴν ταχέως ἤλυθε δουλοσύνην,
Warnung
18
τοῦτ’ ἤδη πάσηι πόλει ἔρχεται ἕλκος ἄφυκτον,
Warnung
17
Text
Illokution
Vers
Repräsentativa/ Direktiva
Repräsentativ/ Direktiv
Repräsentativ
Repräsentativa/ Direktiva
Repräsentativ
Repräsentativ/ Direktiv
Repräsentativ
Repräsentativ/ Direktiv
Sprachaktklasse
direkt
direkt
-
direkt
-
direkt
-
direkt
direkt/ indirekt
epistemisch/ motivational
epistemisch/ motivational
epistemisch
epistemisch/ motivational
epistemisch
epistemisch/ motivational
epistemisch
epistemisch/ motivational
StandardPerlokution
Appendix
317
*
*
εἰ καί τις φεύγων ἐν μυχῶι ἦι θαλάμου.
οὕτω δημόσιον κακὸν ἔρχεται οἴκαδ’ ἑκάστωι, αὔλειοι δ’ ἔτ’ ἔχειν οὐκ ἐθέλουσι θύραι, ὑψηλὸν δ’ ὑπὲρ ἕρκος ὑπέρθορεν, εὗρε δὲ πάντως,
*
Text
αὑαίνει δ’ ἄτης ἄνθεα φυόμενα,
καὶ θαμὰ τοῖς ἀδίκοις ἀμφιτίθησι πέδας· τραχέα λειαίνει, παύει κόρον, ὕβριν ἀμαυροῖ,
Εὐνομίη δ’ εὔκοσμα καὶ ἄρτια πάντ’ ἀποφαίνει,
ταῦτα διδάξαι θυμὸς Ἀθηναίους με κελεύει, ὡς κακὰ πλεῖστα πόλει Δυσνομίη παρέχει·
EP: Behauptung ὑψηλὸν ἕρκος
2× Behauptung
32–39 Rat
30–31
28
26–29 4× Warnung
Illokution
Vers *
Sprachaktklasse
Repräsentativ Repräsentativa
Wohlordnung jedoch bringt alles Direktiv klar gut geordnet und passend heraus und dicht an dicht legt sie den Ungerechten Fußfesseln um. Rauhes glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, und dörrt der Blindheit Blüten, die sprossenden, aus.
Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung wie die größten Übel der Stadt Mißordnung bringt
hohe Umfriedung
Und so kommt das Volksübel ins Repräsentativa/ Haus einem jeden, Direktiva es aufzuhalten ist nicht mehr willens das Hoftor, über die hohe Umfriedung springt es und findet ihn in jedem Fall, wenn auch einer flüchtend im Winkel des Schlafgemachs steckt
*
Übersetzung
epistemisch
epistemisch
epistemisch/ motivational
*
StandardPerlokution
indirekt motivational (Behauptung)
direkt
–
direkt
*
direkt/ indirekt
318 Appendix
Illokution
πραΰνει· παύει δ’ ἔργα διχοστασίης, παύει δ’ ἀργαλέης ἔριδος χόλον, ἔστι δ’ ὑπ’ αὐτῆς πάντα κατ’ ἀνθρώπους ἄρτια καὶ πινυτά.
εὐθύνει δὲ δίκας σκολιάς, ὑπερήφανά τ’ ἔργα
Text
Warnung
39– 40
42
EP: Diffamierung
EP: Beschuldigung 41–42 Erklärung
Behauptung
39
40
Illokution
Vers
Denn noch sind ihre Bürger zwar besonnen aber die Führer haben sich schon großer Schlechtigkeit anheimgegeben. große Schlechtigkeit
δέδοικα δὲ μὴ τέκηι ἄνδρα εὐθυντῆρα κακῆς ὕβριος ἡμετέρης. κακὴ ὕβρις ἡμετέρη
ἀστοὶ μὲν γὰρ ἔθ’ οἵδε σαόφρονες, ἡγεμόνες δέ τετράφαται πολλὴν εἰς κακότητα πεσεῖν πολλὴ κακότης
Übersetzung
Gerade richtet sie die Rechtssprüche, die krummen, und hochfahrende Werke besänftigt sie; sie endet die Werke der Zwietracht, endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie alles unter den Menschen passend und vernünftig.
Übersetzung
Kyrnos, diese Stadt geht schwanger, und ich fürchte, sie wird den Rächer unseres üblen Frevels gebären unserer übler Frevel
Κύρνε, κύει πόλις ἥδε,
Text
Theognis V. 39–42 W, Übers. Hansen 2005.
32–39 (Forts.)
Vers
Expressiv
Repräsentativ
Expressiv
Repräsentativ/ Direktiv
Repräsentativ
Sprachaktklasse
Sprachaktklasse
–
direkt
indirekt (Bekundung der Sorge) –
direkt
direkt/ indirekt
direkt/ indirekt
emotional
epistemisch
emotional
epistemisch/ motivational
epistemisch
StandardPerlokution
StandardPerlokution
Appendix
319
πόλει μήποτε τῆιδε ἅδοι
52
Aufforderung
εὖτ’ ἂν τοῖσι κακοῖσι φίλ’ ἀνδράσι ταῦτα γένηται, κέρδεα δημοσίωι σὺν κακῶι ἐρχόμενα. ἐκ τῶν γὰρ στάσιές τε καὶ ἔμφυλοι φόνοι ἀνδρῶν· μούναρχοι τε ·
EP: Behauptung νῦν κεῖται πολλῆι ἐν ἡσυχίηι,
μηδ’ εἰ νῦν κεῖται πολλῆι ἐν ἡσυχίηι
49–52 4× Warnung
48
ἀλλ’ ὅταν ὑβρίζειν τοῖσι κακοῖσιν ἅδηι δῆμόν τε φθείρουσι δίκας τ’ ἀδίκοισι διδοῦσιν
44–48 4× Warnung
οἰκείων κερδέων εἵνεκα καὶ κράτεος· ἔλπεο μὴ δηρὸν κείνην πόλιν ἀτρεμέ’ ἧσθαι,
οὐδεμίαν πω, Κύρν’, ἀγαθοὶ πόλιν ὤλεσαν ἄνδρες·
Versicherung
43
Text
Illokution
Vers
Theognis V. 43–52 W, Übers. Hansen 2005.
Repräsentativ
Sprachaktklasse
unserer Stadt soll das niemals gefallen
wenn diesen Schlechten der Gewinn gefällt, der mit Schaden für die Gemeinschaft einhergeht. Denn daraus entstehen Aufstände, Bürgerkriege und Alleinherrscher;
sie liegt jetzt in tiefer Ruhe
Direktiv
Repräsentativa/ Direktiva
Repräsentativ
doch wenn den Schlechten zu Repräsentativa/ freveln einfällt, Direktiva sie das Volk verderben und das Gesetz in die Hände der Ungerechten legen, um des eigenen Gewinnes willen und der eigenen Macht, dann erwarte nicht, dass diese Stadt noch lange unerschüttert bleibt, selbst wenn sie jetzt in tiefer Ruhe liegt
Niemals, Kyrnos, haben gute Männer eine Stadt zugrunde gerichtet
Übersetzung
indirekt (Wunsch)
direkt
–
direkt
direkt
direkt/ indirekt
motivational
epistemisch/ motivational
epistemisch
epistemisch/ motivational
epistemisch
StandardPerlokution
320 Appendix
2× Behauptung
53
EP: Diffamierung
EP: Diffamierung
EP: Diffamierung
Mahnung
54
55
56
58
54–58 Erklärung
Illokution
Vers
τίς κεν ταῦτ’ ἀνέχοιτ’ ἐσορῶν;
ἔξω δ’ ὥστ’ ἔλαφοι τῆσδ’ ἐνέμοντο πόλεος
ἀμφὶ πλευραῖσι δορὰς αἰγῶν κατέτριβον
πρόσθ’οὔτε δίκας ἤιδεσαν οὔτε νόμους
νῦν δειλοί
οἳ πρόσθ’ οὔτε δίκας ἤιδεσαν οὔτε νόμους, ἀλλ’ ἀμφὶ πλευραῖσι δορὰς αἰγῶν κατέτριβον, ἔξω δ’ ὥστ’ ἔλαφοι τῆσδ’ ἐνέμοντο πόλεος. καὶ νῦν εἰσ’ ἀγαθοί, Πολυπαΐδη· οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοί
Κύρνε, πόλις μὲν ἔθ’ ἥδε πόλις, λαοὶ δὲ δὴ ἄλλοι
Text
Theognis V. 53–60 W, Übers. Hansen 2005. Sprachaktklasse
Wer könnte das ruhig mit ansehen
sie fristeten draußen vor der Stadt wie Hirsche ihr Leben
an ihren Hüften ließen sie rauhe Ziegenfelle scheuern
sie kannten zuvor kein Recht und kein Gesetz
die, die zuvor kein Recht und kein Gesetz kannten, die an ihren Hüften rauhe Ziegenfelle scheuern ließen und draußen vor der Stadt wie Hirsche ihr Leben fristeten. Und jetzt sind sie die Guten, Polypaide, und, die früher Edle waren, sind jetzt die Erniedrigten
Direktiv
Expressiv
Expressiv
Expressiv
Repräsentativ
Kyrnos, unsere Stadt ist noch Repräsentativa dieselbe, die Bewohner aber sind andere
Übersetzung
indirekt (rhetorische Frage)
–
–
–
direkt
direkt
direkt/ indirekt
emotional
emotional
emotional
epistemisch
epistemisch
StandardPerlokution
Appendix
321
Illokution
59–60 3× Diffamierung
Vers
ἀλλήλους δ’ ἀπατῶσιν ἐπ’ ἀλλήλοισι γελῶντες, οὔτε κακῶν γνώμας εἰδότες οὔτ’ ἀγαθῶν.
Text
Sprachaktklasse
Sie betrügen einander, sie lachen Expressiva dabei übereinander und wissen weder gut noch schlecht zu unterscheiden
Übersetzung direkt
direkt/ indirekt emotional
StandardPerlokution
322 Appendix
Quellen- und Literaturverzeichnis Sämtliche Abkürzungen orientieren sich an den Vorgaben der Année philologique. Folgende zusätzliche Abkürzung wurde verwendet: LSJ = H. G. Liddell, R. Scott, H. S. Jones, A Greek-English Lexicon. With a revised supplement, Oxford 1996. A Quellen und Übersetzungen Lyriker
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Aischines
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Athenaion Politeia
Aristoteles. Athenaion Politeia. Edidit Mortimer Chambers, Leipzig 1986. Aristoteles. Staat der Athener. Übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers, Darmstadt 1990.
Athenaeus
Athenaei Naucratitae Dipnosophistarum. Libri XV. Vol. II: Libri VI–X. Resensuit Georgius Kaibe, Stuttgart 1985. Athenaei Naucratitae Dipnosophistarum. Libri XV. Vol. III: Libri XI–XV. Resensuit Georgius Kaibel, Suttgart 1992.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Aristotelis Ars Rhetorica. Recogn. brevique adnot. crit. instrux. William D. Ross, Oxford 1959. Aristoteles. Rhetorik. Übers., mit einer Bibliogr., Erl. u. einem Nachwort v. Franz G. Sieveke, München 41993.
Aristoteles Politik
Aristotelis Politica. Post F. Susemihlium. Recogn. Otto Immisch, Leipzig 1929. Aristoteles. Politik. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert v. Olof Gigon, Zürich – Stuttgart 1971.
Cicero De officiis
M. Tulli Ciceronis: De Officiis. Regonovit Brevique Adnotatione Critica Instruxit Michael Winterbottom, Oxford – New York 1994.
Cicero De oratore
M. Tulli Ciceronis. Scripta Quae Manserunt Omnia. Fasc 3: De Oratore. Hrsg. v. Kazimierz F. Kumaniecki, Leipzig 1995.
Demosthenes
Demosthenis. De falsa legatione. By Richard Shiletto, M. A. Fourth edition, carefully revised, Cambridge 41874.
Diogenes Laertios
Diogenes Laertii. Vitae Philosophorum. Vol. I. Libri I–X. Edidit Miroslav Marcovich, Stuttgart – Leipzig 1999. Diogenes Laertius. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch I–X. Aus dem Griech. übers. von Otto Apelt. Unter Mitarb. von Hans Günter Zekl. Neu hrsg. sowie mit Vorw., Einl. und neuen Anm. zu Text und Übers. vers. von Klaus Reich, Hamburg 21967.
Diodor
Diodori. Bibliotheca Historica. 6 Bd. Post Immanuel Bekker et Ludwig Dindorf. Recogovit Friedrich Vogel (Bd. 1–3) et Curt Th. Fischer (Bd. 4–6), Stuttgart – Leipzig 1888–1906. Diodoros. Griechische Weltgeschichte. Buch I–X. Erster Teil. Übersetzt von Gerhard Wirth (Buch I–III) und Otto Veh (Bucht IV–X). Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart 1992. Diodoros. Griechische Weltgeschichte. Buch I–X. Zweiter Teil. Übersetzt von Gerhard Wirth (Buch I–III) und Otto Veh (Bucht IV–X). Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers, Stuttgart 1993. Diodoros. Griechische Weltgeschichte. Buch XIV–XV. Übersetzt von Otto Veh. Überarbeitet, eingeleitet und kommentiert von Thomas Frigo, Stuttgart 2001.
Gorgias
Gorgias. Reden, Fragmente und Testimonien. Herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim, Hamburg 1989.
Quellen und Übersetzungen
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Heraklit
Heraclitus: Homeric Problems. Edited and Translated by Donald A. Russell and David Konstan, Atlanta 2005.
Herodot
Herodoti Historiae. Libri I–IV. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit. Nigel Guy Wilson. Tom. I, Oxford 2015. Herodoti Historiae. Libri V–IX. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit. Nigel Guy Wilson. Tom. II, Oxford 2015. Herodot. Historien: griechisch-deutsch. Bd. 1. Hrsg. von Josef Feix, München 1980.
Hesiod
Hesiodi Theognia, Opera et dies, Scutum. Edidit Friedrich Solmsen. Ed. Altera cum app. nova fragmentorum, Oxford 1984. Hesiod. Theogonie. Werke und Tage. Griechisch – Deutsch. Hrsg. und übers. von Albert v. Schirnding. Mit einer Einführung und einem Reg. von Ernst Günther Schmidt. Düsseldorf u. a. 32002.
Homer
Homeri Opera, Bd. 1–4. Recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt David B. Munro et Thomas W. Allen, Oxford 1902–1917. Homer. Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 1975. Homer. Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Zürich 1966.
Horaz
Q. Horatius Flaccus. Opera. Editdit David Roy Shackleton Bailey, Stuttgart 42001.
Isokrates
Isocrates. Opera omnia, Edidit Basilius G. Mandilaras, Vol. I–III, München – Leipzig 2003. Isokrates. Sämtliche Werke. Bd. I. Reden I–VIII. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Eingeleitet und erläutert von Kai Brodersen, Stuttgart 1993.
Kallimachos
Callimachus. Edit Rudolf Pfeiffer. Vol. 2: Hymni et Epigrammat, Oxford 1953. Kallimachos. Werke. Griechisch und deutsch. Hrsg. und übers. von Markus Asper, Darmstadt 2004.
Lykurg von Athen
Lycurgi Oratio in Leocratem. Cum ceterarum Lycurgi orationum fragmentis. Post Karl F. Scheibe et Friedrich Blass. Curavit Nikolaos C. Conomis, Leipzig 1970. Lykurg. Rede gegen Leokrates. Hrsg., eingel. und übers. v. Johannes Engels, Darmstadt 2008.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Pausanias
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Philochoros
Fragmente der griechischen Historiker [= FGrH]. Hrsg. v. Felix Jacoby. Dritter Teil. Geschichte von Staedten und Voelkern (Horographie und Ethnographie), Leiden 1950.
Platon
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Plutarch Solon
Plutarchi. Vitae parallelae. Recogn. Cl. Lindskog et Konrat Ziegler. Vol. I,1, Leipzig 1969. Plutarch. Grosse Griechen und Römer. Bd. 1. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler, Zürich – Stuttgart 1954.
Plutarch Lykurg
Plutarchi. Vitae parallelae. Recogn. Cl. Lindskog et Konrat Ziegler. Vol. III, 2. Iterum Rescensuit Konrat Ziegler, Leipzig 1973.
Plutarch Moralia
Plutarchi. Moralia. Vol. II. Fasc. 1. Recensuerunt et emandauerunt Wilhelm Nachstädt und J. B. Titchener, Leipzig 1971. Plutarchi. Moralia. Vol. V. Fasc. 2, Pars 1. Edidit Jürgen Mau, Leipzig 1971.
Quintilian
M. Fabi Qvintiliani Institvtionis oratoriae libri XII: Ps. 1 Libros I – VI continens. Ed. Ludwig Rademacher, Leipzig 1965.
Strabon
Strabonis Geographica. Recognovit August Meineke. Vol. 1–3, Leipzig 1877. Strabons Geographika: Bd. 1 Prolegomena, Buch I–IV: Mit Übersetzung und Kommentar herausgegeben von Stefan L. Radt, Göttingen 2002.
Forschungsliteratur
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Strabons Geographika: Bd. 2. Buch V–VIII: Mit Übersetzung und Kommentar herausgegeben von Stefan L. Radt, Göttingen 2003. Strabons Geographika: Bd. 3. Buch IX–XIII: Mit Übersetzung und Kommentar herausgegeben von Stefan L. Radt, Göttingen 2004.
Suda
Lexicographi Graeci. Recogniti et apparatu critico instructi, Vol. I: Suidae lexicon, Ps. 4. Edidit Ada S. Adler, Leipzig 1933.
Thukydides
Thukydides. Historiae. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit H. S. Jones. Apparatum criticum correxit et auxit Johannes E. Powell, Oxford 1988. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Herausgegeben und übersetzt von Georg P. Landmann. Bd. 1, Zürich – München 1973.
Xenophon
Xenophontis opera omnia, vol. 2. Ed. Edgar C. Marchant, Oxford 21921.
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