Text, Kontext, Kontextualisierung: Moderne Kontextkonzepte und antike Literatur 9783487422534

'Kontextualisierung' gilt als ein unverzichtbares Instrument bei der Analyse antiker Texte. Ist etwas als 

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Text, Kontext, Kontextualisierung: Moderne Kontextkonzepte und antike Literatur
 9783487422534

Table of contents :
Spudasmata, Bd. 179 - U. Tischer, A. Forst, U. Gärtner (Hg.): Text, Kontext, Kontextualisierung
Inhalt
Vorwort
Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner - Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung
Birgit Neumann / Sonja Frenzel - Literatur zwischen kulturellem Dokument, Ereignis und Agent – Möglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher Text-Kontext-Modelle
Heidi Aschenberg - Text und Kontext: Sprachwissenschaftliche Überlegungen
Marcus Willand - Der Leser als/im Kontext interpretativer Zuschreibungen
René Nünlist - Kontext und Kontextualisierung als Kategorien antiker Literaturerklärung
Thomas A. Schmitz - Callimachus and His Muses. Contextualization in the Aetia
Christopher Whitton - Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)
Alexandra Forst - Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros und die Frage der Kontextbildung
Ute Tischer - Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor beim Verstehen von Zitaten
Alexandra Trachsel - Kontexte und Kontextualisierungen im Bereich der Fragmentforschung: Beispiele aus der Fragmentsammlung des Demetrios von Skepsis
Monica Berti - Annotating Text Reuse within the Context: The Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS)
Beate Hintzen - Kontextualisierung, De- und Re-Kontextualisierung am Beispiel von Solons Lebensalterelegie (fr. 27 West)
Ursula Gärtner - hoc quo pertineat, dicet qui me nouerit. Neukontextualisierung als literarische Strategie in Phaedrus’ Fabeln
Karen Blaschka - Eleus sonipes, equus liber, equus bellator. (Neu-)Kontextualisierung epischer Gleichnisse
Martin Bažil - Sensus diversi ut congruant. Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen
Peter Kuhlmann - Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca: Stoische Kernbegriffe im Kontext römischer Werte
Oliver Ehlen - Chariton von Aphrodisias und die Selbstkontextualisierung eines neuen Subgenres
Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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SPUDASMATA BAND 179

Ute Tischer, Alexandra Forst, Ursula Gärtner (Hg.)

Text, Kontext, Kontextualisierung Moderne Kontextkonzepte und antike Literatur

OLMS

SPUDASMATA Studien zur Klassischen Philologie und ihren Grenzgebieten Begründet von Hildebrecht Hommel und Ernst Zinn Herausgeberinnen Irmgard Männlein-Robert und Anja Wolkenhauer Wissenschaftlicher Beirat Robert Kirstein (Tübingen), Jürgen Leonhardt (Tübingen), Marilena Maniaci (Rom/Cassino), Mischa Meier (Tübingen) und Karla Pollmann (Bristol) Band 179 TEXT, KONTEXT, KONTEXTUALISIERUNG

2018

GEORG OLMS VERLAG HILDESHEIM · ZÜRICH · NEW YORK

TEXT, KONTEXT, KONTEXTUALISIERUNG Moderne Kontextkonzepte und antike Literatur

Herausgegeben von Ute Tischer, Alexandra Forst und Ursula Gärtner

2018

GEORG OLMS VERLAG HILDESHEIM · ZÜRICH · NEW YORK

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2018 www.olms.de E-Book Umschlaggestaltung: Inga Günther, Hildesheim Satz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-487-42253-4

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung .

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I. Moderne Kontextkonzepte Birgit Neumann / Sonja Frenzel Literatur zwischen kulturellem Dokument, Ereignis und Agent – Möglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher Text-Kontext-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heidi Aschenberg Text und Kontext: Sprachwissenschaftliche Überlegungen Marcus Willand Der Leser als/im Kontext interpretativer Zuschreibungen

II. Kontext und Interpretation René Nünlist Kontext und Kontextualisierung als Kategorien antiker Literaturerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas A. Schmitz Callimachus and His Muses. Contextualization in the Aetia Christopher Whitton Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

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Inhalt

Alexandra Forst Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros und die Frage der Kontextbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Kontext, Zitat, Fragment Ute Tischer Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor beim Verstehen von Zitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alexandra Trachsel Kontexte und Kontextualisierungen im Bereich der Fragmentforschung: Beispiele aus der Fragmentsammlung des Demetrios von Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monica Berti Annotating Text Reuse within the Context: The Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS) . . . . . . . . . .

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Beate Hintzen Kontextualisierung, De- und Re-Kontextualisierung am Beispiel von Solons Lebensalterelegie (fr. 27 West) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Kontextualisierung als Textstrategie Ursula Gärtner hoc quo pertineat, dicet qui me nouerit. Neukontextualisierung als literarische Strategie in Phaedrus’ Fabeln . . . . . . . . . . . . . .

Karen Blaschka Eleus sonipes, equus liber, equus bellator. (Neu-)Kontextualisierung epischer Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt Martin Bažil Sensus diversi ut congruant. Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Kuhlmann Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca: Stoische Kernbegriffe im Kontext römischer Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Oliver Ehlen Chariton von Aphrodisias und die Selbstkontextualisierung eines neuen Subgenres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index locorum

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Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer gleichnamigen Tagung vom 3. bis 4. Juli 2015 an der Universität Potsdam. Dass es zu diesem Treffen kommen konnte, war nicht selbstverständlich. Ursprünglich bereits für Mai 2015 geplant und organisiert, mussten wir es sehr kurzfristig absagen, weil ein Streik der Deutschen Bahn fast alle unsere Gäste daran hinderte, nach Potsdam zu gelangen. Was wir monatelang mit viel konzeptionellem Elan vorbereitet hatten, mussten wir nun mit nicht weniger Improvisationsaufwand innerhalb von zwei Tagen in eine neue Form gießen. Nach Rücksprache mit unseren ReferentInnen fanden wir einen Ersatztermin im Juli, an dem wir wenigstens einen Teil der ursprünglich vorgesehenen Vorträge hören konnten. An diesen beiden Tagen im Juli trafen sich in Potsdam also Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen mit Klassischen PhilologInnen, um sich über ein Thema zu verständigen, das gleichermaßen vertraut, komplex und dornig ist. Das ging durchaus nicht ohne Verständnisschwierigkeiten vonstatten, textzentrierte und hermeneutisch orientierte Philologie traf auf theoretisch weit ausdifferenzierte, aber an sehr verschiedenen Corpora und kulturellen Phänomenen entwickelte Ansätze der modernen Theoriebildung. Es entstanden daraus lebhafte Diskussionen, aus denen wir viel über andere Disziplinen, besonders aber auch über die Methoden und Traditionen unseres eigenen Faches lernen konnten. Fast alle unserer ReferentInnen haben sich an diesem Band beteiligt, darunter zu unserer Freude auch viele derer, die im Juli verhindert waren, darunter Birgit Neumann und Sonja Frenzel, Heidi Aschenberg, Christopher Whitton und Beate Hintzen. Einige der BeiträgerInnen begegnen sich daher erst in diesem Band; die Ergebnisse zeigen einmal mehr, wieviel die Diskussion durch sie noch hätte gewinnen können. Allen Vortragenden, Gästen und BeiträgerInnen danken wir für Ihr Engagement und die Geduld, die sie für unser Projekt aufgebracht haben. Darüber hinaus gilt unser besonderer Dank der Fritz Thyssen Stiftung, welche die Tagung und die Drucklegung dieses Bandes großzügig unterstützt und bei allen organisatorischen Problemen unkompliziert geholfen hat. Beteiligt an der Konzeption und Durchführung des Treffens war unsere Kollegin Karen Blaschka; ihr sei herzlich gedankt, ebenso wie auch den Studierenden des Instituts für Klassische Philologie und all den anderen HelferInnen, die mit

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Vorwort

großem Einsatz für einen gastlichen Empfang und die reibungslose Organisation gesorgt haben. Danken möchten wir schließlich auch Frau MännleinRobert und Frau Wolkenhauer für die freundliche Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Spudasmata“. Die Herausgeberinnen Potsdam, im Mai 2018

Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner

1. Kontext als Selbstverständlichkeit Die Untersuchung des Verhältnisses von Text und Kontext gehört zu den altehrwürdigsten Aufgaben der Literatur- und Kunstwissenschaften.1

Der Begriff „Kontext“ hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur in der deutschsprachigen Literatur enorme Konjunktur erfahren. Mit dem Google Ngram Viewer, der das Vorkommen von Wörtern und Phrasen im derzeitig von Google digitalisierten Corpus erfasst, lässt sich das leicht veranschaulichen:

Abb. 1: „Kontext“ in den Volltexten deutschsprachiger Digitalisate mit Erscheinungsjahr 1900–20082 Der Duden umschreibt „Kontext“ als „Zusammenhang“, sei es des Sinnes oder als Situationszusammenhang und das Synonymwörterbuch nennt als 1 2

Müller/Müller-Luckner (2007) VII. Google Ngram Viewer (https://books.google.com/ngrams), gesehen am 10.02.2017.

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Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner

Entsprechungen unter anderem „Begleitumstände“, „Bezugsrahmen“, „Verbindung“, „Umgebung“ oder „Beziehungsgeflecht“.3 Dieser ausgesprochen weite Bedeutungsumfang lässt den Begriff in der heutigen Bildungssprache offenbar als besonders geeignet erscheinen, um die verschiedensten Phänomene und Beziehungen zu bezeichnen oder zu erklären, darunter sehr gern Texte und Textbeziehungen. So verwundert es nicht, wenn sich seine Prominenz auch in den Titeln klassisch-philologischer Forschungsliteratur in den letzten Jahren spürbar erhöht hat. Eine hier nur um der Anschaulichkeit willen angeführte Bestätigung liefert ein kleines digitales Tool im Online-Katalog der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek, das die chronologische Verteilung einer gefundenen Titelmenge graphisch darstellt. Für die unter „Klassische Philologie“ systematisierten Titel der SLUB zeigt es eine ganz ähnliche Kurve wie Google:4

Abb. 2: Chronologische Verteilung klassisch-philologischer Veröffentlichungen 1900–2016 im Bestand der SLUB Dresden, bei denen „Kontext“ im Titeldatensatz erscheint 3

4

https://www.duden.de/rechtschreibung/Kontext, vgl. Duden Rechtschreibung (2017) 655; Duden Fremdwörterbuch (2003) 750–751 u. Brockhaus Synonymwörterbuch (2013) 499. Katalog der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (https://www. slub-dresden.de/startseite/), Suche mit dem Stichwort „*ontext“, eingeschränkt auf „Fachgebiet: Klassische Philologie“ und „Zeitraum 1900–2016“; Ergebnis: 288 Titel, darunter 125 Aufsätze, 80 Monographien; gesehen am 10.02.2017.

Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung

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Geht man die so ermittelte Bibliographie durch, stößt man mit bemerkenswerter Häufigkeit auf Titel nach dem Muster „x im Kontext“, „x im Kontext von y“ oder „x, Kontext, y“, die es nahe legen, dass „Kontext“ auch in unserem Fachgebiet ein verbreitetes und weithin akzeptiertes Konzept ist. Besonders der Gebrauch im Singular scheint dabei auf das methodische Potenzial des Begriffs zu verweisen, während die Verwendung im Plural und mit spezifizierenden Attributen darauf hindeutet, dass sich dieses methodische Potenzial erst entfaltet, wenn man festlegt, welcher konkrete Kontext aus einer Vielzahl möglicher Kontexte in Frage steht. Bei näherer Betrachtung findet man unter dem Schlagwort „Kontext“ dann ganz unterschiedliche Forschungsinteressen vereinigt. Häufig geht es etwa um die Situierung literarischer Werke in ihrem zeitgenössischen soziokulturellen, religiösen oder intellektuellen Umfeld,5 aber auch um die Wechselwirkung zwischen Literatur und antiken Literaturkonzeptionen,6 um intertextuelle Beziehungen,7 um die Einbettung einzelner Stücke in Gedichtsammlungen8 oder um das Verhältnis der narrativen Instanzen innerhalb eines Textes.9 Studien wie diese heben, mehr oder weniger explizit, die Bedeutung einer „Betrachtung im Kontext“ als methodisches Instrument hervor, und sie lassen den Anspruch erkennen, mit diesem Verfahren, durch „Kontextualisierung“ also, etwas Wichtiges oder Neues für das Verständnis der antiken Texte ermitteln zu können. In der Regel leitet sich dieser innovative Anspruch daraus ab, einen bestimmten Kontext neu gefunden oder in seiner Bedeutung jetzt erst erkannt zu haben, und er bestätigt sich durch den interpretativen Ertrag, den die jeweilige Untersuchung zu erbringen vermag. All das deutet darauf hin, dass „Kontext“ durchaus mehr ist als ein bequemer Topos, und doch begründen nur wenige unter den zahlreichen Arbeiten, die „Kontext“ im Titel tragen, seine Verwendung. In den meisten Fällen begegnet man einem intuitiven, nicht-terminologischen Kontextbegriff, und was genau eine bestimmte Gegebenheit zum „Kontext“ qualifiziert, wie „Kontext“ zu definieren sei und wie

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Vgl. z. B. Kowalzig/Wilson (2013); Acosta-Hughes/Stephens (2012); Baird/Taylor (2011). Z. B. Rutherford (1998); Peirano (2012). Berlincourt/Milić/Nelis (2016). Z. B. Gutzwiller (1998). Z. B. Steinrück (1992).

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Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner

man sich die Beziehung zwischen „Objekt“ und „Kontext“ konkret vorstellen muss, wird höchst selten thematisiert. Die Folge ist, dass „Kontextualisierung“ zu einem Etikett gerät, welches jeder Art des In-Beziehung-Setzens angeheftet werden kann. Das erscheint vor allem deshalb als problematisch, weil Kontextbeziehungen offenbar per se als deutungsrelevant gelten. Damit nämlich berührt die methodisch abgesicherte Wahl des „richtigen“ Kontextes stets auch die Frage nach den Gültigkeitskriterien und der Zulässigkeit der jeweiligen Interpretation. Entschließt man sich daher dazu, die literaturwissenschaftliche Basisoperation des „In-BeziehungSetzens“ als „Kontextualisierung“ zu formulieren, bedarf dieser Begriff einer Reflexion, welche das Erklärungspotenzial, die Prämissen und die praktischen Anwendungsbereiche des dahinterstehenden Konzeptes auslotet. Wir möchten dieses in vielerlei Hinsicht steinige Problemfeld mit dem vorliegenden Band erkunden. Die darin versammelten theoretischen Überblicke und praktischen Untersuchungen bieten notwendig eine beschränkte Auswahl möglicher Positionen, die von den BeiträgerInnen gewählten Fallbeispiele sprechen nicht nur sehr verschiedene Gegenstände, sondern auch sehr unterschiedliche Aspekte des Kontextbegriffs an, und gerade bei einer interdisziplinären Annäherung lassen sich Theorie und Praxis nicht ohne Weiteres ineinander umrechnen. Auch die folgenden Überlegungen haben daher nicht zum Ziel, einen einheitlichen Kontextbegriff zu erarbeiten oder ein bestimmtes Konzept für die Analyse vorzugeben. Für den bisherigen Stand der Diskussion sei auf die Bibliographie am Ende dieser Einleitung verwiesen. Statt einer theoretischen Synthese wollen wir an dieser Stelle vielmehr, auf der Grundlage der Beiträge dieses Bandes, einen Aufriss der Kategorien und Probleme entwerfen, die sich in der Interpretationspraxis zeigen. Wir verbinden damit die Erwartung, die in den Beiträgen skizzierten Aspekte vergleichbar zu machen und die Punkte hervorzuheben, an denen sich während der Tagung die Diskussion besonders entzündete.

2. Kontext als theoretisches und praktisches Problem „Theory of context – An impossible Project?“ fragt Urpo Kovala in einer exklusiv dem Thema „Context“ gewidmeten Sonderausgabe des Journal of Literary Theory:

Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung

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(…) the very concept of context is problematic in many ways; (…) the term is one of the most widely used and widely abused terms in the humanities and social sciences; (…) its analytical force suffers from the fact that it encompasses such a vast array of different elements.10

Tatsächlich gelten viele der mit dem Kontextbegriff verbundenen theoretischen Probleme als ungeklärt oder nur disziplinenspezifisch und in Abhängigkeit von konkreten Fragestellungen und Untersuchungsbereichen lösbar. Zu den drängendsten gehört die Frage, ob und wie „Text“ und „Kontext“ unterscheidbar sind, durch welche Operationen sie miteinander in Verbindung stehen oder in Verbindung gebracht werden müssen und welche Gültigkeitskriterien dafür in Anschlag zu bringen sind. In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ist die Theoriebildung zu diesen Problemen inzwischen weit fortgeschritten. Am fruchtbarsten für eine Übertragung auf die spezifischen Probleme, die „Kontext(e)“ und „Kontextualisierung“ für die Klassische Philologie aufwerfen, erschienen uns die von Kulturwissenschaft, Linguistik und Allgemeiner Literaturwissenschaft entwickelten Konzepte. Die drei einleitenden Beiträge des vorliegenden Bandes sollen in diese Theoriediskussionen einführen und den Blick dabei dezidiert auf die Bedingungen des literarischen Textumgangs richten. Birgit Neumann und Sonja Frenzel tun dies für kulturwissenschaftliche Kontexttheorien, deren Anspruch es ist, „die Partikularität des Textes in einen plausiblen und aussagekräftigen Bezug zu extratextuellen Konstellationen zu stellen und damit auch Funktionsweisen des Sozialsystems im kulturellen Geflecht heterogener Diskurse und Praktiken zu beleuchten“ (Neumann/Frenzel 32–33).11 Heidi Aschenberg skizziert das weit ausdifferenzierte Feld linguistischer Theoriebildung, die „auf jeden Fall beim sprachlichen Kontext (Kotext) anzusetzen“ habe (Aschenberg 78), darüber hinaus aber in zunehmenden Maße auch nichtsprachliche, kommunikative und pragmatische Gesichtspunkte integriert. Für den dritten einführenden Beitrag zu literaturwissenschaftlichen Kontextkonzepten haben wir uns bewusst für eine thematische Schwerpunktsetzung entschieden. Marcus Willand greift darin mit der Instanz des „Lesers“ einen literaturtheoretischen Aspekt mit weitreichenden Konsequenzen auf. Gerade für

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Kovala (2014) 158. Alle Angaben in dieser Einleitung beziehen sich im Folgenden auf die Beiträge im vorliegenden Band.

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Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner

klassische PhilologInnen, die nicht nur besonders gern mit dem Wissen oder den Erwartungen zeitgenössischer oder späterer Leser12 argumentieren, um Interpretationen zu begründen, sondern sich selbst auch nachdrücklich in der Rolle des „zeitlich entfernten“ Lesers wiederfinden, der sich „fremden“ Kontexten annähern muss, ergeben sich hier sinnvolle Anknüpfungspunkte. Lesermodelle nämlich, so betont Willand, zeigen „als implizit mitformulierte oder explizit ausformulierte Konstrukte jeder Interpretationstheorie (…) den Rahmen der jeweils legitimen und illegitimen Kontextbezüge auf“ (Willand 96). Die klassischen PhilologInnen unter den BeiträgerInnen hatten wir für unsere Tagung und den daraus hervorgegangenen Band gebeten, über Kontext, Kontextualisierung und die mit diesen Konzepten verbundenen Probleme einmal gezielt anhand von Beispielen nachzudenken. Im Vordergrund sollten dabei nicht wie sonst die Ergebnisse stehen, die der Rückgriff auf diesen oder jenen Kontext für die Interpretation des jeweiligen Textes ermöglicht, sondern die Reflexion über das eigene Tun beim „Kontextualisieren“, das Ausprobieren moderner Theoriekonzepte und das Problematisieren der so oft selbstverständlich und intuitiv gebrauchten Begriffe „Kontext“ und „Kontextualisierung“. Die so entstandenen dreizehn Untersuchungen thematisieren vielfältige und oft miteinander eng verbundene Facetten dieses Problemkreises. Wir haben sie, nicht ohne die dazu nötigen Vereinfachungen, nach drei Fragestellungen geordnet, die uns jeweils im Vordergrund zu stehen scheinen. In einer ersten Sektion, mit Beiträgen von René Nünlist, Thomas A. Schmitz, Christopher Whitton und Alexandra Forst, tritt „Kontext“ als etwas vom Leser oder Interpreten Gesuchtes und in Anspruch Genommenes hervor, als ein methodisches Konzept, dessen Entwicklung mit der alexandrinischen Philologie beginnt und unter ähnlichen Prämissen auch die gegenwärtige Praxis durchzieht. Die zweite Gruppe, zu der wir die Arbeiten von Ute Tischer, Alexandra Trachsel, Monica Berti und Beate Hintzen rechnen, thematisiert mit Zitaten und Fragmenten Fälle kontextueller Irritationen, bei denen Kontext dadurch ins Bewusstsein tritt, dass er abwesend oder verloren ist. Die dritte Gruppe schließlich, gebildet aus den Beiträgen von Ursula Gärtner, Karen Blaschka, Martin Bažil, Peter Kuhlmann und Oliver Ehlen, rückt in den Blick, dass Kontext auch etwas vom Text Induziertes ist, das den Leser als Textstrategie auf bestimmte Themen oder Zusammenhänge lenken soll. 12

Im Folgenden wird bei terminologisch gebrauchten Begriffen wie „Leser“ oder „Autor“ lediglich die männliche Form verwendet.

Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung

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Wie die drei Überblicksartikel zeigen, ist Kontexttheorie ein weit ausdifferenziertes Themengebiet, und so ist auch nicht zu erwarten, dass die Beiträge alle denselben Ansätzen verpflichtet sind. Hinzu kommt, dass theoretische Annahmen in einem Aufsatz von begrenzter Länge und Schwerpunktsetzung nicht nur explizit, durch Bezugnahmen auf bestehende Konzepte, in Erscheinung treten, sondern auch implizit, durch die vorausgesetzten Prämissen und nicht zuletzt die verwendete Metaphorik. Aus allen diesen Gründen haben wir uns entschieden, die dreizehn philologischen Untersuchungen im Folgenden nicht einzeln, sondern in Form einer Synthese vorzustellen, in der wir uns auf die methodischen und konzeptionellen Punkte konzentrieren, die uns bei der Lektüre als verbindend oder trennend ins Auge fielen. Auf diese Weise hoffen wir, auch auf die Gefahr der Nivellierung bestehender Unterschiede hin, aufzeigen zu können, unter welchen Prämissen und Fragestellungen klassische PhilologInnen typischerweise mit den Konzepten „Text“, „Kontext“ und „Kontextualisierung“ operieren. Was nehmen wir also wahr, wenn wir Texte in Bezug auf ihre Kontexte und uns selbst beim Kontextualisieren beobachten?

3. Kontext in der philologischen Interpretationspraxis 3.1. Kontext und Interpretation Wie zu erwarten war, machen alle BeiträgerInnen in irgendeiner Form auf die enge konzeptionelle Verbindung zwischen Kontexten und Textsinn aufmerksam. Die Beziehung zwischen Text und Kontext wird als „Bedeutungsbeziehung“ angesehen (Tischer 180), Kontexte gelten als selbst für das elementarste Textverstehen unabdingbar (Schmitz 119; Ehlen 340; Hintzen 235; Forst 162), erst ihre Bereitstellung ermögliche den informierten Umgang mit dem Text (Whitton 137–138), ja das Interpretieren selbst sei „nothing other than recontextualization“ (Schmitz 119, nach Most (1994) 132). Wie René Nünlist zeigt, sahen schon die hellenistischen Philologen, dass sich aus dem Kontext einer Passage Indizien für deren Verständnis gewinnen lassen, dass also der Kontext den Text disambiguiert, erklärt und interpretierbar macht (Nünlist 108– 109 114; vgl. Bažil 298–299; Schmitz 133–134). In den vorliegenden Beiträgen erscheinen Kontexte als veränderliche „Rahmen“, die den Blick des Philologen lenken und die Interpretation beeinflussen (Forst 162; Kuhlmann 320; Blaschka 279; Ehlen 357; vgl. Nünlist 101), wobei man insbesondere auf sich

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Ute Tischer / Alexandra Forst / Ursula Gärtner

wandelnde Textdeutungen im Verlauf der Rezeptionsgeschichte verweist (Ehlen 340, 345; Hintzen). Seltener wird umgekehrt die Gestalt und Beschaffenheit des Textes als Reaktion auf einen Kontext erklärt oder darauf zurückgeführt, dass der Text auf bestimmte Kontexte einwirken wolle (Forst 164–165; Kuhlmann 320–321). Kontexte zu missachten wird daher zum Interpretationsfehler, der bereits von Aristarch kritisiert wurde (Nünlist 116). Zugleich kann das Kontextualisieren aber auch in die Irre führen, sinnlos oder unmöglich sein: Mitunter „verführt“ ein Kontext zur falschen Interpretation (Hintzen 247, 255), Kontextualisierung liefert widersprüchliche Ergebnisse (Whitton 147; Forst 174–175; vgl. Berti 229) oder der Text unterläuft das Kontextualisierungsbedürfnis des Rezipienten absichtlich und führt es ad absurdum (Gärtner 271). Einerseits sind solche „falschen“ Kontexte also zu vermeiden, andererseits wird die Entscheidung für oder gegen einen Kontext mehrfach als zutiefst „subjektiv“ bezeichnet (Whitton 138, 145–146; Schmitz 120; vgl. Hintzen 236). Das macht Relevanzkriterien nötig, die von den BeiträgerInnen auch verschiedentlich genannt werden. Immer wieder erscheint hier das Kriterium der Kohärenz, d. h. die Forderung, dass der Kontext zum Text „passen“ müsse (Aristarch bei Nünlist 110; Hintzen 256; Bažil 299; Gärtner 271; Kuhlmann 324–325), eng damit verbunden sind Plausibilität (Schmitz 120; Gärtner 271), Evidenz, d. h. das „In-die-Augen-Springen“ des Kontextes (Hintzen 249) und Intuition (Forst 101; Schmitz 120). Als ein eher ergebnisorientiertes Kriterium erscheint der interpretative Ertrag (Blaschka 291; Forst 171–172), doch auch das Wissen der zeitgenössischen Rezipienten (Kuhlmann 320, 330) oder die Intention des Autors (Blaschka 287, 290; Forst 172) werden als Beurteilungskriterien herangezogen.

3.2. Die Trennung von Text und Kontext Die Frage, die all diesen Bewertungen vorangeht, nämlich diejenige, was Kontext eigentlich (in einem philologischen Sinne) sei, thematisieren die Beiträge kaum (vgl. aber Bažil 297; Tischer 180; Hintzen 235–236). Wie sie zu beantworten sein könnte, zeigt sich eher in den Abgrenzungen und Differenzierungen, die die AutorInnen vornehmen. Ein Punkt, der hier Interesse findet, ist die Frage, wie sich Text (als zu kontextualisierendes Objekt) und Kontext zueinander verhalten, wie sie zu konstituieren und gegeneinander abzugrenzen sind.

Einleitung: Text, Kontext, Kontextualisierung

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Die häufigste und selbstverständlichste Unterscheidung, die dabei getroffen wird, ist die zwischen dem aktuell vorliegenden untersuchten Text und all dem, was dieser Text nicht ist. Ursula Gärtner (261), Beate Hintzen (235-236) und Karen Blaschka (280–281) etwa identifizieren den „text-externen“ Kontext mit „Kultur“, Thomas A. Schmitz (121) mit den Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Textes, und für Peter Kuhlmann (320) und Alexandra Trachsel (215) ist er der ethische, sprachliche oder antiquarische Diskurs, in dessen Zusammenhang ein bestimmter Text zu verstehen ist. Monica Berti (224, 229) bezeichnet als „external to the text“ die Kontextinformationen, die in digitalen Fragmenteditionen als Mark-up hinzugefügt werden, um bestimmte Passagen computerlesbar als Fragmente identifizieren und verarbeiten zu können. Da eine solche Unterscheidung von Text und Nicht-Text zwei ontologisch verschiedene Bereiche sondert, erscheint sie einfach und naheliegend. Den Kern der philologischen Kontextproblematik trifft sie aber offenbar nicht. Stattdessen zeigen fast alle Beiträge, dass „Kontext“ hier in hohem Maße selbst als „Text“ gedacht ist. Das betrifft zum einen Begriffe wie den „intertextuellen“ oder auch „Gattungskontext“, der durch andere, meist literarische Werke gebildet wird (Blaschka 279; Gärtner 261), die „Tradition“, innerhalb derer ein Text zu verorten sei (Ehlen 342). Zum anderen verweist es auf den – auch durch die Überlieferung und den zeitlichen Abstand der antiken Texte bedingten – Umstand, dass die Quellen unserer Informationen über antike Kultur, Rezeptionsbedingungen und andere „äußere“ Umstände der Textproduktion sehr oft ebenfalls Texte sind, die wiederum der Kontextualisierung und Interpretation bedürfen (besonders deutlich wird dieses Problem in den Beiträgen von Forst, Hintzen und Whitton). Eine kulturwissenschaftliche Fortsetzung erhält diese Sichtweise, wenn man, wie es Beate Hintzen (235–236) tut, die gesamte „äußere“ Kultur als Text denkt, der nicht anders lesbar sei als Texte im traditionellem Sinn. Stellt sich schon hier, auf einer eher abstrakten Ebene, die Frage, wie Text und Kontext zu unterscheiden seien, zeigt sich das Text-Kontext-Problem in der interpretativen Praxis ganz konkret darin, das „Kontext“ nicht nur den „anderen“ Text meint, sondern sehr oft auch mit dem „aktuellen“, zu interpretierenden Text identisch ist. Als „intra-„ bzw. „infratextueller“ Kontext (Gärtner 261), als „textimmanenter“ Kontext (Blaschka 277–278) oder „sprachlicher Oberflächenkontext“ (Bažil 297–298) bezeichnet er dann die Umgebung einer Textstelle innerhalb des aktuellen Textes, ihren Argumentationszusammenhang oder die interne Verweisstruktur des Werkes. Aus dieser Perspektive, der primären

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Auffassung von Kontext als „Textumgebung“, die in einigen Beiträgen dominiert (vgl. z. B. Blaschka 276–277; Trachsel 205), kann die interpretativ als notwendig empfundene Trennung von Text und Kontext nicht mehr ontologisch, sondern nur noch durch Fokussierung und Perspektivierung erfolgen, wie Alexandra Trachsel hervorhebt (204–205). In ihrem Fall ist es, ähnlich wie auch bei der von Monica Berti (224) beschriebenen digitalen Annotation, die Betrachtung bestimmter Textstellen als „Fragmente“, die Text(stelle) und Kontext sondert und dabei wichtige kontextuelle Informationen aus dem zitierenden oder source text gewinnt. Martin Bažil (296), der sich mit der Funktionsweise der Cento-Technik beschäftigt, sieht dieselbe Unterscheidung dagegen in der unterschiedlichen „semantischen Belastung“ zwischen zitierter Textstelle und (Text-)Kontext realisiert. Wie problematisch und perspektivenabhängig die Entscheidung über „relevante“ Kontexte auch innerhalb eines Werkes sein kann, thematisiert vor allem Christopher Whitton (vgl. aber auch Blaschka 277–279). Dass der Kontextbegriff der Klassischen Philologie in erster Linie ein Textzusammenhang und erst sekundär und in einem metaphorischen Sinn die „Umgebung“ des Textes in seinem kulturellen Umfeld ist, liegt sicherlich auch am Gegenstandsbereich der Disziplin und ist historisch begründet. Schon etymologisch ist ja mit „contextus“ das Gewebe des Textes selbst gemeint (Bažil 295; Whitton 145), und so konzentrieren sich auch die noch greifbaren antiken Diskussionen „philologischer“ Kontextprobleme oft auf diesen Textzusammenhang. Die Berücksichtigung und Unterscheidung „äußerer“ Kontexte als Determinanten der Interpretation gehört daher zu den großen methodischen Fortschritten der alexandrinischen Philologie (Nünlist 116).

3.3. Kontexttypen Während die Begriffsbestimmung und das Wesen von „Kontext“ allgemein nur recht selten in das engere philologische Blickfeld rücken, zeigen die VerfasserInnen der vorliegenden Beiträge ein umso größeres Interesse für die interne Differenzierung des Kontextbegriffs. Dies hängt offenbar mit der anwendungsbezogenen Perspektive der Beiträge zusammen: Erst im Plural, als „Kontexte“, die sich gegeneinander abwägen lassen, wird „Kontext“ zu einer operablen Kategorie für die Interpretation. Dass jeder dieser Kontexte in größerem oder geringerem Ausmaß ebenfalls eine Abstraktion oder Verallgemeinerung darstellt, wird gelegentlich gestreift (Ehlen 342, zum angenommenen Bildungshintergrund der Rezipienten), meist aber nicht reflektiert.

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Alle Verfasser sehen jedoch die Notwendigkeit, Kontextbereiche voneinander abzugrenzen und zum Teil auch zu hierarchisieren. Das geschieht nach recht unterschiedlichen Kriterien, die miteinander kombiniert werden können. Die häufigste, überall vorgenommene Unterscheidung bezieht sich, ähnlich wie die oben beschriebenen Versuche zur Trennung von Text und Kontext, auf den als ontologisch empfundenen Unterschied zwischen dem (schriftlichen, literarischen) Sprachgebilde „Text“ und dem, was „außerhalb“ dieses Textes liegt. Man differenziert daher in der Regel zwischen „textinternen“ und „textexternen“ Kontexten, zu denen manchmal noch ein „Wissenskontext“ (von Textproduzenten und Rezipienten) hinzutritt (Tischer 184–186; Ehlen 342–343). Diese drei Basistypen werden oft weiter unterteilt: Als Unterkategorie des „externen“ Kontexts, der gelegentlich mit dem „kulturellen“ oder „historischen“ Kontext gleichgesetzt ist, erscheint besonders hervorgehoben der „literarische“ (generische, literaturgeschichtliche, intertextuelle) Kontext (Bažil 302; Gärtner 261; Ehlen 342; Blaschka 278–280; Whitton 150). Daneben begegnen Differenzierungen des „äußeren“ Kontextes in Diskurse (Hintzen 254–256) oder „kulturelle Schemata“ (Kuhlmann 254–256), neben denen die „Äußerungssituation“ oder der „pragmatische Kontext“, als Oberbegriff für die performativen Bedingungen des literarischen Werkes, einen weiteren Bereich bildet (Tischer 185; Nünlist 101; Schmitz 120; Hintzen 253–254). Das vorherrschende Einteilungsprinzip beim „textinternen“ Kontext ist dagegen die Entfernung des jeweiligen Bezugspunktes zur fokussierten Textstelle, apostrophiert etwa als „intratextueller“ und „infratextueller“ Kontext (Gärtner 261; vgl. Blaschka 277–278; Bažil 297–298). Der „Wissenskontext“ schließlich kann nach Wissensbereichen wie Literatur, Werte oder Bildung (Tischer 186) differenziert werden, nach Wissensquellen (Forst 172) oder auch unter der Fragestellung, wie zugänglich das vorausgesetzte oder nötige „Kontextwissen“ für den Rezipienten oder Interpreten ist. Daraus resultieren Unterkategorien wie etwa individuelles, kollektives oder durch die Lektüre des aktuellen Textes erworbenes Wissen (Tischer 186; vgl. Ehlen 342; Hintzen 236). Diese prinzipiell „ontologische“ Kategorisierung nach internem, externem und Wissenskontext kann sich mit anderen Einteilungsprinzipien kreuzen. Eine davon ist die Betrachtung entsprechend der narrativen Ebene, auf der Kontexte bei der Lektüre des literarischen Textes wirksam werden (Tischer 182–184). Quer zur ontologischen Kategorisierung steht aber auch die schon von Aristarch vorgenommene chronologische Differenzierung (Nünlist 116), die zunächst zwischen antiken und modernen Kontextbedingungen

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der Lektüre unterscheidet, sich aber auch dann anbietet, wenn Texte aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive in den Blick genommen werden (vgl. Whitton 138; Ehlen 340–341, 344–347). Als einen Spezialfall dieser chronologischen Sichtweise könnte man schließlich die von mehreren Beiträgen getroffene Unterscheidung zwischen „altem“ und „neuem“ Kontext ansehen, die sich dann aufdrängt, wenn Phänomene des „text re-use“ (Berti 224), etwa als Fragmente, Zitate, Imitationen oder Allusionen beschrieben und interpretiert werden sollen (Trachsel 204, 218; Hintzen 236–237; Gärtner 259; Tischer 296–199; vgl. Bažil 297). All diese Trennungen sind also perspektivenabhängig, und sie dienen vor allem der Textanalyse. Sind sie festgestellt, gestatten sie es, bestimmte Kontextbereiche zu selektieren und zu privilegieren. Auch die verschiedentlich hervorgehobene Beobachtung, dass „mehrere“ Kontexte zu berücksichtigen seien oder zusammenwirken (u. a. Bažil; Whitton; Blaschka 276; Ehlen 344; Gärtner 259; Kuhlmann 321; Tischer 193–194; Trachsel 218), ist erst durch diese analytische Trennung möglich. Zugrunde liegt die Prämisse, dass die Interpretation eines Textes oder einer Textstelle umso plausibler und treffender ist, je genauer und differenzierter relevante Kontextbereiche herausgearbeitet werden können. Gleichzeitig wird betont, dass eine „holistische“ Erfassung und Prüfung aller möglichen Kontexte nicht möglich oder nicht praktikabel sei (Hintzen 236).

3.4. Kommunikative Instanzen als Kontextfaktoren Überblickt man die dreizehn philologischen Arbeiten in diesem Band, kristallisieren sich schnell zwei Objektbereiche heraus, die bei der Reflexion über Kontext und Kontexte eine besondere Rolle spielen. In einer möglichst allgemein gehaltenen Formulierung lassen sie sich als „Sender“ und „Empfänger“, die beiden Hauptinstanzen des Kommunikationsmodells, beschreiben. In der Tat gehen alle Beiträge von einem Textverständnis aus, demzufolge literarische Werke als Kommunikationsangebote anzusehen sind, die sich an einen Leser oder ein Publikum richten (explizit bei Tischer 184; Schmitz 121; Kuhlmann 320; Ehlen 344; Trachsel 204). Die Übermittlung der Textbotschaft erfolgt in diesem Modell durch Codierung und Decodierung von Textzeichen, über deren Bedeutungsgehalt zwischen den kommunizierenden Instanzen ein Mindestmaß an Übereinstimmung gegeben sein muss. In den Beiträgen manifestiert sich diese strukturalistische Perspektive unter anderem in der immer wieder geäußerten Überzeugung, dass Autor und Leser bestimmte Kontexte

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„teilen“ müssen, um ein adäquates Verständnis der Textbotschaft zu gewährleisten (Tischer 184; Schmitz 133; Ehlen 342; Kuhlmann 320–321; Blaschka 291). Einige Male wird dabei betont, dass beide Instanzen, der Autor als Verfasser des Textes, und der Leser als Adressat und „Entschlüssler“, gleichermaßen an der erfolgreichen Übermittlung der Textbotschaft beteiligt seien (Bažil 314–315; Tischer 199-200; Kuhlmann 320–321). In der Praxis nehmen die Verfasser der Beiträge die beiden Instanzen jedoch verschieden stark in Anspruch und setzen sie in Hinblick auf Kontext und Kontextualisierung unterschiedlich als Argumente ein. In mehreren Arbeiten wird der Autor, gesehen als empirische Produktionsinstanz, als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung deutungsrelevanter bzw. den Ausschluss nicht-deutungsrelevanter Kontexte bezeichnet, eine Funktion, die schon Aristoteles beschreibt (nach Nünlist 112–113; vgl. Tischer 187–188; Forst 173; Hintzen 243, 256; Blaschka 276, 279; Aristarch bei Nünlist 116). Seine chronologische, historische, kulturelle oder soziale Verortung ist dabei vor allem dann entscheidend, wenn es um die Bedeutung des Textes zu dessen Entstehungszeitpunkt geht. Rückt dagegen die spätere Rezeption in den Blick, wird deutlicher, dass es eher „Autorbilder“ sind, die die Rezipienten auf bestimmte Kontexte lenken und die Interpretation beeinflussen (Hintzen 247, 252; Gärtner 262). Ebenso oft sehen die Verfasser der Beiträge den Autor aber auch in einer aktiven Rolle. Er ist dann derjenige, der in seinem Text auf bestimmte kontextuelle Faktoren reagiert (Ehlen 343, 360–361; Salamon bei Tischer 188) oder gezielt Kontextbeziehungen herstellt bzw. herzustellende anzeigt (Schmitz 126; Bažil 314; Blaschka 283, 387; Kuhlmann 321– 324; 332, 337; Gärtner 262, 266; Aristarch bei Nünlist 107). Einige Male schließlich wird auch auf die „Autorpersona“ als „Kontextmarkierung“ verwiesen, auf eine im Text wahrnehmbare oder dargestellte Autorinstanz, die so gestaltet ist, dass sie auf Kontexte hinlenkt (Schmitz 129; Ehlen 341, 348–353, 360–361; Kuhlmann 321, 335; Tischer 189–193). Im Gegensatz zur Autorinstanz, die bei allen exemplarisch untersuchten antiken Texten als eine bestimmte, wenn auch unter Umständen schwer erfassbare Person vorgestellt werden kann, bleibt ihr Gegenüber, die Rezipienteninstanz, um vieles unkonkreter. Da sie genau genommen mit jeder neuen Textlektüre wechselt, sind Verallgemeinerungen und Abstraktion nötig, um sie für intersubjektiv gültige Aussagen operabel zu machen. Eine solche Verallgemeinerung liegt etwa dann vor, wenn ein „ursprünglicher“ oder „zeitgenössischer“ Leser(kreis) in Anspruch genommen wird, um Kontexte zu selektieren,

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die für die Textdeutung heranzuziehen seien. Mehrere der BeiträgerInnen arbeiten explizit mit diesem Konzept, wobei sie zuweilen die relevanten Lesergruppen noch weiter eingrenzen, etwa auf den „männlichen Leser der römischen Oberschicht“ (Kuhlmann 324; vgl. Blaschka 282, 291; Ehlen 344; Schmitz 125). Eine ähnliche Funktion, nämlich „to add context“, kann aber auch eine vom Text vorgegebene Leserfigur erfüllen, wie Christopher Whitton (141) anhand der Adressaten der plinianischen Briefe oder Thomas A. Schmitz (131–132) für die als „anti-reader“ konzipierten Telchinen in den Aitia des Kallimachos zeigen. Als Fixpunkt für Kontexte ermöglicht es das Konzept des „zeitgenössischen Lesers“, Anachronismen auszuschließen (Blaschka 291) und einen Erwartungshorizont zu beschreiben, auf den hin der Text konzipiert sei (Kuhlmann 320–321, 325; Gärtner 265–266; Schmitz 120–121, 124, 134). Die Leserinstanz begegnet in den Beiträgen aber noch in einer zweiten Funktion, in der sie weniger als Verallgemeinerung denn als abstraktes Prinzip der Sinnherstellung erscheint. Aus dieser Perspektive ist der Leser derjenige, der Kontextbeziehungen herstellt, der die semantischen Angebote des Textes zur Kontextualisierung nutzt oder verfehlt und von dem die Deutung des Textes abhängig ist (Bažil 300, 314; Blaschka 277; Tischer 194–195; Gärtner 267; Plutarch bei Nünlist 107–108). Die als „der Leser“ apostrophierte Figur trägt dann Züge des idealen Lesers, auch wenn sie bisweilen spezifiziert wird (z. B. „der kundige Leser“, Blaschka 288; „der antike Leser“, Gärtner 265; „der zeitgenössische Leser“, Schmitz 125; vgl. Tischer 191, 195; Kuhlmann 328). Ein solcherart abstrakt gefasster Leser, der Kontexte sucht, findet und mit ihrer Hilfe dem Text Sinn verleiht, ist eine quasi zeitlose Instanz, mit der sich ein „aktueller“ Leser leicht identifizieren kann, eine Gefahr, vor der bereits Aristarch warnt (Nünlist 116), und die auch Peter Kuhlmann sieht, wenn er mehrfach auf die Differenz zwischen antiker und moderner Lektüre verweist (Kuhlmann 323, 331). Alle Autoren der vorliegenden Beiträge sind sich der Notwendigkeit dieser Differenzierung bewusst, was sich unter anderem in der Betonung des „zeitgenössischen Lesers“ als Relevanzkriterium für eine angemessene Interpretation ausdrückt. Dennoch scheint das gelegentlich anzutreffende „philologische Wir“, Formulierungen wie „wir als Leser“, „man als Leser“, „uns als Leser“ (Blaschka 275; Gärtner 268; Kuhlmann 331), mit denen der Interpret seine prinzipielle Übereinstimmung mit der zeitlos-allgemeingültigen Leserfigur demonstriert, letztlich eine Konsequenz aus diesem abstrakten Leserkonzept zu sein, bei dem „Kontext“ vor allem das ist, was der Interpret über den antiken Text zu ermitteln in der Lage ist.

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3.5. Fehlender Kontext und zu viel Kontext Wie aus dem bisher Gesagten deutlich wurde, sehen alle BeiträgerInnen Kontextbeziehungen prinzipiell als sinnstiftend und notwendig an: Um einen Text überhaupt verstehen zu können, sind Kontexte nötig; um ihn angemessen verstehen zu können, muss man angemessene Kontextbeziehungen herstellen. An dieser Stelle begegnen zwei Probleme, die für historisch orientierte Disziplinen besonders akut sind. Erstens nämlich schwindet mit der zeitlichen Entfernung der Texte zum Rezipienten zunehmend die Selbstverständlichkeit, mit der Kontextwissen „geteilt“ wird, was es in der Folge immer schwieriger macht, die Angemessenheit eines Bezugs zu beurteilen. Zweitens fehlen durch die Lückenhaftigkeit der Überlieferung für viele antike Lebensbereiche ausreichende Informationen, so dass immer die Möglichkeit besteht, dass potentiell relevante Kontexte außer Betracht bleiben (müssen). Diese Situation erklärt, warum „Kontext“ in den vorliegenden Beiträgen so häufig als defizitär beschrieben wird. Als ein frühes Beispiel für diese Klage könnte man etwa die von Thomas A. Schmitz (120) angeführte Bemerkung Platons nennen, der schriftliche Texte als „hilflos“ bezeichnete, weil ihnen ihr „Vater“, der Autor, fehle – und damit eine wichtige Kontextualisierungshilfe, wie zu ergänzen wäre. Thomas A. Schmitz selbst erwähnt das schmerzliche „desire to understand“, das durch die Unzugänglichkeit von Kontexten entstehe (119), Alexandra Forst untersucht das „Bedürfnis“ der Rezipienten nach kontextueller Einbettung (Forst 162), und immer wieder wird notiert, dass auch der untersuchte Text nach Kontexten „verlange“, ihrer „bedürfe“ oder sie „benötige“ (Hintzen 235; Gärtner 260; Whitton 150), dass als notwendig empfundene Kontexte aber fehlten. Die philologische Tätigkeit, mit der man auf vermisste Kontexte reagiert, beschreiben die BeiträgerInnen gelegentlich als ein Suchen und Finden (Tischer 181), häufiger aber noch wird fehlender Kontext „rekonstruiert“ oder „gebildet“ (Ehlen 343–344; Nünlist 103; Forst 164, 175–176; Gärtner 260; Blaschka 281). Andererseits aber ist Kontextmangel kein Problem, das nur den zeitlich entfernten Rezipienten betrifft, sondern kann auch bereits im Text selbst angelegt sein und dort geradezu zur Textstrategie werden. So rechnet Ursula Gärtner (266–268) mit dem gezielten Vorenthalten kontextueller Informationen, Peter Kuhlmann (325–326, 335–337) sieht Leserlenkung durch dosierte Erweiterung des Bezuges, und Thomas A. Schmitz deutet die Musenfiguren in den Aitia des Kallimachos als Versuch, fehlenden situativen Kontext in den Text zu verlagern (133–134).

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Entsprechend der Annahme, dass Text(stelle) und Kontext zueinander „passen“ müssen, bieten sich zwei Suchwege an, um unklare oder behinderte Kontextbeziehungen interpretativ zu „reparieren“. Einer davon ist „close reading“, die sorgfältige Prüfung des zu interpretierenden Textes auf kontextuelle Anschlussstellen, Irritationen oder Auffälligkeiten, die sich dadurch als Kontexthinweise offenbaren, dass sie durch die Hinzunahme dieser oder jener Information plausibler erklärt werden können. Diesen methodischen Ansatz betonen u. a. Ursula Gärtner, Thomas A. Schmitz, Peter Kuhlmann, Alexandra Forst und Ute Tischer; Vorläufer hat er in den Problemata des Aristoteles und bei den alexandrinischen Kommentatoren (vgl. Nünlist 114). Der zweite Weg besteht darin, bekannte oder mögliche Kontexte auf interpretative Passgenauigkeit zu prüfen und bisher nicht gesehene Kontextbeziehungen aufzudecken, ein Interesse, das u. a. in den Beiträgen von Martin Bažil, Karen Blaschka, Oliver Ehlen, Alexandra Trachsel und Beate Hintzen im Vordergrund steht. Vor allem aus dieser Perspektive kann die Suche nach Kontext, der Versuch „to bridge the gap“ (Whitton 137), paradoxerweise in einen Überschuss an Kontext münden, dem durch Selektion beizukommen ist (vgl. Whitton 154–155, Hintzen 236), die „falsche“ Kontexte bestimmt und eliminiert (vgl. u. a. Gärtner; Hintzen; Forst). Das kann methodisch durch „Dekontextualisierung“, verstanden als streng textimmanente Lektüre geschehen (Hintzen 249–251), oder aber indem man sich auf die oben bereits beschriebenen Selektionskriterien wie Plausibilität, Effektivität, Kohärenz oder Evidenz beruft.

3.6. Umkontextualisierung Eine Thematik, die in den vorliegenden Beiträgen auffällig oft behandelt wird, begegnet unter den Schlagworten „Neukontextualisierung“, „Rekontextualisierung“ oder „Kontextwechsel“. Martin Bažil (297) beschreibt dieses Phänomen als Wiederverwendung: Ein sprachliches Element durchlaufe verschiedene „Verwendungsbereiche“, die an ihm „Spuren“ in Form „semantischer Belastungen“ hinterlassen. Der betreffende Text oder das Textstück ist dadurch mehrdimensional zu kontextualisieren, er „importiert“ oder „transportiert“ zusätzlichen Kontext, „holt“ mehrere Kontexte „herein“ oder „trägt“ sie „mit sich“ (Blaschka 276; Gärtner 259, 261; Tischer 185), mit dem Effekt, dass sie gemeinsam für die Sinnbildung oder Interpretation wirksam werden. Das kann, wie im Beitrag von Peter Kuhlmann, die Aktivierung paralleler kultureller „Schemata“ sein, die durch bestimmte Begriffe „evoziert“ werden und jeweils unterschiedliche Bedeutungen zulassen (vgl. Kuhlmann 320). In den meisten Fällen handelt es sich

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jedoch um Zitate, Allusionen und andere intertextuelle Bezüge und damit konkret um „Textkontexte“, die zusammenwirken (vgl. u. a. Bažil; Trachsel; Tischer; Blaschka; Gärtner; Hintzen; Whitton). Das Charakteristische an diesen Textbeziehungen wird dann als Übergang von einem (früheren, ursprünglichen, nicht-manifesten) zum anderen (neuen, aktuellen) Kontext beschrieben. Man geht davon aus, dass der Kontextwechsel, dem die Textstelle ausgesetzt war, im „neuen“ Kontext wahrnehmbar ist (Blaschka 276, 291; Ehlen 343; Trachsel 205), ja dass der Text den Rezipienten „reizt“ und „auffordert“, die Beziehung zum „früheren“ Kontext herzustellen (Gärtner 259, 267, vgl. Bažil 297). „Neukontextualisierung“ als Textstrategie fügt dem aktuellen Text damit zusätzliche Sinndimensionen hinzu oder macht seine Argumentation effektiver (Bažil; Gärtner; Blaschka 291; Kuhlmann 321). Aus einer anderen philologischen Perspektive stellt sie sich dagegen eher als Problem dar, nämlich dann, wenn der „neue“ Kontext den einzigen Zugang zum verlorenen „ursprünglichen“ Kontext bildet. Für BearbeiterInnen einer Fragmentedition etwa markieren die Indizien, die auf den früheren Kontext verweisen, und die Schlussverfahren, zu denen sie den Leser anregen, den Weg, auf dem er die erfolgte Neukontextualisierung möglichst rückgängig zu machen sucht (vgl. Trachsel).

3.7. Fazit und Ausblick Kontext kann fehlen, falsch sein und sogar vergessen werden, wenn er allzu selbstverständlich und unproblematisch daherkommt. „Kontextlosigkeit“ aber gibt es höchstens als hypothetischen Zustand (vgl. Bažil 300), und jede (philologische) Kontextualisierung ist, wie Christopher Whitton bemerkt, eigentlich „recontextualisation“ (Whitton 139; vgl. Schmitz 119 nach Most), ein „Wieder-Finden“ der „eigentlichen“, „richtigen“ und „nötigen“ Kontextbeziehungen. Als ebenso allgegenwärtig erweist sich jedoch auch der Kontextbegriff selbst. Die AutorInnen der Beiträge setzen ihn als flexible Metapher ein, die Beziehungsgeflechte und semantische Operationen veranschaulicht, zugleich aber auch die Differenzierungen ermöglicht, die solche Beziehungen und Operationen beschreibbar, nachvollziehbar und plausibel machen. Dieses Tun profitiert von präziser Terminologie, definitorischer Abgrenzung und einem disziplinierten Umgang mit den verschiedenen Ableitungen des Wortfeldes „Kontext“. Die folgenden Untersuchungen zeigen, dass es sich lohnt, mit diesem Bewusstsein über die interpretatorische Metapher des „Kontextes“ und ihr Erklärungspotenzial für antike Texte nachzudenken.

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Literatur zwischen kulturellem Dokument, Ereignis und Agent – Möglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher Text-Kontext-Modelle Birgit Neumann / Sonja Frenzel (Düsseldorf)

Abstract Since the 1980s, the relationships between texts and their contexts have sparked extensive debates in the domain of literary studies. Departing from the text-immanent analyses of New Criticism, new approaches – such as New Historicism or Foucauldian discourse analysis and its multiple repercussions – have studied texts in their cultural contexts, i.e. in the historical, political, and socio-cultural circumstances of their production and reception. Accordingly, literary texts cannot be seen any more as straightforward representations, but they are recognised in their singular world-making capacities. And yet, it is also the aesthetic singularity of literature (Attridge) that leaves more than ample room for alternative worlds to be imagined, thriving simultaneously on the poetic originality of writing and on the affective potentiality of reading. Literature thus bears a unique material agency, through which it enters into dynamic entanglements with other human and nonhuman agencies. This contribution provides a detailed survey of the most pertinent text-context models in contemporary scholarship and critically assesses their central arguments. Ultimately, it derives further impulses for the ongoing re-conceptualisation of text-context relations as well as for a posthumanist re-thinking of literary studies that acknowledges any scholar’s radical involvement in the dynamic co-emergence of texts and contexts.

1. „Zauberformel Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft“1 – Texte und Kontexte Die Debatte um die Konzeptualisierung des Text-Kontext-Verhältnisses hält die Literaturwissenschaften schon seit geraumer Zeit in ihrem Bann; Wilfried Barner erklärte sie gar zu einer der „ewigen Debatten“ des Faches: Wie das je Besondere des einzelnen literarischen Textes mit dem Überindividuellen der sozialen Strukturen (…) ‚vermittelt‘ sei, auch mit den jeweiligen Kulturen, ist eine der ‚ewigen Debatten‘ der Literaturwissenschaft.2 1 2

Engel et al. (2001) 1. Barner (1997) 4. Vgl. auch Böhme (1998) und Lauer (2002).

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Diese Diskussion entspinnt sich insbesondere um die Frage, was überhaupt als Kontext bzw. als relevanter Kontext gilt. Der Kontext der Literatur bezeichnet nämlich zunächst einmal, ganz allgemein, die „Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge“;3 darin eingeschlossen sind auch die Relationen einzelner textueller Elemente zueinander sowie zu der Gesamtstruktur des Textes, die singulären Phänomenen erst ihre bestimmte Bedeutung verleihen.4 Das Interesse an diesen sogenannten „intratextuellen“ und „infratextuellen“ Kontexten liegt vor allem textzentrierten Ansätzen – genannt sei hier der New Criticism – konstitutiv zugrunde.5 Ihnen geht es primär um eine textimmanente Analyse des Symbolsystems Literatur, das als mehr oder weniger autonomes und in sich geschlossenes Kunstwerk verstanden wird. Literarizität gilt dabei als singuläre Struktur, eine irreduzible Partikularität, die sich referenziell ausgerichteten Rückverankerungen in übergeordnete, kulturelle Makrostrukturen widersetzt bzw. immer schon über sie hinausschießt.6 Diese Ansätze negieren nicht grundsätzlich die sozio-kulturelle Prägung und Prägkraft von Literatur; sie erachten diese allerdings als sekundär, da sie das Besondere, die Differenzqualität bzw. ‚Singularität von Literatur‘7, nicht hinlänglich zu erfassen vermag. Kulturwissenschaftlich und kulturtheoretisch ausgerichtete Text-KontextModelle hingegen überschreiten diese textimmanente Betrachtungsweise des Symbolsystems Literatur zugunsten einer Fokussierung des Zusammenspiels von textuellen Besonderheiten und extratextuellen bzw. kulturellen Strukturen. Im Zentrum steht der theoretische und methodische Anspruch, die Partikularität des Textes in einen plausiblen und aussagekräftigen Bezug zu extratextuel-

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Danneberg (2000) 333. Vgl. Müller (2003) 347. Textzentrierte Ansätze verstehen den Kontext des einzelnen literarischen Werkes textimmanent und das einzelne Werk als mehr oder weniger autonomes, in sich geschlossenes Symbolsystem: Die einzelnen Ausschnitte eines Textes bilden den Kontext für andere Ausschnitte desselben Textes. Diesen Ansätzen geht es folglich vor allem um die Erforschung eines „intratextuellen“ bzw. „infratextuellen“ Kontextes: Während ersterer „die Beziehung eines Teiles eines Textes zu anderen Ausschnitten desselben Textes“ (Danneberg 2000, 333) beschreibt, bezeichnet der infratextuelle Kontext „die Beziehung eines Textes oder eines Textabschnittes zum Textganzen“ (Danneberg 2000, 334). Vgl. Fohrmann/Müller (1988) 13 und Baßler (2003) 134; Neumann (2006a, 2006b). Einige Teile dieses Beitrags basieren auf früheren veröffentlichten Artikeln von Neumann (2006a, 2006b) sowie Neumann/Nünning (2006). Vgl. Attridge (2004).

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len Konstellationen zu stellen und damit auch Funktionsweisen des Sozialsystems im kulturellen Geflecht heterogener Diskurse und Praktiken zu beleuchten. Dieser Relationierung, so die grundlegende Prämisse kontextueller Ansätze, eignet ein heuristisches Potenzial, denn sie verspricht, die literarischen Besonderheiten eines Textes mit besonderem Augenmerk auf die formative Prävalenz bestimmter historischer und soziokultureller Entstehungs- bzw. Ermöglichungsbedingungen zu erklären. Dabei kann es, zum Beispiel, um vorherrschende Vorstellungen von Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Emotion, um Konzepte von Körper und Sexualität, um historische Machtrelationen und Bedingungen sozio-politischer Konstellationen gehen, aber auch um den Literaturmarkt und die Ökonomisierung des Literarischen. Diese soziokulturellen, überindividuellen Phänomene werden als ein den Text (und seine/n Autor/in) umgebender Kontext verstanden, der sich unweigerlich und oftmals unbemerkt in den literarischen Text einschreibt und diesem eine spezifische Prägung verleiht. Bei aller Spezifik ist diese Prägung aber doch zugleich als repräsentativ für übergeordnete soziokulturelle Konstellationen anzusehen. Sie lässt sich, so die Prämisse, in vergleichbarer Form auch in anderen – literarischen und nicht-literarischen – Texten finden. Zumindest funktionsgeschichtlichen Ansätzen geht es bei den angestrebten Relationierungen von Text und Kontext auch um die Frage, wie der Text umgekehrt auf den Kontext, d. h. auf verschiedene soziokulturelle Diskurse, Konzepte und Praktiken, zurückwirkt, sie bestätigt, erweitert oder gegebenenfalls kritisiert und unterläuft. Kurzum: Die kulturelle Rückverankerung literarischer Phänomene verspricht also Einblick in die „spezifische Stellung und Funktionsweise“ literarischer Texte innerhalb „historisch und sozial bestimmte[r] Bedingungsgefüge (…), die im Rahmen der kulturund sozialwissenschaftlichen Großtheorien neu erschließbar werden.“8 Die Attraktivität literaturwissenschaftlicher Kontextbildungen liegt auf der Hand. Immerhin erlauben es Text-Kontext-Modelle – vom New Historicism über die Foucaultsche Diskursanalyse bis hin zu mediengeschichtlichen Zugängen – literarische Texte zu historischen Wissensformationen, lebensweltlichen Ordnungsmodellen und soziokulturellen Herausforderungslagen in Beziehung zu setzen und – mehr noch – diese kulturellen Kategorisierungen selbst auf ihre symbolische Verfasstheit hin zu untersuchen.9 Nicht ohne Enthusiasmus konstatiert Oliver Jahraus: 8 9

Lüdeke (2010) 361. Vgl. Lüdeke (2010) 361.

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Birgit Neumann / Sonja Frenzel Literaturtheorie kann nämlich aufzeigen, dass das, was für die Kultur im Allgemeinen gilt, den literarischen Text paradigmatisch konstituiert, nämlich spezifische Formen der Textgenese, der Bedeutungserzeugung, der Zeichenproduktion und der Formierung von Textualität. Demzufolge findet die Textualität der Kultur im literarischen Text ihren paradigmatischen Ausdruck!10

Der literarische Text wird seiner ästhetischen Autonomie enthoben – und damit zugleich von seinem Nischendasein befreit und mit jener gesellschaftlichen Relevanz versehen, die ihm (außerhalb der Literaturwissenschaften) zumeist aberkannt wird. Der symbolische Zugewinn, den eine kulturhistorische und kulturtheoretische Rahmung literarischer Figurationen für die Literatur- und Kulturwissenschaft innerhalb disziplinärer, aber auch gesellschaftlicher Hierarchien mit sich bringt, scheint in der Tat beträchtlich. Bei allen Verheißungen auf disziplinäres Innovations- und gesellschaftliches Legitimationspotenzial aber bringen Text-Kontext-Modellierungen einige – mittlerweile vielfach und intensiv diskutierte – methodische Herausforderungen mit sich.11 Diese betreffen etwa die Konstruktion eines relevanten Kontextes, der einerseits Repräsentativität beansprucht und der andererseits der Singularität der Literatur, ihrem ästhetischen Eigensinn, Genüge tun kann. Letztlich bleibt die Text-Kontext-Unterscheidung auch angesichts des Bedeutungsüberschusses von Literatur kontingent;12 da diese Unterscheidung „stets auch anders hätte vorgenommen werden können“,13 ist die in der Interpretation generierte Bedeutung als stets nur vorläufiges „Produkt einer Text/KontextKombination“ zu verstehen, „die eine bestimmte ‚differentielle Konstellation’ etabliert und darauf ihre interpretatorische Praxis aufbaut“.14 Vielleicht haben Lüdeke, Wiefarn und Krause in der Tat Recht, wenn sie deklarieren, dass die Bestimmung von „legitimen und illegitimen Kontextualisierungen“ gerade „das Besondere der literarischen Diskursform“ verfehlt15 – und dies allein schon deshalb, weil literarische Texte angesichts der für sie charakteristischen

10 11

12 13 14 15

Jahraus (2007) 39. Vgl. stellvertretend für zahlreiche andere de Berg (1991); Koschorke (1999); Engel (2001); Nünning/Sommer (2004); Baßler (2003); Baßler (2005); Neumann/Nünning (2006); Neumann (2006a); Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008); Scheiding/Obenland/Spahr (2011); Kunow/Mussil (2013). Vgl. Rorty (1989); Greenblatt (1989). Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008) 19. Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008) 19. Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008) 26.

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Ambivalenz, Offenheit und Entpragmatisierung nach multiplen, durchaus auch konfliktreichen Kontextualisierungen verlangen. Diese Herausforderungen betreffen aber auch theoretische Prämissen über Verfasstheit und Funktionsweisen literarischer Prägnanzbildungen, die es explizit zu machen gilt. Zur Diskussion stehen insbesondere die Literarizität und das kulturwissenschaftlich zugrunde gelegte Verständnis von Literatur als ein Medium der Repräsentation. Vereinfacht gesprochen ist es dieses Verständnis, das überhaupt die Trennbarkeit von Text und Kontext ermöglicht, denn es impliziert eine ontologisch begründbare Vorgängigkeit soziokultureller Phänomene, die gleichsam als stabilisierender Hintergrund gedacht werden, der die Dynamik des Textes zumindest kurzfristig zum Stillstand bringt. Erst die Annahme und Konstitution mehr oder weniger stabiler Rahmenbedingungen eröffnet die Möglichkeit, einen literarischen Text in einem bestimmten Kontext zu verorten Aus diesen operativ-methodischen Herausforderungen und theoretischen Prämissen ergeben sich einige Zielsetzungen des Beitrags: Er möchte zunächst knapp zentrale kulturwissenschaftlich ausgerichtete Text-Kontext-Modelle konturieren, ihre Hypothesen und Zielsetzungen diskutieren und in einem nächsten Schritt Impulse für eine Neukonzeptualisierung der Text-KontextRelationen vorstellen.

2. Kulturgeschichten, kulturelles Wissen und Literatur: Text-Kontext-Modelle Eine der einflussreichsten Text-Kontext-Modellierungen mit kulturhistorischem Schwerpunkt bildet der New Historicism, der die Prämissen kontextueller Ansätze in vielerlei Hinsicht paradigmatisch illustriert. Seine VertreterInnen fordern, auch als Reaktion auf die Textimmanenz des New Criticism, „das interpretative Netz weiträumiger auszuwerfen“.16 Es gelte, die Ideen der Autonomie des Textes und der Trennung von Literatur, Geschichte und Gesellschaft zu überwinden und stattdessen deren Verbindungen zu fokussieren, also Literatur auf der einen Seite und Geschichte, kulturelles Wissen, Politik, Institutionen und soziale Praktiken auf der anderen auf ihre reziproken Kon-

16

Vgl. Gallagher/Greenblatt (2000) 13.

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stituierungsverhältnisse hin zu untersuchen. Die Untersuchung dieser Verbindungslinien, die, so Greenblatt (1989), zentraler Teil einer poetics of culture sind, solle den Nachweis erbringen, dass etliche, scheinbar spezifisch literarische Phänomene sich nicht nur in einem bestimmten literarischen Text, sondern auch in anderen, letztlich textuell fundierten und semiotisch modellierten Bereichen der Kultur finden lassen. Die Metapher von Kultur als Text beschreibt diese Vergleichsmomente;17 zugespitzt finden sie in Louise Montroses Chiasmus von der Historizität der Texte und der Textualität der Geschichte ihren Ausdruck („the historicity of texts and the textuality of history“).18 Zugrunde gelegt ist die Annahme, dass literarische Figurationen und ästhetische Prägnanzbildungen auch Ergebnis ihrer Verwebungen, Interaktionen und Austauschprozesse mit kulturellen Entstehungskontexten sind. Ermöglicht werden diese wechselseitigen Tausch- und Transferprozesse, so Greenblatt, vor allem durch die „Zirkulation sozialer Energie“,19 die dafür sorgt, dass sich kulturelle Sinnstiftungspraktiken wechselseitig konstituieren, stabilisieren und weiter ausdifferenzieren.20 Der kulturelle Kontext – wie immer er gefasst und methodisch eingeholt wird – gilt damit als formativ auch für den literarischen Text; umgekehrt kann Literatur kraft ihrer sozialen Energie auch auf andere kulturelle Figurationen einwirken. Anders gesagt: Literarische Texte sind immer kulturell präfiguriert und können angemessen nur durch ihre Kontextualisierung in kulturellen Bedingungsgefügen verstanden werden. Zugleich erlauben literarische Texte einen besonderen Blick auf ihre Kon- bzw. Ko-texte und stehen damit als Reservoir kulturhistorischer Konstellationen zur Verfügung. Zwei operative Leitkonzepte, die etlichen kontextorientierten Ansätzen in der einen oder anderen Variante zugrunde liegen, sind die des kulturellen Wissens und der Intertextualität. Beide Begriffe wurden innerhalb der Forschung intensiv und bisweilen kontrovers diskutiert.21 Insbesondere die Foucaultsche Diskursanalyse macht die Ermöglichungsbedingungen und Effekte des kultu17 18 19 20

21

Vgl. Bachmann-Medick (1996); Lenk (1996). Montrose (1986) 8. Vgl. Greenblatt (1998) 6. Die Prämissen und methodischen Probleme des New Historicism, insbesondere seine etwas vage, allzu metaphorische Terminologie, wurden vielfach diskutiert und analysiert (siehe etwa Baßler 2003). Vgl. Richter/Schönert/Titzmann (1997). Ein Überblick findet sich z. B. in Neumann (2006a) sowie Neumann/Nünning (2006).

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rellen Wissens im Rahmen einer „Archäologie des Wissens“22 zum zentralen Thema und untersucht die historisch variablen Bedingungen, die überhaupt die Produktion und Zirkulation dessen, was als Wissen bezeichnet und anerkannt wird, bestimmen. Die Produktion von Wissen wird dabei nicht nur den Wissenschaften zugeschlagen; vielmehr wird Wissen in einem heterogenen und mehrsinnigen Komplex von Medien, Diskursen, Praktiken, Prozeduren und Institutionen verortet und an Machtrelationen gekoppelt,23 die insbesondere in Ausschließungsprozeduren, in der Marginalisierung, Tabuisierung und Invisibilisierung bestimmter Wissens- und Erfahrungsbereiche wirksam werden. Diese Ausweitung bedeutet auch, dass kulturelles Wissen nicht nur wissenschaftliches Spezialwissen mit entsprechendem Objektivitätsanspruch umfasst, sondern auch historisch und kulturell variable Aussageordnungen, die im Zusammenspiel verschiedener Wissenschaften, aber auch unterschiedlicher Alltagspraktiken und kultureller Medien entstehen. „Kulturelles Wissen“, so fasst Michael Titzmann unter Rekurs auf die Diskursanalyse prägnant zusammen, bezeichnet die Gesamtmenge der Propositionen, die die Mitglieder der Kultur für wahr halten bzw. die eine hinreichende Anzahl von Texten der Kultur als wahr setzt; jede solche Proposition ist ein Wissenselement; die systematisch geordnete Menge der Wissenselemente ist das Wissenssystem.24

Kulturelles Wissen erhebt damit keinen wie auch immer gearteten Wahrheitsoder Objektivitätsanspruch und lässt sich daher auch nicht auf Wissenschaften beschränken. Auch solche Annahmen, „von denen wir zu wissen glauben, daß sie falsch sind“,25 die aber dennoch, häufig auch unbewusst, Einfluss nehmen auf vorherrschende Wirklichkeitsdeutungen und gesellschaftliche Sinnstiftungen, zählen zum kulturellen Wissen einer Zeit. Mehr denn durch objektiven Anspruch zeichnet sich kulturelles Wissen durch einen normativen Anspruch aus, nämlich durch den Anspruch, Vorstellungen einer sozial geteilten Realität zu prägen bzw. diese sozial geteilte Realität überhaupt erst möglich zu machen, indem es durch stabilisierende Wiederholung Vorstellungen von Normalität modelliert und Grenzen für Sagbares und Nicht-Sagbares absteckt. Die Objek-

22 23 24 25

Foucault (1973). Vgl. Vogl (1999) 11; Schneider (2003); Neumeyer (2004). Titzmann (1989) 49. Titzmann (1989) 49.

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tivität des kulturellen Wissens, so ließe sich mit Bruno Latour spezifizieren,26 entsteht durch die (natürlich auch differenzproduzierenden) Operationen der Adressierung, Wiederholung und Zirkulation bestimmter Aussagen, die sich so zu Fakten verdichten können.27 Die Objektivität des kulturellen Wissens entsteht aber auch durch Ausschließungsstrategien und Stigmatisierungsprozesse, die bestimmte Wissens- und Denkmodi verunmöglichen und partikulare Erfahrungsweisen als deviant stigmatisieren. Eben weil das formative Potenzial des kulturellen Wissens auf stabilisierenden Modi seiner Adressierung basiert, kann es monomedial nicht existieren. Vielmehr ist es radikal verstreut über heterogene kulturelle Medien und soziale Praktiken – wissenschaftliche Abhandlungen, Bilder, Installationen und Filme haben ebenso an der Produktion von Wissen teil wie fiktionale oder religiöse Texte. Insbesondere Joseph Vogl ist dabei die Einsicht zu verdanken, dass Wissenssysteme nicht nur eine inhaltliche Dimension haben, sondern auch je spezifische Poetologien und Darstellungsmodi ausbilden, die die Konfiguration von Wissen organisieren.28 Auch Literatur, so die leitende Prämisse zahlreicher kontextorientierter Ansätze, ist auf das kulturelle Wissen einer Zeit bezogen und steht demnach in einem dynamischen Bezug zu anderen kulturellen Texten, Medien und sozialen Praktiken ihrer Zeit. Geht man – etwa mit dem New Historicism und bestimmten Spielarten der Foucaultschen Diskursanalyse – davon aus, dass kulturelles Wissen vor allem in Texten und anderen Medien produziert, geformt und verbreitet wird, dann ist Intertextualität im weiten Sinne, also eingeschlossen verschiedener Formen der Intermedialität und Interdiskursivität, als primärer Austauschmodus zwischen Literatur und ihren Kon- bzw. Ko-texten zu konzipieren. Es sind intertextuelle, intermediale und interdiskursive Verfahren, die der reziproken Vernetzung kulturell zirkulierender Medien zugrunde liegen. Intertextualität stellt dabei keine bloße Wiederholung vorgängiger Strukturen dar, sondern eine rekursive, Differenz produzierende Adressierung (z. B. von Zitaten, Gattungsmustern, Plotstrukturen, Topoi, Motiven, narrativen Schemata, Tropen, etc.), die einerseits Konsolidierung, Stabilisierung und Kontinuität, anderseits aber die Transformation, Differenzierung und Pluralisierung des kul26 27 28

Latour (1996). Mit dem Kunstwort Faitiche bezeichnet Latour (1996) Konstellationen, bei denen Fakt und Fetisch untrennbar miteinander verwoben sind. Vogl (1997); Vogl (1999).

Literatur zwischen kulturellem Dokument, Ereignis und Agent

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turellen Wissens befördert.29 Für Literatur wird Intertextualität damit zu einem Verfahren, das einerseits Verbindungen und Verzahnungen mit anderen kulturellen Medien kreiert und in diesem Prozess kulturelle Äquivalenzverhältnisse produziert, in dem andererseits aber auch ihr Eigensinn begründet liegt. Grundlegend für diese operative Konzeptualisierung von Literatur ist der von Jürgen Link eingeführte Begriff des Interdiskurses,30 dem zufolge Literatur der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung des kulturellen Wissens in heterogene und plurale Spezialdiskurse durch interdiskursive Reintegration entgegenwirke. Als „elaborierter Interdiskurs“31 besteht das poietische, wissenserzeugende Potenzial von Literatur darin, dass sie prinzipiell auf die Gesamtheit dieser Spezialdiskurse zurückgreifen kann, sie ästhetisch verdichten, neukonfigurieren und dynamisieren kann. In dieser transformativen Aneignung bestehender Wissenskonfigurationen vollzieht sich, so Link, die „paradoxe Verwandlung eines Interdiskurses in einen Spezialdiskurs“,32 der produktiv auf das Wissen einer Zeit einwirkt. Dies bedeutet auch, dass das Verhältnis zwischen Literatur und Kontext als ein reziprokes und dynamisches zu denken ist: Literatur greift nicht nur auf vorhandenes Wissen zurück, sondern schafft durch Operationen der Selektion, Neukonfiguration und ästhetischen Verdichtung neues Wissen. Das Verhältnis von Text und Kontext ist demnach keines der Unterordnung, sondern eines der wechselseitigen Konstitution. Methodisch stehen kontextorientierte Ansätze demnach nicht nur vor der Herausforderung, die Relation von literarischem Werk und kulturellem Wissen – eingeschlossen dem literarischen Feld (sensu Bourdieu) – aus kulturhistorischer Perspektive je neu zu begründen. Vielmehr müssen sie auch der Tatsache gerecht werden, „daß ein Text seine Bedeutung in [einem gegebenen] Kontext aufbauen muss, was einzig möglich ist, wenn er sich innerhalb dieses Kontextes von ebenfalls vorkommenden Positionen unterscheidet“.33 Die Differenzierung von Text und Kontext wird damit zur entscheidenden Aufgabe der Interpretation, eine Aufgabe, die bereits Friedrich Schleiermacher als offenen Versuch einer unendlichen Approximation beschreibt.34 Erst die vergleichende, differenzielle

29 30 31 32 33 34

Vgl. Jäger (2006) 70. Link (1988). Link (1988) 286. Link (1988) 300–301. De Berg (1991) 202. Vgl. Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008) 8.

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Vernetzung des literarischen Textes mit anderen kulturellen Medien bewahrt kontextorientierte Ansätze vor der viel beschworenen Gefahr, den ästhetischen Eigensinn von Literatur zu negieren und die „Literatur dem Kontext“35 gleichzumachen. Dieser kontext-orientierte (und -generierende!) Vergleich verspricht Einblicke in die mehrsinnigen, auch konfliktreichen Relationen zwischen literarisch generierten Wissensfigurationen – z. B. von Gender, Alterität, Körper, Umwelt, Gesellschaft, etc. – und anderen medialen Wissenskonstruktionen. Geht man außerdem – wie von Vogl angeregt – davon aus, dass Wissensfigurationen nicht nur über bestimmte Inhalte, sondern auch über Poetologien und formale Prozeduren definiert sind, die ihrerseits epistemisches Potenzial haben, dann vollzieht sich in der – methodisch über eine Analyse intertextueller Verweisstrukturen zu erbringende – Kontextualisierung von Literatur im heterogenen Geflecht des kulturellen Wissens die Freilegung dessen, was als Differenzqualität der Literatur bezeichnet werden kann. Diese Differenzqualität manifestiert sich in dem exzessiven, eigensinnigen Rest, der sich einer Rückführung auf bereits bestehende Wissensformationen und entsprechende Repräsentationsformen, wie in verschiedenen kulturellen Medien generiert, zumindest teilweise entzieht.36 Sie markiert damit auch Unterschiede zwischen einzelnen literarischen Texten, die für die hermeneutische Praxis produktiv zu machen sind.

3. Ästhetischer Eigensinn und Singularität der Literatur: Grenzen der Repräsentations- und Kontextmodelle Wie der knappe Überblick über einige der Prämissen und Konzepte kulturhistorisch und kulturwissenschaftlich orientierter Ansätze verdeutlicht, setzt keines der Paradigmen ein statisches Verständnis des Text-Kontext-Verhältnisses voraus. Was die Ansätze vielmehr vereint, ist die zugrunde liegende Annahme, dass Literatur als eine Repräsentation von Kultur im Allgemeinen oder aber zumindest von spezifischem kulturellen Wissen verstanden und gelesen werden kann. Denn, so Oliver Jahraus, „der Übergang vom literarischen Text auf den Kontext führt zwangsweise in einen Phänomenbereich, für den grundsätzlich und nominalistisch der Kulturbegriff reserviert werden kann, was umge-

35 36

Lüdeke (2010) 362. Vgl. Barthes (1967) 61; Derrida (1972).

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kehrt dazu führt, den literarischen Text zum Dokument von Kultur und Kulturgeschichte zu machen.“37 Aber wenn es gerade der widerspenstige Rest ist, der Literatur zu mehr als nur einem „Dokument von Kultur und Kulturgeschichte“ macht und wenn es dieser Rest ist, in dem die Differenzqualität von Literatur und vielleicht sogar Besonderheiten ästhetischer Erfahrung begründet liegen, dann müssen sich Text-Kontext-Modelle zumindest Fragen nach ihrer Beschreibungsadäquatheit und ihrem Erklärungspotenzial stellen lassen: Werden Text-Kontext-Modelle den Besonderheiten von Literatur – üblicherweise verhandelt unter Schlagworten wie Autopoiesis, Polysemie, materielle Widerständigkeit, Offenheit, Bedeutungsüberschuss, agency, „Latenzbeobachtung“ und „karneveleske Subversion“38 – gerecht, wenn sie vor allem auf extratextuelle bzw. extrinsische Erklärungszusammenhänge zielen, die als stabilisierende Rahmen gesetzt werden, die dann wiederum eine repräsentationslogische Lesart von Literatur legitimieren? Auch wenn Literatur durch Kultur und kulturelles Wissen geprägt sein mag, so lässt sie sich doch nie auf präexistente Repräsentationsformen zurückführen und geht nicht in kultureller Funktionalität auf. Verschiedene jüngere literaturtheoretische Ansätze nehmen gerade diesen exzessiven Eigensinn von Literatur, ihr nicht stillzustellendes Sinn- und Affektpotenzial, zum Ausgangspunkt, um die konstitutiv unbestimmten und einander wechselseitig konstituierenden Text-Kontext-Relationen zu akzentuieren. Vor allem das Konzept der Repräsentation, auf dem die kontextuelle Verankerung von Literatur im kulturellen Wissen in den meisten Fällen basiert, ist in diesem Zusammenhang in die Kritik geraten. Repräsentation basiert auf (kreativer) Mimesis und setzt Referentialisierung voraus, also die Möglichkeit, literarische Figurationen auf eine wie auch immer theoretisch zu fassende und methodisch zu bestimmende Realität (auch von vorgängigem kulturellen Wissen) zurückzuführen oder zumindest zu dieser in einen aussagekräftigen Bezug zu setzen. Literarische Prägnanzbildungen weisen aber gleich in mehrfacher Hinsicht über diese Repräsentationslogik hinaus.39 Eine in diesem Zusammenhang viel diskutierte Besonderheit literarischer Sprache ist ihre Selbstbezüglichkeit, die vielen Bestimmungen von Literarizität zugrunde liegt. Umberto Eco etwa betont, dass die ästhetische Funktion einer Aussage gerade darin besteht, dass diese „als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) er37 38 39

Jahraus (2007) 26. Lüdeke (2010) 361–362. Vgl. O’Sullivan (2001).

42

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scheint“,40 weil sie „die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will“.41 Selbstreferenzielle Verfahren durchkreuzen, bald spielerisch, bald reflexiv, die referenzielle Funktion der Sprache. Dort, wo sich Fiktion ins Selbstreferenzielle wendet, bezieht sich Sprache in performativer Weise auf sich selbst. Sie macht sich also zum Bezeichneten und setzt damit einen offenen Prozess der Verschiebung in Gang. Literarische Sprache wird durch dieses differenzielle Spiel der Setzung und Durchkreuzung in Bewegung versetzt, sie wird dynamisiert und weist ständig über sich hinaus: Sprache „geschieht; statt über etwas eine Aussage zu machen, vollzieht sich die sprachliche Äußerung als Handlung selbst“.42 Dieser ästhetische Überschuss, den Wolfgang Iser als die Leerstelle der Mimesis bezeichnet,43 erzeugt Friktionen, „something more“ und „something other“,44 das unweigerlich über Repräsentation hinausweist und auch scheinbaren literarischen Referenzwelten ihre vorgegebene Gegenständlichkeit entzieht. Gegenständlichkeit, so Iser, wird in diesem Prozess „phantomisiert“45 und die „Rückkopplungsschleife“46 zwischen Text und Kontext wird torpediert. Prozesshaftigkeit, ästhetische Unbestimmtheit, ein unvorhersehbares Spiel dynamischer Gegenläufigkeit, Ereignishaftigkeit und Performanz treten damit an die Stelle von literarischer Struktur und Repräsentation.47 Eine weitere, vor allem von Derek Attridge thematisierte Besonderheit des Literarischen, die das Repräsentationsmodell und die kontextuelle Rückverankerung an ihre Grenzen stoßen lässt, ist die Ereignishaftigkeit und die damit verbundene Singularität der Literatur. Literatur als singuläres Ereignis gründet in offenen Akten des Lesens, genauer im responsiven Lesen; präfiguriert sind diese Akte durch den Schreibprozess, der zu allererst einen potenziell lesbaren Text hervorbringt. Attridges Verständnis der Singularität der Literatur überbrückt damit (zumindest konzeptuell, wenn auch nicht methodisch) die übliche Kluft zwischen Produktions- und Rezeptionsprozessen:

40 41

42 43 44 45 46 47

Eco (1972) 145–146. Auch Habermas (1985, 237) versteht die „eigentümliche Selbstbezüglichkeit“ der literarischen Sprache als zentrales Merkmal der Literarizität, denn gerade in ihr gründet die „welterschließende Funktion“ von Literatur. Jaeger/Willer (2000) 24. Iser (1991); Iser (1998). Attridge (2004) 5. Iser (1998) 672. Iser (1991) 486. Vgl. Neumann (2006b).

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This is what a literary work ‘is’: an act, an event, of reading, never entirely separable from the act-event (or acts-events) of writing that brought it into being as a potentially readable text.48

Was Literatur von anderen Diskursen und Figurationen unterscheide, so Attridge in The Singularity of Literature, ist ihre Fähigkeit, auch neuen, von Alterität durchzogenen Wissens-, Denk-, Wahrnehmungs- und Gefühlsweisen zur Geltung zu verhelfen, die außerhalb des durch das kulturelle Wissen abgesteckten Ermöglichungshorizontes liegen und somit an das bislang Undenkbare, Nicht-Wahrnehmbare, Unmögliche und Ausgeschlossene rühren. Literatur sei eine ‚Einladung zu Alterität‘:49 „The creative writer“, so Attridge, registers, whether consciously or unconsciously, both the possibilities offered by the accepted forms and materials of the time, and their impossibilities, the exclusions and prohibitions that have sustained but also limited them. Out of the former emerge reworkings of existing models, out of the latter emerges the otherness which makes these reworkings new works of literature.50

Imagination, kreative Originalität, sprachliche Neuschöpfungen, epistemische und affektive Latenzen sowie ästhetischer Überschuss lassen Literatur zu einem offenen, unvorhersehbaren Ereignis werden, das Neues aufscheinen lässt und habitualisierte Denkweisen durchbricht. Sie laden die LeserInnen dazu ein, immer neue, im Text angelegte Relationierungen, Kreuzungen und Verbindungslinien zu erproben, die aber nie zu einer stabilen und fixierbaren Konfiguration mit eindeutigem Aussagegehalt gerinnen.51 Die Singularität des Textes als Ereignis suspendiert die potenzielle Referentialität des literarischen Diskurses bzw. lässt diese zumindest sekundär werden. Die Existenzweise der Literatur ist daher gerade ihre Ereignishaftigkeit, die LeserInnen im Akt des responsiven Lesens auf je individuelle, nicht bewusst herbeizuführende Weise widerfährt. Aber – und dies ist für die Frage nach möglichen Kontextualisierungen relevant – auch Attridges Fokussierung der Singularität der Literatur schließt soziokulturelle Prägungen, die als regulativer Horizont eminent subjektiver Schreib- und Leseakte wirksam werden, nicht aus. Allerdings werden diese

48 49 50 51

Attridge (2004) 58. Attridge (2004) 59. Attridge (2004) 20–21. Attridge (2004) 68.

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„contingencies of the history“52 durch individuelle Aneignungen und Brechungen subjektiviert und durch soziopolitische Diskontinuitäten und Asymmetrien dynamisiert. Soziokulturelle Systeme stellen daher gerade keinen prästabilen, homogenen und kollektiv geteilten Rahmen dar, sondern wirken als subjektiv gebrochene, sich im Fluss befindliche Rahmungen. Sie überschreiten das Subjekt in Richtung auf sein eigenes Außen, d. h. sie schreiben den Einzelnen und die Einzelne in kulturelle Systeme ein, definieren sie aber nie vollständig. Attridge schlägt den Begriff der ‚Idiokultur‘ („idioculture“) vor, um diese gegenläufigen Wechselwirkungen zwischen Individuum und kulturellen Systemen zu erfassen: I shall use the term ‘idioculture’ to refer to the embodiment in a single individual of widespread cultural norms and modes of behavior. (…) Idioculture is the name for the totality of the cultural codes constituting a subject, at a given time, as an overdetermined, self-contradictory system that manifests itself materially in a host of ways.53

Die ‚Idiokultur‘ umfasst demnach subjektive, eben idiosynkratische, aber nicht zufällige, Aneignungen und Deutungen kulturell zirkulierender Normen, Wissensmodi und Verhaltensweisen, die den Einzelnen an überindividuelle Phänomene binden; diese Aneignungen sind aber in einem Maße von subjektiver Partikularität geprägt, die eine konstitutive Differenz bereits in die – als Horizonte des Schreibens und Lesens wirksamen – Kontexte selbst einführt. Attridge konzediert, dass sich kulturelle Figurationen, Modelle und Normen in die Literatur selbst einschreiben, hier aber durch ästhetische Sprache, Bedeutungsüberschuss, Alterität und Innovativität transformiert werden. Mehr noch: Die Normen der Idiokultur werden durch die Fähigkeit von Literatur, zuvor Unsagbares, kulturell Ausgeschlossenes, Potenzialitäten und Latenzen, – also das, was Attridge als Alterität bezeichnet –, zur Darstellung zu bringen, wiederum durchkreuzt und mit Differenz durchzogen. Attridges Text-Kontext-Modell macht damit nicht nur Raum für Dynamik, Offenheit und Relationalität; vielmehr hat es auch eine vielversprechende Umkehrung der analytischen und methodischen Blickrichtung zur Folge. Denn der Kontext existiert nicht als prästabile Rahmung außerhalb des Textes und lässt sich damit auch nicht in differenziellen Operationen bestimmen. Vielmehr schreibt sich der Kontext in

52 53

Attridge (2004) 59. Attrigde (2004) 22.

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subjektiv gebrochener Form in den literarischen Text, in Formsemantiken, Gattungstraditionen, Figuren, Laute, etc. ein, wird hier aber wiederum durch den endlosen Bedeutungsüberschuss der Literatur dynamisiert und pluralisiert. Anders gesagt: Literatur produziert von innen, aus sich selbst heraus, relevante Kontexte und durchkreuzt damit nachgerade die angeblich konstitutive Differenz zwischen Innen und Außen eines Textes. Diese von der Literatur kreierten und bereitgestellten Kontexte sind angesichts subjektiver Aneignung und der polyvalenten Offenheit des Literarischen notwendigerweise instabil, mehrsinnig und im Fluss. Sie evozieren daher mehrsinnige, selbstwidersprüchliche Assoziierungen (und eben nicht starre Relationierungen) mit soziokulturellen Figurationen. So fasst Attridge zusammen: Context is already there in the words – in so far as they are words and not sounds or shapes – and it is already there in my response, in so far as I respond as culturally constituted human individual and not a physiological apparatus or a sophisticated computer.54

Auch der Akt des Lesens wird damit zu einem offenen Spiel der Setzung, Dynamisierung und Durchkreuzung kultureller Normen, ein Spiel, in dem Text, LeserInnen und Kontext mehrsinnige, instabile und Differenz produzierende Relationen eingehen. Es ist diese nicht stillzustellende Eigendynamik der Literatur, ihr Potenzial, immer neue, gegenstrebige Figurationen hervorzubringen und neues, anderes Wissen zu ermöglichen, das ihre Einbettung in übergeordnete kulturelle Rahmen zwar nicht unmöglich oder gar unnötig, aber vielleicht doch weniger aussagekräftig macht, als von kontextorientierten Ansätzen unterstellt. Dass jedoch auch Attridges Ansatz einige theoretische und methodische Probleme aufwirft, liegt auf der Hand. Nicht nur lässt sich einer vornehmlich im Leseakt begründeten Singularität der Literatur methodisch schwer habhaft werden – dies zumindest dann, wenn methodisch fundierte Zugriffe mehr als den individuellen Leseakt beschreiben und auch intersubjektiv nachvollziehbare und prinzipiell replizierbare Ergebnisse liefern sollen.55 Auch führt die radikale Individualität des Leseakts zu einer nicht unerheblichen Neutrali54 55

Attridge (2004) 114. Zu Recht kritisiert Wiemann (2013, 50) auch die bisweilen tautologischen Ergebnisse, die Attridges Interpretationen generieren. So erbringen sie vor allem den Nachweis der offenen Relationierungen, die polyvalente Texte erlauben und veranschaulichen damit jene Singularität, die als konstitutives Kennzeichen von Literatur vorausgesetzt wird.

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sierung bzw. Reduktion des soziokulturellen Transformationspotenzials von Literatur. Die Bestimmung von Literatur als Produkt der Originalität und Reservoir radikaler Innovativität, Alterität und Potenzialität, die allein von einem ‚kreativen Autor‘ wahrgenommen werden, ruft nicht nur Vorstellungen eines Geniekultes auf, sondern redet auch einem normativen Literaturverständnis das Wort, das zwangsläufig zum Ausschluss einer beträchtlichen Bandbreite von Literatur führt.56

4. Literarische agency: Dynamische Vernetzungen in den New Materialisms Auch neuere Ansätze, die man unter dem Schlagwort der New Materialisms zusammenfassen kann, weisen über die Grenzen von repräsentationslogisch ausgerichteten Text-Kontext-Modellen hinaus. Diese bewusst im Plural gehaltenen Ansätze erlauben unter anderem eine neue Herangehensweise an Literatur, die insbesondere die bislang wenig beachtete Materialität literarischer Texte in den Blick nimmt. Im Wesentlichen überführen die New Materialisms vorherrschende Dichotomisierungen von Materialität bzw. Substanz einerseits und wandelbarer Bedeutung oder Immaterialität andererseits in dynamische Modelle der Interaktion. Dabei gehen sie von ko-emergenten Entstehungsprozessen aus, in denen sich Materialität in ihren wandelbaren und beständig erneuernden, ontologischen und epistemologischen Konfigurationen entfaltet. Indem dieser ko-extensive Begriff von Materialität auch das Nicht-Materielle und Diskursive umfasst, eröffnet er einen neuen Zugang zu literarischen Texten in ihren materiellen und semiotischen Singularitäten. Zudem etabliert die Annahme einer solchen geteilten, sich dynamisch entfaltenden Materialität eine relationale Ebene, auf der literarische Texte mit anderen heterogenen Entitäten innerhalb von nicht-hierarchischen Konfigurationen in Beziehung treten. Im Folgenden soll umrissen werden, inwiefern die partikulare, dynamische und ko-extensive Materialität der Literatur in solche Paradigmen verstrickt ist und inwiefern sie darin eine Bedeutungserweiterung sowohl hinsichtlich ihrer Singularität wie auch hinsichtlich ihrer Relationalität erfährt.

56

Zu weiterführenden Kritikpunkten an Attridges Modell siehe auch Wiemann (2013).

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Die Materialität literarischer Texte entsteht gleichermaßen aus den KoEmergenzen von Materie und Bedeutung. Gerade die Materialität der Schrift – sei es in der Tinte auf einer Buchseite oder, wie heute in zunehmendem Maße, in den digitalen Projektionen auf einem Bildschirm – wurde in konventionellen Text-Kontext-Modellen wenig beachtet. Und doch evoziert Schrift die vielfältigen Dimensionen visueller und haptischer, bisweilen auch akustischer Erfahrungen.Sieistzugleich„Spur“und„Handlung“,57 ihreonto-epistemologische Materialität schließt stets auch Praktiken mit ein. So lässt sich mit Rüdiger Campe argumentieren, dass Schrift in einer „Schreibszene“58 entsteht, in einem „nicht-stabile[n] Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“.59 Lesen wir also einen literarischen Text, so ist dessen sprachliche Verfasstheit ebenso ein Produkt seines semiotischen Bedeutungspotenzials wie einer körperlich-materiellen Geste der Schreibbewegung, die sich wiederum eines materiellen Hilfsmittels wie eines Stifts oder einer Computertastatur bedient. Zum einen zeigt sich in diesem offenen Zusammenspiel die Singularität literarischer Texte mit Blick auf ihre Signifikationspotenziale; zum anderen erlaubt es die Schreibszene immer auch konzeptuelle Brücken zu Materialitäten und ihren Materialisierungsprozessen zu schlagen. Die Schreibszene bringt demnach die Materialität der Körper, Schreibwerkzeuge, Bewegung und Signifikationsprozesse in ein dynamisches und mehrsinniges Zusammenspiel: Mit ‚Schreiben‘ ist oft eine Bewegung gemeint, die die Grenze der Unterscheidungen in Richtung auf den Körper oder auf Materialität überquert. ‚Die Schreibszene‘ kann einen Vorgang bezeichnen, in dem Körper sprachlich signiert werden oder Gerätschaften am Sinn, zu dem sie sich instrumental verhalten, mitwirken.60

Zugleich hat Literatur diese singuläre Materialität mit anderen sie umgebenden Entitäten gemeinsam und ist überdies in pluralen Konfigurationen mit ihnen verbunden. An der Schreibszene haben unterschiedliche Materialitäten Teil, die in temporären Konfigurationen verwoben sind und die sich wechselseitig hervorbringen. Dazu gehören – wie Hermann Doetsch (2015) anschaulich aufzeigt – die sich historisch entfaltende Kulturtechnik der Schrift bzw. des

57 58 59 60

Vgl. Doetsch (2015) 73. Vgl. Campe (2012). Campe (2012) 271. Campe (2012) 270.

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Schreibens, das (kulturelle) Wissen um diese Verschriftlichung und ihre vielfältigen Deutungsmöglichkeiten, die Speicherung und Prozessierung dieses Wissens, ebenso wie die rekursive Fähigkeit, „die wirkliche Welt mit Alternativen ihrer selbst zu konfrontieren“.61 Indem Ontologien und Epistemologien, Welthaftigkeit und Vorstellungskraft, ebenso wie Materialität und Praktik in wechselseitige Beziehungen zueinander treten, ist die Schreibszene eng mit den Produktionsprozessen des Schreibaktes wie auch mit den Verstehensprozessen des Leseaktes verwoben.62 So könnte man sagen, dass die Schreibszene die oben skizzierte ‚idioculture‘63 in ihren materiellen Dimensionen erfasst: Wenn Attridge vom ‚embodiment‘ kulturellen Wissens und kultureller Normen spricht,64 scheint dies nicht nur in Materialität und Praktik der Schreibszene auf, sondern lässt sich insbesondere und auf produktive Weise auf die prozessualen und relationalen Materialisierungsprozesse literarischer Texte ausweiten. So vollziehen sich diese Materialisierungsprozesse – je nach Terminologie der theoretischen Herangehensweise – stets auch als dynamische Verstrickungen entlang eines Natur-Kultur-Kontinuums,65 innerhalb von materiell-semiotischen Netzwerken66 oder als relationale Onto-Epistemologien. Allgemeiner gesagt sind literarische Texte damit als eigenständige Materialitäten in wechselseitigen Beziehungen mit anderen, menschlichen und nichtmenschlichen Materialitäten verknüpft. Indem diese Konfigurationen eine Vielzahl heterogener Entitäten einschließen, gehen sie über Kultur und kulturelles Wissen hinaus. Vielmehr heben sie insbesondere auf die Verstrickungen literarischer Texte mit ihren materiellen Umwelten ab. Der Umweltbegriff fand zunächst über die Kulturökologie67 Eingang in den deutschen Wissenschaftsdiskurs. Während dieser Ansatz zwar die Kontextualisierungen der Literatur von Kultur und kulturellem Wissen auf Natur ausdehnt, bleiben seine Prämissen dennoch in einem dualistischen Verständnis von Welt und Text ebenso wie von Materialität und Diskursivität verhaftet. So

61 62 63 64 65 66 67

Doetsch (2015) 82. Vgl. hierzu auch Doetsch (2015); Borsò (2012). Vgl. Attridge (2004). Vgl. Attridge (2004) 24. Vgl. Braidotti (2013). Vgl. Barad (2007). Vgl. Finke (2003); Zapf (2002); Zapf (2008).

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kann eine statische, den Menschen einfach umgebende Natur in wandelbare kulturelle Repräsentationen überführt und dargestellt werden. Im Gegensatz dazu postulieren die New Materialisms ein dynamisches Natur-Kultur-Kontinuum, das Umwelten in ihren ko-emergenten Prozessdynamiken und in ihren offenen, mehrsinnigen Pluralitäten zu denken ermöglicht.68 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist auch Literatur in ihrer idiokulturellen und idiosynkratischen Materialität und in ihrer partikularen Handlungskraft in diese Konfigurationen eingebunden. So birgt die hier vorgestellte Dynamisierung von Materialität als ko-emergentem Entstehungsprozess eine Annahme von Handlungskraft in sich, die in einem besonderen Verhältnis zu Literatur und Literarizität steht: Zunächst eröffnen sich in andauernden und offenen Materialisierungen unterschiedliche Potenzialitäten von literarischer agency, die im oben ausgeführten Zusammenspiel der Schreibszene, also in Konfigurationen von Materie, Bedeutung und Praktik, realisiert werden.69 Anders gesagt: In und durch diese Interaktion wird eine Handlungskraft, eine agency, freigesetzt, die sich nicht auf vorgegebene Strukturen zurückführen lässt und die fixe, auf Geschlossenheit angelegte Repräsentationen beständig überschreitet. VertreterInnen der New Materialisms begreifen diese agency70 als „intra-action“71 von Ontologien und Epistemologien oder auch als „onto-tale“72 und „storied matter“ und lenken damit den Blick auf die Verschränkungen von Materie bzw. Körper auf der einen Seite und Wissensordnungen, Diskursivität und Narrativität auf der an68 69 70

71 72 73

Vgl. Stengers (2005). Vgl. Barad (2007) 141. Die im Text angeführten Begriffe greifen die in den New Materialisms derzeit geläufigsten Konzeptualisierungen von agency auf: Der Begriff der intra-action hebt insbesondere auf die Annahme der Gleichzeitigkeit und der damit einhergehenden Untrennbarkeit von ontologischen und epistemologischen Entstehungsprozessen ab, die gerade nicht als Verhältnis zwischen voneinander unabhängigen Dynamiken gesehen werden können, sondern gleichermaßen in Materialisierungsprozesse verwickelt sind. Während in diesem Ansatz eine ko-emergente Handlungskraft im Vordergrund steht, nehmen die Konzepte der onto-tale und der storied matter verstärkt die handlungsfähigen Ko-Emergenzen von Materie und Bedeutung in den Blick. Indem sich die beiden letzteren an eine erzähltheoretische Terminologie anlehnen, sollen sie im Folgenden näher auf ihren Mehrwert für Text-Kontext-Modelle hin dargestellt werden. Vgl. Barad (2007) 74. Vgl. Bennett (2010) 117–118. Vgl. Iovino (2012) 58.

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deren.73 Die implizite Anlehnung an Erzähltheorien der letzteren beiden Konzepte und die damit einhergehende Narrativisierung von Materialität liefern einen wichtigen Anknüpfungspunkt an die Literatur- und Kulturwissenschaften. So zielen sie darauf ab, die materiell-semiotischen Entstehungsprozesse ko-emergenter Materialitäten als Geschichte (tale/story)74 mit je eigenen Signifikationspotenzialen zu begreifen. Jedoch sei hier kritisch angemerkt, dass die zugrunde gelegten Spezifitäten des story-telling eine anthropomorphisierende Engführung mit sich bringen, die in den Paradigmen der New Materialisms gerade überschritten werden soll. Mehr als über den Begriff der Narrativität mag die Handlungskraft literarischer Materialitäten daher in ihrem Affektpotenzial zu begreifen sein. Dieses zeigt sich in den materiell-semiotischen Ressourcen literarischer Texte, auf andere Materialitäten zu wirken, sie also zu affizieren, und im Gegenzug auch von ihnen affiziert zu werden. Während Affekt in seiner begrifflichen Entwicklung zunächst als eine prä-kognitive Intensität bzw. eine prä-subjektive Kraft aufgefasst wurde, erhält dieser Begriff in einer von den New Materialisms geprägten Literatur- und Kulturwissenschaft neue Bedeutung. Die Annahme eines materiellen Affektpotenzials geht über eine anthropozentrische und anthropomorphisierende Verknüpfung von agency mit sprachlicher Verfasstheit und Vermittlung hinaus. Vielmehr erlaubt Affekt, Handlungsfähigkeit im Sinne von geteilter Materialität zu begreifen. Dazu bemerkt Brian Massumi mit besonderem Augenmerk auf menschliche Akteure und ihre materiell-semiotischen Verstrickungen mit nicht-menschlichen Akteuren: „[Affect] is the limitexpression of what the human shares with everything it is not: a bringing out of its inclusion in matter.”75 Führt man diese Annahme einen Schritt weiter, so können die Materialitäten literarischer Texte in ihrer Singularität wie auch in ihren pluralen Konfigurationen als affektive Verstrickungen begriffen werden, die auf unvorhersehbare Weise wirken. Und doch ist Affekt jenseits von sprachlicher Kodifizierung anzusiedeln, also auch jenseits der materiellen Verstrickungen literarischer Texte in ihre jeweiligen Produktions- und Verstehensprozesse.76 Das Affektpotenzial literarischer Texte birgt somit einen überschüssigen Rest, einen Exzess, der Signifikationsprozesse unterläuft und dabei zugleich Möglichkeiten neuer Verbindungen eröffnet: „Affects are non-subjec74 75 76

Vgl. Bennett (2010) 117–118 sowie Iovino (2012) 58. Zitiert in Vermeulen (2014) 122. Vgl. auch Vermeulen (2015).

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tive, asignifying forces. (…) Affect dissolves the self-contained interiority of the individual and opens it to new connections and recombinations.”77 So beschreibt der Begriff des Affekts letztlich die paradoxen Kapazitäten literarischer Texte, zugleich eine materiell-semiotische Signifikation der Unlesbarkeit ebenso wie der imaginativen Möglichkeiten zu generieren.78 Geht man im Sinne der New Materialisms davon aus, dass literarische Texte über ihr Affektpotenzial an der kreativen Schaffung eigener, literarischer Umwelten teilhaben, dann unterläuft diese Annahme die Trennung zwischen Text und Welt ebenso wie die von Text und Kontext/en. Vielmehr führt sie vor Augen, wie literarische Texte die Erfahrung und Wahrnehmung von Lebenswelten entscheidend mitprägen und von ihnen mitgeprägt werden. Damit steht die agency von Texten im Gegensatz zu westeuropäischen Philosophiediskursen, die den Glauben an einen distanzierten Zugang zu Darstellungsweisen und Repräsentationen historisch und kulturell geprägt haben, ohne sich dabei jedoch auf eine wie auch immer geartete logische Notwendigkeit berufen zu können.79 Wenn aber menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen die Fähigkeit zugesprochen wird, auf ihre je eigenen Arten zu affizieren, so liegt Bedeutung eben nicht ausschließlich in menschlicher, kultureller Artikulation. Auch Kontexte – seien sie historisch, lebensweltlich, sozio-kulturell oder naturell – sind in ihren eigenen, materiellen und diskursiven Assoziationen nicht nur sich dynamisch entfaltende Konfigurationen; vielmehr eignet ihnen selbst ein Affektpotenzial, über das sie in wechselseitige und affektive Beziehungen treten. Indem literarische Texte also über ihr Signifikations- und Affektpotenzial in nicht-hierarchische und sich beständig erneuernde Relationen mit ihren Kontexten verstrickt sind, entsteht auch der ästhetische Eigensinn der Literatur stets im horizontalen Zusammenspiel heterogener Akteure und ihrer handlungsfähigen Materialitäten. In diesem Sinne bieten New Materialisms eine dynamische Neuperspektivierung von Text-Kontext-Modellen an, die sich in einem posthumanistischen Weltbild und seiner andauernden De-Zentrierung des menschlichen Subjekts und westlich-europäischer Kulturmodelle zeigt. Diese Verschiebungen und Neuperspektivierungen fordern schlussendlich auch eine weitreichende NeuOrientierung der Geisteswissenschaften ein. 77 78 79

Vermeulen (2015) 8. Vgl. Vermeulen (2015) 11. Vgl. Barad (2007) 49.

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5. Coda Wenn aktuelle Neu-Konzeptualisierungen der Literatur- und Kulturwissenschaften von handlungsfähigen Verstrickungen literarischer Texte mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ausgehen, so überführen sie die repräsentationslogische Annahme einer Distanz zwischen Text und Welt, zwischen Epistemologie und Ontologie, zwischen Wissen und Gewusstem in nicht-dualistische und horizontale As-Soziierungen. In diese Konfigurationen sind notwendigerweise auch die Wissenden sowie die aus ihrer Warte unternommenen Prozesse der Wissensgenese involviert. Wissenschaft oder auch Wissenschaftlichkeit lassen sich in einer solchen Herangehensweise als responsive und selbst-reflexive, stets wechselseitige Affizierungen von miteinander verstrickten Akteuren begreifen. (Literatur-)Wissenschaft ist in diesem Verständnis weder objektive Wissensgenerierung noch subjektive Herangehensweise, sondern immer auch die praktische Erfahrung der eigenen Verstrickungen. Das Wissen über die Welt wird so zu einem Wissen um die Welt, das sich in dynamischen und relationalen Ko-Emergenzen von handlungsfähigen Akteuren artikuliert. Eine solche radikale Involviertheit fordert nicht nur die Grundannahmen der westlich-europäischen Moderne heraus, sondern betrifft auch die konventionelle Dominanz des ‚Geistes‘ in den Geisteswissenschaften.80 So unterwandern die dynamischen As-Soziierungen ein anthropozentrisches Weltbild, indem sie Konzepte von Hybridität und Kommunalität im Sinne einer posthumanistischen Handlungskraft auf menschliche und nicht-menschliche Akteure ausdehnen. Gerade an dieser Stelle zeigen sich wichtige Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre As-Soziierungen der Literatur- und Kulturwissenschaften, in denen onto-epistemologische Materialisierungsprozesse in ihren Mehrdeutigkeiten beleuchtet werden können.81

80 81

Vgl. Braidotti (2013). Derartige Versuche finden sich bereits in Alaimo (2010); Barad (2007); Hayles (1999).

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Text und Kontext: Sprachwissenschaftliche Überlegungen Heidi Aschenberg (Tübingen)

Abstract Context considered as a conditio sine qua non in the process of creating and understanding meaning in human communication has come to be an important topic of reflection within various linguistic disciplines over the course of the twentieth century. The first comprehensive theory of the different types of contexts underlying speech was developed by Eugenio Coseriu, who elaborated a highly differentiated range of categories relating to three basic contexts: situational context, linguistic context and encyclopedic knowledge. These three types of context have turned out to be essential in other theories as well. The following article gives a short outline of their linguistic conceptualizations as exemplified within the framework of a few selected disciplines: semantics, pragmatics, sociolinguistics and cognitive linguistics. Apart from the obvious theoretical differences between these approaches, we can state a fundamental disparity between the contexts of oral and written communication. Oral texts directly refer to situational contexts, while written texts must substitute them by verbal means. The way of constructing linguistic contexts in written texts depends notably on literary genre: narrative texts, in general, must verbally elaborate the situational circumstances (persons, time and place of action); dramatic texts, on the contrary, are related to the visualized situation on the stage; and lyrical texts, finally, give at best a brief description of the respective situation.

In Frank Witzels sprachmächtigem Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Jahre 1969, der, in verschiedene Textsorten, Erzählstränge und Stile zersprengt, Geschichte, Reflexionen und Phantasien des Protagonisten vor dem Hintergrund der sechziger Jahre in der BRD und DDR erzählt, lässt der Erzähler eine Figur über „kontextloses Denken“ nachsinnen: Es (sc. kontextloses Denken) ist eine Art Trost, wenn man keine Hoffnung mehr hat. Man lässt die eigenen Sätze unhinterfragt. Als hätte ein anderer sie gedacht. Man fragt nicht mehr, was man damit sagen will.1

1

Witzel (2015) 666.

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„Kontextloses Denken“ – ist das nicht ein Widerspruch in sich? Ist Denken ohne Kontext überhaupt denkbar? Die wie beiläufig in den Erzählduktus eingeflochtenen Äußerungen lassen sozusagen via negationis die zentrale Bedeutung von Kontexten für sinnhaftes Denken und seine sprachliche Vermittlung aufscheinen: Die „eigenen Sätze“, so räsoniert die Figur, erscheinen ohne Kontext als fremd, sie bleiben „unhinterfragt“, ohne Sinn und damit gegenstandslos. Referentiell gerichtete, sinnhafte und hinterfragbare Rede, so lässt sich im Umkehrschluss aus diesen Äußerungen folgern, ist nur dann möglich, wenn wir die sie umgebenden Kontexte nicht ausblenden, sondern ihrer gewahr sind. Diese ebenso unstrittige wie noch sehr unspezifische Aussage zur Funktion von Kontexten enthält eine im Kern gleichwohl grundlegende Beobachtung: Kontexte sind eine notwendige Voraussetzung für sprachliche und gedankliche Sinnbildung. Die elementare Bedeutung von Kontexten für die Produktion und Rezeption sprachlicher Diskurse ist in solchen Disziplinen, die per se mit Fragen der Sinnbildung und des Sinnverstehens befasst sind, wie z. B. die Philosophie, Hermeneutik, Psychologie, Semiotik und Literaturwissenschaft, wenn auch nicht unbedingt unter diesem Terminus, grundsätzlich mitreflektiert worden. In der Sprachwissenschaft wird die Klassifikation und Funktionsbeschreibung von Kontexten erst im 20. Jahrhundert zu einem relevanten Untersuchungsgegenstand erhoben,2 zunächst insbesondere durch die Lehre von den Umfeldern des Psychologen Karl Bühler,3 die durch die Sprachtheorie Eugenio Coserius begrifflich weiter ausdifferenziert wird. Des Weiteren ist hier an die Semantik des angelsächsischen Kontextualismus4 zu erinnern, der ebenfalls an zunächst außerhalb der Sprachwissenschaft entwickelte Forschungen anknüpft, namentlich an Thesen des polnischen Anthropologen Bronisław Malinowski.5 Neue Impulse erhält die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kontextbegriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und zwar im Zuge der Wende von einer systemlinguistisch, auf die langue (Einzelsprache) zentrierten Linguistik hin zu einer auf die parole (Rede) orientierten Sprachwissenschaft. Zu den ab den sechziger resp. siebziger Jahren sich konstituierenden linguistischen Teildisziplinen, die vor dem Hintergrund ihrer je spezifischen Sprachauffassung und ihres methodischen Instrumentariums die Kontexte von 2 3 4 5

Vgl. u. a. Ullmann (21957) 65. Vgl. Bühler (21965). Vgl. bes. Firth (1957), (1964) und (1968). Vgl. Malinowski (101960).

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sprachlichen Äußerungen neu akzentuieren, gehören die Forschungen zur gesprochenen Sprache, die Sozio-, die Pragma- und die Textlinguistik. Der Terminus Kontext ist, wie die obigen Ausführungen bereits andeuten dürften, ein relationaler Begriff. Damit ist gemeint, dass seine sprachwissenschaftliche Konzeption grundsätzlich von der mit ihm verknüpften Sprach- bzw. Textauffassung abhängt. Vor dem Hintergrund dieses Tatbestands soll im Folgenden eine Auswahl von linguistischen Kontexttheorien vorgestellt werden, die in besonderer Weise markant sind für die sprachwissenschaftliche Diskussion der vergangenen Jahrzehnte. Da diese Theorien z. T. sehr abstrakt und komplex sind und zudem grundlegend verschiedenen, sich im Laufe der Zeit weiter ausdifferenzierenden linguistischen Ausrichtungen angehören, können sie hier nur auf Elementares reduziert und stark vereinfacht wiedergegeben werden. Entsprechend der thematischen Ausrichtung des vorliegenden Bandes werden sich meine Ausführungen und Überlegungen schwerpunktmäßig auf die Kontexte des geschriebenen Textes konzentrieren. Positionen, die den Kontexten von gesprochener Sprache bzw. mündlichen Diskursen gelten, werden in Kapitel 2 kurz skizziert, um die gegenüber dem schriftlich konzipierten und realisierten Text anders akzentuierten Fragestellungen deutlicher profilieren zu können.

1. Kontexte als Umfelder Eine der ersten Arbeiten, die auf der Grundlage einer umfassenden Sprachkonzeption eine explizite Theorie der sprachlichen und außersprachlichen Kontexte entwickelt und zugleich wichtige Impulse für den detaillierten Entwurf Coserius geliefert hat, ist das 1934 zum ersten Mal veröffentlichte Buch Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache von Karl Bühler (21965). Gestützt auf Erkenntnisse der Gestaltpsychologie, denen zufolge Wahrnehmungserlebnisse nicht auf einzelnen Sinnesreizen beruhen, sondern vielmehr in „wechselnde Ganzheiten“ eingebettet sind, rekurriert Bühler auf den Begriff des Feldes bzw. Umfeldes, um das Verstehen von Sprachzeichen zu erklären.6

6

Die Begriffe Feld und Umfeld stammen aus der Farbenlehre Ewald Herings und seiner Schüler und bedeuten, dass unsere Wahrnehmung eines Farbflecks grundsätzlich gelenkt wird durch die Nachbarschaft zu anderen Flecken auf einer Fläche oder, wie Bühler schreibt, „daß jedes Fleckchen Farbe auf einer Fläche dem Eindruck nach mitbeeinflußt wird von dem ‚Umfeld‘ des Fleckchens“ (Bühler (21965) 154).

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Die Umfelder werden dabei nicht als Apperzeptionsweisen des sprechenden Subjekts definiert, sondern sozusagen vergegenständlichend als potentielle oder aktuelle Umgebungen des Sprachzeichens und somit auf der sprachlichen Seite verortet. Bühler unterscheidet grundsätzlich zwei Typen von Sprachzeichen: die Zeigwörter und die Nennwörter. Das den deiktischen Wörtern entsprechende Umfeld ist die Situation, da in ihr der Ursprung allen Zeigens (die origo) mit den drei Komponenten ich (ego), hier (hic) und jetzt (nunc) beschlossen liege, von dem aus alle personale, räumliche und zeitliche Deixis orientiert wird. Ihre referentielle Verankerung erhalten diese Ausdrücke (und entsprechend komplementäre deiktische Wörter wie du, dort, gestern etc.) durch Rückbindung an eine bestimmte Situation. Für die zweite Klasse von Wörtern, die Nennwörter oder Appellative, nimmt Bühler drei verschiedene Umfeldtypen an: das symphysische Umfeld (die physische Umgebung sprachlicher Zeichen wie Etiketten, Schilder etc.), das sympraktische Umfeld (d. h. die Gesamtheit an Konventionen, die durch die soziale Praxis geregelt wird) und schließlich das synsemantische Umfeld (damit meint Bühler sowohl die lexikalisch-semantischen wie auch die syntaktischen Relationen der jeweils verwendeten Sprachzeichen).7 Eugenio Coseriu hat seine Theorie der sprachlichen Kontexte resp. Umfelder, die zugleich eine der differenziertesten linguistischen Konzeptionen zu diesem Thema darstellt, erstmals 1955 in einem zunächst auf Spanisch veröffentlichten Aufsatz skizziert8 und später im Rahmen seiner Ausführungen zur Textlinguistik weiter entwickelt.9 Entgegen der damals vorherrschenden Auffassung, der zufolge alle sprachwissenschaftlichen Theorien und Analysen grundsätzlich von den Einzelsprachen auszugehen haben, kehrt Coseriu die Prioritäten um, indem er fordert, dass der Sprecher und sein Sprechen im Zentrum des Interesses stehen müssten. Für einen solchen Ansatz sind Kontexte resp. Umfelder ein unabdingbares Thema: Die Umfelder sind bei jeglichem Sprechen mit Notwendigkeit da, zumal es kein Gespräch ohne Umstände, ohne „Hintergrund“ gibt. Und wie gesehen haben die Umfelder fast beständig an der Bestimmung der Zeichen teil und ersetzen oft

7 8 9

Vgl. Bühler (21965) 7–179. Zu einer ausführlicheren Analyse der Lehre Bühlers vgl. Aschenberg (1999a) 44–63. Ich zitiere hier die deutsche Übersetzung, vgl. Coseriu (1975). Vgl. Coseriu (42007).

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sogar die sprachlichen Determinatoren. Doch ist ihre Funktionalität noch viel umfassender: die Umfelder orientieren jedes Gespräch, geben ihm einen Sinn und können sogar den Wahrheitswert des Geäußerten bestimmen.10

Der Aufsatz von 1955 enthält eine Reihe interessanter Einzelbeobachtungen, von denen die für unseren Zusammenhang zentralen Aspekte thesenhaft zusammengefasst werden sollen: 1. Gesprochene und geschriebene Sprache sind an verschiedene Umfelder rückgebunden, da der geschriebene Text anders als die gesprochene Rede nicht auf eine unmittelbar gegebene Sprechsituation Bezug nehmen kann, sondern diese sprachlich substituieren muss. 2. Literarische Texte differenter Gattungszugehörigkeit thematisieren die Umfelder auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß. Während im lyrischen Text in der Regel von einer Verbalisierung der Sprechsituation abgesehen wird, muss der narrative Text explizit machen, wer wann und wo agiert, mit anderen Figuren kommuniziert etc. Beim Drama als theatralem Text sind die Verhältnisse wiederum anders, da hier über das Bühnengeschehen eine unmittelbare Sprechsituation szenisch nachgebildet wird. 3. Nicht nur der Produktion eines Textes, auch seiner Rezeption muss eine Kontexttheorie Rechnung tragen: Jeder Verfasser eines Textes setzt bei seinem Leser Kenntnisse voraus, die es ihm ermöglichen, die für das Verständnis erforderlichen Umfelder je nach Textsorte und Intention mehr oder weniger ausdrücklich zu formulieren.11 Diese drei Thesen lassen bereits erahnen, dass der Begriff des Umfeldes bei Coseriu nicht nur sehr weit gefasst, sondern in sich auch heterogen definiert ist, da der Terminus sowohl auf textinterne wie auch auf textexterne Relationen der Sprachzeichen referiert. Wie sieht nun die inhaltliche Abgrenzung der Kontexte/Umfelder näher aus? Coseriu unterscheidet vier Kategorien, die jeweils durch spezifische Unterkategorien präzisiert werden:

10 11

Coseriu (1975) 276. Vgl. Coseriu (1975) 286–288.

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I. SITUATION: unmittelbar / mittelbar II. REGION: Zone / Bereich / Umgebung III. KONTEXT: einzelsprachlicher Kontext / Rede-Kontext / Außerredekontext (physikalisch, empirisch, natürlich, praktisch oder okkasionell, historisch) IV. REDEUNIVERSUM12 Mit dem Begriff SITUATION bezeichnet Coseriu die Umstände des Sprechens selbst, die durch die mündliche Rede unmittelbar und durch den geschriebenen Text mittelbar etabliert werden. Sie betreffen die personale, lokale und temporale Dimension aller Sprachverwendung, durch sie werden das „Ich“, „Hier“ und „Jetzt“ im Sprechen bzw. die diesen im geschriebenen Text korrespondierenden Korrelate und alle deiktischen Bezüge referentiell festgelegt. Die Kategorie REGION ist heterogen konzipiert, da sie, bezogen auf das sprechende Subjekt, das sprachliche und das enzyklopädische Wissen betrifft. Unter Zone versteht Coseriu das Gebiet, in dem Sprachzeichen bekannt sind und traditionellerweise verwendet werden, unter Bereich den Raum, in dem ein sprachlich bezeichneter Gegenstand den Sprechern als Element ihrer Lebenswelt vertraut ist und unter Umgebung schließlich sozial und kulturell definierte Bereiche (Familie, sonstige soziale Gruppen etc.), in denen sich besondere Sprechweisen herausbilden. Der KONTEXT ist die bei weitem komplexeste Kategorie: „Den Kontext des Sprechens bildet die gesamte ein Zeichen, einen Sprechakt bzw. ein Gespräch umgebende Wirklichkeit, als physikalische Präsenz, Wissen der Sprecher und deren Tätigkeit. Dabei sind drei Arten des Kontextes zu unterscheiden: der einzelsprachliche Kontext, der Rede-Kontext und der AußerRede-Kontext“.13 Der einzelsprachliche Kontext betrifft die historische Sprache, in der das Sprechen erfolgt bzw. in der ein Text abgefasst ist, der Rede-Kontext die einem sprachlichen Segment vorangestellten oder nachfolgenden Textpartien. Unter dem Begriff des Außer-Rede-Kontextes schließlich sind sehr verschiedenartige Kontexte subsumiert. Der physikalische Kontext entspricht weitgehend dem symphysischen Umfeld Bühlers, d. h. er bezeichnet die materielle Umgebung eines Sprachzeichens. Der praktische oder okkasio-

12 13

Vgl. Coseriu (42007) 127. Vgl. Coseriu (1975) 280.

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nelle Kontext betrifft die Gegebenheiten der Kommunikationssituation. Empirische, natürliche, historische und kulturelle Kontexte designieren verschiedene Bereiche des enzyklopädischen Wissens: Kenntnisse der in der Kommunikation begegnenden empirischen Sachverhalte, Kenntnisse der naturhaften Erfahrungswelt, Kenntnisse der den Sprechern bekannten historischen Zusammenhänge und Kenntnisse der mit einer Sprachgemeinschaft verbundenen kulturellen Traditionen. Das REDEUNIVERSUM, ein von Wilbur Marshall Urban geprägter Begriff,14 versteht Coseriu als „das universelle System der Bedeutungen, dem eine Rede (bzw. ein Satz) zugehört und das seinerseits deren Wert und Sinn bestimmt“.15 So stellen das Redeuniversum der Mythologie, der Religion, der Wissenschaften, des Alltags etc. nicht nur verschiedene Wissenssysteme dar, sondern orientieren auch die Geltung resp. den Wahrheitswert des Geäußerten. Wie ist die Umfeldtheorie Coserius, deren grundlegende Kategorien bereits in den fünfziger Jahren erarbeitet wurden, heute zu sehen? Zunächst einmal ist sie als ein Versuch zu würdigen, eine semiotisch basierte, möglichst detaillierte Klassifikation solcher Kontexte zu liefern, die die conditio sine qua non allen sinnhaften Sprechens und des Verstehens solchen Sprechens bilden. Die Orientierung an Bühlers Umfeldbegriff, der letztlich nichts anderes als eine Metapher ist, hat zur Folge, dass die Kontexte objektivierend, d. h. als unterschiedlich geartete Umgebungen von textuellen Sprachzeichen gefasst werden. Kritisch zu sehen ist die mangelnde Homogenität der Konzeption, in der nicht klar geschieden wird zwischen denjenigen „Umfeldern“, die, erstens, als sprachlicher Kontext einer Äußerung im engeren Sinn (in der Linguistik auch als Kotext bezeichnet, s.o.) und, zweitens, denjenigen, die zur außersprachlichen Situation gehören und schließlich, drittens, denjenigen, die als Wissen (sprachliches und enzyklopädisches Wissen) des sprechenden Subjekts theoretisch zu verorten sind. Coserius Modell könnte an Stringenz und Klarheit gewinnen, wenn seine Kontextkategorien und ihre Ausdifferenzierungen über die genannten drei elementaren Kontexttypen neu geordnet würden.16

14 15 16

Vgl. Urban (31961). Vgl. Coseriu (1975) 284–285. Zu einer genaueren Analyse von Coserius Umfeldtheorie vgl. Aschenberg (1999a) 63–76; zur Revision der insbesondere dem sprechenden Subjekt zuzuordnenden Umfelder vgl. Aschenberg (2015).

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2. Das Kontextverständnis in den Forschungen zur gesprochenen Sprache Ab den sechziger Jahren ist die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Linguistik durch ein zunehmendes Interesse an solchen Varietäten gekennzeichnet, die außerhalb der Standardsprache liegen. Im Rahmen der Forschungen zur gesprochenen Sprache hat sich – sozusagen als ein neues Paradigma17 – die inzwischen international rezipierte Theorie der Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher etabliert, die sie in verschiedenen Publikationen und besonders ausführlich in ihrem Buch Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch (22011) vorgestellt haben. Koch und Oesterreicher unterscheiden zunächst hinsichtlich der mündlichen und schriftlichen Sprachverwendung zwischen dem Medium, d. h. der phonischen oder graphischen Realisierung, und der Konzeption (gesprochen und geschrieben), mit der die entsprechend den kommunikativen Gegebenheiten gewählten Versprachlichungsstrategien benannt werden. Während die Begriffe phonisch/ graphisch eine Dichotomie bilden (eine Äußerung kann entweder lautlich oder schriftlich realisiert werden), bezeichnen gesprochen und geschrieben ein Kontinuum, in dem sich alle sprachlichen Äußerungsformen (vom vertrauten Gespräch bis hin zur Verwaltungsvorschrift) relativ einordnen lassen. Die Parameter ihrer Theorie halten die Autoren im Schema von Abb. 1 fest. Das Schema verdeutlicht in Form einer offenen Matrix, dass die unterschiedlichen Äußerungsvorkommen mündlicher und schriftlicher Kommunikation innerhalb eines Kontinuums zu situieren sind, dessen Extrempunkte NÄHE und DISTANZ bilden. Dem Nähepol, dem grundsätzlich die phonische Realisierung affin ist, sind die Äußerungsformen konzeptioneller Mündlichkeit und die ihr spezifischen situationellen Konstellationen zugeordnet. Dem Distanzpol ist die graphische Realisierung affin, ihm korrespondieren die Äußerungsformen konzeptioneller Schriftlichkeit und die mit diesen verbundenen Kommunikationsbedingungen. Nähesprechen und Distanzsprechen seien, so die Autoren, „auf eine ‚Stützung‘ durch unterschiedliche Kontexttypen angewiesen“, wobei sie folgende Typen annehmen: 1. den „situative[n] Kontext“ 2. den „Wissenskontext“: a. individuell, b. allgemein 17

Vgl. dazu Kabatek (2000).

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3. den sprachlich-kommunikative[n] Kontext („Ko-Text“) 4. a. den „parasprachlich-kommunikative[n] Kontext“ b. den „nichtsprachlich-kommunikative[n] Kontext“18

Abb. 1: Das Nähe/Distanz-Kontinuum, konzeptionell-mediale Affinitäten nach Koch/Oesterreicher 19 Das Fazit, das sie hinsichtlich der kontextuellen Divergenz von mündlicher und schriftlicher Kommunikation ziehen, erinnert an Coseriu (vgl. oben, These 1), ist allerdings präziser formuliert: Es ist klar erkennbar, dass beim Nähesprechen im Prinzip alle genannten Kontexttypen zum Einsatz kommen können, während beim Distanzsprechen tendenziell mit Einschränkungen zu rechnen ist; diese betreffen vor allem die analogen Kontexte. So können beispielsweise bei physischer Distanz der Kommunikationspartner sowie bei Situations- und Handlungsentbindung weder der situative (1.) noch der parasprachliche/nichtsprachliche Kontext (4.a, 4.b) zum Tragen kommen; logischerweise scheidet bei Fremdheit der Partner der individuelle Wissenskontext (2.a) aus. Daraus ergibt sich zwingend, dass bei extremer kommunikativer Distanz dieser ‚Kontextmangel‘ nur durch verstärkten Einsatz des sprachlichen Kontextes (3.) kompensiert werden kann, d. h. durch die Überführung kontextueller Information in den Ko-Text; bei extremer kommunikativer Nähe tritt hingegen der sprachliche Kontext/Ko-Text zurück.20 18 19 20

Vgl. Koch/Oesterreicher (22011) 11. Koch/Oesterreicher (²2011) 13. Vgl. Koch/Oesterreicher (22011) 11.

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3. Soziolinguistik Die Soziolinguistik, eine ebenfalls ab den sechziger Jahren sich herausbildende linguistische Teildisziplin, untersucht Sprache und Sprechen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang. Während in der quantitativen Soziolinguistik (u. a. William Labov) eine Korrelierung von sprachlichen Daten mit situationellen, insbes. sozioökonomischen Parametern vorgenommen und statistisch ausgewertet wird, verfolgt die interaktionale Soziolinguistik andere Forschungsinteressen. Ihr geht es darum, die aktive Beteiligung der Partner an der Interpretation und Konstruktion sozialer Situationen zu untersuchen. Dem entsprechend wird hier ein dynamisches Situationskonzept vorausgesetzt, demzufolge sprachliche Äußerungen und situationelle Faktoren wechselseitig aufeinander bezogen sind und das kommunikative Geschehen beeinflussen. Als maßgebliche Komponenten des interaktionalen Kontextverständnisses, die freilich je nach Theorie spezifischer definiert und unterschiedlich gewichtet sein können, nennen Alessandro Duranti und Charles Goodwin im Einleitungsaufsatz zu ihrem Sammelband Rethinking context. Language as an interactive phenomenon (1992) folgende Parameter: 1. das „setting“ im Sinne eines „social framework“, das durch den Gesprächsverlauf ständiger Veränderung unterliegt; 2. „behavioral environment“, Beeinflussung des Gesprächsverlaufs durch nicht-verbale Ausdrucksmittel der Partner; 3. „language as context“, Entwicklung der sprachlichen Kontexte im Hinblick auf später erfolgende Gesprächsschritte; 4. „genres“, nicht nur verstanden als konventionelle Diskursmuster, sondern auch als im Sprechen selbst erzeugte Organisationsformen für Kontexte; 5. „extrasituational context“, verstanden als Hintergrundwissen.21 Durantis und Goodwins Definitionen der situativen Parameter zeigen, dass Kontexte in der interaktionalen Soziolinguistik keine fixen Bezugsrahmen des Sprechereignisses, sondern vielmehr flexible Konstellationen bilden, die einerseits durch die kommunikativen Handlungen der Gesprächspartner beständig modifiziert und neu konstruiert werden, aber andererseits auch unablässig auf diese zurückwirken.

21

Goodwin/Duranti (1992) 6–9; vgl. dazu auch Aschenberg (2001).

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4. Pragmatik Angesichts der zahlreichen, komplexen und in sich höchst diversifizierten Theorieansätze zur Pragmatik in Philosophie und Linguistik – selbst Insider lassen bloß provisorische Abgrenzungen zu22 – ist es nahezu unmöglich, von einer Definition auszugehen, die in jeder Hinsicht zufriedenstellend wäre. Aus diesem Grund schlägt Stephen C. Levinson eine extensionale Definition vor: „Pragmatics is the study of deixis (at least, in part), implicature, presupposition, speech acts, and of discourse structure“.23 Werfen wir, ausgehend von Levinsons genannten Gegenstandsfeldern pragmatischer Forschung, einen Blick auf die diesen entsprechenden Kontexte, so zeichnet sich, ganz abgesehen von allen im Einzelnen theorieabhängigen Modellierungen, eine große Varianz ab: Deixis und Sprechhandlung sind nur unter Annahme eines situationellen Kontextes denkbar. Implikaturen und Präsuppositionen gehören zu den impliziten Sinnvoraussetzungen einer Äußerung, sind somit aus einer Äußerung sprachlich oder pragmatisch, d. h. unter Einbeziehung der situationellen und der Wissenskontexte herleitbare Kontexte. Und die Analyse von Diskursstrukturen beruht, je nach Ansatz, auf der Verknüpfung des sprachlich artikulierten Redekontextes mit der Kommunikationssituation und dem Sprecherwissen. In Anbetracht der Vielfalt von Phänomenen, die die linguistische Pragmatik untersucht, plädiert Craige Roberts für eine basale Differenzierung des Kontextbegriffs, mit der gleichwohl allen semantisch-pragmatischen Fragestellungen einer dynamischen Analyse von Texten und Diskursen Rechnung getragen werden könne. Die entscheidenden Begriffe in diesem Sinne seien felicity und context update.24 Mit felicity ist das Gelingen eines Sprechakts gemeint, d. h. die Erfüllung derjenigen kontextuellen Faktoren, die gegeben sein müssen, damit der propositionale Gehalt einer Äußerung als vernünftig und relevant25 und die Äußerung selbst hinsichtlich ihres Kontextes als angemessen angesehen werden können:

22 23 24 25

Vgl. Levinson (1983) 5. Levinson (1983) 27. Vgl. Roberts (2004) 201. Das Adjektiv „relevant“ verweist in diesem Zusammenhang auf die in Verbindung mit der Pragmatik (namentlich den Konversationsmaximen von Grice) entstandene Relevanztheorie, vgl. dazu Kap. 5.2.

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Heidi Aschenberg The aptness of an utterance depends on its expressing a proposition that one could take to be reasonable and relevant given the context. We thus have to look at the context to determine what was expressed either because the utterance was incomplete, as with anaphora or ellipsis, or because its prima facie interpretation would appear to be irrelevant or otherwise infelicitous.26

Des Weiteren verweist der Autor in diesem Zusammenhang auf das gemeinsame Wissen der Kommunikationspartner, das erheblich zum Gelingen von Sprechakten beitrage. Der zweite Begriff, auf den Roberts rekurriert, context update, besagt, dass der informative Gehalt einer jeden Äußerung steter Veränderung unterworfen ist, da dieser prinzipiell abhängig ist vom Fortschreiten eines Diskurses oder Textes und der damit zusammenhängenden Dynamik der Verstehensprozesse.27 Kontexten wird in dieser Sichtweise folglich ein breites Spektrum an Funktionen zugeschrieben, da ihnen ganz unterschiedlich geartete Informationen inhärent sind: All das, was in einer Äußerung nicht explizit oder zunächst als kommunikativ nicht gelungen erscheint, muss über Kontexte eingelöst werden, seien diese kotextuell, situationell oder im Wissen der miteinander Kommunizierenden verankert. Ein weiterer zentraler Punkt, den Roberts hervorhebt, ist die dynamische Beziehung zwischen Text und Kontext, die unweigerlich durch den prozessualen Verlauf eines jeden Kommunikationsereignisses gegeben ist.28 Welches Fazit lässt sich aus den vorgestellten Positionen zu gesprochener Sprache, zur Sozio- und zur Pragmalinguistik ziehen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass trotz des für sie in besonderer Weise bedeutsamen situativen Kontextes dessen Parameter – entsprechend den divergenten Theorieansätzen – höchst unterschiedlich definiert werden. Die Differenzen zwischen den Kontexten des mündlichen Diskurses und des geschriebenen Textes wurden am deutlichsten bei Koch/Oesterreicher formuliert. Ihrer Terminologie folgend können wir diesen Tatbestand noch einmal so zusammenfassen: Gegenüber 26 27 28

Roberts (2004) 199. Vgl. Roberts (2004) 201. Zur pragmatischen Konzeption von Kontexten vgl. auch Stalnaker (2014) bes. 13– 43, der wie Roberts die Dynamik von Kontexten in der Kommunikation hervorhebt und als zentralen Kontext den common ground auszeichnet, die gemeinsame propositionale Haltung gegenüber dem Gesagten und die iterative wechselseitige Anerkennung der Positionen durch die Sprecher im Verlauf eines Kommunikationsgeschehens.

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dem „Nähesprechen“ weist das „Distanzsprechen“ einen größeren „Kontextmangel“ auf, der eben mit dem jeweils anders gearteten Situationskontext zusammenhängt und demgemäß andere „Verbalisierungsstrategien“ erfordert. Die im „Nähesprechen“ durch die Einbettung in eine unmittelbare Kommunikationssituation für den Sprecher und seine(n) Gesprächspartner offensichtlichen Umstände und Gegebenheiten müssen bei kommunikativer Distanz erst noch sprachlich vermittelt, d. h. über den Kotext substituiert werden. Die knappe Skizze von Ansätzen aus der interaktiven Soziolinguistik und der Pragmatik zeigte darüber hinaus, dass hier auf eine dynamische Konzeption der Situation bzw. der Kontexte Wert gelegt wird. Um der Vielfalt der pragmatischen Ansätze und ihrer Fragestellungen gerecht werden zu können, die potentiell ein breites Spektrum verschieden gearteter Akzentuierungen des Kontextbegriffs eröffnen, entscheidet sich Roberts bewusst für eine weite, auf zwei Begriffe reduzierte Auslegung, um alle möglichen Ausdifferenzierungen sozusagen unter zwei Hüte bringen zu können.

5. Kognitionslinguistische Ansätze Im Folgenden soll ein Blick auf die kognitive Linguistik geworfen werden, die in linguistischen Arbeiten heute eine wichtige Rolle spielt. Die kognitive Linguistik umfasst ein breites, in sich sehr heterogenes Spektrum an theoretischen Ausrichtungen. In ihr werden Fragestellungen der theoretischen Linguistik, der Künstliche-Intelligenz-Forschung, der Neurolinguistik und der Sprachpsychologie zusammengeführt, um sie für Analysen in den linguistischen Teildisziplinen wie Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik fruchtbar zu machen.29 Im Zentrum des Interesses stehen dabei die mentalen Prozesse bei der Sprachverarbeitung, sei es im Spracherwerb, in der Produktion oder in der Rezeption sprachlicher Äußerungen. Was unser Thema betrifft, so liegt auf der Hand, dass in diesen Theorien insbesondere diejenigen Kontexte thematisiert werden, die im Rahmen der bisher vorgestellten linguistischen Konzeptionen als Wissenskontexte akzentuiert wurden. Um einen Eindruck von der in diesem Bereich geführten Diskussion zu vermitteln, werde ich mich im Folgenden angesichts der Komplexität des Themas erneut

29

Vgl. Croft/Cruse (2004) 1–4.

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auf eine knapp gefasste, stark vereinfachende Skizze von einigen wenigen ausgewählten Ansätzen und Begriffen beschränken, die ein besonderes Echo in der Sprachwissenschaft gefunden haben.

5.1. Kognitive Semantik Im Rahmen der kognitiven Semantik sind – sowohl im Hinblick auf synchrone wie auf diachrone Untersuchungen – z. T. durch experimentell gestützte Arbeiten (Rosch), z. T. durch Uminterpretation von Begriffen aus traditionellen linguistischen Theorien (u. a. Lakoff, Blank) oder aus den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz (Schank/Abelson) verschiedene Ansätze entwickelt worden, mit denen diejenigen kognitiven Prozesse analysiert werden, die der sprachlichen Erfassung von Welt zugrunde liegen. Dies betrifft nicht nur die mit sprachlichen Benennungen zusammenhängenden konzeptuellen Kategorisierungen, sondern auch die sprachlich-kognitive Verarbeitung von komplexeren Sachverhalten, d. h. von Situationen und Vorgängen, wie sie in Texten und Diskursen thematisiert werden. Von aus der Künstliche-Intelligenz-Forschung stammenden Begriffen wie frame, schema, description, template, scenario, module und model, die konzipiert worden sind, um verschiedene Facetten der Kontextbildung im Sprachverstehen zu akzentuieren,30 wird in zahlreichen kognitiv orientierten Untersuchungen der von Fillmore näher präzisierte Terminus frame übernommen. Vergleichbar dem Feldbegriff aus der strukturellen Semantik soll der Begriff frame im Bereich der Kognition die konzeptuelle Ordnung unseres Wissens bezeichnen, die bestimmte Lexeme als zusammengehörig erscheinen lässt: What holds such word groups together is the fact of their being motivated by, founded on, and co-structured with, specific unified frameworks of knowledge, or coherent schematizations of experience, for which the general word frame can be used.31

Die Berücksichtigung von frames in der Semantik bedeutet nach Fillmore eine Aufwertung des enzyklopädischen Wissens, das in den traditionellen Theorien 30 31

Vgl. Fillmore (2003) 250. Fillmore (1985) 223. Ein einfaches Beispiel für solche kognitiven Verbindungen ist das von Fillmore erwähnte „commercial event“, mit dem Wörter wie buy, sell, pay, spend, cost, charge, price, money, change etc. verbunden seien; vgl. ders. (2003) 282 (der Aufsatz erschien zum ersten Mal 1978).

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kaum berücksichtigt worden sei. Für die Sprach- und Textanalyse sind frames insofern relevant, als sie die Identifikation der mit dem lexikalischen Aufbau der Textwelt assoziierten Kontexte des schematisierten Erfahrungswissens aktualisieren und diese im Vorgang des Textverstehens entfalten: With respect to text interpretation, frame semantic research can be thought of as the effort to understand the process by which frames are introduced into a text to create and develop the growing textual context.32

Eine differenziertere begriffliche Einteilung der in das Textverstehen involvierten, unterschiedlich gearteten Wissenskontexte entwickelt Fillmore an anderer Stelle durch Rekurs auf die Terminologie der Künstliche-IntelligenzForschung. Für die aus dieser Forschungsrichtung entlehnten Begriffe schlägt er folgende Definitionen vor: We can use scene to refer to real-world experiences, actions, objects, perceptions, and personal memories of these. We can use schema to refer to one of the conceptual or frameworks that are linked together in the categorization of actions, institutions, and objects – such as the collection of notions we had to recognize for characterizing the commercial event – as well as any of various repertories of categories found in contrast sets, prototype objects, and so on. We can use frame to refer to the specific lexicographical provisions in a given language for naming and describing the categories and relations found in schemata. And we can use model to refer to either somebody’s view of the world that an interpreter builds up in the process of interpreting a text. A text model can be thought of as the assembly of schemata created by the interpreter, justified by the interpreter’s knowledge of the frames in the text, which models some set of possible scenes.33

Nach Fillmore sind somit an der Kontextualisierung der im Text angelegten sprachlichen Bezüge verschiedene Wissensbereiche dynamisch aufeinander bezogen: das Weltwissen (scene), das Schema (schema) als konzeptuelles Wissen, das sich auf komplexere Zusammenhänge bezieht, die frames als die sich speziell im Lexikon artikulierenden Konzeptverbindungen und schließlich das text model, in das die in der individuellen Interpretation eines Textes aktualisierten, je spezifischen Wissensformen eingehen. Gegenüber der Kontexttheorie Coserius, die, wie sich zeigte, in sich heterogen ist, da hier Umfelder unterschiedlichen Typs geltend gemacht werden 32 33

Fillmore (1985) 234. Fillmore (1985) 251.

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(die außersprachliche Situation, der innersprachliche Kontext oder Kotext, die verschiedenen Wissensformen oder -gebiete des Sprechers), hat Fillmores Modell den Vorteil, dass die von ihm angenommenen Kontexte insofern homogen sind, als sie allesamt nur einem Bereich, der Kognition, angehören. Hinsichtlich beider Theorien kann man sich allerdings fragen, warum gerade die von den Autoren aufgeführten Kontexte (und nicht andere) konstitutiv für den Text bzw. das Textverstehen sein sollen. Beide Autoren schlagen aus ihrer je spezifischen Untersuchungsperspektive (Coseriu geht vom Text aus, Fillmore vom Textverstehen) plausible Ausdifferenzierungen des Kontextbegriffs vor. Eine Begründung für die jeweils angenommenen Kontexttypen findet sich allerdings weder bei dem einen noch dem anderen.

5.2. Relevanztheorie Eine weitere, für die linguistische Konzeption des Kontextbegriffs bedeutsame Position ist die Relevanztheorie, die zum ersten Mal 1986 von Sperber und Wilson in ihrem Buch Relevance. Communication and Cognition vorgestellt wurde. Was sind, vereinfachend zusammengefasst, die Grundthesen dieser Theorie? Die Bezeichnung „Relevanztheorie“ hängt mit der von Paul Grice formulierten Konversationsmaxime „Be relevant“ zusammen. Sie verweist auf die pragmatisch orientierte Ausrichtung dieser Theorie. Kommunikation wird verstanden als Austausch von Information, wobei jedes Sprechereignis als ostensiver Reiz verstanden wird, mit dem der Sprecher seinem Gesprächspartner nahelegt, das Geäußerte als relevant anzunehmen. Der Sprecher produziert mit seiner Äußerung Stimuli, die es dem Hörer ermöglichen, durch Selektion entsprechender kognitiver Kontexte die Intention des Sprechers zu verstehen. Kontexte sind demzufolge nicht als gegebene Voraussetzungen eines Sprechereignisses anzusehen, sondern, so die Autoren, als in der Verarbeitung einer Äußerung abgerufenes Wissen zur Maximierung der Relevanz: It is not that first the context is determined, and then relevance is assessed. On the contrary, people hope that the assumption being processed is relevant (or else they would not bother to process it at all), and they try to select a context which will justify that hope: a context will maximize relevance. In verbal comprehension in particular, it is relevance which is treated as given, and context which is treated as a variable.34

34

Sperber/Wilson (21995) 142.

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In Anknüpfung an Sperber/Wilson und in expliziter Abgrenzung von den traditionellen klassifikatorischen Theorien, in denen Kontexte als unterschiedlich geartete, an der Determinierung des Textsinns unmittelbar beteiligte „Umgebungen“ von Sprachzeichen angesehen werden, vertritt Kleiber (1994) eine dynamische und konstruktivistische Theorie, der zufolge Kontexte als eine ausschließlich „kognitive Realität“ modelliert werden. Den Unterschied zwischen traditionellen und psychologischen Theorien definiert er wie folgt: Une telle conception (sc. psychologique) du contexte se sépare en effet radicalement de la conception classique en ce qu’il s’agit cette fois-ci d’un phénomène éminemment mémoriel. Le contexte n’est plus conçu comme quelque chose d’extérieur, mais comme une réalité cognitive : contexte linguistique, situation extra-linguistique, connaissances générales se retrouvent tous traités mémoriellement : ils ont tous le statut de représentation interne, même s’ils se différencient quant à l’origine et au niveau de la représentation (mémoire courte, mémoire longue, etc.).35

Kleiber unterscheidet dementsprechend drei für den Textsinn maßgebliche Kontexte, die ja auch bei Coseriu angelegt sind: den sprachlichen Kontext, die außersprachliche Situation und das gemeinsame Wissen von Sprecher und Hörer.36 Im Gegenzug zur traditionellen Theorie wird in der konstruktivistischen die Relation der Bestimmung von Text und Kontext umgekehrt: Es ist nicht mehr der Kontext, durch den der Sinn eines Textes maßgeblich festgelegt wird, sondern der Text selbst gibt die Wahl eines angemessenen kontextuellen Modells vor.37 Gegenüber den klassifikatorischen Konzeptionen Bühlers und Coserius werden die textuellen Kontexte bei Kleiber im Anschluss an die Relevanztheorie als ausschließlich kognitive Bezugsgrößen in die sprechenden Subjekte verlegt. Trotz der eindeutigen Option für einen kognitiven Ansatz macht der Autor gleichwohl auf nicht zu übersehende Unwägbarkeiten der kognitiven Linguistik aufmerksam. Seiner Auffassung zufolge verfügen wir über keine sicheren Kenntnisse hinsichtlich der Strukturierung unseres sprachlichen und enzyklopädischen Wissens: „quelle est la structuration pertinente?

35 36 37

Kleiber (1994) 19. Vgl. Kleiber (1994) 14. Vgl. Kleiber (1994) 18.

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Sous forme de prototype?38 (…) sous forme de frame (cadre), de réseau sémantique etc.? Le débat reste ouvert.“39

6. Textlinguistik Die Textlinguistik hat sich wie die Pragma- und die Soziolinguistik gegen Ende der sechziger Jahre als neue Teildisziplin innerhalb der Sprachwissenschaft etabliert. Dabei haben sich den verschiedenartigen Forschungsinteressen entsprechend zwei grundlegende Ausrichtungen herausgebildet:40 zunächst die sprachsystematische, d. h. an der Einzelsprache (oder langue) orientierte Textlinguistik oder transphrastische Analyse, in der es um die Erfassung der satzübergreifenden sprachlichen Phänomene geht. Sie ist im Grunde nichts anderes als eine Erweiterung der traditionellen Grammatik, da nun nicht mehr wie zuvor der Satz, sondern über diesen hinausgehend der Text die komplexeste sprachwissenschaftliche Beschreibungsebene darstellt. Analysiert werden all jene Ausdrucksmittel, die die grammatische Kohärenz von Texten begründen, d. h. die grammatischen Verbindungen jenseits der Satzgrenze. Die zweite Ausrichtung ist die kommunikationsorientierte Linguistik. Sie untersucht, unter Einbeziehung von Ansätzen aus der Semantik, Pragmatik und Modellen zur thematischen Progression,41 den Text im Sinne eines konkreten Kommunikationsereignisses, ist also an der parole orientiert. In den meisten Handbüchern zur Textlinguistik wird inzwischen ein im Sinne Brinkers „integrativer Textbegriff“ vertreten,42 indem diese beiden Ansätze nicht als einander entgegengesetzt, son-

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39 40 41

42

Die Prototypensemantik beschäftigt sich mit der Frage, wie wir Welt sprachlich kategorisieren und welche internen Strukturen unseren Kategorien zugrunde liegen. Eine zentrale These der Prototypensemantik besagt, dass unsere Kategorien über Prototypizitätseffekte funktionieren, dass etwa die Kategorie Vogel in bestimmten Sprachgemeinschaften optimal durch den Spatz repräsentiert wird, während andere Vertreter dieser Spezies wie der Pinguin oder der Strauß eher den Randbereichen dieser Kategorie zuzuordnen sind; vgl. dazu Kleiber (1993) 33–48. Kleiber (1994) 19. Vgl. Brinker (82014) 13–23. Bei der Untersuchung der thematischen Progression geht es darum, die für Texte typischen Strukturmuster in der Abfolge von Thema (der bekannten, kohärenzbildenden Information) und Rhema (der neuen Information) festzustellen. Vgl. Brinker (82014) bes. 17–20.

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dern als komplementär und das ihnen entsprechende methodische Instrumentarium als in gleicher Weise für die Textanalyse geeignet behandelt wird. Obwohl es in der Textlinguistik, je nach Ansatz, gerade um die Erfassung der innersprachlichen und außersprachlichen Zusammenhänge des Textes und somit um solche Kontexte geht, durch welche Texte sich in ihrer Sinnbildung konstituieren, wird eine systematische Behandlung dieses Themas in den einschlägigen Handbüchern in der Regel nicht vorgenommen, wie denn auch der Kontextbegriff selbst erstaunlicherweise eher selten verwendet wird. Eine Ausnahme bildet die Textlinguistik Coserius, in die als ein wichtiges Theoriestück die Lehre von den Umfeldern integriert ist.43 Ansonsten werden die für den Text relevanten kontextuellen Phänomene in der Textlinguistik grundsätzlich zwar behandelt, allerdings zumeist eben nicht terminologisch unter dem Titel Kontext. In Orientierung an den von Koch/Oesterreicher vorgeschlagenen Kontexttypen (vgl. Kap. 2) soll daher im Folgenden kurz skizziert werden, welche Themen textlinguistischer Forschung diesen kontextuellen Phänomenen korrespondieren: 1. Der situative Kontext Dieser Kontexttyp wird insbesondere in solchen Zusammenhängen thematisiert, in denen Texte als kommunikative Ereignisse unter Einbindung pragmatischer Perspektiven thematisiert werden. Hier taucht gelegentlich der Begriff des Kontextes auf, so bei Heinemann/Viehweger, die den kommunikativ-situativen Kontext durch folgende Faktoren definieren: • „Präsuppositionen als kommunikative Voraussetzungen für das Produzieren und vor allem das Verstehen von Texten“ • in der mündlichen Kommunikation „sprachbegleitende Phänomene (Gestik, Mimik, Stimmführung und Rhythmus)“ • „raumzeitliche Umgebungsbedingungen von Texten“.44 2. Der Wissenskontext Dieser Kontexttyp hat vor allem durch den Einfluss der kognitiven Linguistik an Bedeutung gewonnen. Besondere Berücksichtigung findet er in solchen Arbeiten, die den Text unter dem Aspekt des Verstehens analysieren und die da-

43 44

Vgl. Coseriu (42007) 124–137. Heinemann/Viehweger (1991) 51.

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mit verbundenen kognitiven Verarbeitungsprozesse zu rekonstruieren versuchen.45 Auch in der Untersuchung der im Text bloß implizit artikulierten Sinnbezüge sowie in der Definition von Kohärenz wird in textlinguistischen Arbeiten auf den Wissenskontext Bezug genommen. In den aktuellen Publikationen zur Textlinguistik wird Kohärenz meist als „Ergebnis kognitiver Prozesse“ akzentuiert und z. B. (ich zitiere aus einer 2014 erschienenen Einführung) wie folgt festgelegt: Kohärenzrelationen können entweder durch Vertextungsmittel zwischen Sätzen explizit ausgedrückt oder über Semantik sowie Weltwissensaktivierung erschließbar sein. Die Kontinuität zwischen den Teilen eines Textes zu erkennen, bedeutet, plausible Relationen zu erkennen. Entscheidend ist also das Kriterium der Plausibilität. Plausibilität ergibt sich kognitiv durch Schema-Aktivierung oder Inferenzziehung. Die textuellen Informationswerte werden in Relation zu im LZG [Langzeitgedächtnis] gespeicherten Standardwerten gesetzt und (…) vom kognitiven Prozessor auf Stimmigkeit bzw. Übereinstimmung geprüft. Die Kohärenz eines Textes hängt (…) wesentlich von unserer geistigen Aktivität und unserem im Gedächtnis gespeicherten Weltwissen ab.46

Terminologisch orientieren sich die Autoren in der kognitiven Auslegung des Kohärenzbegriffs offensichtlich an der Künstliche-Intelligenz-Forschung (Schema, kognitiver Prozessor) sowie an der Pragmatik. Inwieweit diese Begriffe ihrerseits wissenschaftlich näher ausgewiesen sind, wird in der Linguistik in der Regel nicht hinterfragt, zumeist werden sie einfach übernommen. 3. Der sprachlich-kommunikative Kontext (Ko-text) Die Untersuchung der diesem Kontexttyp zuzuordnenden sprachlichen Phänomene bildet meist einen besonderen Schwerpunkt textlinguistischer Arbeit. Dazu gehören alle Phänomene, die mit Kohärenz im weitesten Sinne zu tun haben:47 grammatische Aspekte (explizit: Anapher, Katapher etc., implizit: El-

45 46

47

Vgl. u. a. van Dijk/Kintsch (1983). Schwarz-Friesel/Consten (2014) 89–90. Inferenzziehung bedeutet die Erschließung von im Text nicht explizit formulierten, sondern vorausgesetzten oder bloß implizit angedeuteten Inhalten. Der Vorgang der Inferenzziehung ist wichtig für die Erfassung textueller Kohärenz. Neben dem hier im weiten Sinn gebrauchten Kohärenzbegriff wird von einigen Autoren in der Textlinguistik auch der Terminus Kohäsion verwendet, um mit ihm speziell die grammatischen und lexikalischen Indikatoren des Textzusammenhangs von seinem semantisch-kognitiven Sinngehalt abzugrenzen, der in diesem Fall als Kohärenz bezeichnet wird.

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lipse etc.), semantische Aspekte (lexikalische Zusammenhänge: Isotopien), thematische Aspekte (Aufbau der Informationsstruktur oder Thema-RhemaGliederung) sowie schließlich phonische Aspekte (Reim, Alliteration etc.).48 4. Der parasprachlich-kommunikative Kontext und der nichtsprachlich-kommunikative Kontext Diese beiden von Koch/Oesterreicher erwähnten Kontexttypen werden in der Textlinguistik bloß sporadisch thematisiert, da sie die mündliche Kommunikation betreffen, im ersten Fall Intonatorisches wie „Sprechgeschwindigkeit“ und „Lautstärke“, im zweiten Fall „Gestik, Mimik, Körperhaltung, Proxemik“.49 Oft werden diese Aspekte wie bei Heinemann/Viehweger in den situativen Kontext integriert.

7. Fazit Wie unsere selektive Skizze linguistischer Theorien zum Kontextbegriff verdeutlicht haben dürfte, zeichnen sich in der Vielzahl von theoretischen Ansätzen und vorgeschlagenen Unterscheidungen immer wieder drei Kontexte als grundlegend aus: der sprachliche Kontext, der situative Kontext und der Wissenskontext. Unstrittig dürfte sein, dass der schriftliche Text gegenüber dem mündlichen kontextuell defizitär ist und dies durch entsprechende verbale Mittel kompensieren muss. Dies betrifft insbesondere den Situationskontext und seine Faktoren, die in der mündlichen Kommunikation in der Regel unmittelbar gegeben sind. Welcher Stellenwert dem einzelnen Kontexttyp in einer Theorie und in der Analyse eines Textes zukommt, hat nicht mit der Beschaffenheit eines Textes allein zu tun: da Kontext ein relationaler Begriff ist, hängen seine inhaltlichen Ausdifferenzierungen und deren Fokussierungen vom jeweiligen theoretischen Ansatz und vom Gegenstand einer Untersuchung ab. Dies wurde in den

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49

Aus der inzwischen kaum noch überschaubaren Literatur zu diesem Thema sei hier nur auf eine kleine Auswahl mit den einschlägigen Kapiteln hingewiesen: Brinker (82014) 21–87; Heinemann/Viehweger (1991) 19–49; Adam (32011) 103–169; Gülich/Raible (1977) 60–89; 116–127; Schwarz-Friesel/Consten (2014) 74–127. Vgl. Koch/Oesterreicher (22011) 11.

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vorgestellten Kontexttheorien unmittelbar deutlich. Die erste umfassende linguistische Kontexttheorie, die von Bühler ausgehende Umfeldlehre Coserius, hat ihren Ort zunächst innerhalb des Entwurfs einer allgemeinen Linguistik des Sprechens, später hat Coseriu sie in seine Konzeption von Textlinguistik integriert. Coseriu wollte eine inhaltlich möglichst ausdifferenzierte Theorie vorlegen, die sowohl den Umfeldern der mündlichen Rede wie auch des geschriebenen Textes, sowohl den Kontexten des explizit Geäußerten wie auch des bloß implizit Evozierten Rechnung tragen sollte. Kritisierbar sind in seiner Theorie die z. T. heterogenen Akzentuierungen einzelner Typbegriffe des Kontextes, in denen Aspekte des Sprach- und Weltwissens des Subjekts, der Einzelsprache und des Textes miteinander verschmolzen werden. Ganz anders fokussiert demgegenüber die Soziolinguistik die Kontextfrage. Die Untersuchung der Interpretation und Konstruktion sozialer Situationen durch die Sprecher lenkt das Interesse vor allem auf den situativen Kontext. Wie sich in den ausgewählten Theorien zeigte, wird Situation hier als ein dynamischer Prozess verstanden und durch das Ineinanderwirken von sprachlichen, situationellen und wissensbasierten Gegebenheiten von den Kommunikationsteilnehmern immer wieder neu konstruiert. Bei den kognitionslinguistisch orientierten Theorien stellt sich das Problem heterogen bestimmter Kategorien grundsätzlich nicht, da, wie Kleiber formuliert, Kontext einzig und allein als eine „réalité cognitive“ konzipiert wird, die in der Formulierung und Interpretation sprachlicher Äußerungen durch Sprecher und Hörer ständig modifiziert und dem jeweils Geäußerten angepasst wird. Der Rückschluss auf die der Produktion und Rezeption von Texten zugrunde liegenden Wissenskontexte bzw. mentalen Vorgänge kann sicherlich gewisse Plausibilitäten aufzeigen. Allerdings ist die Linguistik allein nicht in der Lage, auch wenn seit der „kognitiven Wende“ in der Sprachwissenschaft manche Autoren sich den Anschein geben, mit ihrem Instrumentarium de facto stattfindende kognitive Prozesse zu rekonstruieren und fundierte Erkenntnisse zu diesem Thema zu liefern. Dazu bedürfte sie vielmehr der Unterstützung aus solchen Disziplinen, deren genuiner Gegenstand die menschliche Kognition ist. Die sprachwissenschaftliche Analyse von Kontexten hat auf jeden Fall beim sprachlichen Kontext (Kotext) anzusetzen. Nicht nur zu den expliziten, sondern auch zu den impliziten kontextuell relevanten Ausdrucksmitteln sind im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte innerhalb ganz unterschiedlicher Ausrichtungen zahlreiche Arbeiten veröffentlicht worden. Welches Modell einer

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Untersuchung zugrunde gelegt und welche Kontextfaktoren schwerpunktmäßig berücksichtigt werden, ist letztlich eine hermeneutische Entscheidung, die durch das jeweilige Textverständnis eines Verfassers und durch sein Erkenntnisziel geleitet wird. Literatur Adam, J.-M. (32011): La linguistique textuelle, Paris. Aschenberg, H. (1999a): Kontexte in Texten. Umfeldtheorie und literarischer Situationsaufbau, Tübingen. Aschenberg, H. (1999b): „Zum Kontextbegriff in der Übersetzungsforschung“, in: Greiner, N. et al. (Hgg.), Texte und Kontexte in Sprachen und Kulturen, Trier, 7–33. Aschenberg, H. (2001): „Sprechsituationen und Kontexte“, in: Haspelmath, M. et al. (Hgg.), Language Typology and Language Universals, Bd. 1, Berlin/New York, 435–444. Aschenberg, H. (2015): „Subjectivité et objectivité dans la pensée linguistique de Coseriu“, in: Gérard, C., Missire, R. (Hgg.), Eugenio Coseriu aujourd’hui. Linguistique et philosophie du langage, Limoges, 207–219. Blank, A. (1997): Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen. Brinker, K. (82014): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin. Bühler, K. (21965): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart. Coseriu, E. (1975): „Determinierung und Umfeld“, in: Ders., Sprachtheorie und Allgemeine Sprachwissenschaft, München, 253–290. Coseriu, E. (42007): Textlinguistik. Eine Einführung. Herausgegeben und bearbeitet von J. Albrecht, Tübingen/Basel. Croft, W., Cruse, A. D. (2004): Cognitive Linguistics, Cambridge. Dijk, T. A. van, Kintsch, W. (1983): Strategies of Discourse Comprehension, London. Fillmore, C. J. (1985): „Frames and the Semantics of Understanding”, Quaderni di semantica 6, 222–254. Fillmore, C. J. (2003): „Topics in Lexical Semantics“, in: Ders., Form and Meaning in Language, Stanford, 201–260. Firth, J. R. (1957): Papers in Linguistics 1934–1951, London. Firth, J. R. (1964): The Tongues of Men and Speech, London. Firth, J. R. (1968): Selected Papers of J. R. Firth 1952–1959, hg. von F. R. Palmer, London. Goodwin, C., Duranti, A. (1992): „Rethinking context: an introduction“, in: Duranti, A., Goodwin, C. (Hgg.), Rethinking Context: Language as an Interactive Phenomenon, Cambridge, 1–42. Gülich, E., Raible, W. (1977): Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten, München. Heinemann, W., Viehweger, D. (1991): Textlinguistik. Eine Einführung, Tübingen. Kabatek, J. (2000): „L’oral et l’écrit – quelques aspects théoriques d’un ‚nouveau‘ paradigme dans le canon de la linguistique romane“, in: Dahmen, W. et al. (Hgg.),

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Heidi Aschenberg

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Der Leser als/im Kontext interpretativer Zuschreibungen Marcus Willand (Stuttgart)

Abstract The following article examines the function empirical readers or theoretical reader models have in literary interpretation. Instead of analysing actual, reader-based attributions made in scholarly interpretations, I consider the possibilities offered by various literary theories to reflect on the function of readers and reader models. In a first step, I show the context dependency of interpretation with respect to the historical context of literary communication situations. Subsequently, I address the preceding question about readers and reader models as context: Is it possible to describe the reader and other parties involved in literary communication as a context of a literary text? To answer this, a system of reader models as described in chapter three will prove helpful. Finally, I highlight how reader models, as more or less explicitly formulated elements of each interpretation theory, help to identify the theory’s implicit framework of legitimate and illegitimate contextual references.

1. Kontext: Begriff und Problemzusammenhang In dem folgenden Beitrag soll eine Antwort auf die Frage gesucht werden, welche Funktion Leser bzw. literaturwissenschaftliche Lesermodelle bei interpretativen Zuschreibungen übernehmen. Dabei werde ich keine tatsächlich gemachten Zuschreibungen in Interpretationen analysieren, sondern die Möglichkeiten aufrufen, die unterschiedliche Literaturtheorien bieten, um über den Leser im historischen Kontext einer literarischen Kommunikationssituation nachzudenken. Diese metatheoretische Perspektive erlaubt es darüber hinaus, die vorgelagerte Frage nach dem Leser als Kontext zu stellen: Kann man den Leser und andere an der literarischen Kommunikation beteiligten Akteure überhaupt als Kontext eines literarischen Textes bezeichnen? In einem ersten Schritt soll die Kontextabhängigkeit interpretativer Zuschreibungen aufgezeigt werden. Immerhin wird der interpretationspraktische Bezug auf Kontexte legitimiert durch zwei diametral argumentierende inter-

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pretationstheoretische Versprechen, die als Inklusions- und Exklusionsregeln von Kontexten beschrieben werden können. Sie lauten: 1. Durch die Funktionalisierung bestimmter Kontexte soll ein Mehr an Wissen für die Textinterpretation greifbar gemacht werden. 2. Durch die Funktionalisierung bestimmter Kontexte soll ein Zuviel an Wissen für die Textinterpretation ausgeschlossen werden. Natürlich kann ein Text mit so ziemlich allem in der Welt in eine Beziehung gesetzt werden, aber die Privilegierung eines bestimmten Kontextes heißt immer auch, interpretative Beliebigkeit zu reduzieren, indem durch eine Grenzziehung andere Kontexte als irrelevant oder zumindest weniger relevant ausgezeichnet werden. So heißt es bei Nicholas Rescher etwa: „Der entscheidende Punkt ist also, daß jeder Text in einem historischen und kulturellen Kontext steht (…). Der Kontext der Texte (…) schränkt die möglichen Interpretationen (…) ein und umgrenzt sie“.1 Eine Theoriegeschichte der Literaturwissenschaft ließe sich ohne weiteres anhand eben dieser metaphorisch2 eingesetzten Grenzsetzungen schreiben.3 Das Ausmaß und der argumentative Modus aber, in dem der Leser und Lesermodelle bei der theoretischen Begründung solcher Demarkationen als Kontext interpretativer Zuschreibungen eingesetzt werden, ist bislang weitestgehend stiefmütterlich behandelt worden. Um dies aufarbeiten zu können, müssen zuvor jedoch erst einmal die interpretationstheoretischen Begriffe Bedeutungskonzeption und Interpretationskonzeption eingeführt werden. Die durch In- und Exklusion angedeutete Hierarchisierung von Kontextbezügen ist – wie alle anderen Relevanzpostulate auch – an bestimmte Bedingungen und Bestimmungen geknüpft. Diese sind, um der Terminologie von Lutz Danneberg zu folgen, in der „Bedeutungskonzeption“ einer literaturtheoretischen Position festgelegt.4 Die Bedeutungskonzeption bestimmt im Kern,

1 2

3

4

Rescher (2008) 177–190; 181. Dass diese Metapher auch in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion um die objektive und parteiliche Rekonstruktion historischen Wissens virulent ist, zeigt etwa Kocka (1977) 469–475. Um nur einige Einsetzungen des Beliebigkeitskonzepts zu nennen: Iser (1972) 81 u. 184; Hempfer (1987) insb. 281–284; Danneberg/Vollhardt (1992) 7–9, hier 7; Jahraus (1994) 1–51, insb. 40; Danneberg (1999) 77–105; Klausnitzer (2015) 151–184; Kablitz (2013); Vollhardt (2015) 31–42. Zu dem Begriff vgl. Danneberg/Müller (1981) 133–168 und Danneberg (1998) 194–214, insb. 206. Im Anschluss an diese Überlegungen vgl. Jannidis et al. (2003) 3–30.

Der Leser als/im Kontext interpretativer Zuschreibungen

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welche Kontexte für die Bedeutungszuschreibung an einen Text primär sind. Einigermaßen grobgranular, aber umso deutlicher, lassen sich die prominentesten Bedeutungskonzeptionen der Literaturwissenschaft nach Autor-, Textund Leserbezug rubrizieren. Dabei wird die bedeutungskonstitutive Kraft diesen Elementen in unterschiedlicher Gewichtung zugeschrieben. Generell lässt sich sogar sagen, dass innerhalb einer Bedeutungskonzeption recht große Spielräume gegeben sind für die Zuschreibung und Gewichtung weniger relevanter Bedeutungselemente, sprich sekundärer Kontexte. Diese lassen sich als Teil der Interpretationskonzeption beschreiben. Ihr Verhältnis zur Bedeutungskonzeption definiert Danneberg wie folgt: In der Interpretationskonzeption, die der Bedeutungskonzeption zugeordnet ist, kommt es zur Verknüpfung und Hierarchisierung von weiteren Kontexten in Bezug auf den primären Kontext. Diese Gewichtung und Verknüpfung von Kontexten zu einer (partiell) geordneten (unvollständigen) Hierarchie im Hinblick auf den primären Kontext kann aufgrund unterschiedlicher Annahmen zustande kommen – empirischen, quasi-empirischen oder definitorischen. In welchen Bruchstücken eine solche Hierarchie von Kontexten formuliert sein mag, sie ist die Grundlage für die Gewichtung von Argumenten für oder gegen die Interpretation des Textes.5

Übertragen auf die tatsächlich vertretenen literaturtheoretischen Positionen heißt das, einer beispielsweise den Autor als primären Kontext setzenden Bedeutungskonzeption können unterschiedliche Interpretationskonzeptionen untergeordnet werden, die auf je spezifische Weise den Autor fokussieren. Innerhalb eines hermeneutischen Intentionalismus beispielsweise wäre es denkbar, für den interpretativen Intentionsbezug den sekundären Kontext der Selbstinterpretationen (interpretatio authentica) eines Autors heranzuziehen.6 Ebenso könnte aber auch die Rekonstruktion des Wissens – im Folgenden: Enzyklopädien7 – von Zeitgenossen des Autors als solch ein Sekundärkontext 5 6 7

Danneberg (1998) 8. Vgl. hierzu Danneberg (1999) 77–105; Danneberg (2003) 644–711. Der Begriff Enzyklopädie inkludiert in der hier intendierten Verwendung sämtliche Formen von kulturellem, sprachlichem und praktischem Wissen (und macht somit deutlich, dass mit Wissen mehr gemeint ist als reines Faktenwissen). Vgl. hierzu Eco (1990) 94 und in kritischem Anschluss an ihn Jannidis (2004) 70; Titzmann (1977) 263–272, hier 268 bestimmt das von mir mit dem Enzyklopädiebegriff ausgezeichnete Wissen als die Menge aller bewusst und unbewusst von einer „Kultur für wahr gehaltenen Propositionen“ und versteht somit auch die „Sprachkompetenz und jedes andere Kode- oder Systemwissen einer Kultur“ als Teil dieser Wissensbestände.

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fungieren (sensus auctoris et primorum lectorum).8 Um den Primärkontext der Autorintention zugänglich zu machen, werden in Interpretationskonzeptionen also völlig unterschiedliche Sekundärkontexte eingesetzt. Eine Autortheorie kann aber durchaus auch dem Text selbst Bedeutungsrelevanz in unterschiedlichem Maße attribuieren. Eine recht starke Betonung der Textrelevanz innerhalb einer Autortheorie ist beispielsweise gegeben, wenn eine Bedeutungskonzeption postuliert, dass der Autor Bedeutung in den Text hineinschreibt und der Text dann Träger dieser Bedeutung wird.9 Aus kontexttheoretischer Perspektive sind diese Texttheorien nur theoretisch uninteressant, denn in dem Moment, in dem sie den zu analysierenden Einzeltext immanentistisch als einzige Quelle ihres Textumgangs definieren, disqualifizieren sie die Möglichkeit, andere Kontexte als sekundäre Kontexte zu denken. Der Primärtext kann sich selbst bereits per definitionem nicht Primär-Kontext bzw. Kontext überhaupt sein.10 Die konsequenteste Umsetzung einer immanentistischen (und das heißt: anti-kontexualistischen) Lektüre wurde sicherlich von Roman Jakobson und Claude Levi-Strauss in der BaudelaireAnalyse von Les Chats vorgelegt, bleibt in ihrer Konsequenz aber Unikat.11 Die deutschsprachige sogenannte textimmanente Nachkriegsliteraturwissenschaft hingegen hat sich nie ernsthaft darum bemüht, Kontexte wie den Autor, seine Zeitgenossen oder emotionale Zustände des interpretierenden Literaturwissenschaftlers aus der Menge interpretationsrelevanter Bezüge auszuschließen und daher sind diese Ansätze hinsichtlich ihrer Annahmen über die interpretative Funktion von Kontexten praktisch durchaus interessant.12

8 9 10

11

12

Vgl. hierzu Danneberg (2015) 407–458 und Willand (2015) 161–191. Zu den hier angedeuteten „Containertheorien“ literarischer Bedeutung s.u. Kapitel 4: Systematik von Lesermodellen. Vgl. hierzu die erste von drei Festlegungen zur Bestimmung von Kontexten: „Wird einem Text oder einem Textausschnitt ein Kontext zugewiesen, so kann dieser Text nicht selbst Teil des Kontextes sein.“ (Danneberg (2000a) 333–337, hier 333). Vgl. Jakobson/Lévi-Strauss (2007) 251–288. Die Gedichtanalyse erfuhr eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit ohne schulbildend zu werden – siehe etwa den Sammelband Delcroix/Geerts (1981) –, was retrospektiv als Zeichen ihres stark artifiziellen Charakters und ihrer funktionalen Bedeutungslosigkeit einzuschätzen ist. So muss auch Birus (2007) XIII–XLVIII verstanden werden. Siehe exemplarisch Staiger (1951) 1–15, der nicht nur die Liebe des Interpreten zum Text (Staiger (1951) 3) als Interpretationsbedingung veranschlagt, sondern auch – auf die Stil- und Rhythmustheorie Gustav Beckings zurückgreifend – das „Kriterium des Gefühls [als] das Kriterium der Wissenschaftlichkeit“ (ebd.) bestimmt.

Der Leser als/im Kontext interpretativer Zuschreibungen

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Diesen (mehr oder weniger) textbezogenen Bedeutungskonzeptionen stehen Theoriepositionen gegenüber, die dezidiert literarische oder außerliterarische Kontexte für eine angemessene Interpretation literarischer Texte veranschlagen. Ansätze dieser Art, zu denen u. a. die Sozialgeschichte, Ideengeschichte und Diskursanalyse zu zählen sind, provozieren die im Folgenden zu klärende Frage, ob kommunikative Agenten und damit eben auch Leser (bzw. Lesermodelle) als Kontexte interpretativer Zuschreibungen gelten können.

2. Der Leser als Kontext interpretativer Zuschreibungen Folgt man einer sehr allgemeinen Definition von „Kontext“, etwa der, mit der das Lemma „Kontext“ im Reallexikon seinen Explikationsteil beginnt, muss das Wort als ein „zumindest dreigliedriger Ausdruck“ verstanden werden: „A ist Kontext für B in Hinsicht auf C“.13 Daraus lassen sich basale Interpretationskonzeptionen literaturwissenschaftlicher Kontexttheorien ableiten, die das eben theoretisch Gesagte in die reale Praxis der Interpretation überführen. Ein Beispiel für eine kontextbasierte Interpretation, die ein Textmerkmal C vor dem Hintergrund einer sozialhistorischen Beobachtung A interpretiert, wäre etwa: {Das politische System = A} ist Kontext für {den literarischen Text = B} in Hinsicht auf {die darin verhandelte Herrschaftsproblematik = C}.

Akteursspezifisch umformuliert würde der Satz in einer autorintentionalen Bedeutungskonzeption etwa lauten: {Der soziale Stand des Autors = A} ist Kontext für {den literarischen Text = B} in Hinsicht auf {die vom Autor intendierte Kritik an dem Herrschaftssystem = C}.

Da diese Umformulierung die dreigliedrige Schemadefinition von „Kontext“ nicht verletzt, können also auch akteursbezogene interpretative Sätze als Aussagen einer Kontext-Theorie gelten. Damit ist gewissermaßen eine formale Herleitung für die Behauptung erbracht, dass auch Autor- und auch Lesertheorien als literaturwissenschaftliche Kontexttheorien verstanden werden können. Nun lässt sich die Frage stellen, auf welche Weise diese Theorien den Leser für interpretative Zuschreibungen funktionalisieren.

13

Danneberg (2000a) 333.

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3. Der Leser im Kontext interpretativer Zuschreibungen Bleibt man bei der bereits eingeführten pragmatischen Perspektive auf die literarische Kommunikationssituation, lässt sich diese in ihrer einfachsten Form wohl so darstellen: A

T

L

Der Autor schreibt einen Text und der Leser liest diesen Text. Was wir dabei vermissen – und das zeigt der weiße Hintergrund des Blattes hervorragend – sind Kontexte.14 Zwar haben sich im Laufe der Theoriegeschichte der Literaturwissenschaft auch Positionen herauskristallisiert, die den Kontext eines Textes entsubjektiviert verstehen und ohne hypothetischen Zugriff auf mentale Gehalte der historischen Akteure argumentieren. Unter hermeneutischen und kommunikationspragmatischen Vorzeichen sind es aber insbesondere der Autor und der Leser, die sich aufgrund bestimmter Produktions- und Rezeptionskontexte zu dem Text auf die eine oder andere Art verhalten. Dies lässt sich leicht historisch anhand eines im 18. Jahrhundert ventilierten hermeneutischen Konzepts aufzeigen, das als der Interpretationsgrundsatz des sensus auctoris et primorum lectorum bezeichnet wurde.15 Es ist zu verstehen als der Sinn, den der Autor und der/die erste(n) Leser eines Textes teilen. In Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung würde man dabei von den Kontexten sprechen, die sowohl der Autor als auch der Leser im gleichen Zeitraum als relevant für das Textverstehen auszeichnen. Diese gemeinsamen Wissensbestände sind für die Hermeneutik wichtig, um bei der historisierenden Interpretation die Enzyklopädien zeitgenössischer Leser funktionalisieren zu können, ohne final an dieses Wissen gebunden zu sein. In diesem Sinne ist es ein restriktives und ein öffnendes Konzept. Denn ebenso wie es den Hermeneuten auf historisch verfügbare Enzyklopädien einschränkt, ermöglicht es ihm, genuines Autorwissen von öffentlichen Enzyklopädien (etwa im Sinne Titzmanns als Durchschnittswissen von Gruppen) zu unterscheiden.16 Und dies ist wiederum die Vorausset-

14 15 16

Auf das „kontextuelle[ ] Weiß“, das jeden Titel umgibt, hat Derrida hingewiesen, vgl. Derrida (1992) 15–18. Siehe o. Anm. 8. Titzmann (1989) 47–61. Hierzu Jahraus (2014) 140–157.

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zung für unterschiedliche hermeneutische Operationen, etwa die Identifizierung von Akkommodation (die stark vereinfacht als die Ausrichtung von Autoren an den von ihnen angenommenen Leserenzyklopädien zu verstehen ist).17 Für die hier verfolgte Fragestellung ist das insofern relevant, als interpretative Konzepte wie der sensus auctoris et primorum lectorum aufzeigen – in diesem Fall über die Gemeinsamkeit bestimmter Enzyklopädien –, dass bereits die Hermeneutik Kontexte sehr stark in Abhängigkeit von den Kommunikationsteilnehmern, also historischen Subjekten denkt.18 Anhand des obigen Kommunikationsschemas und des Gedankens geteilter Kontexte lässt sich eine weitere Eigenschaft von Kontexten aufzeigen – die der Wechselseitigkeit:19 Für den Leser ist der Autor Rezeptionskontext, für den Autor ist der Leser Produktionskontext. Völlig ahistorisch gedacht ist diese Annahme unproblematisch, allerdings auch unbefriedigend. Überträgt man sie in eine beliebige, einst reale literarische Kommunikationssituation, ergeben sich Probleme aus der realiter vorhandenen epistemischen Asymmetrie von Produktion und Rezeption. Zwar kann so ziemlich jeder Leser, egal wann er den Text liest, diesen Text hinsichtlich seines Verhältnisses zum Autor befragen und somit den Autor als Kontext interpretativer Zuschreibungen setzen (schließlich hat der Leser auch retrospektiv mit dem Abstand von Jahrhunderten einen verhältnismäßig guten Zugriff auf zumindest einen Teil der Enzyklopädie des Autors). Dem Autor selbst sind demgegenüber nur sehr eingeschränkte Optionen gegeben, den Leser und insbesondere die zukünftigen Leser als Kontext der Produktion zu funktionalisieren. Man müsste tatsächlich hochgradig genialische Autorschaftsmodelle der literarischen Hermeneutik oder prophetische Autorschaftsmodelle der Bibelhermeneutik

17

18

19

Ein praktisches Beispiel findet sich bei Rußwurm (1800) 257–306. Als theoretisches Konzept wird es aufgearbeitet u. a. von Danneberg (2000b) 194–246 und Spoerhase (2007) 271–285. Es bleibt zu überprüfen, inwiefern die über historische Subjekte greifbar gemachten Kontexte identisch sind mit denjenigen, auf die sich auch sozialgeschichtliche oder diskursgeschichtliche Ansätze beziehen. Der Unterschied in der Funktionalisierung besteht bei ihnen ganz offensichtlich darin, dass die Kontextualisierung nicht wie bei der Hermeneutik über den kommunizierenden Agenten, sondern in der Regel über das Kommunikat direkt geleistet wird. Über die inhaltliche Dimension der Kontextualisierung sagt dies jedoch noch nichts aus. Im Reallexikon heißt es: „Bei veränderten Vergleichsbedingungen können die Relationsglieder ihren Platz tauschen.“, vgl. Danneberg (2000a) 333.

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voraussetzen,20 um ein Argument dafür formulieren zu können, dass der Autor alle seine Leser – auch die zukünftigen Leser und deren Enzyklopädien – als Produktionskontext verstanden hat. Im Anschluss an die somit eingeführte (und im Rahmen der Anachronismusdebatten bereits ausführlich diskutierte)21 Bedingung, bei der die Rede über interpretative Kontexte die Zeitachse zu berücksichtigen hat, soll die folgende Grafik betrachtet werden.

Abb. 1: Schema der Veränderung interpretativer Kontexte Für die folgenden Ausführungen muss diese Abbildung mit einigem Willen zur Abstraktion gelesen werden: Sie visualisiert die (an dieser Stelle nicht weiter begründbare) These, dass Autor und Leser zumindest teilweise in unterschiedlichen Kontexten stehen – bzw. unterschiedliche Enzyklopädien für die Textinterpretation veranschlagen können – und die Überschneidungsmenge dieser Kontexte mit zeitlichem Abstand vom Leser zum Autor tendenziell geringer wird. Darüber hinaus evoziert die schematische Darstellung die Frage nach der Position des Literaturwissenschaftlers in den unterschiedlichen Modellierun20

21

Für ein prophetisches Autorschaftsmodell im Kontext einer Interpretation der hermeneutica sacra vgl. exemplarisch Stein (1815) insb. 100: „Von einem Propheten verlangte man ausdrücklich, daß er weiter sehen sollte (…), wenn man auch seine Aussprüche nicht nach ihrem vollen Sinn und Gehalt aufzufassen im Stande war“. Eine ausführliche Rekonstruktion der vor allem im angloamerikanischen Raum geführten Debatten findet sich bei Spoerhase (2004) 169–240 und in den Debattenbeiträgen im selben Heft; für eine Übersicht zur deutschsprachigen Diskussion vgl. Speer (2003).

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gen historischen Verstehens, wobei sich zwei Thesen als mögliche Antworten gegenüberstellen lassen. Die eine behauptet, der Literaturwissenschaftler sei Teil der literarischen Kommunikation und reihe sich in die Menge der Leser (L1–Lx) ein. Ihr zufolge unterscheidet er sich von den meisten anderen Lesern nur modal, da seine Lektüre differenzierten wissenschaftlichen Praktiken und Routinen folgt, er aber dennoch bloß Leser bleibe.22 Die andere These steht im Dienste eines gänzlich anderen interpretationstheoretischen Blicks, lässt sich aber ebenfalls durch die Verortung des wissenschaftlichen Interpreten im Modell literarischer Kommunikation beschreiben. Nach dieser These habe sich der Literaturwissenschaftler gänzlich außerhalb der situativ und besonders im historischen Prozess veränderlichen literarischen Kommunikationssituationen zu positionieren. Seine Aufgabe bestehe insbesondere darin, die durch den Autor und/oder die jeweiligen Leser faktisch umgesetzten oder hypothetisch umsetzbaren Kontextualisierungen des Primärtextes als je historische zu reflektieren und in ihrem spezifischen Funktionieren zu beschreiben.23 Symptomatisch für die jeweilige These ist das individuelle Verständnis der Zugänglichkeit historischer Kontexte in Form von Enzyklopädien (also auch von Konzepten, Begriffen, Ideen usw.) und die Vermeidung bzw. Akzeptanz anachronistischer Schlüsse.24 Die systematische Beschreibung von Kontexten zeigt demnach deutlich, dass sich Interpretationstheorien insbesondere mit dem Problem asymmetrischer Enzyklopädien auseinanderzusetzen haben. Und dabei geht es um weit

22

23

24

Vgl. hierzu Willand (2014) 143–185 (Kap. III.3.1.2: „Poststrukturalistische Lese(r)konzepte“), wo die Lektüremodelle von Derrida, Barthes und de Man mit dem Anspruch der Eingliederung in eine rationale Systematik von Lesermodellen rekonstruiert werden. Hypothetisch arbeiten die Rezeptionsästhetik und die Hermeneutik, wobei – grob gesagt – die Rezeptionsästhetik vom Text auf den Kontext und die Hermeneutik vom Kontext auf den Text schließt. Auf faktische Rezeptionszeugnisse bezieht sich die Rezeptionsanalyse, vgl. hierzu Mellmann/Willand (2013) 263–281. Innerhalb der Anachronismusdebatten hat das sog. Verfügbarkeitsprinzip (Quentin Skinner: availability) bzw. Zugänglichkeitsprinzip (Gad Prudovsky: accessibility) eine nicht geringe Rolle gespielt. Kurz gesagt umreißt es die Frage, ob der historisierende Literaturwissenschaftler (oder Geschichtswissenschaftler) bei der Rekonstruktion einer historischen epistemischen Situation nur Wissen (und damit eben auch Beschreibungskonzepte, Ideen usw.) verwenden darf, die den historischen Akteuren selbst zugänglich waren. Für eine Debattenübersicht vgl. Spoerhase (2004) insb. 188–199 und Spoerhase (2007) 166.

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mehr als die Frage, ob ein bestimmtes Wissen für einen historischen Zeitpunkt noch nicht oder nicht mehr angenommen werden kann. Asymmetrisch ist u. a. auch das Verhältnis von Produktion und Rezeption (einer schreibt, viele lesen) und von Prospektion (des Autors) und Retrospektion (des Lesers).

4. Systematik von Lesermodellen Auch die folgenden Überlegungen zu Lesermodellen und Lesertheorien basieren auf der Identifizierung einer ganz grundlegenden Asymmetrie: derjenigen zwischen einer bemerkenswerten Vielfalt von literaturtheoretisch veranschlagten Lesermodellen und der vernachlässigten metatheoretischen Reflexion dieser Modelle in Form einer systematisierenden Darstellung dieses so heterogenen literaturtheoretischen Feldes. Dieser Befund ist umso auffälliger, wenn man bedenkt, dass die Autorschaftsforschung bereits seit der Jahrtausendwende, also seit inzwischen gut 15 Jahren, eine Systematisierung des Feldes betreibt und mit den Bänden von Detering, von Jannidis/Lauer/Martínez/Winko und nicht zuletzt der Monographie von Spoerhase als nahezu abgeschlossen gedacht werden kann.25 Dabei lassen sich in der Theoriegeschichte des Fachs und seiner engsten Nachbarn auch auf Leserseite kaum überblickbare Varianten von Lesermodellen unterscheiden. Bis heute sind das etwa 50 an der Zahl. Aus an anderer Stelle dargelegten Gründen26 resultiert hieraus eine hochdiffuse lesertheoretische Situation. Diese zu ordnen setzt erstens eine holistische Perspektive auf die Gemengelage und zweitens Konzepte voraus, die eine systematischvergleichende Reflexion ermöglichen. Das heißt, es bedarf einer relationalen Beschreibungssprache, um das Verhältnis der Formen und Funktionen leserbezogener Modellbildung untereinander herausarbeiten zu können, ohne bestimmte Modelle aufgrund einer theoretisch imprägnierten Denkoder Sprechweise zu privilegieren. Das Ziel der nun folgenden Überlegungen ist demnach eine literaturtheoretisch neutrale Systematik, die verdeut-

25 26

Vgl. Jannidis et al. (1999); Detering (2002); Spoerhase (2007) und zuletzt mit dezidiertem Systematisierungsanspruch Schaffrick/Willand (2014) 3–150. Vgl. Willand (2014) 45–58 (Kap. II.2: „Probleme der Kategorisierung von Lesermodellen“).

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licht, dass sich die spezifische Differenz der Lesermodelle durch deren jeweiliges Verhältnis zum Kontext des Textes oder als Kontext des Textes beschreiben lässt. Um die Übersichtlichkeit der Systematisierung zu bewahren, soll diese mit möglichst wenigen Begriffen einen möglichst großen Objektbereich unterschiedlichster Theorien beschreibbar machen.27 Das lässt sich am besten umsetzen, indem das sehr weite Spektrum lesertheoretischer Erkenntnisziele in ein Kategoriensystem aufgeteilt wird, das in diesem Fall aus drei Dimensionen besteht: der ontologischen, der funktionalen und der epistemologischen Beschreibung.

Abb. 2: Systematik literaturwissenschaftlicher Lesermodelle Auf der ersten (in der Abb. 2 linken) Ebene der ontologischen Differenzierung lassen sich reale von nicht-realen Leser(modelle)n unterscheiden, wobei die nicht-realen noch einmal untergliedert werden können in probabilistische, theoretische und fiktionale Modelle. In definitorischer Kürze lassen sie sich wie folgt beschreiben, wobei die Abgrenzung der Modelle durch ihren Kontextbezug zentral ist: 1. Der reale Leser. Dieser stellt selbst und völlig autonom einen direkten Bezug zwischen dem für ihn relevanten Kontextwissen und dem Primärtext

27

Vgl. ebd.

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her. Der Literaturwissenschaftler kann vorhandene Zeugnisse dieser Kontextualisierung (die man gewöhnlich Rezeption nennt) verwenden, um unterschiedliche Aussagen zu treffen. Diese sind: a) Aussagen darüber, wie ein Text in einem bestimmten Zeitraum verstanden wurde (Forschungsbereich: historische Rezeptionsforschung). b) Aussagen darüber, welche Notizen sich ein Leser gemacht hat, der selbst Autor ist: (Forschungsbereich: Autorenbibliotheken, Anstreichungen, intertextuelle Bezugnahmen, Einflussgeschichte und produktive Rezeption). c) Aussagen darüber, wie reale Leser Texte kognitiv verarbeiten und welche Voraussetzungen die Verstehensdifferenzen bedingen (Forschungsbereich: empirische Lese- und Lesekompetenzforschung, Eyetracking, bildgebende Verfahren, Fragebögen usw.). 2. Das Modell des probabilistischen Lesers. Es ist eine nicht-reale Modellannahme des eben beschriebenen realen Lesers. Als Modell stellt es selbst keine eigenen Kontextrelationen her. Da es auf der Grundlage von Daten über reale Leser generiert wird, fungiert es als Ausgangspunkt für interpretative Kontextualisierungen, die der Literaturwissenschaftler selbst vornimmt. Die Sozialgeschichte funktionalisiert solche Modelle häufig als Durchschnittsleser, etwa als „bürgerlicher Leser“.28 Strenger statistisch fundiert finden sich solche Durchschnittslesermodelle auch in der Buchmarktforschung, die etwa den allseits bekannten Leser im Alter zwischen 14 und 29 Jahren o.ä. untersucht. Das Ergebnis dieser Arbeiten ist, auch wenn es auf Daten oder Annahmen über reale Leser basiert, ein nicht-reales Lesermodell, das als Konzept bestimmte Enzyklopädien und damit faktische oder mögliche Kontextbezüge einer Gruppe von realen Lesern repräsentiert. 3. Das Modell des theoretischen Lesers wird demgegenüber gar nicht erst notwendigerweise mit dem Anspruch einer zumindest möglichen Entsprechung hinsichtlich realer Leser konzipiert. Es hat die Funktion, innerhalb der von der interpretativen Praxis losgelösten theoretischen Exploration die für eine Literaturtheorie möglichen Kontextualisierungen auszuloten. So kann etwa der legitime Aussagenbereich einer beispielweise hermeneutischen Historisierung aufgezeigt werden. Hierzu ein Zitat Schleiermachers

28

Um nur drei Beispiele zu nennen: vgl. Engelsing (1974); Raffler (1993); Yamanouchi (1998).

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zu seinem Konzept des ersten oder ursprünglichen Lesers, wie er auch in das Modell des sensus auctoris et primorum lectorum eingegangen ist:29 Um einen Gesichtspunct zu finden, aus welchem sich vielleicht zusammenstellen lässt, was zu unserer Aufgabe gehören muss, können wir uns einer Fiction bedienen. Wir denken uns die ursprünglichen Leser irgend einer der Zeit nach bedeutend entfernten Schrift. Wenn wir diejenigen unterscheiden, auf welche der Verfasser besondere Rücksicht genommen, so müssen wir sagen: jede Schrift muss so eingerichtet sein, dass sie von denen vollkommen verstanden werden kann, für welche sie ursprünglich bestimmt ist; (…). Spätere Leser müssen sich denen gleichstellen, die der Verfasser im Auge gehabt; und in dem Maaße, als sie dies können, wird die Sache für sie zugänglich und verständlich sein. Hieraus entsteht die Aufgabe, uns möglichst in die Stelle der ursprünglichen Leser zu setzen, für welche die neutestamentlichen Verfasser geschrieben haben.30

Wie das Zitat deutlich macht, wird der Sekundärkontext des zeitgenössischen Lesers modelliert und eingesetzt, um den Primärkontext der Autorintention zugänglich zu machen. Das heißt, dass bereits auf der Ebene der Theoriekonzeption über das Lesermodell legitime Verstehenskontexte eingegrenzt und illegitime ausgegrenzt werden. Bei dieser Bestimmung befinden wir uns nun aber nicht mehr nur auf der ontologischen Ebene der obigen Systematik, sondern sind bereits in die Beschreibung der Funktion übergegangen. Hier ist die Unterscheidung essentiell, ob ein Lesermodell an erster Stelle Funktionen für den Theoriebau oder für die interpretative Praxis übernimmt. Schleiermachers theoretisches Modell wird Theorieorientiert eingesetzt, der reale Leser in der Regel praktisch. Das heißt aber nicht, dass alle realen Lesermodelle ausschließlich praktisch eingesetzt werden. Wenn Norbert Groeben oder Siegfried J. Schmidt empirische Literaturwissenschaft mit dem Bezug auf reale Leser begründen, wird der reale Leser auf theoretischer Ebene argumentativ verwendet.31 4. Das Modell des fiktionalen Lesers ist für die hier verfolgte Fragestellung nicht relevant, da es vorwiegend – aber nicht ausschließlich – der fiktionalen Welt verpflichtet ist. Der einzige Zugang zu ihm ist das Buch, das die

29 30 31

Vgl. etwa Rußwurm (1800); Schleiermacher (1977) insb. 85 mit Bezug auf 78 und 123 (§ 12). Schleiermacher (1845) 6–7 (§ 4). Vgl. etwa die Begründungstexte der empirischen Rezeptionsforschung: Groeben (1972); Groeben (1977); Schmidt (1980); Schmidt (1982).

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fiktionale Welt eröffnet, die ihn ebenso konstituiert wie er sie mitkonstituiert. Er kann wie der ‚geneigte‘ Leser explizit genannt werden oder auch implizit bleiben. Mit wenigen Ausnahmen32 der jüngeren Theoriegeschichte interessieren sich für ihn weniger hermeneutische als narratologische oder fiktionstheoretische Ansätze.33 Es zeigt sich also, dass reale Leser und die unterschiedlichen nicht-realen Lesermodelle einen bedeutenden Unterschied hinsichtlich der Frage nach interpretativ relevanten Kontexten aufweisen. Reale Leser demarkieren Kontexte in der Regel restriktiv, da sie immer eine faktische Selektion einzelner Kontexte (etwa über Rezensionen) mit sich bringen. Der Kontextbezug über nicht-reale Lesermodelle selektiert ebenfalls Kontexte. Er gibt dem Literaturwissenschaftler innerhalb der durch sie demarkierten Kontexte (Publikationszeitraum; Goethezeit, Süddeutschland usw.) aber einen Raum für selbstgewählte interpretative Kontextbezüge auf Basis der so legitimierten Enzyklopädien. Die zentrale Stellung dieser kontextrestriktiven Funktion von Lesermodellen findet ihre Entsprechung im obigen Schaubild. Der dort nicht aufgeführte Vorschlag einer Systematisierung dieser Funktion setzt voraus, dass sich die spezifische Form der Kontextrestriktion sowohl auf praxis- als auch auf theoriebezogene Lesermodelle anwenden lässt. Drei Modi der Einschränkung haben sich dabei herauskristallisiert: die diachronische (also zeitliche), die diatopische (also räumliche) und die diastratische (also gesellschaftsstandbezogene). Die Restriktion der illegitimen Enzyklopädien durch Zeit und Raum findet vor allem in theoretischen Lesermodellen Anwendung – man denke an die Bemühungen der Hermeneutik um historische Angemessenheit34 –, während die Restriktion durch die Verortung in einer Gruppe der Gesamtgesellschaft vor allem in empirischen Ansätzen eine Rolle spielt.35 Auf der dritten, im Schaubild rechts angelegten epistemologischen Ebene werden Lesermodelle dahingehend differenziert, welche Instanz bzw. welche Textumgangsform als zentral für das Textverstehen eingesetzt wird. Die hier interessierende Forschungsfrage wäre vor dem Hintergrund der literarischen Kommunikationssituation so zu stellen: Was glaubt der Leser bzw. das Leser-

32 33 34 35

Hierzu zählt insbesondere Detel (2016). Für weitergehende Hinweise vgl. Willand (2014) 70–74. Vgl. hierzu Limpinsel (2013) und Willand (2016). Vgl. die Buchmarktforschung, etwa vertreten durch Baumgärtner (1973); Mann (1982); Fritz/Suess (1986); Noelle-Neumann/Schulz (1987); Muth (1993).

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modell, welche Instanz für die literarische Bedeutung die größte Relevanz hat? Mögliche Antworten sind u. a. der Autor, der Text und ich selbst. Der zuletzt genannte Selbstbezug kann je nach literaturtheoretischem Ansatz (vgl. Abb. 1) bedeuten, dass sich der Antwortgebende entweder als ein Leser und damit als Teil der literarischen Kommunikation begreift oder eben als Literaturwissenschaftler, der diese literarische Kommunikation als den Objektbereich seiner Forschung versteht. Je nach Ausrichtung werden natürlich entsprechend unterschiedliche Bedeutungskonzeptionen aufgerufen: autorintentionale, textobjektivistische, leserbezogen-subjektivistische oder leserbezogen-rekonstruktive. Poststrukturalistische Lektüren wie etwa Derridas Préjugés müssen als extrem-subjektivistisch verstanden werden, da sie den dekonstruktiven Leser als alleinige Instanz der Interpretationshoheit setzen und anderen Akteuren keine Interpretationsrelevanz zugestehen – weder dem Autor noch anderen Lesern. Historische Kontexte spielen in diesen präsentistischen Theorien nur eine marginale Rolle, da der Leser den Text (teilweise assoziativ) mit der eigenen Enzyklopädie verknüpft.36 Strukturalistische Ansätze denken den Text als bedeutungstragendes Objekt, das die Kontextbeziehungen und somit seine Bedeutung containerartig in sich trägt.37 Von den vergleichsweise sehr kontextaffinen Konzepten der grundsätzlich historisierend ausgerichteten Hermeneutik wurde mit dem sensus auctoris et primorum lectorum bereits ein Auslegungsgrundsatz vorgestellt, der sowohl Autor- als auch Leserenzyklopädien interpretativ einbindet und diese Kontextlimitierung als epistemischen Vorteil versteht. Bedeutungskonzeptionen, die wie bereits die Hermeneutiken seit der Goethezeit moderate Ausprägungen der autorintentionalen, der Leser-subjektivistischen und der Text-objektivistischen Position verbinden, können im Anschluss an John Dewey und seine Schülerin Louise M. Rosenblatt als „interaktionistische“ oder „interaktionale“ Literaturtheorien bezeichnet werden.38 Sie gehen von der aus pragmatischer Perspektive trivi-

36 37 38

Vgl. o. Anm. 22. Dazu ausführlich Willand (2014) 186–216 (Kap. III.3.2: „Objektivistische Lesermodelle“). Vgl. Rosenblatt (1995), aber auch Rosenblatt (2005) 1–37, wo sie mit John Dewey argumentierend den Begriff „interaction“ zugunsten des Begriffs „transaction“ suspendiert. Diesem entspricht der deutsche Begriff interaktional am ehesten, da beide die Wechselseitigkeit eines aufeinander bezogenen Handelns beschreiben.

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alen Prämisse aus, dass sowohl der Autor, der Leser als auch der Text bedeutungsrelevante Instanzen des Verstehensprozesses sind und für die Auswahl der interpretativ zu veranschlagenden Enzyklopädien eine Rolle spielen. Diese konzeptionelle Ausweitung der Bindung interpretationsrelevanter Enzyklopädien an alle bei der Textinterpretation beteiligten Akteure ist freilich mit einem größeren rekonstruktiven Aufwand verbunden als das anything goes subjektiv-präsentistischer Lektüren. Für kontextsensitive Positionen kann dies nur bedeuten, dass sie ihre jeweiligen In- und Exklusionsregeln legitimer Enzyklopädien umso deutlicher formulieren und die kontextualisierten Quellen explizieren müssen.39 Dass dabei nicht nur der Autor und seine Intention als Differenzkriterium primärer und sekundärer Kontexte eingesetzt werden, stand im Zentrum dieses Beitrags. Durch ihn soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass der Leser und Lesermodelle bisher nur unzureichend berücksichtigte Kontextfunktionen übernehmen. Ob ihre spezifische und nach den Dimensionen der Ontologie, Funktion und Epistemologie genau beschreibbare Konstitution nun Ursache oder Resultat einer historisierend, aktualisierend oder interaktional ausgerichteten Bedeutungskonzeption ist, muss an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Als implizit mitformulierte oder explizit ausformulierte Konstrukte jeder Interpretationstheorie zeigen Lesermodelle den Rahmen der jeweils legitimen und illegitimen Kontextbezüge auf. Sie fungieren demnach nicht nur als interpretative Heuristik und theoretische Konstrukte, sondern ebenso als konzeptuelle Marker einer praxeologischen Reflexion literaturtheoretischer und interpretativer Praktiken. In diesem Sinne können Lesermodelle das mit diesem Sammelband forcierte Vorhaben einer Systematik literaturwissenschaftlicher Kontextualisierungsformen nutzenbringend sekundieren.

39

Lutz Danneberg spricht von kontextbildenden und kontextverwendenden Interpretationen und kann dergestalt den Zweck des Bezugs auf Kontexte interpretationstheoretisch sehr differenziert beschreiben. Vgl. hierzu Danneberg (1990) 89–130.

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Kontext und Kontextualisierung als Kategorien antiker Literaturerklärung René Nünlist (Köln)

Abstract ‘Context’ and ‘contextualisation’ belong to the standard analytical tools of modern literary critics. This contribution explores the question whether their ancient predecessors made use of similar concepts when they interpreted literary texts. It first offers a selection of Greek words that can be considered rough equivalents of ‘context’. In a second step, it studies how the relevant concepts were put to use by ancient literary critics. Since it would be mistaken to confuse terminology with concepts, the argument also includes instances in which the critics do not expressly speak of ‘context’ or ‘contextualisation’. The overall finding of this preliminary study is that at least some ancient critics such as Aristarchus, the Hellenistic critic par excellence, regularly brought to bear the concepts in question both on the microstructural and macrostructural levels of a literary text.

Bei der Interpretation von sprachlichen Äußerungen im Allgemeinen und von literarischen Werken im Speziellen wird die Erklärungskategorie ‚Kontext‘ mit Vorliebe in folgenden zwei Varianten benutzt. Zum einen bezeichnet ‚Kontext‘ im wörtlichen Sinn den Text, in den die zur Diskussion stehende sprachliche Äußerung (Wort, Junktur, Teilsatz, Satz usw.) eingebettet ist. ‚Kontext‘ steht in dem Fall buchstäblich für den Text, der den untersuchten Passus umgibt. In der anderen gängigen Verwendung hat der Begriff eine übertragene Bedeutung und bezeichnet z. B. den Rahmen, in dem die untersuchte Äußerung erfolgt, also etwa den äußeren Anlass (Hochzeit, kultische Feier, Symposion, Volksversammlung usw.), oder er beschreibt die spezielle Gesprächssituation (Monolog, Dialog, Gruppengespräch usw.), um nur zwei grundsätzliche Beispiele zu nennen, wie der Begriff übertragen verwendet werden kann. Zur Verdeutlichung kann man bei konkreter Anwendung von ‚sprachlichem Kontext‘ und bei übertragener Anwendung von ‚Äußerungskontext‘ bzw. von ‚pragmatischem Kontext‘ sprechen.1

1

Vgl. z. B. Lewandowski (1990) s.v. Kontext.

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Beide Verwendungsmöglichkeiten lassen sich bereits in antiken Quellen nachweisen, wobei sogleich die Einschränkung anzubringen ist, dass – zumindest nach meinem Kenntnisstand – kein antiker Text existiert, der die Frage des Kontexts bzw. der Kontextualisierung auf einer theoretischen Ebene erörtert.2 Es gibt also keinen antiken ‚Metatext‘ zu diesem Thema, den man auswerten könnte. Vielmehr wird man die in der Antike nachweisbaren Stellungnahmen zu dieser Fragestellung aus den einzelnen Textbeispielen ableiten müssen. Diese Konstellation ist für Forschung, die sich mit antiker Literaturwissenschaft beschäftigt, an sich nichts Außergewöhnliches, weil es immer wieder so ist, dass die zugrundeliegende Theorie nirgendwo explizit festgehalten ist, sondern aus der geübten Praxis abgeleitet werden muss. Mit Hilfe eines in der anglophonen Forschung gängigen Begriffs könnte man das Phänomen ‚antike Literaturwissenschaft‘ etwas plakativ als undertheorised bezeichnen, wobei der Terminus in dem Fall rein deskriptiv und nicht etwa als Kritik verstanden sein will.3 Eine unmittelbare Folge dieser Ausgangssituation manifestiert sich u. a. darin, dass übergreifende Darstellungen und Textsammlungen zur antiken Literaturwissenschaft regelmäßig Texte und Textausschnitte aufnehmen, die nach modernem Verständnis kaum in diese Kategorie fallen würden.4 Ebenso selbstverständlich ist es, ein antikes Lehrgebäude aus den Informationsbausteinen zu rekonstruieren, die die einzelnen erhaltenen ‚Fragmente‘ liefern.5

2 3

4

5

Nicht zufällig spricht der Untertitel der Tagung, an der die hier publizierten Beiträge vorgetragen wurden, von ‚modernen Kontexttheorien‘. Nochmals eine ganz andere Frage ist es, welche Ursachen das Fehlen von theoretischen Aussagen hat. Fand eine theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik damals gar nicht statt, oder ist nicht doch eher die (grundsätzlich) prekäre Überlieferungslage verantwortlich für das Fehlen einschlägiger Texte? Während die Forschung lange Zeit die erste Erklärung favorisierte (stellvertretend für viele und zugleich richtungsweisend Pfeiffer (1968) 227; 231–232), neigt man in jüngerer Zeit eher zur zweiten. Diese Feststellung gilt in besonderem Maße für diejenigen Texte, die primär als Wegbereiter der Literaturwissenschaft angesehen werden (z. B. Aristophanes’ Komödie ‚Die Frösche‘). Aber auch die ‚einschlägigen‘ Quellen (z. B. der weiter unten behandelte Traktat Plutarchs) entsprechen nicht unbedingt den Erwartungen eines modernen Lesepublikums an einen literaturwissenschaftlichen Text. Nicht von ungefähr schreibt der Kompilator einer vielgenutzten Textsammlung in (englischer) Übersetzung mit unverkennbar apologetischem Unterton, dass moderne Leser „have occasion to be bewildered, disconcerted, perhaps disappointed“ (Russell (1995) 1). Beispielhalber sei für dieses Rekonstruktionsverfahren die exemplarische Studie von Matthaios (1999) genannt.

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Der vorliegende Beitrag stellt sich in die gleiche Tradition, wobei gleich zu Beginn klarzustellen ist, dass das Thema ‚Kontext‘ in der einschlägigen Forschung bisher kaum untersucht wurde, weshalb die hier vorgelegten Erkenntnisse nicht mehr als einen ‚ersten Spatenstich‘ darstellen können.6 Schließlich ist vorweg zu erörtern, welche Art von Texten das grundsätzliche Quellenmaterial für diesen Beitrag liefern und welche nicht. Antike Äußerungen zum pragmatischen Kontext sind Legion. Im Grunde enthält jeder (antike) Text explizite oder zumindest implizite Hinweise auf den Äußerungskontext – seinen eigenen oder den von anderen Texten. Unter diesen einschlägigen Textstellen gibt es sehr bekannte, in der Forschung immer wieder behandelte Fälle, z. B. die vielzitierte Stelle zu Beginn von Odyssee Buch 9, wo Odysseus in nuce eine Beschreibung dessen gibt, wie man sich die Vortragssituation von Dichtung in homerischer Zeit vorzustellen hat: ἦ τοι μὲν τόδε καλὸν ἀκουέμεν ἐστὶν ἀοιδοῦ | τοιοῦδ᾿, οἷος ὅδ᾿ ἐστί, θεοῖσ᾿ ἐναλίγκιος αὐδήν. | οὐ γὰρ ἐγώ γέ τί φημι τέλος χαριέστερον εἶναι | ἢ ὅτ᾿ ἐϋφροσύνη μὲν ἔχῃ κάτα δῆμον ἅπαντα, | δαιτυμόνες δ᾿ ἀνὰ δώματ᾿ ἀκουάζωνται ἀοιδοῦ | ἥμενοι ἑξείης, (…) | τοῦτό τί μοι κάλλιστον ἐνὶ φρεσὶν εἴδεται εἶναι. (Hom. Od. 9,3–11) Ja, das ist wahrhaftig schön, einen solchen Sänger zu hören, wie dieser ist (gemeint ist Demodokos, der blinde Sänger am Hof der Phaiaken, der im 8. Buch der Odyssee mehrere Proben seiner Kunst lieferte). Denn es gibt, so sage ich, keine lieblichere Erfüllung, als wenn Frohsinn im ganzen Volke herrscht und Schmausende durch die Häuser hin auf den Sänger hören, in Reihen sitzend (…). Das scheint mir das Schönste zu sein in meinem Sinne. (Übers. Schadewaldt)

Die Bedeutung solcher Stellen für die Rekonstruktion des Aufführungskontexts von homerischer Dichtung ist längst erkannt. Entsprechend stützen sich die einschlägigen Studien auf Textstellen dieser Art, weshalb diese Arbeit hier nicht ein weiteres Mal zu leisten ist.7

6

7

Als zweite Einschränkung ist bereits an dieser Stelle auf das unten ausführlicher zu besprechende Problem hinzuweisen, dass es kein exaktes Äquivalent zum Begriff ‚Kontext‘ gibt. Z. B. Ford (1999). Wie bereits angedeutet, ist die Anzahl dieser Stellen auch viel zu groß, um im beschränkten Rahmen eines Aufsatzes sinnvoll besprochen werden zu können.

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Ebenfalls ausgeklammert bleiben Textstellen wie das folgende elegische Fragment des frühgriechischen Lyrikers Anakreon, auch wenn es sich ganz explizit zum Thema ‚pragmatischer Kontext‘ äußert: οὐ φιλέω, ὃς κρητῆρι παρὰ πλέῳ οἰνοποτάζων | νείκεα καὶ πόλεμον δακρυόεντα λέγει, | ἀλλ᾿ ὅστις Μουσέων τε καὶ ἀγλαὰ δῶρ᾿ Ἀφροδίτης | συμμίσγων ἐρατῆς μνήσκεται εὐφροσύνης. (Anacr. fr. eleg. 2 West) Gar nicht schätze ich den, der, beim vollen Mischkruge schlürfend, | nur von bitterem Streit, traurigem Kriege erzählt; | nein, ich ehre den Mann, der die herrlichen Gaben der Musen | und Aphrodites Geschenk mitbringt zu frohem Genuss. (Übers. Ebener)

Zwar kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Anakreon sich in diesem Fragment zur Frage äußert, welche Inhalte im Rahmen des für die frühgriechische Dichtung zentralen Äußerungskontexts ‚Symposion‘ („beim vollen Mischkruge schlürfend“) seiner Meinung nach passend sind und welche nicht. Liebesdichtung (wie seine eigene…) ist erwünscht, während Kriegsthemen, die dem Symposion durchaus nicht fremd waren, mit Nachdruck abgelehnt werden.8 Der Ausschluss von Texten wie dem zitierten Anakreonfragment begründet sich damit, dass sie allenfalls zu den Vorstufen oder Wegbereitern der antiken Literaturwissenschaft gezählt werden können. Denn man würde den zur Verfügung stehenden Spielraum doch (zu) sehr ausreizen, wenn man aus dem Fragment die Hypothese ableiten wollte, für Anakreon stelle der pragmatische Kontext bereits eine Kategorie dar, die bei der Interpretation von literarischen Werken zur Anwendung kommt. Damit würde man dem kleinen Fragment wohl doch mehr aufbürden, als es zu tragen vermag. Stattdessen stützt sich der vorliegende Beitrag mit Vorzug auf Texte, die man – wenn auch in einem weiteren Sinn – als ‚literaturwissenschaftlich‘ bezeichnen kann, weil hier eher vermutet werden darf, dass ‚Kontext‘ zumindest eine eigentliche Erklärungskategorie darstellen könnte.

8

Eine ähnliche Ablehnung kriegerischer Themen bringt bereits Xenophanes (fr. B1,19–24 West) zum Ausdruck. Er mag dabei an die ebenfalls in elegischen Distichen abgefassten Kampfparänesen denken, wie sie sich von Kallinos und Tyrtaios erhalten haben. Möglich sind auch stärker narrativ geprägte Dichtungen mit kriegerischem Inhalt wie die erst vor wenigen Jahren entdeckte Telephoselegie des Archilochos (P. Oxy. 4708) oder Texte wie Mimnermos fr. 9 West, die als Wegbereiter der Historiographie gelten. Ablehnung von Kriegsthemen z. B. auch bei Stesichoros (fr. 210 PMGF = 172 Finglass).

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Als nächstes stellt sich das Problem der Terminologie. ‚Kontext‘ ist offensichtlich ein lateinisches Wort. Gibt es ein griechisches Äquivalent und, wenn ja, wie lautet es? Die Frage ist ernster gemeint, als sie zunächst vielleicht klingen mag, weil sich ja durchaus das Problem stellt, wonach man eigentlich suchen soll, wenn man wissen will, ob und wie ‚Kontext‘ z. B. für die alexandrinischen Gelehrten ein Thema war, mit dem sie sich auseinandersetzten. Als seitens der Organisatorinnen der Potsdamer Tagung der grundsätzliche Wunsch nach einem Beitrag zum Thema ‚Kontext in der antiken Literaturtheorie‘ geäußert wurde, stellte sich die Frage quasi von selbst, was ‚Kontext‘ auf Griechisch heißt. Tatsächlich enthält das alte Deutsch-Griechisch-Wörterbuch von Schenkl sogar ein Lemma ‚Kontext‘, wofür als griechische Äquivalente ἡ συνέχεια und ὁ συνεχὴς λόγος vorgeschlagen werden.9 Beiden liegt das Verb συνέχειν zugrunde, das u. a. ‚zusammenhalten‘ oder intransitiv ‚zusammenhängen‘ bedeuten kann. Auf den ersten Blick scheint das gut zu passen, weil man ja auch auf Deutsch ‚im Zusammenhang‘ sagen kann, wenn man ‚im Kontext‘ meint. Die Prüfung der tatsächlichen Belege zeigt aber, dass die im Wörterbuch vorgeschlagenen Begriffe nicht weiterführen, weil sie eine andere Art von ‚Kontext‘ bezeichnen. ‚Zusammenhängend‘ (συνεχής) ist derjenige Logos, der nicht durch Einschübe u.Ä. unterbrochen wird, die den Sinnzusammenhang stören könnten. Entsprechend wird in antiken Kommentaren gerne der verwandte Ausdruck τὸ συνεχές (wörtl. ‚das Zusammenhängende‘) benutzt, wenn z. B. ein syntaktisch komplexer Satz dadurch erläutert wird, dass er auf seine wesentlichen Bestandteile reduziert wird (ggf. mit Anpassung der Wortstellung).10 Der für die hier interessierende Bedeutung von ‚Kontext‘ beste Repräsentant dieses Wortfelds ist die Wendung κατὰ τὸ συνεχές. In erster Linie bedeutet sie in Übereinstimmung mit den bereits genannten Ausdrücken ‚kontinuierlich, ohne Unterbrechung‘. Gelegentlich kann sie mit ‚in dem, was (unmittelbar) folgt‘ wiedergegeben werden, wodurch sie der Vorstellung von Kontext recht

9 10

Schenkl (1909) s.v. Kontext. Z. B. schol. A Il. 8,53a Ariston., schol. bT Il. 6,354–355a ex., schol. Hes. Op. 324– 326. Offensichtlich handelt es sich um ein didaktisches Erklärungsmuster, das nach wie vor im Sprachunterricht seinen Platz hat. Der Historiker Polybios (5,98,11) verwendet den Ausdruck τὸ συνεχὲς (τῆς διηγήσεως) zur Bezeichnung der Kernerzählung ohne Einschübe und Exkurse.

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nahe kommt.11 Alles in allem wird man aber zum Schluss kommen, dass das bei Schenkl vorgeschlagene Wortfeld für die Fragestellung dieses Beitrags wenig ergiebig ist. Wenn zunächst kein unmittelbares Begriffsäquivalent zur Verfügung zu stehen scheint, muss man sich dem Problem auf andere Weise nähern und das einschlägige Quellenmaterial auf die Frage hin untersuchen, ob sich darin Äußerungen finden, die der Vorstellung ‚Kontext‘ nahekommen. Gegen ein solches Verfahren ist grundsätzlich nichts einzuwenden, solange gewährleistet ist, dass man den antiken Quellen nicht Vorstellungen und Aussagen unterstellt, die diesen im Kern fremd sind. Im konkret vorliegenden Fall stellt sich zusätzlich die bereits angedeutete Schwierigkeit, dass die Erforschung der Frage gerade erst angefangen hat, weshalb lediglich erste Teilergebnisse vorgelegt werden können.12 Ein wichtiges Zeugnis liefert eine recht ausführliche Diskussion, die sich im Corpus der Odysseescholien erhalten hat. Konkret geht es um ein Scholion zu Od. 3,71, das im Wesentlichen aus zwei Teilen besteht, wobei der erste Teil im vorliegenden Zusammenhang beiseite bleiben kann.13 Der zweite Teil referiert die Einwände, die Aristarch (ca. 216–144 v. Chr.), der ‚Star‘ unter den alexandrinischen Gelehrten, gegen eine semasiologische Deutung erhebt, die der bekannte Historiograph Thukydides vorgelegt hatte. An einer Stelle seiner sog. Archäologie (Th. 1,5,1) vertrete Thukydides die Auffassung, der Vorgang des ληΐζεσθαι (das Verb hat die Bedeutung ‚erbeuten‘, Thukydides selbst benutzt an der Stelle allerdings das Nomen λῃστεία) sei von den ‚Alten‘ (gemeint ist die Zeit Homers) nicht als moralisch anstößig empfunden worden.14 Dieser Auffassung widerspricht Aristarch und argumentiert, Thukydides habe sich zu sehr von einer bestimmten Textstelle (Od. 1,398) leiten lassen und nicht die volle Bandbreite der Belege in Betracht gezogen. Der mit ληΐζεσθαι bezeichnete Vorgang sei zu Homers Zeit sehr wohl moralisch anstößig gewesen, was man u. a. daran erkennen könne, dass das Wortfeld an keiner Stelle mit Achill 11

12 13 14

Z. B. schol. A Il. 3,432 Ariston., schol. Dem. 20.197; vgl. LSJ s.v. B II 1 (‚consecutively, in what follows‘) mit einem Beleg aus Galen. Für ‚das Folgende‘ u.Ä. wird regelmäßig τὸ/τὰ ἑξῆς verwendet. Im Grunde wird man alle in Frage kommenden Texte mit Blick auf die Kategorie ‚Kontext‘ durcharbeiten müssen, was einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Schol. Od. 3,71a (ed. Pontani). Der erste Teil bezieht sich auf eine textkritische Frage. Offensichtlich ist die Implikation, dass das ‚jetzt‘ (d. h. im späten 5. Jh.) anders ist.

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oder Aias verbunden werde (gemeint: was sich sonst negativ auf deren Image ausgewirkt hätte). Dann folgen die für das vorliegende Thema entscheidenden zwei Sätze, die sich unmittelbar auf die kommentierte Odysseestelle beziehen: ἄλλως τε κἀκ τῶν συμφραζομένων δηλοῖ τὴν τοῦ πράγματος μοχθηρίαν· ἀντιτάσσεται γὰρ τῷ „ἤ τι κατὰ πρῆξιν“ (Hom. Od. 3,72) τὸ „ἢ μαψιδίως“. (schol. Hom. Od. 3,71a, ed. Pontani = p. 28–29 Carnuth) Insbesondere lässt er (Homer) die moralischeAnstößigkeit ἐκ τῶν συμφραζομένων deutlich werden; denn der Frage (Nestors an Telemachos) ‚ist es eines Geschäfts wegen?‘ setzt er kontrastiv ‚oder einfach so?‘ entgegen. (Übers. R.N.)

Der entscheidende Ausdruck ist zunächst unübersetzt geblieben. Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass τὰ συμφραζόμενα (wörtl. ‚das Mitgesagte‘) hier den Kontext bezeichnen muss. Aristarch zufolge lässt Homer die moralische Anstößigkeit auch anhand des Kontexts deutlich werden, was man an Nestors Fragen ablesen könne. Tatsächlich wird diese Bedeutung von τὰ συμφραζόμενα auch im bekannten Wörterbuch von Liddell-Scott-Jones genannt. Allerdings ist der älteste dort aufgeführte Beleg mit Plutarch gut 200 Jahre jünger.15 Das Odysseescholion zeigt u. a., dass τὰ συμφραζόμενα in der Bedeutung ‚Kontext‘ mit hoher Wahrscheinlichkeit zum analytischen Vokabular des alexandrinischen Kritikers par excellence gehörte.16 Bevor Aristarchs Verwendung der συμφραζόμενα weiter nachgegangen wird, lohnt sich nicht zuletzt aus terminologischen Gründen ein Blick auf die bei Liddell-Scott-Jones genannte Plutarchstelle. Sie steht in einem Traktat, mit dem Plutarch versucht, die Dichtung gegen die Fundamentalkritik zu verteidigen, die Platon gegen sie erhoben hatte, was bekanntlich in einer Verbannung aus dem Idealstaat kulminierte. Die kleine Schrift wird heute oft unter dem lateinischen Titel De audiendis poetis zitiert. Plutarchs Argument lautet vereinfacht gesagt so, dass man nicht (mit Platon, der zwar nicht namentlich genannt wird, aber sicher gemeint ist) zum Mittel der Zensur greifen solle – das 15 16

LSJ s.v. συμφράζομαι II (‚context‘), mit Hinweis auf Plu. aud. poet. 22a (dazu gleich). Die Einschränkung ‚mit hoher Wahrscheinlichkeit‘ ist notwendig, weil man bei Scholien nie hundertprozentig sicher sein kann, dass die ursprüngliche Ausdrucksweise und damit die Terminologie unverändert erhalten sind. Im vorliegenden Fall wird Aristarch aber mit Namen genannt. Außerdem wird das Wort mindestens noch dreimal in (Ilias-)Scholien genannt, die auf seinen Kommentaren basieren (s.u.).

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funktioniere ohnehin nicht. Vielmehr solle man den Leser dazu erziehen, sich von den Stellen, die Anstoß erregen könnten, nicht negativ beeinflussen zu lassen, indem er diese Stellen bei der Lektüre gewissermaßen neutralisiert. Für diese Neutralisierung von potentiell anstößigen Stellen hat Plutarch eine Reihe von Rezepten parat, u. a. das folgende: δεῖ δὲ μηδὲ τὰς ἐκ τῶν παρακειμένων ἢ συμφραζομένων παραλιπεῖν ἀφορμὰς πρὸς τὴν ἐπανόρθωσιν (…) (Plu. aud. poet. 22a) Man darf auch die Anregungen zur Korrektur (≈ Neutralisierung) nicht übersehen, die sich aus dem Kontext ergeben (…) (Übers. R.N.)

Nach einem Vergleich mit einem Arzt legt Plutarch dar: (…) οὕτως ἐν τοῖς ποιήμασι, κἂν ὄνομα κἂν ῥῆμα παρακείμενον ἀμβλυτέραν ποιῇ τὴν πρὸς τὸ χεῖρον ἀπαγωγήν, ἐπιλαμβάνεσθαι καὶ προσδιασαφεῖν. (Plu. aud. poet. 22b) (…) so auch bei der Dichtung: Wenn ein Nomen oder ein Verb im Kontext es vermag, der negativen Beeinflussung (des Lesers) die Schärfe zu nehmen, dann muss man es dazu nehmen und für eine erweiterte Interpretation (≈ Neutralisierung) nutzbar machen. (Übers. R.N.)

Er wendet dieses Rezept dann auf zwei Homerstellen an (Od. 4,197–198 [mit geringfügigen Textabweichungen], Il. 24,525–526) und zeigt, dass das potentiell Anstößige der Aussage signifikant reduziert wird, wenn man sich klarmacht, dass sie jeweils nicht allgemein, sondern nur für die im Text speziell genannten Personengruppen Geltung hat. D. h. die im unmittelbaren Kontext auftretenden Wörter, die diese Personengruppen bezeichnen, sollen Plutarch zufolge dem Leser dazu dienen, die problematische Aussage zu neutralisieren, weil sie keine allgemeine Gültigkeit beansprucht.17 Terminologisch ist der Passus interessant, weil Plutarch darin gleich zwei Wörter für ‚sprachlichen Kontext‘ verwendet. Zusammen mit den συμφραζόμενα nennt er im gleichen Atemzug die παρακείμενα (wörtl. ‚das Danebenliegende‘), die ein paar Zeilen später wiederaufgenommen werden. 17

Ob Plutarch den beiden Homerstellen damit gerecht wird, steht auf einem anderen Blatt.

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Ob Plutarch einen Bedeutungsunterschied ansetzt oder ob gewissermaßen ein Hendiadyoin vorliegt, ist schwer zu sagen. Im neuen Kommentar von Russell und Hunter wird dieses Problem nicht berührt. Sie übersetzen die Stelle einfach mit „the close or immediate context“, was darauf deutet, dass sie die Begriffe für im Wesentlichen synonym halten.18 In jedem Fall ist mit παρακείμενα ein zweiter griechischer Ausdruck für ‚Kontext‘ gewonnen. Auf mögliche Bedeutungsunterschiede zwischen den beiden wird weiter unten eingegangen. Zuvor ist zu Aristarchs Verwendung des Begriffs συμφραζόμενα zurückzukehren. Das bereits genannte Odysseescholion beschäftigt sich letztlich mit einer semasiologischen Frage. Die negative Konnotation des untersuchten Wortstamms wird von Aristarch u. a. aus dem abgeleitet, was im unmittelbaren Kontext steht. Nestors Doppelfrage an Telemachos ist für Aristarch ein unzweideutiges Indiz. Ganz analog verwendet er die συμφραζόμενα, um die Bedeutung eines Wortes zu ermitteln. Man muss gleich vorweg betonen, dass dieses von der modernen Semasiologie kritisch beäugte Verfahren nur bei seltenen und deshalb schwierigen Wörtern zur Anwendung kommt, und zwar dann, wenn die Beleglage so prekär ist, dass die sonst üblichen Verfahren der umfassenden Bedeutungsermittlung scheitern.19 Das gilt zum einem für die isolierte Aoristform γέντο (die moderne Lexikographie spricht von einem ‚Reliktwort‘). Insgesamt ist sie nur fünf Mal belegt, immer in dieser morphologisch ungewöhnlichen 3. Person Singular und immer nach der bukolischen Dihärese.20 Für zwei dieser Stellen hat sich Aristarchs Kommentar erhalten. An beiden stellt er übereinstimmend fest, die Bedeutung ἔλαβεν (‚er ergriff‘) lasse sich aus dem ‚Kontext‘ (ἐκ τῶν συμφραζομένων) ableiten.21 Das gleiche gilt sinngemäß für das hapax legomenon κλοτοπεύειν, dessen Bedeutung Aristarch gestützt auf den Kontext mit στραγγεύεσθαι (‚trödeln‘) wiedergibt.22 Das moderne Referenzwerk für die Bedeutung homerischer Wörter, das Lexikon des frühgriechischen Epos, schreibt zum gleichen Verb: „Bedeutung unklar, nur nach Kontext“, ist in der Frage also noch nicht wirklich weitergekommen.23 18 19 20 21 22 23

Hunter/Russell (2011) 123. Zu dieser umfassenden Bedeutungsermittlung bei Aristarch vgl. Nünlist (2012). Hom. Il. 8,43; 13,25; 13,241; 18,476; 18,477. ὅτι τὸ „γέντο“ ἐκ τῶν συμφραζομένων νοεῖται τεταγμένον ἀντὶ τοῦ ἔλαβεν (schol. A Il. 8,43a Ariston., vgl. schol. A Il. 13,25b Ariston.) ὅτι ἐκ τῶν συμφραζομένων „κλοτοπεύειν“ τὸ στραγγεύεσθαι. καὶ ὅτι ἅπαξ εἴρηται (schol. A Il. 19,149a Ariston.). LfgrE s.v. κλοτοπεύω.

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Der oben aus der Plutarchstelle abgeleitete Begriff παρακείμενα weist grundsätzlich eine deutlich größere Bedeutungs- und Anwendungsvielfalt auf als sein Pendant συμφραζόμενα. Letztlich kann παρακείμενος fast alles bezeichnen, was gerade ‚vorhanden ist‘, ‚vorliegt‘ oder ‚sich in der Nähe befindet‘ (auch übertragen i.S.v. ‚Ähnlichkeiten aufweist‘).24 Immerhin hat sich wenigstens ein Fragment aus Aristarchs Iliaskommentar erhalten, wo τὸ παρακείμενον wie an der Plutarchstelle die Bedeutung ‚Kontext‘ hat. Äußerer Anlass ist die textkritische Frage, ob man am Versende von Il. 10,317 an Stelle von ‚Schwestern‘ (κασιγνήτῃσιν) mit Zenodot ‚Brüder‘ (κασιγνήτοισι) lesen soll. Aristarch lehnt das aus mehreren Gründen ab, u. a. weil „der Kontext im Widerspruch dazu steht“.25 In die gleiche Richtung weist der von Porphyrios (3. Jh. n. Chr.) aufgestellte Gegensatz, die Selbsterklärungen Homers fänden sich „bald im (unmittelbaren) Kontext (παρακειμένως), bald an anderer Stelle“.26 Die bereits genannte Stelle aus Plutarchs Traktat (aud. poet. 22a–b) gab auch Anlass zu der Frage, ob zwischen συμφραζόμενα und παρακείμενα ein Bedeutungsunterschied nachweisbar ist. Dazu steuert ein Eintrag im Homerlexikon des Apollonios Sophistes (1. Jh. n. Chr.) ein bemerkenswertes Zeugnis bei. Anlass ist die Frage, was das Wort ἔργον (‚Werk‘) bei Homer bedeutet. Apollonios’ Antwort lautet wie folgt: ἔργον· ὅταν ψιλῶς Ὅμηρος ἔργον λέγῃ, (…) τὴν γεωργίαν δηλοῖ. (Apollon. Lex. p. 75,22–23 Bekker). Wenn Homer ἔργον ohne Zusatz (wörtl. ‚nackt, bloß‘) verwendet, bezeichnet er damit den Ackerbau. (Übers. R.N.)

Was genau mit ‚bloßer‘ Verwendung (ψιλῶς) gemeint ist, wird mit einem doppelten Ausdruck eigens erläutert:

24

25 26

Außerdem ist παρακείμενος auch ein grammatischer Fachausdruck und bezeichnet das Tempus ‚Perfekt‘ (eigtl. in der Vollform ὁ παρακείμενος χρόνος: LSJ s.v. παράκειμαι II 2). (…) τό τε παρακείμενον μάχεται κτλ. (schol. A Il. 10,317a Ariston.). ποτὲ μὲν παρακειμένως, ἄλλοτε δ᾿ ἐν ἄλλοις (Porph. quaest. Hom. p. 56,5–6 Sodano, vgl. 63,15, 64,12–13). Zu παρακείμενα i.S.v. ‚Kontext‘ vgl. z. B. auch schol. Eur. Ph. 805.

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μηδενὸς ἑτέρου συμφραζομένου μηδ᾿ ἐκ τῶν παρακειμένων δηλουμένου (Apollon. Lex. p. 75,22–23 Bekker) wobei nichts Zusätzliches ‚mitgesagt‘ wird und seine Bedeutung auch nicht aus dem Kontext manifest wird. (Übers. R.N.)

Der doppelte Ausdruck an sich ist auffällig (zusätzlich zum Umstand, dass die gleichen zwei Begriffe benutzt werden wie bei Plutarch). Und da er in einem antiken Wörterbuch steht, dessen Verfasser man ein erhöhtes Bewusstsein für Bedeutungsnuancen wird attestieren dürfen, tut man wohl gut daran, nicht vorschnell auf simple Synonymie zu schließen. Leider gibt es im ganzen Lexikon keine Parallele, die weiterhelfen würde, die Bedeutungsnuancen zu ermitteln, weshalb man auf Hypothesen angewiesen ist. Eine solche Hypothese könnte so lauten, mit einem συμφραζόμενον sei ein unmittelbar mit ἔργον verbundenes Wort gemeint, also z. B. ein Attribut, während ἐκ τῶν παρακειμένων δηλούμενον allgemeiner für ein Indiz im Kontext steht. Der spezielle Charakter eines Werks kann ganz explizit mit einem Attribut zum Ausdruck gebracht werden (z. B. πολεμήϊα ἔργα, ‚Kriegswerke, -taten‘), während dieser Charakter auch eher implizit aus dem weiteren Kontext deutlich werden kann. Wenn z. B. die Götter in Il. 7,444 über das ‚Werk‘ der Griechen staunen, macht der Kontext deutlich, dass damit die Schutzmauer gemeint sein muss, deren Errichtung wenige Verse zuvor kurz geschildert wurde. Man wird aber sogleich zugeben müssen, dass diese Hypothese nicht zwingend ist. Das lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der Lexikograph Hesych (5./6. Jh. n. Chr.) Apollonios’ Erklärung des Wortes ἔργον zwar zu wesentlichen Teilen übernimmt, aber den erklärenden Zusatz auf das erste Element reduziert („wobei nichts ‚mitgesagt‘ wird“) und dadurch vereinfacht.27 Entweder empfand Hesych überhaupt keinen Unterschied zwischen den Begriffen συμφραζόμενα und παρακείμενα, oder er hielt ihn für zu wenig bedeutend, um den Zusatz in seiner vollen doppelten Form beizubehalten. Ein weiterer Haken der Hypothese besteht darin, dass sie an der oben zitierten Plutarchstelle nicht greift. Wie bereits erwähnt, ‚neutralisiert‘ Plutarch zwei potentiell anstößige Homerstellen dadurch, dass er die Aussagen je auf

27

ἔργον· (…) ὁ δὲ ποιητής, ὅταν ψιλῶς λέγῃ μηδενὸς συμφραζομένου, τὸ κατὰ γεωργίαν δηλοῖ (Hesych. ε 5669).

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eine bestimmte, im Kontext genannte Personengruppe einschränkt. Diese erscheinen im Homertext jeweils in der Form eines Attributs.28 Nach dem hypothetisch angenommenen Bedeutungsunterschied müsste also von συμφραζόμενα die Rede sein, aber Plutarch nennt die fraglichen Attribute παρακείμενα (aud. poet. 22b). Letztlich wird man wohl davon ausgehen müssen, dass der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Begriffen gering war oder nur von wenigen empfunden wurde. Zusätzlich zu den bereits genannten Begriffen lassen sich in den Fragmenten aus Aristarchs Kommentaren zumindest noch zwei weitere Ausdrücke nachweisen, die gelegentlich den Kontext bezeichnen können. Analog zum παρακείμενον (wörtl. ‚das daneben Liegende‘) gibt es auch das προκείμενον (‚das davor Liegende‘), das sich naturgemäß ausschließlich auf den vorausgehenden sprachlichen Kontext beziehen kann. Inhaltlich damit verwandt ist das προειρημένον (‚das zuvor Gesagte‘). Genau wie παρακείμενον decken die beiden Begriffe ein weites Bedeutungsspektrum ab. Sie können deshalb sehr vielfältig verwendet werden und bezeichnen nur in Einzelfällen speziell das, was man heute unter ‚Kontext‘ versteht.29 Es wird sich von selbst verstehen, dass die Vorstellung des ‚zuvor Gesagten‘ auch anders ausgedrückt werden kann.30 Damit ist die Suche nach griechischen Wörtern für ‚Kontext‘ zunächst einmal erschöpft, wobei es durchaus wahrscheinlich ist, dass weitere Untersuchungen zusätzliche einschlägige Begriffe zutage fördern werden. Im vorliegenden Beitrag geht es mit der vielleicht überflüssigen Feststellung weiter, dass die Kategorie ‚Kontext‘ eine Rolle in der Argumentation spielen kann, ohne dass das Wort ausdrücklich fällt. Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang insbesondere ein knapper, aber wichtiger Passus aus Aristoteles’ Poetik. Das 25. Kapitel der Poetik handelt von den ‚Problemen und Lösungen‘ (προβλήματα καὶ λύσεις), einem Thema, das Aristoteles bekanntlich in der lei-

28 29

30

An der einen Stelle (Od. 4,197) ist von ‚jammervollen, elenden‘ (ὀιζυροῖσι) Menschen die Rede, an der anderen (Il. 24,525) von ‚feigen‘ (δειλοῖσι). In beiden Fällen geht es um textkritische Fragen. Der Vers Il. 5,808 stand nicht in Aristarchs Ausgabe, weil er im Widerspruch zum vorausgehenden Kontext steht (ἐναντίον γάρ ἐστι τοῖς προκειμένοις, schol. bT Il. 5,807–808 Did.). Und die Authentizität von Il. 14,40 ist unsicher, weil „wir bereits aus dem zuvor Gesagten wissen, dass Nestor der alt-ehrwürdige ist“ (ὅτι καὶ ἐκ τῶν προειρημένων νοοῦμεν ὅτι Νέστωρ ἐστὶν ὁ γεραιός, schol. A Il. 14,40a Ariston.). Z. B. τὰ λεγόμενα πρότερον (schol. A Il. 3,368a Did.).

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der verlorenen Schrift Homer-Probleme (προβλήματα Ὁμηρικά) ausführlicher behandelte. In der Poetik steht dazu u. a. Folgendes: περὶ δὲ τοῦ καλῶς ἢ μὴ καλῶς εἰ εἴρηταί τινι ἢ πέπρακται, οὐ μόνον σκεπτέον εἰς αὐτὸ τὸ πεπραγμένον ἢ εἰρημένον βλέποντα, εἰ σπουδαῖον ἢ φαῦλον, ἀλλὰ καὶ εἰς τὸν πράττοντα ἢ λέγοντα πρὸς ὃν ἢ ὅτε ἢ ὅτῳ ἢ οὗ ἕνεκεν, οἷον εἰ μείζονος ἀγαθοῦ, ἵνα γένηται, ἢ μείζονος κακοῦ, ἵνα ἀπογένηται. (Arist. Po. 1461a4–9) Was die Frage betrifft, ob eine Rede oder Handlung einer Figur rechtschaffen ist oder nicht, so muss man nicht nur auf die Handlung oder Rede selbst achten und prüfen, ob sie gut oder schlecht ist, sondern auch auf den Handelnden oder Redenden, an wen er sich wendet, oder wann oder für wen (bzw. mit welchem Mittel) oder zu welchem Zweck er handelt oder redet, ob er z. B. ein größeres Gut erlangen oder ein größeres Übel vermeiden will. (Übers. Fuhrmann)

Auch wenn hier nirgends ausdrücklich vom ‚Kontext‘ die Rede ist, geht es offensichtlich genau darum. Neben der Rede selbst müssen Aristoteles zufolge auch folgende Faktoren berücksichtigt werden: Wer ist der Sprecher? Wer ist der Adressat? Zu welchem Zeitpunkt bzw. in welcher konkreten Situation wird gesprochen? Zu wessen Gunsten (oder mit welchem Mittel; der griechische Text lässt beide Deutungen zu)? Zu welchem Zweck? Zu Fragen oder Problemen dieser Art gehören ‚Lösungen‘, die in der Regel dazu dienen, vermeintliche Widersprüche und Ungereimtheiten aufzulösen. Einige von ihnen sind später (namentlich bei Porphyrios) so geläufig, dass sie mit einer speziellen Bezeichnung versehen sind, die sie als Teil einer standardisierten Terminologie und Methode ausweist. Beispielhalber genannt seien die sog. λύσις ἐκ τοῦ προσώπου (d. h. die Lösung aufgrund der Frage, wer spricht) und die sog. λύσις ἐκ τοῦ καιροῦ (d. h. die Lösung aufgrund der aktuell bestehenden Situation). Der zitierte Passus aus der Poetik lässt sich problemlos unter die Rubrik ‚Kontext‘ subsumieren, oder besser noch: unter die Rubrik ‚Kontextualisierung‘. Denn, ohne dass er es in dieser Ausdrücklichkeit sagt, propagiert Aristoteles genau das: den jeweiligen ‚Kontext‘ genau zu prüfen und auf diese Weise zuvor festgestellte Widersprüche, Ungereimtheiten usw. ggf. als nur scheinbar existent zu erweisen. Wenig überraschend wendet Aristoteles diese Kontextualisierung selbst an.31 31

Ein gutes Beispiel liefert ein Fragment aus den Homer-Problemen (fr. 149 Rose, dazu Hintenlang (1961) 86: „In der dritten erwogenen Deutung bemüht sich Aristoteles, die Verse aus der jeweiligen Situation zu rechtfertigen“).

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Kaum weniger wichtig ist es, dass sein Appell zur Kontextualisierung nicht auf taube Ohren stieß. Jedenfalls wird sie auch von den Literaturkritikern in Alexandria immer wieder betrieben. Besonders aufschlussreich ist eine Stelle, an der sich ausnahmsweise wenigstens ein Fetzchen einer ausdrücklichen methodischen Äußerung erhalten hat. Der kommentierte Passus stammt aus dem 14. Buch der Ilias. Agamemnon lässt wieder einmal die Ohren hängen und schlägt vor, heimlich abzuziehen (Il. 14,65–81). Odysseus widerspricht heftig und fährt ihn zu Beginn seiner Entgegnung mit der wenig schmeichelhaften Bezeichnung οὐλόμενε an (Il. 14,84). Normalerweise hat das Wort die Bedeutung ‚Verdammter, Verfluchter‘. Aber kann Odysseus seinen Oberbefehlshaber so derb attackieren? Eine Gruppe namentlich nicht genannter Kommentatoren (τινές) verneinte diese Frage offenbar und gab die als anstößig empfundene Anrede beschönigend mit δεινέ (‚Schrecklicher, Furchtbarer‘) wieder, was ihr die Kritik Aristarchs eintrug (schol. A Il. 14,84a Ariston.). Dieser argumentiert, es gebe keinen Grund, an der Anrede Anstoß zu nehmen. „Vielmehr muss man ganz genau auf die aktuelle Situation achtgeben“ (ἀλλ᾿ εἰς τὴν ἐνεστῶσαν περίστασιν ἀτενιστέον). Das ist eine klare Aufforderung zum ‚close reading‘, und zwar zum close reading unter besonderer Berücksichtigung der aktuell bestehenden Umstände oder, wie man auch sagen könnte, des aktuellen Kontexts. Im konkreten Fall ergibt eine solche Prüfung Aristarch zufolge, dass Odysseus gute Absichten hat. De facto hat er den Nutzen Agamemnons und der übrigen Griechen im Blick (er spricht ἐπ᾿ ὠφελείᾳ). Ein entscheidendes Argument liefert dabei der Kontext. In seiner (von Aristarch zitierten) Antwort reagiert Agamemnon moderat und nimmt keinerlei Anstoß an Odysseus’ derber Anrede, die ihn in einem anderen Kontext durchaus verletzen würde.32 Das Kommentarfragment fällt wie bereits angedeutet dadurch aus dem Rahmen, dass es eine ausdrückliche Anweisung methodischer Natur enthält. In der Regel hat der mehrstufige Exzerpierprozess, dem die Scholiencorpora im Lauf der langen Überlieferungsgeschichte ausgesetzt waren, solche methodischen Grundsatzbemerkungen eliminiert, was nicht unwesentlich zu dem bereits zu Beginn erwähnten Eindruck beiträgt, antike Literaturwissenschaft

32

ὅτι τινὲς ἀποδεδώκασιν „οὐλόμενε“ δεινέ· οὐ γὰρ ἂν λέγοι τῷ Ἀγαμέμνονι ὁ Ὀδυσσεὺς ὀλέθρου ἄξιε. οὐ δυσωπητέον μέντοι γε, ἀλλ᾿ εἰς τὴν ἐνεστῶσαν περίστασιν ἀτενιστέον· ἐπ᾿ ὠφελείᾳ γὰρ λέγει τοῦ Ἀγαμέμνονος καὶ τῶν ἄλλων συμμάχων· διὸ καὶ ἐπιφέρει (Il. 14,104–105) „ὦ Ὀδυσεῦ, μάλα πώς με καθίκεο θυμὸν ἐνιπῇ | ἀργαλέῃ“ (schol. A Il. 14,84a Ariston.).

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sei undertheorised. Von der methodischen Anweisung abgesehen, ist das zitierte Scholion durchaus normal und charakteristisch für Aristarchs Arbeitsweise insgesamt. In seinen Interpretationen bringt er regelmäßig die Punkte in Anschlag, die Aristoteles in Kapitel 25 der Poetik (und sehr wahrscheinlich in den verlorenen Homer-Problemen) propagierte. Was speziell den hier interessierenden ‚Kontext‘ betrifft, spricht Aristarch im zitierten Fragment von der „aktuell herrschenden Situation“ (ἡ ἐνεστῶσα περίστασις). An anderer Stelle benutzt er für die gleiche Vorstellung das Wort καιρός (mit Ableitungen), das u. a. den günstigen, geeigneten, entscheidenden usw. Zeitpunkt bezeichnen kann.33 Ein gutes Beispiel ist der Kommentar zu Il. 3,352, einem Vers aus dem kurzen Stoßgebet, das Menelaos unmittelbar nach Beginn seines Zweikampfs mit Paris an Zeus richtet. Aristarch äußert Zweifel an der Authentizität dieses Verses (schol. A Il. 3,352a Ariston.). Zum einen erheische die momentane Situation (καιρός) während des Duells eine knappe Ausdrucksweise (τὸ σύντομον). Zum andern sei es der aktuellen Situation nicht angemessen (ἄκαιρος, wörtl. ‚unzeitig‘), wenn Menelaos seinen Erzfeind Paris mit dem positiven Epitheton ‚göttlich‘ (δῖος) belegt. Man könnte auch sagen, das positive Epitheton sei in dem Kontext unpassend. Während der Begriff ‚Kontext‘ das zu beschreibende Phänomen als ein räumliches fasst, benutzen Aristarch und andere antike Kritiker – zumal wenn es um die übertragene Verwendung i.S.v. ‚Äußerungskontext‘ geht – regelmäßig die zeitliche Kategorie der Gegenwart bzw. der Aktualität.34 So betrachtet kann man καιρός ohne weiteres der Liste von griechischen Wörtern für ‚Kontext‘ hinzufügen.35 Wie man das Wort καιρός in dieser Anwendung am besten übersetzt, ist eine andere Frage, weil man auf Deutsch gezwungen zu sein scheint, für den Zeitbegriff zu Raummetaphern zu greifen: (aktuelle) Situation, Lage, Umstände.36

33 34

35

36

Oben ist bereits auf das spätere Schlagwort der λύσις ἐκ τοῦ καιροῦ (‚Lösung aufgrund der aktuell bestehenden Situation‘) hingewiesen worden. In dem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass das Partizip ἐνεστώς, das Aristarch im Ausdruck ‚die aktuell herrschende Situation‘ (ἡ ἐνεστῶσα περίστασις) verwendet, auch der grammatische Fachbegriff für das Tempus ‚Präsens‘ ist (eigtl. ὁ ἐνεστὼς χρόνος). Bereits der Redner Isokrates (antid. 10) benutzt die Litotes οὐδ᾿ ἀκαίρως (‚nicht unzeitig‘) in einem Sinn, den man wahlweise mit ‚der Situation‘ oder ‚dem Kontext angemessen‘ wiedergeben kann. Dass die antike Terminologie durchaus auch Raummetaphern benutzt, zeigen Begriffe wie παρακείμενον und περίστασις.

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Selbstverständlich gilt auch für Aristarch, dass er Kontextualisierungen vornehmen kann, ohne einen einschlägigen Terminus zu verwenden. In dem Zusammenhang verdient eine grundsätzliche Fragestellung besondere Beachtung, die sich wie ein roter Faden durch seine Kommentare hindurchzieht und gleichzeitig geeignet ist, das bisher skizzierte Bild um eine wichtige Facette zu erweitern. Die im vorstehenden angeführten Beispiele könnten möglicherweise den Eindruck entstehen lassen, die Kategorien ‚Kontext‘ und ‚Kontextualisierung‘ seien in der antiken Literaturwissenschaft primär oder sogar ausschließlich in einer gleichsam mikroskopischen Betrachtungsweise zur Anwendung gekommen und auf kurze Textstücke beschränkt geblieben. Sollte dieser Eindruck entstanden sein, muss er sogleich korrigiert werden. Ein dafür geeigneter Fragenkomplex verdankt seine Existenz möglicherweise einem zunächst recht banal wirkenden Bestreben: Aristarch war darum besorgt, die Erklärung der homerischen Epen und der darin dargestellten Welt von Anachronismen und darauf beruhenden Fehldeutungen freizuhalten. Ein einfaches Beispiel soll das grundsätzliche Problem illustrieren. Aus den Epen geht klar hervor, dass die homerischen Helden keine Kenntnis von der Alphabetschrift hatten. Somit ist es nach Aristarchs Auffassung falsch, wenn die gleichen Helden z. B. in der Tragödie schreiben können.37 Potentielle Anachronismen dieser Art gibt es zuhauf. Aristarchs Kommentar ist deshalb gespickt mit Einträgen, die sich mit dem Unterschied zwischen ‚damals‘ und ‚heute‘ beschäftigen. Sie zeigen primär das Bestreben, alle Steine aus dem Weg zu räumen, die ein ‚heutiges‘ (also hellenistisches) Lesepublikum stolpern lassen könnten. Hinter diesem didaktisch geprägten Bestreben steht die grundsätzliche Erkenntnis, dass der ursprüngliche Äußerungskontext der homerischen Epen fundamental anders war. Diesem Umstand trägt Aristarch dadurch Rechnung, dass er immer wieder festzustellen versucht, was der Text zu Homers Zeit bedeutet haben muss. Was aus heutiger Sicht selbstverständlich erscheinen mag, musste zuerst einmal im methodischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft seinen Platz finden. Und Aristarch dürfte daran nicht ganz unschuldig sein. Dass die grundsätzliche Frage des Aufführungskontexts (im weiteren Sinn des Worts) in Aristarchs Kommentar regelmäßig zum Tragen kam, soll hier anhand von wenigstens einer Beispielgruppe illustriert werden. Zu wiederholten Malen wird betont, dass die homerischen Helden bei vielem selber Hand anlegten. Sie 37

Vgl. schol. A Il. 6,169a Ariston. mit den von Erbse genannten Testimonien und Schmidt (1976) 213–214.

Kontext in antiker Literaturerklärung

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waren, wie Aristarch sich ausdrückt, αὐτουργοί (wörtl. ‚Selbstwerker‘). Sie steuerten selber Pferd und Wagen, bauten eigenhändig ihre Schiffe und setzten sich dann selber ans Steuerruder, sie hüteten selbst das Vieh auf der Weide, usw.38 Man kann sich förmlich denken, wie die jeunesse dorée am Hof der Ptolemäer an den entsprechenden Stellen erstaunt die Augenbraue hob und leicht pikiert fragte, ob man sich Homer wirklich in allem zum Vorbild nehmen müsse. Bekanntlich dienten die Epen in dieser Zeit auch als eine Art ‚Fürstenspiegel‘. Wenn Aristarch in diesen und ähnlich gelagerten Fällen betont, das sei damals völlig normal gewesen, bemüht er offensichtlich die Kategorie des je unterschiedlichen Äußerungskontexts und zwar durchaus in einem makroskopischen Sinn. Ein entscheidender Faktor ist für ihn dabei die zeitliche Distanz, die den zeitgenössischen Rezipienten vom ursprünglichen Äußerungskontext trennt, was diesem erst richtig bewusst gemacht werden muss. Ob man dieses Verfahren ‚Kontextualisierung‘ oder, wie gelegentlich vorgeschlagen wird, ‚Re-Kontextualisierung‘ nennt, ist kaum von Belang. Entscheidend ist, dass Aristarch es durchgängig und systematisch anwendet. Die moderne Forschung begeht gelegentlich den Fehler, für ein bestimmtes methodisches Prinzip unbedingt eine entsprechende ausdrückliche Aussage haben zu wollen. Damit tut sie sich gerade in Bezug auf die hellenistische Zeit keinen Gefallen. Dass ein Kritiker wie Aristarch systematisch kontextualisierte, untersteht keinem Zweifel.39 Ob er sich auch theoretisch zu dieser Methodenfrage äußerte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Der oben zitierte Kommentareintrag zu Il. 14,84 spricht aber eindeutig dafür. Das gleiche Scholion setzt sich wie gesehen polemisch mit nicht namentlich genannten Kritikern auseinander, denen im Grunde vorgeworfen wird, sie hätten die vermeintlich anstößige Anrede an Agamemnon nicht genügend kontextualisiert. Ungenügende Kontextualisierung ist ein möglicher Vorwurf, regelrechte Dekontextualisierung ein anderer. Ob dieser in der antiken Diskussion wichtig ist, kann noch nicht gesagt werden, weil die Erforschung dieser Frage gerade erst begonnen hat. Anlass zur Klage hätte es jedenfalls mehr als genug gegeben. Dekontextualisierung ist unter antiken Lesern weit verbreitet. Zu den bekanntesten Beispielen gehören Solons Gedanken zum Lebensalter (vgl. Hintzen in diesem Band) oder Sokrates’ berühmt-berüchtigte Interpretation von Simonides’ Lied an Skopas (Plat. Prt. 338–347a), um nur zwei zu nennen. 38 39

Vgl. schol. A Il. 3,261–262a Ariston., schol. Od. 2,11b (= p. 17 n. 1 Carnuth), 13,223 (= p. 121 Carnuth), dazu Schmidt (1976) 159–164. Offensichtlich bedeutet das nicht, dass man alle daraus abgeleiteten Urteile teilen muss. Dass Aristarch systematisch kontextualisierte, bleibt allemal bemerkenswert.

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Antike Stimmen, die das Verfahren der Dekontextualisierung kritisieren oder auch nur kommentieren, konnten bisher erst in geringer Zahl identifiziert werden.40 Man muss auf die Resultate weiterer Forschungstätigkeit hoffen. Hingegen sollte der vorliegende Beitrag mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt haben, dass ‚Kontext‘ und ‚Kontextualisierung‘ als Erklärungskategorien in der antiken Literaturwissenschaft durchaus zur Anwendung kommen und z. B. im Werk des alexandrinischen ‚Starphilologen‘ Aristarch eine feste Größe darstellen. Dass die Beweisführung nur exemplarisch anhand von ausgewählten Beispielen erfolgen konnte, tut dem grundsätzlichen Ergebnis keinen Abbruch und spiegelt den aktuell erreichten Stand der Forschung wider.41 Literatur Ford, A. (1999): „Odysseus after Dinner: Od. 9.2–11 and the Tradition of Sympotic Song“, in: Kazazis, J. N., Rengakos, A. (Hgg.), Euphrosyne. Studies in Ancient Epic and its Legacy in Honor of Dimitris N. Maronitis, Stuttgart, 109–123. Hintenlang, H. (1961): Untersuchungen zu den Homer-Aporien des Aristoteles, Diss. Heidelberg. Hunter, R. L., Russell, D. A. (2011): Plutarch: How to Study Poetry, Cambridge. Lewandowski, Th. (51990): Linguistisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg. LfgrE = Lexikon des frühgriechischen Epos, 4 Bde., Göttingen 1955–2010. Matthaios, S. (1999): Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortartenlehre, Göttingen. Nünlist, R. (2012): „Aristarch und das Lexikon des frühgriechischen Epos“, in: MeierBrügger, M. (Hg.), Homer, gedeutet durch ein großes Lexikon, Akten des Hamburger Kolloquiums vom 6.–8. Oktober 2010 zum Abschluss des Lexikons des frühgriechischen Epos. Berlin–New York, 193–214. Pfeiffer, R. (1968): History of Classical Scholarship: From the Beginning to the End of the Hellenistic Age, Oxford. Russell, D. A. (21995): Criticism in Antiquity, London. Schenkl, K. (61909): Deutsch-Griechisches Schulwörterbuch, Leipzig/Berlin. Schmidt, M. (1976): Die Erklärungen zum Weltbild Homers und zur Kultur der Heroenzeit in den bT-Scholien zur Ilias, München. 40

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Plutarch kritisiert zweimal die dekontextualisierende Vorgehensweise in der Argumentation von Philosophen (mor. 1068d, 1108d). Das hindert ihn freilich nicht daran, das gleiche Verfahren im oben genannten Traktat de audiendis poetis selber anzuwenden, vgl. Hunter–Russell (2011) 16. Ein lateinisches Beispiel für Kritik an Dekontextualisierung liefert Apuleius (Apol. 81–84, Hinweis von Ute Tischer). Vor diesem Hintergrund dürfte auch der leichte Widerspruch zu verkraften sein, dass im Titel und im Text des Beitrags konsequent von ‚antiker Literaturwissenschaft‘ die Rede ist, obwohl so gut wie kein lateinischer Text zur Illustration angeführt wird. Dass es solche gibt, ist angesichts der griechischen Belege sehr wahrscheinlich. Für einen Nachweis sind zunächst weitere Studien notwendig.

Callimachus and His Muses. Contextualization in the Aetia Thomas A. Schmitz (Bonn)

Abstract This contribution looks at the Muses in books 1–2 of Callimachus’ Aetia as a contextualizing element. On the one hand the Muses provide a connection to the Greek epical tradition and to Hesiod, where they appear as a source of knowledge and inspiration. On the other hand, they appear as written books and allegories of reading, thus pointing to the new reality of literate poetry in the Library of Alexandria. By virtue of this double function, the Muses thus provide a generic and communicative context that helps readers of this new type of poetry see the Aetia as both traditional and innovative.

As any scholar will know, “context” is a difficult concept: depending on, well, context, it can mean (among other things) the external reality in which a linguistic utterance is embedded and to which it refers or the larger texture that holds the elements of a literary text together. It is a word that we all have used numerous times in teaching when we explain to our students that certain interpretations are less convincing because they fail to take the (historical, social, political, generic, linguistic, philosophical, religious …) context into account. As is often the case, the importance of a feature becomes especially perceptible when it is lacking. As classicists, we are accustomed to working with fragments, parts of larger entities that become problematic because we are missing important contextual information. A papyrus scrap with only a few words of a poem by Sappho, an enigmatic quotation of a sentence or two of a Presocratic philosopher, or the discontinuous text of a palimpsest manuscript all resist our desire to understand, to “make sense” of the text since their fragmentary nature has made the context inaccessible. In an important contribution, Most (1994) has given a convincing analysis of this process of decontextualization and provided the following definition of interpretation (132): (…) interpretation is nothing other than recontextualization, the elaboration of hypothetical external contexts within which problematic texts can be embedded in such a way that coherent and detailed analysis of them can derive their peculiarities from determinate features of these postulated contexts.

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Such attempts at recontextualization try to take into account as much external evidence as we possess – but in the end, there will always be an element of subjectivity and intuition about what contexts we consider plausible and helpful for understanding fragmentary texts. The contingencies of transmission are not the only way texts become decontextualized. As Most himself writes (131): “publication (…) guarantees that a text will fall into the hands of people who have no idea of its original external context.” Of course, this was already known in antiquity, and the famous critique of writing in Plato’s Phaedrus mentions that written texts become helpless to “defend themselves” because they are separated from their “father” (275e). This “separation” from the author inevitably decontextualizes texts as it removes them from the living voice of the performer, from the (ritual, civic, generic, or political) frame of the performance, and from the shared experience of the audience. Literary traditions provide new contexts for written texts, but when this form of publication was a relatively recent phenomenon, its effects were felt more acutely. Plato’s engagement with writing and teaching via written texts occurs precisely at the moment in Greek cultural history when a poetic tradition that was primarily based on oral performance became gradually supplemented and replaced by a literary culture that emphasized composition in writing and private consumption of written texts.1 This contribution will explore a text that is decontextualized in both senses. Callimachus’ Aetia exerted a huge influence on the development of Greek and Latin poetry; its famous prologue is quoted, alluded to, and parodied numerous times in ancient literature.2 Unfortunately, the text itself has not come down to us in medieval manuscripts, but only in ancient quotations, numerous papyrus fragments, and imitations and translations. Moreover, Callimachus was perhaps the first poet-writer for whom the poetical tradition consisted primarily of a library of written texts, of papyrus rolls. His own poetry is thus an early example of the modes of composition and of anticipated reception that were to dominate Western literature for many centuries to come: Callimachus was keenly aware that he was writing his texts for readers who might be geographically and chronologically remote from himself. This meant that the immediate 1

2

The scholarly literature on this important cultural change is endless; Yunis (2003) provides a good introduction to the discussion; one of the first scholarly contributions that emphasized this historical concurrence was Havelock (1963). Gutzwiller (2007) 61 calls it “the single most imitated passage in Latin poetry.”

Callimachus and His Muses. Contextualization in the Aetia

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social (political, religious, festive) context of poetry, which had hitherto been provided by the performance of singers and dancers, was no longer available for his texts. This raised a number of problems and challenges to which Callimachus responded: he discovered new ways of defining poetical genre (which used to be a function of the occasions at which poetry was performed); he found methods of including the voice of performance and the reception of the audience into the text itself; his poetry developed rhetorical strategies to produce a shared experience for his readership.3 This contribution will study one particular aspect of the Aetia, its depiction of the Muses. I will argue that we can read this image of the Muses as a consequence of the composition of the poem as a written text, as a strategy for communicating with readers for whom poetry in the form of a book-roll was still a fairly new phenomenon, as a way of connecting to a poetical tradition that was shaped by performances and performers. Before we can study the Muses as a device for contextualizing a written text, however, we will have to spend a few moments to look at the fragmentary transmission of the Aetia in order to get a clearer picture of the limits of our understanding of this fascinating text. The following remarks will be quite brief; they are meant as a simple summary of well-known facts for readers who may not be familiar with Callimachus.4 Though the Aetia was considered Callimachus’ most important work, readers from the Italian Renaissance until the nineteenth century had access to a few quotations and allusions only.5 It was not until the second half of the nineteenth century that the discovery of papyri in Egypt transmitted substantial portions of the Aetia to the modern world. While recent years have yielded a number of additional smaller fragments, most of the longer passages had been found and published by the middle of the twentieth century, when R. Pfeiffer produced his magisterial edition of the poet’s works.6 We now possess about 10 % of the original text of the Aetia, in a more or less legible form:7 while some of the more substantial fragments offer a continuous text that we can be rea-

3 4 5 6 7

I have provided more in-depth analyses of these innovations in Schmitz (1999), Schmitz (2013). For a fuller account, see Massimilla (2011) and Harder (2012), 1, 63–72. On what little was known about Callimachus before the nineteenth century, see Lehnus (2011) 23–26. Pfeiffer (1949–1953). Harder (2011) 64: “ca. 600 lines out of ca. 6,000.”

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sonably certain was read by Callimachus’ ancient public in about the same form, some parts are badly mutilated. Among the most important and most helpful of these papyrus fragments are the so-called “diegeseis,” preserved in a papyrus now in Milan.8 They typically quote the first line of a particular aition and then go on to provide a prose summary of the story Callimachus relates in the passage. They allow us not only to gain at least some knowledge of parts of the poem that have not been transmitted at all or are preserved in a badly mutilated form, but they also provide an overview of the structure of the poem since they secure the order in which the single stories occurred. Unfortunately, we only have such diegeseis for books 3 and 4 of the Aetia; our knowledge of the structure of the first two books is thus less certain and has to rely on speculation and guesswork. This is also true for an aspect of the work that is particularly momentous for our investigation. The Aetia begins with an extended prologue in which the author persona reacts to criticism of his work by mythical gnomes, the “Telchines”; he rejects their argument that “big” poetry is necessarily superior to shorter works (fr. 1 Pf.).9 The first aetiological narrative concerned sacrifices to the Charites in Paros (fr. 3). As we will see, these aetia are embedded into a framing narrative, a dialogue between the narrator and the Muses.10 This frame was introduced in the narration of a dream “Callimachus” had had as a young man, in which he was transported from North Africa to mount Helicon in Boeotia, where he encountered the Muses. We have hardly any direct textual evidence of this central part of the Aetia and have to rely on a number of external witnesses, the most important of which are scholia in a Florentine papyrus11 and later references to and imitations of this passage, especially an anonymous epigram in the Anthologia Palatina (7,42). Moreover, for reasons that we do not fully understand, Callimachus abandoned this narrative frame after the first two books of the Aetia: the aetia in books 3 and 4 of the poem are no longer 8 9

10 11

See Falivene (2011). Text and translation of the Aetia will be quoted after Harder (2012), who follows Pfeiffer’s numbering of the fragments wherever possible. I will cite Harder’s numbering only when it diverges from Pfeiffer’s. Massimilla (2011) 39–57 provides a convenient overview of the structure of the Aetia. Fr. 2d Ha. = schol. Flor. 15–20 Pf.: ὡς κ]ατ’ ὄναρ σ(υμ)μείξας ται˜ς Μούσ[αις ἐν Ἑ- | λι]κ ̣ω˜νι εἰλήφοι π(αρ’ α)ὐτω˜ν τ(ὴν) τ(ω˜ν) αἰτίων [ἐξηγη- | σιν ἀ]ρ. τ. ιγένειο ̣ς ̣ ὤν ̣ […].

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related by the Muses. Many scholars have accepted the explanation that books 1–2 of the Aetia were published as a complete poem, structured by this dialogue; later in his life, Callimachus added further aetia in two additional books. For this “second edition,” he must also have made at least some minor modifications to the books already published.12 While this is an attractive hypothesis, we should remain aware that it is not more than speculation. To this extent, we cannot be certain about the structural function of the Muses in the Aetia. The state of preservation of the text allows us mere glimpses of their appearances within the narrative framework, but we do not see the compositional function these appearances may have had. Future papyrological finds may yield more details, but unless some improbable stroke of luck gives us a full manuscript of the Aetia, we will have to make do with these decontextualized fragments. While the structural function of the Muses in the Aetia is thus impossible to elucidate, we are able to understand their poetological role. Their function as mediators between written and oral poetry is obvious right in the prologue, when the narrator mentions Apollo’s famous epiphany that told him to prefer “slender” poetry (Aet. fr. 1,21–24): καὶ γὰρ ὅτ⸥ε πρώ̣τιστον ἐμοι˜ς ἐπὶ δέλτον ἔθηκα γούνασι⸥ν, Ἀπ ̣[ό]λλων εἶπεν ὅ μοι Λύκιος· “…….]…ἀοιδέ, τὸ μὲν θύος ὅττι πάχιστον θρέψαι, τὴ]ν ̣ Μου˜σαν δ’ ὠγαθὲ λεπταλέην·” For when I put a writing-tablet on my knees for the first time Apollo Lycius said to me: “… poet, feed the sacrificial animal so that it becomes as fat as possible, but, my dear fellow, keep the Muse slender.”

Unlike most Greek poets of the archaic and classical period, the author of the Aetia describes himself as a writer who holds a “tablet” (δέλτος) in his lap.13 This depiction is continued in Apollo’s request to “keep the Muse slender.” Terms such as λεπτός had already been used before Callimachus to praise poetry,14

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The theory of a “second edition” had been proposed by Pfeiffer (1928); Parsons (1977) esp. 49–50, accepted it and made some modifications to accommodate more recent papyrological discoveries. For a fuller account, see Massimilla (1996–2010), 1, 34–40; Harder (2012), 1, 2–8. On some possible implications of this word, see Bruss (2004) 56–57. See Harder (2012), 2, 62–63 on 1,24.

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but the sophisticated play on the ambivalence of the word appears to be an innovation of this passage. The entire prologue wavers between a physical and a metaphorical sense of words such as “big” and “small” or “loud” and “soft”, so a similar reading suggests itself in l,24: Callimachus’ “Muse” is λεπταλέη both because the book that he will publish is to be a small scroll,15 not a huge work “in many thousands of lines” (l,4), and because his poetry will follow the principle of “slenderness” (λεπτότης), of being sophisticated and well-wrought rather than overwhelming and expansive.16 Literal modes of poetic production and consumption are thus emphasized in these first lines. At the same time, however, the word “Muse” reminds readers of older models of poetical production. It is no coincidence that Callimachus has Apollo address him as “singer” (ἀοιδέ) in 1,23: since the Homeric epics, the Muse had been the source of knowledge and inspiration for the oral poet’s performance in Greek culture,17 and right after this prologue, the Aetia will refer to what was the most famous scene of poetical inspiration in archaic Greek poetry, Hesiod’s Dichterweihe in the proem of the Theogony.18 These lines, then, are a good example of what I wish to examine in this paper: the “Muses” here can be described as bridging the divide between oral and literate modes of poetical production and as preparing the audience for the relatively new phenomenon of reading a book of poetry. The “slender Muse” points to the reality of the book-roll as well as to the tradition of performance that defined poetry in Greek culture. The most conspicuous function of the Muses in the Aetia (or at least, in the first two books of the Aetia) is the extended dialogue in which they are engaged with the first-person narrator. Typically, the narrator will ask the Muses about surprising or striking features of ritual and myth; one of them will react to these questions by delivering a lengthy explanation of these remarkable phenomena.

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For another reference to the Aetia as a physical book, see fr. 7,13–14 with Bing (2008) 18 and Harder’s commentary. I am still convinced, as I have tried to show in Schmitz (1999), that this emphasis on “slenderness” and brevity should be seen as a rhetorical strategy advertising the Aetia itself rather than a full-blown poetological theory. A useful summary of the role of the Muses in archaic poetry (with references to older scholarly accounts) can be found in Graziosi/Haubold (2009) 97–99. Unfortunately, the reference to Hesiod occurs in a part of the Aetia that is badly mutilated; see above, n. 11; recent discussions with further bibliography can be found in Tulli (2008); Fantuzzi/Hunter (2002) 51–60.

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As an example, we can look at what was the second aetiological narrative in the poem. The narrator wonders why people on the islands of Anaphe and of Lindos use foul language in their prayers to Apollo and Heracles (fr. 7,19–26 Pf. = 7c,1–8 Ha.): κω˜ς δέ, θεαί ̣, ..[…] μὲν ἀνὴρ Ἀναφαι˜ος ἐπ’ αἰσ[χροι˜ς ἡ δ’ ἐ ̣π.̣ὶ δ ̣υ ̣[σφήμοις] Λίνδος ἄγει θυσίην, […] […] ἤρχετο Καλλιόπη· “Αἰγλήτην Ἀναφήν τε, Λακωνίδι γείτονα Θήρῃ, πρω˜τον ἐνὶ μνήμῃ κάτθεο καὶ Μινύας, ἄ̣ρχμενος ὡς ἥ̣ρωες ἀπ’ Αἰήταο Κυταίου αὖτις ἐς ἀρχαίην ἔπλεον Αἱμονίην “And why, goddesses, does a man at Anaphe sacrifice with insults and Lindus with shameful words (…)?” Calliope began: “First commit to your memory Aegletes and Anaphe, the neighbor of Laconian Thera, and the Minyans, beginning how the heroes sailed from Cytaean Aeetes back to ancient Haemonia.”

Most of Callimachus’ contemporary readers were familiar with the function of the Muses in oral forms of poetry;19 hence, they recognized numerous aspects of their depiction in this passage: in the epic tradition, the narrator often asks the Muses to tell about particular details, to provide knowledge about events and characters.20 In the Homeric epic, the Muses “are goddesses and know everything, while we hear only rumors and do not know anything,”21 and the narrative of the Iliad begins with a dialogue of question and answer: “Which of the gods brought these two together to quarrel? The son of Leto and Zeus.”22 Callimachus’ dialogue can thus be understood as a vivid enactment of the traditional relationship between epic singer and Muse. While Callimachus’ readers saw these connections to an unspecific epic tradition, they also recognized one epic predecessor as being particularly relevant for the passage: in the prologue of Hesiod’s Theogony, the narrator starts his account of the generations of gods by asking the Muses a question: “These things tell me from the beginning, Muses who dwell in Olympus, and say what was the

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See above, n. 17. See Harder (1988) 3–8 for examples. Il. 2,485–486: ὑμεῖς γὰρ θεαί ἐστε πάρεστέ τε ἴστέ τε πάντα, | ἡμεῖς δὲ κλέος οἶον ἀκούομεν οὐδέ τι ἴδμεν. Il. 1,8–9: Τίς τάρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε μάχεσθαι; | Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός.

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first to come to be. Truly, Chaos was the first to come to be.”23 The importance of this Hesiodic intertext is emphasized by the fact that Callimachus added a further reference to the prologue of the Theogony at the end of the Aetia, thus framing his entire poem by pointing to its model in Hesiod. The fragment is not well preserved, but the reference to Hesiod is clear enough (fr. 112,5–6):24 κ ̣είν.. ̣ τῷ Μου˜σαι πολλὰ νέμοντι βοτά σὺν ̣ μύθους ἐβάλοντο παρ’ ἴχν[ι]ον ὀξέος ἵππου· … to whom the Muses, when he was herding many animals, contributed stories near the footprint of the swift horse.

There can be no doubt that the herdsman who grazed his cattle near the spring Hippocrene, which was produced by the hoof of Pegasus, is none other than Hesiod; the words πολλὰ νέμοντι βοτά | […] παρ’ ἴχν[ι]ον ὀξέος ἵππου prominently call to mind the earlier description of Hesiod ποιμ⸥ένι μῆλα νέμ ̣⸤οντι παρ’ ἴχνιον ὀξέος ἵππου (fr. 2,1 “the shepherd, who was tending his flocks near the footprint of the quick horse”). Callimachus’ Muses, then, are the Muses of the epic tradition, but in particular, they are the Muses of Hesiod’s Theogony; after all, as the Florentine scholia tell us, the entire conversation with the Muses took place on mount Helicon in Boeotia, which is clearly connected with Hesiod. I want to draw attention to two further elements of Callimachus’ Muses that refer his readers to Hesiod’s depiction. (1) While the Homeric epics address the Muse in the singular or unnamed “Muses” in the plural, the individual names of the nine Muses occur for the first time in Hesiod’s Theogony (77–79), and West (1966, 180) is probably right to conclude that Hesiod was the inventor of these names. Cohon (2009) points out that in Hellenistic art, the names are often given in the exact order

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Hes. Th. 114–116: ταῦτά μοι ἔσπετε Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ’ ἔχουσαι | ἐξ ἀρχῆς, καὶ εἴπαθ’, ὅτι πρῶτον γένετ’ αὐτῶν. | ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ’. On the complexity of this introduction and the blending of narrative voices, see the excellent analysis in de Jong (2009) 101–103; on the intertextual relation between Hesiod and the Aetia, see Morrison (2011) 333–337; on Callimachus and Hesiod see ReinschWerner (1976). Again, there is an immense debate about this epilogue: was it composed for the “second edition” of the Aetia when books 3 and 4 were added to the original poem? Had it originally been placed at the end of book 2, thus framing the dialogue with the Muses? The commentaries of Massimilla (1996–2010), 2, 510–512 and Harder (2011), 2, 855–857 provide summaries of the discussion.

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that Hesiod provides in the Theogony, which is evidence that his depiction of the Muses had become canonical. When Callimachus uses these Hesiodic names (he refers to Clio in fr. 43,56 , to Erato in fr. 137a,8 Ha., and to Calliope in fr. 7,22 Pf. = 7c,4 Ha. and 75,77),25 he thus draws attention to the Hesiodic pedigree of his Muses. (2) The Callimachean author figure emphasizes that the Muses are his tutelary deities; they provide more than mere inspiration for his poetry, they protect his entire life (fr. 1,37–38):26 …….Μου˜σαι γ⸥ὰρ ὅσους ἴδον ὄθμα⸤τ⸥ι παι˜δας μὴ λοξῷ, πολιοὺς⸥ οὐκ ἀπέθεντο φίλους. … for whomever the Muses did not look at askance as a child they will not reject as a friend when he is old.

While it is true that the Homeric epics depict singers as “beloved by the Muse,”27 it is again in Hesiod’s Theogony that this motive is most fully developed: it occurs twice in the prologue (81–84, 96–97), and it is in Hesiod that we find the “look” of the Muses that signifies their divine blessing (82 γεινόμενόν τε ἴδωσι ~ Call. fr. 1,37 ὅσους ἴδον ὄθμα⸤τ⸥ι παῖδας). Moreover, like Hesiod, Callimachus calls his own authorial persona “blessed by the Muses,” not a character in his poem such as the singer Demodocus. What we have seen so far are clear indicators that the Muses in the Aetia provide a generic context for the poem: they connect it with the epic tradition, more specifically with Hesiod’s Theogony, thus making the Aetia recognizable as part of a long series of poetic texts. However, the Muses also display a number of untraditional and decidedly un-Hesiodic characteristics, thus emphasizing the novelty of Callimachus’ poem. Perhaps the most visible of these features is the way the Muses as characters are depicted: while they know even

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As the Florentine scholia 10 Pf. = fr. 7a,10 Ha. show, Clio was also the speaker in another aition, but we have this testimony only, no fragment mentioning her name. Supplementing the letter πολυμ ̣ in fr. 126,3 to a form of the name Polymnia is rightly rejected by Harder (2012), 2, 918 as too uncertain. It should be mentioned that these lines are repeated almost verbatim in Epigr. 21,5– 6; scholars do not agree if they are authentic in both places or, if only in one, in which one they should be accepted. Od. 8,62–63 (about Demodocus, the Phaeacian singer): ἐρίηρον ἀοιδόν, | τὸν περὶ Μοῦσ’ ἐφίλησε.

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recondite details about obscure rituals and help elucidate complex problems, they are fairly relaxed interlocutors, charming and sweet rather than numinous and awe-inspiring, as the introduction to an aition from the second book, about the Sicilian city of Zancle, demonstrates (fr. 43,50–57). “οἶδα Λεοντίνους [.]δεδρα[………]…..[ καὶ Μεγαρει˜ς ἕτερ[οι] τ ̣ο ̣ὺ ̣ς̣ ἀ[πέ]ν ̣ασσαν ̣ ἐκει˜ Νισαι˜οι Μεγαρῆες, ἔχω δ’ Εὔβοιαν ἐνισπε[ι˜ν φίλατο κα[ὶ] κεστ[ο]ῦ [δ]εσπότι ς̣ ἣν Ἔρυκα· τάων οὐδεμιῃ̑ γὰ[ρ ὅτ]ις πο ̣[τὲ] τει˜χος ἔδειμε νωνυμνὶ νομίμην ̣ ἔρχ[ε]τ’ ἐπ’ εἰλαπίν ̣η̣ν.”̣ ὥς ἐφάμην· Κλειὼ δὲ τ̣ὸ ̣ [δ]εύτε ̣ρον ̣ ἤρχ[ετο μ]ύθ ̣[ου χει˜ρ’ ἐπ’ ἀδελφειῆς ὦμον ̣ ἐρεισαμένη· “I know of Leontini … and of the Megarians, whom the other Megarians, from Nisa, sent away as colonists, and I can tell about Euboea and about Eryx, which the mistress of the strap loved; for in none of these towns the man who once built its wall comes to the usual sacrificial meal anonymously.” Thus I spoke, and Clio began to speak for the second time, resting her hand upon her sister’s shoulder:

The gesture described here (“resting her hand upon her sister’s shoulder”) can be found in a number of archeological documents from the ancient world; it is often interpreted as a sign of an intimate connection between the characters thus depicted.28 In our passage, it presents the Muses as a vivid group of sisters (ἀδελφειῆς, 57) in a casual and relaxed attitude. This informal depiction may remind some readers of the Muses in Hesiod’s Theogony, who begin their speech with playful words of abuse against the shepherds who are “all belly” (26). However, in Hesiod’s text, despite this playfulness, the Muses remain powerful and intimidating goddesses. Another encounter with the Muses that may come to mind is the Archilochus legend in the Parian Monumentum Archilochium, in which young Archilochus addresses the Muses with mocking words (E 1 col. 2,30 σκώπτειν) and they reply “with jest and laughter” (E 1 col. 2,31 μετὰ παιδιᾶς καὶ γέλωτος);29 however, it is difficult to gauge in which

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See Massimilla (1996–2010), 1, 341–342 and Harder (2012), 2, 335–336 for examples and possible implications of this gesture. On the inscriptions relating this legend and the complex layers of narratives, see Müller (1985); Clay (2004).

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period this legendary narrative was produced and to what extent it was known to later writers. As is often the case, Callimachus appears to adopt what was an isolated trait in his predecessors’ depictions of the Muses and develops it into his very own vision: the banter and joviality of the Muses, which was merely alluded to in Hesiod’s text, becomes their main characteristic in Callimachus’ dialogue. Hence, the relationship between his authorial persona and the Muses is unique and provides a novel depiction of poetical production. This becomes even clearer when we look at the way in which the narrator addresses the Muses in fr. 43: in a long introduction, he first provides a list of all the Sicilian cities whose rituals he has studied: Syracuse, Catane, Selinus, Naxus, Thapsus, Camarina, Gela, Minoa, Leontini, Megara, Euboea, and Eryx. Not until he has given this long catalog does he ask his question: Why is the ritual in Zancle so different from all the other towns? Harder (2012), 2, 314 is certainly right to point out that the passage presents a clever inversion of conventions: usually, it is the Muses’ function to provide such catalogs.30 But we also see that the author persona’s situation vis-à-vis the Muses is different from the Homeric narrator’s: he is not someone who “hears only rumors and does not know anything,”31 he is learned and needs only precise supplementary information.32 This interpretation of the relationship between the Callimachean persona and the Muses is supported by the narrator’s reaction after Clio’s explanation of the ritual in Zancle (fr. 43,84–87 Pf. = 43b.1–4 Ha.): ὣ[ς] ἡ μὲν λίπε μυ˜θ ̣ον, ἐγὼ δ’ ἐπὶ καὶ τ ̣[ὸ πυ]θέσθαι ἤ]θελον – ἦ γάρ μοι θάμβος ὑπετρέφ[ε]τ ̣ο ̣ – , ̣ Κ]ισσούσης παρ’ ὕδωρ Θεοδαίσια Κρῆ̣[σσαν ἑ]ο ̣ρ ̣τὴν ἡ] π ̣όλις ἡ Κάδμου κῶς Ἁλίαρτος ἄγ[ει ̣

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Cf. Fantuzzi/Hunter (2002) 58. Above, n. 21. Cf. Hutchinson (1988) 44: “Callimachus appears as an erudite scholar seeking from superior authority the solution of some recondite problems about anomalies and curiosities”; Harder (2012), 2, 302: “(…) Callimachus did not present himself as a passive listener, but rather as a well-informed young scholar, who in fact offers the Muses the kind of catalogue information for which the narrator of the Iliad applied emphatically for their help (…).” Morrison (2011) 337–340 is right to remind us that similar depictions of the Muses’ knowledge occur in earlier poets; he refers to Solon, Simonides, and Pindar.

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Thomas A. Schmitz Thus she ended her story, but I wanted to know this as well – for, truly, my amazement was fed while she spoke – why near the water of Cissusa the town of Cadmus, Haliartus, celebrates the Theodaesia, a Cretan festival (…).

The narrator’s reaction to Clio’s narrative is “amazement” (θάμβος), which encourages him to ask a further question immediately. What the Muses tell will satisfy the narrator’s (and the audience’s) curiosity and will make him and us wish to hear more similar stories; they provide fascinating anecdotes and interesting facts, but do not reveal divine mysteries about the nature of the world.33 Two further ways in which the Muses (or single, named Muses) occur in Callimachus’ Aetia merit brief consideration. As we have already seen,34 the word “Muse” can denote the physical scroll of the Aetia or the poem itself. This is especially striking in a fragment of the well-known story of Acontius and Cydippe, in book 3. At the end of the vivid narrative, Callimachus names the Cean historian Xenomedes as his source (fr. 75,74–77; the vocative “Cean” in l. 74 is an apostrophe to Acontius, the hero of the story): εἶπε δ ̣έ ̣, Κ̣ε ̣ῖ ̣ε ̣, ξυγκραθέντ’ αὐται˜ς ὀξὺν ἔρωτα σέθεν πρέσβυς ἐτητυμίῃ μεμελημένος, ἔ ̣ν ̣θεν ̣ ὁ π ̣α̣[ι]δ ̣ὸς μυ˜θος ἐς ἡμετέρην ἔδραμε Καλλιόπην. And he told, Cean, about your difficult love in his history of those towns, the old man, devoted to the truth, from where the boy’s story moved quickly to our Calliope.

Here, the name “Calliope” appears to refer to Callimachus’ poem, if we take the preposition ἐς “into” seriously.35 A similar reference is possible in what was probably the epilogue of the Aetia as a whole, fr. 112; in this short fragment of nine lines, the name “Muse” occurs no less than three times. In l. 1, the words

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I am not convinced by the arguments of Fantuzzi/Hunter (2002) 59–60 against Hutchinson’s (1988) 44 interpretation of this amazement: I see nothing religious or “philosophical” in this “wonder,” only admiration about this recondite (but fairly mundane) knowledge. Above, n. 15. See Kaesser (2005) 109: “The poet now has forced the Muse to abandon her former position as provider of divine knowledge and turned her into a mediator of human knowledge (…).” Harder (2012), 2, 657 suggests that this use of the Muses is an innovation of books 3–4 of the Aetia (and thus of the poem’s second edition); given that 90 % of the text is lost (above, n. 7), this must remain mere guesswork.

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ἐμὴ μοῦσα could again mean “my poem” (or “my poetry”); however, the text is too lacunose to warrant certainty. At the end of this epilogue, Callimachus seems to announce the transition to a new genre (possibly his Iambi): χαι˜ρε, Ζευ˜, μέγα καὶ σύ, σάω δ’ [ὅλο]ν οἶκον ἀνάκτων· αὐτὰρ ἐγὼ Μουσέων πεζὸν ̣ [ἔ]πειμι νομόν. A well-meant farewell to you too, Zeus, and save the house of my lords; I, however, will go to the foot-pasture of the Muses.

It is obvious that Callimachus is here playing with the conventions of hymnic closures, in which similar prayers are often combined with the announcement to switch to a different subject.36 The reading and interpretation of the last line are under intense discussion; if the reading πεζὸν ̣ is accepted and if we understand (with Pfeiffer) “the foot-pasture of the Muses” as an enallage meaning “the pasture of the pedestrian Muses,” referring to the Iambi (or possibly to prose works), this line seems to indicate that Muses could represent literary genres, thus preparing for the later development that assigned a specific area of literature or science to every Muse.37 These, then, are a number of untraditional aspects of the Muses in Callimachus’ Aetia: they provide recondite information about fascinating questions, but it would appear that they are most useful for someone who has already done some research and comes to them with precise questions in mind. The information they give will motivate further curiosity and lead to further research. They represent poems and poetry, perhaps even poetic genres. Their form (slender or thick) suggests that they resemble book-rolls. At the same time, they connect Callimachus’ Aetia with the epic tradition and bring an element of oral performance into his written text. So far, we have paid attention to the depiction of the Muses as an inspiration of poetic production. It is important to notice that the Aetia also shows them being pivotal for the reception of poetic texts. As we have seen (above, p. 127), Callimachus emphasizes the special relationship that his authorial persona entertains with the Muses: they favor him throughout his entire life. However, 36

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As an example, I quote the end of the Homeric Hymn to Hermes, 579–580: καὶ σὺ μὲν οὕτω χαῖρε Διὸς καὶ Μαιάδος υἱέ· | αὐτὰρ ἐγὼ καὶ σεῖο καὶ ἄλλης μνήσομ’ ἀοιδῆς “Farewell, son of Zeus and of Maia; I will remember both you and another song.” Cf. Richardson (1974) 324–325. See Morrison (2011) 335–336.

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this close relationship is necessary for readers as well, as becomes clear when we look at the way the Telchines, evil and malicious goblins, are characterized (fr. 1,1–2): Πολλάκ⸥ι μοι Τελχι˜νες ἐπιτρύζουσιν ἀ⸤οιδῃ̑ , νήιδε⸥ς οἳ Μούσης οὐκ ἐγένοντο φίλοι, Often the Telchines mutter against me, against my poetry, who, ignorant of the Muse, were not born as her friend.

The Telchines serve as a foil, as anti-readers:38 they show how one should not read a poem. They are “ignorant” and “not the Muse’s friend”: being loved by the Muse(s) is necessary not only for the writer, but also for the reader of this new poetry. This is valid for both functions that the Muses fulfill: Callimachus’ ideal audience has to be well-read, has to be familiar with poetical texts, and has to be connected with the performance culture of oral poetry. When we take all these aspects of the Muses into account, it seems promising to pursue an idea that A. D. Morrison (2011) 342–343 has suggested:39 the Muses in Callimachus, especially in his Aetia, can be seen as representatives of the written books that he was handling in the Library of Alexandria. This Library was part of the Museion, a sanctuary of the Muses.40 Callimachus, while never actual head of the Library, wrote the famous Pinakes that collected, in 120 volumes, all that was known about the texts in the Library and about their authors.41 He must have been a voracious and indefatigable reader; for him, encountering Greek poetry meant perusing huge numbers of book rolls, and in his perspective, no one could hope to become knowledgeable about poetry unless they were willing to spend many hours in the Museion, among these books, thus becoming a “friend of the Muses.” Moreover, Callimachus was especially interested in unusual phenomena; he was the inventor of “paradoxography” and composed a Collection of Marvels throughout the World by Location.42 For him, books indeed contained erudite information that he was curious about, and every piece of information certainly triggered further enquiries

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See Schmitz (1999) 163–164. See also Männlein-Robert (2010) 174. For a good summary of the evidence, see Erskine (1995). See Krevans (2011) esp. 121–124. See Krevans (2011) 124–126.

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and searches for answers. The Muses in the Aetia, then, can be understood as an allegory of reading, and Callimachus was indeed in constant dialogue with these bookish Muses in real life. Callimachus is certainly not the first reader of Greek literature: reading gradually became a possible way of encountering poetic texts during the fourth century B.C.E.43 Yet the Alexandrian Library was the most important place for the transformation of an oral poetic tradition into a canon of written books. In hindsight, this transformation may appear unproblematic and inevitable, yet for the readers and writers involved in this change of medium, it must have been revolutionary. Even when they had been prepared in writing (as, for example, Pindar’s victory odes were), even when some members of the audience might wish to reread these texts, the prevailing mode of reception well into the fourth century B.C.E. was still oral performance, and poetry remained imbued with the occasionality and topicality that a performance culture conveyed. Written words were reminders of song and dance, not their substitute. This changed in the Hellenistic period: scattered texts were made into a coherent literary past; a canon of timeless “great books” slowly developed.44 Texts became divorced from their local and ritual surroundings, and the work of the Alexandrian philologists, their historical, mythological, linguistic, and interpretive commentaries, demonstrates the difficulties that these newly decontextualized books presented. In a penetrating analysis, J. Assmann (1997) 87–103 has shown that interpretation and variation are the forces that drive this transformation of an oral and ritual culture into a literary tradition. The Alexandrians are perfect examples of this process: they collect, edit, and interpret texts, establish a historical, biographical, generic, and geographical framework of Greek literary history, and position themselves and their own poetic production into this tradition. It is in this process that Callimachus’ Muses provide a context for this new type of literary production. They look both ways: to the literary past, to the epic and lyric predecessors, to the performance culture of improvising bards and

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As is well known, the earliest depiction of a reader of literature is Dionysus in Aristophanes Frogs (see esp. l,52–54). While this may still be considered exceptional, some fifty years later, Aristotle had the nickname “the reader” (ἀναγνωστής: Vita Marc. 6). For an excellent account of the social and political background of this development, see Asper (2001).

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sophisticated lyric predecessors as well as to the new reading culture of a library that encompasses this entire tradition. By contextualizing the written production of the new Alexandrian poets, the Muses integrate their texts into the horizon of expectation of Greek audiences, giving them recognizability and interpretability. I want to conclude this paper by pointing to a phenomenon that demonstrates how successful Callimachus was in securing a place for himself in this poetic tradition: the Lille papyrus that gave us large parts of what was the first poem of the third book of the Aetia was written in the late third century B.C.E., thus not more than one or two generations after Callimachus’ death.45 This papyrus contained not only the text of Callimachus’ poem, but also a commentary on this text.46 Callimachus’ text has entered into the same category as the Homeric epics, classical tragedy, or lyric poetry: it is part of the great “stream” of tradition.47 The Aetia has indeed become contextualized; its text warrants the same attention and care that the great classical texts deserve. As this paper has tried to show, the Muses helped Callimachus’ poetry join this great tradition by providing a link between old and new. Bibliography Acosta-Hughes, B., Lehnus, L., Stephens, S. (eds.) (2011): Brill’s Companion to Callimachus, Leiden. Asper, M. (2001): „Gruppen und Dichter: zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos“, A&A 47, 84–116. Assmann, J. (21997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Munich. Bing, P. (2008): The Well-Read Muse: Present and Past in Callimachus and the Hellenistic Poets, Ann Arbor (revised reprint of the edition Göttingen 1988). Bruss, J. S. (2004): „Lessons from Ceos: Written and Spoken Words in Callimachus“, in: Harder, M. A., Regtuit, R. F., Wakker, G. C. (eds.), Callimachus II (Hellenistica Groningana. 7), Groningen, 49–69. Clay, D. (2004): Archilochos Heros: the Cult of Poets in the Greek Polis (Hellenic Studies. 6), Cambridge (Mass.). Cohon, R. (2009): „New Evidence for Hesiod and the Naming and Ordering of Muses in Hellenistic and Classical Art“, Boreas 32, 19–41.

45 46 47

See the thorough study by Parsons (1977). For the phenomenon of philological commentaries on “contemporary” texts, see Montanari (1995). On this metaphor, see Assmann (1997) 92 with n. 5.

Callimachus and His Muses. Contextualization in the Aetia

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Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3) Christopher Whitton (Emmanuel College, Cambridge)

Abstract This chapter considers the roles, challenges and limits of context in a philological commentary. Taking a short letter of Pliny the Younger as its example, it proceeds in three stages. First, a comparative reading of commentaries from the sixteenth to the twentieth centuries establishes some very different approaches that can be taken to contextualising this text. Second, I discuss ‘contexture’, the contextualising of (in this case) a purported fragment within its broader collection. Third, I consider intertextuality as a form of context, offering an experimental reading of Pliny’s letter against Sallust, Seneca, Cicero and Quintilian. Whether we see such intertextual traces in terms of allusion or prefer to talk of the cultural archive, I suggest, the bounds of context are ripe for expansion in the Epistles – and pose unanswerable, but unavoidable, questions for any writer or reader of commentaries.

1. Plinian commentary in context The aim of the commentary is simply to contextualize the author’s words for the modern reader.1 Is meaning inherent and integral to a word, or does it have meaning in and only in context? If meaning is context specific, what are the limits and boundaries of context? … How should a commentary deal with such matters?2

Of all the modes of classical philology, the commentary is perhaps most heavily invested in the business of contextualising. If ‘the Classics’ are by definition distant from modern readers, the commentator’s axiomatic endeavour is to bridge the gap, to supply ‘the’ context which enables linguistically, historically

1 2

After Reed (1997) 87. Goldhill (1999) 413.

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and culturally informed engagement with the text.3 Such at least is the utilitarian, utopian vision of the task. It is also, of course, a deeply simplified vision. A moment’s reflection opens up a wide range of context(s) which readers may want, and commentators may seek to offer: semantic and linguistic context for a word or phrase (‘meaning’, register, nuance), for instance; intellectual and cultural context for an idea (how about gloria, say, or otium?), proposition or theme; the contextualising of a portion of text (word, paragraph, book) in its work, and of that work within literary history (where such terms as genre, chronology and intertext will be live); biographical, ideological and sociohistorical contexts of author, age and/or contemporary audience (from historicist, to New Historicist, to Konstanzer Schule). If we (crudely) demarcate all this as ‘ancient’ context, that leaves another set of ‘modern’ contexts surrounding the commentary itself: written by whom and for whom? Under what editorial constraints? With what particular concerns, emphases and methodological sympathies? What scholarly context will be established – all relevant publications from the last fifty years? All commentaries on this text ever printed? Will attention to the text’s reception be limited to ‘scholarship’, or for that matter to modernity? Surely no commentator would be so bold, no reader so naïve, as to propose that all these elements, and much more, can be boiled down to ‘an’ empirical context. (Not to mention the human deficiencies of any individual, the gaping holes in our corporate understanding.) Which is to say, commentaries, like any form of interpretation (and let’s be clear: for all the myths about impassive authority, for all the hopes of κτῆμα ἐς αἰεί or the burden of blocking the field for a generation, commentary is a form of interpretation), are inescapably selective, partial, focalised – in a word, subjective. Subjective, not arbitrary (assuming you want it to be plausible), nor blinkered: any (good) commentary in my eyes will both enable informed hermeneutic plurality and constitute an interpretation in itself. That makes a first context for my banner, alius aliud, and for the reflections on commentary and context to come. My discussion centres on a case study from Pliny the Younger’s Epistles, a text where debate is currently live on a whole range of qualities – genre, literary texture, modes of composition and of consumption – and thus on the sorts of context that a commentator should, or 3

See Fuhrmann (1985) 38; Stierle (1990) 21; Gumbrecht (1999) 443. Classical commentaries have come in for valuable scrutiny in recent years: see first Most (1999) and Gibson/Kraus (2002); also now Kraus/Stray (2015a).

Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

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might, be interested in. It also supplies a conveniently bite-sized guinea-pig, the brief and (should we say?) self-contained Epistles 9,3.4 C. PLINIVS PAVLINO SVO S. 1 Alius aliud, ego beatissimum existimo qui bonae mansuraeque famae praesumptione perfruitur, certusque posteritatis cum futura gloria uiuit. Ac mihi nisi praemium aeternitatis ante oculos, pingue illud altumque otium placeat. 2 Etenim omnes homines arbitror oportere aut immortalitatem suam aut mortalitatem cogitare, et illos quidem contendere eniti, hos quiescere remitti nec breuem uitam caducis laboribus fatigare, ut uideo multos misera simul et ingrata imagine industriae ad uilitatem sui peruenire. 3 Haec ego tecum quae cotidie mecum, ut desinam mecum si dissenties tu; quamquam non dissenties, ut qui semper clarum aliquid et immortale meditere. Vale. My dear Paulinus, 1 Views differ, but I myself consider happiest the man who enjoys full foreknowledge of a good and enduring reputation and who, sure of posterity, lives with his future fame. As for me, if I did not have the prize of eternity before my eyes, I would choose that ‘rich and deep’ leisure. 2 For I deem that all men should think either on their immortality or on their mortality, and accordingly either strive and struggle or rest, relax and not weary a short life with fleeting toil, as I see many doing, persisting in a pale imitation of industry, as wretched as it is thankless, to the point of despising themselves. 3 I am telling you here what I tell myself daily, so I can stop telling myself if you disagree – though you will not disagree, being as you are a man who is constantly at work on something splendid and immortal. Yours, Pliny

Imagine we wanted to contextualise these hundred-odd words with a commentary. Or rather, to re-contextualise them, since we can hardly suppose that they are free of context as presented. What (if any) associations does ‘Pliny’ evoke for you? What are implications of the title Epistles (not, say, Letters)? What expectations are generated by the (familiar? frigid?) designation ‘9,3’? Not to mention decisions I took about the text (did Pliny write alius aliud or alius alium?),5 4 5

Text after Mynors (1963), with minor changes to punctuation. All translations are mine. Views differ. Aliud is the reading of Mγ, ‘quod Plinium sapit’ to Mynors’ nose. But there are signs that β (the other branch of the bifid tradition) had alium, as did Sidonius Apollinaris’ copy in the fifth century (cf. Sid. Ep. 6,12,1 aliquis aliquem; ego illum praecipue puto … with Carlsson (1922) 59): lectio facilior, perhaps – but also potior? To say what every textual critic knows all too well: reception is a matter not ‘just’ of context, but of the text itself.

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orthography, punctuation, layout, and that most violent intervention of all, a translation. Our putative commentary will face some pragmatic questions too. How long will it be? What factors, ideological and aesthetic, will govern our choice of lemmata? How far should we seek to situate these lines within Book 9, within the Epistles, within Pliny’s output, within ‘high’ imperial literature, within Roman culture? And how will the individual notes be informed by, and contribute to a synthetic vision – interpretation – of each of those layers as a whole? After all, if chopping a text down to multiple lemmata is an act of ‘decon-textualization’,6 every fragmentary comment is at the same time situated in a many-layered interpretative context of its own. I shan’t attempt here to construct a commentary as such. Admittedly, that makes it rather easy for me to wallow in the rhetoric of boundlessness, though it also reduces the risk of crambe repetita.7 It also recognises the difficulty of excerpting a single letter for comment, not an unthinkable procedure,8 but one which sets high challenges to the commentator, both intellectual (who could acquire sufficient expertise on the whole work in the time set aside for a single article?) and practical: with no ‘general introduction’ or cross-references, a great deal needs jamming into the notes, not least by way of contextualising the commentator’s own interpretation(s). Instead, I proceed in three stages. First, a sample of three published commentaries will illustrate some of the choices that can be made, and some of the consequences that follow. Then I consider two contextual dimensions which are ripe for richer exploitation in future commentaries on the Epistles: contexture, and intertextuality. Let’s begin, as many a modern reader would, by looking up our letter in Sherwin-White.9

6

7 8 9

Kraus (2002) 15, part of an important discussion of ‘segmentation’. One response is to jettison lemmatisation altogether, though few are comfortable with calling the product a ‘commentary’ (West (1995–2002) is a rare example): contrast Syndikus (1984–7), dubbed an ‘Interpretation’, or the hybrid ‘Interpretationskommentar’ of Gärtner (2015). I have attempted a commentary on another book of the Epistles in Whitton (2013). Another (on Book 6) is being written by Roy Gibson. As recently shown by Keeline (2013). Sherwin-White (1966) 483. On this landmark of Plinian scholarship see Whitton/ Gibson (2016) 17–18; 38–39.

Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

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3. To Valerius Paulinus Date not determinable. The recipient should be Valerius Paulinus, the consul of 107, ii. 2 pref., addressed also in Ep. 37. The otium theme is touched lightly in the first note to him, ii. 2. 2. 1 . n isi p r a e m i u m a e t e rn i t a t i s a n t e o c u l o s , … o tium placeat. For the theme cf. i. 3. 3–4, iii. 7. 14–15, v. 5. 4–7 nn. Pliny is not attributing otium to Paulinus, or he would have written istud, as in i. 3. 3. 2 . a d v ilita t e m s u i p e rv e n i re . The phrase is Senecan, cf. Ep. 121. 24, ‘in nullo deprehendes vilitatem sui’; De Clem. i. 3. 4.

Here is (one vision of) a very ‘scholarly’ commentary: laconic, austere, highly selective, divorced from the text.10 The opening comments are tuned firmly to epistolary realities: what is the date (sc. of the ‘original’ letter), and who the ‘recipient’ (a word which supposes rather more than ‘addressee’)? SherwinWhite, after all, believed firmly in the ‘authenticity’ of this correspondence.11 The plausible identification of our addressee as Valerius Paulinus, cos. 107 (argued in ‘ii. 2 pref.’), accordingly adds political and social context; lurking in that cross-reference is the fact that he has four other letters from Pliny – surely offering significant context within the collection, though Sherwin-White allows only a brief check for coherence here (‘The otium theme …’). Then comes an apogee of telegraphic brevity, in the note on nisi … placeat: ‘For the theme’ (the Latin is left to speak for itself) ‘cf.’ (that notoriously open invitation to ‘compare’) notes to three other passages. Follow them up and you will find limited enlightenment,12 but the note still serves its purpose, situating Pliny’s affirmation in terms of his remarks elsewhere – again, in other words, offering internal context within the Epistles. Next some anonymous knuckles are rapped, as a Fehlinterpretation is headed off at the pass (‘Pliny is not …’) – the closest Sherwin-White comes to offering semantic crutches to students of this letter, or to establishing a scholarly context.13 Finally, an isolated observation of Senecan tonality (to unspecified effect) nicely encapsulates both the tralaticiousness integral to the

10 11 12 13

Not included in the volume, as usual in large-scale commentaries in modern Oxford – and in antiquity (references in Budelmann (2002) 143 n. 4). Staunchly defended in his introduction, 11–20. There are no relevant notes at Ep. 1,3,3–4 or 5,5,4–7. On 3,7,14 we are referred ‘for the theme of studiis proferamus’ to the same letters and to 9,3,3 (sic). Sherwin-White explains his bibliographical parsimony on p. vi: ‘Much bibliography of sound but repetitive stuff has been omitted to make the work manageable. Besides, the study of Pliny has been plagued by amateurs …’

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genre and Sherwin-White’s own very selective mining of predecessors: a single parallel (Sen. Ep. 121,24) is silently taken over from an eighteenth-century commentary and buttressed with another, perhaps freshly found,14 to produce the only hint of a literary-historical or intellectual-cultural context for these lines. To be sure, my excerption of these notes is misleading, contigent as they are not just on internal cross-references but on the historical findings and hermeneutic impulse of the volume as a whole (‘raiders’ beware …). ‘Date not determinable’, for instance, needs taking in the context of Sherwin-White’s important chronological deductions, according to which any letter in Epistles 9 should date from ad 106–8.15 Besides, his fierce compression reflects real economic constraints as well as personal directions of interest; the scrupulous reader can extract more than first meets the eye, through chasing up the crossreferences and Senecan parallels; and the light interpretative touch, you might say, leaves a clear field. But of course it is not a light interpretative touch: in particular, the silencing of earlier commentators and (thus) the subordination of literary texture to historical concerns contributes to a very strong vision of this letter, as of the Epistles (and one with a distinct scholarly context of its own). That vision has powerfully influenced readers and readings of Pliny, and still does – for better or for worse (alius aliud). For a strong contrast we can turn back 460 years to the first printed commentary on the Epistles, produced in Milan by G. M. Cattaneo (Catanaeus) in 1506. Where Sherwin-White omits the text, Catanaeus makes it literally central to each double-spread, attended – or ‘enclosed’ – by running notes in a smaller font, in the graphic expression of symbiotic hierarchy known as textus inclusus (Fig. 1).16 The text itself differs in several details, reflecting the partial evidence available to him, and the letter is counted part of ‘liber octavus’, set between Ep. 9,32 and Ep. 9,4.17 The commentary, too, could hardly be further in manner and matter from Sherwin-White’s: 14

15 16 17

Or so I speculate. Ep. 121,24 is adduced by Cortius/Longolius (1734), one of the few commentaries mentioned in Sherwin-White’s front matter. He shows no signs of knowing Gierig (see below), where he could have found Sen. Cl. 1,3,4 here and much besides. For ‘tralaticious’ cf. Kraus (2002) 11; Kraus and Stray (2015b) 9. Sherwin-White (1966) 20–65. Inherited from a manuscript layout then standard; cf. Bischoff (1990) 28–29; Budelmann (2002) 144–145. Like other early editors, Catanaeus depended on γ MSS, which lack Book 8 and have Book 9 out of order. This was corrected, along with much else, in his revised edition of 1518. See Ciapponi (2011) 107; 111–121; Whitton/Gibson (2016) 4–6.

Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

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Alius. He sets immortality and a good and lasting reputation before all things. Alius. Thinks something else is best. Praesumptione. Opinion before the event. Posteritatis. Immortality, because he will live among those who come after. Nisi primum. Unless among the primary and most important. Otium. The repose of eternity, in which he can rest for ever. Mortalitatem. Being forgotten about after death. Legal writers often understand mortalitas as mors. Illos. Who pay heed to eternity. Contendere. Strive towards it with distinguished works. Hos. Who do not care about living after their own time. Reniti. To be wearied and worn out by futile things. Caducis. That will perish with death. He refers to those who expose their life to so many dangers and labours because of greed, and want to be thought industrious for doing so. Ingrata imagine. Pointless pretence. Mortalitatem. Silence after death. Haec ego. Think. Quae quotidie mecum. The things that I always reflect on. Ut desinam mecum. Such, however, that I would stop contemplating such things, if you have a different view.

A brief argumentum (‘He sets immortality …’) is followed by highly atomised annotation mostly in the form of glosses, expanding on Pliny’s concision and clarifying his meaning (with broad success);18 just once usage is illustrated from elsewhere (‘legal writers …’). Here we see the pedagogical heritage of the commentary format, and the priorities in the early years of print: basic explication of Pliny’s Latinity is the primary goal. Historical situation, epistolary form and the place of this letter in its collection are disregarded. Again, I do Catanaeus an injustice by making these lines represent the totality of his commentary, which elsewhere includes (for instance) parallels adduced from other authors, as well as synthesising remarks on Pliny’s life and the prose style of the Epistles in the introductory material. Still, the contrast with Sherwin-White is a salutary reminder of how different the proclivities of one commentator (and age) from another can be. Finally, let’s consider a third way, the commented edition of G. E. Gierig (1800–2).19 Here again texts and notes share the page, now (as typically in the

18 19

Primary exceptions in the notes on nisi primum and otium (not surprisingly given the textual corruption). Another scholarly milestone; cf. Whitton/Gibson (2016) 11.

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eighteenth and nineteenth centuries) with a vertical expression of hierarchy (Fig. 2). For sheer length his comments on Epistles 9,3 put him in a different league from Catanaeus and Sherwin-White – as does the extent of literary contextualisation. Space allows me to translate just a sample: For Paulinus see on 2,2. In the Paris MS and Naples ed. this letter appears after 9,23, whose subject fits well with this one. 1. Elsewhere (6,6,3) Pliny thinks ‘most blessed’ those who, by the gods’ grace, can both do things worth writing and write things worth reading, whereby certainly a ‘lasting’ (i.e. eternal, as 6,16,2) ‘reputation’ is prepared. But now something is added, the praesumptio of that reputation. Now, ‘that man enjoys the praesumptio of a good reputation’ who can see for certain that his fame will be eternal, and from that belief has its enjoyment, or advance enjoyment, in life. He does not only hope that ‘he will have glory’, but already ‘lives with it’. On praesumptio see my note on 2,10,6. posteritas, fame among those who come after. Tac. Hist. 2,53 posteritatis cura. Then Pliny says uiuere cum gloria, as in Sall. Jug. 14,15 cum moerore et luctu uitam exigere and in Tac. Ann. 3,16 uiuere cum pietate. But Cicero, as is his way, was not satisfied with that praesumptio and wanted to have full enjoyment of that glory in life: he writes to Lucceius, ut et caeteri uiuentibus nobis ex libris tuis nos cognoscant, et nosmet ipsi uiui gloriola nostra perfruamur [Fam. 5,12,9]. And that blessed state, beyond even what Pliny holds best, had been the lot of Verginius, who for thirty years posteritati suae interfuit, 2,1,2. For pingue and altum otium see on 1,3,2; 7,26,3. That is something he greatly liked (5,6,45), for all his focus on eternity, but not ‘unending’ – for that is what he wants here: ‘I would prefer, over the cursus honorum and the labours of the courts, unending leisure’, i.e. freedom from those things. Although he owes his aeternitas not to the offices he held, but to the books he wrote in his otium. He was following the same practice as Cato in Cic. Sen. 23 [i.e. 82]: an censes me tantos labores diurnos nocturnosque domi militiaeque suscepturum fuisse, si iisdem finibus gloriam meam, quibus uitam, essem terminaturus? nonne melius multo fuisset otiosam aetatem et quietam sine ullo labore et contentione traducere? The reading ac mihi was first found by Modius in his MSS; accepted by Gruterus and printed by editors since, it has been confirmed by the Medicean and Vossian MSS. Formerly ac nihil, for which Barthius conjectured cui nihil.

Here is a quite different style of exegesis again. There are no formal lemmata; instead, a single note for §1, loosely tracking the text (praesumptione – posteritatis – otium) but also arranged partly by topic (text-critical comment is left for the end), partly for the linear flow of argument. As with Catanaeus, semantic explication plays a part, now more selectively and bolstered with parallels. As with Sherwin-White, cross-references within Epistles and commentary serve brevity and establish thematic resonances; the role of epistolarity is confined to identifying the addressee. But Gierig goes much further in situating these lines within the collection, and in probing for nuance. Ep. 6,6,3, for in-

Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

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stance, provides not just a parallel but a point of contrast: context becomes a means of differentiation. So too with the broader contextualising in Roman literary culture. If the parallels for uiuere cum gloria in Sallust and Tacitus attest to usage, Cicero’s letter to Lucceius and De senectute serve as comparanda for content, with difference underlined in the first case (‘But Cicero, as is his way …’), similarity in the second (‘He was following the same practice as Cato …’); further instances will follow, with Sallust in §2 and Seneca in §3. In his commentary as a whole, Gierig rarely posits direct textual influence on Pliny; in contrast to our modern fascination with intertextuality, it is an intellectual-cultural context that he sets out to construct – though his ear for apposite parallels makes his commentary an invaluable resource for intertextual readers. To my taste the amount of such material, and attention to nuance in deploying it, makes Gierig’s the richest reading of Pliny’s collection in print – though I don’t expect you necessarily to agree (alius aliud …). But his opening remark about Ep. 9,23 also points us towards an element addressed head-on by none of our three commentators, and one with high stakes for any holistic view of this work. How are these few lines of Pliny to be contextualised in the run of the collection? How is a Plinian letter woven into its book, and into the Epistles writ large?

2. Commentary and contexture context, n. … 4. a. concr. The whole structure of a continuous passage regarded in its bearing upon any of the parts which constitute it; the parts which immediately precede or follow any particular passage or ‘text’ and determine its meaning.20

For all the metaphorical range of the word ‘context’ in everyday and scholarly usage, its primary meaning, at least for this lexicographical authority, is narrowly concerned with words, and with sequence. The ‘fabric’ of the text is seen in the interconnectedness of its weave, producing, in the Dictionary’s terms, ‘a continuous passage’. When, though, is a continuous passage continuous? The answer comes in the next word, ‘regarded’, which directs us to the inescapable truth of all comment and interpretation: context, however hard we theorise it, must (I submit) remain a deeply subjective concept. Pliny’s Epistles is a case

20

Oxford English Dictionary online (accessed March 2016).

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in point. For commentators over the centuries, the ‘continuous passage’ is coextensive with the text we call Epistles 9,3. More recent readers have been curious to test Pliny’s collection of purportedly jumbled fragments for coherence above and across the unit of a single letter.21 Your own view will reflect, and help establish, your position on the spectrum from ‘historical’ to ‘fictional’ readings of individual letters, and how much artistry you attribute to Pliny’s editing of the whole – elegantly studded varietas, to be sure; but are there traces of grander designs?22 Otherwise put, what ‘contexture’ is to be discerned in this fabric? The opening letters of Epistles 9 are a typical medley, but not perhaps an incoherent one: this is the opening of Pliny’s final book, and closural thoughts of publication and posterity seem to lie even thicker than usual. Epistles 9,1 urges one Maximus to publish a work in which he defends himself against Pompeius Planta, regardless of Planta’s recent death. The opening words (saepe te monui …), it has been noted, precisely invert the first words of Epistles 1,1 (frequenter hortatus es …), the first of many submerged signs that this ninth book will seal a ring with the first.23 Epistles 9,2 thanks Sabinus for his insistence that Pliny write frequently and at length, and for the first time makes explicit a leitmotif of the collection, its self-modelling against Cicero’s letters.24 Epistles 9,4 accompanies a draft of a long speech for Macrinus, which Macrinus is invited to read as selectively as he likes – advice all too easily transferred to readers of the Epistles itself?25 Epistles 9,5 addresses Tiro – a name familiar from Cicero’s last book of letters ad familiares – on the subject of good provincial governance: a planted prequel to Epistles 10?26 And so on. Not all these considerations may persuade,27 but here is a heady agglomeration

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References in Whitton (2013) 11–20. Varietas was the governing principle for Sherwin-White, and has been given new vitality by Fitzgerald (2016) 84–100. For ‘grander designs’ cf. Whitton (2015). Cf. Bodel (2015) 75. Cf. Gibson/Morello (2012) 97–99; for the extensive bibliography on Pliny’s Ciceroimitatio see Whitton/Gibson (2016) 27. For some (e.g. Lefèvre (2009) 76–79) Ep. 9,2 is among Pliny’s gloomiest moments; others (e.g. Marchesi (2008) 232; 237) detect irony. For this metaliterary reading see Gibson/Morello (2012) 240–242. Compare the analogous suggestion of Lefèvre (2009) 170–171 about Ep. 8,24. Tiro risks (inter alia) anachronism, since Fam. may have been arranged as a sixteenbook set well after Pliny’s day.

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of theme – less in the simple sense (‘subject of the letter’) as on the higher, or at least more self-conscious, plain of human mortality and literary immortality. Some would go further. In Epistles 9,2 Pliny disdains the prospect of writing scholasticae atque umbraticae litterae – like (we might think) those of Seneca. In Epistles 9,3 he intervenes, with a Senecan tonality some of which caught even Sherwin-White’s attention, in ethical questions familiar not least from De brevitate vitae – and in a letter addressed, like that dialogue, to a man called Paulinus. Is this a form of intertextual bonding between epistles, triangulated through Seneca as model and countermodel?28 Along similar lines, consider again the naming of Cicero in Epistles 9,2. Does this provide hermeneutic context for Epistles 9,1, where Pliny cites a Homeric line which also features in Cicero’s letters to Atticus,29 and/or prompt us to reflect harder on such Ciceronian elements as Gierig detects in Epistles 9,3? Not that these letters renounce their fragmentary status. On the contrary, the potential of the Epistles, like poems of Catullus or Martial, to approach its subjects (above all the eminent authorial subject) from a range of contrasting, even contradictory, angles, is one of its defining features as a literary (and autobiographical) work. In Epistles 9,2,1 Pliny complains that he has not been master of his own time lately: multum distringebar plerumque frigidis negotiis, quae simul et auocant animum et comminuunt (‘I was much occupied with obligations, most of them tedious, which simultaneously distract and diminish the mind’). In Epistles 9,3,2 he preaches about the foolishness of those who exert themselves unduly, with no hope of long-term fame: such people ‘should … not weary a short life with fleeting toil (caducis laboribus, i.e. toils which will bring fleeting reward) …’ Which do we like to imagine, the Pliny who plods through his days with frigid industry, or the Pliny who rises above it as everyman philosopher? (Both, surely.) Context, here, brings as much contradiction as resolution. Let me gesture, too, towards the larger scale of the weave, contexture across the collection. If Epistles 9,1 responds to Epistles 1,1, so too, John Bodel has suggested, Epistles 9,2 and 9,3 reply to 1,2 and 1,3 respectively, in each case

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I combine here elements of Marchesi (2008) 233–236 and Gibson/Morello (2012) 101–102. André (1975) 241 (finding echoes of Brev. elsewhere in Ep.) would constitute relevant context. Hom. Od. 22,412; Cic. Att. 4,7,2: cf. Marchesi (2008) 219. Greek tags from the Atticus letters recur too often in the Epistles for accident.

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with radical modifications.30 There again, Sabinus’ demand in Epistles 9,2 (non solum plurimas epistulas meas uerum etiam longissimas flagitas) closely echoes Pliny’s demand to Paulinus in another second letter, Epistles 2,2 (plurimas et longissimas) – the same Paulinus, it seems, who is addressed in Epistles 9,3.31 And if Roy Gibson is right to see in Epistles 9,38 (third from last in Book 9), in which Pliny praises a book by one Rufus, a symmetrical pairing with Epistles 1,3, in which Pliny urges Caninius Rufus to literary efforts, we might equally ask if Book 9 itself is spanned by such a symmetrical frame, from Epistles 9,3 to 9,38.32 And so it goes … Sceptics may diagnose overheated imaginations and numerological hocus-pocus; but a commentator who is at least open to such approaches to the Epistles can, and I think should, offer rather more pointers towards such ‘contexture’ than former generations cared to do. These considerations come together in a single echo, or intratext, between Epistles 1,3 and 9,3. Caninius Rufus is chided by Pliny for not making the most of his equestrian leisure in distant Comum: ‘Why don’t you hand over petty and grubby concerns to others (it’s high time!), and reclaim yourself, in that deep and rich retreat of yours (in alto isto pinguique secessu), for literature?’ (Ep. 1,3,3). At one level, this provides valuable semantic context for the commentator (or any interpreter) hoping to home in on the nuances of pingue illud altumque otium in Epistles 9,3,1.33 At another, it can be interpreted as allusive glue: is it chance that not just the theme, but the wording, recurs in these two third-placed letters?34 But, if it is an invitation to read the letters together, it is also a challenge. In Epistles 1,3 the ‘rich and deep leisure’ represents the ideal condition for the studia, literary work, which (Pliny assures Caninius) will confer eternity on its author. In Epistles 9,3, by contrast, Pliny appears to renounce it as the Epicurean ease of a man who has given up hopes of immortality: ‘if I did not have the prize of eternity before my eyes, I would choose that “rich and deep” leisure’. How to account for this difference?

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Bodel (2015) 75–81. Marchesi (2008) 229–232; Whitton (2013) 84; 87. Cf. Gibson (2015) 186–93, building on recent observations about Ep. 1,1~9,40. Is it ‘just’ curious coincidence that the preceding item, Epistles 9,37, is the other letter addressed to Paulinus in this book? An invitation explicitly taken up only, among our trio, by Gierig (‘for pingue and altum otium see on 1,3,2; 7,26,3’). The phraseology otherwise appears only in Ep. 5,6,45, a(nother) highly charged moment.

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John Bodel finds an answer in the social status of the two addressees.35 Caninius is an equestrian, free from the rungs, or confines, of the senatorial cursus. Paulinus is shortly to become consul,36 not the sort of man, then (Bodel surmises), to whom Pliny would profess desires for otium litteratum. It would follow that Epistles 9,3 exhorts Paulinus (and Pliny himself) to fame through deeds, not through letters.37 How far Pliny’s letters are tailored to their addressees is a large and complex question – with important ramifications for the sociohistorical contextualisation of both author and audience of the published Epistles. But in this case I might draw different conclusions: to invoke some further contextual details, Paulinus is characterised elsewhere as a man with keen interests in studia,38 and the final verb of our letter (meditere) is used exclusively in the Epistles for oratorical and literary composition. Besides, Pliny is clear elsewhere that the scope for glory through deeds is now restricted to emperors (or is such synthesis a violence to our fragmentary work?)39 and another, very similar, reflection on ‘posterity vs. the idle life’ concerns literature (ditto?).40 The choice before him (and Paulinus), then, would seem rather to be between aeternitas and otium, between contendere eniti and quiescere remitti – in short, between striving for immortality and relaxing. What is excluded are the futile exertions that will not weigh with posterity, the imago industriae with which lesser men waste their lives and destroy their self-esteem: namely … political aspiration? I leave the question open (the privilege of any commentator). What seems clear is that altum otium here – unlike elsewhere in the

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Bodel (2015) 78–81. For different views see e.g. André (1966) 535–6 and Ludolph (1997) 128–129, underlining the elasticity of Plinian otium (cf. Ep. 2,2,2 with Whitton (2013) 88–9) in its larger cultural context. Ep. 9,37 concerns his installation as suffect consul. So too Gierig, who also perceived the resulting tension (‘although he owes his aeternitas not to the offices he held, but to the books he wrote in his otium’). Ep. 4,16 (on a glorious day in court, with the injunction 4,16,3 studeamus ergo …), Ep. 5,19 (the illness of Pliny’s lector) and Ep. 9,3 add up to a fairly clear picture. Ep. 3,7,14 … certe studîs proferamus; for culturally grounded readings of this Plinian theme, see Bütler (1970) 21–27, Ludolph (1997) 60–88, Pausch (2004) 60–65. The same letter (addressed, by the way, to Caninius Rufus) has just referred to human mortality as tam angustis terminis (Ep. 3,7,13; cf. 9,2,3 nos quam angustis terminis claudamur, where it is politically modulated): is Ep. 3,7 thus one further intertextual bond joining Ep. 9,2–3? Ep. 5,5,4 qui uoluptatibus dediti quasi in diem uiuunt, uiuendi causas cotidie finiunt; qui uero posteros cogitant…

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Epistles – is depreciated, standing not as the prerequisite for studia but as an exclusive alternative. And what seems clearer still is that any attempt to interpret, to comment on, this short letter depends – for challenges as well as for resolutions – on the full range of context within and across the Epistles. But the net should be spread wider than that.

3. Context and intertext ‘Le commentaire est la scène de l’intertextualité mise au jour’41

Whether we want to talk of allusion or of the cultural archive,42 much of the art of Pliny’s short letter lies in its intertextual depth, much of its meaning depends on its situatedness in early imperial culture – aspects of context which no commentator, in my view, should be content to pass over. When Pliny writes, etenim omnes homines arbitror oportere aut immortalitem suam aut mortalitatem cogitare, et illos quidem contendere eniti, hos quiescere remitti … (Ep. 9,3,2), we could hardly not cite Sallust: omnis homines … niti decet ne uitam silentio transeant … (Cat. 1,1). But should we stop at that? Gierig is typically acute in his brief remark, ‘severior Nostro est Sallust. …’: where Pliny offers a choice between enjoying life or building posthumous fame, Sallust insists on the latter as the only pursuit worthy of man; the choice he weighs up – and which Pliny so strikingly avoids broaching – is between deeds and writing as the route to immortality. An enlightening comparandum, then; but this piece of context itself demands contextualisation, not least to help us decide where to place it on a scale from citation to incidental echo: are there signs of Sallustian intertextuality elsewhere in the Epistles, and/or in contemporary literature? What are the characteristics of Plinian intertextuality more generally? How does ancient imitatio work? From a practical point of view, of course, I’m straying towards the absurd, but it doesn’t seem fatuous to recall that every Einzelinterpretation, every single note in a commentary, rests on, and informs in turn, a string of larger textual and cultural Gesamtinterpretationen. (To my ear, for what it’s worth, echoes of the preface to the Catiline stretch from alius aliud at the start

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Stierle (1990) 21 – a tralaticious citation, of course (cf. Kraus (2002) 22 n. 69). For the latter cf. Baßler 2005; Hinds (1998) 25–34 is a celebrated attempt to intermediate between the two.

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of the letter to clarum aliquid et immortale at its end, amounting to a strong invitation to read the whole epistle with, or against, that famous opening.)43 Or recall Sherwin-White’s remark on uilitas sui. In fact it is just one of several possible Senecan echoes. But the situation is rather different than with Sallust: it is one thing to recognise in the grand declaration omnes homines arbitror oportere a reworking of the first words of a famous work, another to trace isolated phrases scattered around Seneca’s dialogues and Ethical Epistles (and another again to see Paulinus’ name as an allusive pointer to De brevitate).44 Here again we want a broader view of Pliny’s intertextual practices vis-à-vis Seneca, of Seneca’s place in the Epistles’ complex generic mix.45 Likewise relevant would be signs that Pliny plays on the names of correspondents elsewhere in the Epistles.46 Alternatively (or simultaneously), a more open-minded approach to intertextuality, taking us in the direction of the cultural archive, allows for a reading of our letter with or without posited allusions. After all, Pliny’s opening words frame the letter as nothing less than an intervention in one of the great questions of philosophy, the definition of happiness (εὐδαιμονία, beatitudo). A very schematic summary of his contribution, framed against Sallust and Seneca, might look like this: in De brevitate and often, Seneca calls on us to accept our mortality, to renounce futile pastimes, and to devote ourselves instead to philosophy; in Epistles 9,3 Pliny invites us either to strive for (Sallustian) immortality or to accept our (Senecan) mortality, in which case we should renounce futile pastimes, and devote ourselves instead to Epicurean ease. The substitution of laziness for philosophising fits well enough with the view of philosophy on display elsewhere in the Epistles (a glimpse there of another crucial layer of cultural context);47 so too the shift by which, if my 43

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Cf. Cat. 2,9 aliud alii (Gibson/Morello (2012) 102–3) and Cat. 1,3 uita … breuis est (~ Pliny’s breuem uitam, §2) … uirtus clara aeternaque habetur. The preface to Cat. features prominently in Ep. 5,8 and 6,16,3. Gierig illustrates Pliny’s point with Tranq. 2,7–10 … hinc illud est taedium et displicentia sui. On Brev. (above, p. 147) see Marchesi (2008) 235–6, who further reads pingue illud altumque otium as an allusion to Sen. Ep. 73,10 pingue otium (so already Ludolph (1997) 62 n. 181; but see also Const. 3,4). By the same token you might compare Pliny’s final words to Ep. 102,28 altius aliquid sublimiusque meditare. See also Bütler (1970) 21–22 and Glücklich (2003) 31–34, taking an approach to intertextuality more akin to Gierig’s. A less straightforward question, this; cf. Whitton/Gibson (2016) 38. Cf. Whitton (2013) 67. Cf. André (1975); Griffin (2007).

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earlier remarks were not awry, Senecan meditation on death becomes the aesthetic ‘meditation’ of literary composition (meditere, §3). Which is only to underline (whether or not my reading appeals) that the hermeneutic net for that phrase uilitas sui needs spreading wide, both within and without the collection. So too with Cicero. If the prize of eternity were not before him, declares Pliny, he would prefer otium (§1). Gierig (we saw) drew an analogy with the Cato of Cicero’s De senectute, who declares near the end that he would have preferred otiosam aetatem et quietam if he thought his glory would die with him; ‘but … my mind was constantly looking towards posterity’ (82). Should we adduce this as a parallel, a source, an allusive target? Views may differ, and a safe solution would be the much maligned but usefully open ‘cf.’, drawing attention to the analogy without attempting to steer interpretation.48 But readers would be well served, again, by some further context: for instance, that the Elder Cato is a figure with whom Cicero identified particularly closely,49 as Pliny insistently models himself on Cicero; that the comments in De senectute are framed as proof of the soul’s immortality;50 that ‘Cato’s choice’ also features prominently in the preface to De republica, as a counterargument to the Epicurean doctrine of withdrawal;51 that the theme of ‘virtue over ease’ has a long pedigree in antiquity, stretching back across Prodicus’ myth of ‘Heracles at the crossroads’ to Hesiod’s Works and Days.52 How (if at all) each of these factors should inform an interpretation of Pliny’s words is another series of questions, contingent not least on how committed we are to one-on-one intertextual mapping, how far we prefer to situate Pliny more broadly within ancient ethics (it would be helpful, too, to know how often he appears to engage with Cicero’s dialogues, and these ones in particular).53 Certainly, there is 48 49 50 51

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Cf. Goldhill (1999) 397 (‘The ‘cf’ is in many ways the grounding problem of the commentary format …’); also Gibson (2002) and Kraus (2002) 20–22. Cf. Powell (1988) 16–19. As at Tusc. 1,32–34. Rep. 1,1–13, esp. 1,2–3 (Cato preferred his undis et tempestatibus … iactari over in illa tranquillitate atque otio iucundissime uiuere) and 1,7,4 (Cicero’s matching choice). Prodicus as relayed by X. Mem. 2,21–34; Hes. Op. 286–292. Heracles is brought into play here by Trisoglio (1973) ad loc. Marchesi (2008) 252–257 gathers some modern suggestions, of variable quality and leaving (e.g.) Gierig out of consideration; for all the current interest in Pliny and Cicero, much work remains to be done on the detail. For Book 2 see Whitton (2013) index s.v. ‘Cicero, treatises’.

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abundant scope for nuance: we might contrast, for instance, Prodicus’ advocacy of virtue as an absolute good with the implication, common to De senectute and Epistles 9,3, that it is only the prospect of posthumous fame that motivates us, the immortality of the soul in Cicero with the much milder idea of immortality through repute in Pliny,54 or Pliny’s professedly relaxed view of those who prefer to live the idle life with the stringent attack in De republica (each with its own argumentative context).55 It may also be pertinent that our passages of De senectute and De republica frame otium pejoratively as selfish Epicureanism:56 might this intertextual consideration give us further traction on the problem we met earlier, Pliny’s apparent change of attitude to pingue illud altumque otium? His curious reticence about quite how he and Rufus should be striving for immortality, too, might take on a different aspect when seen in the light of Cicero’s emphasis on the patriotism of statesmanship (and with the laments of Ep. 9,2 still fresh in our ears). Sallust, Seneca, Cicero, fundamental questions of imperial aristocratic ethics – our brief letter demands quite some textual and cultural contextualising. Nor is that all. Towards the end of his Institutio oratoria Quintilian briefly paints a portrait of his ideal orator in retirement, ending with a stirring vision of immortality beyond (Inst. 12,11,7): Ac nescio an eum tum beatissimum credi oporteat fore cum iam secretus et consecratus, liber inuidia, procul contentionibus famam in tuto collocarit et sentiet uiuus eam quae post fata praestari magis solet uenerationem et quid apud posteros futurus sit uidebit. And I rather think that he should be expected to be most blessed when finally, retired and sanctified, free from envy, far from disputes, he has guaranteed his fame and perceives in his lifetime the veneration that is more often granted after death, and sees what he will be among posterity.

When Pliny begins his letter alius aliud, ego beatissimum existimo, qui bonae mansuraeque famae praesumptione perfruitur, certusque posteritatis cum futura gloria uiuit, he adapts theme, language and sentence-structure from Quintilian. ‘In my view,’ says Quintilian, ‘the orator is most blessed (beatissimum) when he enjoys posthumous fame in his lifetime.’ ‘In my view,’ says Pliny,

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Cf. André (1975) 242–243. ‘Professedly relaxed’: cf. Ep. 5,5,4, quoted above (n. 40). See Zetzel (1995) 96–97 for a model summary of this massive topic.

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‘most blessed (beatissimum) is the man who enjoys posthumous fame in his lifetime.’ Inspection of formal details makes the appropriation clear.57 Once again, a broader intertextual picture will be helpful, not least because few scholars are inclined to believe that Pliny engages with Quintilian’s text, still less agreed on how it might be evaluated.58 Might we, for instance, read the choice of Quintilian’s final pages here as one more marker of closure in this opening parade of Pliny’s last book? Does Pliny here, as on several other occasions, read through Quintilian in a form of ‘window allusion’? Let me pursue that last thought, and grope one last time towards the boundaries of context. Like R. G. Austin, Pliny surely recognised that Quintilian’s ‘rather touching picture’ of terminal distinction shows him ‘thinking of what Cicero might have been had he lived to enjoy his retirement’.59 Whether he also suspected, as I do, that Quintilian was thinking quite specifically of the preface to the Brutus, is harder to say.60 But there may be traces of (yet) another famous passage. For all the Quintilianic texture of Pliny’s opening sentence, there is also a strong dose of the famous letter to Lucceius (Fam. 5,12).61 Cicero makes an apt alibi for Pliny’s ambitions of immortality: ‘it is not just the remembrance of posterity and a hope, so to say, of immortality that fires me up …’ (Fam. 5,12,1). But he also produces a distinctive conceit, anxious as he is both that others read about him soon ‘and that I for my part can have full enjoyment of my glory, such as it is, in my own lifetime’ (… et nosmet ipsi uiui gloriola nostra perfruamur, Fam. 5,12,9).62 Does the resemblance to Pliny’s opening sentence and especially its epigram (Ep. 9,3,1 … perfruitur … certusque posteritatis cum futura gloria uiuit) come about by chance? Gierig acutely distinguished Cicero’s hopes of glory in his lifetime from Pliny’s more modest talk of famae praesumptio. True; but that modesty slips in his epigram, which

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Mostly obviously in the closing epigrams (Q. et quid … uidebit ~ P. certusque … uiuit). The Institutio may in fact be unrivalled as a point of intertextual reference in the Epistles, as I argue in a forthcoming book (where substantiation of my remarks here will also be found). Austin (1948) 219. Cicero is the explicit focus of the preceding lines (Inst. 12,11,4–6). Brut. 8–9 (esp. itaque ei mihi uidentur fortunate beateque uixisse …). On which Pliny had modelled Ep. 7,33 (e.g. Marchesi (2008) 221–223). This last passage cited, we saw, by Gierig. Cf. also Fam. 5,12,1 auctoritate testimoni tui … uiui perfruamur: the key terms frame the letter.

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we might now try identifying as an ingeniously paradoxical combination of Cicero’s desire (glory now, in life) with Quintilian’s historical vantage point (glory would follow, for Cicero, only after death). Here, if so, is a particularly opaque ‘window’, as Pliny responds to Quintilian’s implicit comment on Cicero’s reputation (written with reference, I suggested, to the Brutus) by recalling Cicero’s comments on his own reputation somewhere else altogether. A fantasy of overdetermined intertextuality? Certainly such reasoning risks getting unduly tied up in one corner of the cultural archive, to the neglect of the files all around. But it also illustrates how multi-layered ‘context’ can turn out to be, if we are only prepared to pursue it beyond the superfice. And that’s before we even start with reception.63 As promised, I have largely skirted around pragmatic issues of presentation (just how would a manageable note on alius aliud look?) and strayed too far, perhaps, towards maximalism (a bad case of horror vacui, some may think). My argument, too, has (of course) been narrowly focused on a few lines of a single work, the product of its own scholarly context and idiosyncrasies. But, besides underlining the crying need for a modern commentary that does justice to the complex contexture, intertextual depth and cultural situatedness of Pliny’s Epistles, I hope it has raised some ‘transferable’ questions too, about the breadth of context that is desirable in a commentary (as in any interpretation), about the many dimensions of context that may be involved, and about the challenges facing any commentator who seeks ‘simply’ to contextualise the words of an ancient author. As for answers – well, alius aliud.64

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For some ancient reception see n. 5. For modern reception, circumspice. This chapter derives from a paper given at Potsdam University in December 2015, a displaced substitute for participation at the Text, Kontext, Kontextualisierung conference. Warm thanks to my hosts then and editors now.

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Christopher Whitton

Figures:

Fig. 1: Catanaeus (1506), CXXXVIII recto. Photograph by Kathryn McKee. By permission of the Master and Fellows of St John’s College, Cambridge.

Alius aliud: context, commentary and Pliny (Epistles 9,3)

Fig. 2: Gierig (1800–1802) 2,286–287. Photograph by Michael Squire.

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Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros und die Frage der Kontextbildung Alexandra Forst (Potsdam)

Abstract There is a long and controversial debate on the question, whether Cicero has fundamentally altered his first oration against Catiline when publishing the written version. In this paper, I will examine which testimonies classical scholars use when trying to identify the historical details of the publication and which ones they ignore. Before doing this, I will briefly outline the main points of the opposing interpretative ‘camps’. At the end, I will ask for the gain of contextualisation within the scope of scholarly reconstructions. Here, context as a significant interpretative criterion will be on trial, too.

Mit den Worten isdem ex libris perspicies et quae gesserim et quae dixerim (Att. 2,1,3) kommentiert Cicero die Übersendung ausgewählter Reden seines Konsulats an Atticus. Zu diesen zählt seine erste Rede gegen Catilina, die er – so oder in anderer Form – im November 63 vor dem Senat hielt.1 Der Brief stammt allerdings aus dem Frühsommer des Jahres 60, und die darin erwähnte Zusammenstellung eines konsularischen Corpus hat zu der Frage geführt, ob Cicero die hier genannten Reden tatsächlich erst drei Jahre nach der Senatsdebatte publiziert und ob er sie im Zuge dessen in nennenswerter Weise überarbeitet habe. Von einer Absicht, das Corpus zu veröffentlichen, ist in dem Schreiben jedoch keine Rede, ebenso wenig von einer kritischen Durchsicht oder von Änderungen an vorliegendem Material.2 Lediglich eine vorausgegangene Forderung des Atticus und dessen generelles Interesse an Ciceros politi-

1 2

Zur Frage der genauen Datierung vgl. Primmer (1977) 21–27. Andernorts spricht Cicero durchaus von Korrekturen und Ergänzungen, so etwa in Att. 1,13,5: тοποθεσίαν quam postulas Miseni et Puteolorum includam orationi meae. ‘a. d. III Non. Decembr.’ mendose fuisse animadverteram. (…) in illam orationem Metellinam addidi quaedam; vgl. dazu Norden (1913 [1966]) 11 [142].

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Alexandra Forst

schem wie schriftstellerischem Tun werden erwähnt.3 Eine Anweisung zur Vervielfältigung enthält der Brief nicht.4 Für Diskussionsstoff hat die erste Catilinaria in den vergangenen hundert Jahren vor allem deshalb gesorgt, weil nicht sicher auszumachen ist, inwiefern die überlieferte Fassung der Rede als authentische Reflexion der tatsächlichen politischen Diskussion des Jahres 63 angesehen werden darf. Denn die eingangs zitierten Worte Ciceros haben keineswegs zu einem einhelligen Urteil über den Realitätsgehalt der Rede und ihren Wert als historisches Dokument geführt. Vielmehr zeigen die sehr verschiedenen Ansichten über das Ausmaß ihrer Revision, dass das Bedürfnis besonders groß ist, einen Rahmen zu schaffen, in den Produktion wie Publikation der ersten Catilinarischen Rede eingebettet werden können. Und je nach Standpunkt erfolgt dabei nicht nur eine andere Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern auch eine je verschiedene Charakterisierung ihres Urhebers und der von ihm verfolgten Redestrategie. Im Folgenden sei untersucht, welche Zeugnisse Altertumswissenschaftler nutzen, wenn sie versuchen, die einstige historische Realität in dieser Frage zu ermitteln und die Motive Ciceros für eine Überarbeitung oder aber für das Unterlassen einer solchen nachträglichen Bearbeitung zu bestimmen. Dabei gilt es auch zu prüfen, welche Texte bei der Charakterisierung dieses situativen Kontexts, also des Kontexts der Redenpublikation, unbeachtet bleiben.5 Hierzu seien zunächst die beiden Interpretations-‚Lager‘ vorgestellt, die sich im Laufe der bisherigen Forschung zu diesem Thema herausgebildet haben. Danach werden die von beiden ‚Parteien‘ zur Kontextbildung herangezogenen Quellen näher in Augenschein genommen. Am Ende sei nach dem Ertrag von Kontextbildung im Rahmen wissenschaftlicher Rekonstruktionen historischer Wirklichkeit gefragt. Hier wird zugleich ‚Kontext‘ als ein wesentliches Kriterium der Interpretation auf dem Prüfstand stehen. 3 4

5

Vgl. Att. 2,1,3: Oratiunculas autem et quas postulas et plures etiam mittam (…). (…) te cum scripta tum res meae delectant (…). Dennoch ist nicht auszuschließen, dass eine solche für die nahe Zukunft geplant war. Möglicherweise kann man die im selben Brief unmittelbar vorausgehende, die eigene Darstellung des Konsulats betreffende Aufforderung an Atticus (Att. 2,1,2: tu, si tibi placuerit liber, curabis ut et Athenis sit et in ceteris oppidis Graeciae) so deuten, dass dieser bald auch die im Anschluss aufgezählten, konsularischen Reden unters Volk bringen möge. Die offizielle Herausgabe der ersten Catilinaria durch Cicero bezeugt Sallust (Cat. 31,6): Tum M. Tullius consul (…) orationem habuit luculentam atque utilem rei publicae, quam postea scriptam edidit. Zum Begriff des situativen Kontexts vgl. in diesem Band Aschenberg, 75.

Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros

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1. Die geteilte Forschungsmeinung Wie bereits angedeutet, herrscht keine Einigkeit in der Frage, ob Cicero die Rede in der uns überlieferten (bzw. einer ihr sehr ähnlichen) Form vor dem Senat gehalten hat oder ob er ihren Wortlaut im Nachhinein maßgeblich veränderte, sie womöglich erst kurz vor der Übersendung an Atticus niederschrieb. Diejenigen Interpreten, die davon ausgehen, dass Cicero die erste Catilinaria einer starken Überarbeitung unterzogen hat, vermuten die Entstehung des Redekerns für gewöhnlich im Jahr 63, verorten die Publikation der redigierten Fassung hingegen im Jahr 60. Dies hat man in einer Reihe von Beiträgen versucht wahrscheinlich zu machen.6 Immer wieder wurde dabei auf die politische Lage des Jahres 60 verwiesen (da letzteres gemeinhin als Jahr der Veröffentlichung angesehen wird) und darauf, dass die aktuelle Situation in der uns vorliegenden Rede mehr oder minder deutlich durchscheine. Auf Cicero habe, so wird behauptet, gerade in jener Zeit ein besonderer Rechtfertigungsdruck wegen der hingerichteten Catilinarier gelastet, der ihn letztlich zur Herausgabe einer spürbar geänderten Fassung der einst gegen Catilina gehaltenen Reden veranlasst habe. Gegen die Annahme, Cicero habe mit den edierten Reden seine Konsulatspolitik nachträglich verteidigen und so die Diskussion um seine Person beeinflussen wollen, wurde ins Feld geführt, dass er selbst kein solches Motiv nenne – weder in diesem Brief noch in irgendeinem anderen. Vielmehr bespreche er die Übersendung des konsularischen Corpus in Att. 2,1 deutlich getrennt von seinen Stellungnahmen zur Tagespolitik und seinen Beurteilungen momentaner Konstellationen.7 Und in den Briefen der Folgezeit erwähne er weder

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Vgl. etwa Draheim (1917); Fuchs (1959a) und Nisbet (1965) 62–63. Nach Rabe (1929) ist die ursprüngliche Fassung lediglich im letzten Drittel der überlieferten Rede erhalten geblieben (78–79); die redigierte Version habe Cicero jedoch schon bald, nachdem er sie gehalten hatte, veröffentlicht (84 Anm. 1). Für Gelzer (1969) 86–87 ist die erste Catilinaria eine „leidenschaftliche[n] Improvisation“; inwieweit die uns erhaltene Rede mit der extemporierten Fassung übereinstimme, sei allerdings „besonders fraglich“. Helm (1979) 265 kommt nach eingehender Analyse sämtlicher Reden des konsularischen Corpus zu dem Fazit, dass Cicero die vier Catilinarien „weitestgehend neu konzipiert“ hat. Vgl. dazu Eich (2000) 198–199. Allerdings legen gewisse Äußerungen im Briefwechsel zwischen Cicero und seinem Bruder Quintus die Einbindung edierter Reden in einen politischen Diskurs durchaus nahe; vgl. etwa Q. fr. 3,1,11.

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Alexandra Forst

irgendwelche Reaktionen auf die erfolgte Publikation noch verzeichne er ein Ausbleiben solcher Reaktionen. Als ‚Flugschrift‘ dürfe man die erste Catilinaria keinesfalls bezeichnen, da Cicero die von ihm publizierten Reden nirgends als politische Manifeste charakterisiere und als Beweggrund der Veröffentlichung ausschließlich die rhetorischen Studien der römischen Jugend nenne.8 Auch könnten die Stellen, an denen Cicero unter Umständen etwas getilgt, ergänzt oder umgearbeitet habe, nicht näher bestimmt werden.9 Ganz im Gegenteil würden sogar diejenigen Stellen, die man häufig als nachträgliche Bearbeitungen des einst Gesagten anführt, bei genauerem Hinsehen erweisen, dass die uns vorliegende Fassung der Rede „im wesentlichen ein gutes Bild von dem gibt, was Cicero damals tatsächlich gesagt hat“.10

2. Der Umgang mit Texten im Dienste der Kontextbildung Fragt man nach den Zeugnissen, die für die eine oder die andere Position nutzbar gemacht werden, ist an erster Stelle der oben erwähnte Brief an Atticus zu nennen. Die Argumente für oder gegen eine Revision werden jedoch stets auch der Rede selbst entnommen. Denn sowohl Befürworter als auch Gegner der These einer umfangreichen Überarbeitung stützen sich gleichermaßen auf den Text der ersten Catilinaria. So gelten vielen Interpreten gewisse Einzelheiten in Ciceros Schilderung der Verschwörung, häufige Wiederholungen desselben Gedankens und inhaltliche wie stilistische ‚Unebenheiten‘ als Beweis für eine nachträgliche Redaktion der Rede,11 während andere gerade diese Passagen als Argument gegen eine solche Revision anführen.12 Offenbar ist also für die An8

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12

So Stroh (1975) 50–54, der davon spricht, dass Cicero bei der Veröffentlichung eine „pädagogische Zielgebung“ (52) verfolgt habe. Seine Absicht sei es gewesen, „durch das Musterhafte“ (53) zu belehren. Vgl. Kennedy (1972) 177. Stroh (1986 [2000]) 13 [77]; so schon Boissier (1905) 178–179 und Primmer (1977) 38. Ganz entschieden spricht sich McDermott (1972) 283 gegen eine mögliche Überarbeitung aus: „Revision of these speeches in 60 is an illusion.“ Vgl. etwa Draheim (1917); Rabe (1929) und Helm (1979) 100–145. Interessant ist, dass zuweilen Vertreter desselben ‚Lagers‘ unterschiedliche Partien als ‚ursprünglich‘ identifizieren; vgl. etwa Draheim (1917) 1063 und Rabe (1929) 85–86 zur Authentizität der Passagen Catil. 1,6–12 und 22–32. So McDermott (1972) und Stroh (1986 [2000]); in abgeschwächter Form auch Primmer (1977) 37–38.

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hänger beider ‚Lager‘ die Rede selbst ein zentraler Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage, ob diese überarbeitet worden ist. Sie ist somit selbst Teil des situativen Kontexts und an dessen Konstituierung unmittelbar beteiligt.13 Um die Frage einer späteren Überarbeitung der Rede zu klären, greift man darüber hinaus auf Ciceros zweite, in der Volksversammlung gehaltene Catilinaria zurück.14 Herangezogen wird aber auch ein Zeugnis, das nicht vom Urheber der Rede stammt. Oft werden nämlich – von Verfechtern wie Gegnern der ‚Revisionsthese‘ – Äußerungen Diodors zur ersten Catilinaria mit den Angaben Ciceros verglichen.15 Dies sei im Folgenden an der Auslegung von Catil. 1,20–21 unter Hinzuziehung von D.S. 40,5a dargelegt. Sowohl Ciceros Rede als auch der Bericht Diodors setzen bei der Weigerung Catilinas an, Rom ohne einen förmlichen Senatsbeschluss zu verlassen. Daraufhin habe Cicero gemäß Diodor den Senat um eine Stellungnahme in dieser Frage gebeten, worauf dieser mit allgemeinem Schweigen reagiert habe. Um aber den Senatoren dennoch ein Zeichen ihres Einverständnisses zu entlocken, habe Cicero sie gleich darauf ein zweites Mal in anderer Weise gefragt, nämlich ob sie wollten, dass stattdessen Q. Catulus Rom verlasse. Da hätten sich die Senatoren plötzlich entrüstet gezeigt. Dies habe Cicero dann, bezogen auf den Fall des Catilina, im weiteren Verlauf der Rede so gedeutet, als hätte der Senat mit seinem vorherigen Schweigen für dessen Verbannung gestimmt. Im Unterschied zu der Schilderung Diodors stellt Cicero in der ersten Catilinaria die ‚Testfrage‘ nicht mit dem angesehenen Optimaten Q. Lutatius Catulus, sondern führt zwei sehr junge Senatoren, den damaligen Quaestor P. Sestius und den Quaestorier M. Marcellus, als Kontrastbeispiele zu Catilina an. Eine weitere Abweichung liegt vor, wenn in Ciceros Version der Senat schweigt, als der Konsul dem Verschwörer Catilina zuruft: egredere ex urbe, in exsilium proficiscere! (Catil. 1,20). Bei Diodor ist es dagegen ein ‚peinliches‘

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14 15

Vgl. hierzu Baßler (2007) 360, wo Text und Kontext praktisch in eins gesetzt werden. Danneberg (2000) 333 ist hingegen der Ansicht, dass ein Text, dem ein Kontext zugewiesen wird, „nicht selbst Teil des Kontextes sein“ könne. Allerdings verweist auch er darauf, dass Text und Kontext je nach Vergleichssituation „ihren Platz tauschen“. So Rabe (1929) 79–80 und Stroh (1986 [2000]) 7 [69–70]. In Dannebergs (1990) 102 Differenzierung von Zwecken der Kontextverwendung wäre Diodors Darstellung Teil eines sog. „Vergleichskontext[s], der zur Feststellung aspektbezogener Übereinstimmungen oder Unterschiede“ führt.

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Schweigen, auf das Cicero mit seiner ‚Testfrage‘ reagiert und so einen sich abzeichnenden Misserfolg in eine Zustimmung der Senatoren ummünzt. Dieses Vorgehen hat J. von Ungern-Sternberg als eine „glückliche Improvisation“ Ciceros bezeichnet, durch die letzterer die Situation in seinem Sinne gerettet habe. Für ihn steht jedoch fest, dass Diodor die Ereignisse der Senatssitzung „in ihrem wirklichen Verlauf“ wiedergibt, während Ciceros Rede die Szene „in überarbeiteter Form“ präsentiere und von dem Wunsch des einstigen Konsuls bestimmt sei, als „Herr der Situation“ zu erscheinen.16 Im Gegensatz dazu hält W. Stroh die Schilderung Diodors für „fast unsinnig“.17 Es sei ganz und gar abwegig zu glauben, dass Cicero den Senat mit seiner ‚Testfrage‘ hätte hinters Licht führen können, indem er – zumindest für den Moment – so getan hätte, als sei der Vorschlag einer Verbannung des Q. Catulus ernst gemeint. Diodors Fassung lasse daher eindeutig den Willen zur Dramatisierung erkennen, während Ciceros Version in allen Punkten nachvollziehbar sei. Festhalten lässt sich also, dass beide Interpretationen dieselbe Quelle zur Kontextbildung nutzen, dass aber J. von Ungern-Sternberg die Darstellung Diodors für die authentische hält. Dieser Ansicht sind – mit Ausnahme von W. Stroh – auch alle anderen Interpreten, die sich mit den beiden fraglichen Textstellen befasst haben.18 Ausschlaggebend hierfür ist sicher der Umstand, dass der Historiograph – im Gegensatz zu Cicero – nicht in die Ereignisse der Verschwörung verwickelt gewesen ist. Cicero aber sei, so wird meist angenommen, nach Kräften darum bemüht gewesen, gerade im Nachhinein als ein souveräner und im Einklang mit den Gesetzen handelnder Konsul zu erscheinen. Klar ausgesprochen wird eine solchermaßen motivierte ‚Abwertung‘ ciceronischer gegenüber nicht-ciceronischen Zeugnissen jedoch selten.19 Stattdessen wird dem Autor der Rede unterstellt, er habe den tatsächlichen Hergang der Senatsdebatte in der schriftlichen Fassung der ersten Catilinaria retuschieren wollen, ohne dass zuvor der ‚Wert‘ der Rede als historisches Dokument, auch im Vergleich zu den anderen zur Kontextbildung herangezogenen Texten, thematisiert wird. 16 17 18

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Vgl. von Ungern-Sternberg (1971) 50–51. Stroh (1986 [2000]) 13 [76]. Vgl. etwa Reinach (1904) 10; Rabe (1929) 80–82; Primmer (1977) 37 und Helm (1979) 134–138. Gelzer (1969) 87 Anm. 170 sieht Diodors Bericht durch ein weiteres Zeugnis, nämlich D.C. 37,33,1, bestätigt. Hier ist jedoch mitnichten vom Inhalt der ersten Catilinaria die Rede. Vgl. jedoch Draheim (1917) 1062: „(…) von unseren Quellen (…) möchte man Cicero für den sichersten Zeugen halten, aber er ist zu sehr persönlich beteiligt.“

Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros

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Die Beurteilung dieses ‚Wertes‘ ist freilich untrennbar mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit eines historischen Zeugnisses verbunden. Offenbar sieht im Falle der ersten Catilinarischen Rede die Mehrzahl der Interpreten den Wortlaut der überlieferten Rede als nicht unbedingt zuverlässig mit Blick auf die von Cicero gehaltene Fassung an. Um diese Annahme zu untermauern, führt H. Fuchs ciceronische und nicht-ciceronische Zeugnisse an, die über die nachträgliche Redaktion gehaltener Reden in spätrepublikanischer Zeit Auskunft geben.20 Dies betreffe etwa Aussagen Ciceros, denen gemäß die meisten Reden erst im Nachhinein niedergeschrieben worden seien.21 Ferner erwähnt er eine von Quintilian skizzierte Praxis der Redenproduktion, die auch Cicero angewandt haben soll. Hierbei hätten vielbeschäftigte Redner im Vorfeld einer Rede deren wichtigste Gedanken und vor allem die Anfangssätze notiert.22 Die fortlaufende Rede, so sie denn hernach in schriftlicher Form in Umlauf gebracht wurde, ist bei dieser Methode offenbar erst post festum niedergeschrieben worden. Nahezu ohne Textbelege wird jedoch oft argumentiert, wenn die im Anschluss an das Konsulat gegen Cicero erhobenen Vorwürfe als Anhaltspunkt für eine intensive Überarbeitung der Rede ins Feld geführt werden. Denn die meisten Anhänger dieser Interpretationsrichtung halten eine Berufung auf Texte, mit denen die aufgestellte Behauptung gestützt werden könnte, für nicht erforderlich. So führt etwa A. Rabe lediglich Ciceros zweite Catilinaria an, um die Anfeindung Ciceros wegen der Maßnahmen gegen die Verschwörer zu erweisen.23 R. Nisbet verzichtet ganz und gar auf Textverweise, wenn er im Zusammenhang mit der Herausgabe der Catilinarien im Jahre 60 erklärt, dass die Schriftfassungen der Reden die mittlerweile scharfe Kritik an den Exekutionen widerspiegelten.24 Im letzten Fall ist die Identifizierung etwaiger Zeugnisse, die zur Entscheidung für die hier vertretene Interpretationsrichtung geführt haben, im Grunde nicht möglich. 20 21 22

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24

Vgl. dazu Fuchs (1959a) 463 Anm. 2. Vgl. Brut. 91: pleraeque (…) scribuntur orationes habitae iam, non ut habeantur und Tusc. 4,55: iam rebus transactis et praeteritis orationes scribimus. Vgl. Inst. 10,7,30: plerumque autem multa agentibus accidit, ut maxime necessaria et utique initia scribant, cetera quae domo adferunt cogitatione amplectantur, subitis ex tempore occurrant; quod fecisse M. Tullium commentariis ipsius apparet. Vgl. Rabe (1929) 79: „Der Grund [für eine Redaktion der Rede] war der hier [in der zweiten Catilinaria] von ihm angedeutete Umstand, daß die Freunde Catilinas dem Konsul den Vorwurf gemacht hatten, er sei diesem mit großer Heftigkeit entgegengetreten und habe ihn hierdurch in die Verbannung getrieben.“ Vgl. Nisbet (1965) 62.

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W. Draheim, auch er ein Befürworter der Revisionsthese, beruft sich immerhin auf einen Atticus-Brief, den Cicero im März des Jahres 60 geschrieben hat.25 Hier spricht dieser zwar von invidia und inimicitiae (Att. 1,19,6), die sich auf den Ruhm bezögen, den er sich im Zusammenhang mit den Ereignissen des 5. Dezembers 63 erworben habe. Auch ist davon die Rede, dass er sich angesichts des Freispruchs des P. Clodius Pulcher (in dem gegen ihn angestrengten Prozess wegen Religionsfrevels) und der Missgunst gewisser beati homines dazu entschlossen habe, maiores quasdam opes und firmiora praesidia in Anspruch zu nehmen. Damit sind aber, wie der Brief sogleich verrät, nicht etwa die Abfassung und Publikation das Konsulat betreffender Schriften gemeint. Vielmehr teilt Cicero dem Freund nun mit, dass er Pompeius dazu habe bringen können, seine Leistungen für den Staat im Senat angemessen zu würdigen (Att. 1,19,7). Des Weiteren habe er den Hass der libidinosa iuventus auf seine Person durch ein besonders umgängliches Verhalten abmildern können (Att. 1,19,8). Hieran schließt sich eine etwas ausführlichere Behandlung der Probleme seines Briefpartners (Att. 1,19,9) an. Erst dann, also deutlich getrennt von der geschilderten Reaktion auf eine mögliche Bedrohung seiner Person, erwähnt Cicero ein von ihm auf Griechisch verfasstes commentarium consulatus sowie die Arbeit an dessen lateinischer Version. Auch ein Epos zu diesem Thema kündigt er dem Freund hier an und nennt als Grund: ne quod genus a me ipso laudis meae praetermittatur (Att. 1,19,10). Demnach hat er bei dieser mehrfachen Behandlung seines Konsulats in erster Linie das Lob seiner Person vor Augen. Hier ist keine Rede davon, dass Produktion wie Publikation der aufgeführten Schriften in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Anfeindungen seiner Person stünden. Die Reden gegen Catilina werden in diesem Brief noch nicht einmal erwähnt. Und so ist Draheims Aussage, dass der Freispruch des Clodius „den Anstoß zur Bearbeitung“ der Catilinarien gegeben habe, mit diesem Zeugnis schwerlich zu beweisen. Ciceros Korrespondenz mit Atticus wird auch von Chr. Helm als Stütze der Revisionsthese angeführt. In den von ihm genannten Passagen, zwei aus dem Jahr 61 stammenden Briefen, sei, so Helm, der zunehmende „Druck gegen Cicero wegen seiner Konsulatspolitik“ spürbar.26 Die Beweiskraft beider

25 26

Vgl. Draheim (1917) 1070. Vgl. Helm (1979) 267. Kurz zuvor (265) konstatiert er noch ohne Quellenverweis, dass sich Cicero „gerade zur Zeit der Edition dieser Reden“ gegen die „wachsende Kritik an seinem Vorgehen gegen die Catilinarier“ habe verteidigen müssen und dass daher vor allem die vier Catilinarien „von großer politischer Bedeutung“ gewesen seien.

Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros

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Zeugnisse ist mit Blick auf diese Annahme jedoch zweifelhaft. Im ersten Briefausschnitt (Att. 1,16,6–7) beendet Cicero zunächst seine Schilderung derjenigen Umstände, die zum Freispruch des Clodius geführt hätten. Anschließend spricht er über den Zustand des Staates. Letzterer sei, obgleich er durch Ciceros Konsulat hinreichend gefestigt schien, durch das Scheitern dieses einen Gerichtsverfahrens den loyal gesinnten Bürgern aus den Händen geglitten. Inwiefern jedoch der Ausgang des Prozesses sein persönliches Schicksal beeinflusse, ob etwa Clodius ihn nun wegen der Hinrichtungen formal zur Rechenschaft ziehen werde, darüber sagt Cicero nichts. Stattdessen spendet er Atticus im Folgenden Trost bezüglich des Gemeinwesens, indem er darauf verweist, dass die Schlechten ihren Sieg nicht wie erhofft auskosten könnten. Denn sie hätten (vergebens) darauf spekuliert, dass ihnen nequitia ac libido Genugtuung verschafften für den Unmut, den Ciceros Konsulat in ihnen hervorgerufen habe. Der zweite Ausschnitt (Att. 1,17,8) lässt noch weniger eine akute Gefahr für Cicero erkennen. Zwar beklagt er auch hier den momentanen Zustand des Gemeinwesens, insbesondere die Spannungen zwischen Ritterschaft und Senat. Er spricht ferner davon, dass der Ritterstand über ihn verärgert gewesen sei, weil er bei der Entscheidung über eine gewisse Gesetzesvorlage zufällig gefehlt habe. Diesen Ärger habe er jedoch dämpfen können, indem er dem Senat in der fraglichen Angelegenheit Vorhaltungen gemacht habe. Von einer Bedrohung Ciceros kann also auch hier keine Rede sein. Fraglich ist daher, was genau die angeführten Briefstellen zum Erweis der Revisionsthese beitragen oder, anders ausgedrückt, inwiefern die in ihnen bezeugte historische Situation die Interpretation zugunsten der Revision stützt. Ein höheres Maß an Plausibilität ist sicher gegeben, wenn in den zeitgenössischen Texten die Kritik an Ciceros Konsulatspolitik unmittelbar greifbar ist. Solche Zeugnisse gibt es durchaus. Jedoch werden sie, soweit ich sehen konnte, nicht angeführt, um die Annahme einer starken Überarbeitung der Rede zu untermauern. So spricht etwa Cicero im Januar des Jahres 62, also gleich im Anschluss an sein Konsulat, in einem Brief an Q. Metellus Celer von dem rücksichtslosen Angriff, den dessen Bruder als Volkstribun gegen ihn unternommen habe.27 Dieser hatte Cicero bei seinem Scheiden aus dem Amt der Möglichkeit beraubt, eine Rede an das Volk zu halten und ihm lediglich den gewohnheitsmäßigen Eid gestattet. Als Grund hierfür hatte er Cicero zufolge

27

Vgl. Fam. 5,2,6–8.

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ausdrücklich die an den Catilinariern vollzogene Todesstrafe angegeben. Auch der Name Clodius wird in den Quellen in dem hier interessierenden Zusammenhang mehrfach genannt. Brutus etwa führt ihn an, als er sich in einem Brief an Atticus kritisch über das Selbstlob Ciceros wegen seiner Taten als Konsul äußert (ad Brut. 1,17,1): an quia non omnibus horis iactamus Idus Martias similiter atque ille Nonas Decembris suas in ore habet, eo meliore condicione Cicero pulcherrimum factum vituperabit quam Bestia et Clodius reprehendere illius consulatum soliti sunt? Oder, weil wir nicht bei jeder Gelegenheit mit den Iden des März in ähnlicher Weise prahlen, wie er von ‚seinen‘ Nonen des Dezember spricht, wird Cicero deshalb mit mehr Recht die schönste Tat tadeln, als Bestia und Clodius sein Konsulat zu kritisieren pflegten? (Übers. A.F.)

Cicero selbst redet ihn in De domo sua persönlich an, wobei er insbesondere auf die Vorwürfe bezüglich der Maßnahmen gegen die Verschwörer zu sprechen kommt.28 Darüber hinaus fällt in dem eingangs zitierten Atticus-Brief, in dem Cicero dem Freund die baldige Übersendung des konsularischen Corpus mitteilt, der Ausdruck furor Pulchelli (Att. 2,1,4), mit dem zweifelsohne Attacken von Seiten des Clodius gemeint sind. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Cicero die von Clodius ausgehende Gefahr deutlich getrennt von seinen Bemerkungen zum Redencorpus anklingen lässt. Merkwürdigerweise wird keine dieser Stellen genannt, wenn es gilt, den Nachweis für die These zu erbringen, Cicero habe seine erste Rede gegen Catilina aufgrund des wachsenden, vor allem von Clodius ausgehenden Drucks wegen der Hinrichtungen im Jahre 63 in erheblichem Maße umgearbeitet. H. Fuchs verweist lediglich auf die Rede Pro Rabirio, um plausibel zu machen, dass Cicero die Catilinarien „um mancherlei Gedanken bereichert“ habe, die ihm „in der Zwischenzeit wichtig geworden waren“.29 Diese Rede, die Cicero in Att. 2,1,3 ebenfalls dem Corpus der konsularischen Reden zurechnet, habe er, wie Fuchs andernorts nachzuweisen sucht, mit Argumenten gegen die nachträgliche Verurteilung guter Konsuln versehen. Allerdings spricht Fuchs dort, 28

29

Vgl. Dom. 92–94. Eine anticiceronische Propaganda von Seiten des Clodius ist auch bei Plutarch (Cic. 30) greifbar. Vgl. ferner Drexlers (1976) 209–224 Zusammenstellung von Textpassagen, in denen von Angriffen auf Ciceros Konsulatspolitik die Rede ist. Vgl. Fuchs (1959a) 463 mit Anm. 2.

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wo er die Rabiriana näher untersucht, nur recht vage davon, dass „man sich des Gefühles nicht erwehren“ könne, dass Cicero hier nicht nur das biete, was er im Konsulatsjahr hätte sagen müssen, sondern auch Ereignisse anklingen lasse, die erst nach der Zerschlagung der Verschwörung eingetreten seien.30

3. Der Ertrag wissenschaftlicher Kontextbildung Mit dem Wort ‚Gefühl‘ komme ich auf den Aspekt der Plausibilität zurück. In Ermangelung einer eindeutigen Stellungnahme Ciceros hinsichtlich einer späteren Redaktion der Catilinarien müssen Interpreten die erhaltenen Zeugnisse daraufhin beurteilen, ob sie ihnen für oder gegen eine solche Bearbeitung zu sprechen scheinen. Doch welche Texte dürfen überhaupt als relevant für die Frage der Revision angesehen und damit zur Kontextbildung herangezogen werden? Geht man davon aus, dass die Möglichkeit der Zuschreibung eines spezifischen Kontexts im Text selbst angelegt sein muss,31 gibt bei dem eingangs zitierten Brief an Atticus, bei der ersten und zweiten Catilinaria sowie bei Diodors Bericht offenbar der Umstand, dass sie alle von der Rede selbst handeln, den Ausschlag für ihre Hinzuziehung. Dies ist jedoch bei einer Inanspruchnahme der Atticus-Briefe 1,16, 1,17 und 1,19 nicht der Fall und auch nicht, wenn man die anderen, eben genannten Zeugnisse über Angriffe auf Ciceros Konsulatspolitik nutzbar machte oder seine Rede Pro Rabirio als Argument für eine erfolgte Revision anführt. Denn diese Quellen nehmen mit keinem Wort auf die erste Catilinaria Bezug. Was also legitimiert die Verwendung bestimmter Texte als Indikatoren für die Motivationen Ciceros und damit zur Charakterisierung des situativen Kontexts? O. Jahraus ist der Ansicht, dass sich die Relevanz der Zuordnung eines bestimmten Kontexts erst im Nachhinein, nämlich im Lichte der daraus hervorgegangenen Interpretationsleistungen erweist.32 Was die Diodor-Passage angeht, ist diese Relevanz mit Blick auf die Rekonstruktion des einstigen situativen Kontexts sicher als sehr hoch einzustufen. Denn die mit ihrer Hinzuziehung verbundenen Deutungen (pro Diodor – contra Cicero; pro Cicero – 30 31 32

Vgl. Fuchs (1959b) 2. Damit sind insbesondere die kurz nach seinem Konsulat gegen ihn erhobenen Vorwürfe hinsichtlich der Exekutionen gemeint. So Jahraus (2014) 151–152. Vgl. Jahraus (2014) 153.

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contra Diodor) sind für sich genommen schlüssig und beleuchten die erste Catilinaria aus einer anderen Perspektive, als es die Rede allein vermag. Was aber die Beurteilung beider Interpretationsrichtungen betrifft, scheint zum einen die innere Kohärenz der Textausschnitte selbst von Belang zu sein und zum anderen der Aspekt der Glaubwürdigkeit, der letztlich auf der Einschätzung beider Autoren und ihrer Intentionen beruht. Letzterer ist hier sogar von entscheidender Bedeutung. Zu beachten gilt es dabei auch, dass sicher kein Interpret Ciceros Darstellung in diesem Punkt die Authentizität abgesprochen hätte, wäre die Diodor-Passage nicht erhalten geblieben. Die Beurteilung der Zuverlässigkeit eines Autors hängt im Falle der ersten Catilinaria wiederum eng mit dem Wissen der Interpreten über die CatilinaAffäre, vor allem aber über Ciceros spätere Verbannung zusammen. Dieses Wissen speist sich einerseits aus den antiken Quellen selbst und zum anderen aus den vorliegenden altertumswissenschaftlichen Deutungen. Letztere scheinen, wie das Urteil über die Revisionsthese erkennen lässt, bei der Einschätzung möglicher Auslegungen recht dominant zu sein. Denn diese These wird trotz oft fehlender Verweise auf mögliche Zeugnisse mehrheitlich als überzeugend angesehen. Offenbar ist hier ein nicht näher zu bestimmendes Vorwissen im Spiel sowie ein auf diesem beruhendes Vorab-Urteil über Ciceros Motiv der Redenpublikation, das den Blick der Interpreten von vornherein in eine ganz bestimmte Richtung lenkt. Und interessanterweise beanstandet selbst ein strikter Gegner dieser These wie W. Stroh nicht die mangelnde Angabe von Texten, in denen von einer drohenden Belangung Ciceros wegen der Hinrichtungen die Rede ist. Diese scheinen vielmehr so etwas wie ‚philologisches Allgemeingut‘ zu sein, auf das nicht eigens verwiesen werden muss. Gleiches gilt auch, wenn Stroh behauptet, dass die Revisionsthese allein deshalb auf tönernen Füßen stehe, weil Cicero später nie die Vertreibung Catilinas vorgeworfen worden sei, sondern stets die Hinrichtung der Catilinarier. Auch er führt als Stütze dieses Arguments keinen einzigen Textbeleg an, schlussfolgert aber dennoch, dass etwaige nachträgliche Bearbeitungen im Jahre 60 eben diese Exekutionen und damit die vierte Catilinaria hätten betreffen müssen, nicht aber die Verbannung Catilinas, die Gegenstand der ersten Catilinaria ist.33 Gegen die Revisionsthese wird auch erstaunlich selten eingewandt, dass Cicero selbst nirgends von irgendwelchen Bearbeitungen der Catilinarien

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Vgl. Stroh (1986 [2000]) 13 [77].

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spricht und ebenso wenig von einem publizistischen Zweck, den er mit ihrer Veröffentlichung verfolgt habe.34 Das Fehlen derartiger Informationen müsste eigentlich Anlass zu größten Zweifeln an der Revisionsthese geben, zumal Cicero ein Autor ist, dessen Publikationsgewohnheiten durch die erhaltenen Korrespondenzen vergleichsweise gut bezeugt sind. Es scheint hier jedoch eine Art stillschweigender Übereinkunft zu herrschen, dass angesichts der Überlieferungslage eben nicht alle Gedanken bzw. Absichten Ciceros nachvollziehbar seien. Vielleicht wird deshalb der Mangel an eindeutigen Äußerungen zu nachträglichen, publizistisch motivierten Revisionen so selten vor dem Hintergrund betrachtet, dass Cicero im Übrigen die politischen Ereignisse stets mit großer Aufmerksamkeit verfolgte und in seinen Briefen entsprechend kommentierte. Die Beurteilung etwaiger Überarbeitungen der ersten Catilinaria ist ein typischer Fall der Interpretation antiker Texte. Denn wo die Überlieferung lückenhaft ist und potentielle Kontexte daher nur begrenzt verfügbar sind, berufen sich Verfechter wie Gegner einer These zur Untermauerung ihrer Position oft auf identische Quellen. Dennoch wird, wie im Falle der ersten Rede gegen Catilina, nicht alles angeführt, was die jeweilige Argumentation stützen oder aber gegen sie vorgebracht werden könnte. Vor allem werden bestimmte, offenbar als bekannt vorausgesetzte Zeugnisse nicht konsequent sichtbar gemacht. In der Folge kommt es zu einer gewissen ‚Verselbständigung‘ der Thesen, wobei deren etwaigen Fundamenten, den ihnen zugrunde liegenden antiken Texten also, kaum noch Beachtung geschenkt wird.35 Doch welche Texte müssen überhaupt genannt werden, wenn die Frage der Revision der ersten Catilinaria wissenschaftlich diskutiert wird? Schließlich verrät die Rede allein auch nicht, dass es sich hier um ein Ereignis des Jahres 63 v. Chr. handelt. Dennoch wird sicher kein Altertumswissenschaftler dagegen protestieren, dass die Interpreten der Rede diejenigen Texte nicht benennen, aus denen dies hervorgeht. Offensichtlich ist also für die Frage, welche potentiell kontextbildenden Texte zur Deutung eines ganz bestimmten Textes herangezogen werden, nicht allein die Überlieferungslage entscheidend. Zu-

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35

Hierauf hat (mit Blick auf sämtliche Reden Ciceros) allein Eich (2000) 162 mit Nachdruck hingewiesen: „(…) von einer Bearbeitung der Texte unter dem Aspekt der Ideenvermittlung oder der Intervention in politische Debatten verlautet [in der Korrespondenz Ciceros] nichts.“ Dies ist ein typischer Fall von „common ground“, der nicht eigens expliziert werden muss; vgl. dazu Clark (2006).

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weilen werden bestimmte Zeugnisse sogar ausdrücklich ‚ausgemustert‘, obgleich sie zweifelsohne von der ersten Rede gegen Catilina handeln.36 Moderne Interpreten nehmen also, selbst wenn der Umfang der in Frage kommenden Texte überschaubar ist, eine Auswahl aus dem vorhandenen Material vor. So betrachtet, ist J. Kockas Aussage, dass jede historische Argumentation hinsichtlich ihres Gegenstands „selektiv“ sei,37 zutreffend. Und mit Blick auf die Frage, welche Zeugnisse denn bei einer wissenschaftlichen Untersuchung der ersten Catilinaria unbedingt zu nennen seien, muss man sich wohl mit der Feststellung begnügen, dass als wirklich verbindlich nur die allgemeine Forderung angesehen werden kann, dass die aufgestellten Thesen nicht im Widerspruch zu den antiken Quellen stehen dürfen und selbstverständlich auch nicht zu Logik, Wahrscheinlichkeit und zeitgenössischen Konversationsregeln. Dies aber kann jede der beiden vorgestellten Thesen für sich in Anspruch nehmen.38 Ist jedoch, wenn – wie im Falle der ersten Catilinarischen Rede – identische Zeugnisse Anlass zur Rekonstruktion eines geradezu konträren situativen Kontexts geben, ‚Kontext‘ nicht ein fragwürdiges Kriterium der Interpretation, da es nicht dazu geeignet zu sein scheint, eine eindeutige Deutungsrichtung vorzugeben?39 Schließlich kann die Behauptung, dass ein großer politischer

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37 38

39

Vgl. etwa Helm (1979) 134 Anm. 65: „Die Zeugnisse des Plutarch (Cic. 16), Dio Cassius (37, 33) und Sallust (Cat. 31) sind (…) von sekundärer Bedeutung, da sie nur oberflächlich berichten und ihre Aussagen nur teilweise mit den detaillierten Angaben des Diodor und Cicero in Einklang zu bringen sind.“ Vgl. Kocka (1977) 470. Bei der Entscheidung darüber, welche Annahme hinsichtlich Redaktion und Publikation der ersten Catilinaria ‚richtiger‘ oder wahrscheinlicher ist, hilft auch der Interpretationsgrundsatz des sensus primorum lectorum nicht weiter; vgl. dazu Willand (2015). Denn es ist sehr fraglich, ob man Diodor als einen solchen primus lector der Rede ansehen kann. Zumindest darf man vermuten, dass ihm die Abweichungen der veröffentlichten Rede von seinen eigenen Angaben hätten auffallen müssen und einer Erklärung bedurft hätten. Sallust hingegen könnte diesem Kreis erster Leser durchaus angehört haben. Allerdings ist seine Bezugnahme auf die Rede so knapp (Cat. 31,6), dass die Frage, ob Sallust die veröffentlichte Rede als die von Cicero gehaltene angesehen hat, dadurch nicht zweifelsfrei zu beantworten ist; vgl. hierzu die gegenteiligen Meinungen von Draheim (1917) 1065 und Settle (1962) 142. Zu Kontext als einem „Gültigkeitskriterium“ für Interpretationen vgl. Vollhardt (2015) bes. 36–37. Vgl. zudem Danneberg (1990) 102, der einen möglichen Zweck der Kontextverwendung in der „heuristische[n] Vorgabe zur Generierung (erfolgreicher) Literaturinterpretationen“ sieht.

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Druck Cicero im Jahre 60 zu einer wahrnehmbaren Anreicherung der Rede mit tagespolitischem Material und überhaupt erst zu deren Veröffentlichung veranlasst habe, mit den angeführten Zeugnissen (Atticus-Briefe, erste und zweite Catilinaria, Diodor) schwerlich bewiesen werden, wenn die Gegner dieser These die genannten Quellen ebenfalls für sich in Anspruch nehmen. Einig sind sich die Vertreter beider ‚Lager‘, wie es scheint, dennoch – und das ist bemerkenswert – in ihrer Beurteilung der verwendeten Texte als maßgebliche Hilfen der Kontextbildung. Allerdings würde sicher jeder der Interpreten seine Art der Rekonstruktion als historisch ‚angemessen‘ bezeichnen und der jeweils anderen These genau dies absprechen.40 Worin, so darf man fragen, besteht dann aber der Ertrag von Kontext bei der näheren Bestimmung der einstigen Realität? Eine allgemeine Antwort hierauf könnte lauten, dass bei dem Versuch, die Entstehung eines literarischen Textes zu rekonstruieren, die hierfür zu Rate gezogenen Zeugnisse auf ihre Eindeutigkeit hin geprüft und gegeneinander gewichtet werden. Je nachdem, wie hoch die jeweiligen Interpreten den Grad dieser Eindeutigkeit einschätzen, kommt es dann zu einer Entscheidung für den einen oder den anderen Rekonstruktionsversuch. Was den am Beispiel dargelegten, geradezu konträren Rekonstruktionen jedoch gemeinsam ist, ist die stillschweigende Übereinkunft hinsichtlich gewisser ‚basic facts‘. Im vorliegenden Fall besteht etwa grundsätzliche Einigkeit darüber, dass Cicero im Jahre 63 vor dem Senat eine Rede gegen Catilina gehalten und diese später in schriftlicher Form veröffentlicht hat. Diese ‚Fakten‘ leitet man aus denselben Zeugnissen her wie die Argumente für oder gegen eine nachträgliche Redaktion der Rede. Dennoch bilden erstere den Rahmen, in den einzelne ‚Mosaiksteinchen‘, also diejenigen Textpassagen, die man zur Beurteilung der vorliegenden Redenfassung nutzt, einsortiert werden. Das genaue Muster dieses Mosaiks, d. h. das Wissen über die Einzelheiten des damaligen Publikationsvorgangs, ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Einzelne Bestandteile aber, Ciceros Briefe an Atticus etwa oder die Darstellung Diodors, sind erhalten geblieben. Und auch wenn eine komplette Wiederherstellung des Gesamtmusters unmöglich ist, kann man über die Anordnung der noch vorhandenen Elemente – den wissenschaftlichen

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Der Begriff ‚Kontext‘ tritt überhaupt häufig in Erscheinung, sobald ‚Angemessenheit‘ als Gütekriterium von Deutungen verhandelt wird; vgl. hierzu Limpinsel (2013) 8.

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Standards entsprechend – spekulieren und wahrgenommene ‚Lücken‘ durch verschiedenartiges ‚Aneinanderlegen‘ der Steinchen füllen. Der Ertrag von Kontext bzw. von Kontextualisierung besteht also darin, dass die ‚Passgenauigkeit‘ erhaltener Elemente stets aufs Neue hinterfragt und die Plausibilität bestimmter Rekonstruktionsversuche genau geprüft wird. Literatur Baßler, M. (2007): „Texte und Kontexte“, in: Anz, Th. (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar, 355–370. Boissier, G. (1905): La conjuration de Catilina, Paris. Clark, H. H. (22006): „Context and Common Ground“, in: Brown, K. (Hg.), Encyclopedia of Language & Linguistics, Bd. 3, Amsterdam u. a., 105–108. Danneberg, L. (1990): „Kontextbildung und Kontextverwendung. Demonstriert an Brechts Keuner-Geschichte Die Frage, ob es einen Gott gibt“, Spiel 9, 89–130. Danneberg, L. (2000): Art. „Kontext“, in: Fricke, H., Grubmüller, K., Müller, J.-D., Weimar, K. (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin/New York, 333–337. Draheim, H. (1917): „Die ursprüngliche Form der katilinarischen Reden Ciceros“, Wochenschrift für Klassische Philologie 47/48, 1062–1072. Drexler, H. (1976): Die Catilinarische Verschwörung. Ein Quellenheft, Darmstadt. Eich, A. (2000): Politische Literatur in der römischen Gesellschaft: Studien zum Verhältnis von politischer und literarischer Öffentlichkeit in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Köln. Fuchs, H. (1959a): „Eine Doppelfassung in Ciceros Catilinarischen Reden“, Hermes 87, 463–469. Fuchs, H. (1959b): „Ciceros Hingabe an die Philosophie“, MH 16, 1–28. Gelzer, M. (1983): Cicero. Ein biographischer Versuch, Wiesbaden. Helm, Chr. (1979): Zur Redaktion der Ciceronischen Konsulatsreden, Diss. Göttingen. Jahraus, O. (2014): „Die Kontextualität des Textes“, in: Jannidis, F., Lauer, G., Winko, S. (Hgg.): Special Issue: Context, Journal of Literary Theory 8,1, 140–157. Kennedy, G. (1972): The Art of Rhetoric in the Roman World, Princeton. Kocka, J. (1977): „Angemessenheitskriterien historischer Argumente“, in: Koselleck, R., Mommsen, W. J., Rüsen, J., Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, 469–475. Limpinsel, M. (2013): Angemessenheit und Unangemessenheit. Studien zu einem hermeneutischen Topos, Berlin. McDermott, W. C. (1972): „Cicero’s Publication of his Consular Orations“, Philologus 116, 277–289. Nisbet, R. G. M. (1965): „The Speeches“, in: Dorey, T. A. (Hg.), Cicero, London, 47– 80. Norden, E. (1913 [1966]): „Aus Ciceros Werkstatt“, Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1–32 (ND in: Kytzler, B. (Hg.), Eduard Norden. Kleine Schriften zum klassischen Altertum, Berlin, 133–164).

Die publizierte Fassung der ersten Catilinaria Ciceros

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Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor beim Verstehen von Zitaten Ute Tischer (Leipzig)

Abstract ‘Quotation’, ‘context’ and ‘author’ are concepts both clear from everyday practice and controversial in literary theory. My paper aims to reflect on their intersections: It focusses on quotations and how ‘authorial figures’ or ‘speakers’ can be used to activate contexts that help to explain or interpret a quoted passage. In the first part, I will give a theoretical outline based on a model of literary communication. I will briefly introduce the three concepts and differentiate between different types of context. One factor which strongly influences the perception of ‘voices’ and the contexts connected with them is the narrative level on which the ‘speaker’ is situated. In the second part of the paper, therefore, I will use some quotations from Cicero’s works as test cases for an analysis of how speaker concepts, depending on narrative levels, might influence a reader’s choice of contexts.1

Die Begriffe „Zitat“, „Kontext“ und „Autor“ teilen die Eigenschaft, im Alltagsgebrauch ebenso intuitiv verständlich zu sein wie in der literaturwissenschaftlichen Praxis und Theoriebildung umstritten. Wenn ich im Folgenden gleichsam ihre Schnittstelle beleuchten will, sind daher jeweils kurze Klärungen ihrer hier präferierten Verwendungsweise nötig, ohne den Anspruch, die damit verbundenen Problemfelder ganz abstecken zu wollen. Was mich interessiert, ist die Frage, inwiefern beim Zitieren Sprecherinstanzen als Kontextfaktoren wirken können, die man benötigt, um das Zitierte zu verstehen und zu interpretieren. Dazu werde ich zunächst die drei Konzepte „Kontext“, „Zitat“ und „Sprecherinstanz“ mit Hilfe eines Modells literarischer Kommunikation umreißen und die verschiedenen Arten von Kontext herausarbeiten, die in literarischer Kommunikation zum Tragen kommen. Wessen „Stimme“ beim Zitieren wahrnehmbar wird, hängt unter anderem davon ab, ob die Sprecherinstanz mit dem Autor des Textes verbunden ist oder zur dargestellten Welt gehört. Im zweiten Teil meines Beitrags untersuche ich daher am Beispiel einiger Zitate aus Ciceros Werken, 1

Der Beitrag entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes zum „Zitieren in römischer Prosa“ (TI 653/1–2).

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welche Folgen die Entscheidung über die narrative Ebene, der die Sprecherinstanz zuzuordnen ist, für die Wahl relevanter Kontextbereiche haben kann.

1. Konzepte 1.1. Kontext Kontext ist ein relationaler Begriff, das heißt: Was auch immer Kontext konkret gerade beinhaltet (einen Zusammenhang, Diskurs, eine Situation), es ist „Kontext“ stets im Verhältnis zu etwas anderem, einem Objekt, Phänomen oder Gegenstand, und erst durch diesen Bezug gewinnt es seine Berechtigung als Kontext. Die Relation zwischen Gegenstand und Kontext ist dabei stets eine Bedeutungsbeziehung, sie ist sinnvoll, und das ist es, was das Konzept des Kontextes in untrennbaren Zusammenhang mit Verstehen, Deuten und Interpretieren bringt. Diese Beziehung ist aus zwei Perspektiven begründbar: Zum einen kann man argumentieren, dass der Kontext den Gegenstand in irgendeiner Weise beeinflusst, bedingt oder erklärt, zum anderen aber auch, dass der Gegenstand auf den Kontext ausgerichtet ist, auf diesen reagiert oder auf ihn einwirkt.2 Bezogen auf Texte und, wie hier, auf Zitate betrifft die Frage nach dem Kontext daher sowohl die Voraussetzungen als auch die Intentionen der literarischen Kommunikation. Ebenso hat Kontext eine produktions- und eine rezeptionsorientierte Seite: Derjenige etwa, der zitiert, situiert das Zitat in einem bestimmten (noch näher zu beschreibenden) Kontext, und derjenige, der ein Zitat rezipiert, versucht die entsprechenden Bezüge nachzuvollziehen. Die Menge der möglichen Kontexte für ein Objekt, etwa für einen Text oder ein Zitat, ist potentiell unendlich.3 „Kontextualisieren“, eine Kontextbeziehung (aktiv oder nachvollziehend) herzustellen, bedeutet daher vor allem, Kontexte zu unterscheiden, zu selektieren und zu evaluieren. Eine solche, typologische, 2

3

Dieses zweiseitige, „dynamische“ Verhältnis von Objekt und Kontext wird besonders in ethnographischen und linguistischen Arbeiten in den Vordergrund gerückt; vgl. den Überblick bei Goodwin/Duranti (1992). Kulturwissenschaftliche Ansätze betonen dies neuerdings auch in Bezug auf Literatur, vgl. z. B. Neumann/Nünning (2006). Zur potentiellen Unendlichkeit von Kontextbezügen und der Notwendigkeit der Staffelung und Hierarchisierung von Kontexten vgl. Aschenberg (1999) 106 u. Klausnitzer (2014) 60–61.

Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor

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Unterscheidung von Kontexten soll im Folgenden in Bezug auf Zitate und ihre Deutung unternommen werden. Der Nutzen dieses Unterfangens ist zunächst heuristisch: Die Unterscheidung, Beschreibung und Hierarchisierung von Kontexttypen kann Hinweise geben, wo Kontexte zu „suchen“ und zu „finden“ sind, und helfen, deren Relevanz für den Gegenstand und die Fragestellung zu begründen.4 Darüber hinaus geht es mir um Reflexion darüber, wie unsere eigene und die antike Rezeption von Zitaten verläuft und was sie beeinflussen könnte.

1.2. Zitat Wenn Zitieren, wie es in meinem Untersuchungsbereich der Fall ist, die Bezugnahme auf literarische Werke in anderen literarischen Werken betrifft, kann man es als literarische Kommunikation beschreiben, die über eine Intertextualitätsbeziehung realisiert ist.5 Das Zitat selbst ist dann zunächst eine Textsequenz im zitierenden Text, die sich dadurch auszeichnet, dass sie einen anderen Text partiell reproduziert und dass sie diesen Akt der Wiederholung, die wortlautlich oder sinngemäß sein kann, als solchen erkennbar werden lässt. Die zitierte Sequenz ist damit „doppelt codiert“:6 Zum einen gehört sie, ebenso wie die Textteile, die sie umgeben, in die Argumentation und den Sinnzusammenhang des zitierenden Textes, zum anderen kann sie den zitierten Text und dessen Sinnzusammenhang aufrufen und so auch für die aktuelle Kommunikation nutzbar werden lassen. Indem das Zitat auf seine Eigenschaft als wiederholte Sequenz und damit auf seine Differenz zum umgebenden Text aufmerksam macht, unterscheidet es sich zugleich von der einfachen Verwendung sprachlicher Zeichen, die ja ebenfalls auf Wiederholung beruht; anders als jene gehört es zur parole, nicht zur langue.7 4

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Zur „Kontextverwendung“, d. h. den argumentativen Einsatzmöglichkeiten des Konzepts Kontext im Rahmen von Interpretationstheorien vgl. Danneberg (1990) bes. 102. Stocker (1998) 9. Dieser, hier präferierten, „hermeneutischen“ Konzeption von Literatur im Allgemeinen und Zitaten im Besonderen entgegengesetzt sind u. a. strukturalistische Modelle wie das von Moritz Baßler, die den Text als Element eines Feldes von anderen Texten konzipieren und in denen Instanzen wie Autor oder Leser keinen Platz haben; vgl. Baßler (2005) bes. 73. Zum Begriff vgl. Helmstetter (2003) 896: „Das Zitat ist eine doppelt codierte, reflexive Äußerung: ein Zeichengebrauch (…), der auf anderen, vorgängigen Zeichengebrauch verweist.“ Compagnon (1979) 50–55.

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Damit die derart etablierte intertextuelle Beziehung aber tatsächlich realisiert und außerdem als Zitatbeziehung rezipiert wird, sind verschiedene Zuschreibungen und Deutungsleistungen von Seiten des Rezipienten nötig. Er ist es, der den zitierten Text in die aktuelle Kommunikationssituation „hereinholt“, denn anders als der zitierende Text liegt dieser ja nicht manifest vor, sondern wird von der zitierten Sequenz nur pars pro toto „vertreten“.8 Weiterhin muss er den so „hereingeholten“ Text nicht als irgendeinen Text, sondern als Prätext deuten. Das beinhaltet einerseits chronologische Hierarchisierung (der Prätext muss vor dem zitierenden Text existiert haben), andererseits Intentionszuschreibungen (die Annahme, dass diese Beziehung nicht zufällig ist, dass sie hergestellt wurde und etwas aussagen soll) und damit auch die Vorstellung, dass jemand, ein Sender oder Urheber, das Zitat verantwortet.9 Wie „Kontext“ hat damit auch das „Zitieren“ eine Produzenten- und eine Rezipientenseite. Es stellt sich als Kommunikationsakt dar, in dem das Zitat als „Botschaft“ oder Mittel erscheint, durch das ein Produzent einem Rezipienten eine Information zukommen lässt. Dafür müssen beide, Zitierender und Rezipient, nicht nur auf das Zitat selbst, sondern auch auf den Prätext zugreifen und diese miteinander in Beziehung setzen. Soll die Kommunikation glücken, müssen beide kooperieren, d. h. der Autor gestaltet seine Zitate so, dass sie erkennbar bleiben, und der Leser geht davon aus, dass die gefundenen Zitate beabsichtigt und bedeutungsvoll sind.10

1.3. Sprecherinstanz Das Zitieren kann man, wie bereits erwähnt, als Spezialfall literarischer Kommunikation modellieren. In einem Kommunikationsmodell aber ist der „Sender“, ebenso wie der „Empfänger“, eine notwendige Instanz, die besonders in

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Plett (1991) 8. Zur Intention als „Zuschreibungsphänomen (…), das im weitesten Sinne die rezipientenseitige Rekonstruktion der Situation des Textproduzenten voraussetzt“, vgl. Schaffrick/Willand (2014) 38. Die Eigenschaft, dass die Annahme einer auf einen Urheber zurückgehenden Intention quasi unumgänglich ist, teilt das Zitat mit anderen Formen des „uneigentlichen“ Sprechens wie Ironie oder Metapher, vgl. Jannidis et al. (1999) 30; Spoerhase (2007) 251–262. Zur Gültigkeit dieses Grice’schen Kooperationsprinzips auch in literarischer Kommunikation vgl. Jannidis (2004) 52–60.

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sprachlicher Kommunikation bevorzugt personal gedacht wird.11 Aus der Perspektive des Rezipienten ist die „Senderinstanz“ die Adresse von Zuschreibungen, besonders wichtig darunter von Intentions- und Motivationszuschreibungen. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass der Sender die kommunizierte Botschaft nicht nur produziert und veranlasst hat, sondern sie auch verantwortet.12 Bei der Redewiedergabe oder auch beim Zitieren, die beide eine zweite, von der aktuellen verschiedene Kommunikationssituation aufrufen, verdoppelt sich diese Instanz: Ein Zitat ist gleichzeitig die „Rede“ des Zitierenden und die Rede dessen, der zitiert wird.13 Welche „Stimme“ dabei hervortritt oder bevorzugt wird, gehört zu den stilistischen Entscheidungen des zitierenden Autors. Was man sich unter der „Sprecherinstanz“ im konkreten Fall vorzustellen hat, kann in den verschiedenen Domänen sprachlicher Äußerungen ganz verschiedene Ausprägungen haben. In mündlicher (Alltags-)Rede liegt die Origo des Gesagten meist selbstverständlich bei demjenigen, der gerade spricht. Treten die Produktion und die Rezeption sprachlicher Äußerungen jedoch zeitlich auseinander, wie es bei schriftlicher Kommunikation der Fall ist, manifestiert sich die Senderinstanz als Rollenzuschreibung, die je nach den pragmatischen Rahmenbedingungen unterschiedlich sein kann. Bei vielen Formen schriftlicher Alltagskommunikation ist sie eine reine Implikation – man vergleiche zum Beispiel Speisekarten oder Gebrauchsanweisungen. In bestimmten Textsorten, etwa bei privaten Briefen oder wissenschaftlichen Publikationen, wird die wahrnehmbare Äußerungsinstanz nach Möglichkeit mit dem Wissen über den empirischen Urheber in Deckung gebracht. Besonders in lyrischen und anderen fiktionalen Texten aber kann die Sprecherinstanz stark von der „Autorinstanz“ dissoziieren.14 Ist das der Fall, findet die literarische Kommunikation, die der Text repräsentiert, auf mehreren narrativen Ebenen statt: als „äu-

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Diese personale Zuschreibung von Urheberschaft in der menschlichen Kommunikation, und damit verbunden auch die Zuschreibung von Intentionen, ist möglicherweise eine Universalie, die auf die biologische Disposition des Menschen zurückgeht; vgl. dazu Eibl (1999) 51–54. Das Zusammenfallen von Produktion, Urheberschaft und Verantwortung ist besonders bei schriftlicher Kommunikation jedoch faktisch keinesfalls immer gegeben, vgl. dazu, mit Beispielen, Steiner (2009) 26–34, bes. 32–33. Zu einem Kommunikationsmodell der Redewiedergabe vgl. Bucalić (2007) 47–48. Zur Transformation des „Sprechers“ zum „Autor“ beim Übergang von mündlicher zur schriftlichen Kommunikation und ihren Implikationen vgl. bes. Ehlich (1994) 33–35.

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ßere Kommunikation“ zwischen Autor und Rezipienten, auf der Ebene des „Erzählers“ und auf der Ebene der handelnden Figuren. Zitate können auf jeder dieser Ebenen angesiedelt sein, und ebenso können auf jeder auch „Sprecherinstanzen“ wahrnehmbar werden: als „Autor“, als „Autorpersona“ bzw. „Erzähler“ oder als „Figur“.15

2. Kontexttypen in literarischer Kommunikation Unter der Voraussetzung, dass Zitieren als Kommunikationsakt anzusehen ist, und zwar als literarische und speziell intertextuelle Kommunikation, lassen sich mehrere Kontextbereiche abgrenzen, die in Hinblick auf die Art dieser Kommunikation besonders relevant erscheinen. In einem allgemeinen Kommunikationsmodell gehört „Kontext“ zu den Grundbedingungen der Kommunikation, da kein Sprachzeichen für sich allein Bedeutung transportieren kann. Jede Äußerung wird unter konkreten Rahmenbedingungen produziert und rezipiert, wobei der Kontext der Produktion vom Kontext der Rezeption zumindest analytisch zu trennen ist – wie gerade das Beispiel schriftlich-literarischer Kommunikation zeigt, können beide ja unter Umständen sehr weit voneinander entfernt sein. Damit die Kommunikation erfolgreich verläuft und die Kommunikationspartner sich verstehen, muss es jedoch eine Schnittmenge zwischen Produktions- und Rezeptionskontext geben, und ebenso sind die Kommunikationspartner normalerweise daran interessiert, sich der gemeinsamen Kontexte zu vergewissern. Selbstverständliches Kontextwissen bleibt dabei aus sprechökonomischen Gründen implizit; je mehr der geteilte Kontext jedoch in Frage steht, desto mehr muss er auch in der Rede bzw. im Text expliziert und verbalisiert werden.16 In Bezug auf mündliche Alltagskommunikation werden diese kommunikativen Rahmenbedingungen meist in drei Typen differenziert, die zum Teil an den Instanzen des Kommunikationsmodells festgemacht sind, nämlich (1) in den Sprach- oder Redekontext, der durch den Zusammenhang der Sprachzeichen und damit die Äußerung selbst aufgebaut wird, (2) in den situativen Kon15

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Zur Konzeption der Sprecher-Origo auf den einzelnen Ebenen der narrativen Kommunikation vgl. Schmid (2008) 43–114, bes. 44; Genette (2010) 137–174, bes. 147–150; Aschenberg (1999) 187–197. Vgl. dazu Clark (2006).

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text, womit hier die räumliche, zeitliche und soziale Situation gemeint ist, in der die Kommunikation stattfindet, und (3) in das Vorwissen der Kommunikationspartner, das wiederum sprachliche und kommunikative Kompetenz sowie lebensweltliches und enzyklopädisches Wissen umfasst.17 Diese Dreiteilung kann man auf literarische Texte übertragen, doch sind dabei die besonderen Bedingungen der literarischen Kommunikation zu berücksichtigen. Auch hier bietet der Text selbst (1) einen Redekontext, der dazu beiträgt, einzelne Äußerungen durch ihr Verhältnis zu den übrigen Textteilen oder zum Textganzen zu disambiguieren. (2) Die „Redesituation“, die nach der Verschriftlichung der Äußerungen nun nicht mehr durch die physische Präsenz der Kommunikationspartner geteilt wird, gewinnt an Komplexität: Zum einen bleibt sie eine „extratextuelle Situation“, denn auch literarische Texte sind mindestens implizit auf ihre sozialen und physischen Rezeptionsbedingungen ausgerichtet und werden unter konkreten äußeren Umständen rezipiert. Zum anderen bauen literarische Texte selbst „Redesituationen“ auf und ermöglichen damit eine Rezeption unabhängig von konkreten äußeren Umständen. Das kann dadurch geschehen, dass Informationen aus dem situativen Kontext im Text verbalisiert werden, aber auch durch Textsorten- und Gattungsmarkierungen, welche gleichsam standardisierte situative Rahmungen vorgeben, die unterschiedliche Rezeptionsweisen, -haltungen und -erwartungen bewirken. Hinzu kommt schließlich die bereits im Zusammenhang mit der Konzeption der Sprecherinstanz erwähnte Möglichkeit, auf verschiedenen narrativen Ebenen zu kommunizieren. Diese Kommunikationsebenen aber implizieren nicht nur unterschiedlich konzipierte Sprecherinstanzen (Autor, Erzähler, Figur), sondern auch eigene Redesituationen (reale äußere Kommunikation, Erzählsituation, erzählte Situation), die ebenfalls jeweils unterschiedliche Zuschreibungen von Seiten des Rezipienten erforderlich machen.18

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Zu dieser aus der Linguistik stammenden Typologie vgl. Aschenberg (1999) 75 und dies. im vorliegenden Band 75–77 sowie Bußmann (2008) 368; Coseriu (2007) 124. Zum Einfluss des situativen Kontextes beim Sprechen und seinen kognitiven Voraussetzungen vgl. Scherer (1984) bes. 39–146. Zur Übertragung des Situationsbegriffs auf die literarische Kommunikation vgl. ausführlich Jannidis (2004) 34–44; zur rezeptionslenkenden Rolle von Gattungsbezeichnungen vgl. Rabinowitz (1998) bes. 176–178; Conte (1986) 69–95, bes. 79– 82; zur Nachbildung nicht-sprachlicher Kontexte durch sprachliche Mittel in literarischen Texten vgl. Aschenberg (1999) 63–176; ebd. 184–187 auch zu Textsorten als Elementen literarischer Situationskontexte.

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(3) Der Komplex des Vorwissens der Kommunikationspartner schließlich ist bei literarischer Kommunikation zu erweitern um Wissen über Literatur und um literarische Kompetenz, d. h. um Regelwissen über den adäquaten Umgang mit Literatur. Im Vergleich zur Alltagskommunikation wird dieses literarische Wissen speziell erworben und trainiert. Es schließt Wissen über die besondere sprachliche Verfasstheit und Argumentationsstruktur literarischer Texte ein, ebenso aber auch Wissen über die pragmatischen Implikationen solcher spezifisch literarischen „Situationen“, wie sie etwa durch Fiktionalität oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Textsorten gegeben sein können. „Wissen“ erscheint in literaturwissenschaftlichen Kontexttheorien daher oft als ein besonders herausgehobener Kontextbereich.19 Im Kommunikationsprozess manifestiert es sich als geteiltes Wissen, dessen Vorhandensein sich die Kommunikationspartner gegenseitig unterstellen. Die Verfügbarkeit all dieser Wissensbestände, unter deren Voraussetzung ein Text und speziell ein Zitat produziert und rezipiert wird, ist jeweils unterschiedlich. Ein Teil ist immer intersubjektives, von der sozialen Gemeinschaft geteiltes Wissen, ein Teil ist subjektives, auf persönlicher Erfahrung, auch Lektüreerfahrung beruhendes Wissen, und ein Teil wird direkt während des Kommunikationsaktes, im Gespräch oder bei der Lektüre aufgebaut.20 Entsprechend unterschiedlich sind daher auch die Zugriffsmöglichkeiten beim Nachvollzug antiker Zitate durch einen modernen (philologischen) Leser.21 Wirft man von hier noch einmal einen Blick auf das Zitieren als Sonderfall der literarischen Kommunikation, ist es vor allem der Bereich des geteilten

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Vgl. z. B. Klausnitzer (2014) 61, der vorschlägt, „die komplexen Beziehungen zwischen ‚Literatur‘ und ‚Wissen‘ als Variante von Text-Kontext-Relationen zu modellieren“, oder auch Neumann/Nünning (2006), die eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete „kontextuelle Literaturwissenschaft“ unter dem Leitbegriff des „kulturellen Wissens“ konzipieren, welches alle drei oben beschriebenen Kontexttypen umfasst; vgl. ebd. 6: „(…) kulturelle[s] Wissen[], (…) die Gesamtheit kollektiv geteilter und symbolisch vermittelter Annahmen über die Wirklichkeit, d. h. über gesellschaftlich prävalente Themen, Werte, Normen, Selbst- und Fremdbilder“. Zur Kontextualisierung durch schematisch organisiertes Vorwissen des Lesers vgl. auch Rath (2008). Zu den Wissenstypen, die die Basis intertextueller Kompetenz bilden, vgl. Holthuis (1993) 187–194 sowie Eco (1990) 94–106. Der Zugriff auf Wissensbestände beim „Rezipienten“ oder „Leser“ ist in alltäglicher wie in literarischer Kommunikation gleichermaßen mit Problemen verbunden, vgl. z. B. Scherer (1984) 158; Goodwin/Duranti (1992) 4–5; Klausnitzer (2014) 57–58.

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Wissens, der näher zu spezifizieren ist. Damit ein Zitat seine Wirkung entfalten kann, muss nämlich einerseits erkennbar sein, dass zitiert wird, und andererseits, worauf sich die zitierte Sequenz bezieht. Was der Zitierende und der Rezipient des Zitats teilen müssen, ist also zum einen Wissen um Zitiernormen, die Konventionen, nach denen Zitate „hergestellt“, verwendet und präsentiert werden, zum anderen Wissen über den Referenzpunkt des Zitats, den zitierten Text oder Prätext.

3. Zitat und Sprecherinstanzen bei Cicero Aufgrund der bis hierher angestellten Überlegungen stellt sich nun die Aufgabe, die verschiedenen Kontextualisierungsmöglichkeiten, die sich beim Zitieren aus Sprecherinstanzen ergeben können, zu systematisieren. Drei Aspekte sind dabei zu berücksichtigen. Ein erster Punkt ist, dass mit der „Sprecherinstanz“ mindestens zwei Kontexttypen verbunden sind. Zum einen ist sie zu den situativen Komponenten der „Redesituation“ zu zählen; zum anderen partizipiert sie am „Wissenskontext“, insofern der Leser oder Rezipient Wissen über sie besitzt oder im Verlauf der Lektüre erlangt.22 Zweitens sind „Redesituation“ und Wissen maßgeblich davon beeinflusst, welcher narrativen Ebene eine Äußerung oder, in unserem Falle, ein Zitat, zuzuordnen ist. Die Ebenen der „äußeren“ Kommunikation, der Welt des „Erzählers“ und der erzählten Welt unterscheiden sich nicht nur darin, wie die Instanz der „Sprecher-Origo“ konzipiert ist, sondern weisen auch in Bezug auf Wissen und Redesituation ihr jeweils eigenes Kontextgefüge auf. Hinzu kommt als ein dritter Aspekt die „doppelte Origo“ des Zitats: Da das Zitat die Kommunikationssituation des zitierten Textes aufruft, kann auch der Urheber der zitierten Rede als Sprecherinstanz in Anspruch genommen werden und Kontexte aktivieren, die zum Verstehen und zur Deutung des Zitats beitragen. Beim Zitieren begegnen als Sprecherinstanzen daher zum einen der Zitierende, und zwar als empirischer Autor, als Autorpersona und als Figur, zum 22

Das korrespondiert mit der Tatsache, dass situative Kontexte in schriftlicher Kommunikation in viel höherem Maße als bei mündlicher Alltagsrede nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern im Text ausgedrückt werden, vgl. Scherer (1984) 174– 179; Aschenberg (1999) 163–176.

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anderen der Urheber der zitierten Rede, der ebenfalls als Autor oder als Figur erscheinen kann. Im Folgenden soll all dies auf das Zitieren in römischen Prosatexten bezogen und anhand einiger Beispiele aus Ciceros Werken illustriert werden.

3.1. Der Zitierende als Sprecherinstanz 3.1.1. Cicero zitiert: Der empirische Autor Literarische Kommunikation teilt mit nicht-literarischer Kommunikation den Umstand, dass sie einerseits in einer äußeren Situation zwischen realen Kommunikationspartnern stattfindet: Zwischen einem zitierenden Autor, der unter bestimmten soziokulturellen Gegebenheiten agiert, und einem realen Publikum, das Zitate unter konkreten Umständen rezipiert. Dieser Blickwinkel kommt beim Zitieren vor allem dann zum Tragen, wenn man nicht einzelne Zitate, sondern globale Zitierweisen untersucht. In diesem Fall ist es die Autorinstanz in ihrer Rolle als Textproduzent, an der bestimmte Kontextbereiche festgemacht werden. Der Verfasser des zitierenden Textes wird dann als derjenige wahrgenommen, der über die Verwendung und das Aussehen der enthaltenen Zitate entscheidet. Im Falle Ciceros etwa kann man die Frage nach den Ursachen und Funktionen eines bestimmten Zitierverhaltens mit Argumenten beantworten, die den empirischen Autor Cicero, seine Einstellungen, sein kulturelles Umfeld und besonders seine Intentionen betreffen. Dabei werden regulär Textbeobachtungen mit Informationen über außertextliche Gegebenheiten kombiniert. Ein Beispiel für diese Kontextverwendung sind etwa die materialreichen Untersuchungen von Gerard Salamon (2004) und (2006) zu Ciceros Tusculanae disputationes. Salamon interpretiert die überbordende Zahl an Dichter- und Prosazitaten in diesem Dialog als Ausdruck der Bildungsidee, die Cicero mit seinen philosophischen Schriften verfolge. Cicero demonstriere damit seinen Anspruch, eine philosophische Literatur in lateinischer Sprache nach dem Vorbild der griechischen Philosophie zu schaffen. Über die Autorinstanz Cicero und die Intentionen, die er ihr zuschreibt, erschließt Salamon das kulturelle und literarische Umfeld, in dem sich Cicero bewegt, das seine Entscheidungen beeinflusst und auf das er wirken will, als Kontextbereich, der für die Erklärung von Ciceros Zitierverhalten relevant ist. Der hier beschriebene methodische Zugang zielt also in erster Linie auf die „äußere“ Kommunikation zwischen dem „realen“ Autor und seiner Leserschaft in einer konkreten sozio-histori-

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schen Situation. Kontext erscheint aus dieser Perspektive als Menge von Einflussfaktoren, die das Zitieren derart bestimmen, dass man mit ihrer Hilfe erklären kann, warum Zitate auf eine bestimmte Art verwendet werden.

3.1.2. „Cicero“ = Cicero zitiert: Identifizierung von empirischem Autor und Autorpersona Umgekehrt kann man Zitate aber auch so betrachten, als seien sie auf bestimmte Kontexte hin angelegt, deren Integration in die Lektüre sie quasi einfordern. Das ist möglich, weil literarische Texte einer konkreten Äußerungssituation zugleich auch enthoben sind und ihr eigenes Kontextgefüge schaffen. Auf dieser Wahrnehmungsebene begegnen sich derjenige, der zitiert, und derjenige, der das Zitat zu verstehen sucht, als „impliziter“ Autor und Leser, und damit als Textfunktionen. Beide figurieren sich durch Zuschreibungen: Der implizierte Autor ist diejenige Instanz, welcher der Leser aufgrund seiner Textbeobachtungen unterstellt, dass sie das Zitat mit bestimmten Absichten und in Hinblick auf einen potentiellen Leserkreis und dessen Wissenshorizont gestaltet hat. Ebenso lässt sich aus dem Text aber auch ein Leser ableiten, der die vom Text gestellten Anforderungen erfüllt und in der Lage wäre, das Zitat und dessen Bedeutung im Text zu erfassen. Einige antike Textsorten, darunter fachwissenschaftliche Traktate, Kommentare und auch Briefe geben eine Lektüreweise vor, bei der die im Text eingenommene Autorrolle mit dem empirischen Autor identifiziert werden soll. Bei Zitaten fällt dann normalerweise die Sprecherinstanz des Zitierenden mit der Verfasserinstanz des Textes zusammen: Quod mihi mandas de quodam regendo, ‚’Α ρ κ α δί αν …;‘. tamen nihil praetermittam. atque utinam tu – sed molestior non ero. (Cic. Att. 10,5,2, cit. Hdt. 1,66) Was aber Deinen Wunsch nach Einflussnahme auf eine gewisse Person angeht: „Arkadien…?!“. Jedoch, ich will nichts unversucht lassen. Könntest Du denn nicht… – schon gut, ich werde nicht zu aufdringlich werden. (Übers. U.T.)

Zitate wie die hier angeführte Stelle aus einem Brief Ciceros an Atticus liest man daher ohne weiteres als „Ciceros Zitate“, und um zu verstehen, worauf das vorliegende, äußerst allusive (und nichtsdestotrotz durch Codewechsel und syntaktischen Bruch mühelos als Zitat erkennbare) Zitat hinausläuft, darf und muss man auf Kontextinformationen zurückgreifen, die die empirische

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Person Ciceros betreffen.23 Dies gilt trotz der Tatsache, dass Cicero auch in seinen privaten und von ihm selbst nicht publizierten Briefen sein auktoriales Ich sorgfältig stilisiert und seine Selbstdarstellung subtil auf seinen Adressaten ausrichtet.24 Eine ähnliche Rezeptionserwartung ist für die Reden anzunehmen, obwohl Cicero hier ausdrücklich davor warnt, in einem Plädoyer geäußerte Ansichten mit seinen eigenen zu verwechseln.25 Auch sie schließt die Annahme ein, dass „Cicero“ derjenige ist, der Zitate verwendet und eine Absicht damit verfolgt – selbst dann, wenn er sie seinem Prozessgegner oder einer anderen Person in den Mund legt, wie hier dem P. Clodius: Eum (i. e. Clodium) putato tecum loqui: ‚Quid tumultuaris, soror? quid insanis? Quid clamorem exorsa verbis parvam rem magnam facis? Vicinum adulescentulum aspexisti; candor huius te et proceritas voltus oculique pepulerunt (…)‘ (Cic. Cael. 36, cit. Com. inc. inc. v. 72 Ribbeck2) Nimm also an, er rede so mit dir: „Was machst du für einen Wirbel, Schwester – was regst du dich so auf? ‚Was machst du mit deinem Gezeter aus einer Mücke einen Elefanten?‘ Du hast auf einen netten jungen Mann aus der Nachbarschaft ein Auge geworfen, seine glänzende Erscheinung, seine schlanke Gestalt, sein Gesicht und sein Blick haben es dir angetan (…)“ (Übers. Giebel 1994)

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Ciceros Freund Atticus hatte ihn gebeten, auf den gemeinsamen Neffen Quintus einzuwirken, der sich auf Caesars Seite geschlagen hatte. Cicero hält das offenbar nicht für aussichtsreich und spielt in seiner Antwort auf eine Anfrage der Spartaner an das Delphische Orakel an, von der Herodot berichtet (᾿Αρκαδίην μ’ αἰτεῖς; Μέγα μ’ αἰτεῖς· οὔ τοι δώσω (…). – „Arkadien willst du haben? Eine große Forderung! Gewähren werde ich sie nicht (…)“). Zum literarischen Charakter der ciceronischen Briefe und ihrer Rollenkonstruktion vgl. Hutchinson (1998) 1–24 sowie de Giorgio (2015). Dass Cicero sein briefliches Selbstbild auch durch Zitate gestaltet, weist z. B. Rühl (2010) nach; zum strategischen Einsatz der Zitate in den Briefen vgl. Behrendt (2013). Vgl. Clu. 139: Sed errat vehementer, si quis in orationibus nostris quas in iudiciis habuimus auctoritates nostras consignatas se habere arbitratur. Omnes enim illae causarum ac temporum sunt, non hominum ipsorum aut patronorum. („Doch es irrt gewaltig, wer glaubt, dass die in meinen Gerichtsreden vertretenen Ansichten damit urkundlich als meine eigenen festgestellt wären. Sie alle sind den Prozess- und Zeitumständen, nicht den Menschen selbst oder ihren Anwälten geschuldet.“; Übers. U.T.); vgl. dazu Eich (2000) 192–195.

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Komikerzitate wie dieses tragen in Pro Caelio dazu bei, die beteiligten Personen einschließlich Ciceros selbst als Komödienfiguren zu stilisieren. Dennoch bilden die Umstände des realen Gerichtsprozesses, für den die Rede verfasst ist, ebenso wie die realen Motive Ciceros für seine Verteidigungsstrategie einen Kontextbereich, der nicht vernachlässigt werden kann, wenn man die Verwendung dieser Zitate erklären möchte: Ciceros Feindschaft zu Clodius, sein Verhältnis zu Caelius, seine literarische Bildung und die Tatsache, dass er als Angehöriger der Elite zu Standesgenossen spricht.26 Der Redner, der sich hier als „Erzähler“ einer komödienhaften Situation präsentiert, soll in der Wahrnehmung des Lesers keinesfalls von der empirischen Person Cicero, dem Verteidiger des Caelius, unterschieden werden.

3.1.3. „Marcus“ zitiert: Die Autorpersona Besonders typisch für literarische Kommunikation ist der Modus der Mimesis und der Fiktion. Wenn es daher Hinweise gibt, dass die im Text wahrnehmbare Autorstimme sich von derjenigen des realen Autors unterscheidet, differenziert sich die intratextuelle Kommunikationssituation noch einmal in eine „Erzählerebene“, auf der eine ausgeführte „Erzählerfigur“ oder „Autorpersona“ mit einer ebensolchen Leserfigur korrespondiert. Entsprechend können auch Zitate auf der Erzählerebene angesiedelt sein und damit zur dargestellten Welt gehören. Ein Beispiel dafür, wie Cicero die Identität zwischen „Autor-Ich“ und Autorfigur ins Zwielicht rückt, bilden die Tusculanae disputationes. In diesem als Dialog angelegten Werk zitiert der Unterredner „Marcus“, der in der 1. Person spricht, den folgenden Enniusvers: quid sit porro ipse animus aut ubi aut unde, magna dissensio est. aliis cor ipsum animus videtur, ex quo excordes, vecordes concordesque dicuntur et Nasica ille prudens bis consul ‚Corculum‘ et ‚eg re g i e c o rdat us homo, c at us Ae l i us S extu s‘. (Cic. Tusc. 1,18, cit. Enn. Ann. v. 329 Sk.)

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Cicero setzt das Komödienzitat in Cael. 36 ein, um das im Prozess verhandelte Geschehen als Komödiensituation zu zeichnen und die damit verbundenen Vorwürfe zu banalisieren; das dient nicht nur dem Mandanten, Ciceros jüngerem Freund M. Caelius, sondern ist auch eine Invektive gegen Ciceros politischen Gegner P. Clodius; zu Pro Caelio vgl. Geffcken (1995); Leigh (2004); Stroh (1975) 243–303, bes. 281–286.

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Ute Tischer Was die Seele eigentlich ist, wo sie sitzt und woher sie kommt, darüber besteht große Uneinigkeit. Einige meinen, das Herz selbst sei die Seele, und daher sagt man ‚excors‘, ‚vecors‘ und ‚concors‘, der bekannte Weise und zweimalige Konsul Nasica wird der „Beherzte“ genannt, und es heißt „ein Mann mit vorzüglichem ‚Herz‘, der gewitzte Sextus Aelius“. (Übers. U.T.)

Wer „Marcus“ ist, wird im Proöm festgelegt, das den Dialog einleitet. Dort erscheint „Marcus“ als Verkörperung Ciceros, zugleich aber auch als Teil der erzählten Welt. Einerseits will der mit „Marcus“ identische Sprecher des Proöms die im folgenden Dialog geschilderten Gespräche wirklich geführt haben, und dies in der Cicero gehörigen Villa von Tusculum in den Albanerbergen nahe Rom und mit Zeitgenossen, die Brutus, dem als reale Person apostrophierten Adressaten des Textes, nach Aussage des Proöms persönlich bekannt seien. Andererseits teilt das Proöm „Marcus“ explizit eine literarische Funktion zu: Er erhält die Rolle des philosophischen advocatus diaboli und bezieht sich auf die literarische Figur des platonischen Sokrates.27 Wenn der so disponierte Sprecher „Marcus“ zitiert, ist der Rezipient damit aufgefordert, beide Kontexte, nämlich das Wissen über den empirischen Autor und über die der Figur innerhalb des Textes zugeteilte Rolle, einzubeziehen. Er sollte sich bewusst sein, dass sich hier einerseits „Cicero“ als römischer Philosoph an römische Adressaten wendet, auf deren Vorwissen und literarischen Hintergrund er durch lateinische Beispiele und einen bekannten lateinischen Dichtertext eingeht. Andererseits erscheint das Zitat innerhalb einer Doxographie des Seelenbegriffs, die sich durchweg auf griechische Meinungen bezieht, und es ist „Marcus“, der „römische Sokrates“, der mit diesem Zitat nicht nur römische Vorstellungen mit griechischer philosophischer Argumentation verbindet, sondern den lateinischen Klassiker Ennius auch mit ähnlicher Autorität anführt wie der platonische Sokrates seinen Homer.28 Das

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Cic. Tusc. 1,7–8. Im Dialogteil der Tusculanen wird die Identifizierung des Sprechers mit dem Autor Cicero auch zweimal indirekt durch Cicerozitate bestätigt, vgl. Tusc. 1,66: his ipsis verbis in Consolatione hoc expressimus (…); Tusc. 5,32 (es spricht „Marcus’“ Dialogpartner): legi tuum nuper quartum De finibus. Zur Stilisierung der Autorrolle u. a. in den Proömien der Philosophica als ein Mittel, die Kompetenz und soziale Rolle des Autors zu demonstrieren vgl. Fuhrer (2012). Zu diesem Zitat als Teil von Ciceros „sokratischer“ Argumentation vgl. Spahlinger (2005) 132–40, bes. 139–140.

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hierzu erforderliche Wissen um die Sprecherinstanz ist in diesem Fall nicht einfach situativ vorausgesetztes Kontextwissen wie im Falle der Briefe und Reden, sondern wird erst durch die Tusculanae disputationes selbst und damit durch den Redekontext vermittelt.

3.1.4. „Cato“ zitiert: Die Figur Auf der Ebene der erzählten Welt kann aber auch Kommunikation selbst dargestellt werden und mit ihr die Situation oder der Kontext, in dem sie stattfindet. Die „Sprecherinstanzen“ von Zitaten sind mitunter also auch handelnde Figuren, und ihr erster Bezugspunkt sind die dargestellte Handlungssituation und die Adressaten des Zitats auf der Figurenebene. In Ciceros Dialogen ist das dann der Fall, wenn Dialogfiguren zitieren, die keine literarische Verkörperung Ciceros sein sollen. In De senectute etwa zitiert die Titelgestalt Cato aus Ennius’ Annales, vordergründig, um ein exemplum für hohe Leistung im Greisenalter zu illustrieren: (…) et Hannibalem iuveniliter exultantem patientia sua molliebat (i. e. Q. Fabius Maximus); de quo praeclare familiaris noster Ennius: ‚Oenus homo nobis cunctando restituit rem. noenum rumores ponebat ante salutem. ergo postque magisque viri nunc gloria claret.‘ (Cic. Sen. 10, cit. Enn. Ann. v. 363–365 Sk.) (…) und er (i. e. Q. Fabius Maximus) hat den jungen Draufgänger Hannibal durch seine beharrliche Geduld mürbe gemacht; das hat unser Freund Ennius treffend hervorgehoben mit den Versen: Ein Mann war es, der uns den Staat durch Zaudern gerettet; Nicht war leeres Gerede ihm wichtiger als das Gemeinwohl. Darum leuchtet je später, je schöner der Ruhm dieses Helden. (Übers. Nickel 2011)

Wie der Verweis auf Ennius als familiaris noster zeigt, hat die zitierende Instanz Cato eine besondere Beziehung zum Zitierten: Cato ist nicht nur irgendein Enniusleser, sondern, in der Fiktion des Dialogs, jemand, der den zitierten Text, dessen Autor, und die darin erwähnten Ereignisse persönlich kennt und ihnen durch seine Wertschätzung (praeclare) Vorbildcharakter verleiht. Ebenso, wie damit die Sprecherinstanz Cato das Zitat erklären hilft, dient umgekehrt aber auch das Zitat dazu, die persona des Gesprächsteilnehmers Cato zu charakterisieren und, durch seine Beziehung zu Ennius, historisch zu situieren. Damit das gelingt, muss der Leser des Textes jedoch extratextuelles Kontext-

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wissen aktivieren, in diesem Fall Kenntnisse über den historischen Cato, seine Beziehung zu Ennius und sein Bild als Politiker und Mäzen.29 Im Proöm von De senectute bekennt der auktoriale Ich-Sprecher „Cicero“, dass seine Gestalt Cato sich „etwas gelehrter“ ausdrücke „als in seinen Büchern“.30 Dies zeigt, dass sich auch das Wissen um die historische Gestalt wenigstens zum Teil selbst wieder auf ein Autorbild gründet und dass es zu Spannungen zwischen „historischem“ Kontextwissen und der im Redekontext des Dialogs gezeichneten Figur kommen kann, mit denen der Leser umgehen muss. An derselben Stelle im Proöm bringt der auktoriale Sprecher aber auch sich selbst, und damit unvermeidlich den empirischen Autor Cicero ins Spiel: Die Figur Cato nämlich spricht in diesem Dialog auch deshalb so „gelehrt“, weil sie eine Maske ist, deren sich der „Autor“ bedient, um die Autorität seiner eigenen Darlegungen zu heben. Catos Zitat ist also gleichzeitig „Ciceros Zitat“ und erklärt sich auch aus dessen Wertschätzung für Ennius und die zitierte Epospassage.31 Wie schon beim zuvor angeführten Beispiel ist die Sprecherinstanz hier mehrfach kontextualisiert, als „Ciceros Cato“, „historischer Cato“ und „catonischer Cicero“. Je vielschichtiger die Sprechergestalt im Text angelegt ist, desto mehr Kontextwissen aus unterschiedlichen Bereichen muss der Leser also heranziehen,

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Zu den Enniuszitaten in De senectute, ihrer ethopoietischen Funktion und zum Wissen über die historischen Personen als interpretationslenkendes Kriterium vgl. Spahlinger (2005) 38–44 u. 60–66. Cic. Sen. 3: omnem autem sermonem tribuimus (…) M. Catoni seni, quo maiorem auctoritatem haberet oratio (…). qui si eruditius videbitur disputare quam consuevit ipse in suis libris, attribuito litteris Graecis quarum constat eum perstudiosum fuisse in senectute. sed quid opus est plura? iam enim ipsius Catonis sermo explicabit nostram omnem de senectute sententiam. – „Dabei habe ich (…) das ganze Gespräch (…) dem greisen Marcus Cato in den Mund gelegt, um den Worten mehr Gewicht zu verleihen (…). Wenn du glaubst, dass er sich in diesem Gespräch gebildeter ausdrückt, als er es gewöhnlich in seinen eigenen Werken tut, so schreibe das der griechischen Literatur zu, für die er bekanntlich im Alter größtes Interesse zeigte. Doch wozu noch mehr? Gleich wird Cato selbst zu Wort kommen und alles darlegen, was ich zum Thema ‚Alter‘ zu sagen habe.“ (Übers. Nickel 2011); vgl. Cic. Amic. 4. Dasselbe Zitat ist in Off. 1,84 aus auktorialer Perspektive vorgetragen und wird dort ebenfalls mit Lob begleitet; zu Ciceros Wertschätzung für Ennius und seiner Verwendung von Enniuszitaten im Dienste seiner eigenen Identitätskonstruktion vgl. Gaeta (2008) sowie Shackleton Bailey (1983). Zur Verschmelzung von Cato- und Cicerofigur vgl. Culpepper Stroup (2013) bes. 145–148.

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um ein Zitat wie dieses und seine Funktion in der Argumentation des Textes zu würdigen. Ebenso wird aber auch deutlich, dass die Trennung der narrativen Ebenen und Instanzen als Analyseinstrument brauchbar ist, aber nicht absolut genommen werden darf. In jedem Fall ist es der reale Leser, der die zur Deutung des Zitats nötigen Wissensbestände aktiviert, und auch in die Konstitution von Erzähler und Figuren können Informationen über den realen Autor oder andere Gestalten der realen Welt eingehen.32

3.2. Der Zitierte als Sprecherinstanz 3.2.1. Der Zitierte spricht nicht Obwohl man für jedes Zitat auch eine eigene, von der aktuellen zu unterscheidende Äußerungsinstanz annehmen muss, ist die explizite Hervorhebung und Benennung dieser Instanz im zitierenden Text nicht notwendig, sondern eine stilistische Entscheidung. Das belegen zahlreiche Beispiele in Ciceros Werken, bei denen das zitierte Segment so in den zitierenden Text integriert ist, dass es zwar deutlich als „fremd“ erkennbar bleibt, dennoch aber als eigene Rede des Zitierenden erscheint: Dic quaeso: num te illa terrent, triceps apud inferos Cerberus, Cocyti fremitus, travectio Acherontis, ‚m e n t o s u m m a m a q u a m at t i nge ns e ne c t us s i t i ‘ Tantalus? tum illud, quod S i s y p h u s v e r s a t s a x u m s udans ni t e ndo ne que p ro ficit h ilu m ? ’fortasse etiam inexorabiles iudices, Minos et Rhadamanthus? (Cic. Tusc. 1,10, cit. Trag. inc. inc. 111 Ribbeck2 = adesp. 49 TrRF; Lucil. dub. 1375–1376 Marx) Sag mir doch bitte: Erschreckt dich das etwa, der dreihäuptige Kerberos in der Unterwelt, das Tosen des Kokytos, die Fähre über den Acheron, und Tantalos, „der mit dem Kinn des Wassers Oberfläche berührend fast dahinstirbt vor Durst“? Und das hier, dass „Sisyphos den Stein wälzt, schwitzend sich stemmt, und doch kein My vom Fleck kommt“, vielleicht gar Minos und Rhadamanthys, die unerbittlichen Richter? (Übers. U.T.)

Bei diesem Beispiel sind die beiden Zitate durch Demonstrativa angekündigt (illa, illud) und durch das Metrum, die „poetische“ Häufung von Klangfiguren und ihren Inhalt (das darin genannte mythische Personal) sehr deutlich als

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Diese Wechselwirkungen zwischen den Ebenen thematisiert besonders Jannidis (2002) u. ders. (2004) 41–43.

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Zitate erkennbar, auch wenn über ihre Herkunft nur spekuliert werden kann. Eine „fremde“ Sprecherinstanz muss bei dieser Art des Zitierens nicht in Anspruch genommen werden, die Dialogfigur „Marcus“, die hier zitiert, schlüpft stattdessen gleichsam in die Rolle eines Schauspielers oder des epischen Erzählers und imitiert dessen Rede.33 Entsprechend wird der Urheber der zitierten Rede bei solchen Zitaten nicht als Kontextfaktor wirksam.

3.2.2. Der zitierte Autor spricht Wird eine „Äußerungsinstanz“ bezeichnet, muss sie nicht notwendig als Name oder Person in Erscheinung treten. Schon als impliziertes Subjekt eines verbum dicendi wie dicitur oder fertur bewirkt sie, dass sich der zitierte Inhalt als fremde Weltsicht vom umgebenden Text abhebt. Sobald das geschehen ist, kann sich der Sprecher der aktuellen Rede von der „fremden“ Rede distanzieren, ihr zustimmen und mit ihr argumentieren. Je nachdem, wie die zitierte Äußerungsinstanz im Text stilisiert ist und welche Informationen über sie vergeben werden, kann sie aber auch Prätextkontexte aufrufen und dabei bestimmte Kontextbereiche fokussieren.34 Sehr häufig wird das Zitierte in Prosatexten dabei einer personalen Äußerungsinstanz zugeordnet, die als Quelle zu denken ist. Wie unterschiedlich sie zum Erscheinen gebracht werden kann, zeigen die drei Zitate des folgenden Beispiels: Est enim ius iurandum affirmatio religiosa; quod autem affirmate, quasi deo teste promiseris, id tenendum est. Iam enim non ad iram deorum, quae nulla est, sed ad iustitiam et ad fidem pertinet. (1) Nam praeclare E nni us : O Fides alma apta pinnis et ius iurandum Iovis. Qui ius igitur iurandum violat, is fidem violat, (2) quam i n Capi t ol i o vic in a m Io v i s o p t i m i m a x i m i , u t i n C a t oni s or at i one e s t , maiores nostri esse voluerunt. At enim ne iratus quidem Iuppiter plus Regulo nocuisset, quam sibi nocuit ipse Regulus. Certe, si nihil malum esset nisi dolere. (3) Id autem non modo non summum malum, sed ne malum quidem esse max i ma auc to rita te p h il o s o p h i a f f i r m a n t . (Cic. Off. 3,104–105, cit. Enn. trag. inc. 350 Jocelyn = trag. inc. 165 TrRF; Cato orat. 8, fr. 238 ORF)

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Aus welchen Werken die beiden Zitate stammen, ist nicht mehr auszumachen; Tragödie (Ennius?) und Satire (Lucilius) wurden vorgeschlagen; vgl. die Diskussion bei Skutsch (1986) 769–770. Helmstetter (2003) 896–897.

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Es ist ja ein Eid eine Zusicherung unter Berufung auf Gott. Was du aber als Zusicherung und gleichsam vor Gott als Zeugen versprochen hast, daran ist festzuhalten. Es geht ja nicht mehr den Zorn der Götter an, den es gar nicht gibt, sondern die Gerechtigkeit und Treue. (1) Denn zutreffend sagt Ennius: „Segnende, flügeltragende Treue und Eid beim Rechtsschützer Zeus.“ Wer also einen Eid verletzt, der verletzt die Treue, (2) die „auf dem Kapitol nahe dem Jupiter Optimus Maximus“, wie in einer Rede Catos steht, nach dem Willen unserer Vorfahren sein sollte. Aber freilich hätte nicht einmal im Zorn Jupiter dem Regulus mehr schaden können, als Regulus sich selbst schadete. Sicherlich, wenn es außer Schmerz zu leiden kein Übel gäbe. (3) Das aber, so versichern die Philosophen von größtem Ansehen, ist überhaupt kein Übel, geschweige, dass es das größte wäre. (Übers. Gunermann 1976)

Bei allen drei Zitaten ist die „fremde“ Origo der zitierten Passage benannt (Ennius, Cato, philosophi), mit dem Effekt, dass das zitierte Segment unmissverständlich einer anderen Sprechsituation als der aktuellen und damit einem anderen Kontext zugewiesen wird. Diese andere Sprechsituation kann als „Text“ oder „Werk“ gedacht sein, wie beim zweiten Zitat (Cato), sie kann durch die Wiedergabe in Oratio obliqua zusätzlich syntaktisch gekennzeichnet werden wie beim dritten Zitat (philosophi) oder auch, wie beim Enniuszitat, eine direkte Rede einleiten, wobei das verbum dicendi selbst oft elliptisch bleibt. Weil eine solche Namens- bzw. Quellenangabe die „fremde“ Sprechsituation impliziert, reicht sie schon für sich allein aus, um Zitate als solche zu kennzeichnen. Als rhetorisches Mittel eingesetzt betont sie den Charakter des Prätextes als „fremde“ Rede oder Meinung und ersetzt im hier gebrachten Beispiel damit gewissermaßen die modernen Anführungszeichen. Neben dieser „syntaktischen“ hat die Angabe der „fremden“ Origo aber auch semantische Funktion, denn sie verweist auf den ursprünglichen „Redekontext“, der verschieden weit sein kann: Mittels „Sprecherangaben“ rufen Zitate nicht nur die unmittelbar umgebende Rede oder Argumentation auf, sondern beispielsweise auch eine bestimmte Szene im Prätext, eine Figurenkonstellation oder das Thema des Prätextes insgesamt. Ebenso kann die Angabe dieser Instanz auf formale Eigenschaften des Prätextes verweisen, etwa auf seine metrische Form, seine Gattungsspezifik oder seinen Sprachstil. Dasselbe gilt für Elemente des extratextuellen Kontextes, beispielsweise für bestimmte Rezeptionsweisen oder die kulturelle Bedeutung des zitierten Textes. Obwohl bloße Autorangaben wie „Ennius“, „Cato“ oder gar philosophi wenig geeignet sind, die zitierte Passage innerhalb des zitierten Werkes auffindbar zu machen, dienen sie dazu, den zitierten Prätext insgesamt zu identifizieren.

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Schon diese scheinbar nur bibliographische Angabe appelliert damit an das Kontextwissen des Rezipienten. Im angeführten Beispiel helfen die entsprechenden Quellenangaben, die zitierten Texte zeitlich, kulturell und literarisch zu lokalisieren und den diskursiven Kontext des zitierten Elements zu bestimmen. Besonders deutlich wird diese kontextualisierende Funktion der Äußerungsinstanz, wenn kein Eigenname, sondern wie in dritten Zitat des Beispiels eine kollektive Angabe als Quelle benannt ist. Die Bezeichnung philosophi rekurriert dort ja nicht auf eine Verfasserperson und einen konkreten Äußerungskontext, sondern auf ebenjene diskursive Zugehörigkeit des zitierten Segments, in diesem Fall auf die Argumentation der Stoa. Ähnliches könnte auch für „Ennius“ und „Cato“ gelten. Wie Ciceros Werke zeigen, sind beide Autoren geradezu der Inbegriff der republikanischen lateinischen Dichtung und Prosa und mit ihren Namen verbinden sich ganz bestimmte Gattungen und Autorenbilder. Bei den ersten beiden Zitaten im eben genannten Beispieltext ist es daher vielleicht eher das „Image“ der Gestalten Ennius und Cato als Verkörperung des mos maiorum, das die Zitate motiviert, als die argumentative Aussage des Zitierten.

3.2.3. Eine zitierte Figur spricht Auch in Bezug auf die Äußerungsinstanz des Prätextes muss es nicht unbedingt die Person des Autors sein, an der solche Kontexte festgemacht werden. Gelegentlich baut Cicero auf das literarische Kontextwissen seines Lesers auch, indem er Zitate nicht der Autorinstanz des zitierten Textes, sondern einer darin auftretenden Figur in den Mund legt: o praeclaram emendatricem vitae poëticam, quae amorem flagitii et levitatis auctorem in concilio deorum conlocandum putet! de comoedia loquor, quae, si haec flagitia non probaremus, nulla esset omnino; quid ait ex tragoedia princeps ille Argonautarum? ‚Tu me amoris magis quam honoris servasti gratia.‘ quid ergo? hic amor Medeae quanta miseriarum excitavit incendia! (Cic. Tusc. 4,69, cit. Enn. Med. 224 Jocelyn = 92 TrRF) Dichtkunst, du herrliche Korrektorin des Lebens, du, nach deren Meinung Amor, dieser Urheber von Schändlichkeiten und Charakterlosigkeit, in der Runde der Götter sitzen soll! Von der Komödie spreche ich, die, wenn wir solche Schändlichkeiten nicht gutheißen würden, gar nicht existieren würde. Und was sagt jener Argonautenführer aus der Tragödie: ‚Du hast mich doch aus Liebe mehr gerettet als um des Ruhmes willen!‘ Seht ihr? Und was für Unglücksfeuersbrünste hat Medeas Liebe angefacht! (Übers. U.T.)

Wer spricht? Die Sprecher-Origo als Kontextfaktor

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Die hier als princeps ille Argonautarum umschriebene Sprecherinstanz des Zitats ist Jason. Cicero, oder besser sein alter ego, die Dialogfigur „Marcus“, identifiziert ihn als tragische Gestalt und nennt im selben Zusammenhang den Namen Medea, der Titelgestalt der populären35 Tragödie des Ennius. Dabei kann er sich bei dem Zitat nicht nur auf den bekannten Mythos verlassen, sondern setzt auch auf die Vertrautheit mit der Handlung dieses konkreten Stückes.36 Durch die „intertextuellen“ Namen der sprechenden und der angesprochenen Person wird also sowohl auf die Sprechsituation im zitierten Text als auch auf den Titel des Textes angespielt. So stilisierte Zitate verweisen damit besonders raffiniert auf die Tatsache, dass auch die zitierten Prätexte selbst schon verschiedene Sprecherinstanzen voraussetzen.37

4. Fazit Die vorgestellten Überlegungen waren als Versuch gedacht, das unübersichtliche begriffliche Terrain des „Kontextes“ in Bezug auf Zitate und Zitieren zu ordnen und zu konkretisieren. Im Mittelpunkt stand dabei die Instanz des Urhebers/Autors/Sprechers des Zitats und des Zitierten auf verschiedenen narrativen Ebenen. Diese stellte eine Denkfigur dar, die nicht weniger vieldeutig ist als der Begriff „Kontext“. Je nachdem, in welchem Sinne man sie verwendet, impliziert dies unterschiedliche Möglichkeiten der Kontextualisierung und des Zugriffs auf „Kontexte“. Wie die Beispiele zeigen, geben die untersuchten Texte mit den Sprecherinstanzen, die sie Zitaten zuweisen, Kontexte vor, die die Rezeption des Zitats beeinflussen. Umgekehrt ist aber auch das Verstehen von Zitaten als Argument oder Stilmittel im zitierenden Text sehr stark an der

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Zur Zitierhäufigkeit der ennianischen Medea bei Cicero und seinen Zeitgenossen vgl. Spahlinger (2005) 225–226. Zur zeitgenössischen Enniusrezeption durch Aufführungen und Lektüre vgl. Manuwald (2011) 108–125, bes. 112–114. Darauf, dass der intendierte Leser anhand der Zitate die Stücke identifizieren konnte, deutet auch der unmittelbar folgende Bezug auf eine weitere Medeatragödie eines zweiten, ebenfalls nicht namentlich genannten Tragikers, wohl des Pacuvius (Trag. inc. inc. 174–175 Ribbeck2 = Frag. adesp. 62 TrRF = Pac. Medus fr. 185 Schierl): atque ea tamen apud alium poëtam patri dicere audet (…). Zu Ciceros Verwendung der Figuren als Sprecher von Zitaten in den Tusculanae disputationes vgl. Salamon (2004) 143–144, der in dieser „distanciation théâtrale“ auch eine Reflexion über das Verhältnis von Dichtung und Philosophie sieht.

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Instanz orientiert, die zitiert oder spricht. Der Versuch, die verschiedenen Arten von „Sprecherinstanzen“ und „Kontexten“ zu typologisieren, illustriert dabei einmal mehr, wie sich die Wirkung und Bedeutung des Zitats erst im Wechselspiel zwischen dem Text und den Zuschreibungen, Erwartungen und Wissensbeständen des Rezipienten entfaltet. Literatur Aschenberg, H. (1999): Kontexte in Texten. Umfeldtheorie und literarischer Situationsaufbau, Tübingen. Baßler, M. (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen. Behrendt, A. (2013): Mit Zitaten kommunizieren. Untersuchungen zur Zitierweise in der Korrespondenz des Marcus Tullius Cicero, Rahden/Westf. Bucalić, T. (2007): „Ein typologischer Beitrag zu Formen der Redewiedergabe“, in: Brendel, E., Meibauer, J., Steinbach, M. (Hgg.), Zitat und Bedeutung, Hamburg, 45–66. Bußmann, H. (42008): Art. „Kontext“, Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart, 368. Clark, H. H. (22006): Art. „Context and Common Ground“, in: Brown, K. (Hg.), Encyclopedia of Language & Linguistics, Bd. 3, Amsterdam u. a., 105–108. Compagnon, A. (1979): La seconde main ou le travail de la citation, Paris. Conte, G. B. (1986): The Rhetoric of Imitation. Genre and Poetic Memory in Virgil and Other Latin Poets, Ithaca/London. Coseriu, E. (42007): Textlinguistik. Eine Einführung. Herausgegeben und bearbeitet von J. Albrecht, Tübingen/Basel. Culpepper Stroup, S. (2013): „‚When I read my Cato, it is as if Cato speaks‘: The birth and evolution of Cicero’s dialogic voice“, in: Marmodoro, A., Hill, J. (Hgg.), The author’s voice in classical and late antiquity, Oxford, 123–151. Danneberg, L. (1990): „Kontextbildung und Kontextverwendung. Demonstriert an Brechts Keuner-Geschichte Die Frage, ob es einen Gott gibt“, Spiel 9, 89–130. Eco, U. (1990): Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München. Ehlich, K. (1994): „Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation“, in: Günther, H., Ludwig, O. (Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Bd. 1,1, Berlin/New York, 18–41. Eibl, K. (1999): „Der ‚Autor‘ als biologische Disposition“, in: Jannidis, F., Lauer, G., Martinez, M., Winko, S. (Hgg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen, 47–60. Eich, A. (2000): Politische Literatur in der römischen Gesellschaft. Studien zum Verhältnis von politischer und literarischer Öffentlichkeit in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Köln. Fuhrer, T. (2012): „Autor-Figurationen: Literatur als Ort der Inszenierung von Kompetenz“, in: Fuhrer, T., Renger, A.-B. (Hgg.), Performanz von Wissen. Strategien der Wissensvermittlung in der Vormoderne, Heidelberg, 129–148. Gaeta, S. A. (2008): „Identidad y voz au(c)torizada: La funcionalidad de la cita ciceroniana de los poetae ueteres“, Myrtia 23, 177–205.

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Kontexte und Kontextualisierungen im Bereich der Fragmentforschung: Beispiele aus der Fragmentsammlung des Demetrios von Skepsis Alexandra Trachsel (Hamburg)

Abstract This contribution sheds light on the notion of context from a different angle, as we approach it from the perspective of scholars working with fragmentarily preserved works. Here, the focus lies on textual sequences considered as fragments of a lost work. However, these ‘fragments’ are embedded as quotations in a second extant text, so that the immediate surrounding of a given textual sequence is no longer its original setting, and this shift alters our understanding of the remaining evidence of the lost work. Our study aims to show how a thorough analysis of the environment in which a given passage was transmitted may still yield some information about a lost work, despite a variety of transformations through which the textual sequence may have gone between its original setting and the preserved reuse. Our example comes from the lost Τρωϊκòς Διάκοσμος by Demetrios of Scepsis, a Homeric scholar from the 2nd century BCE. Two fragments dealing with the Spartan feast of the Karneia provide our case study. Both allude, in different words, to the same initial statement and, in both cases, the immediate surrounding in which each is transmitted does not at first appear to reveal more about the original setting. However, by adducing further information related to a larger Homeric zetema, to which they belong, we understand the purpose of Demetrios’ interpretation. In this case, the context is more than the immediate textual environment in which a sequence has been transmitted.

1. Einführung Das Werk des Demetrios von Skepsis, eines Gelehrten aus dem 2. Jh. v. Chr.,1 war ein umfangreicher Kommentar (ἐξήγησις) zum Troerkatalog der Ilias (Hom. Il. 2,816–877),2 der nur noch fragmentarisch durch antike Zitate späterer

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Für weitere Angaben zu Demetrios von Skepsis siehe Schwartz (1901) 2807–2813, Pfeiffer (1968) 249–251, Montanari (1993) 651–652 oder Erskine (2001) 106–108. Str. 13,1,55 (C609) = T1 Biraschi und Str. 13,1,45 (C603) = T4 Biraschi.

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Autoren erhalten ist.3 Im Folgenden soll es exemplarisch dazu dienen, den Begriff des Kontexts aus der Sicht der Fragmentforschung zu beleuchten. Denn in einer Überlieferungssituation, wie man sie bei den Fragmenten des Demetrios antrifft, befinden sich die Textstellen, für die man sich interessiert, nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext, (d. h. sie sind nicht mehr Teil einer von ihrem Autor erstellten textuellen Einheit), sondern in einem Überlieferungskontext. Sie erscheinen also als Textpartien, die der Autor, der sie überliefert, einem anderen Werk entnommen und in seinen Wortlaut integriert hat.4 Beim Bearbeiten von Fragmenten liegt das Interesse bevorzugt auf Zitaten, d. h. auf Textstellen, die man als von dem Passus, in dem sie überliefert sind, zu unterscheidende Stücke eines verlorenen Werkes ansieht, das man kennenlernen und vielleicht rekonstruieren möchte. Diese Vorgehensweise bewirkt, dass man, wenn man ein Zitat wahrnimmt, den involvierten Textstellen einen unterschiedlichen Status zuweist. Man unterscheidet nämlich zwischen dem, was der Autor seinem Leser in seinem eigenen Namen mitteilen will, und der Textpartie, die er als aus einem anderen Werk stammend kennzeichnet. Diese Sichtweise führt zur Trennung von Zitat und Kontext: Die Textstellen, die unmittelbar vor oder nach dem Zitat zu finden sind, werden nun als Kontext oder genauer als Überlieferungskontext bezeichnet. Sie werden im Rahmen der Erarbeitung einer Edition anders behandelt als die Stellen (die Zitate), für die man sich als Fragmente interessiert.5 Man geht davon aus, dass einzelne Stücke (die Fragmente) für die Fragestellung, die man bearbeiten will (die Rekonstruktion des Werkes oder zumindest die Sammlung der erhaltenen Zeugnisse), wichtiger sind als das Ganze, in dem sie überliefert sind. Oft interessiert man sich zudem nicht für alle Zitate in einem Text, sondern nur für diejenigen, die dem Autor zugeschrieben werden, über den man arbeitet. Es

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Zuerst wird Demetrios bei Strabon zitiert, später auch bei Athenaios. An dritter Stelle, was die Anzahl von Fragmenten angeht, können die Ilias-Scholien erwähnt werden. Eine vollständige chronologisch angeordnete Liste findet sich bei Pagani (2016). Zur Komplexität dieser Form von Neukontextualisierung siehe z. B. Tischer (2015) 333–355. Diese Unterscheidung bleibt auch in neueren Studien bestehen, obschon man dort beim Bearbeiten von Fragmenten dem Kontext (der Textsequenz, in der sie überliefert sind) nun mehr Aufmerksamkeit schenkt und ihn mehr in die Analyse miteinbezieht. Siehe dazu Schepens (1997) 144–172, Schepens (2000) 1–29, und Lenfant (2013) 289–305.

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sollte aber nicht vergessen werden, dass beide Elemente, sowohl der Überlieferungskontext als auch das Zitat oder Fragment, Teile eines fortlaufenden Textes oder sogar derselben Argumentation sind, die als Ganzes von einem Autor stammen, der mit den Zitaten und der Art und Weise, wie er sie in seinen Text aufnimmt, mit seinem Leser kommunizieren möchte. Demzufolge könnte man den Text auch als ein Ganzes analysieren, ohne speziell die Stellen herauszuheben, an denen der eine oder der andere Autor angeführt wird. Im konkreten Fall des Demetrios von Skepsis heißt das, dass es zum Beispiel genauso möglich wäre, sich mit dem ganzen Text des Strabon oder des Athenaios zu befassen,6 wo sich der größte Teil der erhaltenen Fragmente des Demetrios findet, und die Zitierweisen dieser beiden Autoren zu analysieren. Auch so könnte man, in einem zweiten Schritt, Rückschlüsse auf die dort zu Demetrios erhaltenen Fragmente ziehen. In diesem Beitrag soll aber eine andere Herangehensweise vorgestellt werden, die es erlaubt, in gewissen Überlieferungssituationen die im Überlieferungskontext erhaltenen Informationen so zu nutzen, dass sie, trotz der Neukontextualisierung, die ein Zitat voraussetzt, Hinweise auf die ursprüngliche Textsequenz und deren Inhalt geben können. Zudem sollen unsere Ausführungen auch zeigen, wie und wann man bei der Bearbeitung von Fragmenten auf verschiedene Arten von Kontexten zurückgreift und inwiefern dieser Begriff in manchen Phasen der Analyse nicht mehr nur als Textstelle zu verstehen ist.7 Bei dem Beispiel, das besprochen werden soll, handelt es sich um den speziellen Fall, dass eine Aussage eines Autors (hier Demetrios von Skepsis) in mehr als einer Quelle erhalten ist und es daher mehrere Überlieferungskontexte gibt, die auf unterschiedliche Weise auf die zitierten Textstellen eingewirkt haben. Durch den Vergleich dieser unterschiedlichen Wiederverwendungen und Formulierungen desselben Inhaltes kann es nun möglich werden, in gewissen Fällen Schlüsse über die ursprüngliche Aussage, zu der der erhaltene Textausschnitt gehören könnte, zu ziehen, sodass diese uns helfen können, die überlieferten Textstellen in einer Fragmentsammlung anzuordnen.

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Für Athenaios vgl. dazu den Beitrag von Monica Berti in diesem Band. Siehe hierzu z. B. Klausnitzer (2014) 55–86 und King/Reiling (2014) 2–30. Diese beschäftigen sich allerdings mehrheitlich mit moderner Literatur, die vollständig erhalten ist, und haben bei ihren Analysen auch nicht speziell Zitate im Visier.

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2. Demetrios fr. 1 und fr. 2 Gaede/Biraschi: Das Karneiafest in Sparta 2.1. Fr. 1 Gaede/Biraschi: Athenaios Die zwei Textstellen, die in den modernen Fragmentsammlungen als Fragment 1 und 2 (Gaede/Biraschi) des Demetrioskommentars gezählt werden, entsprechen dem oben genannten Fall und sollen hier eingehender diskutiert werden. Beide behandeln verschiedene Aspekte derselben Thematik, sind aber in sehr unterschiedlichen Überlieferungskontexten erhalten geblieben. Zudem gibt es für beide Aussagen weitere von diesen Überlieferungskontexten unabhängige textuelle Zeugnisse, die zusätzliche Informationen zu Demetrios’ Bearbeitung des Themas bringen. Schließlich haben wir auch noch einen direkten, wenn auch nicht sehr präzisen Verweis, wo die Aussage ursprünglich im Werk des Demetrios zu finden war, denn wir wissen aus fr. 1 Gaede/Biraschi, dass diese Thematik von Demetrios am Anfang seines Werkes behandelt worden ist. Athenaios sagt uns nämlich in seinen aus dem 2./3. Jh. n. Chr. stammenden Deipnosophisten, dass Demetrios das spartanische Fest der Karneia im ersten Buch seines Werkes beschrieben habe. Leider erweist sich dieser Hinweis aber bei einer näheren Bearbeitung der Textstelle als nicht so hilfreich, wie man das im ersten Augenblick denken könnte. Hier die Textstelle: Δημήτριος δ’ ὁ Σκήψιος ἐν τῷ αʹ τοῦ Τρωϊκοῦ Διακόσμου τὴν τῶν Καρνείων φησὶν ἑορτὴν παρὰ Λακεδαιμονίοις μίμημα εἶναι στρατιωτικῆς ἀγωγῆς. τόπους μὲν γὰρ εἶναι θʹ τῷ ἀριθμῷ, σκιάδες δὲ οὗτοι καλοῦνται σκηναῖς ἔχοντες παραπλήσιόν τι· καὶ ἐννέα καθ’ ἕκαστον ἄνδρες δειπνοῦσι, πάντα τε ἀπὸ κηρύγματος πράσσεται. ἔχει τε ἑκάστη σκιὰς φρατρίας τρεῖς καὶ γίνεται ἡ τῶν Καρνείων ἑορτὴ ἐπὶ ἡμέρας θʹ. (Athen. 4,141e–f = fr. 1 Gaede/Biraschi) Demetrios von Skepsis sagt im ersten Buch seines Tρωϊκὸς Διάκοσμος, dass das Fest der Karneia bei den Lakedaimoniern eine Nachahmung des militärischen Lebens sei. Denn die Orte sind neun an der Zahl, und sie werden Schattendächer genannt, da sie Zelten ähnlich sind. Und unter jedem speisen neun Männer und alles wird auf Anordnung eines Herolds gemacht. Jedes Schattendach hat drei Phratrien und das Fest der Karneia dauert neun Tage. (Übers. A.T.)

Die Stelle ist sehr oft in anderen Zusammenhängen besprochen worden, vor allem, weil sie eines der wenigen antiken Zeugnisse für das spartanische Fest

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der Karneia darstellt.8 Für uns ergibt sich bei der Analyse dieses Ausschnittes das Problem, wie dieser Exkurs über das Karneiafest in das erste Buch des Werkes des Demetrios von Skepsis gepasst haben könnte. Der Inhalt des Ausschnittes (Informationen zum Karneia-Fest) und die Stellenangabe (im ersten Buch des Demetrios) scheinen nicht zusammenzupassen, denn man muss sich fragen, aus welchem Anlass Demetrios wohl das Fest der Karneia, das in Sparta gefeiert wurde, in seinem Kommentar zum Troerkatalog (Hom. Il. 2,816– 877) hätte erwähnen können.9 Auch wenn wir Strabons Angaben zu Demetrios’ Werk hinzuziehen,10 ist es nicht sofort ersichtlich, welche Rolle die berichteten Angaben zum Fest der Karneia in einer Erklärung zu einem Wort oder einem Vers aus dem Troerkatalog gespielt haben sollten. Als erste Schwierigkeit ist zu nennen, dass es weder eine geographische noch eine wörtliche Übereinstimmung zwischen dem Inhalt des Zitats und dem Troerkatalog gibt, die man als Auslöser des Kommentars ansehen könnte.11 Der Troerkatalog nennt die Verbündeten der Troer, die in Kleinasien und im Norden Griechenlands lokalisiert werden; Sparta, das Toponym, um das sich die Erklärung dreht, wird in diesem Teil des Homertexts nicht erwähnt, nicht einmal in den Geschichten, die zu jedem der verbündeten Kontingente erzählt werden. Diese Schwierigkeit verschärft sich noch durch die Tatsache, dass Athenaios auf das erste Buch des Demetrios (ἐν τῷ αʹ τοῦ Τρωϊκοῦ Διακόσμου) verweist, was auf eine Stelle am Anfang des Troerkatalogs als Ausgangspunkt des Kommentars zum Karneiafest hindeutet. Bei der Suche nach einer Übereinstimmung zwischen dem Inhalt des erhaltenen Fragments und dem zu findenden Zusammenhang, in dem Demetrios diese Aussage gemacht haben könnte, muss man sich also auf einen bestimmten, recht kleinen Textabschnitt beschränken. Um 8 9

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Pettersson (1992). Die Fokussierung auf diesen bestimmten Teil der Ilias wird nicht nur durch die Bezeichnung des Werkes als ἐξήγησις des Troerkatalog belegt (Str. 13,1,55 (C609) = T1 Biraschi und Str. 13,1,45 (C603) = T4 Biraschi). Sie wird auch durch den überlieferten Titel bestätigt. Denn die Formulierung ὁ Tρωϊκὸς Διάκοσμος, die als Titel des Werkes gilt, verweist ebenfalls auf diesen Teil des Homertexts (siehe z. B. Radt (2008) 531). Siehe oben Anm. 2. Es geht hier um ein Bild, das sich der moderne Leser vom Werk des Demetrios anhand von anderen Quellen, die über dieses Werk sprechen, machen kann. Hier handelt es sich, neben den schon erwähnten Strabonstellen, um die Zeugnisse, die von Biraschi als Testimonia gesammelt wurden. Siehe Biraschi (2011) T1–10.

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dieser Angabe des Athenaios Aussagekraft zu verleihen, kann man nämlich auf die Berechnung von Ragone verweisen, der zufolge bei 30 Büchern Kommentar für die heute 62 Verse des Ilias-Texts jedes Buch des Demetrios ungefähr 2 Verse besprochen haben muss, wenn man von einer regelmäßigen Verteilung der Kommentare ausgeht.12 Wenn man dieser Hypothese folgen mag, müsste man zum Schluss kommen, dass im ersten Buch die ersten zwei Verse besprochen worden sind, d. h. allein das Kontingent der Troer, das von Hektor angeführt wird.13 Man sollte aber natürlich nicht von einem zu regelmäßigen Aufbau des Werkes ausgehen, da man ja vermuten kann, dass die Länge der Kommentare zu einzelnen Lemmata sehr unterschiedlich sein konnte und auch nicht jedes Wort des Troerkatalogs auf gleich viel Interesse bei Demetrios oder seinen Lesern stieß und daher auch nicht gleich ausführlich erklärt oder kommentiert wurde. Trotzdem sollten uns die Angaben des Athenaios erlauben, uns bei der Suche nach einer Stelle, die einen Kommentar zum Karneiafest hervorgerufen haben könnte, auf die ersten Verse des Troerkatalogs zu beschränken.14 Leider kann uns der Überlieferungskontext im Falle des Athenaios bei unserer Fragestellung nicht weiterhelfen. Denn bei den Fragmenten des Demetrios, die in den Deipnosophisten überliefert sind, geben die Textstellen, an denen Demetrios zitiert wird, meistens keine Anhaltspunkte, die es uns erlauben könnten, Rückschlüsse auf die Art und Weise zu ziehen, wie Demetrios die ihm von Athenaios zugeschriebenen Bemerkungen in einem Kommentar zum Troerkatalog hätte machen können. Im Fall des fr. 1 Gaede/Biraschi 12 13 14

Ragone (2009) 683. Für eine tabellarische Einteilung des Troerkatalogs siehe Brügger/Stoevesandt/Visser (2003) 264. Ein etwas anderer Erklärungsversuch für Athenaios’ Angaben basiert auf einer abweichenden Hypothese bezüglich der ursprünglichen Thematik, zu der das Zitat gehört haben könnte und zeigt, wie bei der Analyse antiker Aussagen auch der Forschungskontext des jeweiligen Gelehrten, d. h. die philologischen Traditionen, denen die modernen Forscher, die sich mit Demetrios beschäftigten, angehören, zum Tragen kommt. Im 19. Jh. hat Richard Stiehle (1850, 531) vorgeschlagen, dass sich Demetrios im ersten Buch nicht mit den Versen des Troerkatalogs beschäftigt habe, sondern mit den Ursachen des Trojanischen Kriegs. In diesem Zusammenhang hätte er dann Menelaos erwähnt und seinetwegen und wegen seiner Reaktion nach dem Raub der Helena, die in fr. 2 erwähnt ist, auch das spartanische Fest ausführlich besprochen. Dieser Ansatz hat zumindest den Vorteil, dass er das zweite Fragment des Demetrios zu den Karneia mehr in den Mittelpunkt rückt, wie es auch in unserem Interpretationsansatz der Fall sein wird. Für eine dritte Hypothese siehe Biraschi (2011) comm. ad fr. 1–2.

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stammt das Zitat aus dem vierten Buch der Deipnosophisten und bildet das zweitletzte Beispiel einer Liste von verschiedenen Festen, die in Sparta stattfanden. Danach werden Feste auf Kreta besprochen, davor diejenigen in Athen.15 Es ist also kein Zusammenhang zur Ilias oder zum Troerkatalog zu erkennen, und Athenaios scheint sich überhaupt nicht für den ursprünglichen Grund für Demetrios’ Aussage und seine Argumentationsziele zu interessieren. Dennoch zeigt eine genauere Analyse dieser Passage, dass der Überlieferungskontext trotz der Distanz, die er zwischen Demetrios und dem modernen Leser aufbaut, uns dem Gelehrten und seiner Arbeitsweise doch auch näher bringen kann. Denn nicht nur das fr. 1 Gaede/Biraschi, sondern auch andere Zitate des Demetrios stehen bei Athenaios auffällig oft am Ende von Listen, und es entsteht der Eindruck, dass Athenaios die Erwähnung des Demetrios als Auszeichnung gebraucht hat, die zeigen soll, dass die Besprechung eines Themas gewissermaßen Vollständigkeit erreicht hat, wenn sie bis zu Beispielen aus dem doch entlegenen und wahrscheinlich selten gelesenen Buch des Demetrios gekommen ist.16 Der Gebrauch des Demetrios bei Athenaios sagt also mehr über die antiken Meinungen, die man von Demetrios hatte, als über sein Werk. Man nahm das Buch des Demetrios wahrscheinlich als ein seltenes, aber sehr gelehrtes Werk wahr, zu dem nicht jeder Zugang hatte und dessen Erwähnung daher ein positives Licht auf den Leser warf und seine Gelehrtheit widerspiegelte.

2.2. Ergänzungen zu fr. 1 Gaede/Biraschi aus Eustathios’ Kommentar zur Ilias Wie groß die Distanz zwischen der Neukontextualisierung bei Athenaios und der ursprünglichen Textstelle ist, kann man sehen, wenn man eine Stelle aus Eustathios hinzuzieht. Ein fast gleicher Wortlaut wie derjenige aus fr. 1 Gaede/Biraschi findet sich nämlich in Eustathios’ Kommentar zu einem der letzten Verse der Ilias.17 Der Name des Demetrios ist in diesem Passus nicht

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Bei Bruit/Schmitt-Pantel (1986) 203–221 findet sich eine sehr genaue Analyse des Aufbaus des 4. Buches. Zum Zitieren als „performance“ der Teilnehmer des Symposions siehe Jacob (2004) 147–174. Eust. ad Il. 24,802–804 (= 1376,39–51).

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erwähnt18 und der Schluss weicht sehr stark vom Inhalt des fr. 1 Gaede/Biraschi ab, so dass er nicht direkt dem Demetrios zugeschrieben werden kann. Trotzdem gibt die Stelle eine andere Perspektive auf den Inhalt des Fragmentes, da sie in einem anderen Argumentationszusammenhang überliefert worden ist. Zunächst ist zu erwähnen, dass Eustathios seinen Kommentar zum Lemma Il. 24,802 macht. In diesem Vers geht es um das Festmahl zu Ehren des toten Hektor. Im Kommentar des Eustathios sind vor allem die Teilnehmer und ihre Anzahl bei den Festen in den homerischen Epen insgesamt hervorgehoben, was bei der von Athenaios gegebenen Version nicht zum Tragen kam, da es dort nur um ein einziges Fest, die Karneia ging. Zweitens ist zu bemerken, dass der Schluss des Kommentars bei Eustathios darauf hinweist, dass bei der übernommenen Erklärung die Zahl Neun auch über die besprochene Stelle hinaus eine große Rolle gespielt haben muss, was aus dem Zitat bei Athenaios ebenfalls nicht ersichtlich wird. Bei Eustathios erlaubt das Beispiel der Karneia den Übergang von der Thematik der Feste bei Homer zur Bedeutung der Zahl Neun bei Homer, was wiederum durch Beispiele belegt wird. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass die Debatte, in der Eustathios diese Angaben macht, ganz sicher nicht den ursprünglichen Argumentationsverlauf bei Demetrios widerspiegelt, da uns weder die Tatsache, dass es sich in der überlieferten Bemerkung um die Abläufe der Feste bei Homer gehandelt hat, noch die Bedeutung der Zahl Neun erlauben, die Aussage mit dem Troerkatalog in Verbindung zu bringen. Zudem wäre es zumindest sehr überraschend, dass Demetrios im ersten Buch einen Vers aus dem 24. Gesang der Ilias kommentiert hätte. Eher war es wohl so, dass Demetrios in einem eher umfangreichen Kommentar zu einem Vers aus den Anfängen des Troerkatalogs einen Vers aus dem 24. Gesang als Parallele o.ä. erwähnt hat, was es dann Eustathios oder seiner Quelle erlaubte, die Situation umzukehren und den Kommentar oder Teile des Kommentars aus dem ersten Buch des Demetrios für die Erläuterung einer Stelle am Schluss der Ilias zu gebrauchen. Der Name des Demetrios ist in der Zeit zwischen Athenaios und Eustathios für diese Erklärung verloren gegangen. Man muss sich daher zwischen Demetrios im 2. Jh. v. Chr. und Eustathios im 12. Jh. n. Chr. mehrere, durch verschiedene, nicht mehr näher bestimmbare Überlieferungsschritte erfolgte Neukontextualisierungen vorstellen, zu denen auch diejenige bei Athenaios im 2./3. Jh. n. Chr. gehört. 18

Die Textstelle wird mit anonymisierter Formulierung κατὰ τὸν ἱστορήσαντα ὡς eingeführt.

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2.3. Fr. 2 Gaede/Biraschi: Theokrit und Pausanias Also sollten wir uns nun dem zweiten Fragment zuwenden, der kürzeren Notiz, die in den Scholien zu Theokrit erhalten geblieben ist: τὰ δὲ Κάρνεα: (…) Δημήτριος δὲ ἀπὸ τοῦ κρᾶναι, ὅ ἐστιν ἐπιτελέσαι. φησὶ γὰρ, ὡς Μενέλαος στρατεύσας εἰς ῎Ιλιον ηὔξατο τιμῆσαι αὐτὸν, ἐὰν κρηήνῃ. (schol. Theoc. 5,83a Wendel = fr. 2 Gaede/Biraschi) Das Karneiafest: (…) Demetrios aber [sagt], dass es von dem Verb „verwirklichen“ (κρᾶναι) kommt, was „vollenden“ (ἐπιτελέσαι) heißt. Er sagt nämlich, dass Menelaos, als er gegen Ilion in den Krieg gezogen war, versprach, ihn (Apoll) zu ehren, falls er es verwirklichte. (Übers. A.T.)

In dieser Notiz wird der Name des Festes durch die Reaktion des Menelaos nach dem Raub der Helena erklärt. Diese Bemerkung, die dem Demetrios namentlich zugeschrieben wird, gehört in den Scholien in eine lange Liste von verschiedenen, nicht miteinander zu vereinbarenden Erklärungen zum Namen des Festes. Diese Liste und ihre Gliederung kann uns weiterhelfen, auch wenn das Zitat selbst sehr viel kürzer ist als fr. 1 Gaede/Biraschi und der komplizierte Entstehungsprozess der Scholien auf wiederholten Neukontextualisierungen beruht, die im Einzelnen nicht mehr erfasst werden können.19 Dies ist vor allem dadurch möglich, dass wir eine zweite Liste von Erklärungen zum Namen des Karneiafests bei Pausanias erhalten haben, die man mit derjenigen aus den Scholien vergleichen kann.20 Zuerst sollten wir uns dem Überlieferungskontext in den Scholien, oder genauer gesagt der Gliederung der in den Scholien aufgezählten Erklärungen zuwenden. Diese werden in den Scholien in vier Gruppen aufgeteilt, die jeweils durch ein ἄλλως getrennt sind, wie es in der älteren Edition von Dübner (1849) zu lesen ist.21

19 20 21

Für Angaben zum Entstehungsprozess der Theokritscholien siehe Wendel (1920), Gow (1952) lxxx–lxxxiv, Maehler (1994) 97–105 und Dickey (2007) 62–65. Paus. 3,13,3–5. Dieses Element ist in der Ausgabe von Wendel (1914) nicht wiedergegeben, und auch die Reihenfolge der Erklärungen wurde dort geändert. Wir werden aber sehen, dass die Anordnung bei Dübner (1849) auch besser zu derjenigen bei Pausanias passt. Für eine genauere Interpretation von λλως siehe Dickey (2007) 108–109 und Nünlist (2009) 12–13.

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schol. Theoc. 5,83: 1) Erklärung 1 und 2: Der Name des Festes wird durch den Seher Karnos erklärt. – Unterschieden werden die zwei Versionen durch die Art und Weise, wie Karnos zu den Herakliden kam. 2) Erklärungen (3–5): Praxilla, Alkman (durch Person), Demetrios (durch Etymologie: κρᾶναι; implizit: Verschiebung des Rho) 3) Erklärung 6: Etymologie – Kornelkirschbaum (ἡ κράνεια) Bei den ersten zwei Erklärungen handelt es sich um solche, die den Namen des Festes (Κάρνεια) auf einen Seher namens Karnos (ἀπὸ Κάρνου μάντεως) zurückführen. Dieser Seher soll von einem der Herakliden getötet worden sein. Der Unterschied zwischen den zwei Varianten liegt darin, dass in der einen eine Wahrsagung des Karnos Skepsis bei den Herakliden hervorrief, da sie ihn für einen Spion der gegnerischen Seite hielten, was andeuten könnte, dass sich das Zusammentreffen erst unmittelbar vor der Prophezeiung ereignete.22 In der anderen begleitet er die Herakliden auf ihrem Zug in die Peloponnes und kam so gleichzeitig mit ihnen auch nach Sparta. Darauf folgt eine Gruppe von eher kurzen Erklärungen, von denen eine der Praxilla,23 eine dem Alkman24 und eine dem Demetrios von Skepsis zugewiesen wird.25 Die ersten beiden Notizen halten eine Person Karnos für den Ursprung des Namens Karneia, während die Erklärung bei Demetrios auf einer Verbalform basiert und es sich also um eine Etymologie handelt. Die letzte Erklärung, die im Scholion erwähnt wird, leitet die Karneia etymologisch aus dem Namen des Kornelkirschbaumes (ἡ κράνεια) ab und verlegt die 22

23 24 25

Für diese Variante wird in den Scholien Theopompus als Quelle angegeben (FGrHist 115 F357), und eine gewisse Unabhängigkeit zwischen dem Orakelspruch des Karnos und dem Zug der Herakliden wird auch bei Ps.-Apollodorus (2,8,3) offenbar. Zudem weist die Ergänzung, die unmittelbar nach der Nennung der Quelle folgt, darauf hin, dass Karnos in dieser Version ein Heerführer der Argiver war und daher wahrscheinlich aus der Peloponnes zu den Herakliden kam. Baudy (1999) 288–290 macht keinen Unterschied zwischen den zwei Versionen, stellt sie aber einer spartanischen gegenüber, die einen Seher namens Krios ins Spiel bringt. Fr. 7 Page. Diese aus Sikyon stammende Dichterin wird in die erste Hälfte des 5. Jh. v. Chr. datiert. Siehe Robbins (2001) 279. Fr. 52 Page. Es handelt sich dabei um den spartanischen Dichter aus archaischer Zeit (zweite Hälfte des 7. Jh. v. Chr.). Vgl. Calame (1996) 512–515. Der Ausschnitt, der als fr. 2 Gaede/Biraschi in den Sammlungen gezählt wird.

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Geschichte in die Troas, wo das trojanische Pferd angeblich aus dem Holz dieses Baumes gebaut worden sei.26 Wenn man sich die Gliederung genauer ansieht, bemerkt man zuerst, dass die Erklärungen, die auf den Namen einer Person zurückgehen, am Anfang stehen und dann ergänzt werden von Erklärungen, die auf einer Etymologie basieren. Die Erklärung des Demetrios scheint daher hier etwas überraschend oder sogar falsch platziert zu sein. Sie ist die einzige in der dritten Gruppe, die auf einer Etymologie beruht.27 Die beiden anderen, mit denen sie zusammengestellt ist, sprechen von einer Person Karnos. In dieser Hinsicht würde die Erklärung des Demetrios besser zur letzten Erklärung passen. Man kann zwar eine Kohärenz in der Anordnung der dritten Gruppe sehen, insofern die Erklärung des Alkman einen Übergang zur Troas und zum trojanischen Mythenkreis herstellt, denn wenigstens für Alkman ist Karnos ein Troer (bei Praxilla ist er ein Sohn des Zeus und der Europa, ohne dass wir erfahren, wo er oder seine Geschichte lokalisiert werden). Trotzdem zeigt der folgende Vergleich mit Pausanias, wie unterschiedlich die Erklärung des Demetrios gegenüber derjenigen von Praxilla und Alkman ist.28 Auch Pausanias gibt zu Beginn seiner Liste zwei konkurrierende Versionen, bei denen die Erklärung auf einer Person basiert. Die erste erzählt, dass schon vor der Eroberung der Dorer in Sparta ein Karneios (Κάρνειος) verehrt wurde, und zwar im Haus eines Sehers namens Krios. Dieser Karneios soll laut Pausanias aber nicht dieselbe Person sein wie diejenige, die dem Kult des Apollon Karneios den Namen gegeben habe. Der Beiname des Apoll stamme vielmehr von einem Karnos (Κάρνος) her, der von einem der Herakliden getötet worden sei. Auch wenn die Erklärungen sehr unterschiedlich formuliert sind und eine weitere Vari26

27

28

Die Reihenfolge in der Edition von Wendel (1914) ist: die Gruppe Praxilla, Alkman und Demetrios vor den zwei, die sich auf den Seher beziehen, wobei diejenige, die Theopompus erwähnt, als erste kommt, und schließlich diejenige, die auf der Etymologie des Kornelkirschbaumes beruht. Auch der Name der Person ist in beiden Editionen unterschiedlich wiedergegeben. So ist z. B. für die Erklärung der Praxilla bei Dübner wie bei Pausanias der Name Κάρνειος gegeben. Dagegen hat Wendel Κάρνος. Diese auffällige Position von Demetrios’ Version ist auch in der Reihenfolge von Wendel zu spüren. Hier würde sie als Einschub zu verstehen sein, der als einziger zwischen zwei Gruppen von Erklärungen, die eine Person involvieren, den Namen mit einer Etymologie erklärt. Für einen tabellarischen Überblick siehe die weiter unten (S. 214) angeführte zusammenfassende Gegenüberstellung.

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ante einführen, passen sie zu den ersten zwei Erklärungen des Theokrit-Scholions. Danach macht Pausanias aber noch eine weitere Ergänzung zu der Person, die in Sparta verehrt werde, und verweist auf ein Gedicht der Praxilla, in dem Karneios (Κάρνειος) als Sohn des Zeus und der Europa erscheint und von Apoll und Leto aufgezogen worden sei. Diese Ergänzung soll bei Pausanias beweisen, dass der Kult für Karneios schon vor der Ankunft der Dorer existierte und daher die zwei Personen, Karnos und Karneios, zu unterscheiden sind.29 Schließlich geht Pausanias über zu einer dritten Erklärung, die auf der Etymologie des Kornelkirschbaumes beruht und wie in den Scholien die letzte ist. Er lässt also diejenigen von Alkman und Demetrios aus, ergänzt die anonyme etymologische Erklärung durch den Kornelkirschbaum aber durch einen für uns wichtigen Zusatz. Er sagt nämlich, dass die Erklärung auf der Verschiebung des Buchstabens Rho im Namen basiert. Dieses letzte Element ist, wie wir sehen werden, auch wichtig für die Erklärung des Demetrios, denn auch sie beruht auf der Verschiebung des Rho, wenn der Name von der Verbalform κρᾶναι kommen soll. Zusammenfassend könnte man also die zwei erhaltenen Aufzählungen folgendermaßen gegenüberstellen: schol. Theoc. 5,83

Paus. 3,13,3–5

1) Erklärung 1 und 2: Der Name des Festes wird durch den Seher Karnos erklärt. – Unterschieden werden die zwei Versionen durch die Art und Weise, wie Karnos zu den Herakliden kam.

1) Erklärung 1 und 2: Der Name des Festes wird durch eine Person erklärt. – Unterscheidung Karnos /Karneios

2) Erklärungen (3–5): Praxilla, Alkman (durch Person), Demetrios (durch Etymologie: κρᾶναι; implizit: Verschiebung des Rho)

– Verweis auf ein Gedicht der Praxilla

3) Erklärung 6: Etymologie Kornelkirschbaum (ἡ κράνεια)

29

2) Erklärung 3: Etymologie – Kornelkirschbaum (ἡ κράνεια) – explizit: Verschiebung des Rho

Dies ist in den Scholien zu Theokrit anders. Die Person heißt in beiden Versionen Karnos, welche Einzelheiten auch immer zu seiner Tötung erzählt werden.

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Für die antiquarische Diskussion über den Namen des Festes Karneia kann daher die folgende hypothetische Struktur erschlossen werden: a) Erklärungen, die auf den Namen einer Person verweisen: 1) Die Person lebte vor den Dorern (Karneios; Pausanias) 2) Die Person wird von den Dorern getötet (Karnos; Pausanias und Scholien) 3) Die Person ist ein Sohn des Zeus und der Europa (Praxilla)30 4) Es handelt sich um einen Troer (Karneos; Alkman) b) Etymologische Erklärungen, die auf der Verschiebung des Rho beruhen: 1) diejenige des Demetrios, die auf die Verbalform κρᾶναι und Menelaos zurückgeht 2) diejenige, die das Wort auf den Kornelkirschbaum (ἡ κράνεια) und auf die Erbauung des trojanischen Pferdes zurückführt Man sieht also, dass bei dem Scholion zu Theokrit der Überlieferungskontext, d. h. die Art und Weise, wie die Erklärung des Demetrios in die dort erhaltene Liste eingeordnet ist, nicht die nötige Hilfe bieten kann, um die Stelle richtig zu verstehen. Nur der Vergleich mit Pausanias hat die Struktur einer möglichen Anordnung der Erklärungen zum Vorschein gebracht, indem der Begriff des Kontextes erweitert wurde. Dieser bezog sich hier nicht mehr nur auf die Textstellen, die sich unmittelbar vor oder nach dem betrachteten Zitat befinden, sondern, soweit dies heute noch möglich ist, auf das Erstellen eines Gesamtbildes der gelehrten Diskussion, die die Erklärungsversuche zu dem spartanischen Fest bezeugen.31

30

31

Bei Pausanias ist dies keine unabhängige Erklärung, sondern wird als Zusatz zu der ersten Geschichte, derjenigen von Karneios, gegeben. In den Scholien wird der Name in der Variante, die der Praxilla zugeschrieben wird, entweder als Karnos (Wendel 1914) oder als Karneios (Dübner 1849) überliefert. Es ist von der Überlieferung her also nicht klar, wie unabhängig von den zwei ersten Erklärungen diejenige der Praxilla gesehen werden sollte. Wir sind also durch den Vergleich von zwei Überlieferungssituationen über die Analyse der erhaltenen Textstellen hinausgekommen und haben eine philologische Debatte entdeckt, die aber nicht nur an schriftliche Ausdruckformen gebunden ist, sondern den Gelehrten wahrscheinlich als konzeptuelles Ζήτημα bekannt war, das sie auf verschiedenste Weise und in unterschiedlicher Breite bearbeiten konnten.

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2.4. Ergänzungen zu fr. 2 Gaede/Biraschi aus den Scholien zur Ilias Um nun aber zu sehen, wie wir aus dieser Gliederung der verschiedenen mythologischen Erklärungen zum Fest der Karneia Angaben erarbeiten können, die uns zum ursprünglichen argumentativen Zusammenhang führen, in dem Demetrios seine Erklärung hätte geben können, müssen wir noch einen weiteren Text besprechen, ein Scholion zu Il. 3,445: νήσῳ δ’ ἐν ΚΡΑΝΑΗΙ : ὅτι οὐκ ἐν Σπάρτῃ ἐμίγη τῇ Ἑλένῃ, ἵνα μὴ περιφανὴς γένηται. καὶ ὅτι ἄδηλον, πότερον ὄνομα κύριόν ἐστιν ἀπὸ τοῦ κρανθῆναι ἐπ’ αὐτῆς πρῶτον τὸν γάμον καὶ τελειωθῆναι τοῦ Ἀλεξάνδρου καὶ τῆς Ἑλένης, ἢ ἐπιθετικῶς τὴν τραχεῖαν· τινὲς γὰρ τὴν λεγομένην Ἑλένην πρὸς τῇ Ἀττικῇ εἶναι ἀπὸ τῆς Ἑλένης, ὅτι ταύτῃ πρώτῃ ἐπέβη. (Schol. A Il. 3,445 Erbse) Und auf der Insel Kranae dir beiwohnte: weil er sich nicht in Sparta mit Helena vereint hat, um sich nicht preiszugeben. Auch weil es unklar ist, ob es ein Eigenname ist, der daher kommt, dass die Heirat von Paris und Helena zuerst dort verwirklicht (κρανθῆναι) und vollendet wurde (τελειωθῆναι), oder ob es als Epitheton „die Raue“ heißen soll. Denn einige sagen, dass die Insel vor Attika, die Helena genannt wird, ihren Namen von Helena hat, weil sie zuerst dorthin ging.32 (Übers. A.T.)

Obwohl es sich auch hier nicht um ein Scholion zum Troerkatalog handelt, hilft uns die Notiz, die Angaben des Demetrios besser zu verstehen. Sie enthält eine sehr ähnliche Erklärung wie diejenige des Demetrios, betrifft aber nicht das Fest der Karneia in Sparta, sondern bezieht sich auf das Toponym Kranae, das eine Insel bezeichnet, auf der Paris und Helena auf der Flucht aus Sparta angeblich den ersten Halt gemacht haben. Es handelt sich um ein Toponym, zu dem viele Lokalisierungshypothesen existierten, dazu noch in Zusammenhang mit einer Episode aus dem trojanischen Epenkreis.33 Dies bringt uns auf einmal sehr nahe an den homerischen Text und an das, was Demetrios dazu hätte sagen können, denn wie dieser stellt sie eine Verbindung zu Menelaos her und argumentiert mit einer ähnlichen Etymologie. Natürlich fehlt hier noch eine Etappe zwischen dem erhaltenen Text und dem Kommentar, den Demetrios zum Troerkatalog geschrieben hat, da es sich bei Kranae 32 33

Siehe auch Str. 9,1,22 (C399). Siehe Kirk (1985) 329; Krieter-Spiro (2009) 154; Mader (1991) 1519 und Markwald (1991) 1519 für einen zusammenfassenden Überblick über die Fragestellungen und die antiken Lokalisierungshypothesen.

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um ein Toponym handelt, das im 3. Gesang der Ilias erwähnt wird, also weder zum Troerkatalog gehört noch zu den Gebieten, aus denen die Verbündeten der Troer kommen. Die Insel Kranae wird nämlich meistens in der Nähe der Küste von Griechenland lokalisiert. Wir sind aber in der Erklärung schon bei Menelaos, Helena und Paris angekommen, und man kann sich die philologische Debatte zu dieser Episode ausmalen, in die auch die Bemerkung des Demetrios passen könnte. Es muss zwei aus dem Verb κρᾶναι abgeleitete Etymologien gegeben haben. Eine erklärte den Namen der Insel Kranae, die andere den Namen des Karneiafests in Sparta. Beide stützen sich auf Elemente aus dem trojanischen Sagenkreis und verweisen auf eine Episode (den Raub der Helena), die dem Anfang der Trojageschichte angehört. Bei Demetrios wird die Reaktion des Menelaos auf den Raub Helenas durch Paris als Erklärung für das Karneiafest gebraucht (κρᾶναι). In der anderen Etymologie erklärt die Nacht, die Helena und Paris dort verbracht haben, den Namen der Insel (κρανθῆναι). Also kann man nun der Debatte, die wir aus den Scholien zu Theokrit und aus Pausanias zusammengestellt haben, einen Zusatz anfügen. Die etymologischen Erklärungen, die auf der Verschiebung des Rho beruhen, wären zu erweitern; neben derjenigen des Demetrios, die das Verb κρᾶναι und Menelaos benutzt, um das Karneiafest zu erklären, würde es eine weitere Erklärung geben, die eine Form desselben Verbs, nun aber ohne Verschiebung des Rho, für die etymologische Herleitung der Insel Kranae gebraucht. Danach würde diejenige Notiz folgen, die das Fest aus dem Kornelkirschbaum erklärt, und wir hätten folgendes Denkschema: a) Erklärungen, die auf den Namen einer Person verweisen: 1) Die Person lebte vor den Dorern (Karneios; Pausanias) 2) Die Person wird von den Dorern getötet (Karnos; Pausanias und Scholien) 3) Die Person ist ein Sohn des Zeus und der Europa (Praxilla) 4) Es handelt sich um einen Troer (Karneos; Alkman) b) Etymologische Erklärungen, die auf der Verschiebung des Rho beruhen: 1) diejenige des Demetrios, die auf die Verbalform κρᾶναι und Menealos zurückgehen – die Verbalform κρανθῆναι soll den Namen der Insel Kranae erklären 2) diejenige, die das Wort auf den Kornelkirschbaum (ἡ κράνεια) und auf die Erbauung des trojanischen Pferdes zurückführt

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Bei solch einer „philologischen Kontextualisierung“ der Erklärung des Demetrios ist es nun auch einfacher zu überlegen, wo die Bemerkung in Demetrios’ ursprünglicher Aussage, d. h. in seinem Kommentar zum Troerkatalog, hätte angesiedelt werden können. Paris, der in der zweiten Etymologie, derjenigen auf κρανθῆναι, eine Rolle spielt, ist natürlich ein Troer, auch wenn er im Troerkatalog nicht namentlich erwähnt wird. Man könnte sich aber vorstellen, dass ein so ausführlicher Kommentar wie der des Demetrios zum ersten Kontingent des Troerkatalogs auch nicht erwähnte Anführer wie Paris behandelt haben könnte und zum Beispiel die Abwesenheit des Namens dieser für die Ilias so wichtigen Figur im Katalog erklärt hätte. Dies ist für andere Helden aus der Ilias bezeugt, etwa für Asteropaios.34 Auch für diesen war die Frage diskutiert worden, warum er im Troerkatalog nicht erwähnt werde, obschon er später ausdrücklich als Anführer der Paionier genannt ist.35 Man könnte sich also denken, dass Demetrios in seinem Kommentar zum ersten Kontingent (Athenaios hat uns ja den Hinweis erhalten, dass es sich um eine Bemerkung aus dem ersten Buch des Werkes handelt) neben Hektor auch Paris erwähnt hat und zum Beispiel bei der Erklärung zur Nichterwähnung seines Namens im Troerkatalog Geschichten auch über ihn erzählte, vor allem diejenige, die den Trojanischen Krieg erklärte. In dieser könnte er dann die alternativen Erklärungsversuche der Insel und des Karneiafests erwähnt haben und sich dann für die erste Etymologie aus unserem oben erstellten Denkschema (Menelaos und das Fest der Karneia) entschieden haben. Das ist natürlich noch nicht bewiesen, da wir einfach zu wenig über die Form, die Struktur oder das Ziel der ursprünglichen Aussage ermitteln können. Die verschiedenen Überlieferungskontexte, in denen gewisse Elemente der Aussage erhalten geblieben sind, und deren Analyse lassen uns zwar die philologische Debatte, in die die Aussage des Demetrios passen könnte, erahnen. Die zahlreichen Etappen und Bearbeitungen, die man sich zwischen dem Werk des Demetrios und den erhaltenen Zitaten denken muss, erlauben es jedoch nicht, über Vermutungen hinaus zu kommen.

34 35

Ragone (2009) 678–679. Schol. b Il. 2,848a Erbse und vor allem schol. bT Il. 21,40 Erbse.

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3. Zusammenfassung In Bezug auf den Begriff des Kontexts hat uns die Analyse einiges gezeigt. Wir sind von den Überlieferungskontexten der zwei Fragmente (fr.1 und fr. 2 Gaede/Biraschi) ausgegangen, d. h. von den Textstellen, in denen sie als Zitate erhalten geblieben sind. In beiden Fällen enthielten die neuen Äußerungen, zu denen sie nun gehörten, allein keine hinreichenden Hinweise, die uns helfen konnten, die erhaltenen Aussagen des Demetrios einem ursprünglichen Passus zuzuordnen. Sogar die Erwähnung des ersten Buches von Demetrios’ Werk bei Athenaios war allein nicht hilfreich, da der Vergleich der zwei Textstellen (fr. 1/Homertext) keine direkten inhaltlichen oder wörtlichen Übereinstimmungen zwischen der erhaltenen Aussage des Demetrios (Einzelheiten zu einem Fest in Sparta) und dem Homertext ergab, den er hätte erklären sollen (dem Troerkatalog). Für beide Fragmente hatten wir aber glücklicherweise zusätzliche Zeugnisse, die dieselbe Thematik behandelten.36 Diese hatten die relevanten Elemente auch wieder sehr unterschiedlich präsentiert, und sie waren in beiden Fällen noch weiter entfernt von dem Wortlaut, den man dem Demetrios anderswo explizit zugeschrieben hat, ja nicht einmal sein Name wurde darin erwähnt oder blieb erhalten. Trotzdem konnten wir bei der Analyse dieser zusätzlichen Zeugnisse weitere Informationen gewinnen, die eine Debatte zum Vorschein brachten, in welche sich die Aussagen des Demetrios einordnen ließen. Die Analyse dieser Problematik brachte uns dazu, eine weitere Dimension des Begriffes „Kontexts“ in Betracht zu ziehen. Denn diese Fragestellung war unabhängig sowohl von den erhaltenen Überlieferungskontexten als auch von dem zu findenden ursprünglichen Argumentationszusammenhang, in dem Demetrios die erhaltenen Aussagen gebraucht haben konnte. Es handelt sich nämlich um eine philologische Debatte, die wir beim Besprechen der verschiedenen Zeugnisse entdeckt haben. In der Tat hatten wir aus den verschiedenen Überlieferungskontexten erfahren, dass es sich um ein Problem handelt, das auch den trojanischen Sagenkreis miteinbezieht und vor allem die Figuren des Menelaos, der Helena und des Paris betraf. Ein weiterer Schritt unserer Analyse verband nun diese Erkenntnisse mit dem, was wir von der vermuteten ursprünglichen Zielsetzung des Werkes in Erfahrung bringen

36

Eine Textstelle aus Eustathios für fr. 1 Gaede/Biraschi und diejenige aus Pausanias sowie das Ilias-Scholion für fr. 2 Gaede/Biraschi.

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konnten (wir wissen ja von Strabon, dass es sich um ein kommentarartiges Werk handelt), und wir haben uns dementsprechend gefragt, welche philologischen Probleme bei den ersten Versen des Troerkatalogs entstanden sein könnten. Die Verbindung beider Schritte brachte schließlich einen Lösungsansatz. In beiden Fällen aber war dieser philologische „Kontext“, der noch hinzugezogen werden musste, um die Fragmente zu verstehen, nicht an individuelle Texte gebunden. Er entstand als eine Summe der Analyse von mehreren relevanten Textstellen und unserem heutigen Kenntnisstand, was die antike Homerphilologie angeht. Literatur Biraschi, A. M. (2011): „Demetrios Skepsios (2013)“ in: Gehrke, H.-J. (Hg.), Die Fragmente der griechischen Historiker, Part V, Brill Online; seit 2011: http://referenceworks.brillonline.com/entries/fragmente-der-griechischen-historiker-v/demetriosvon-skepsis-2013-a2013, (09.05.2016). Baudy, G. (1999): Art. „Karneia, Karneios, Karnos“, in: Cancik, H., Schneider, H. (Hgg.), DNP 6, 288–290. Bruit, L., Schmitt-Pantel, P. (1986): „Citer, classer, penser : A propos des repas des Grecs et des repas des „autres“ dans le livre IV des Deipnosophistes d’Athénée“, AION (archeol) 8, 203–221. Brügger, C., Stoevesandt, M., Visser, E. (2003): Homers Ilias: Gesamtkommentar, Bd. 2: Zweiter Gesang (B), Fasc. 2: Kommentar, München/Leipzig. Calame, C., (1996): Art. „Alkman“, in: Cancik, H., Schneider, H. (Hgg.), DNP 1, 512–515. Dickey, E. (2007): Ancient Greek Scholarship, Oxford. Dübner, F. (1849): Scholia in Theocritum, Paris. Erskine, A. (2001): Troy between Greece and Rome, Oxford. Gaede, R. (1880): Demetrii Scepsii quae supersunt, Greifswald. Gow, A. S. F. (1952): Theocritus, vol. 1: Introduction, Text, and Translation, Cambridge. Jacob, C. (2004): „La citation comme performance dans les Deipnosophistes d’Athénée“, in: Darbo-Peschanski, C. (Hg.), La citation dans l’Antiquité (Actes du colloque du PARSA Lyon, ENS LSH, 6–8 novembre 2002), Grenoble, 147–174. King, M., Reiling, J. (2014): „Das Text-Kontext-Problem in der literaturwissenschaftlichen Praxis: Zugänge und Perspektiven“, in: Jannidis, F., Lauer, G., Winko, S. (Hgg.): Special Issue: Context, Journal of Literary Theory 8,1, 2–30. Kirk, G. S. (1985): The Iliad: a Commentary, vol. 1: Books 1–4, Cambridge. Klausnitzer, R. (2014): „Observationen und Relationen. Text – Wissen – Kontext in literaturtheoretischer und praxeologischer Perspektive“, in: Jannidis, F., Lauer, G., Winko, S. (Hgg.): Special Issue: Context, Journal of Literary Theory 8,1, 55–86. Krieter-Spiro, M. (2009): Homers Ilias: Gesamtkommentar, Bd. 3: Dritter Gesang: (G), Fasc. 2: Kommentar, Berlin. Lenfant, D. (2013): „The Study of Intermediate Authors and its Role in the Interpretation of Historical Fragments“, AncSoc 43, 289–305.

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Annotating Text Reuse within the Context: The Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS)* Monica Berti (Leipzig)

Abstract This paper aims at introducing the Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS), which is a project of the University of Leipzig developed in collaboration with the Perseus Digital Library and the Harvard’s Center for Hellenic Studies. LOFTS is implementing digital standards and tools for documenting quotations and text reuses of Greek and Latin authors and works (i.e., textual fragments). The project has two main tasks: 1) produce machine-readable versions of paper editions of fragmentary authors; 2) develop data models for annotating textual fragments of Classical authors and works in a digital library. LOFTS is constituted by three interconnected projects: 1) the Digital Fragmenta Historicorum Graecorum (DFHG), which is the digital edition of the five volumes of the Fragmenta Historicorum Graecorum edited by Karl Müller in the 19th century; 2) the Digital Athenaeus, which is a digital edition of the Deipnosophistae of Athenaeus of Naucratis with a focus on the annotation of quotations and text reuses for providing an inventory of authors and works cited by Athenaeus and implementing a data model for identifying, analysing, and citing uniquely instances of text reuse; 3) the Digital Marmor Parium, which is an experimental digital edition of a Hellenistic chronicle preserved on stone.

Introduction The Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS) is a project of the Alexander von Humboldt Chair of Digital Humanities at the University of Leipzig developed in collaboration with the Perseus Digital Library at Tufts University and the Harvard’s Center for Hellenic Studies.1 LOFTS is implementing digital standards and tools for documenting quotations and text reuses of Greek and

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This paper is an updated and modified version of Berti et al. (2016a). A description of the project is available at http://www.dh.uni-leipzig.de/wo/lofts/.

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Latin authors and works (i.e., textual fragments). The project has two main tasks: 1) produce machine-readable versions of paper editions of fragmentary authors; 2) develop data models for annotating textual fragments of classical authors and works in a digital library. In the field of textual evidence, fragments are not portions of an original larger whole (as, for example, the Hellenica Oxyrhynchia), but the result of a work of interpretation conducted by scholars who extract and collect information pertaining to lost authors and works embedded in other surviving texts. These fragments include a great variety of formats that range from verbatim quotations to vague allusions and translations, which are only a more or less shadowy image of the original according to their closer or further distance from a literal citation.2 Print editions of fragmentary works include excerpts extracted from surviving sources that preserve references to authors and texts which may be lost or still extant (as, for example, references to the lost author Hellanicus or to the still extant works of Herodotus and Xenophon). This means that these references are separated from the context where they have been preserved and from the textual data about those contexts.3 Therefore, editions of fragmentary works are fundamentally hypertexts and the aim of LOFTS is to produce a dynamic infrastructure for a full representation of relationships between sources, quotations, and annotations about them. In a true digital edition, fragments are not only linked directly to the source text from which they are drawn, but can also be precisely aligned to multiple editions.4 Accordingly, digital fragments are contextualized annotations about reused authors and works, because they are constituted by annotations of pieces of information about authors and works within the source texts where these authors and works are reused.5 In order to represent the complexities of fragmentary literature and the philological needs that editors have to deal with when annotating text reuse in a digital environment, LOFTS is constituted by three interconnected projects that are focused on three different use cases: 1) the Digital Fragmenta His2 3

4 5

Berti (2012) and (2013). For an overview of characteristics, advantages, and limits of print editions of fragmentary authors, see http://demo.fragmentarytexts.org/en/istros.html with examples from Berti (2009). Berti et al. (2009). Almas/Berti (2013); Berti et al. (2014–2015).

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toricorum Graecorum (DFHG), 2) the Digital Athenaeus, and 3) the Digital Marmor Parium.6

1. Digital Fragmenta Historicorum Graecorum (DFHG) The Digital Fragmenta Historicorum Graecorum (DFHG) project is creating a digital version of the five volumes of the Fragmenta Historicorum Graecorum (FHG) edited by Karl Müller and published in Paris by Ambroise Firmin Didot between 1841 and 1873.7 The FHG is a collection of excerpts from many different sources pertaining to more than 600 Greek fragmentary authors. Excluding the first volume, these authors are chronologically distributed and cover a long period of time from the 6th century BC through the 7th century CE. Vol. 1 includes the Atthidographers (Clidemus, Phanodemus, Demo, Androtio, Philochorus, and Ister), Hecataeus of Miletus, Charon of Lampsacus, Xanthus of Lydia, Hellanicus of Lesbos, Pherecydes of Athens, Acusilaus of Argos, Apollodorus of Athens (with fragments of the Bibliotheca), Antiochus of Syracuse, Philistus of Syracuse, Timaeus of Tauromenion, Ephorus of Cuma, Theopompus of Chius, and Phylarchus; Vol. 2 includes authors from the 6th through the 3rd century BC arranged in four books corresponding to different periods of time (520–404 BC, the period between the end of the Peloponnesian War and the time of Alexander the Great, Aristoteles and his disciples, and the period from Alexander the Great to the death of Ptolemy Philadelphus); Vol. 3 includes authors from the 3rd century BC through the 4th century CE arranged in other four books corresponding to different periods of time (247–146 BC, 146–27 BC, 27 BC – 98 CE, 98–306 CE); Vol. 4 includes authors from the 4th through the 7th century CE (306–602 CE) and other authors whose chronology is uncertain; the first part of Vol. 5 includes authors not presented in other sections, such as Aristodemus, Eusebius, Priscus, Joannes Antiochenus, Joannes Malala, Critobulus

6 7

For the technical aspects concerning the implementation of LOFTS see Berti (2016a). The digital version of the DFHG is available at http://www.dfhg-project.org/ with many tools and add-ons for accessing and working with the collection. On the cultural and political environment in which the Fragmenta Historicorum Graecorum were produced and published, see Petitmengin (1983) and Grafton (1997).

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Imbriota, Photius, Anonymi Periplus Ponti Euxini and Dionysius Byzantinus; the second part of Vol. 5 includes fragments of Greek and Syriac historians preserved in Armenian sources (published only in a French translation). Fragments in the FHG are numbered sequentially and arranged according to fragmentary works and book numbers (when these pieces of information are available in the source texts preserving the fragments)8. Every Greek fragment is translated or summarized into Latin. The first volume includes also the text of the Marmor Parium – with Latin translation, chronological table, and commentary – and the Greek text of the Rosetta Stone (Rosettanum) – with a French literal translation as well as a critical, historical and archaeological commentary.9 While produced in the 19th century and superseded by the monumental edition of Felix Jacoby (Die Fragmente der griechischen Historiker), Müller’s FHG is still an important contribution to fragmentary literature. As a matter of fact, it allows to understand the formation of the big critical collections of fragmentary authors in the 20th century, including the genesis of the work started by Jacoby and still under development at Brill.10 This is the reason why we have been producing a digital version of the FHG for preserving its content and allowing readers to access and query the text in a machine-readable format. Moreover, the FHG is very suitable for addressing technical and philogical issues that have to be dealt with when converting into a digital format and therefore preserving every printed critical edition of fragmentary authors and works. The five volumes of the FHG are freely available online and the complete text has been OCRed and converted into a machine-readable text.11 The text is currently being organized into a database with query functionalities.12 One of the different goals of the project is also to produce an XML output of the data and for this reason we have been developing guidelines for marking up the 8

9

10 11

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See, for example, fragment 1 of Istros the Callimachean in the FHG, where the Suda (s.v. Τιτανίδα γῆν) mentions the title and the book number of Istros’ work (… Ἴστρος ἐν α´ Ἀττικῶν …). On the reorganization and expansion of the collection of Greek fragmentary historians by Felix Jacoby, see Jacoby (1909); Schepens (1997); (1998); (2000); (2009) and (2010). See n. 9. On the Brill's Jacoby Online, see http://referenceworks.brillonline.com/ cluster/Jacoby%20Online. On the significance of the FHG see Grafton (1997). The volumes are available through https://archive.org/ and the specific links can be found at http://www.dh.uni-leipzig.de/wo/dfhg/ and at http://www.dfhg-project.org/ with an alignment of the digital version with images of the pages of the FHG. The database is available at http://www.dfhg-project.org/.

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text. The DFHG project uses the EpiDoc subset of the Text Encoding Initiative as its XML tag set. The guidelines are publicly available and are contributing to the development of the EpiDoc community.13 A catalog of all the fragmentary authors collected by Müller in the FHG is being provided with Perseus Catalog identifiers (Record Canonical URIs) and detailed information about the progress of the encoding work.14 The DFHG project is producing a large amount of annotations of text reuses on surviving sources, concurrently building a big survey of fragmentary authors and works that are going to enrich the Perseus Catalog.

2. Digital Athenaeus The Digital Athenaeus project is producing a digital edition of the Deipnosophists of Athenaeus of Naucratis with a focus on the annotation of quotations and text reuses preserved in the text.15 The Deipnosophists (Δειπνοσοφισταί, or Sophists at Dinner, in fifteen books) is the fictitious account of several banquet conversations on food, literature, and arts held in Rome by twenty-two learned men at the house of the Roman patron Larensius. This complex and fascinating work is an invaluable collection of quotations of ancient authors from Homer to tragic and comic poets and lost historians. Since the large majority of the texts cited by Athenaeus is lost, this work is a useful reference tool for scholars of many different topics of Greek antiquities.16 13

14

15 16

XML files of the DFHG project are available at https://dfhg-project.github.io. The repository includes both EpiDoc XML files and well formed XML files that can be used for different research purposes. XML means Extensible Markup Language, that defines a set of rules for encoding documents in a format that is both humanreadable and machine-readable. The TEI (Text Enconding Initiative) is a consortium which collectively develops and maintains a standard for the representation of texts in digital form with a particular focus on XML guidelines (http://www.tei-c. org/index.xml). Catalogs of fragmentary authors collected by Müller and their witnesses, including also a table of concordance with the FGrHist, is available at http://www.dfhg-project.org/. For the Perseus Catalog see http://catalog.perseus.org/ with technical information at http://sites.tufts.edu/perseuscatalog/f-a-q/. See http://www.digitalathenaeus.org/. Zecchini (1989); Braund/Wilkins (2000); Jacob (2001); Olson (2006); Lenfant (2007); Jacob (2013).

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The primary goal of this project is to analyze quotations and text reuses of the learned banqueters with a twofold purpose: 1) provide an inventory of authors and works cited in the Deipnosophists; 2) build a repository of quotation schemes used by Athenaeus when alluding to his sources of information. In order to accomplish these results, the project is focusing on two different kinds of work. The first one is the implementation of a data model for documenting uniquely instances of text reuse within the Deipnosophists, in order to provide a human and machine readable collection of text reuses preserved in the text of the Naucratites and of annotations about them. The second part of the work is to generate new authority lists of fragmentary authors and works cited in the text of Athenaeus.17 As for the annotation of quotations and text reuses, we have been developing a data model based on the Canonical Text Services (CTS), which is a protocol for identifying and retrieving passages of text based on concise, machineactionable canonical citation. CTS is one component of a larger digital library architecture developed for the Homer Multitext project and called CITE (“Collections, Indices, Texts, and Extensions”).18 The CTS URN standard for citation used by the Homer Multitext documents “urn:cts:greekLit:tlg0008.tlg001:” as the URN identifying the Deipnosophists of Athenaeus. This follows, where possible, the identifying numbers in the TLG Canon of Greek Authors and Works, where tlg0008 is Athenaeus and tlg001 is the Deipnosophists.19 To this work-level identifier, we add a version-level identifier, to cite one specific edition, and a passage component, allowing us to capture the complete semantics of a text, as shown in the picture below:20

17

18 19 20

Even if specifically applied to the text of the Deipnosophists, the aim of both kinds of work (i.e., the data model and the authority lists) is to offer data models and tools that are valid for annotating quotations and text reuses in many other sources belonging to different genres and written in different languages. Smith/Blackwell (2012). See http://cite-architecture.github.io/. For the Homer Multitext project see http://www.homermultitext.org/ and Dué/Ebbott (2009). Berkowitz/Squitier (1990). For a catalog of URNs identifying Greek and Latin authors and works, see the Perseus Catalog (http://catalog.perseus.org) and n. 14. See Berti et al. (2016b) and (2016c).

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Fig. 1: Specific URN identifiers for Athenaeus, Deipnosophists The data model specifies six pieces of information that document uniquely and precisely each instance of text-reuse that is analyzed while maintaining a separation of concerns and the integrity of our data. While each analysis is an interpretive act, these six pieces of information allow subsequent readers to evaluate and criticize each analysis with full access to its context (which is, in this case, the text of Athenaeus’ Deipnosophists).21 Furthermore, because all of this analytical work is external to the text, each analysis is non-exclusive. This approach would admit conflicting analyses of the same passage, mutually incompatible delineations of quotations or paraphrases, by different scholars, but all subject to citation and attribution. The resulting data is agnostic of the format of the digital edition to which it points. Even if we are working with an electronic edition of the Deipnosophists in TEI-XML format, no aspect of our documentation of text-reuse assumes TEI-XML or even XML.22 In order to produce the annotations mentioned above and generate new authority lists of fragmentary authors and works, scholars need first of all to access and query machine-readable versions of printed indexes of print editions, which are full of references to authors and works cited in ancient Classical texts. 21

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For a detailed description of the data model with concrete examples, see Berti et al. (2016b) and (2016c). The data from this project (including the annotations of the reuses of the Iliad of Homer in the Deipnosophists) is available at http://digitalath enaeus.github.io/. The digital version of the Deipnosophists is based on the Teubner edition by Georg Kaibel and is available through the Perseus Digital Library. We are also re-editing a digital edition of the Deipnosophists, working to normalize the Greek orthography and punctuation and to remove embedded references (in favour of external indexing such as described here). We will publish the resulting XML file once editing is complete, automatically validated, and verified by human editors. A digital version of the text by Kaibel with tools for searching the text, retrieving citations, and performing named entities recognition, is available at http://www.digitalathenaeus.org/.

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An example of this kind of work has been accomplished by producing digital versions of the indexes of three print editions of the Deipnosophists of Athenaeus of Naucratis: 1) the Index Scriptorum by August Meineke,23 2) the Index Scriptorum and the Dialogi Personae by Georg Kaibel,24 3) the Index of Authors, Texts, and Persons by S. Douglas Olson.25 The digital versions of the indexes have been created starting from the OCR output of the printed volumes. The OCR output has been parsed using bash scripts, and then manually corrected in order to create SQL databases organized in fields containing data (in Latin, Greek, and English) collected and arranged by the three editors for each index entry.26 Two web-based interface tools have been implemented for querying the SQL databases: 1) a Digger that performs queries in the indexes; 2) a Dynamic Graph that produces a graphic visualization of the indexes data. A web-based Application Programming Interface (API) allows to get a JSON output of “digger” queries of the indexes and integrate data into external services. The digital versions of the indexes have been enriched with a conversion of Casaubon references into Kaibel references, which are the two systems used for enumerating and citing the text of the Deipnosophists.27 The conversion has been made possible thanks to the implementation of a Casaubon-Kaibel reference-converter.28 Given that the automatic conversion generates an expansion of data (e.g., Deipn. 6,273a = 6,104 and/or 6,105), the system allows users to disambiguate and vote the correct correspondence between Casaubon and Kaibel paragraphs. These interface tools are useful for many different goals: Get a detailed view of the citations preserved in the Deipnosophists; visualize and correct

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28

Meineke (1859) 452–499. Kaibel (1890) 561–676. Olson (2012) 220–360. See http://www.digitalathenaeus.org (tools). The conversion is necessary because the CTS protocol that we use for citing the text of the Deipnosophists requires canonical citations (i.e., citations that are independent of any particular edition and aligned to inherent units of the text). Kaibel citations (book, paragraphs) are precise and suited for our data model, but, given that every edition of the Deipnosophists (including the one by Kaibel) uses the Casaubon citation system, a converter is necessary. The converter is available at http://www.digitalathenaeus.org/tools/CasaubonKaibel_converter/.

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typos, human errors, and inconsistencies in the print versions of the indexes; correct OCR errors; map indexes data onto the Greek text of the Deipnosophists and annotate text reuses of authors and works quoted by Athenaeus. The next step is to enrich these indexes with other results generated by manual annotations and automatic named entities recognition. The final goal is the production of a comprehensive digital catalog of fragmentary literature with specific entries about reused authors and works.

3. Digital Marmor Parium The aim of the Digital Marmor Parium project is to produce a digital edition of the so-called Marmor Parium (Parian Marble), which is a Hellenistic chronicle on a marble slab coming from the Greek island of Paros. The importance of the document is due to the fact that it preserves a Greek chronology (1581/80–299/98 BC) with a list of kings and archons accompanied by short references to historical events mainly based on the Athenian history.29 The text is particularly significant in connection with LOFTS because the document is the result of a work of an unknown author whose name is lost at the beginning of the stone. This is the reason why the Marmor Parium is part of the Fragmenta Historicorum Graecorum by Karl Müller (FHG 1, 533–590 and of Die Fragmente der griechischen Historiker by Felix Jacoby (FGrHist 239; Jacoby, 1904).30 In this sense, this evidence is a perfect example of a fragmentary author whose work is not preserved through quotations in later texts, but in a fragmented original form (i.e., a material fragment). The aim of the project is not to produce a new edition of the text, but to experiment with it different kinds of annotations concerning ancient chronology and named entities (personal and place names).31 As part of the project we have been producing an XML version of the IG edition of the text according to the EpiDoc Guidelines (IG XII 5, 444), a map of the place names mentioned on the stone through the Recogito interface, a

29 30

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See http://www.dh.uni-leipzig.de/wo/dmp/. For a new edition of the text see Rotstein (2016). The author has kindly agreed to convert into an EpiDoc-XML format her new reconstruction of the text of the Marmor Parium. Berti/Stoyanova (2014).

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timeline visualization of the chronological information preserved in the first part of the stone, and morpho-syntactic annotations of the text according to the Ancient Greek and Latin Dependency Treebank Guidelines 2.0.32

Conclusion LOFTS aims at implementing a model for producing dynamic excerpts from source texts and build an environment where fragments become multi-layered annotations of information concerning fragmentary authors and reuses of their lost works. These dynamic excerpts contribute to the production of a real multitext, where each version of the same text embodies a different step of its transmission and a reconstruction of philological conjectures.33 The project aims also at developing tools and collaborative environments for collecting annotations and contributions by different scholars. Bibliography Almas, B., Berti, M. (2013): „Perseids Collaborative Platform for Annotating Text ReUses of Fragmentary Authors“, in: Tomasi, F., Vitali, F. (Hgg.), Proceedings of the 1st International Workshop on „Collaborative Annotations in Shared Environment: metadata, vocabularies and techniques in the Digital Humanities“, September 10, 2013, Florence, Italy – DH-Case 2013, New York. Berkowitz, L., Squitier, K. A. (31990): Canon of Greek Authors and Works, New York/ Oxford. Berti, M. (2009): Istro il Callimacheo, vol. I: Testimonianze e frammenti su Atene e sull’Attica, Tivoli/Roma (I Frammenti degli Storici Greci. 5). Berti, M. (2012): „Citazioni e dinamiche testuali. L’intertestualità e la storiografia greca frammentaria“, in: Costa, V. (Hg.), Tradizione e Trasmissione degli Storici Greci Frammentari II. Atti del Terzo Workshop Internazionale. Roma, 24–26 febbraio 2011, Tivoli/Roma (Themata. 12), 439–458. Berti, M. (2013): „Collecting Quotations by Topic: Degrees of Preservation and Transtextual Relations among Genres“, AncSoc 43, 269–288. Berti, M., Romanello, M., Babeu, A., Crane, G. R. (2009): „Collecting Fragmentary Authors in a Digital Library“, in: Proceedings of the 2009 ACM/IEEE Joint Conference on Digital Libraries, June 15–19, 2009, Austin, Texas, USA (JCDL ’09), New York, 259–262.

32 33

For accessing these resources see http://www.dh.uni-leipzig.de/wo/dmp/. Blackwell/Crane (2009).

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Monica Berti

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Kontextualisierung, De- und Re-Kontextualisierung am Beispiel von Solons Lebensalterelegie (fr. 27 West)* Beate Hintzen (Bonn)

Abstract According to the theories of New Historicism, texts can only be understood within their cultural context. This approach is subject to certain limitations, however, especially if it is impossible to attribute a text to a specific author or at least to a specific time period without doubt. These problems can be shown using the example of the so-called Elegy of Ages, which has been attributed to Solon of Athens literally for thousands of years. As a first step, the elegy is analysed within the context in which it is usually understood (transmission of the text, Solon’s biography, contemporary texts, the model of sevenyear periods). In a second step, the text is reinvestigated structurally leaving aside all context, in order to detect contradictions between the text and its presupposed context. In a third step, it is set in relation to other contexts. This analysis does show that the elegy has in fact most probably not been written by Solon, and probably not even in Solon’s time, but rather some time later. This should raise awareness around the difficulties of contextualisation, and especially the dependence of contextualisation on attributions of authorship. A decision attributing authorship, even though it may have been made long ago, can be made in error.

1. Die Theorie: Der Text und sein kultureller Kontext Innerhalb des New Historicism wird Literaturwissenschaft seit dem Ende der 1980er Jahre zunehmend als Kulturwissenschaft verstanden1 und die These vertreten, dass kein Text aus sich selbst heraus verstanden werden kann, sondern jeder Text nach Kontextualisierung verlangt. Den Kontext von Texten bildet die *

1

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine unter dem Fokus der Tagung Text, Kontext, Kontextualisierung. Moderne Kontextkonzepte und antike Literatur überarbeitete Version meines Habilitationsvortrags Solons Lebensalterelegie (fr. 27 West) und der Tod des Autors, den ich am 10. Juni 2014 vor der Kommission der Abteilung für Gräzistik und Latinistik der Leopold Franzens Universität Innsbruck gehalten habe. Ich danke allen Beiträgern der Diskussion für anregende Hinweise, insbesondere aber Otta Wenskus. Vgl. Urbatsch (2008) 540.

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Beate Hintzen

Kultur, die ihrerseits in ihrer Textualität lesbar ist.2 Diese Textualität besteht zwar in einer sehr großen Zahl von ungeordneten Einzeltexten, doch da diese Einzeltexte zueinander verschieden enge Beziehungen aufweisen, lassen sich die Texte nach bestimmten thematischen, kommunikativen oder kulturellen Kriterien gruppieren und auf diese Weise geordnete Textmengen identifizieren, die man als Diskurse bezeichnen kann, oder Textbeziehungen ableiten. Natürlich setzt die kulturwissenschaftliche Kontextualisierung, wenn eine holistische Erfassung der den Text umgebenden Kultur angestrebt wird, zum einen auf Seiten des Literaturwissenschaftlers ein immenses Wissen voraus, zum anderen ist der Prozess der Kontextualisierung schlecht objektivierbar, da er an individuelles Wissen gebunden ist. Im Bewusstsein, dass eine tatsächlich holistisch verstandene Kontextualisierung kaum praktikabel ist, fordern die Vertreter der Theorie zusätzlich zum close reading, dem textgenauen Erfassen der Zeichen und Elemente eines Textes, ein gleichzeitiges wide reading, das im co-reading einer Auswahl von Texten besteht, die als repräsentativ für die umgebende Kultur bzw. den entsprechenden Ausschnitt der umgebenden Kultur angesehen werden können.3 Dass diese Auswahl von Texten individuell vorgenommen wird, ist unvermeidlich. Soweit die Theorie, die auf der Annahme basiert, dass der Kontext eines Textes einigermaßen zweifelsfrei bestimmt werden kann. Obwohl ich dieser Theorie selbst sehr zuneige, möchte ich im Folgenden ihre Grenzen in der Praxis für den Fall aufzeigen, dass die Authentizität eines Textes bezweifelt und über seine Kontextualisierung gestritten werden kann.

2. Die Lebensalterelegie und ihr angenommener kultureller Kontext Zur Beschäftigung mit archaischer Lyrik gehört das Bewusstsein, dass wir uns nicht nur hinsichtlich des Kontextes, sondern auch hinsichtlich des Textes auf unsicherem Boden bewegen. Die Text-Corpora der Autoren sind aus PapyrusBruchstücken und Zitaten zusammengesetzt, vollständige Texte aus der Zeit vor Theognis sind Mangelware. Bei den Texten, die dem athenischen Staatsmann Solon zugeschrieben werden, gibt es keine direkte Überlieferung. Alle tradierten Texte sind Zitate späterer Autoren, präsentieren sich uns also in 2 3

Vgl. Hallet (2006) 55–57. Vgl. Hallet (2006) 62–65.

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

237

einem Kontext, für den sie nicht verfasst wurden, im Kontext des zitierenden Textes. Über die Probleme, die diese Form der Kontextualisierung mit sich bringt, gibt der 2006 erschienene Sammelband Solon of Athens insbesondere hinsichtlich der sogenannten „politischen“ Gedichte Auskunft.4 Die frühesten Erwähnungen Solons – anscheinend allerdings ohne wörtliche Zitate – finden sich bei Herodot (Hdt. 1,32,2 = Zusatz zu Sol. fr. 27; Hdt. 5,113,2 = Sol. fr. 19), die Mehrzahl der ihm zugeschriebenen Texte jedoch in der Ἀθηναίων πολιτεία (Sol. fr. 4a; b; c; 5; 6), in Plutarchs Solon-Vita (Sol. fr. 1; 7; 12; 15; 28) und bei Diogenes Laertios (Sol. fr. 2; 3; 10; 20; 30). So bestehen die Kontexte hauptsächlich in der Athener Verfassung und Verfassungsgeschichte sowie in der Person des Solon bzw. dem Bild dieser Person, das die Griechen späterer Jahrhunderte entworfen haben und das in die Neuzeit tradiert wurde. Die sogenannte Lebensalter-Elegie, die auch gern als Alters-Elegie bezeichnet wird,5 das einzige vollständig erhaltene der unter Solons Namen überlieferten Gedichte, wird erst fast 600 Jahre nach dessen vermutlicher Lebenszeit in Schriften von drei jüdisch-christlichen Philosophen zitiert, die in der Zeit zwischen der Zeitenwende und dem 3. nachchristlichen Jahrhundert im Umfeld von Alexandria wirkten. Ob sie überhaupt von Solon verfasst wurde, wird im Folgenden zu diskutieren sein. Die dem Text der Elegie entsprechende Altersgrenze eines Menschen von siebzig Jahren, die Herodot (Hdt. 1,32,2) dem Solon in den Mund legt, ist eine Rechengrundlage, die Solon dem Kroisos für die lange Zeit vorschlägt, in der dem Menschen Schlimmes im Leben begegnen kann. Ein Zusammenhang mit der Lebensalter-Elegie ist möglich, aber nicht sicher. Sollte Herodots Formulierung auf die Elegie anspielen, bedeutet das nicht, dass sie tatsächlich von Solon stammt, sondern nur, dass sie zu Herodots Zeiten Solon zugeschrieben wurde. Die entsprechende Stelle bei Diogenes Laertios (D.L. 1,55) kann ebenso auf Herodot zurückgehen wie auf die zu dieser Zeit längst erfolgte Zuschreibung der Lebensalter-Elegie an Solon. Aristoteles, der Solon sonst gern namentlich nennt und zitiert,6 spricht in der Politik (Pol. 7,1335b32) im Zusammenhang von Altersangaben nur von Dichtern, die das Alter nach der Siebenzahl messen (wie es in der Elegie geschieht). In der Rhetorik gibt Aristoteles einen offen4 5 6

Blok/Lardinois (2006). Vgl. z. B. Wagner-Hasel (2012) 69. Arist. EE 1219b6; NE 1100a11.15; 1179a9; Pol. 1256b33; 1266b17; 1273b34; 35; 41; 1274a11; 15; 1281b32; 1296a19; Rh. 1375b32; 33; 1398b17.

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Beate Hintzen

sichtlich auf der Siebenzahl beruhenden körperlichen Höhepunkt des Mannes zwischen dem 30. und 35. Lebensjahr und einen geistigen Höhepunkt um das 49. Lebensjahr an, ohne irgendeine Quelle zu nennen. Dementsprechend ist die früheste Schrift, in der die Elegie nicht nur zitiert, sondern auch sicher erwähnt und Solon zugeschrieben wird, De opificio mundi (op. mund. 104) des Philo Iudaeus. Von dieser Schrift dürfte das Zitat in den Stromata (Strom. 6,144,3) des Clemens Alexandrinus, der Philo ausführlich verwendete,7 abhängen. Auch der Traktat Περὶ δεκάδος καὶ τῶν ἐντὸς αὐτῆς ἀριθμῶν (p. 37 Heiberg) des Philosophen und Mathematikers Anatolios mag in diese Reihe gehören. Eine Auseinandersetzung um die Authentizität der Elegie wurde vor allem im 19. Jahrhundert geführt. Bedeutende Gelehrte wie Richard Porson, Heinrich Ludolf Ahrens und Hermann Usener vertraten vehement die These, sie sei Solon untergeschoben.8 Sie begründeten diese These mit der Übertragung der homerischen Junktur ἕρκος ὀδόντων, dem „Gehege der Zähne“,9 von den Lippen, welche die Zähne umgeben, auf die Zähne selbst, mit der archaischem Sprachgebrauch nicht entsprechenden Junktur πᾶς τις (v. 7), mit dem Hiat nach der Länge des 2. Daktylos ἐνάτηι ἔτι (v. 15), sowie damit, dass das Gedicht – im Gegensatz zu den anderen überlieferten solonischen – nicht individuell sei. Vor allem aber machen sie geltend, dass die in diesem Text gesetzte Lebensgrenze von 70 Jahren mit Solons Kritik an Mimnermos, das Leben solle nicht nach 60, sondern erst nach 80 Jahren mit einem leidlosen Tod enden (Mimn. fr. 6 West; Sol. fr. 20 West), im Widerspruch stehe. Für die Echtheit plädierten u. a. Theodor Bergk und Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff.10 Heute wird die Authentizität nicht mehr angezweifelt, im Gegenteil, die Elegie wird immer wieder als Beispiel für die Altersbilder der Antike in Anspruch genommen (s.u.). Nun lassen sich einzelne der gegen die Authentizität genannten Gründe sicherlich entkräften. So ist z. B. die archaische Lyrik derart trümmerhaft überliefert, dass nicht auszuschließen ist, dass sich die Junktur πᾶς τις noch an anderen Stellen finden ließe, wenn wir mehr Text besäßen. Ebenso wenig ist auszuschließen, dass ein Autor seine Meinung über eine angemessene Länge des menschlichen Lebens einmal ändert. Doch in der Summe haben die angeführten Gründe Gewicht und sollen im Folgenden um textimmanente und kontextuelle Gründe vermehrt werden. 7 8 9 10

Vgl. Ruina (2000) 855. Vgl. Porson bei Kidd (1815) 207; Ahrens (1848) 227; Usener (1887) 52–53, bes. Anm. 19. Hom. Il. 4,350; 9,409; 14,83; Od. 1,64; 3,230; 5,22; 10,328; 19,492; 21,168; 23,70. Vgl. Bergk (1866) 431; Wilamowitz (1893) 314–315 mit Anm. 12.

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

239

Vor einer weiteren Auseinandersetzung mit Kontexten soll aber zunächst eine Rekapitulation der neun Distichen stehen, in denen das siebzigjährige Leben in zehn Hebdomaden, d. h. Abschnitte von jeweils sieben Jahren unterteilt wird. Mit Ausnahme der siebten und achten Hebdomade, die in einem gemeinsamen Distichon zusammenfasst werden, wird jede Hebdomade in einem Distichon beschrieben: Παῖς μὲν ἄνηβος ἐὼν ἔτι νήπιος ἕρκος ὀδόντων φύσας ἐκβάλλει πρῶτον ἐν ἕπτ’ ἔτεσιν. Τοὺς δ’ ἑτέρους ὅτε δὴ τελέσηι θεὸς ἕπτ’ ἐνιαυτούς, ἥβης †δὲ φάνει† σήματα γεινομένης. Τῆι τριτάτηι δὲ γένειον ἀεξομένων ἔτι γυίων λαχνοῦται, χροιῆς ἄνθος ἀμειβομένης. Τῆι δὲ τετάρτηι πᾶς τις ἐν ἑβδομάδι μέγ’ ἄριστος ἰσχύν, ἧι τ’ ἄνδρες πείρατ’ ἔχουσ’ ἀρετῆς. Πέμπτηι δ’ ὥριον ἄνδρα γάμου μεμνημένον εἶναι καὶ παίδων ζητεῖν εἰσοπίσω γενεήν. Τῆι δ’ ἕκτηι περὶ πάντα καταρτύεται νόος ἀνδρός, οὐδ’ ἔρδειν ἔθ’ ὁμῶς ἔργ’ ἀπάλαμνα θέλει. Ἑπτὰ δὲ νοῦν καὶ γλῶσσαν ἐν ἑβδομάσιν μέγ’ ἄριστος ὀκτώ τ’· ἀμφοτέρων τέσσαρα καὶ δέκ’ ἔτη. Τῆι δ’ ἐνάτηι ἔτι μὲν δύναται, μαλακώτερα δ’ αὐτοῦ πρὸς μεγάλην ἀρετὴν γλῶσσά τε καὶ σοφίη. Τὴν δεκάτην δ’ εἴ τις τελέσας κατὰ μέτρον ἵκοιτο, οὐκ ἂν ἄωρος ἐὼν μοῖραν ἔχοι θανάτου. (Sol. fr. 27 West)

5

10

15

Das Kind, unreif noch und töricht, bekommt zunächst innerhalb von sieben Jahren das Gehege der Zähne und verliert es wieder. Wenn ihm aber ein Gott die zweiten sieben Jahre vollendet hat, [im Alter von 14 Jahren] werden Zeichen sichtbar, dass die Reife eingesetzt hat. Im dritten Jahrsiebt [zwischen dem 15. und dem 21. Lebensjahr] umgibt sich das Kinn mit Bartflaum, während die Glieder noch wachsen, und die Haut verändert ihre Farbe. In der vierten Hebdomade [zwischen dem 22. und dem 28. Lebensjahr] erreicht jeder sein Höchstmaß an Kraft, durch welche die Männer Mittel zur Entfaltung ihrer Tüchtigkeit besitzen. Im fünften Jahrsiebt [zwischen dem 29. und dem 35. Lebensjahr] ist die rechte Zeit, dass der Mann an eine Vermählung denkt und für die Zukunft auf die Zeugung/Geburt von Kindern bedacht ist.11 11

Vgl. dagegen Römisch (1913) 63, der zwar Bergks Konjektur ὡρίου (vgl. Bergk (1866) 431) zurückweist, es aber für unmöglich hält, dass ὥριον das Prädikat bilde, weil sich in diesem Falle nach ὥριον ein syntaktischer Einschnitt ergebe, ὥριον ἄνδρα aber eine metrische Einheit bilde. Römisch bezieht daher in Analogie zu Hes.

240

Beate Hintzen Im sechsten Jahrsiebt [zwischen dem 36. und dem 42. Lebensjahr] reift der Verstand eines Mannes in jeder Hinsicht aus/kommt in Ordnung,12 und er will nicht mehr in gleicher Weise [wie früher] unpassende Dinge tun. In den Hebdomaden sieben und acht [zwischen dem 43. und dem 56. Lebensjahr] hat er das Höchstmaß an Verstand und Sprachfähigkeit erreicht; beide [Hebdomaden] ergeben vierzehn Jahre. In der neunten [zwischen dem 57. und dem 63. Lebensjahr] besitzt er zwar noch Fähigkeiten, doch im Vergleich zur großen Tüchtigkeit sind seine Sprachfähigkeit und seine Klugheit schwächer. Wenn aber einer das zehnte Jahrsiebt vollendet und das Maß erfüllt haben sollte, dann dürfte er nicht vor der Zeit das Los des Todes erleiden. (Übers. B.H.)

Kontext der Elegie ist bei Philo die Zahl Sieben, deren Heiligkeit er zu erweisen sucht. Dass er die Elegie dem „Gesetzgeber der Athener“ (Ph. op. mund. 104: ὁ τῶν Ἀθηναίων νομοθέτης), einem der sieben Weisen, selbst zugeschrieben hat, ist kaum wahrscheinlich.13 Doch wenn er sie in irgendeiner Quelle dem Solon zugeschrieben fand,14 dürfte ihn dies sehr gefreut haben, weil die Bedeutung der Siebenzahl auf diese Weise von einem hochberühmten Griechen beglaubigt wurde.15 Innerhalb desselben Kontextes berufen sich ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Philologen Wilhelm Roscher und Franz Boll

12

13 14

15

Οp. 695: ὡραίος δὲ γυναῖκα τεὸν ποτὶ οἶκον ἄγεσθαι („Zu passender Zeit sollst du eine Frau in dein Haus führen“) ὥριον auf ἄνδρα und übersetzt: „in der 5. Hebdomade soll der reife Mann denken an Hochzeit und Kinder“. Allerdings fällt die imperativische Form aus dem Rahmen des übrigen Gedichts. Römisch erklärt die Abweichung als direkte Hesiod-Referenz. Zu Übereinstimmungen der Elegie mit Hesiod s. u. S. 251–252. Schadewaldt (1933) 299 hält es für bemerkenswert, dass das Wort, das den Reifeprozess bezeichne, aus der Tierzuchtsprache komme. Wahrscheinlich bezieht er sich auf einen Beleg bei dem Lexikographen Hesych (κ 1787, nach schol. Aesch. Eu. 473, vgl. LSJ s.v.), wo das intransitive Partizip Perfekt das voll ausgewachsene Pferd bezeichnet, das seine Fohlenzähne bereits verloren hat. Dieser Beleg ist freilich später als die vorliegende Stelle, genauso wie einige bei Platon (Men. 88b8; Lg. 808d6), wo καταρτύω im Zusammenhang von Erziehung und Bildung gebraucht wird. S. o. Anm. 7. Philo hat in dem Teil von De opificio mundi, in dem er die Heiligkeit der Siebenzahl zu erweisen sucht – so der Übersetzer der Schrift Joseph Cohn (vgl. Cohn et al. (1962) 60 Anm. 1) –, wahrscheinlich den (verlorenen) Kommentar des Stoikers Poseidonios (2. Jh. v. Chr.) zu Platons Timaios benutzt (s. u. S. 253). Zur Bedeutung von Platons Timaios für Philo vgl. auch Ruina (2000) 854. Vgl. Ph. op. mund. 128: τιμᾶται δὲ καὶ παρὰ τοῖς δοκιμωτάτοις τῶν Ἑλλη´νων καὶ βαρβάρων („er (sc. Solon) wird aber sogar von den angesehensten Griechen und Barbaren geschätzt“).

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

241

auf Solon. Während Roscher sich ausschließlich mit der Hebdomadenlehre befasste, stellte Boll die Siebenzahl nur als eines von mehreren Systemen vor, Phasen des menschlichen Lebens zu bezeichnen, und untersuchte die Anbindung der jeweiligen Systeme an kosmische Ordnungen. Roscher legte besonderen Wert auf die große Ähnlichkeit zwischen der Hebdomadenlehre der Elegie und derjenigen in der hippokratischen Schrift περὶ ἑβδομάδων (Hebd. 5),16 wie sie sich aus der folgenden Synopse ergibt: Solon

περὶ ἑβδομάδων Hebdo- Jahre made

Bezeichnung

Kennzeichen

I

1–7

παιδίον „Kleinkind“

παῖς ὀδόντων „Kind“ ἐκβολή „Verlust der Milchzähne“

ὀδόντας φύσας ἐκβάλλει „bekommt und verliert Zähne“

II

8–14

παῖς „Kind“

γονῆς ἔκφυσις „Wachstum der Geschlechtsteile“

ἥβης σήματα γεινομένης „Zeichen einsetzender Reife“

III

γενείου 15–21 μειράκιον „Jugendlicher“ λάχνωσις „Bartwachstum“

γένειον λαχνοῦται, γυῖα ἔτι ἀέξονται, χροιὴ ἀμείβεται „Kinn bekommt Bartflaum, Glieder wachsen noch, Hautfarbe verändert sich“

IV

ἀνήρ αὔξησις 22–28 νεηνίσκος „junger Mann“ ὅλου τοῦ „Mann“ σώματος „Wachsen des ganzen Körpers“

μέγ’ ἄριστος ἰσχύν „erreicht das Höchstmaß an Kraft“

V

29–35 ἀνήρ „Mann“

παίδων γενεή „Kinderzeugung“

16

Bezeich- Kennzeichen nung

ἀνήρ „Mann“

Zum Text περὶ ἑβδομάδων vgl. Roscher (1913) 9–10; zum Vergleich vgl. Roscher (1906) 14–17; (1911) 86–88; (1919) 32–34.

242

Beate Hintzen

VI

36–42 ἀνήρ „Mann“

ἀνήρ „Mann“

VII

43–49 ἀνήρ „Mann“

(ἀνήρ) μέγ’ ἄριστος νοῦν καὶ („Mann“) γλῶσσαν „hat das Höchstmaß an Verstand und Sprachfähigkeit“

VIII

50–56 πρεσβύτης „älterer Mann“

(ἀνήρ) (s. VII) („Mann“)

IX

57–63 γέρων „alter Mann“

(ἀνήρ) γλῶσσα καὶ σοφίη („Mann“) μαλακώτερα „Sprachfähigkeit und Klugheit sind schwächer“

X

64–70 γέρων „alter Mann“

(ἀνήρ) οὐκ ἄωρος θάνατος („Mann“) „der Tod ist nicht vorzeitig“

καταρτύεται νόος „Verstand reift aus“

Analog sind in der ersten und dritten Hebdomade der Verlust der Milchzähne und das Wachsen des Bartes sowie die Tatsache, dass in beiden Einteilungen Hebdomaden zusammengefasst werden, in περὶ ἑβδομάδων die Hebdomaden 5–7 und 9–10, in der Elegie die Hebdomaden 7 und 8. Unübersehbar sind jedoch auch die Unterschiede, dass nämlich der Elegie zufolge die letzte Phase des körperlichen Wachstums in der dritten Hebdomade stattfindet, περὶ ἑβδομάδων zufolge aber in der vierten, dass in περὶ ἑβδομάδων die Hebdomaden ab der fünften nicht mehr beschrieben werden und dass dort vor allem, wie bereits Boll bemerkte, die Jahrsiebte mit einem zweiten Siebenersystem verquickt sind, dem der sieben Lebensalter παιδίον, παῖς, μειράκιον, νεηνίσκος, ἀνήρ, πρεσβύτης und γέρων, dass in der Elegie aber weitgehend auf die Bezeichnung von Altersstufen verzichtet worden ist. Es finden sich nur die Begriffe παῖς und ἀνήρ, Kind und Mann. Obwohl Bolls und Roschers These vom hohen Alter der Hebdomadenlehre mit der Prämisse, dass die Elegie authentisch ist, steht und fällt, bemüht sich keiner der beiden um eine Argumentation für die Authentizität. Vielmehr stellt Roscher die Frage nach der Authentizität überhaupt nicht, während Boll die Gründe, sie anzuzweifeln, als ungenügend ansieht, diese Gründe jedoch nicht diskutiert, sondern sich auf die Nennung der erwähnten Bestreiter und Befürworter beschränkt.17 Für Roscher bildet überdies die (unbewiesene) These vom hohen Alter der Hebdomadenlehre die 17

Vgl. Boll (1913) 26 mit Anm. 2.

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

243

Basis seiner Haupt-These, der entsprechende Teil von περὶ ἑβδομάδων stamme von einem vor-pythagoreischen Autor.18 Diese letztere These hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Als beherrschender Kontext der Lebensalter-Elegie hat sich jedoch die Vita und die Person Solons bzw. deren Image erwiesen, obwohl die Elegie nicht in diesem Kontext überliefert ist. Besonders prägnant und kurz gefasst ist dieses Image in einem Epigramm des prominenten niederländischen Philologen und Dichters Daniel Heinsius aus dem 17. Jahrhundert:19 ΕΙΣ ΣΟΛΟΝΑ Δῖε γέρον, σὺ μὲν ἄστρον ἀμαυροτάτην κατὰ νύκτα παισὶν Ἐρεχθῆος τειρομένοις ἐφάνης, σείων πρῶτα μὲν ἄχθος Ἀθηναίοις ἀπὸ πᾶσι, κοινῆ δουλοσύνην καὶ χρέα λυσάμενος·

18 19

Vgl. Roscher (1906) 15; (1919) 31–32; Boll (1913) 26. Heinsius wurde 1580 in Gent geboren, studierte in Leiden, wurde dort nacheinander zum Professor der lateinischen und der griechischen Sprache, schließlich zum Kustos der Bibliothek ernannt und verstarb 1655 in Leiden. Das zitierte Epigramm ist das vierte in einem Zyklus von 54 Gedichten, dem Peplus Graecorum epigrammatum, „in dem alle bekannteren Philosophen Griechenlands, ihr Preis, ihr Leben und ihre Ansichten durchgenommen und dargelegt werden“: Dan. Heinsii Peplus Graecorum epigrammatum: In quo omnes celebriores Graeciae Philosophi, encomia eorum, vita et opiniones recensentur, aut exponuntur, in: Heinsius (1613) 323–368. Mit diesem Peplus, dessen 54 Epigramme über griechische Philosophen von einem Gedicht an den Adressaten des Zyklus, Hugo Grotius, und einem Gedicht auf das Wesen der Philosophie abgeschlossen werden, stellt Heinsius sich in einer Epistola dedicatoria an Grotius explizit zum einen in die Tradition des Diogenes Laertius und seiner Philosophenviten, deren Anordnung seine Sammlung in loser Anlehnung folgt. In diese Viten hatte Diogenes auch 52 Epigramme aufgenommen, deren Gegenstände meist die Todesumstände des jeweiligen Philosophen sind und die aus der Sammlung seiner Gedichte mit dem Titel Pammetros stammen (vgl. Heinsius (1613) 330). Allerdings kann die Qualität dieser Epigramme vor dem Urteil des Heinsius ebenso wenig bestehen wie vor dem moderner Philologen. So stellt er ihnen sein zweites Vorbild gegenüber (vgl. Heinsius (1613) 331), die Sammlung der Epigramme, die Aristoteles über homerische Helden verfasst hat (Arist. fr. var. 640 Rose) und die den Titel Peplus trägt, weil bei den Panathenäen ein Peplus der Athene zur Schau gestellt werde, der mit Bildern von Taten der Heroen geschmückt sei. Das positive Urteil des Porphyrios über diese Aristotelischen Epigramme übernimmt Heinsius offensichtlich einigermaßen wörtlich aus Eustathios’ Kommentar zu Homers Ilias (Eust. ad Il. 2,557; 285,25–30, p. 439 van der Valk), ohne freilich diese Quelle anzugeben.

244

Beate Hintzen εἶτα νόμους, νέον ἄχθος, ἀμειλίκτοιο Δράκοντος, θεσμῶν μειλιχίων σῶν διαμειβόμενος. Πάτρης δ᾿ αὖ Σαλαμῖνος ἀπώσαο δούλιον ἦμαρ, καλῶς ἀφραδέων, καὶ σοφὰ μαινόμενος.20

5

Göttlicher Greis, du erschienst den geschundenen Kindern des Erechtheus als Stern in dunkelster Nacht, indem du zunächst allen Athenern die Last abschütteltest, da du gleichermaßen Knechtschaft und Schulden aufgehoben hast, (5) und dann die Gesetze des erbarmungslosen Drakon, eine neue Last, mit deinen milden Satzungen vertauschtest. Von deiner Heimat Salamis aber hast du den Tag der Knechtschaft abgewehrt, indem du auf edle Weise unvernünftig und auf kluge Weise wahnsinnig warst. (Übers. B.H.)

Der Text spielt auf zwei bedeutende politische Taten Solons an: zunächst auf das mit seinem Namen verbundene Reformwerk der Seisachtheia, der Lastenabschüttelung, sowie auf weitere Reformen;21 dann auf die Salamis-Elegie, mit der Solon um 600 zur Eroberung der Insel unter Vorspiegelung von Wahnsinn aufgerufen haben soll, um nicht offen gegen das Gesetz zu verstoßen, das einen Antrag auf Eröffnung des Krieges mit Salamis unter Todesstrafe stellte (Plu. Sol. 218; D.L. 1,47). In nur vier Distichen wird in gattungstypischer Verknappung das Bild des Weisen entworfen, des Befreiers aus der Krise. Gleich zu Beginn von Heinsius’ Epigramm aber fällt das Epitheton, das sich für die meisten untrennbar mit dem Namen Solon verbindet, obgleich er zu der Zeit, als er die genannten politischen Leistungen vollbracht haben soll, noch gar nicht alt gewesen sein dürfte, das Epitheton γέρων. Diese Wahrnehmung des Solon ist sicherlich zum einen bedingt durch seine bekannte und erwähnte Kritik an Mimnermos. Noch stärker beeinflusst wurde das Bild Solons als alter Mann aber wohl durch jenen einzeln überlieferten und vielzitierten Vers: γηράσκω δ᾿ αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος (Sol. fr. 18 West, „ich werde alt und lerne dabei immer noch vieles hinzu“), der im Laufe der Zeit geradezu den Charakter einer Chrie annahm. Dies zeigt folgender Passus aus einem Brief August Wilhelm Schlegels an die Herzogin von Broglie vom 9. Dezember 1828:

20 21

Heinsius (1613) 339. Zu den Schwierigkeiten, über Ablauf und Zeit solonischer Reformen sowie über eine zeitliche Kongruenz von Archontat und Gesetzgebung Aussagen zu machen, vgl. Mülke (2002) 179–184 und 367–368.

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

245

Um Ihnen zu beweisen, dass ich kein Faulpelz bin, obwohl ich keine Briefe schreibe, gebe ich Ihnen einen kurzen Überblick über meine Tätigkeit. Vor allem bin ich noch immer unersättlich in der Arbeit und kann wohl Solons Wort auf mich anwenden: ‚Ich werde zwar alt, lerne aber noch immer viel dazu‘.22

Solon ist also, obgleich auch unter seinem Namen der Begriff des κακὸν γῆρας überliefert ist, des „schlimmen Alters“, dem selbst der reiche Mann nicht entgeht (Sol. fr. 24,10 West), in der Vorstellung der Neuzeit der Prototyp des rüstigen, geistig beweglichen Alten. Auch bildlich wird er so dargestellt, wie z. B. in Hartmann Schedels 1493 in Nürnberg publiziertem Liber Chronicarum, der sogenannten Schedelschen Weltchronik:

Abb. 1: Solon, in: Schedel, H., Liber Chronicarum, Nürnberg 1493, fol. LIX. Innerhalb des Kontexts ,Alter‘ entwirft Wolfgang Schadewaldt eine Geschichte des menschlichen Denkens über Jugend und Alter von Homer bis zu den Lyrikern und ordnet die Lebensalter- oder Alters-Elegie in diese geistige Ent22

Vgl. de Pange (1940) 447. Die Herausgeberin bemerkt dazu in einer Anmerkung: „Original Französisch, liegt im Archiv zu Broglie“.

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wicklung ein: In den homerischen Epen zeige sich zwar ein Gegensatz von Jugend und Alter, jedoch mit Vorzügen und Mängeln auf beiden Seiten: physische Kraft, aber Unverstand in der Jugend, physischer Verfall, aber Verständigkeit im Alter.23 Der krasse Antagonismus von angenehmer Jugend und freudlosem Alter sei eine Sichtweise der frühen Lyrik, namentlich des Mimnermos,24 und werde bei Solon überwunden durch eine stufenweise Ordnung des Lebens mit zwei Höhepunkten, einem des Körpers und einem des Geistes, wobei der geordnete Lebensablauf von der δίκη, dem Walten des göttlichen Rechtes, zeuge, das bestimmend für Solons Leben sei.25 Freilich ist das im Gedicht verwendete Signalwort in diesem Zusammenhang nicht δίκη, sondern μέτρον, Maß, Ordnung, in Vers 17. Nichtsdestoweniger dient die Elegie noch 2009 und 2012 als prominenter Referenztext für das Altersbild bzw. die Altersbilder der Antike.26 So liest Ernst Baltrusch die Elegie als Versuch, „das Alter gleichberechtigt neben die anderen Lebenszeiten zu stellen“,27 sieht diesen Versuch aber im Kontrast zur athenischen Lebenswirklichkeit insbesondere der nach-solonischen Zeit,28 während Beate Wagner-Hasel unter Berufung auf Thomas Falkner die Stufen der körperlichen und geistig-rhetorischen Entwicklung als „Abstraktion des Anforderungsprofils an den [Athener] Polisbürger“ interpretiert.29 Einen neuen Weg schlug 1966 Harald Steinhagen ein und versuchte zu zeigen, wie sich das Maß der Lebensordnung in der formal-ästhetischen Ausgewogenheit des Gedichtes verwirkliche. Das Wissen des Dichters um beiderlei Maß aber beruhe auf seinem Wissen um das schwer erkennbare, unsichtbare Maß aller Dinge – Steinhagen bezieht sich hier auf fr. 16 West30 – und

23 24 25

26 27 28 29 30

Vgl. Schadewaldt (1933) 285–292. Vgl. Schadewaldt (1933) 292–297. Vgl. Schadewaldt (1933) bes. 300–301. Vgl. auch Römisch (1913), der weniger die geistesgeschichtliche Entwicklung, in der Solon steht, als den Gegensatz zu Mimnermos in den Blick nimmt, der nur eine ἀκμή der Jugend kenne, während Solon zwei scharf voneinander getrennte Phasen des Lebensablaufs ausschließlich in ihren positiven Aspekten darstelle und diesen Phasen jeweils einen Höhepunkt zuweise. Vollenderin des Lebens aber sei die Zeit. Vgl. Gutsfeld/Schmitz (2009); Wagner-Hasel (2012). Baltrusch (2009) 61. Vgl. ebd. Wagner-Hasel (2012) 70–71. Sol. fr. 16 West: γνωμοσύνης δ᾿ ἀφανὲς χαλεπώτατόν ἐστι νοῆσαι / μέτρον, ὃ δὴ πάντων πείρατα μοῦνον ἔχει („Es ist schwer, das unsichtbare Maß zu erkennen, das allein die Grenzen aller Dinge bestimmt“).

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dieses Wissen sei Solon von den Musen als Wissen um das ἱμερτῆς σοφίης μέτρον („Maß der lieblichen Weisheit“, Sol. fr. 13,52 West), d. h. um das musische Maß geschenkt worden.31 Hierzu verweist Steinhagen auf Entsprechungen zwischen den Distichen 1 und 9 als Anfang und Ende, zwischen den Distichen 4 und 7 als den Höhepunkten mit teilweise gleicher Formulierung (μέγ’ ἄριστος), zwischen den Distichen 3 und 6 als Stufen des Reifens und zwischen den Distichen 2 und 8 als der eines ,schon‘ bzw. ,noch‘. Das 5. Distichon bilde eine Zäsur zwischen den beiden Hälften, eine Retardierung, und hier liege auch der Grund der Zusammenfassung der 7. und 8. Hebdomade, nämlich eine ungerade Anzahl von Distichen zu erhalten, weil sich mit einer geraden Anzahl Entsprechungen nicht darstellen ließen. Die Zusammenfassung gerade der 7. und 8. Hebdomade erklärt er mit der Wichtigkeit der zweiten Lebenshälfte und der Möglichkeit, den zweiten Höhepunkt hinauszuschieben.32 Steinhagens Argumentation scheint jedoch kaum stichhaltig, da erstens sich Entsprechungen mit einer geraden Anzahl von Distichen sehr wohl darstellen lassen, wenn die beiden mittleren Distichen entweder einander entsprechen oder eine Einheit bilden, zweitens die zweite Lebenshälfte eher größeres Gewicht bekäme, wenn eine über zwei Hebdomaden sich erstreckende ἀκμή auch in zwei Distichen gestaltet wäre. Vielmehr gibt es bei einer ungeraden Zahl von Distichen ein mittleres Distichon, ein Zentrum, dessen Funktion wichtiger sein dürfte als die einer Retardierung. Die Entsprechung zwischen dem 2. und 8. Distichon ist sehr abstrakt und gesucht. Zwar findet sich mit dem Adverb ἔτι im 8. Distichon ein ,noch‘, ein ‚schon‘ im 2. aber nicht. Darüber hinaus wurde schon von Kjeld Matthiessen angezweifelt, dass der bereits früher von Allen und Büchner33 für Solon in Anspruch genommene Gedanke, musisches Maß führe zu moralischem Maß, tatsächlich solonisch sein könne. Hier haben wir es vielleicht eher mit pythagoreischem Gedankengut zu tun.34 Dass die Überlegungen Schadewaldts und Steinhagens in hohem Maße von der Diskussion um Jugend und Alter geprägt sind, ist freilich durch das skizzierte übermächtige Solon-Bild in unser aller Köpfen vorgegeben. Überdies verführt zu dieser gedanklichen Verbindung auch der Gleichklang der Pentameterhälften μοῖραν 31 32 33 34

Vgl. Steinhagen (1966) 605–606. Vgl. Steinhagen (1966) 602; 604. Vgl. Allen (1949) 65; Büchner (1959) 189. Vgl. Matthiessen (1994) 400–401.

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ἔχοι θανάτου in der Lebensalter-Elegie und μοῖρα κίχοι θανάτου in Mimnermos’ Todeswunsch im 60. Lebensjahr bzw. Solons Korrektur an diesem Wunsch. Doch wir wissen gar nicht, ob die Lebensalter-Elegie vor oder nach der Mimnermos-Korrektur verfasst wurde.35 Nun spricht Schadewaldt bereits vom „Verschweigen“ von Nöten und Schäden des Alters und Grauen des Todes in der Lebensalter-Elegie.36 In der Tat hat der Tod kein Epitheton, das Wort Alter, γῆρας, fällt überhaupt nicht. Auch von Jugend ist nicht die Rede. Denn ἥβη, das Wort, das Mimnermos für Jugend benutzt, bedeutet in diesem Text, wie es auch von den hier genannten Interpreten verstanden wird,37 eindeutig ,Pubertät, Einsetzen der männlichen Reife‘. Diese wird im Lexikon des Harpokration und im Etymologicum magnum in der Zeit zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr angesetzt, setzt also in Übereinstimmung mit unserer Elegie zu Beginn der dritten Hebdomade ein.38 Die ἥβη steht somit nicht in Opposition zu einem nicht genannten Alter, sondern zu dem im ersten Vers bezeichneten Zustand, ein ἄνηβος, ein „(körperlich) Unreifer“, zu sein, der in der ἥβη über-

35

36 37 38

Albrecht Dihle (1962) hat vorausgesetzt, dass den Anlass zu der Kriegsdichtung, der die fr. 12–14 des Mimnermos zuzurechnen sind, der Feldzug des Alyattes um 600 v. Chr. bildete, und unter dieser Voraussetzung den Mimnermos als wenig jüngeren Zeitgenossen des Solon identifiziert. Auf dieser Grundlage hat er die Vermutung geäußert, dass Solon als etwas über 60jähriger im Jahrzehnt zwischen 580 und 570 auf das eben verfasste Gedicht des noch nicht 60jährigen Mimnermos antwortet. Somit könnte man von der Priorität der Lebensalter-Elegie ausgehen. Das setzt freilich voraus, dass wir auf das Geburtsdatum des Solon um 640 bauen können. Zu den Schwierigkeiten einer solonischen Chronologie vgl. Mülke (2002) 13–16. Vgl. Schadewaldt (1933) 299–300. Vgl. Schadewaldt (1933) 282: Mannheit, 299: Pubertät mit vierzehn Jahren; Steinhagen (1966) 601: beginnende Reife, 602: beginnende Pubertät. EM 359,17–20: Ἐπιδίετες ἡβῆσαι: Τουτέστιν ἐτῶν ἑξκαίδεκα γενέσθαι· τὸ γὰρ ἡβῆσαι μέχρι δεκατεσσάρων ἐστίν. Ἄλλ’ οἱ ἔφηβοι παρὰ Ἀθηναίοις ὀκτωκαίδεκα ἐτῶν γινόμενοι ἐλέγοντο· καὶ ἔμενον μὲν ἐν τοῖς ἐφήβοις ἔτη δύο·(„Zwei Jahre über die Mannbarkeit hinaus sein, d. h. sechzehn Jahre alt sein. Denn das mannbar Werden findet innerhalb von vierzehn Jahren statt. Doch die Epheben wurden bei den Athenern im Alter von achtzehn Jahren so genannt und blieben zwei Jahre bei den Epheben.“) Harp. 123,9–12: Ἐπιδιετὲς ἡβῆσαι: Δημοσθένης ἐν τῷ κατὰ Στεφάνου. Δίδυμός φησιν ἀντὶ τοῦ ἐὰν ιϛ´ ἐτῶν γένωνται· τὸ γὰρ ἡβῆσαι μέχρι ιδ´ ἔστιν. ἀλλ’ οἱ ἔφηβοι παρ’ Ἀθηναίοις ὀκτωκαιδεκαετεῖς γίνονται, καὶ μένουσιν ἐν τοῖς ἐφήβοις ἔτη β´. („Zwei Jahre über die Mannbarkeit hinaus sein. Demosthenes in der Rede gegen Stephanos. Didymos benutzt es für ,sechzehn Jahre alt sein‘. Denn das mannbar Werden findet innerhalb von vierzehn Jahren statt. Doch die Epheben bei den Athenern sind achtzehn Jahre alt und bleiben zwei Jahre bei den Epheben.“).

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wunden wird.39 Schließlich war bereits festzustellen, dass außer παῖς und ἀνὴρ, Kind und Mann, keine Bezeichnungen für Altersstufen verwendet werden.

3. Dekontextualisierung Auf diesem Stand der Überlegungen, dass es im untersuchten Text überhaupt nicht um Jugend und Alter geht, möchte ich – wenigstens für den Augenblick – den von Roland Barthes proklamierten „Tod des Autors“ ausrufen und die Elegie in dem Sinne dekontextualisieren, dass sie von allen kulturellen Kontexten isoliert und einer im wesentlichen strukturalen Analyse unterzogen wird.40 Betrachtet man nämlich den Text für sich, springt natürlich zunächst die distichenweise Strukturierung durch Zahlen und Zahlbegriffe in die Augen, allerdings ist auch eine gewisse Varianz in der Verteilung auf verschiedene Versteile sowie ein unregelmäßiger Wechsel von Ordinal- und Kardinalzahlen zu beobachten. Daneben zeigt sich eine isotopische Zweiteilung des Gedichtes, von der das mittlere Distichon ausgenommen ist. Während für die ersten vier Distichen Substantive aus dem Wortfeld ,Körper‘ bestimmend sind (ὀδόντες, ἥβη, γένειον, γυῖα, χροιή), ist es in den Distichen sechs bis neun das Feld ,Geist, Denken, Sprache‘ (νοῦς, γλῶσσα, σοφίη). Auffällig ist hierbei die größere Anzahl von Substantiven in der ersten Hälfte, der eine entsprechende Anzahl von zugehörigen Verben korrespondiert (φύειν, ἐκβάλλειν, γίγνεσθαι, ἀέξεσθαι, λαχνοῦσθαι, ἀμείβεσθαι), die alle Prozesse bezeichnen. In der zweiten Hälfte ist den genannten Substantiven nur die eine Verbform καταρτύεται, „er reift aus“, zuzuordnen. Gemeinsam ist den beiden Teilen das Wortfeld der ,Fähigkeit‘ oder ,Bestform‘ im Bereich von Substantiv, Adjektiv und Verb, ἀρετή, ἄριστος und πείρατα ἔχειν in der ersten Hälfte, ἀρετή, ἄριστος und δύνασθαι in der zweiten Hälfte. In der ersten Hälfte des Gedichtes überwindet der Mann also in mehreren Prozessen den kindlichen Zustand, körperlich ein ἄνηβος, ein „Unreifer“, zu sein, und entwickelt sich zum Gegenteil, zur Bestform. In der zweiten Hälfte 39 40

Vgl. Römisch (1933) 61 (Beginn in der 2. Hebdomade, in der 3. Konkretisierung der σήματα). Man mag argumentieren, dass bei einer strukturalen Analyse die syntagmatischen Beziehungen der im Text verwendeten Zeichen, d. h. interne Kontextbeziehungen untersucht werden. Jedoch ist dieses Kontext-Konzept grundsätzlich vom Konzept des kulturellen Kontextes verschieden.

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überwindet er in nur noch einem Prozess den kindlichen Zustand, geistig ein νήπιος, ein „Törichter“, zu sein – denn νήπιος war ja das zweite Adjektiv, welches das Kind bezeichnete –, und entwickelt sich ebenfalls zum Gegenteil, zum οὐδὲ ἀπάλαμνα, „dem nicht mehr unpassenden“, hin zur Bestform.41 Die Grade von Fähigkeit oder Bestform werden in der ersten Hälfte einmal durch μέγας, in der zweiten zweimal durch μέγας und einmal durch μαλακώτερος spezifiziert. Körperliche und geistig-sprachliche Leistungsfähigkeit erreichen in verschiedenen Lebensphasen ihren Höhepunkt. Zum Ende hin wird ein Abfall der geistig-sprachlichen Leistungsfähigkeit konstatiert, von einem Abfall der körperlichen Leistungsfähigkeit ist nicht die Rede, geschweige denn von weißem Haar und steifen Knien wie bei Sappho42 und Alkman.43 Eine Bewertung der Lebensphasen oder der verschiedenen Fähigkeiten oder gar ein Vergleich von Lebensphasen oder Fähigkeiten findet nicht statt. Kommen wir zurück auf die beiden einzigen verwendeten Altersstufen παῖς und ἀνήρ und ihre etwas merkwürdige Verteilung im Text. Die Bezeichnung für die Altersstufe des erwachsenen Mannes findet sich im vierten und im sechsten Distichon, d. h. in den beiden das zentrale fünfte Distichon rahmenden Verspaaren, die Altersstufe des Kindes erwartungsgemäß zu Beginn des Textes, und zwar nicht nur im ersten Distichon, sondern gleich als erstes Wort. Sie findet sich aber auch im zentralen fünften Distichon. In diesem Distichon findet sich überdies – und zwar am Pentameter-Ende und damit an betonter Stelle das Wort γενεή, Zeugung bzw. Geburt, der Gegenbegriff zum Tod, der das allerletzte Wort bildet. Dass das mittlere und das letzte Distichon aufeinander bezogen sind, lässt sich auch daran ablesen, dass sich in diesen beiden Distichen, und zwar nur in diesen beiden Distichen mit ὥριον und οὐκ ἄωρος Zeitangaben finden und dass diese Zeitangaben bedeutungs- und stammgleich sind. Verbindet man nun Anfang, Mitte und Ende, ergeben sich drei große Entwicklungsschritte im Leben des Mannes: Kind, erwachsener Mann und Tod. Im Zentrum des Lebens aber steht die Zeugung von Kindern. Also setzt dieses Zentrum den dargestellten Ablauf von Geburt, Aufwachsen und Tod neu in Gang und macht das Gedicht zu einem Abbild des Kreislaufs von Entstehen, Werden und Vergehen im menschlichen Leben. Damit hat offensichtlich die körperliche Entwick41 42 43

Vgl. Römisch (1933) 61, 66. Sappho 58 Lobel/Page + P. Köln 21351+21376. Zur Rekonstruktion des sogenannten Tithonus-Gedichtes vgl. West (2005). Alcm. fr. 26 Page/Davies = 94 Diehl.

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lung des Mannes mit der Kinderzeugung ein Ziel, ein τέλος, seine geistige Entwicklung aber nicht. Das ist insofern erstaunlich, als der Höhepunkt der geistigen Entwicklung sich über zwei Hebdomaden, die siebte und achte, erstreckt und während zweier weiterer Hebdomaden, der fünften und achten, sich auf einem Niveau nur wenig unter der Bestform bewegt. Das Leben des Mannes wird also wenigstens 28 Jahre lang durch Verstand und Sprachfähigkeit geprägt, während die körperliche Bestform nur eine Hebdomade währt.44 Hiermit mag die kontextunabhängige Interpretation ihr Ende finden.

4. Re- oder Neu-Kontextualisierung Betrachten wir nun den Text wieder im Kontext der griechischen Archaik bzw. zunächst einmal der epischen und lyrischen Dichtung der Archaik, so überrascht uns die Darstellung des Kreislaufs von Geburt, Zeugung und Tod in einer Gesellschaft, in der Genealogien eine bedeutende Rolle spielen, kaum. Wie es für homerische Helden wichtig ist, ihre Abstammung möglichst weit, am besten bis zu einem Gott, zurückverfolgen zu können, ist es für sie ebenso wichtig, Kinder zu zeugen, am besten Söhne, am besten fünfzig an der Zahl wie Priamos. Denn durch die Zeugung von Kindern sichert der Mann seine Existenz im Alter und überwindet seine eigene Sterblichkeit mit der Fortführung des Geschlechtes. So formulierte Römisch bereits 1933 bezüglich des mittleren Distichons: „Die ersten fünf Stufen bilden eine geschlossene Einheit der körperlichen Entwicklung vom Kind zum Mann, Heirat und Kinderzeugung sichern die Weiterexistenz des Mannes in der Familie.“45 Bemerkenswert ist freilich, dass Hesiod das gleiche Alter wie die Elegie für die rechte Zeit der Hochzeit (und damit auch für die Kinderzeugung) nennt46 und dass es noch eine weitere Übereinstimmung mit Hesiod (und Homer) gibt:

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45 46

Vgl. dagegen Römisch (1933) 66–67, der im gesamten Lebensablauf eine positive Zielsetzung sieht, einen Neuanfang mit der geistigen Aufwärtsentwicklung nach dem Abschluss der physischen, eben einen positiven Kontrast zur Mimnermos’ Opposition von schöner Jugend und freudlosem Alter. Vgl. Römisch (1933) 63–64. Hes. Op. 696–697: μήτε τριηκόντων ἐτέων μάλα πόλλ᾿ ἀπολείπων | μήτ᾿ ἐπιθεὶς μάλα πολλὰ („weder soll dir an dreißig Jahren allzu viel fehlen noch sollst du allzu viel darüber hinaus sein“).

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Wie in der Elegie und wie in Homers Erziehungsziel junger Adliger47 wird in Hesiods Darstellung des silbernen Zeitalters (Hes. Op. 127–142) der Mann durch die Dichotomie von Körper (φυή) und Geist (νόημα) bzw. Sprache beschrieben (Op. 129). Außerdem bezeichnet Hesiod wie der Autor der Elegie den Knaben (Op. 130: παῖς) als νήπιος, ja sogar als μέγα νήπιος (Op. 131). Dieser Knabe erreicht (nach 100 Jahren, Op. 130) zwar die ἥβη (Op. 132), überwindet aber im Gegensatz zu demjenigen der Elegie die νηπιότης nicht (Op. 133–134) und wird daher auch nicht lebensfähig. Insofern wirkt die Entwicklung des Mannes in der Elegie gewissermaßen wie eine Kontrastimitation des Mannes in Hesiods silbernem Zeitalter. Überraschend ist im Kontext der griechischen Archaik, dass die teleologische Perspektive der körperlichen Entwicklung allein in der Kinderzeugung besteht und eine teleologische Perspektive in der Entwicklung von νοῦς bzw. σοφίη und γλώσσα gänzlich fehlt. Überraschend ist dieses Fehlen, weil die Archaik die Verewigung herausragender Taten, die der Mann mit Hilfe von Körperkraft, Verstand und Sprachfähigkeit vollbringt, d. h. die Überwindung des Todes durch Ruhm und Erzählung längst kannte. Unsterblich ist Achill nicht durch die Zeugung des Neoptolemos geworden, sondern durch den Ruhm, den er sich erwarb und der in der Ilias und anderswo verewigt wird, wo die κλέα ἀνδρῶν (Hom. Il. 9,189; 524), die Rühme der Männer, gesungen werden. Umgekehrt ermahnt Mentes/Athene den jugendlichen Telemach, als er sich nicht gegen das unverschämte Benehmen der Freier seiner Mutter Penelope wehrt: „Sei tapfer, damit dich einer der Spätgeborenen rühmt“.48 Kaum vereinbar aber erscheint das Fehlen dieser Perspektive mit dem Bild, das wir uns von Solon auf Grund seiner Darstellung durch Aristoteles bzw. Pseudo-Aristoteles, Plutarch oder Diogenes Laertios, vor allem aber auf Grund der politischen Texte gemacht haben, die ihm zugeschrieben werden. Wir finden die Rechtfertigung und das Herausstreichen der eigenen politischen Leistung in Elegien (Sol. fr. 5 West), Tetrametern (fr. 33 West) und Trimetern (fr. 36 West). Eine Rechtfertigung richtet sich natürlich zunächst einmal an Zeitgenossen, die Darstellung der Leistungen in der ehrgeizigen griechischen Gesellschaft doch sicherlich auch an die Nachwelt. Dass aber

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Hom. Il. 9,443: μύθων τε ῥητῆρ’ ἔμεναι πρηκτῆρά τε ἔργων („ein Redner von Worten zu sein und ein Täter von Taten“). Hom. Od. 1,302: ἄλκιμος ἔσσ᾿, ἵνα τίς σε καὶ ὀψιγόνων ἐῢ εἴπῃ.

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Dichter sich schon früh der Selbstverewigung durch ihr poetisches Werk bewusst waren, wird u. a. belegt durch Alkaios49 und Sappho,50 bei letzterer auch in negativer Formulierung.51 Letztlich zeugt schon Homer vom Wissen der Verewigung von Lob und Tadel durch Dichtung (ἀοιδή).52 Kommen wir jedoch zurück auf den Kreislauf von Zeugung und Geburt. Dieser Kreislauf lässt sich nicht nur im genealogischen Denken kontextualisieren, sondern auch in der philosophischen Lehre von Zyklen des Werdens und Vergehens der Menschheit, einer Lehre, die von Anaximander und Empedokles vertreten wird, besonders aber von den Pythagoreern und später von Platon, Aristoteles und den Stoikern.53 Aus diesem Umfeld stammt möglicherweise auch die Quelle, der Philo die Elegie entnommen hat. Joseph Cohn, der Übersetzer der Schrift De opificio mundi, nimmt nämlich an, dass Philo den (verlorenen) Kommentar des Stoikers Poseidonios (2. Jh. v. Chr.) zu Platons Timaios benutzt hat, in dem es um die Weltentstehung und um Sein, Werden und Vergehen geht.54 Weitgehend unerwähnt geblieben, aber wohl doch bemerkenswert ist die Tatsache, dass das Hebdomaden-System in der Lebensalter-Elegie, da ja zehn Hebdomaden angesetzt werden, mit dem Dekaden-System verbun-

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Alc. fr. 309 Lobel/Page (=13 Diehl): Τὸ γὰρ θέων ἰότατι ὔμμε λαχόντων †αφυτον θήσει γέρας („Derer, die euch (sc. ihr Musen) nach dem Willen der Götter erlangen, wird ? eine ? Ehrengabe veranlassen“); Text nach Apollonios Dyskolos, Pron. 100,13: τὸ γὰρ θέων ἰότητ’ ὔμμε λαχόντων γέρας ἄφθιτον ἀνθήσει („Derer, die euch (sc. ihr Musen) nach dem Willen der Götter erlangen, wird eine Ehrengabe unvergänglich blühen.“); Schneider (1878) 100,13. Sapph. fr. 147 Lobel/Page (= 59 Diehl): μνᾶσαθαί (Casaubon: μνᾶσεθαί) τινά φαιμι (cod. M: φαμι) †καὶ ἕτερον† (Volger: ὕστερον; Edmonds: ἄψερον) ἀμμέων („an uns erinnert sich einer, meine ich, auch noch ein anderes Mal“). Sapph. fr. 55 Lobel/Page (= 58 Diehl): κατθάνοισα δὲ κείσηι οὐδέ ποτα μναμοσύνα σέθεν | ἔσσετ’ οὐδὲ †ποκ’† ὔστερον· οὐ γὰρ πεδέχηις βρόδων | τὼν ἐκ Πιερίας· ἀλλ’ ἀφάνης κἀν Ἀίδα δόμωι | φοιτάσηις πεδ’ ἀμαύρων νεκύων ἐκπεποταμένα („Wenn du stirbst, ist es aus: Späterhin fragt keine Erinnerung, | keine Sehnsucht nach dir, weil du ja nie an den Pierischen | Rosen Anteil gehabt. Unscheinbar gehst du in des Hades Haus | zu den Schatten hinab, kraftlos wie sie fliegst du hinweg, ein Nichts.“; Übers. Treu). Hom. Od. 24,192–202, bes. 196–198: τῷ οἱ κλέος οὔ ποτ’ ὀλεῖται | ἧς ἀρετῆς, τεύξουσι δ’ ἐπιχθονίοισιν ἀοιδὴν | ἀθάνατοι χαρίεσσαν ἐχέφρονι Πηνελοπείῃ („Daher wird ihr der Ruhm ihrer Trefflichkeit niemals vergehen, sondern die Götter werden den Erdenmenschen Veranlassung zu lieblichem Gesang zu Ehren der klugen Penelope geben“). Vgl. Guthrie (1957) 63–69. Vgl. Cohn (1962) 60 Anm. 1.

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den wird. Die Zehn aber ist die vollkommenste Zahl bei den Pythagoreern,55 so dass die Elegie mit der Zehnzahl und dem Kreislauf von Werden und Vergehen zwei Elemente enthält, die in einen pythagoreischen Kontext passen. Es bleibt noch ein Kontext zu erwähnen, der pragmatische Kontext des Symposions. Die Möglichkeit der Einordnung in diesen Kontext wird mittlerweile für einige politische Gedichte, die Solon zugeschrieben werden, namentlich fr. 5, 36. West und 37, angezweifelt.56 Im Gegensatz nämlich z. B. zu den Gedichten des Archilochos, die über die Beschwörung des gemeinsamen Feindes zur Identitätsstiftung der beim Symposion anwesenden Hetairie dienen können, zeige sich das Sprecher-Ich in den drei genannten Texten durch die Bilder des beide Seiten schützenden Schildes (fr. 5,5–6 West), des Wolfes unter vielen Hunden (fr. 36,27 West) und des Grenzsteines zwischen Heeren (fr. 37,9–10 West) in der Gesellschaft isoliert, nicht als Mitglied einer Gruppe, die als sympotischer Adressatenkreis angesehen werden könne. Der Inhalt der Lebensalter-Elegie ist hingegen nicht nur simpel, „eigentlich nur ein merkvers [sic]“, so Wilamowitz,57 sondern betrifft alle Menschen gleichermaßen und ist in einer Weise präsentiert, dass er bei vielen Zuhörern weitgehende Zustimmung finden kann. Insofern ist die Elegie für einen Vortrag beim Symposion gut geeignet. Die distichenweise Reihung der einzelnen Hebdomaden mag sogar den Gedanken an einen Rundgesang aufkommen lassen, bei dem einzelne Symposienteilnehmer jeweils ein Distichon über eine Hebdomade beisteuern. Gegen diese Überlegung spricht allerdings zum einen die Überlegung, dass Texte, die mündlich entstanden und tradiert wurden, im Gegensatz zu dieser Elegie oft nicht fest sind, sondern zu Varianten tendieren,58 zum anderen die geschlossene Form des Textes, der zwischen den Worten παῖς und θάνατος, zwischen Kind und Tod, d. h. Anfang und Ende aufgespannt ist. Wahrscheinlich ist die Elegie also von einem einzigen Autor verfasst worden.

5. Fazit Fassen wir zusammen: Die Lebensalter-Elegie ist keine Apologie des Alters; von einem Antagonismus von Jugend und Alter ist nicht die Rede; dem Kon55 56 57 58

Vgl. Riedweg (2002) 680. Vgl. Stehle (2006) 109–111. Wilamowitz (1893) 314. Vgl. zum Phänomen Bumke (1996); Müller (1999).

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text einer Altersdebatte ist die Elegie also nicht zuzuordnen. Das Bild des Mannes als dichotomisches, d. h. einerseits aus Körper, andererseits aus Geist/Sprachfähigkeit zusammengesetztes Wesen findet sich bereits in archaischer Dichtung. Dass das Erreichen der ἥβη, die Überwindung der kindlichen νηπιότης und die Kinderzeugung wesentliche Stationen im Leben eines Mannes darstellen, steht ebenfalls im Einklang mit archaischem Denken. Das Fehlen eines Lebensziels außer der Kinderzeugung ist schon mit archaischen Vorstellungen im Allgemeinen nicht vereinbar, erst recht nicht mit Vorstellungen, die sich aus politischen, Solon zugeschriebenen Texten ergeben. Der Überlieferungskontext scheint also irreführend zu sein: Die Elegie ist entgegen der Überlieferung wahrscheinlich nicht von demselben Autor verfasst worden wie die politischen Gedichte und gehört vermutlich überhaupt nicht in den solonischen Kontext.59 Die in der Elegie verwendete Hebdomadenlehre ist mit der Lehre von Zyklen des Werdens und Vergehens der Menschheit verquickt, einer Lehre, die vorwiegend von nach-solonischen Denkern und Autoren vertreten wird. Die Hebdomadenlehre ist mit der Dekadenlehre verquickt, die pythagoreisch und damit nach-solonisch ist. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist die Elegie nicht von einem Autor der solonischen Zeit verfasst worden. Sie kann also nicht als Beleg für das Bestehen der Hebdomadenlehre in solonischer oder gar vor-solonischer Zeit

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Der Zweifel an der Authentizität dieses Gedichtes steht in Einklang mit den Zweifeln, die einige Forscher der jüngeren Zeit unter verschiedenen Aspekten an der Authentizität von politischen, unter Solons Namen tradierten Texten anmelden: Lardinois (2006) 32–33 geht auf Grund von divergierenden Varianten von einer mündlichen Tradition aus, in der die solonischen Gedichte entsprechend der aktuellen politischen Situation verändert wurden, sozusagen ein update erfuhren; Blaise (2006) 129–131 formuliert eine „solonische Frage“, nach der die Solon zugeschriebenen Gedichte entweder von Solon oder (einem) anderen Autor(en) des 6. vorchristlichen Jahrhunderts verfasst wurden; Stehle (2006) 109–111 hält Solons politische Gedichte auf Grund ihrer Unrezitierbarkeit in sympotischen Kontexten gar möglicherweise für Produkte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Besonders im Zusammenhang mit Lardinois’ updates ist es vielleicht bemerkenswert, dass sowohl Philo (op. mund. 103) als auch Censorinus (Cens. 14,7) in ihren Paraphrasen der solonischen Elegie die physische und geistige Entwicklung um eine ethische Komponente erweiterten. Wie Aristoteles (Rh. 1389a–1390b; vgl. auch Hor. Ars 156–178) in seinem dreigliedrigen Lebensstufenmodell von Kind/Jugendlicher, erwachsener Mann und Greis die Bemeisterung der Leidenschaften als wesentliches Merkmal der mittleren Lebensstufe nennt, setzt Philo diese Besonnenheit in der 9., Censorinus aber in der 6. Hebdomade an.

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dienen. Sie könnte im Kontext nach-solonischer philosophischer Theorien verfasst und beim Symposion vorgetragen worden sein. Zur Deutung des Gedichtes ist durch De- und Rekontextualisierung wenig gewonnen, im Gegenteil vieles verloren worden. Doch war Deutung nicht das Ziel der vorgelegten Überlegungen. Die textimmanente Betrachtung diente als radikales Mittel, um Widersprüche zwischen dem untersuchten Text und denjenigen kulturellen Kontexten aufzudecken, in die er unter der Prämisse der korrekten Zuschreibung an Solon seit über 2000 Jahren eingebettet wird. Ziel des gesamten Verfahrens war es, Grenzen und Unsicherheiten deutlich zu machen, deren wir uns bewusst sein müssen, wenn wir einen Text innerhalb seines kulturellen Kontextes untersuchen. Beruht die Kontextualisierung eines Textes, den wir mit Sicherheit einem bestimmten Autor zuschreiben können, wie eingangs festgestellt, schon grundsätzlich auf individuellen Vorentscheidungen, so bewegen wir uns auf noch viel unsichererem Boden, wenn schon die Zuschreibung eine individuell vorgenommene Prämisse darstellt. Doch sollte immerhin sorgfältig geprüft werden, ob Text und angenommener Kontext miteinander kompatibel sind, auch wenn möglicherweise etablierte und lieb gewonnene Zusammenhänge aufgegeben werden müssen. Der Versuch der Re- oder Neu-Kontextualisierung der sogenannten Alterselegie ohne Autor-Zuschreibung bleibt notwendigerweise recht vage. Mit einiger Zuversicht können nur die Bezüge zu den Werken Homers und Hesiods betrachtet werden, da sie mit großer Sicherheit vor der untersuchten Elegie entstanden sind, die vorgestellten Bezüge zu pythagoreischem Denken sind möglich, aber nicht zwingend. Literatur Ahrens, H. L. (1848): „De hiatu apud elegiacos Graecorum poetas antiquiores“, Philologus 3, 223–237. Allen, A. W. (1949): „Solon’s Prayer to the Muses“, TAPhA 80, 50–65. Baltrusch, E. (2009): „An den Rand gedrängt – Altersbilder im Klassischen Athen“, in: Gutsfeld, A., Schmitz, W. (Hgg.), Altersbilder in der Antike. Am schlimmen Rand des Lebens?, Bonn, 57–86. Bergk, Th. (1866): Poetae lyrici Graeci, Bd. 1, Leipzig. Blaise, F. (2006): „Poetics and Politics: Tradition Re-worked in Solon’s ‚Eunomia‘ (Poem 4)“, in: Blok, J. H., Lardinois, A. P. M. H. (Hgg.), Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden/Boston (Mnemosyne. Suppl. 72), 114–133. Blok, J. H., Lardinois, A. P. M. H. (Hgg.) (2006): Solon of Athens. New Historical and Philological Approaches, Leiden/Boston (Mnemosyne. Suppl. 72).

Kontextualisierung und Solons Lebensalterelegie

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Beate Hintzen

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hoc quo pertineat, dicet qui me nouerit. Neukontextualisierung als literarische Strategie in Phaedrus’ Fabeln Ursula Gärtner (Graz)

Abstract Being special forms of the exemplary, similes and fables need a context, as – by their nature – they illustrate single facets of a text. When Phaedrus created the fable as a new literary genre in its own right, the fable lost its former frame of reference in the corresponding text and became open to a different reading. The paper shows that Phaedrus is aware of the phenomenon and actually misleads the expectations of his readers. Sometimes he gives hints that seem to refer to actual or even autobiographical facts, though these facts are not mentioned but remain suspiciously unnamed. Therefore, the reader is tempted to look for allusions although no answer is ultimately given. On the contrary, the author seems to play with the contextualisation and joke about the claims of high poetry, whose authors reveal themselves by their highly allusive poetry as poetae docti.

Die Bestimmung eines deutungsrelevanten Kontextes stellt uns bei der Interpretation eines jeden Textes vor methodische Probleme. In diesem und im folgenden Beitrag soll es um Texte und Textbausteine der antiken Literatur gehen, die einen Kontext in besonderer Weise benötigen und gerade durch diese Grundvoraussetzung ihrer selbst ein neues Gewebe der Intertextualität und Kontextualisierung schaffen. Zwei Sonderformen des Exemplarischen sind hier hervorzuheben, nämlich Gleichnis und Fabel; hierbei entwickeln die Gleichnisse in der Antike vor allem im Epos eine Eigendynamik allein dadurch, dass sie eigene wie fremde Kontexte mit sich tragen; die Fabel verliert dagegen durch den Übergang von einem exemplifizierenden Textbaustein innerhalb eines Textes zu einer eigenen Literaturgattung ihren ursprünglichen Kontext und reizt dadurch den Leser per se zur Neukontextualisierung. Im Folgenden werde ich nach einigen einführenden Überlegungen Phaedrus’ spielerischen Umgang mit Fabel, Kontext und Neukontextualisierung vorstellen.1

1

Zu Gleichnissen vgl. Blaschka in diesem Band, S. 275–293.

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1. Vorüberlegungen: Gleichnisse, Fabeln und ihr Kontext 1.1. Zur Definition des Exemplarischen2 Bekanntermaßen behandelt Aristoteles Fabel und Gleichnis in seiner Rhetorik unter den Argumentationsmitteln. Besser seien freilich die Topoi, die Gemeinplätze, die zwar nicht so schlagend seien wie logische Prämissen, die aber, sollte ihnen der Sachgehalt fehlen, durch ihre Bekanntheit wirkten. Beispiele seien schwieriger; historische Beispiele seien aufgrund des Überzeugungsgehalts der Wahrhaftigkeit den fiktiven, nämlich Fabel und Gleichnis, vorzuziehen.3 Das Exemplarische könnte man heute mit Willer/Ruchatz/Pethes (2007) definieren als „Mittel der Plausibilisierung, Initiierung oder Suggestibilisierung von Aussagen, Geschichten und Diskursen“ (…); es geht um „Formen und Dynamiken der Wissensproduktion mittels Beispielen“. Wichtig ist dabei die Eigendynamik, denn das Beispiel wird als Platzhalter für einen Sachverhalt wahrgenommen, „der ohne diesen Platzhalter gar nicht vorstellbar ist“, d. h. „dass Beispiele immer dort zum Einsatz kommen, wo Wissen fehlt bzw. zu komplex ist – was sich auch so deuten lässt, dass sie einzig für diese Lücke bzw. Komplexität einstehen.“4 Hilfreich ist auch deren Differenzierung zwischen rhetorischem, wissensabbildendem, wissensbildendem und normativem Beispiel. Gleichnis wie Fabel könnte man dabei als ‚rhetorisches Exemplum‘ bezeichnen, die Fabel daneben auch als ‚normatives‘.

1.2. Aspekte zum ‚Kontext‘ bei Fabel und Gleichnis5 Schon die Definition macht deutlich, dass beide Textbausteine dadurch verwandt sind, dass sie neben der immer schwierigen Bestimmung eines relevanten Kontextes der Analyse besonderer Kontexte bedürfen, d. h. dass hier das Problem der Kontextbildung eine besondere Rolle spielt.6 Dies sei hier etwas vereinfacht aufgeschlüsselt: 2 3 4 5

6

Vgl. Matala de Mazza (2013); Willer/Ruchatz/Pethes (2007). Arist. Rh. 1393a23–1394a18. Willer/Ruchatz/Pethes (2007) 7–8. Zur Einführung vgl. u. a. Neumann (2006); Neumann/Nünning (2006). Vgl. ferner die Sammelbände zu grundsätzlich vergleichbaren Fragestellungen: Panagl/Wodak (2004); Häcker et al. (2008); Jannidis/Lauer/Winko (2014), und hierbei besonders die Beiträge von King/Reiling (2014), Werle (2014) und Jahraus (2014). Vgl. Danneberg (1990).

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a. Textimmanent a.1. Der unmittelbare Kontext: Dies ist das „So-Stück“ zum „Wie-Stück“ des Gleichnisses oder der Fabel; schon hier ist es oft schwierig zu bestimmen, welchen Umfang das „So-Stück“ hat und ob und wie weit sich Korrespondenzen überhaupt festmachen lassen. a.2. Der intra- bzw. infratextuelle Kontext: Damit ist das weitere Umfeld im Text selbst bzw. das Textganze gemeint, das durch Fernbeziehungen durch Gleichnisse bzw. Fabeln ‚verwoben‘ wird und somit das Gesamtwerk zu einem ‚Kontext‘ macht.7 b. Gattungsimmanent Der intertextuelle Kontext: Durch das ständige (meist gattungsimmanente) Wiederaufgreifen und Neukontextualisieren gleicher und verwandter Bilder entwickelt sich ein Code, der den Lesern eine Deutung als wahrscheinlich nahelegt; der Bezug zwischen Bildelementen ist sehr viel stärker markiert als andere intertextuelle Bezüge. b.1. Durch das Wiederaufgreifen und Neukontextualisieren lädt sich das Gleichnis bzw. die Fabel durch Veränderungen auf der Bildebene auf. b.2. Vor allem das Gleichnis transportiert daneben unausgesprochen auch sämtliche Kontexte der Prätexte (siehe Punkt a.) als ebenso ‚andere‘ wie für die eigene Deutung essenzielle ‚Fremd‘-Kontexte in das Werk hinein. c. Der kulturelle Kontext (bzw. extratextuelle Kontext) Die Bilder stammen i.d.R. aus einer dem narrativen Kontext fremden bzw. komplementären Welt. Das Werk wird dadurch in den kulturellen Kosmos seiner Zeit (und Tradition) bzw. dieser in das Werk eingeschrieben.

2. Die Fabeln des Phaedrus und das Spiel mit der Kontextualisierung Im Folgenden wird in drei Schritten die These vorgestellt, dass Phaedrus mit dem Bedürfnis der Leser, Fabel ‚richtig‘ kontextualisieren und damit deuten zu können, spielt.

7

Vgl. Danneberg (2000) 333–334.

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2.1. Phaedrus: Leben und Werk8 Schon hier ergibt sich eine erste, aber grundlegende Schwierigkeit. Der soziale, politische und kulturelle Kontext ist für Phaedrus schwer zu bestimmen, da wir kaum etwas zur Person, zur Nationalität, zum Stand oder zur genauen zeitlichen Einordnung wissen. Dazu kommt noch, dass die Fabeln in fünf Büchern und einer Appendix trümmerhaft überliefert sind. Zumeist liest man in der Sekundärliteratur, dass der Dichter aus Makedonien stamme, als Sklave nach Rom gekommen und von Augustus freigelassen worden sei; er habe Fabeln gedichtet, in denen er aus der Sicht des ‚kleinen Mannes‘ schonungslos Moralkritik übe. Er sei von Seian angeklagt worden, da der die Fabeln auf sich bezogen habe, und habe nach dessen Tod im Jahr 31 n. Chr. noch bis in die claudische Zeit gedichtet, ohne die erwünschte Anerkennung zu finden. Allerdings wurde dabei nicht zwischen empirischem und implizitem Autor unterschieden; zudem sind alle Angaben aus biographisch aufgefassten Passagen der Pro- und Epiloge oder gar aus biographisch kontextualisierten Fabeln herausgelesen, wobei die meisten ‚Fakten‘ m.E. als poetologische Topoi zu verstehen sind (z. B. die Herkunft von Musenberg).9 Folglich kann ich, was den soziokulturellen Kontext angeht, zur Person des Dichters kaum mehr Aussagen machen, als dass er höchst gebildet und im Rom des 1. Jh. n. Chr., eher in der zweiten Hälfte, anzusiedeln ist. Im intertextuellen Kontext geben sich seine Fabeln als höchst anspielungsreiche Dichtungen zu erkennen, die – so meine These – ein heiteres Spiel mit den hohen Ansprüchen der römischen Dichtung treiben.

2.2. Die Fabel als literarische Gattung Phaedrus ist der Erste, der die Fabel zu einer literarischen Gattung erhebt. Über das Phänomen der literarischen Verselbständigung rhetorischer Beweismittel wurde gerade in jüngster Zeit geforscht.10 Hier sei ein kurzer Überblick über die 8 9 10

Vgl. Gärtner (2015) 21–33. S. Gärtner (2007); dies. (2015) 43–47. Vgl. z. B. Neumann/Nünning (2006) 14; Neumann (2006) 36–37; Matala de Mazza (2013). Matala de Mazzas Erklärung des Pro- bzw. Epimythions als „Produkt eines Medienwechsels von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und eines dadurch nötigen Anpassungsmanövers“ (271) ist zwar für ihre Argumentation sinnvoll, da in der verschriftlichen Form eine allgemeine Aussage den lokalen Situationsbezug hätte ersetzen müssen; aus historischer Perspektive ist dies allerdings leider nicht zutreffend, da Pro- oder Epimythien schon früher Bestandteil der Fabeln waren; vgl. Anm. 12.

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antiken Sammlungen gegeben, um die Wirkung der Phaedrusfabeln besser beurteilen zu können. Über den angeblichen Erfinder der Fabel, Aesop, der im 6. Jh. v. Chr. gelebt haben soll, wissen wir nichts. Die erste Sammlung griechischer Prosafabeln hat wohl Demetrios von Phaleron im 4. Jh. v. Chr. veranlasst.11 Spätestens dann kamen Pro- oder Epimythien hinzu, die eine allgemeine Aussage lieferten;12 die Vermutung liegt nahe, dass solche Sammlungen als Repertorium bzw. Promptuarium für Redner und Schriftsteller angelegt waren. Die Pro- und Epimythien verwiesen dabei auf den passenden Fall und vor allem die Promythien konnten als Inhaltsverzeichnis dienen. Der Inhalt wurde relativ schmucklos wiedergegeben.13 Unter dem Namen ‚Aesopfabeln‘ versteht man heute i.d.R. eine alphabetische Sammlung schlichter Prosafabeln, deren Datierung in das 2. bis 3. Jh. n. Chr. wahrscheinlich ist.14 Über die Quellen lässt sich nur spekulieren.15

11

12 13 14

15

Vgl. D.L. 5,80. Dezidierte Aussagen hierzu lassen sich trotz vieler Hypothesen nicht treffen; vgl. Perry (1962); Adrados (1999) 410–497; Holzberg (2012) 24–29; Baeza Angulo (2011a) XXVI–XXX. Zum sekundären Charakter der Epimythien s. Perry (1940); dagegen Luzzatto (1998), die auf Epimythien schon in frühsten Fabeln verwies. Vgl. Perry (1962); Holzberg (2012) 26–28. – Älteste erhaltene Reste einer solchen Sammlung stammen aus dem 1. Jh. n. Chr. (Pap. Ryl. 493). Zur Einführung vgl. Jedrkiewicz (1989) 15–31; Adrados (1999) 60–90; Adrados (2000) 275–281; Holzberg (2012) 94–105. Luzzatto (1983) ging sogar bis ins 10. Jh. – Auf Grund ihrer einheitlichen narrativen Struktur und Aussage stellen die Fabeln nicht mehr eine Sammlung im ursprünglichen Sinn dar; man könnte sogar von einem literarischen Konzept eines einzelnen Autors sprechen; vgl. Nøjgaard (1964); Holzberg (2012) 94– 105; durchaus plausibel ist Holzbergs Vermutung, der Autor habe durch die schlichte, einheitliche und formelhafte Erzählstruktur den Eindruck der ‚Authentizität‘ erreichen wollen (bes. 98). Vgl. ferner Zafiropoulos (2001) zur ethischen Aussage der Fabeln. Hausrath (passim) schlug Rhetorikübungen aus der Kaiserzeit vor; immer wieder verortete man die Fabeln im Kynismus, z. B. Adrados (1999) 604–635; Adrados (passim) konstruierte ein – im Bereich der Handschriftenüberlieferung sinnvolles – Abhängigkeitsverhältnis; seine Prämisse ist, dass spätere Autoren der vorliegenden Fabel streng folgten, gelegentlich kontaminierten und nur selten Eigenes schufen. Nach seinem Stemma (z. B. (2000) 725–726; von Baeza Angulo (2011a) XXXIII, übernommen), bildet die Fabelsammlung des Demetrios die Grundlage, im 3. Jh. v. Chr. folgte eine – stark kynisch geprägte – Sammlung in Iamben, die im 2. Jh. v. Chr. zur Grundlage für verschiedene Prosa-Fassungen wurde; auf eine solche Prosasammlung habe sich Phaedrus z. T. gestützt; die Augustana stütze sich ebenfalls auf diese Prosa-Fassungen, stamme aber erst aus dem 4.–5. Jh. n. Chr. Die Anfälligkeit eines solchen Stemmas ist offensichtlich; besonders zweifelhaft erscheint der Rückschluss aus den Prosafassungen auf eine hellenistische Fabelsammlung in Iamben, denn ‚iambische‘ Bruchstücke tauchen in jedem Prosatext auf. Zur Kritik daran vgl. z. B. schon West zu Adrados (1984), s. dort: 187–188.

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2.3. Die Ent-/Rekontextualisierung der Fabel bei Phaedrus16 Aufgabe der Fabel war also in der Literatur der Antike ursprünglich die eines Argumentationsmittels, nämlich die Verdeutlichung einer Aussage in einem Text. Wenn nun Phaedrus die Fabel als kunstvolle Gedichte und Bücher zu einer eigenständigen Literaturgattung erhebt, fällt der zu verdeutlichende (Kon-)Text fort, und der Rezipient hat eigentlich nur noch die Verdeutlichung ohne die zugehörige Aussage und somit die implizite Anregung, sich die Aussage selbst zu erschließen; er muss einen narrativen Kontext, der ursprünglich im Vordergrund stand, sowie den weiteren soziokulturellen Kontext des Textes selbst ergänzen, wobei er seine eigene Kontextualisierung miteinbeziehen müsste, insbesondere dann, wenn er die ‚Aussage‘ der Fabel für übertragbar auf seine eigene Situation hält. Letzten Endes bleibt bei einer Fabel ohne direkten narrativen Kontext die Aussage per se offen. Pro- oder Epimythien liefern keine Unterstützung, denn sie geben den Fabelinhalt meist nur in einer allgemeinen Form wieder. Meine These ist, dass sich Phaedrus dessen sehr wohl bewusst ist und mit der Lesererwartung spielt, denn er kontextualisiert die Fabeln, doch tut er dies höchst eigenwillig.17 Im Prolog zum dritten Buch betont er ganz horazisch, dass seine Fabeln nicht persönlich zu beziehen seien: suspicione si quis errabit sua et rapiet ad se quod erit commune omnium, stulte nudabit animi conscientiam. huic excusatum me uelim nihilo minus: neque enim notare singulos mens est mihi, uerum ipsam uitam et mores hominum ostendere. (Phaed. 3 prol. 45–50)

45

50

Wenn jemand auf Grund seines eigenen Argwohns irrt und auf sich bezieht, was allen gemein ist, wird er töricht sein schlechtes Gewissen bloßlegen. Bei diesem will ich mich nichtsdestoweniger entschuldigen: Denn nicht einzelne zu brandmarken ist mein Sinn, sondern das Leben selbst und die Charaktere der Menschen zu zeigen. (Übers. U.G.)

Wenige Verse vorher erklärt er dagegen, weshalb der unterdrückte Sklavenstand – gemeint ist Aesop – die Fabel erfunden habe: 16 17

Vgl. Gärtner (2015) 51–54. Grundlegend Carnes (2000); vgl. Gärtner (2015) 19–20 u. 51–54.

Neukontextualisierung als literarische Strategie nunc fabularum cur sit inuentum genus, breui docebo. seruitus obnoxia, quia quae uolebat non audebat dicere, affectus proprios in fabellas transtulit calumniamque fictis elusit iocis. (Phaed. 3 prol. 33–37)

265

35

Warum die Gattung der Fabeln erfunden wurde, werde ich nun kurz erklären. Die unterdrückte Sklavenschaft, die nicht zu sagen wagte, was sie wollte, übertrug ihre eigenen Gefühle in Fabeln und trieb durch erfundene Scherze mit der Verleumdung ihr Spiel. (Übers. U.G.)

Dass in der Antike das verhüllte bzw. bildliche Sprechen als sicherer empfohlen wurde und der antike Leser daher geneigt war, Texte entsprechend zu deuten, lässt sich an vielen Stellen zeigen:18 huic uel confinis uel eadem est qua nunc utimur plurimum. iam enim ad id genus quod et frequentissimum est et expectari maxime credo ueniendum est, in quo per quandam suspicionem quod non dicimus accipi uolumus, non utique contrarium, ut in εἰρωνείᾳ, sed aliud latens et auditori quasi inueniendum. (Quint. Inst. 9,2,65) Verwandt mit dieser (= Emphasis) oder sogar gleich ist die Figur, die wir am meisten gebrauchen. Schon müssen wir nämlich zu der Art kommen, die sowohl die häufigste ist und die auch am meisten, glaube ich, erwartet wird, in welcher wir wollen, dass durch einen gewissen Verdacht das, was wir nicht sagen, vernommen wird, nicht gerade das Gegenteil, wie in der Ironie, sondern etwas Verborgenes und vom Hörer gleichsam zu Findendes. (Übers. U.G.) πολλάκις δὲ ἢ πρὸς τύραννον ἢ ἄλλως βίαιόν τινα διαλεγόμενοι καὶ ὀνειδίσαι ὁρμῶντες χρῄζομεν ἐξ ἀνάγκης σχήματος λόγου. (…) τὸ μὲν οὖν κολακεύειν αἰσχρόν, τὸ δὲ ἐπιτιμᾶν ἐπισφαλές, ἄριστον δὲ τὸ μεταξύ, τοῦτ’ ἔστι τὸ ἐσχηματισμένον. (Demetr. Eloc. 289 u. 294) Oft aber, wenn wir uns an einen Tyrannen oder einen auf andere Weise Gewalttätigen richten und ihn schmähen wollen, gebrauchen wir gezwungener Maßen bildhafte Rede. (…) Schmeicheln ist schändlich, direkte Kritik ist gefährlich, am besten ist das in der Mitte: Das ist die bildhafte Rede. (Übers. U.G.)

18

Vgl. Ahl (1984); Bartsch (1994) 63–69.

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Freilich ist das verhüllte Sprechen nur so lange sinn- und wirkungsvoll, wie man die Verhüllung intakt lässt. Wenn man aber auf diese verweist, wie Phaedrus es ja hier und an anderen Stellen nachdrücklich tut, schwindet diese besondere Funktion der figurierten Rede: Der Leser sucht jetzt erst recht nach der ‚Wahrheit‘, d. h. hier nach den realen Personen oder ‚autobiographisch‘ zu entschlüsselnden Geschehnissen, auch wenn dies vorgeblich nicht in der Absicht des Autors lag.19 In einigen Fabeln werden wir als Leser sogar regelrecht aufgefordert, nach einem biographischen Bezugspunkt zum Dichter zu suchen, der jedoch, wie er selbst betont, nur für wenige verständlich sei:20 hoc quo pertineat, dicet qui me nouerit. (Phaed. 3,1,7) Worauf sich dies bezieht, wird sagen, wer mich kennt. (Übers. U.G.)

Doch werden wir durch diesen Hinweis erst recht gereizt, etwas zu vermuten bzw. aus den Texten herauszulesen; denn jeder Rezipient möchte durch die Formulierung zum engeren Kreis um den Dichter gehören oder sich diesen durch eine Rekontextualisierung erschließen können, um zu denen zu gehören, die den Dichter verstehen. Wer fühlte sich nicht herausgefordert: rara mens intellegit (4,2,6)? Bei einem Überblick über Phaedrus’ Fabeln wird deutlich, dass die Fabeln immer vieldeutig und somit beliebig übertragbar, aber zugleich auch bei den selten mitgegebenen narrativen Kontexten nicht in allen Punkten deckungsgleich scheinen. In 1,2 erzählt beispielsweise Aesop den Athenern, die über die Herrschaft des Peisistratos klagen, die Fabel von den Fröschen, die sich von Iuppiter einen König wünschen, sich über den zunächst gegebenen Holzklotz beschweren, dann aber über die gefährliche Wasserschlange jammern. Sie müssen lernen, so Iuppiter, das Übel zu ertragen, da sie das Gute nicht wollten; ebenso sollten die Athener, so Aesop, das Übel ertragen, damit kein schlimmeres Übel komme. Die Fabel gibt m.E. eine programmatische Leseanleitung: Zum einen verleitet sie den Leser durch die Verortung in einer historischen Situation, einen Transfer auf die politische Situation in Rom vorzu-

19 20

Vgl. Henderson (2001) 81. Vgl. 3,12,8; 3 epil. 32; 5,10,10; app. 2; app. 7,17–18; vgl. Gärtner (2007) 444.

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nehmen, gleichzeitig verweigert sie jedoch jegliche konkrete Bezugnahme. Dass sich Fabeln eben nicht eins zu eins übertragen lassen, wird durch die Spannung zwischen Rahmen und Fabel (Gut – Übel bzw. Übel – größeres Übel) nahe gelegt.21 Der Rezipient wird folglich aufgefordert, die Fabeln in andere unterschiedlichste Kontexte oder Diskurse (historisch, soziokulturell, literarisch u. a.) einzuordnen. Ja, Phaedrus geht sogar so weit, dass er die Abhängigkeit der Deutung vom Rezipienten thematisiert, denn er weist selbst auf die Vieldeutigkeit bzw. schwierige Interpretation seiner Dichtung hin:22 ioculare tibi uidetur, et sane leui, dum nihil habemus maius, calamo ludimus. sed diligenter intuere has nenias: quantam sub titulis utilitatem reperies! non semper ea sunt quae uidentur; decipit frons prima multos: rara mens intellegit quod interiore condidit cura angulo. hoc ne locutus sine mercede existimer, fabellam adiciam de mustela et muribus. (Phaed. 4,2,1–9)

5

Ein Scherz scheint es dir, und wirklich spielen wir, solange wir nichts Größeres haben, auf leichtem Rohr. Aber betrachte sorgfältig diese Spielereien: Welch großen Nutzen wirst du unter ihren Überschriften finden! Nicht immer sind die Dinge das, was sie scheinen; es täuscht der erste Anblick viele: Nur ein vereinzelter Verstand erkennt, was die Sorgfalt im inneren Winkel verbarg. Damit man nicht von mir glaubt, ich sagte das ohne Ertrag, will ich die Fabel von dem Wiesel und den Mäusen anhängen. (Übers. U.G.)

Und an einer anderen Stelle lässt Phaedrus einer Fabel drei Deutungen folgen, die – so die stolze Aussage – nur der erklären könne, der die Fabel erfunden habe (quot res contineat hoc argumentum utiles, | non explicabit alius quam qui repperit; 4,11,14–15);23 und dem ist man gerne geneigt zuzustimmen, denn die Deutungen erscheinen abwegig. Hier entzündet ein Dieb an Iuppiters Altar eine Lampe und bestiehlt ihn dann; daraufhin folgt eine lange Rede der

21 22 23

Vgl. 1,6; vgl. Gärtner (2015) 81–96 u. 123–129. Die Verse sind zudem semantisch aufgeladen; zum poetologisch-kallimacheischen Aspekt vgl. Gärtner (2007) bes. 453–454. Vgl. Gärtner (2007) 453–454.

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Religio; sie kündigt dem Dieb die Strafe an seinem vorbestimmten Tag an und verbietet einen solchen Lichtaustausch, weshalb es noch heute Sünde sei, am Altar eine Lampe anzuzünden. Die Deutungen sind wie folgt: 1. Es erweisen sich die, die man selbst aufgezogen hat, als größte Widersacher. 2. Ein Verbrechen wird nicht durch den Zorn der Götter, sondern mit der Zeit durch den Spruch des Fatums bestraft. 3. Dem Guten wird verboten, sich mit dem Übeltäter zusammenzutun. Hiervon mag allein die zweite Deutung einen gewissen Rückhalt im Text haben, die beiden anderen bleiben rätselhaft. Meinte es der Dichter mit dieser Aussage ernst, würde er die eigentliche Funktion einer Fabel ausblenden. Man muss sich daher fragen, ob er uns als Leser nicht auf die Unmöglichkeit einer ‚richtigen‘ Deutung der Fabeln hinweisen und dabei zugleich humorvoll die hohen Ansprüche einer anspielungsreichen Dichtung ironisieren will. Zum Abschluss sei ein Blick auf die erste Fabel des dritten Buchs geworfen, deren Epimythion vorhin schon zitiert wurde:24 anus ad amphoram. anus iacere uidit epotam amphoram, adhuc Falerna faece ex testa nobili odorem quae iucundum late spargeret. hunc postquam totis auida traxit naribus: „O suauis anima! quale te dicam bonum antehac fuisse, tales cum sint reliquiae!“ hoc quo pertineat, dicet qui me nouerit. (Phaed. 3,1,1–7)

5

Die Alte bei der Amphore Eine Alte sah eine ausgetrunkene Amphore liegen, die noch vom Falernerrest aus ihrem edlen Ton einen erfreulichen Duft weithin verbreitete. Nachdem die Alte diesen gierig mit ihrer ganzen Nase eingesogen hatte, [sagte sie]: „Oh süßer Seelenhauch! Was für ein Gut du einst gewesen bist, könnte ich sagen, da deine Reste so sind!“ Worauf sich das bezieht, wird sagen, wer mich kennt. (Übers. U.G.)

Mit dem ersten Wort anus wird der Leser sogleich in die Welt des Menschen gelenkt; die ‚trunkene Alte‘ mag dem Alltag entstammen; vertreten ist sie frei-

24

Vgl. Bajoni (1997); Zanker (1989); Oberg (2000) 120; Solimano (2005) 200–203; Renda (2012) 201–202.

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lich als Sujet in der Kunst.25 Beliebtes Thema war sie auch in der Literatur, vor allem in der Komödie.26 Der Sachverhalt wird schlicht dargestellt. Das Epimythion ist hinterhältig. Ich hatte es oben bereits angeführt. Durch hoc quo pertineat erwartet der Leser eine der üblichen allgemeinen Deutungen.27 Doch folgt nach der Penthemimeres die überraschende Behauptung: dicet, qui me nouerit. Nicht das Dichter-Ich selbst äußert sich zu der Aussage, sondern es verweist auf einen unbestimmten Kenner seiner selbst. Dadurch wird im Leser der Wunsch erweckt zu erfahren, worauf sich die Fabel denn nun bezieht, und vor allem zu dem engen Kreis derer zu gehören, die sie deuten können. Dieses 25

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27

Bekannt ist die Figur einer trunkenen Alten aus hellenistischer Zeit, von der zwei römische Marmorkopien (Kapitolinisches Museum, 1. Jh. n. Chr.; Münchner Glyptothek, 2. Jh. n. Chr.) erhalten sind; auffällig ist hier der starke Realismus, der im hellenistischen Original noch viel stärker zu greifen gewesen sein muss als bei den römischen Kopien; vgl. Zanker (1989) 12–14; freilich betonte Zanker (1989) 32–42 zu Recht, dass man auch die hellenistische Figur in den kulturellen Diskurs einordnen muss; vgl. z. B. 33: „es scheint, als habe der Künstler bei seiner Charakterisierung eher die Komödiengestalt und die Topoi der kunstvollen Epigramme ins Bild zu setzen versucht als zu einer akuten gesellschaftlichen Problematik Stellung zu nehmen, so pointiert und kunstvoll sind die einzelnen ‚Zitate‘ herausgestellt“; er verwies hierbei vor allem auf den Topos der einst wohlhabenden Hetäre. Plinius beschreibt eine entsprechende Statue, die er wohl fälschlich dem berühmten Myron zuordnet; Plin. Nat. 36,32: nam Myronis illius, qui in aere laudatur, anus ebria est Zmyrnae in primis incluta. Das Motiv war freilich verbreitet. Da Phaedrus später (5,8) auf ein Bildnis des Myron zu sprechen kommt, ist nicht auszuschließen, dass hier tatsächlich ein Bezug zu diesem Bildnis hergestellt wird. Vgl. etwa aus der mittleren Komödie bei Euboulos (Eub. fr. 43 Kock): ὦ γαῖα κεραμί, τίς σε Θηρικλῆς ποτε | ἔτευξε κοίλης λαγόνος εὑρύνας βάθος; | ἦ που κατειδὼς τὴν γυναικείαν φύσιν, | ὡς οὐχί μικροῖς ἥδεται ποτηρίοις („Oh Töpfererde, was für ein Therikles hat dich einst geformt und die Tiefe deiner hohlen Seite geweitet? Ja freilich einer, der die weibliche Natur kannte, dass sie sich nicht freut an kleinen Bechern.“); aus der römischen vgl. bes. Plaut. Cur. 76–81: anus hic solet cubitare custos ianitrix, | nomen Leaenae est, multibiba atque merobiba. | Pal. quasi tu lagoenam dicas, ubi uinum Chium | solet esse. Phaed. quid opust uerbis? uinosissima est; | eaque extemplo ubi uino has cons pe r s i fores, | de odore adesse me scit, aperit ilico; 96–98: Leaena flos ueteris uini meis nar i bus obiectust, | eius amor cupidam me huc prolicit per tenebras. | ubi ubi est, prope me est. euax, habeo; Cist. 149: utrumque haec, et multiloqua et multibiba, est anus; Ter. An. 228–232. Vgl. ferner zum Sprichwort: Lucil. 766 K. (= 767 M.): anus rursum ad armillum; vgl. Apul. Met. 6,22,1; 9,29,1; interessant ist ein Vergleich mit den Grabepigrammen auf eine Trinkerin von Antipatros von Sidon und Leonides, die Phaedrus bekannt gewesen sein dürften (AP 7,353 u. 455); deren Pointe ist es jeweils, dass die Tote darüber seufzt, dass der Becher auf ihrem Grabmal leer sei. Vgl. z. B. Phaed. 1,14,17–18.

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Spiel mit dem Wesen der Fabel, d. h. ihrem offenen Charakter, wird hier von Phaedrus weiter getrieben und der Leser an der Nase herumgeführt. Denn wer kann hinter all den hintersinnigen ‚Selbst‘-Aussagen in den Büchern den Dichter wirklich ‚erkennen‘?28 Dass man tatsächlich nach konkreten Anlässen gesucht hat, mag auch Phaedrus erheitert haben; hier einige Deutungsvorschläge; man sah in dieser Fabel: – eine Klage über das eigene Alter und den Verlust des ingenium, „trübe Selbstkritik des alternden Dichters“29 – einen zeitgenössischen Bezug, allerdings auf die Lüsternheit des alten Tiberius30 – eine allgemeine Aussage über das Alter mit Hinblick auf Seneca, der darüber sinniert, ob das Ende des Lebens faex – Bodensatz – sei31 – den Verlust der politischen Freiheit in Rom32 – die zukünftige Rezeption seiner Werke, von denen die kommende Generation nur noch einen Hauch der vergangenen Größe spüren könne.33 28 29

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Zu den ‚Selbstaussagen‘, die sich als literarische Topoi zu erkennen geben, s.o. S. 262; vgl. Gärtner (2015) 21–33. Vgl. Hausrath (1936) 77. So häufig zu lesen mit dem Hinweis auf 3 epil. 15: languentis aeui dum sunt aliquae re l i q u i a e ; z. B. schon Scheffer bei Burmann (1778) 165; de Lorenzi (1955) 135; Perry (1965) 258–259; Nøjgaard (1967) 163; Schönberger (1987) 176; Bajoni (1997) 290–291; Oberg (2000) 120–121; Solimano (2005) 201: „chiave fortemente autobiografica“; dies ist wenig überzeugend. Eine gewisse Parallele bietet Horaz, doch scheint es mir fraglich, ob diese eine ‚autobiographische‘ Deutung rechtfertigt; vgl. Hor. S. 1,2,67–71: nunc adbibe puro | pectore uerba, puer, nunc te melioribus offer. | quo semel est inbuta recens seruabit odore m | te sta diu. quodsi cessas aut strenuos anteis, | nec tardum opperior nec praecedentibus insto. Schwabe (1780) 28: „ita quod anus de odore ex amphora epota, Tiberium potuisse de natura ligurrita dicere, intelligant, qui Phaedri mores et ingenium noverint.“ So ebenfalls Schwabe (1780) 28 mit Hinblick auf Sen. Ep. 58,33: „Posset et fabula simpliciter de vita humana et senectute, quae faex uitae est (…) intelligi, cuius, etsi optima pars exhausta sit, reliquiae sunt gratissimae“; doch wird der Gedanke dort mit einem Gegensatz fortgeführt: de hoc tamen quaeremus, pars summa uitae utrum faex sit an liquidissimum ac purissimum quiddam, si modo mens sine iniuria est et integri sensus animum iuuant nec defectum et praemortuum corpus est (Sen. Ep. 58,33). Havet (1907) 128; so auch schon Heinsius bei Burmann (1778) 165. Doch erscheint das aus dem Mund der trunkenen Alte weit hergeholt. Bajoni (1997) 291 griff die autobiographische Deutung wieder auf, differenzierte sie jedoch: „i posteri avranno solo il sentore della sua grandezza passata“; so fast wörtlich auch Renda (2012) 201–202.

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Mag man in der Darstellung auch nicht von Misogynie sprechen, wie etwa Baeza Angulo,34 so ist die gesamte Fabel doch von einem heiter-ironischen Ton getragen, der zu solch ernsten Deutungen nicht passen mag. Ferner ist zu beachten, dass sich in dieser vorgeblich autobiographischen Aussage wieder intertextuelle Bezüge finden lassen; denn bereits Theognis hatte durchaus Vergleichbares über seine Dichtung geäußert: ταῦτά μοι ἠινίχθω κεκρυμμένα τοῖς ἀγαθοῖσιν· γινώσκοι δ᾿ ἄν τις καὶ κακός, ἂν σοφὸς ἦι. (Thgn. 681–682) Dieses soll von mir in Rätseln verborgen gesagt werden den Guten; es dürfte wohl auch ein Schlechter es erkennen, wenn er klug ist. (Übers. U.G.)

Ich selbst in meiner eigenen Kontextualisierung frage, ob die Fabel nicht viel eher poetologisch verstanden werden kann: Die Amphore könnte für die Fabel stehen, deren Inhalt fehlt, deren Gehalt, d. h. deren tiefere Aussage sich nur dem Kenner offenbart.35 Es stellt sich freilich die Frage, ob das Genrebild überhaupt eine tiefere Aussage birgt; braucht man mehr als die in deutlicher Anlehnung an die Komödie gezeichnete ironische Schilderung der Alten, die mit großer Kennerschaft einen Wein aus dem Rest erriecht und aus deren Worten, mögen sie noch so gewählt sein, das Bedauern über den Verlust spricht, das bonum nicht selbst in vollen Zügen genossen zu haben? Vielleicht soll ja der, der Phaedrus kennt, d. h. dessen spielerischen Umgang mit der Deutungsoffenheit der Fabel erkannt hat, wissen, dass sich diese wie jede Fabel auf alles und nichts beziehen kann.

34 35

Baeza Angulo (2011b). Eine gewisse Parallele ergäbe sich dann zu Fabel 3,12, die ebenfalls poetologisch gedeutet werden kann. Vgl. Pieper (2010) 46 Anm. 46: „Es ist nicht schwer, in dem nicht mehr anwesenden Wein den eigentlichen Gehalt, in der Flasche und ihrem angenehmen Duft jedoch die Form der Fabel zu erkennen. Das bonum, das die alte Frau, ohne es sehen zu können, nur durch richtige Interpretation der Hülle erschließt, lässt sich als Rezeptionshinweis lesen: Nicht die Hülle, sondern das nicht Sichtbare der Fabel ist das eigentlich Wertvolle an ihr.“

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Ursula Gärtner

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Eleus sonipes, equus liber, equus bellator. (Neu-)Kontextualisierung epischer Gleichnisse Karen Blaschka (Potsdam)

Abstract In ancient epics, similes emerge as constant and typical components. When investigating their structure and function, the context that is relevant for their interpretation must be determined: For the most part, not only their immediate, text-immanent context within the narrative is essential. By taking up the same or similar similes in subsequent poems, the pictures carry the external context of their pre-texts; these cross-references are necessary for the interpretation of the current simile. Although the reader is able to comprehend its content within the text-immanent context without knowing all intertextual references, he or she might possibly miss one (more or less) important level of meaning by foregoing one of them. Especially ancient literature poses particular difficulties, because we have to rely on the text itself, missing important pieces of additional information. By looking at a concrete example, this paper examines the question of why certain texts can serve as real pre-texts, and which allusive cross-references may be considered as obvious for the reader and potentially intended by the author.

1. Einführung Gleichnisse sind ein typisches und viel genutztes Darstellungsmittel epischer Dichtung. Da sie nicht nur über die tertia comparationis mit dem umliegenden Text verbunden sind, sondern sich gleichfalls Fernbeziehungen zu früherem oder späterem Geschehen im selben Werk sowie mehr oder minder deutlich markierte Allusionen auf andere (zumeist ebenfalls epische) Texte ausmachen lassen, fordern sie uns als Leser heraus, einen deutungsrelevanten Kontext zu erschließen: Wir sind dazu angehalten, sie mit dem umliegenden textimmanenten Kontext sinnvoll in Beziehung zu setzen und darüber hinaus zu entscheiden, welche Kontexte wir weiterhin zur Interpretation heranziehen. Zumeist sind nämlich neben dem textimmanenten1 Kontext die intertextuellen Bezüge wichtig: Durch die Wiederverwendung desselben Gleichnisses wird 1

Zur Definition der Begriffe ‚textimmanent‘ und ‚intertextuell‘ s.u. Abschnitt 2.

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dieses immer wieder in einen neuen Kontext gestellt, d. h. es wird neu kontextualisiert; es importiert dabei bei jeder neuen Verwendung die vorherigen, ‚fremden‘ Kontexte, die herangezogen werden können bzw. implizit mitgedacht werden (müssen), um zusätzliche Bedeutungsebenen zu erschließen. Verzichten wir als Leser auf diese intertextuellen Kontexte, verstehen wir das Gleichnis innerhalb des Werkes ebenfalls, aber es geht uns unter Umständen eine Sinnebene verloren. Gerade antike Werke stellen uns vor einige Schwierigkeiten, da wir zumeist auf die (überlieferten) Texte und die darin enthaltenen Markierungen allein angewiesen sind. An einem konkreten Beispiel, an dem sich der Begriff Kontext sehr gut problematisieren lässt, werde ich der Frage nachgehen, warum bestimmte Texte in diesem Fall als intertextueller Kontext herangezogen werden können und welche (allusiven) Bezüge dem Leser offenkundig sind bzw. auch als vom Autor intendiert bezeichnet werden können. Dazu sind Vorüberlegungen in zweierlei Hinsicht notwendig: Bereits diese kurze Einführung in die Thematik zeigt, dass eine definitorische Grundlage für das Gleichnis und ‚die Kontexte‘ unabdingbar ist. Ein kurzes, darin eingebundenes Resümee zur Entwicklung der Gleichnistechnik in der antiken Epik wird zudem zeigen, welchen Stellenwert dieser traditionelle epische Baustein in seinem Allusionspotential hat(te), etwa im Hinblick auf die Figurencharakterisierung und die Werkkonzeption. Beides dient als Basis für die Besprechung eines Pferdegleichnisses bei zentralen Autoren der antiken epischen Dichtung.

2. Das Gleichnis im ‚Kontext‘: Ein traditioneller Baustein der antiken Epik Ein Gleichnis vermittelt zunächst den Eindruck einer in sich stimmigen und vom umliegenden Text ‚ablösbaren‘ Einheit, da es einen eigenen Sachverhalt schildert. Es steht jedoch seiner Funktion entgegen, ein Gleichnis beispielsweise im Zuge einer Interpretation eines bestimmten Aspektes aus dem inhaltlichen Zusammenhang herauszulösen. Als Interpretierende operieren wir meist selbstverständlich mit dem Begriff des (Werk-)Kontextes2, wenn wir ein Bild 2

Der Begriff selbst ist problematisch, kann er doch das eine Werk oder das gesamte Œuvre eines Autors, d. h. das aus mehreren Schriften bestehende Gesamtwerk bezeichnen, vgl. Baßler (2007) 360. In den folgenden Überlegungen wird daher mit dem Begriff „textimmanent“ operiert.

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innerhalb seines vor- und/oder nachgelagerten Bezugstextes deuten. Bezeichnen wir das Gleichnis als S (vom lateinischen Begriff similitudo) und den unmittelbar umliegenden Kontext mit A (Apodosis)3, kann es auf dreierlei Art mit diesem verbunden sein: AS, ASA und SA. Dies wird zumeist durch eindeutige Indikatoren (z. B. „wie … so“) markiert. In der Regel wird so angezeigt, dass die Teile S und A idealerweise durch Analogien aufeinander zu beziehen sind. Hier ist der Rezipient gefragt, Ähnlichkeiten zu erkennen: Welche Teile der Narration werden durch Analogien im Gleichnis aufgegriffen? Wie muss also das Gleichnis ‚kontextualisiert‘ werden? Wird es als kleiner Baustein eines großen Textes begriffen, als Text, der in einen Text eingebettet ist, ergeben sich bei dem Versuch einer kontexttheoretischen Beschreibung verschiedene, nicht unbedingt hierarchisch zu verstehende Kontextebenen. Hier geht es zunächst um den textimmanenten Kontext, der jedoch in Hinblick auf seine Beziehung zum Gleichnistext noch einmal genauer bestimmt werden kann. Der umliegende Bezugstext A kann als primärer textimmanenter Kontext bezeichnet werden. Da die Bildebene häufig weiterführende Details bietet, geht der textimmanente, auch als der intra- bzw. infratextuelle bezeichnete Kontext für das Gleichnis oftmals über diesen umliegenden Kontext hinaus:4 Sehr oft lassen sich Fernbeziehungen von Gleichnissen zu anderen Gleichnissen oder auch zu späterem oder früherem epischen Geschehen im selben Werk ausmachen. Diesen könnte man folglich als sekundären textimmanenten Kontext fassen.5 Dies vermag jedoch nur wenig über die 3

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Vgl. Rieks (1981) 1025–1026, der von der Strukturbestimmung nach Fränkel (1921) 4 ausgeht. Daran angelehnt: O’Neal (1970) 11–13; Gärtner (1994) 41–43; Blaschka (2015) 19–21. All diese Definitionen nehmen ihren Ausgangspunkt bei Quint. Inst. 8,3,77. Zur feinen Unterscheidung der Begriffe „infra-“ und „intratextuell“ Danneberg (2000) 333–334; Neumann/Nünning (2006) 5. Zum intratextuellen Kontext bzw. Kotext Baßler (2007) 360. Parallel dazu untergliedert Gärtner in diesem Band den textimmanenten Kontext in den unmittelbaren (= primärer K.) und den intra- bzw. infratextuellen (= sekundärer K.) Kontext, vgl. S. 261. Ist der unmittelbar umliegende textimmanente Kontext zwar i.w.S. auch intratextueller Kontext, erscheint es doch sinnvoll, ihn bei der Interpretation von Gleichnissen als primären vom sekundären textimmanenten Kontext, i.e. intra- und infratextuellen Kontext abzuheben (wie oben dargelegt): Das Gleichnis erfüllt eine Funktion und erklärt sich zunächst zu einem gewissen Grade im unmittelbar umliegenden Kotext (s. Anm. 4), bezieht sich aber thematisch zumeist im Zusammenspiel mit diesem a) auf andere Stellen im selben Werk (intratextueller K.) und/oder b) auf das Textganze (infratextueller K.); vgl. Anm. 4.

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Relevanz des Bezuges auszusagen; vielmehr werden so die Bezugs- bzw. Deutungsebenen des Bildes bestimmt:6 Der umliegende Kontext steht für eine erste Deutung des Gleichnisses in diesem unmittelbaren Zusammenhang selbst im Vordergrund. Da dieses aber Bestandteil eines größeren Textgefüges ist, ist der sekundäre Bezug bzw. sind die sekundären Bezüge für die Deutung des gesamten Textes relevant. Diese Fernbeziehungen erschließen sich in ihrer Gänze erst, wenn das gesamte Werk gelesen wird. Zu berücksichtigen ist ferner der intertextuelle Kontext. Betrachtet man ihre Entwicklung über zentrale griechische und lateinische Autoren hinweg, wird die Gleichnistechnik immer ausgefeilter. Die Bildsprache steigert sich in ihrer Komplexität von den homerischen Epen aus dem 8. Jh. v. Chr. über Apollonios Rhodios aus dem 3. Jh. v. Chr. bis zu den römischen Autoren Vergil und Lucan aus dem ersten vor- bzw. nachchristlichen Jahrhundert sichtbar: Die Bezüge werden intra- und infra- und vor allem intertextuell vielgestaltiger und sind in zunehmendem Maße für das Verständnis und die Komposition des Epos grundlegend.7 Es ergibt sich daher neben dem textimmanenten Kontext eine weitere textuelle Bezugsebene, die außerhalb des Textes liegt, der das zu interpretierende Gleichnis enthält. Hier zeigen sich die begrifflichen Grenzen einer kontexttheoretischen Bestimmung: Parallel zum oben benannten textimmanenten Kontext ließe sich der intertextuelle Kontext als ‚textextern‘ beschreiben; der Begriff ist jedoch ambivalent, kann er doch leicht dazu verleiten, unter ihm auch den tatsächlich extratextuellen Kontext8 zu verstehen. Den intertextuellen Kontext im Gegensatz zum textimmanenten als gattungsimmanent zu bezeichnen,9 grenzt den Bezug auf mögliche Prätexte genrespezifisch ein. Bisweilen finden sich in Gleichnissen nämlich auch Allusionen auf Stellen aus

6

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Gerade die Bezeichnung eines Kontextes als „primär“ dient dagegen z. B. Danneberg (1998) 208 als Hinweis auf dessen Privilegierung für die Interpretation eines Textes: Eine sich so aufbauende „(partiell) geordnete (unvollständige) Hierarchie im Hinblick auf den primären Kontext“ ist „Grundlage für die Gewichtung von Argumenten für oder gegen eine Interpretation eines Textes“. Ausführlicher zur Entwicklung der Gleichnistechnik bei diesen Autoren Blaschka (2015) 397–402. Dieser ist im Sinne Dannebergs (2000) 334 als „Beziehung eines Textes zu nichttextuellen Gegebenheiten“ zu verstehen; vgl. Neumann/Nünning (2006) 7. Vgl. Gärtner in diesem Band, S. 261.

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Texten anderer Gattungen.10 Daher erscheint die übergeordnete Bezeichnung als intertextueller Kontext am sinnvollsten.11 Dieser lässt sich unterteilen in den gattungsimmanenten intertextuellen und den gattungsexternen intertextuellen Kontext. Jenen insgesamt zu bestimmen birgt einige Schwierigkeit und einen gewissen Reiz zugleich. Die Bilder werden immer wieder, vor allem im gattungsimmanenten intertextuellen Kontext der Epik, von nachfolgenden Autoren aufgegriffen, verändert und neu kontextualisiert.12 Parallele Formulierungen, Wörter und Inhalte lassen uns als Leser aufhorchen und an Texte denken, in denen sie uns ebenfalls begegnen. Das Zusammenschauen dieser Parallelen bedeutet für den Rezipienten Sinnanreicherung; deutet man die Texte, in denen sie auftreten, als Prätexte, d. h. als Vorbilder des jeweiligen Werkes, geht man davon aus, dass die Parallelen intendiert sind und dass ihre Aktualisierung in Hinblick auf die Aussageabsicht und das Verstehen des Werkes von Bedeutung ist. In Bezug auf den intertextuellen Kontext ist der Leser also gefragt, über die Relevanz und, wenn nicht die Irrelevanz, so doch die geringere Relevanz möglicher Prätexte zu entscheiden; dabei werden bestimmte Bezüge (hier innerhalb des intertextuellen Kontextes) „privilegiert“.13 Verkennt der Leser eine Allusion, steht dies dem Verstehen des Gleichnisses 10

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So kann beispielsweise für das Schiffsgleichnis Luc. 1,498b–504a, das die überstürzte Flucht des Volkes und der Senatoren aus Rom bei dem bloßen Gerücht vom herannahenden Caesar verbildlicht, durchaus eine Anspielung auf Cic. Att. 7,3,5 und v. a. 7,13,1–2 angenommen werden, der dort die Situation ähnlich metaphorisch beschreibt. Andererseits kann die oben gegebene Begriffsstruktur zur Abgrenzung verschiedener Kontextebenen damit auch auf andere Textsorten übertragen werden, die Gleichnisse enthalten: Es ist durchaus denkbar, dass Plu. Caes. 33,2; 34,3 mit der darin enthaltenen Schiffsmetaphorik und dem Gleichnis auf Lucan und/oder Cicero zurückverweist; hierzu Blaschka (2015) 332–343. Baßler (2007) 360 dagegen löst den Begriff der Intertextualität von dem des Kontextes (gegen Danneberg (2000) 333–334), da es nicht sinnvoll erscheine, „paradigmatische Beziehungen, z. B. zu Textklassen oder Gattungen ebenfalls als Kontexte zu bezeichnen (…). In solchen Fällen spricht man besser von Intertextualität.“ Vgl. Jahraus (2014) 145. Ähnlich Baßler (2007) 363 (zum engeren Intertextualitätsbegriff generell). Ders. 362 trennt dabei Intertextualität von der Kontextualität eines Textes, vgl. auch Anm. 11. Vgl. Willand in diesem Band, S. 82. Eine Privilegierung bestimmter Bezüge findet natürlich auch innerhalb des textimmanenten Kontextes statt, sieht doch nicht jeder Leser jeden Bezug als gleichermaßen relevant an. „Interpretieren“ bedeutet nach Danneberg (1998) 209 demgemäß „Bedeutungszuweisungen (durch die Wahl einer Bedeutungs- und Interpretationskonzeption) ausschließen“.

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innerhalb des Werkes bzw. der als relevant erachteten Bezüge nicht entgegen; für ein avisiertes umfassendes Verständnis des Gleichnisses fehlt aber unter Umständen eine Sinnebene. Die Anspielungen sind häufig raffinierter Art: Mitunter wird nicht nur auf den Inhalt des eigentlichen Bildes im Prätext angespielt, sondern der Leser muss auch dessen (primären und sekundären) textimmanenten Kontext mitdenken. Nur so ergeben die Anspielungen erhellenden Sinn, da etwa Kontraste evoziert oder Parallelen geschaffen sowie Details durch die Kenntnis des Prätextes ergänzt werden. Dies birgt einige Schwierigkeit, sind wir doch auch hier auf die Überlieferungslage und zumeist auf den jeweiligen Text allein, darüber hinaus vereinzelt auf antike Scholien, angewiesen und müssen diesen bei unserer Interpretation in den intertextuellen Kontext stellen. Kennen wir überhaupt alle Bezüge, und wie zufällig ist unsere Auswahl? Welche Texte ziehen wir in welchem Umfang als intertextuellen Kontext heran und wie begründen wir dies? Welcher Bezug zu welchem früheren Text und seinem Kontext ist tatsächlich offenkundig oder kann womöglich als intendiert bezeichnet werden? Sind dann nur intendierte oder auch ‚unintendierte‘ Bezüge einzubeziehen? Wie bestimmen oder „bilden“14 wir also d e n oder d i e deutungsrelevanten Kontext/e? Lassen sich diese überhaupt objektiv festlegen und mit welcher Begründung schließen wir potentielle Bezüge aus? Wir sehen uns also vor der Aufgabe, vor bzw. eher im Zuge der Analyse und Interpretation von Gleichnissen Hypothesen darüber aufzustellen, welche der oben genannten Kontexte zu berücksichtigen sind.15 Auch in anderer Hinsicht lassen sich die relevanten Kontexte für die Interpretation von Gleichnissen häufig nicht auf textimmanente reduzieren. Der Begriff ‚Kontext‘ enthält in der Auseinandersetzung mit epischen Gleichnissen noch eine weitere Facette; es kommt der oben bereits angedeutete extratextuel14 15

Zu den Verfahren der Kontextbildung und Kontextverwendung grundlegend Danneberg (1990). Vgl. auch Jahraus (2014) 143; Gärtner in diesem Band, S. 260–261. Dies ist mit Neumann/Nünning (2006) 4 unabdingbar und erfolgt zwangsläufig; von den Interpretierenden werde nur unterschiedlich stark die „Praxis und Strategie der Kontextualisierung selbst theoretisch reflektiert“. Ähnlich konstatiert Danneberg (1990) 89 „bei Einzelinterpretationen“ werde häufig nicht hinreichend geklärt, „welchen Zwecken die Verwendung von Kontexten dienen soll und welche Verfahren bei ihrer Bildung in Anspruch genommen werden.“ Zur Notwendigkeit den weiteren Kontext eines Textes zu reflektieren und rekonstruieren vgl. auch Rescher (2008) 181. Ders. 183: „Die wesentliche Aufgabe der Textinterpretation ist es nicht, Möglichkeiten bloß zu untersuchen, sondern sie auch zu bewerten.“ Vgl. Jahraus (2014) 143.

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le Kontext hinzu, der auf den kulturellen Rahmen des entsprechenden Werkes rekurriert.16 Auch hier sind wir gefragt, die relevanten Kontexte zu rekonstruieren. Der Vergleichsgegenstand stammt zumeist aus einer anderen Sphäre als das Verglichene.17 Der Text hat damit eine zweite Ebene, die Bildebene, die die Sachebene der eigentlichen erzählten Welt ergänzt. Dies lässt sich beispielsweise in den homerischen Epen sehr gut beobachten; die Gleichniswelt ergänzt die narrative Welt des Krieges: In den Bildern sind Aspekte des alltäglichen Lebens, etwa der Tätigkeit von Bauern und Jägern verarbeitet. Gleichnisse gewähren dem Leser einen Einblick in die zeitgenössischen kulturellen Gegebenheiten und stehen so als kulturelles Zeugnis der Zeit des Autors und der Tradition.18 In den Argonautica des Apollonios Rhodios zeigt sich, wie eng der intertextuelle Kontext mit dem extratextuellen verwoben ist. So ist in diesem Werk das „kulturelle Wissen“19 seiner Zeit greifbar: Die Gleichnisse spielen deutlich auf

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Demgemäß lässt er sich auch als „kultureller Kontext“ bezeichnen, vgl. Gärtner in diesem Band, S. 261; zur Definition des extratextuellen Kontextes grundlegend Danneberg (2000) 334; Neumann/Nünning (2006) 7. Baßler (2008) 134 bezeichnet diese Verbindungen eines Textes mit dem extratextuellen Kontext in seiner Beschreibung des New Historicism metaphorisch treffend als „Webstellen, an denen das Kunstwerk mit seiner zeitgenössischen Kultur verwoben ist.“ – Die Unterscheidung Reschers (2008) 180 in drei Ebenen des Kontextes eines Textes („die unmittelbare Ebene“ = der textimmanente Kontext, „die nahe gelegene Ebene“ ~ der intertextuelle Kontext und „die entfernte oder periphere Ebene“ ~ der extratextuelle Kontext) lässt sich damit also konkretisieren; in der Wahl der Begriffe erscheint sie für die Interpretation von Gleichnissen antiker epischer Texte etwas zu unspezifisch. Zur Spannung zwischen Identität und Nicht-Identität dieser beiden Sphären vgl. Bochumer Diskussion (1968) 113–114; Rieks (1981) 1012; Lausberg (1990) 231 § 420,2; Gärtner (1994) 42; Blaschka (2015) 19. Neumann/Nünning (2006) 12–13 beschreiben die Bedeutung des (inter- und) extratextuellen Kontextes auch für Gleichnisse treffend: „(…) Elemente des intra- und infratextuellen Kontexts [sind] einerseits durch den inter- und extratextuellen Kontext präfiguriert. Gattungsmuster, Plotschemata, bestimmte Topoi, Allegorien oder Metaphern etwa gehören nicht nur dem textuell-literarischen Repertoire an, sondern strukturieren auch andere Bereiche bzw. Wissensordnungen einer Kultur. Andererseits können Elemente des intra- und infratextuellen Kontexts auf den inter- und extratextuellen Kontext zurückwirken und diesen produktiv modifizieren und um neue Aspekte anreichern.“ Vgl. auch Rescher (2008) 182, der in der Nichtbeachtung dieses weiteren Kontextes den „vielleicht schwerwiegendsten Mangel“ des Dekonstruktivismus sieht. Hierzu Neumann/Nünning (2006) 6: „Literarische Texte stehen damit in einem offenen und dynamischen Bezug zum kulturellen Wissen ihrer Entstehungszeit (…)“. Vgl. Anm. 16.

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die Epen Homers an. Zugleich blitzt in ihnen die Diskussion der zeitgenössischen Homerphilologie auf: Die Gleichnisse dienen als Kommentare der von Homer geschilderten Bildwelt und ihrer sprachlichen Ausgestaltung.20 Diese kurze Skizze stellt den Versuch dar, eine definitorische Basis für die folgende Analyse zu schaffen, und wirft bereits einiges Licht auf die Herausforderungen, die eine Kontextualisierung der Gleichnisse antiker Epen mit sich bringt. Ein rein textzentrierter Ansatz,21 der lediglich den (primären und sekundären) textimmanenten Kontext zugrunde legt, kann nicht zielführend sein, wenn es um eine avisierte Annäherung an ein möglichst komplexes Verständnis eines antiken Werkes bzw. der in ihm enthaltenen similitudines geht.22 Wir müssen als moderne Leserschaft eines antiken Textes den intertextuellen und extratextuellen, d. h. auch historisch-kulturellen Kontext des Werkes und v. a. seiner potentiellen Rezipienten beachten. Die Deutung solcher Texte „und mit ihr die Interpretation bzw. Aneignung des kulturellen Wissens ist ein konstruktiver Akt, der nicht vom Text allein gesteuert wird, sondern auch von dem spezifischen, historischen und kulturell distinkten Kontext, von dem jeweils kulturell prävalenten Wissen, von den Kenntnissen, Erwartungshaltungen und Dispositionen der Leserschaft.“23 Bei der Auseinandersetzung mit Texten einer derart großen zeitlichen Distanz müssen der Interpretation also Annahmen über den „ursprünglichen Leser“ zugrunde gelegt werden.24 Standen Kontexte, die wir aus heutiger Perspektive als deutungsrelevant annehmen, auch dem zeitgenössischen Leser vor Augen? Wie begründen wir dabei unsere Privilegierung bestimmter Kontexte?

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Reitz (1996) 148 arbeitet demgemäß „die Variationsbreite der apollonischen Gleichnisse“ sowie „ihre ausgefeilte und differenzierte Technik“ heraus, vor allem was ihren gelehrten Anspruch und ihre sprachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit den homerischen Vorbildern betrifft; vgl. zum Homerbezug auch Effe (1996) u. (2008). Einen kurzen Überblick über die wichtigsten modernen literaturwissenschaftlichen Ansätze und ihre zugrunde gelegten Text-Kontext-Modelle bieten Neumann/Nünning (2006) 5–19. So hält Rescher (2008) 184 fest: „Diejenige Interpretation, die am besten mit dem Gesamtkontext eines Textes harmoniert, ist als solche eine höherwertige Interpretation und hat dadurch einen berechtigteren Anspruch darauf, von uns akzeptiert zu werden.“ Neumann/Nünning (2006) 21; „der rezipientenseitige Kontext“ werde so „bedeutungskonstitutiv“. Vgl. Willand in diesem Band zum Modell des theoretischen Lesers, S. 92–93.

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Im Folgenden werde ich an einem aussagekräftigen Beispiel aufzeigen, wie vielfältig sich die potentiellen deutungsrelevanten, vor allem intertextuellen Kontexte ausnehmen, auf welcher Basis hier Hypothesen zur Relevanz getroffen werden können und wie sich dadurch die (Neu-)Kontextualisierung der Gleichnisse als literarische Strategie der jeweiligen Autoren erkennen lässt.

3. Das Gleichnis vom Weiden-/Kriegs-/Rennpferd Als Ausgangspunkt für die Betrachtung der potentiell deutungsrelevanten Kontexte eines Gleichnisses dient mir das Epos Lucans: Im Bellum Civile liegt uns ein Text vor, der auf frühere Epen (v. a. Ovid, Vergil, Apollonios Rhodios, Homer), die gleichfalls auf ihre jeweiligen Vorgänger anspielen, zurückgreift und auf den selbst spätere Autoren, so etwa Valerius Flaccus, rekurrieren.25 Gerade das nachfolgend eingehender betrachtete Bild vom Eleusischen Rennpferd steht in einer langen epischen Tradition. Ich möchte im Folgenden den Fokus auf einige ausgewählte allusive Bestandteile dieses Gleichnisses richten.26 Wir befinden uns im ersten Buch des Bellum Civile Lucans. Nach der Aitiologie (Luc. 1,67–182) beginnt die eigentliche Kriegsschilderung mit dem Vermerk, dass Caesar die Alpen im Eilschritt überquert habe (Luc. 1,183–185a). Caesar überwindet im Folgenden schrittweise jedwede mora: Obgleich sich ihm die zitternde Patria entgegenstellt (Luc. 1,185–192),27 überschreitet er nach kurzem Zögern,28 angestachelt durch seine eigene Rede, den Rubicon (Lucan.

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Im Besonderen mit der Wiederaufnahme von Gleichnissen der jeweiligen Prätexte befassen sich beispielsweise Carspecken (1952); Rengakos (1994); Reitz (1996) (Apollonios Rhodios – Homer); West (1970) (Vergil – Apollonios Rhodios, Homer); Carlson (1972) (Vergil – Homer); Blaschka (2015) (Lucan – v. a. Homer, Apollonios Rhodios, Vergil, Ovid); Gärtner (1994) (Valerius Flaccus – v. a. Vergil, Homer, Apollonios Rhodios, Lucan); Río Torres-Murciano (2006) (Valerius Flaccus – Lucan). Vgl. die ausführliche Interpretation des Gleichnisses in seinem textimmanenten und intertextuellen Kontext bei Blaschka (2015) 73–79. Vgl. hierzu beispielsweise Lebek (1976) 117–120; Narducci (2002) 194–207 und die Literaturhinweise von Maes (2005) 1 Anm. 1 und Kimmerle (2015) 223 Anm. 226. Luc. 1,192b–194: tum perculit horror / membra ducis, riguere comae gressumque coercens / languor in extrema tenuit uestigia ripa.

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1,204–205a).29 Es folgt das Gleichnis vom Löwen, das Caesars Entschluss zum Bürgerkrieg eindrücklich abbildet (Luc. 1,205b–212).30 Daraufhin eilt Caesar nach Ariminum. Dort steigert sich seine Entschlossenheit zum Krieg nochmals. In einer Rede (Luc. 1,273–291a) treibt der Volkstribun Curio Caesar weiter an. Seine Argumentation hat Erfolg: Die Erregung Caesars wird gesteigert: sic postquam fatus, et ipsi / in bellum prono tantum tamen addidit irae / accenditque ducem, quantum clamore iuuatur / Eleus sonipes, quamuis iam carcere clauso / immineat foribus pronusque repagula laxet. (Luc. 1,291b–295) Und nachdem er so gesprochen hatte, fügte er ihm, der selbst (schon) zum Krieg bereit war, dennoch (noch) so viel Zorn hinzu und entflammte den Anführer, wie durch Geschrei ein Ross in Elis angetrieben wird, obwohl es schon bei noch verschlossener Box den Schranken droht und vorwärts geneigt die Riegel lockert. (Übers. K.B.)

Konzentrieren wir uns zunächst auf den primären textimmanenten Kontext. Einige exemplarisch genannte Formulierungen sind hierbei sinntragend: Es handelt sich bei dem Pferd um ein Eleus sonipes, ein Eleusisches Ross, wobei das Attribut das Pferd als Rennpferd identifiziert, da dies auf Elis, den Schauplatz der Olympischen Spiele auf der westlichen Peloponnes anspielt. Das Pferd steht carcere clauso, vor noch verschlossener Box und lockert durch sein Drängen die Riegel (repagula laxet). Die Wiederholung der Vokabel pronus verbindet Bezugstext und Gleichnis am stärksten miteinander: Caesar ist wie das Tier bereit zum Losstürmen. Aufschlussreich ist sodann die Berücksichtigung des intertextuellen Kontextes: In der antiken Epik vor Lucan ist es nichts Neues, einen epischen Kämpfer in seinem Eifer zum Kampf mit einem Pferd zu vergleichen. Gerade

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Hier wurde eine Inkonsistenz im Erzählen festgestellt, da Lucan die Rubiconüberquerung vermeintlich doppelt schildert, so z. B. Rondholz (2009) 444; Radicke (2004) 176. Kimmerle (2015) 227–228 weist zu Recht auf die plausible Lösung hin, dass dasselbe Geschehen aus zwei verschiedenen Perspektiven geschildert werde. Es ergibt sich aber eine noch einfachere Lösung des vermeintlichen Problems: An Caesars Rubiconübergang schließt sich das Löwengleichnis und eine knappe Beschreibung des Flusses an; die eigentliche epische Handlung setzt danach in 1,220 wieder an und schließt direkt an 1,205a an: Nun überwinden die Truppen das Wasser. Der Ablativus absolutus superato gurgite (1,223) macht klar, dass Feldherr und Truppen den Rubicon überschritten haben; vgl. Blaschka (2015) 66 Anm. 131. Vgl. Blaschka (2015) 61–66.

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der Prätext Vergil und vermutlich auch Homer, auf den Vergil selbst anspielt, wird dem Rezipienten des Bellum Civile bekannt gewesen sein. Durch die dortigen equus-Bilder ist klar, wie das Pferd lospreschen wird, wenn sich die Schranken öffnen. Turnus macht sich in der Aeneis zum Kampf bereit: cingitur ipse furens certatim in proelia Turnus. / (…) exsultatque animis et spe iam praecipit hostem: / qualis ubi abruptis fugit praesepia uinclis / tandem liber equus, campoque potitus aperto / aut ille in pastus armentaque tendit equarum / aut adsuetus aquae perfundi flumine noto / emicat, arrectisque fremit ceruicibus alte / luxurians luduntque iubae per colla, per armos. (Verg. A. 11,486–497) Rasend rüstet voll Eifer sich Turnus selber zum Kampfe. / (…) Mutig frohlockt er und sieht im Geist den Feind schon geschlagen: / also zerreißt seine Fesseln und stürzt hinweg von der Krippe, / endlich frei, das Ross, und hat es gewonnen das offne / Feld, so strebt es zur Weide und drängt zu den Herden der Stuten, / oder, gewohnt im vertrauten Strom des Wassers zu baden, / springt es, reckt hochauf seinen Nacken und wiehert voll Lust und / Kraft, um Hals und Bug spielt prächtig flatternd die Mähne. (Übers. Götte)

Paris rüstet sich im homerischen Text zur Schlacht: οὐδὲ Πάρις δήθυνεν ἐν ὑψηλοῖσι δόμοισιν, / ἀλλ’ ὅ γ’, ἐπεὶ κατέδυ κλυτὰ τεύχεα ποικίλα χαλκῷ, / σεύατ’ ἔπειτ’ ἀνὰ ἄστυ ποσὶ κραιπνοῖσι πεποιθώς. / ὡς δ’ ὅτε τις στατὸς ἵππος, ἀκοστήσας ἐπὶ φάτνηι, / δεσμὸν ἀπορρήξας θείηι πεδίοιο κροαίνων, / εἰωθὼς λούεσθαι ἐϋρρεῖος ποταμοῖο, / κυδιόων, ὑψοῦ δὲ κάρη ἔχει, ἀμφὶ δὲ χαῖται / ὤμοις ἀΐσσονται· ὃ δ’ ἀγλαΐηφι πεποιθώς, / ῥίμφά ἑ γοῦνα φέρει μετά τ’ ἤθεα καὶ νομὸν ἵππων· / ὣς υἱὸς Πριάμοιο Πάρις κατὰ Περγάμου ἄκρης / τεύχεσι παμφαίνων ὥς τ’ ἠλέκτωρ ἐβεβήκει / καγχαλόων, ταχέες δὲ πόδες φέρον. (Hom. Il. 6,503–514) Und auch Paris weilte nicht lang in den hohen Gebäuden, / sondern er zog die berühmte Rüstung von Erz, die verzierte, / an und durcheilte die Stadt, den hurtigen Füßen vertrauend. / Wie wenn ein Pferd im Stall, das satt sich fraß an der Krippe, / dann sein Halfter zerreißt und stampfend über das Feld läuft, / hin zum gewohnten Bad im schön hinströmenden Flusse, / stolz und aufrecht hält es das Haupt, und um seine Schultern / flattern die Haare der Mähne; dem Jugendglanze vertrauend, / tragen die Kniee es leicht zur gewohnten Weide der Pferde: / So lief Paris, des Priamos Sohn, von Pergamos nieder, / in seiner Rüstung leuchtend so wie die Strahlen der Sonne, / jauchzend, ihn trugen die Füße, die schnellen. (Übers. Hampe)

Den Bildern seiner Vorgänger, die sich in ihren Nuancen freilich unterscheiden, ist gemeinsam, dass es sich nicht um ein Rennpferd handelt, sondern um ein Ross, das frei ist (bei Vergil deutlich als liber gekennzeichnet) und nun ins

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offene Feld und zu einem Gewässer läuft. Entscheiden wir uns als Leser dafür, diesen intertextuellen Kontext mitzudenken, eröffnen sich weitere Deutungsdimensionen des lucanischen Bildes: Das (noch) eingesperrte Ross tritt in augenfälligen Kontrast zum freien Loslaufen des Pferdes bei Homer und Vergil. Als Indiz dafür, dass der zeitgenössische Leser vor allem das Bild in der Aeneis mitdenken sollte, kann der Kontrast in der Wortwahl gelten: carcere clauso im lucanischen Bild (Luc. 1,294b) spielt augenscheinlich auf campo aperto im Gleichnis Vergils an (Verg. A. 11,493). Hier wirkt der Prätext nach und erweitert das Bild bei Lucan: Die Handlungsetappe nach dem Lösen der Schranken muss er nicht beschreiben: Der Ablativus absolutus abruptis vinculis (Verg. A. 11,492)31 lässt das vergilische Bild genau beim ‚freudigen‘ Losstürmen ansetzen. Der Leser des Bellum Civile kann sich also vorstellen, mit welchem Eifer Caesar losschlagen wird. Lucan setzt einen anderen Akzent: Für ihn steht das Anstacheln mehr im Vordergrund, als dies bei Vergil und Homer der Fall ist. Zugleich schwingt der primäre textimmanente Kontext der Vorgängerbilder mit: Paris eilt in den Kampf sowie auch Turnus; im Bilde Vergils jedoch liegt der Fokus insgesamt eher auf dem sich in Freiheit wohlfühlenden Pferd, sodass es zugleich als Symbol für den Freiheitsdrang des Turnus steht.32 Beides wird durch die Anspielung im lucanischen Bild auch in diesen Text transportiert. Daneben wirft die Spezifizierung als Rennpferd Fragen an den Leser auf: Weshalb entscheidet sich Lucan gerade für den Eleus sonipes? Ein weiterer Prätext bietet hier vielleicht die Erklärung. In den Argonautica des Apollonios Rhodios begegnet ein Gleichnis von einem Kriegspferd in einer ähnlichen Situation: Iason bereitet sich auf seine nächste Aufgabe, das Pflügen mit den Stieren sowie den Kampf mit den Erdgeborenen vor; die Kräfte von Medeas Zaubersalbe dringen in seine Glieder: καὶ δ’ αὐτὸς μετέπειτα παλύνετο· δῦ δέ μιν ἀλκὴ / σμερδαλέη ἄφατός τε καὶ ἄτρομος, αἱ δ’ ἑκάτερθεν / χεῖρες ἐπερρώσαντο περὶ σθένεϊ σφριγόωσαι. / ὡς δ’ ὅτ’ ἀρήιος ἵππος, ἐελδόμενος πολέμοιο, / σκαρθμῷ ἐπιχρεμέθων κρούει πέδον, αὐτὰρ ὕπερθεν / κυδιόων ὀρθοῖσιν ἐπ’ οὔασιν αὐχέν’ ἀείρει – / τοῖος ἄρ’ Αἰσονίδης ἐπαγαίετο κάρτεϊ γυίων. (A.R. 3,1256–1262) Und danach rieb Iason sich selbst ein. Und es senkte sich in ihn eine schreckliche, unaussprechliche und furchtlose Stärke, und beidseits regten sich machtvoll die

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Parallel dazu Hom. Il. 6,507: δεσμὸν ἀπορρήξας. Hierzu Gärtner (1994) 83–84.

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Arme, die übermäßig vor Kraft strotzten. Und wie wenn ein Kriegspferd, begierig nach der Schlacht, beim Sich-Aufbäumen wiehert und auf den Boden stampft, doch prangend mit gespitzten Ohren den Nacken darüber erhebt: So nun frohlockte der Aisonide über die Stärke seiner Glieder. (Übers. Dräger)

Iason wird in einem Bild, das die Spannung und Entschlossenheit vor Beginn einer Schlacht fokussiert, mit einem wirklichen Kriegspferd verglichen, das den πόλεμος herbeisehnt. Gerade hierin lässt sich eine entscheidende Parallele vom lucanischen Text zu den Argonautica feststellen: Caesar ist, wie das Rennpferd, pronus, entschlossen zum Krieg (bzw. zum Wettkampf) und kann es nicht erwarten loszustürmen. Auch hier geht es also um Zustand und Haltung vor Kriegsbeginn. Die Sphäre des lucanischen Bezugstextes (Caesar unmittelbar vor dem Krieg) und des apollonischen Bildes (der ἀρήιος ἵππος vor Schlachtbeginn) sind identisch. Dabei lässt sich eine auffällige Wandlung des Vergleichsgegenstandes Pferd beobachten. Apollonios Rhodios spielt mit dem homerischen Bild des Weidenpferds und macht aus dem Weide- ein Kriegspferd.33 Lucan scheint mit Blick auf den Bürgerkrieg als Teil eines ‚Wettkampfes‘ zwischen den großen Antagonisten planvoll aus dem ἀρήιος ἵππος ein Rennpferd gemacht zu haben, da Caesar ebenso wie dieses von äußeren Einflüssen angetrieben wird.34 So wird der Beginn des ‚Wettkampfes‘ um Italien suggeriert! Nehmen wir die Argonautica-Stelle als Prätext, d. h. als relevanten intertextuellen Kontext an, schwingt auch das Verhalten des Kriegspferdes im 33

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Hierzu Reitz (1996) 85. Vgl. dies. 84–85 zum Phänomen, dass das homerische Pferdegleichnis nicht nur in Il. 6,506–511, sondern auch Il. 15,263–268 begegnet. Zur Homererklärung (insb. des homerischen κροαίνων, Hom. Il. 6,507), die in dem Gleichnis des Apollonios Rhodios enthalten ist, Rengakos (1994) 107. Interessant wäre an dieser Stelle der Blick auf einen Nachfolger Lucans, der wiederum das Kriegspferd aufgreift: Valerius Flaccus vergleicht Iason, der sich zur Abfahrt von Lemnos entschließt, mit einem bellator equus und greift damit von den Argonautica des Apollonios Rhodios ausgehend auch auf die anderen Prätexte zurück (V. Fl. 2,384b–391a): haec ubi dicta, / haud secus Aesonides monitis accensus amaris, / quam bellator equus, longa quem frigida pace / terra iuvat – uix in laeuos piger angitur orbes –, / frena tamen dominumque uelit si Martius aures / clamor et obliti rursus fragor impleat aeris. / tune Argum Tiphynque uocat pelagoque parari / praecipitat. Der Kontrast gerade zum vergilischen Vorgängerbild ist offenkundig: Dort befreit das Pferd sich von den Fesseln, hier nun verlangt es nach Zügeln! Ausführlich Gärtner (1994) 83. Zu den textkritischen Problemen in 2,387 Gärtner (1994) 81 Anm. 1, der hier in ihrer Entscheidung für uix gefolgt wird; Dräger (2003) ad loc. etwa entscheidet sich dagegen für quique.

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lucanischen Bild mit. Lucan lässt den Kontrast zum eigentlich Naheliegenden wirken. Das lucanische Gleichnis spielt folglich gleichfalls auf diesen Text an, sodass sich der relevante intertextuelle Kontext ausdehnt. Zugleich ist der primäre textimmanente Kontext der Prätexte aufschlussreich, wenn wir uns klar machen, wer jeweils mit dem Pferd verglichen wird: Am bezeichnendsten ist wohl die Parallelisierung Caesars mit Turnus, dem Hauptfeind des Aeneas bei Vergil: So wird vor allem die Kennzeichnung der Caesarfigur als furens und kriegstreibend sowie als Feind verstärkt. Aber auch der apollonische Iason wird im lucanischen Caesar präsent, etwa in der Gleichsetzung des kriegerischen Optimismus oder in der „Fremdeinwirkung“, die diese Zuversicht bedingt bzw. forciert.35 Der kundige Leser identifiziert das Pferd im Gleichnis Lucans durch das Attribut Eleus als Rennpferd. Dass dies dem Rezipienten bekannt war, wird bestätigt, zieht man einen weiteren Prätext heran: Speziell für das Bild vom (Renn-)Pferd in Elis findet sich eine Parallele in Ovids Heroides. Leander erstrebt seine Belohnung: saepe per adsiduos languent mea bracchia motus, / vixque per immensas fessa trahuntur aquas. / his ego cum dixi: ‚pretium non vile laboris, / iam dominae vobis colla tenenda dabo,‘ / protinus illa valent, atque ad sua praemia tendunt, / ut celer Eleo carcere missus equus. (Ov. Her. 18,161–166) Oft werden meine Arme durch die unaufhörlichen Bewegungen schlaff, und ermüdet lassen sie sich kaum noch durch das unendliche Meer bewegen. Wenn ich ihnen sage: „Der Preis für eure Mühe ist nicht gering, bald werde ich euch den Hals meiner Herrin umarmen lassen“, sofort sind sie wieder stark und sie streben ihrem Lohn zu, wie das schnelle Pferd aus den Schranken von Elis hervorprescht. (Übers. Hoffmann et al.)

Die wörtlichen Parallelen sind zweifelsohne auszumachen.36 Denkt der Leser diesen gattungsexternen intertextuellen Kontext mit, da womöglich gerade der Kontrast im jeweiligen primären textimmanenten Kontext ihn reizt, werden

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So ist es mit Pietsch (1999) 110 keineswegs als Schwäche Iasons anzusehen, dass er Zaubermittel braucht; vielmehr erweise er sich, indem er sie richtig einsetzt, als „tauglich“ im Krieg, gerade auch angesichts dieser „übermenschlichen Aufgabe“. Rosati (1996) ad loc. sieht in dem Ovidtext eine Anspielung auf Tib. 1,4,32 qui prius Eleo est carcere missus equus! Für das lucanische Bild gibt diese Stelle kein Indiz auf eine intendierte intertextuelle Verbindung.

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Caesars Siegeswille sowie seine persönliche Motivation zum Kriegsentschluss im lucanischen Text betont: Die bracchia (wie Leander selbst) stehen in den Heroides im Dienst ihrer Herrin; das Moment der Hingabe im Sinne einer militia amoris überträgt sich von diesem erotischen Kontext auf den tatsächlich kriegerischen im Bellum Civile. Daneben kommt das Motiv der Schnelligkeit explizit hinzu, das im lucanischen Gleichnis in der Entschlossenheit bereits angelegt und mit dieser ohnehin prägend für die Caesarfigur ist. Ist im Bild aus den Heroides das Pferd ebenfalls bereits losgelassen, steht dem Gleichnis Lucans in seinem Ansatz (also vor dem Lospreschen) eine Stelle aus den Tristien der Gleichnishandlung noch näher. Ein Freund, an den Tr. 5,9 gerichtet ist37 und der Ovid stets beigestanden hat, möchte nicht genannt werden: haec meus argutis, si tu paterere, libellis / poneret in multa luce videnda labor; / nunc quoque se, quamvis est iussa quiescere, quin te / nominet invitum, vix mea Musa tenet. / utque canem pavidae nactum vestigia cervae / latrantem frustra copula dura tenet, / utque fores nondum reserati carceris acer / nunc pede, nunc ipsa fronte lacessit equus, / sic mea lege data vincta atque inclusa Thalia / per titulum vetiti nominis ire cupit. (Ov. Tr. 5,9,23–32) Wenn du es littest, so würde mein Schaffen dies in beredten / Büchern in helles Licht setzen, für alle zu sehn. / Jetzt schon hält meine Muse, wiewohl ihr Schweigen geboten, / kaum sich zurück, daß sie nicht trotz deinem Wunsche dich nennt. / Und wie den Hund, der die Spur der ängstlichen Hirschin gefunden, / fesselt die Härte des Bands, ob er auch zerrt und sich sträubt, / oder wie feurig das Pferd an die noch nicht erschlossenen Schranken / bald mit dem Fuß und bald stößt mit der Stirne sogar, / so will meine Thalia, gehemmt durch Gebot und gefesselt, / sich in des Namens Ruhm, der ihr verwehrt ist, ergehn. (Übers. Willige)

Die Muse Thalia drängt (Ovid) zum Niederschreiben des Namens und geht dabei wie ein equus acer mit Hufen und Stirn gegen die noch nicht geöffneten Schranken an. Auch wenn hier ebenso zu beachten ist, dass es sich um eine andere Gattung als das Epos handelt und der textimmanente Kontext gänzlich verschieden zum lucanischen Gleichnis ist, ist eine Parallele in dem Drängen im Bild zu sehen. Zieht man den jeweiligen primären textimmanenten Kontext heran, wird ein sinntragender Kontrast evoziert: Thalia wird die Schranken 37

Laut Luck (1977) 313 handelt es sich womöglich um M. Aurelius Cotta Maximus Messallinus.

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nicht durchbrechen (Ovid fügt sich dem Wunsch seines Freundes, Tr. 5,9,33– 34) – Caesar hingegen schon. Die Entschlossenheit des Protagonisten wird vor diesem Hintergrund noch einmal betont. Auch ein weiterer Text Ovids kommt als Prätext in Frage: In seinem Epos, den Metamorphosen, wird Pentheus, der durch Lärm angetrieben und in seinem Zorn angestachelt wird, mit einem feurigen, aufgewiegelten Pferd verglichen: ut fremit acer equus, cum bellicus aere canoro / signa dedit tubicen, pugnaeque adsumit amorem, / Penthea sic ictus longis ululatibus aether / movit, et audito clamore recanduit ira. (Ov. Met. 3,704–707) Wie ein feuriges Pferd schnaubt und Lust bekommt, in die Schlacht zu ziehen, wenn der Kriegstrompeter mit dem klangvollen Erz das Signal gegeben hat, so wurde Pentheus erregt, weil langgezogenes Geheul den Äther erschütterte, und beim Anhören des Geschreis flammte sein Zorn wieder auf. (Übers. v. Albrecht)

Im primären textimmanenten Kontext beider Texte ergibt sich eine bezeichnende Parallelität im Entflammen des Zornes und der Hybris; dies lässt auf eine gezielte Anspielung Lucans auf den Text Ovids schließen: Pentheus, der das göttliche Wirken des Dionysos nicht erkannt hat, entbrennt in seinem Zorn und wird in Folge der eigenen Hybris von den Bacchantinnen, allen voran seiner rasenden Mutter Agave, ermordet. Über die Wiederverwendung des Bildes vom Pferd wird der Aspekt des übermütigen Handelns in den lucanischen Text importiert. Liest dessen Leser den primären textimmanenten Kontext des ovidischen Textes mit, ließe sich im Bellum Civile zudem eine Vorausdeutung auf Caesars eigene Ermordung (nicht durch verwandte, aber durch nahestehende Personen) annehmen. Der Vergleich in den Metamorphosen kennzeichnet darüber hinaus das Pferd eindeutig als Kriegspferd, das auf das entsprechende Trompetenzeichen reagiert. So sticht im Bellum Civile hervor, dass der Dichter Caesar mit einem Rennpferd gleichsetzt und noch kein Signal gegeben wurde, der Feldherr aber bereits rasend vor Zorn und Kriegslust ist. Im gattungsimmanenten intertextuellen Kontext findet sich so neben dem Bezug zu Apollonios Rhodios und Vergil eine weitere relevante Anspielung: Für den Leser ergibt sich in Ovids Metamorphosen eine sinnvolle Ergänzung des Gedankengangs im lucanischen Gleichnis, die auch sonst zur Figurencharakteristik passt; dies scheint die Behauptung zu rechtfertigen, dass Lucan auch diesen intertextuellen Bezug intendiert und bewusst evoziert.

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4. Resümee Es ist davon auszugehen, dass in erster Linie dem jeweilig späteren Autor, im obigen Beispiel geht es dabei vor allem um Lucan, und zu einem Großteil wohl auch seinen ursprünglichen Lesern die früheren Texte mit den entsprechenden Gleichnissen bekannt gewesen sind. Nicht jede Parallele kann dabei als gleichermaßen deutungsrelevant gelten. Legt man den Grad der Sinnerweiterung als Maßstab an, wobei, wie oben geschildert, Annahmen über den ursprünglichen Leser zugrunde gelegt werden, lassen sich bestimmte Bezüge privilegieren. Dies kann nicht ausschließen, dass dieser weitere Prätexte mitgedacht hat, die wir entweder als weniger relevant deklarieren oder gar nicht kennen. Nichtsdestotrotz können wir als moderne Leser versuchen, den Indizien auf deutungsrelevante Kontexte zu folgen: Mehr oder weniger deutliche Markierungen, etwa in der übereinstimmenden oder planvoll variierenden Wortwahl des Dichters,38 lassen uns aufhorchen; der Sinn erweitert sich durch den Bezug und die Aussagekraft des Bildes erhöht sich durch die Präsenz der ‚fremden‘ Kontexte. Es wird abgeändert und angepasst in einen neuen ‚Kontext‘ gestellt, d. h. in der Zusammenschau mit den angenommenen Prätexten schreibt das aktuelle Gleichnis diese fort. Dabei wird es als etwas bereits Bestehendes neu kontextualisiert und verweist auf seine/n Prätext/e. So fordert es den ursprünglichen wie auch den modernen Leser zum Nachvollziehen der verschiedenen, sich mitunter konterkarierenden oder kontrastierenden Sinnebenen auf und lenkt ihn damit in eine bestimmte Deutungsrichtung. Dabei ist maßgeblich, dass es auch dem ursprünglichen Leser möglich gewesen sein muss, die Bezüge zu erkennen (anachronistische Verweise etwa sind also auszuschließen). Dem antiken Leser waren dabei die Texte wohl vertrauter als uns, die wir in „akribischer Lektüre“39 die Prätexte als Basis unserer Interpretation erforschen müssen, um so einer Beliebigkeit bei der Auswahl der relevanten Bezüge entgegenzuarbeiten.

38 39

Hierzu grundlegend Wills (2001). Baßler (2007) 364.

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Sensus diversi ut congruant. Semantische Kontext1 strategien in den spätantiken Vergilcentonen Martin Bažil (Prag)

Abstract Cento poetry provides an excellent source of material for the study of various phenomena related to the context and contextualisation. Individual elements (fragments) in the texts are clearly delimited, which makes it much easier to distinguish between the ‘contextualised’ and the context. In addition, every fragment is tied at least in two different contexts – the reference to the original Virgilian text which is retrieved (ideally) from the reader’s memory, and the context created through the new configuration of the quoted fragments in the cento. The second context can refresh the meanings of the individual fragments, which were potentially present but suppressed in the original context. Under this superficial context, a deeper strategy can be discerned, employed by the centonists to reposition the elements of the original texts in the new semantic structure of their poems – e.g. the ‘leading reminiscence’ (Leitreminiszenzen), repeated references to a single passage from the original text; ‘analogical allusions’ to similar passages in the original text (typically descriptions of similar people or things) which turn the whole cento passage to a sort of abstraction from the original text; ‘synergic allusions’ that are semantically too vague to inspire association with the original passage, but their repetition (e.g. within the ‘leading reminiscence’) reinforces the allusive potential of the quotes; or the indirect (contextual) allusion, which is designed to evoke a specific part of the immediate context of the original text.

Die lateinische Textsortenbezeichnung cento hat denselben metaphorischen Hintergrund wie die – ebenso erst in der Spätantike üblich gewordenen – Termini textus und co(n)textus, nämlich das Bild eines Sprachgebildes als textilen Stoffes. Nach der Terminologie der Klassiker der kognitiven Metaphernforschung George Lakoff und Mark Johnson handelt es sich um kohärente, d. h.

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Dieser Beitrag ist im Rahmen des durch die Agentur für Forschung der Tschechischen Republik unterstützten Projekts GA ČR 15–14432S „Textus. Entstehung des Textkonzeptes in der spätrömischen Literatur“ entstanden. Für Anmerkungen zur ersten Fassung dieses Textes bedanke ich mich bei Ute Tischer, für die sprachliche Korrektur bei Thomas Pimingsdorfer (Budweis), für den Zugang zu damals noch im Druck befindlichen Texten bei Marie Okáčová (Brünn) und Daniel Vallat (Lyon).

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sich gegenseitig unterstützende Metaphern:2 Während das „Gewebe“ des Textes aus „Fäden“ (den Wörtern, syntaktischen Verbindungen, Ideen usw.) besteht, wird ein cento aus Fragmenten vorgefertigten Materials zusammengestückelt, sei es des textilen oder des sprachlichen.3 In seiner ursprünglichen, nichtmetaphorischen Bedeutung bezeichnet das Wort nämlich einen aus Lappen oder Fetzen zusammengenähten Flickstoff oder ein Erzeugnis daraus (Decke, Sack, Kleidung usw.). Als literarischer Fachbegriff meint es dann ein (im Idealfall völlig) aus Zitaten zusammengesetztes Gedicht.4 Das Prinzip der literarischen Centonentechnik besteht darin, dass – in einem ersten Schritt – aus dem Quellentext einzelne Fragmente (Verse, Halbverse oder nicht viel längere Texteinheiten) herausgelöst werden, wodurch sie konkrete Konturen bekommen, welche sie im Fluss des Quellentextes nicht hatten.5 Diese Fragmente werden dann in einem zweiten Schritt als genau umrissene Bauelemente für die Zusammenstellung eines neuen Textes benutzt.6 Obwohl die Konturen einzelner Bausteine in den spätantiken Centonen durch geschicktes Zusammensetzen vertuscht wurden und die Illusion von Homogenität erzeugt werden sollte (vgl. dazu unten den Ausonius-Brief), ließ die Tatsache, dass als Ausgangsmaterial fast ausschließlich notorisch bekannte Texte benutzt wurden und der zeitgenössische Leser wahrscheinlich einen erheblichen Teil der Einzelfragmente identifizieren konnte, diese Grenzen nicht ganz verschwinden. Durch das Vorhandensein solcher im Prozess der Entstehung festgelegten klaren Konturen (gleich den Umrissen eines farbigen Lappens im bunten patch2 3

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Lakoff/Johnson (1980) 22 und passim. Das Wort „Fragment“ wird hier in einer spezifischen Bedeutung benutzt: Es werden mit ihm kleine Abschnitte (Verse, Halbverse u. a.) des vergilischen Textes bezeichnet, aus welchen ein Cento zusammengestellt ist, nicht etwa erhaltene Überreste eines sonst verloren gegangenen Textes, wie sonst in der klassischen Philologie üblich (vgl. z. B. den Beitrag von Alexandra Trachsel in diesem Band). Vgl. die vielzitierte Definition bei Tertullian (Tert. praescr. haer. 39,4–7): Vides hodie ex Virgilio fabulam in totum aliam componi, materia secundum versus et versibus secundum materiam concinnatis. (…) Homerocentones etiam vocari solent qui de carminibus homeri propria opera more centonario ex multis hinc inde compositis in unum sarciunt corpus. Diese Grenzen können sich mit den Versgrenzen oder mit den Zäsuren (Diäresen) decken, müssen dies aber nicht. Schnapp (1992) 100 (und passim) beschreibt die einzelnen Schritte beim Verfassen von Centonen mit metaphorischen Ausdrücken aus dem Bereich des Textilen: „In her patchwork verse compositions, Proba tears loose verse fragments from the Bucolics, Georgics, and especially the Aeneid, and weaves them back together“.

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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workartigen cento-Stoff), das zu den charakteristischen Merkmalen eines Cento-Textes gehört, erweist sich die Unterscheidung zwischen der unmittelbaren Umgebung (dem „Kontext“) und dem zu kontextualisierenden Element (Fragment) als viel eindeutiger, als dies bei anderen Textsorten der Fall ist. Das Ziel des vorliegenden Artikels ist es, die Rolle des Kontextes bzw. der Kontexte für den semantischen Aufbau eines Cento-Textes zu untersuchen und an einigen konkreten centonistischen Schreibstrategien zu illustrieren. Inspiriert durch die Unterscheidung im einschlägigen Kapitel des jüngst erschienenen Kompendiums „Materiale Textkulturen“ (2015)7 kombiniere ich im Folgenden zwei Herangehensweisen an den Begriff „Kontext“: Zum einen bezeichne ich mit diesem Wort den sprachlichen Oberflächenkontext im Cento. Zum anderen übernehme ich aus den materialnahen Fächern (z. B. der Archäologie) die Idee der „Verwendungsbereiche“, die ein Element (ursprünglich ein materiales Objekt, hier ein Textfragment) sukzessiv durchwandert und die, durch die mit ihnen verbundenen Handlungen, an ihm auch Spuren hinterlassen (bzw. hinterlassen können). Diese Vorstellung wird hier ins Sprachliche übertragen: Im Fokus steht die Ähnlichkeit/Unterschiedlichkeit beider „Verwendungsbereiche“ eines Textfragments, d. h. seiner konkreten Kontexte im Vergiltext und im Cento, sowie die semantischen Prozesse, die bei der Eingliederung dieses Fragments besonders in den Cento-Kontext ablaufen. Als sprachliches Pendant von „Spuren“, also von den in einem Verwendungsbereich entstandenen Veränderungen eines Objekts, kann man die semantische Belastung ansehen, die durch das Vorhandensein des Fragments in seinem vorigen Kontext entstanden ist. Besonderes Interesse gilt dann den Strategien, mit denen der Centonist diese „Spuren“ im übernommenen Fragment (Zitat) aktiviert und sie für den semantischen Aufbau des neuen Zusammenhangs nutzt.

1. Textoberfläche: Der „synaptische Kontext“ und die Aktualisierung des semantischen Potentials Den sprachlichen Oberflächenkontext eines Einzelfragments bildet seine unmittelbare Umgebung, d. h. die vorangehenden und nachfolgenden Fragmente, zwischen die es gleich einer Zelle im Zellgewebe (um die Webe-Metapher wei-

7

Luft/Ott/Theis (2015) 101.

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terzuspinnen) eingebettet ist und mit denen es durch syntaktische, metrische und semantische „Synapsen“ verbunden wird. Nach Lutz Dannebergs Typologie der Kontexte handelt es sich um den intratextuellen Kontext, den antecedentia und sequentia bilden.8 Eine Übertragung dieses Typs auf eine höhere Ebene stellt der Danneberg’sche Typus des infratextuellen Kontextes dar, bei dem ein Element auf das Textganze bezogen wird (das beim Cento durch die Summe oder eher die Konfiguration aller anderen Einzelfragmente gebildet ist). Diese Form des Kontextes bzw. der Kontextualisierung ist die einzige, die in dem detailliertesten metapoetischen Text über den Cento erwähnt wird, den wir aus der Antike besitzen: in dem Brief an den Rhetor Axius Paulus, den Ausonius als eine Art Selbstkommentar seinem Cento nuptialis – wahrscheinlich erst ex post zu einer kaum näher bestimmbaren Zeit – hinzugefügt hat.9 Bezeichnenderweise erscheint das Wort „Kontext“ in keiner der mir zugänglichen Übersetzungen dieses Briefes in eine moderne Sprache,10 obwohl Ausonius den neu entstehenden Zusammenhang im Cento an mehreren Stellen erwähnt – zum Beispiel wenn er sein Gedicht opusculum de inconexis continuum, de diversis unum nennt (§ 12,11 „das Werkchen, aus Unverbundenem zusammenhängend, aus Verschiedenem ein Einziges“), die Art und Weise seines Vorgehens beschreibt (§ 14: variis de locis sensibusque diversis quaedam carminis structura solidatur, „aus mannigfachen Stellen und verschiedenen Bedeutungen wird ein bestimmter Bau des Gesanges gefügt“12) oder das Ziel der Bemühungen eines Centonisten wie folgt definiert: sensus diversi ut congruant, adoptiva quae sunt ut cognata videantur, aliena ne interluceant (§ 22, „dass (…) verschiedener Sinn übereinstimmt, dass das, was adoptiert ist, verwandt erscheint, dass Fremdes nicht dazwischen hervorleuchtet“). All diese Äußerungen beziehen sich auf die nahtlose Zusammenstellung des neuen Textes, besonders in metrischer und syntaktischer Hinsicht.13 Semantische Aspekte des Prozesses werden nur an den beiden letztgenannten Stellen

8 9 10

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Danneberg (2000) 333. Zu diesem Brief vgl. den Kommentar von Dräger (2011) 441–463. Green (1991) ins Englische, Combeaud (2010) ins Französische, Dräger (2011) ins Deutsche, Carmignani, in La Fico Guzzo/Carmignani (2012), ins Spanische, Okáčová (2016) ins Tschechische. Die Nummerierung der Paragraphen sowie die deutsche Übersetzung des Cento nuptialis hier und im Folgenden nach Dräger (2011) 125–141. Übersetzung nach Dräger (2011), mit leichten Änderungen. Vgl. dazu u. a. Palla (1983) 288 und passim.

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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erwähnt (§§ 14 u. 22). Beide Male wird die Uneinheitlichkeit der Fragmente hervorgehoben, die zugunsten der Homogenität des neuen Zusammenhangs ausgeglichen werden müsse (de sensibus diversis (…) structura solidatur bzw. sensus diversi ut congruant). Man kann also davon ausgehen, dass auch in semantischer Hinsicht hauptsächlich – wenn nicht ausschließlich – die Oberflächenkongruenz der Einzelfragmente zueinander gemeint ist, besonders die grammatische Kongruenz der verwendeten Wörter, die eine conditio sine qua non für die angestrebte Kohärenz des Cento-Textes ist. Dieser Oberflächen- oder „synaptische“ Kontext hat jedoch auch eine wichtige Funktion auf der semantischen Ebene der Centonisierung. Zumindest bei manchen Einzelfragmenten kommt es nämlich während dieses Prozesses zu einem interessanten Phänomen: Sie werden in den neuen Zusammenhang in einer ganz anderen Bedeutung eingegliedert, als sie im Quellentext hatten, und die Wahl dieser Bedeutung, aus allen potentiellen Bedeutungen, die das Fragment in sich trägt, erfolgt unter dem Einfluss dieses neuen Kontextes. Strukturalistisch ausgedrückt: Nach der Lösung aus dem ursprünglichen Kontext werden diese Fragmente zu semantisch neutralen Zeichen, zu Lexemen besonderer Art – die konkrete Bedeutung, die sie im Quellentext hatten, d. h. das durch den Ausgangkontext aktualisierte Semem, wird neutralisiert.14 Im neuen Kontext wird dann eine andere von ihren potentiellen Bedeutungen gewählt, die mit der ursprünglichen nichts zu tun hat. Gute Beispiele dafür liefert der Umgang der Centonisten mit den Eigennamen der vergilischen Welt, deren ursprüngliches Denotat oft nicht zum narrativen Inhalt des Cento passen würde.15 Hosidius Geta (2./Anfang 3. Jh.), wahrscheinlich der bei Tertullian erwähnte Autor der im Codex Salmasianus anonym erhaltenen Cento-Tragödie Medea, war in dieser Hinsicht besonders kreativ. So wird bei ihm aus Creusa, der unglücklichen Gattin des Aeneas, die gleichnamige (ebenfalls unglückliche) Braut Iasons, die als erste der Rache

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Diese neutralisierende Zwischenphase ist jedoch nur hypothetisch, da die aus dem ursprünglichen Kontext (und aus allen Kontexten schlechthin) gelösten Textfragmente keine fixierte Existenz haben. Beiseite lasse ich hier die umstrittene Form Musaeum in Cento Probae 37, die eventuell für Moses stehen kann. Vgl. u. a. Sineri (2009) und Schottenius Cullhed (2015) 128–132, z. B. 128: „Proba may very well have used the name Musaeus for the Judeo-Christian prophet, since it was often believed from the Hellenistic era onwards that Mousaios was the Greek name for Moses, and that Orpheus studied under him in Egypt“.

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Medeas zum Opfer fällt.16 Der Name der Königin Amata wird an einer Stelle ins substantivierte Partizip amata, „die Geliebte“, zurückverwandelt.17 Eine ganz andere Bedeutung erhält auch der Halbvers Media fert tristis sucos: Während er bei Vergil die Zitronenernte in Medien bezeichnet, wird er bei Hosidius in einer Replik Iasons auf Medea bezogen, die „schädliche (Gift-)Tränke“ bringt, mit einer geringfügigen phonetischen Lizenz, die jedoch für die Tradition der vergilischen Centonen der Spätantike ganz typisch ist.18 In diesen Fällen handelt es sich um eine geschickte Ausnutzung von Homonymie, jedoch innerhalb derselben Wortart. Solche Mechanismen können nichtsdestoweniger auch über die Wortartengrenzen hinausreichen und andere Wortgruppen als Eigennamen betreffen: In Vergils 7. Ekloge heißt es, zwei Hirten seien et cantare pares et respondere parati, „in der Gesangskunst ebenbürtig und (beide) zur Antwort bereit“ (Ecl. 7,5). Mit einer kleinen phonetischen Anpassung – ähnlich wie im oben erwähnten Beispiel mit Media/Medea – wird die erste Hälfte des Verses in Pomponius’ christlichem Centogedicht Versus ad gratiam Domini (Ende des 4./5. Jh.) wiederbenutzt, wo ein (christlicher) Hirte über einen anderen sagt: et cantare paras, „du bereitest dich vor zu singen“ (V. 5). Dieses letztgenannte Beispiel zeigt besonders anschaulich, dass die aus dem Vergiltext geschöpften Fragmente in einem weiteren (hypothetischen) Schritt auf ihre Zeichenmaterialität reduziert, d. h. in kontextlose Zeichen verwandelt wurden, aus deren potentiellen Bedeutungen erst durch den neuen Kontext die passenden aktualisiert werden.19 Bei dieser Aktualisierung spielen die „Synapsen“ eine wichtige Rolle: Ähnlich wie die durch die Fragmentierung zerrissenen grammatischen Verbindungen an offenen Stellen neu angeknüpft werden (indem z. B. Paare wie Subjekt-Prädikat oder Nomen-Attribut neu zusammengestellt werden), helfen auch offene Inferenzen aus dem breiteren oder engeren semantischen Kontext dem Leser, aus den potentiellen Bedeutungen (Sememen) die „richtigen“, d. h. die in den neuen Zusammenhang passenden herauszusuchen.

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Verg. A. 2,778 = Med. 243: asportare Creusam. Die Lesart asportare, gegen die in den Vergileditionen öfter übernommene Lesung portare, ist in einem Teil der handschriftlichen Tradition und bei Servius belegt; vgl. Rondholz (2012) 62 ad loc. (Apparat). Vgl. auch Galli (2017) 274 ad loc. A. 12,56–57 = Med. 210–211: per si quis amatae / tanget honos animum (mit amata bezeichnet Medea sich selbst). Vgl. Galli (2017) 257 ad loc. Zu diesen Beispielen vgl. Rondholz (2012) 102–103. Vgl. Vallat (2017) 142: „La décontextualisation permet de créer des outils textuels non marqués ou des syntagmes adaptables à différents types de contextes.“

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Der breitere, narrative Kontext, derjenige des ganzen mythologischen Inhalts, übernimmt diese Funktion – auf eine ganz einfache Weise – im ersten der oben erwähnten Beispiele aus Hosidius’ Medea: Der Name Creusa wird dort automatisch auf die in der Geschichte vorausgesetzte Person bezogen. Der engere Kontext, die Konfiguration der konkreten umliegenden Fragmente, spielt im letztgenannten Beispiel aus Pomponius’ Versus ad gratiam Domini (AL 710a Riese) eine Rolle. Der ganze, aus verschiedenen Eklogen-Zitaten zusammengesetzte Satz lautet dort: Hic inter flumina nota (Ecl. 1,51) et fontis sacros (Ecl. 1,52) deductos dicere versus (Ecl. 6,5) et cantare paras (Ecl. 7,5) divino carmine, pastor (Ecl. 6,67) (…) (Versus ad gratiam Domini, 3–5) Hier, zwischen bekannten Flüssen und heiligen Quellen, bereitest du, Hirte, dich vor, in göttlichem Lied einfache Verse zu rezitieren und zu singen.

Der unmittelbare grammatisch-semantische Kontext (die Anrede, d. h. ein Subjekt in der 2. Person Singular, die Aneinanderreihung der zwei Infinitive dicere und cantare, das Fehlen einer definiten Verbalform im Satz usw.) veranlasst den Leser, die angepasste Form paras als entsprechende Verbalform zu deuten. Im Beispiel mit Media kombinieren sich die Einflüsse beider Kontexte. Der narrative Kontext lässt den Leser das Toponym Media spontan als den Personennamen Medea interpretieren, die Assoziierung mit der Giftkunst der Zauberin wird durch die unmittelbar folgenden Fragmente unterstützt: Media fert tristis sucos (Verg. G. 2,126) nigrisque (Verg. A. 4,514) infecta venenis (Verg. A. 7,341), „M. bringt schädliche Tränke und ist mit schwarzen Giften verpestet“. Das Vorhandensein der Ausdrücke venenum und infectus am Versende aktualisiert im Adjektiv tristis im ersten Fragment die Bedeutung (das Semem) „schädlich“, trotz der ursprünglichen Bedeutung „herb“ bei Vergil (über Zitronensaft). Der aktuelle, neue grammatische sowie semantische Kontext im Cento erweist sich also (zumindest auf dieser Ebene) als dominanter. Die Kunst des Centonenschreibens besteht in dieser Hinsicht darin, den Leser – auf möglichst elegante Weise – dadurch zu überraschen, dass die Kraft des neu erschaffenen kontextuellen „elektrischen Feldes“ das jeweilige Textelement semantisch „umpolarisiert“, d. h. solche semantischen Aspekte hervortreten lässt, die in ihm zwar – mehr oder weniger potentiell – präsent sind, im ursprünglichen (vergilischen) Zusammenhang aber keine Rolle spielten.

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2. Tiefere Strukturen Unter dieser Oberfläche sind dann tiefere Strukturen zu finden, die auf den ersten Blick relativ unscheinbar sind, zumindest für den heutigen Leser, dessen Vertrautheit mit dem Vergiltext mit derjenigen des spätantiken römischen Publikums kaum zu vergleichen ist. Der wichtigste gemeinsame Zug dieser Strukturen ist, dass sie – im Unterschied zum Oberflächenkontext – den ursprünglichen Kontext der Einzelfragmente berücksichtigen und diesen in den semantischen Aufbau des Cento-Textes mit eingliedern. Man kann mindestens vier Arten solcher Strukturen unterscheiden, die jedoch nicht auf der gleichen Ebene anzusiedeln sind:20 Leitreminiszenzen und analogische Allusionen betreffen die Anzahl und Art (Inhalt) der vergilischen Passagen, aus welchen eine Cento-Passage zusammengestellt wird; bei synergetischen und kontextuellen Allusionen geht es um den Wortlaut der zitierten Fragmente und um die Beziehung zwischen diesem und dem konnotativen Potential des Fragmentes.

2.1. Leitreminiszenzen Den Begriff „Leitreminiszenz“ hat Reinhard Herzog für die Analyse der Centonen eingeführt.21 Er bezeichnet mit ihm die mehrfache Wiederholung von Zitaten aus einer Passage des Quellentextes in einer Passage des Cento-Textes, z. B. in einer Episode, einem Bild, einer direkten Rede usw. Eine solche wiederholte Zitierung fungiert dann als verstärkte Allusion, d. h. sie vermag es, beim Leser die Quellenpassage zuverlässig zu evozieren, so dass er beide Passagen vergleichen und zwischen ihnen eine semantische Beziehung herstellen kann: entweder affirmativ (die Konnotationen unterstützen die Aussage der jeweiligen Passage im Cento) oder kontrastiv, zum Beispiel parodistisch oder polemisch.22

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Das heißt unter anderem, dass sich diese Strukturen in konkreten Fällen auch überlappen oder gegenseitig ergänzen können. Herzog (1975) 9. Im Englischen werden sie als „clustered allusions“ bezeichnet – siehe zum Beispiel Whitby (2007) 211. Jeffrey T. Schnapp bezeichnet diese beiden Typen der Beziehung zwischen Cento und Quellentext als „Konsonanz“ und „Dissonanz“; siehe Schnapp (1992) 112: „a steady oscillation between patterns of intertextual consonance – associated with the impulse to allegorise Virgil’s works – and dissonance – associated with a counterimpulse to reflect ironically upon them“.

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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Mehrere um Leitreminiszenzen herum konstruierte Passagen finden sich im Cento Probae. So stützt sich zum Beispiel die Beschreibung der Hölle (V. 474–486), die Proba in ihre Bergpredigt-Paraphrase eingefügt hat, stark auf Zitate aus zwei Reden der Sibylle und des Anchises im 6. Buch der Aeneis, in denen es um die Beschreibung der Unterwelt und die postumen Schicksale der Seelen geht (A. 6,562–627 und 724–751). Dabei mischen sich Elemente affirmativer und kontrastiver Rezeption: Einerseits verleihen die auf diese Weise hervorgerufenen Bilder der vergilischen Unterwelt der Höllenschilderung eine poetische Wirkung, andererseits übernimmt Proba aus ihrer Quelle nur solche Elemente, die mit der christlichen Doktrin zu vereinbaren sind (und lässt so z. B. jede Erwähnung der Metensomatose aus).23 Manchmal überschreitet die Leitreminiszenz die Grenzen einer Episode und wird strukturell – wie zum Beispiel die bei Proba systematisch aufgebaute Parallele zwischen Jesus und Vergils Camilla, zuerst (V. 372–376) als kleine Kinder, mit denen ihre Eltern fliehen mussten (Metabus mit Camilla aus Privernum, Maria mit Jesus nach Ägypten), später (V. 384–387) als glänzende junge Menschen (die schöne junge Kriegerin einerseits, der von der Menschenmenge bewunderte Jüngling bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte andererseits). Durch wiederholtes Zitieren aus den Camilla-Episoden der Bücher 7 und 11 der Aeneis lässt Proba in ihrer Nacherzählung der Kindheit und Jugend Jesu eine typologische Parallele zwischen beiden Gestalten entstehen, die der Leser ihres Cento-Gedichtes dann, unter Rückbezug auf den Kontext in der Aeneis, frei weiterentwickeln kann – zum Beispiel bis zu Camillas Opfertod in jungem Alter.24 Auf diese assoziative Weise wird also nicht nur der unmittelbare (Oberflächenkontext), sondern auch der breitere narrative Kontext des Quellentextes in die Aussage des Cento-Textes eingebaut.

2.2. Analogische Allusionen Die Technik der „analogischen Allusionen“ besteht dagegen im systematischen Zitieren nicht aus einer einzigen Passage der Quelle, sondern aus mehreren mit ähnlichem Inhalt.25 Ein typisches Beispiel liefert Ausonius bei der Beschreibung der Braut im dritten Teil seines Cento nuptialis (Descriptio egredientis 23 24 25

Vgl. Bažil (2009) 165–170. Zu dieser Parallele vgl. Harich-Schwarzbauer (2009) 341–344. Zur Typologie bei Proba vgl. jüngst Schottenius Cullhed (2015) 150–188. Zu dieser Technik vgl. Bažil (2017) 53–55.

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Martin Bažil

sponsae, V. 33–45), die fast ausschließlich aus Verweisen auf Frauengestalten der Aeneis besteht, die durch ihre Schönheit charakterisiert sind: Dido auf dem Thron (A. 1,503 u. 506) und bei der Jagd (A. 4,136), Venus in ihrer Beziehung zu Ascanius (A. 10,132), als Jägerin (A. 1,315 u. 319), bei ihrer Offenbarung in Troja (A. 2,591–592) und vor Iuppiters Thron (A. 10,16), Helena (A. 1,650), nochmals Camilla (A. 7,53) und Lavinia (A. 12,65–66).26 Die Schilderung der Braut wird durch dieses sorgfältig aufgebaute Verweisnetz zu einer Art Quintessenz aller konnotierten Passagen, bzw. die Schönheit der Braut ist die Quintessenz der charakteristischen Schönheit all dieser Frauengestalten. Die meisten der in dieser Passage zitierten Fragmente werden sicher schon wegen der in ihnen auftretenden Wörter verwendet (Venus in V. 33 und 43, Helena in V. 42, virgo in V. 35, rubor in V. 36, vestes in V. 41 usw.). Bei manchen ist die Motivation auf dieser Ebene jedoch weniger klar. So müsste sich zum Beispiel das einleitende Fragment Tandem progreditur (V. 33), das einzelne Wörter betrifft, nicht unbedingt auf eine Frauengestalt beziehen. In der Tat stammt es vom Anfang der berühmten Jagd-Episode in Buch 4, wo es den wichtigen Moment beschreibt, in dem Dido nach langem Warten der Jäger endlich erscheint: tandem progreditur magna stipante caterva, „endlich tritt sie hervor, umwogt von großem Gefolge“ (A. 4,136).27 In der Centopassage passt es damit gut zu anderen, expliziteren Fragmenten, besonders zu weiteren Anspielungen auf Dido, die alle aus Buch 1 stammen (V. 42 = A. 1,650: Aeneas’ Geschenke für Dido; V. 44 = A. 1,503: ihr Äußeres; V. 45 = A. 1,506: Dido bei der öffentlichen Rechtsprechung). Die Technik ist aber wohl noch etwas subtiler. Die drei Verse nämlich, die diesem Fragment im 4. Buch der Aeneis folgen (A. 4,137–139), beschreiben die Schönheit Didos, ihre Kleidung, Waffen, Frisur und Schmuck. Diese Beschreibung wird bei Ausonius nicht zitiert. Es scheint jedoch, dass sie durch das auffällige Fragment Tandem progreditur, das aufgrund der schulischen Lektüre für den spätantiken Leser leicht identifizierbar gewesen sein dürfte, auf indirekte Weise mit aufgerufen wird. In einem solchen Fall besteht die Funktion des Fragments innerhalb des Cento-Textes in der Evokation seines ursprünglichen Kontextes: Das Kontextuell-Implizite gewinnt in ihm damit die Oberhand über das Explizite – also gerade im Gegenteil zu den Phänomenen der Textoberfläche, wo, wie oben gezeigt, sich der neue („synaptische“) Kontext in der Regel als dominant erweist. 26 27

Zu einer Übersicht und zur Identifizierung der Fragmente vgl. Dräger (2011) 450–451. Übersetzungen aus der Aeneis, hier und folgende, nach Götte (1983).

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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2.3. Synergetische Allusionen Wäre das oben beschriebene Beispiel ein Einzelfall, könnte man es als Zufall oder als Überinterpretation deuten. Es scheint jedoch, dass diese Technik in den Centonen öfter eingesetzt wird. Auch den darauffolgenden vierten Teil des Cento nuptialis nämlich, die Beschreibung des Bräutigams (Descriptio egredientis sponsi, V. 46–56), leitet Ausonius mit zwei ähnlich fungierenden Fragmenten ein: At parte ex alia (A. 10,362) foribus sese intulit altis (A. 11,36), „hingegen auf der anderen Seite begab sich durch die hohe Tür (der Knabe)“. Obwohl es ihre wörtliche Oberfläche kaum verrät, entstammen diese Fragmente zwei Episoden der Aeneis, die mit der Gestalt des königlichen Sohnes Pallas verbunden sind: aus seiner Aristie in Buch 10 und aus der Szene des feierlichen Abschieds, den Aeneas in Buch 11 von dem im Kampf gefallenen Pallas nimmt. Im Rest der Passage erscheinen dann noch drei weitere Verse aus Pallas-Episoden, die diesmal aber aus Buch 8 stammen und vielleicht sogar noch deutlicher auf Pallas Bezug nehmen: Zum einen aus Pallas’ Vergleich mit dem Morgenstern (V. 52 = A. 8,589 qualis ubi Oceani perfusus Lucifer unda „wie wenn, übergossen von der Woge des Oceanus, der Lichtbringer (…)“ und V. 53 = A. 8,591 extulit os sacrum caelo (…) „sein heiliges Gesicht aus dem Himmel gehoben hat“), zum anderen aus der Szene des ersten Treffens zwischen Aeneas und Pallas (V. 56 = A. 8,124 (…) dextramque amplexus inhaesit „und unter Umfassen ihrer Rechten hing er an ihr“). Zwischen den ersten beiden und den drei anderen mit Pallas verbundenen Fragmenten entsteht eine Art Synergie; sie unterstützen sich gegenseitig und lassen so die assoziative Verbindung der Passage im Cento mit der Gestalt des Pallas in der Aeneis deutlicher werden.28 Ähnlich wie in der Beschreibung der Braut wird der Rest des Textes durch Zitate aus thematisch verwandten VergilPassagen gebildet, die sich diesmal auf besonders schöne und/oder tapfere Jünglinge und Männer beziehen, auf Aeneas, Euryalus, Astyanax, Lausus, Turnus u. a.29 Auch die Gestalt des Bräutigams im Cento nuptialis wird also aus mehreren, in verschiedener Hinsicht vorbildlichen Männerfiguren der Aeneis zusammengestellt, deren Quintessenz sie verkörpert.

28

29

Helbig (1996) 98–102 nennt diese intertextuelle Strategie „Intensivierung“ oder „Emphase der Markierung durch Addition“ (d. h. durch „amplifikatorische Bezugnahme auf unterschiedliche Segmente eines Referenztextes“). Für eine Übersicht und die Identifizierung der Zitate siehe Dräger (2011) 451–452.

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Bei Ausonius erscheint die Technik der synergetischen analogischen Allusionen in virtuoser Form. Etwas schlichter aufgebaute Passagen dieser Art finden sich aber auch in anderen Centonen. Das folgende Beispiel ist dem anonymen Gedicht Progne et Philomela entnommen (V. 7–17): Die Figur des verbrecherischen Königs Tereus, der mit einer der unglücklichen Schwestern verheiratet war und die andere vergewaltigte und ihr die Zunge herausschnitt, damit sie über seinen Frevel kein Zeugnis ablegen könne, wird hier mehrfach mit Fragmenten beschrieben, die sich in ihrem ursprünglichen Kontext bei Vergil auf mörderische Tyrannengestalten bezogen und darüber hinaus oft mit Mord in der Familie zu tun hatten: sei es der grausame etruskische Herrscher Mezentius, der verräterische König Polymestor, der den ihm anvertrauten trojanischen Prinzen Polydoros aus Habgier tötete, oder Didos Bruder Pygmalion, der Mörder ihres ersten Ehemannes. Hic crudelis amor, ’ crudelis tu quoque, mater, ’ infelix puer atque ’ o d i u m c r u d e l e t y r a n n i ! (A. 1,361) Progeniem parvam ’ curaeque iraeque coquebant ’ Threicio regi, cum iam (A. 3,51) securus amorum (A. 1,350) coniugis infandae ’ inter deserta ferarum ’ fa s o m n e a b r u m p i t (A. 3,55) pariterque loquentis ab ore ’ decidit exanimis ’ vox ipsa frigida lingua: ’ haud impune quidem ’ dementia cepit amantem. ’ Pectore in averso ’ saevi monumenta doloris ’ fertque refertque soror, ’ crimenque, ’ f a c t a t y r a nni (A. 8,483) sanquis ait solide. ’ (…) (Progne et Philomela, 7–17)

Pygmalion Polymestor/ Pygmalion Pygmalion Polymestor

Mezentius

Es war eine grausame Leidenschaft – auch du warst grausam, Mutter. Unglückliches Kind und grausamer Hass auf den Tyrannen! Qualen und Zorn kochten den kleinen Sprössling für den thrakischen König, nachdem dieser, ohne auf die Liebe seiner ruchlosen Gemahlin Acht zu nehmen, bei den verlassenen Lagern der Wildtiere jedes Recht gebrochen hat; zugleich sind vom Munde der Sprechenden die Stimme selbst und die kalte Zunge abgefallen. Jedoch nicht ohne Strafe überfiel dieser Wahnsinn den Liebenden. In ihrer feindlich gestimmten Brust trägt die Schwester das Zeugnis des schrecklichen Schmerzes immer weiter, und über die Freveltat des Tyrannen erzählt überzeugend das Blut. (Übers. M.B., nach Galli 2014)

Auch Tereus erscheint also, ähnlich wie die Gestalten des Brautpaares im Cento nuptialis, als eine Quintessenz von mehreren vergilischen Gestalten und wird im Cento konnotativ mit ihnen verbunden, was seiner Schilderung eine viel ausgeprägtere dichterische Wirkung verleiht. Wie Maria Teresa Galli ge-

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zeigt hat, sind etliche andere Fragmente, aus denen diese Passage zusammengestellt ist, ziemlich makabren Stellen in Vergils Œuvre entnommen,30 so zum Beispiel der Ermordung des durch Pyrrhus verwundeten Polites vor den Augen seiner Eltern, des trojanischen Königspaares,31 dem Mord und der Beraubung des Pallas durch Turnus (samt der Szene des Danaiden-Mordes auf seinem Schild),32 Didos Selbstmord,33 Medeas Rache,34 Troilus’ Tod durch Achilles,35 der Ermordung Agamemnons36 und anderen. Manche von diesen Episoden sind dem Tereus-Mythos thematisch recht fern, so etwa diejenigen um Medea und Dido. Den gemeinsamen Nenner, die Analogie, auf deren Grundlage die Passagen in der Erzählung mittels Zitaten zusammengestellt wurden, bildet also eher ihr düsterer oder tragischer Ton, der die oben erwähnte lyrische Wirkung der Geschichte untermalt.

2.4. Kontextuelle Allusionen Zwei weitere Beispiele zeigen, dass das Aufrufen vergilischer Kontexte in der Centonendichtung auch subtilere und dabei präzisere Formen annehmen kann, als es im Cento nuptialis und in Progne et Philomela der Fall ist, wo die Hauptfunktion der evozierten Szenen und Episoden die Untermalung der Stimmung zu sein scheint, ohne dass der genaue Wortlaut von größerem Belang wäre. Das erste der beiden Beispiele ist eine vielzitierte Stelle aus Petrons Satyricon – es handelt sich also nicht um ein regelrechtes Cento-Gedicht, sondern um einen gelegentlichen und witzigen Einsatz der Cento-Technik in einem prosimetrischen Text. In Fragment 132 beschreibt Petron eine obszöne Situation, in der Encolpius, die Hauptfigur, mit seinem Glied spricht und es wegen seiner Impotenz mit schwülstigen Worten beschimpft. Die Reaktion des angesprochenen Körperteils (illa = mentula) beschreibt das folgende, aus drei Vergilzitaten zusammengestellte Tristichon:

30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Galli (2014) 153–176, z. B. 164: „serie di segmenti accomunati dalla presenza di dettagli macabri.“ V. 1 vacua atria lustrat (A. 2,548) – vgl. Galli (2014) 153. V. 5 thalamique cruenti (A. 10,498) – vgl. Galli (2014) 156. V. 6 notumque furens quid femina possit (A. 5,6) – vgl. Galli (2014) 157. V. 7 crudelis tu quoque, mater (Ecl. 8,48) – vgl. Galli (2014) 158. V. 8 infelix puer atque (A. 1,475) – vgl. Galli (2014) 158–159. V. 11 coniugis infandae (A. 11,267) – vgl. Galli (2014) 160–161.

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Martin Bažil Illa solo fixos oculos auersa tenebat, nec magis incepto uultum sermone mouetur (A. 6,469–470) quam lentae salices (Ecl. 5,16) lassoue papauera collo (A. 9,436). (Petr. 132,11) Sie hob hinweggewandt vom Boden nicht den starren Blick, und keiner Regung Schein verrät bei meinen Worten ihr Gesicht – der Weidenrute gleich und welkem Mohn (Übers. nach Müller/Ehlers 1965)

Das allusive Spiel mit Vergil in diesem Kleingedicht fungiert, neben der wörtlichen, narrativen Oberfläche, auf mindestens drei Ebenen.37 Die allgemeinste, „makrotextuelle“ Ebene38 bildet die Tatsache selbst, dass in einer solchen Situation aus Vergil zitiert wird – aus dem Schulautor non plus ultra, dessen Name dazu noch in einer Volksetymologie von virgo abgeleitet und ins Griechische als Parthenias, „der Jungfräuliche“ übersetzt wurde. Eine zweite Ebene bilden konkretere Verbindungen mit Szenen oder Episoden aus Vergils Werken. Das erste Distichon stammt aus einer berühmten Szene im 6. Buch der Aeneis, in der Aeneas in der Unterwelt dem Schatten Didos begegnet; die beiden von Petron übernommenen Verse beschreiben die Reaktion der unglücklichen Königin auf Aeneas’ Versuch sie anzusprechen. Auch der zweite Teil des dritten Verses (lassoue papauera collo) ist ein wörtliches Zitat aus einer hochpathetischen Szene, der Beschreibung des tragischen Todes des Euryalus, der zugleich den Gipfel der Liebesgeschichte zwischen Euryalus und Nisus, einem anderen jungen Mann aus dem Gefolge des Aeneas, darstellt. Nur das mittlere Fragment, das die erste Hälfte des dritten Verses bildet, ist kein Zitat, sondern eine vage Anspielung an die bukolische Welt, oder genauer an den literarischen Wettkampf der Hirten in der 5. Ekloge.39 Diese drei Vergilfragmente kann man also als Verweise auf verschiedene Formen erhabener Liebe bei Vergil verstehen. Sollten diese drei Episoden konkret gemeint sein oder symbolisch für die verschiedenen Formen der Liebe stehen – sie bilden auf jeden Fall einen schroffen Kontrast zu den frivolen Eskapaden von Encolpius und seinen Kumpanen. Zugleich sind alle drei Vergilpassagen mit Verlust, Tod und/oder Versagen verbunden, was mit dem Thema der Szene bei Petron zusammenklingt. 37 38 39

Zur Unterscheidung zwischen der narrativen Oberfläche und den Ebenen der Makro- bzw. Mikroallusionen vgl. McGill (2005) 24–30 oder Pelttari (2014) 98–99. Pelttari (2014) 99: „macrotextual allusion is concerned not primarily with the use of individual words but with the poet’s wholesale transposition of Vergilian poetry“. Vgl. Ecl. 5,16: Lenta salix quantum pallenti cedit olivae.

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Ähnliche Phänomene sind auch in anderen Centonengedichten, z. B. in Ausonius’ oben erwähntem Cento nuptialis, zu finden. Die besondere Originalität der Petronpassage liegt jedoch im Vorhandensein einer dritten, „mikroallusiven“ Ebene, auf der es um den genauen wörtlichen Kontext bei Vergil geht. Bei Vergil setzt sich nämlich nach dem von Petron zitierten Distichon die Beschreibung von Didos Reaktion mit dem folgenden Vers fort: quam si dura silex aut stet Marpesia cautes („als ob ein harter Stein oder der marpesische Felsen dort stünde“). Petron ruft mit ziemlich klaren Mitteln (mit quam am Anfang, mit dem Klangspiel salix/silex, mit den Opposita durus/lentus) diesen vergilischen Vers im Gedächtnis des Lesers auf und regt diesen zum Vergleich mit dem Vers im Satyricon an, wodurch das Hauptthema der ganzen Episode auf subtile, implizite Weise hervorgehoben wird: dass nämlich Encolpius’ mentula einer silex oder einer cautes gar nicht ähnlich ist.40 Dass ein derart raffiniertes semantisches Kontextspiel in der Tradition der Centonendichtung keinen Einzelfall darstellt, zeigt das folgende Beispiel. Es handelt sich um die Szene der Taufe Jesu im Jordan im Cento Probae, genauer um die Worte, die dabei – in Probas Version – vom Himmel ertönen:41 Die Taufe im Cento Probae (V. 403–412): Herkunft

Ursprünglicher Kontext

403

nate, meae vires, mea magna po- A. 1,664 tentia solus

Venus spricht Amor an

404

et praedulce decus

A. 11,155

Euandros trauert um seinen Sohn Pallas

magnum rediture A. 10,507 parenti,

Pallas’ Leichnam wird an seinen Vater zurückgegeben

404 405

40

41

a te principium, tibi desinet.

Ecl. 8,11

Die evidente kontrastive Beziehung zwischen den beiden Versen, die in der Aeneis und bei Petron nach dem Distichon folgen, ist in der Forschung bereits vor längerer Zeit beobachtet worden, vgl. z. B. Collignon (1892) 131–132 oder Connors (1998) 32. Zu dieser Passage vgl. u. a. Badini/Rizzi (2011) 186: „Si ode una voce dal cielo: è il Padre (…) che si rivolge al Figlio con un discorso prolisso rispetto alla concisione evangelica (…) e con un diverso significato. Non è possibile stabilire a quali fonti Proba possa essersi riferita per creare questa scena, probabilmente al linguaggio della liturgia.“ Vgl. ferner Bažil (2017) 53–55.

310

405

406 406 407 407 408 408 409 409

Martin Bažil Herkunft

Ursprünglicher Kontext

accipe, testor, A. 11,559

König Metabus vertraut seine Tochter Camilla der Diana an

o m e a p ro g e n i e s :

A. 7,97

q u a s o l u t r u m q u e A. 7,100 rec ur re n s a sp ic it O ce a n u m ,

A. 7,101

perfecto laetus honore A. 3,178 o m n ia su b p e d i b u s

A. 7,100

v e r t i q u e reg i q u e A. 7,101 videbis. tu regere imperio populos,

A. 6,851

F aunus ’ P rophezeiung für Latinus Idem Idem Aeneas wendet sich an seinen Vater Anchises F aunus ’ P rophezeiung für Latinus Idem Anchises’ Rede an Aeneas

matresque virosque, A. 2,797

410

iam pridem resides animos desuetaque corda

A. 1,722

411

ignarosque viae mecum miseratus inertes

G. 1,41

412

adgredere et votis iam nunc adsuesce vocari.

G. 1,42

Amors erfolgreiche List

In dieser direkten Rede findet man drei Strategien, die mit konkreten Verweisen auf den ursprünglichen (vergilischen) Kontext arbeiten und die einander unterstützen. Die erste ergibt sich daraus, dass die Passage aus Zitaten zusammengesetzt ist, die als analogische Reminiszenzen funktionieren. Wie man der rechten Spalte der Tabelle entnehmen kann, erinnern die meisten Fragmente in dieser Passage an verschiedene göttliche, königliche oder heroische Paare von Elternteil und Kind aus der Aeneis: zweimal an Venus und Amor (V. 403, 410),42 42

Vgl. Badini/Rizzi (2011) 186: „Il Padre esordisce con le parole Nate, meae vires, mea magna potentia solus (v. 403), riprese da A. I,664, punto in cui la dea Venere, progettando l’innamoramento di Didone nei confronti di Enea, si rivolge a Cupido. Cupido è una delle manifestazioni della potenza della madre; analogamente l’Unigenito manifesta la potenza paterna con la sottolineatura del solus.“

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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an Euandros und Pallas (V. 404, beide Fragmente) sowie an Anchises und Aeneas (V. 407, 409), einmal an Metabus und die künftige Kämpferin Camilla (V. 405). Besonders der zu einem Vers (V. 404) verbundene zweifache Verweis auf die tragische Geschichte des Arkaderkönigs Euandros und seines Sohnes Pallas präsentiert sich deutlich als Parallele zur Geschichte Jesu,43 genauso wie die Anspielung auf Camilla, die, wie oben gezeigt, eine episodenüberschreitende Leitreminiszenz im Cento Probae bildet.44 Von diesen Einzelreminiszenzen hebt sich eine Passage ab, in der zwar auch auf ein Gestaltenpaar Vater-Sohn verwiesen wird, dies aber in fünffacher Wiederholung. Die kurze Passage wird dadurch deutlich hervorgehoben und fungiert zugleich als eine analogische und eine Leitreminiszenz. Es handelt sich um den Verweis auf den König Latinus und seinen göttlichen Vater Faunus im mittleren Teil (V. 406–408, in der Tabelle durch Sperrung hervorgehoben). Die prominente Stellung dieses Verweises in der sorgfältig aufgebauten Szene könnte zwei Gründe haben. Zum einen weisen die Gestalten des göttlichen Vaters und seines göttlich-menschlichen Sohnes mehr Parallelen mit Gottvater und Jesus auf als die anderen erwähnten Gestaltenpaare der Aeneis. Zum anderen wird mit diesen zwei Gestalten nicht auf eine beliebige Episode verwiesen, sondern auf eine konkrete Szene am Anfang des 7. Buchs der Aeneis (A. 7,81–106), in der Faunus’ Stimme seinem Sohn eine Prophezeiung in einem Waldtempel gibt. Diese vergilische Situation ist der Taufszene bei Proba ähnlich: In beiden Fällen manifestiert sich das göttliche Elternteil in Form einer Stimme, die dem Sohn eine Prophezeiung mitteilt. Außerdem wird die prophezeite Zukunft beide Male, im Unterschied etwa zur Pallas-Episode, ein gutes und kein tragisches Ende nehmen.45 Der letztgenannte Punkt erfährt jedoch durch die dritte, auf den Mikrokontext abzielende Strategie eine Korrektur. Im ursprünglichen vergilischen Kontext, 43

44 45

Es ist auffällig, dass eine ähnliche Strategie mit ähnlichem Material – zwei Verweise auf zwei Teile von Pallas’ Geschichte aus den Büchern 10 und 11 der Aeneis – an einer prominenten Stelle des Cento nuptialis, im ersten Vers (V. 46) der Beschreibung des Bräutigams, auftaucht (vgl. oben, S. 305). Diese Beobachtung, die hier ohne Kommentar bleiben muss, könnte für die Beziehung zwischen dem Cento Probae und Ausonius’ Cento nuptialis von Bedeutung sein. Vgl. oben, S. 303. Zu einer anderen Interpretation dieser Ebene vgl. Schottenius Cullhed (2015) 160: „A substantial part of these exhortations derive from an episode in which Faunus’ ghost speaks to Latinus in a prophetic revelation, telling him not to wed his daughter to a Latin (i.e. to Turnus), but to a foreigner (…). This mirrors the contact between God and his incarnation.“

312

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den die fünffache Reminiszenz bei gebildeten römischen Lesern zweifellos evozierte, steht inmitten der von Proba übernommenen Fragmente ein weiteres, das sie nicht zitiert, das jedoch auf Grund seiner festen Verbindung mit den anderen wohl auf eine ähnliche Art und Weise im Gedächtnis der Leser mitschwang, wie der erwähnte Folgevers des bei Petron zitierten Distichons. In der Aeneis liest man die Passage folgenermaßen (die Halbverse, die Proba übernimmt, sind durch Sperrung markiert; das ‚mitschwebende‘ Element ist unterstrichen): „Ne pete conubiis natam sociare Latinis, o m e a p ro g e n i e s , thalamis neu crede paratis; externi venient generi, qui s an g u i n e n o s t r u m n o m e n in a s t r a f e r a n t quorumque ab stirpe nepotes omnia sub pedibus, | qua sol utrumque recurrens aspicit Oceanum, | vertique regique videbunt.“ 46 (Verg. A. 7,96–101) Trachte doch nicht, deine Tochter Latinern zur Ehe zu geben, / du, mein Sohn, vertraue auch nicht der bereiteten Hochzeit; / Eidame kommen von fern, deren Blut einst unseren Namen / sternauf tragen soll, aus deren Stamme die Enkel / alles Gebiet, wo Sol im Osten und Westen das Weltmeer / schaut auf kreisender Bahn, als Herrscher zu Füßen sich werfen. (Übers. nach Götte 1983)

Dieses nur indirekt hervorgerufene Fragment erwähnt den Preis, den Latinus und sein Geschlecht für die glänzende Zukunft bezahlen müssen, nämlich Kriege, wörtlich „Blut“: qui sanguine nostrum nomen in astra ferant, „sie werden unseren Namen/Ruhm durch (ihr vergossenes) Blut zu den Sternen tragen“. Auf die Geschichte Jesu übertragen kann diese kontextuelle Reminiszenz als eine Form des „Andeutens“ (foreshadowing) betrachtet werden, die, wie Sigrid Schottenius Cullhed festgestellt hat, für Probas literarischen Stil charakteristisch ist.47 46

47

Zur Ambiguität von sanguine in V. 98 vgl. Horsfall (2000) 107: „primarily, of course in the sense of ‘bloodline’ (…) but O’Hara (63) is clearly right to see a small ugly oracular hint of ‘bloodshed’“. Vgl. O’Hara (1990) 63–64: „In the most obvious sense sanguine (…) means ‘bloodline’, and Faunus accurately predicts that the mixture of Latin and Trojan blood will bring fame to the Latins. But elsewhere in the Aeneid, sanguis means ‘blood, bloodshed’, and this is how the Trojans bring fame to the Latins, as scores of Latinus’ people will die.“ Vgl. Schottenius Cullhed (2015) 141–146 und passim, bes. 156: „In the passages dealing with Adam and Eve, the Virgilian verses create foreshadowing in the biblical narrative of the Cento. Horrific and calamitous characters and events from the

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313

3. Schluss: Interkontextuelle Strategien Wie aus den Analysen konkreter Textstellen hervorgegangen ist, bedienen sich die spätantiken Centonisten eines breiten Spektrums an kontextuell fundierten semantischen Strategien. Relativ selten sind die Fälle – oder zumindest: die identifizierbaren Fälle –, wo der ursprüngliche Kontext, zum Beispiel durch geschicktes Ausnutzen der Homonymie, ganz neutralisiert und das zitierte Fragment von ihm quasi gelöst wird (wie im pares/paras-Beispiel bei Pomponius).48 Dagegen gibt es eine ganze Reihe von Stellen, wo die Centonendichter konkrete Strategien einsetzen, um den ursprünglichen Kontext im Gedächtnis der Leser aufzurufen und zu aktivieren; der Zweck dieser Strategien ist, den Sinn des Cento-Textes auf diese konnotative Weise zu bereichern und zu vertiefen. Es ist möglich, dass der systematische Einsatz solcher Strategien den Centonisten als Kompensation für die Hürden dient, die ihnen ihr begrenztes vergilisches Material entgegenstellt: Sie haben zwar weniger ‚Bauelemente‘ zur Verfügung als andere Dichter, dafür sind diese aber (zumindest potentiell) semantisch reicher und profilierter als der geläufige lateinische Wortschatz.49 Der „Kontext“, aus dem diese semantische Bereicherung geschöpft bzw. der bei der Lektüre des Cento-Gedichtes in Anspruch genommen wird, kann jedoch – wie die verschiedenen centonistischen Textstrategien nahelegen – ganz unterschiedliche Formen annehmen: von Vergil und seinem Werk (vgl. z. B. die erste allusive Ebene in Petrons Tristichon) über thematisch verwandte Passagen (Frauengestalten in Ausonius’ Beschreibung der Braut, Paare Elternteil-Kind in der Taufszene im Cento Probae, Tyrannengestalten in Progne et Philomela), narrativ zusammenhängende Episoden (Camilla als Vorbild für die Gestalt Jesu bei Proba), eine Episode als Ganzes (zweite Ebene in Petrons

48

49

Virgilian hypotext are repeatedly invoked to prefigure the imminent disaster of the Fall, not least Dido’s story in the Aeneid. This reoccurring pattern of textual recycling connects the hypo- and hypertexts at various levels, transmitting the tragic dimension of the Carthaginian queen’s disastrous love onto these specific events.“ Siehe oben S. 300. Diese Neutralisierung ist nicht absolut, da eine Konnotation zum ursprünglichen, vergilischen Kontext trotz der Umdeutung des Fragments nicht ganz auszuschließen ist – die Herauslösung aus diesem Kontext, und vielleicht auch eine Art Opposition zu ihm, sind jedoch dominante Faktoren bei der Entstehung der neuen Bedeutung im Cento. Vgl. Formisano/Sogno (2010) 380: „on the one hand the author limits him- or herself to using material already given, i.e. Virgilian half lines, while on the other hand a radical subversion of meaning is enacted“.

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Tristichon, alle um eine Leitreminiszenz herum aufgebauten Passagen) bis hin zu konkreten Textstellen, die im Cento gerade nicht übernommen sind, im Gedächtnis des Lesers jedoch eine Art Pointe ergeben sollen (die dritte Ebene bei Petron, eventuell auch die indirekte Erwähnung des Blutes in der Taufszene bei Proba). Die Verbindung des Cento-Textes mit diesen verschiedenen Kontexten und ihr produktives Eingliedern in den semantischen Aufbau des Cento-Gedichtes erfolgt am rezeptiven Pol, beim Leser. Die Instanz, die durch gezielt gewählte Strategien die Zuordnung der präzisen Kontexte in passender Form und Ausmaß lenkt und dem Leser dadurch eine konkrete Orientierungshilfe bietet, ist jedoch der Autor.50 Wegen dieser wichtigen Stellung des Autors scheint auch der intertextuelle Ansatz zur Beschreibung der Centonendichtung nicht ganz zulänglich (obschon sie oft als intertextuelles Phänomen par excellence bezeichnet wird).51 Das Konzept der Intertextualität – sei es in seiner ursprünglichen, extremen Auffassung, die von Julia Kristeva herrührt, sei es in der jüngeren, für die Beschreibung von literarischen Texten adaptierten Variante, die z. B. Gérard Genette oder die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik vertreten – versucht ja den Autor wenn nicht ganz zu eliminieren („töten“), so doch zumindest seine Rolle in der Sinnkonstitution des Textes zu marginalisieren. Auch den Begriff der Markierung, der in der intertextuell orientierten Forschung oft benutzt wird,52 könnte man im Lichte des oben Gesagten weiterführen und verfeinern. Über eine Sichtbarmachung heterogener Elemente im Text hinaus zielen diese Strategien prinzipiell auf die Lenkung einer integrativen Lektüre des Cento-Textes mit einem deutlichen Nachdruck auf die ausgewählten (als für die vom Centonisten intendierte Bedeutung des neuen Textes relevant gezeichneten) Kontexte im Quellentext.53 In diesem Sinne scheinen sich die beiden Begriffe gegenseitig zu ergänzen: Während „Markierung“ auf die

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Zur Rolle der Autor-Instanz bei der Interpretation einer anderen inter(kon)textuellen Form, des Zitats, vgl. den Beitrag von Ute Tischer in diesem Band. Zu den Kategorien „Autor“/„Autorenfunktion“ bzw. Intentionalität und ihrer Einsetzbarkeit bei der philologischen Interpretation vgl. grundlegend Spoerhase (2007). Vgl. z. B. Broich (1985) oder die Definition bei Helbig (1996) 73; die intertextuelle Markierung fasst er als „deiktische Zeichen“ auf, „welche die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf eine ihrerseits deiktische Zeichenkette fokussieren sollen“. Zur Lektüre der Centonen am Beispiel des Cento Probae vgl. Schnapp (1992) 112: „By its very nature, that is, the Cento virgilianus invites practices of reading that are comparative: practices best defined as ‘critical’, ‘contextual’ and/or ‘exegetical’.“

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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Leserlenkung und die Faktur des (neuen) Textes fokussiert ist, orientieren „Kontext“ (und „kontextuelle Strategie“) vielmehr auf Semantik. Aus diesen Gründen bietet sich der interkontextuelle Ansatz als passender an, den Thomas Homscheid für die Beschreibung solcher Phänomene wie „reproduktives Schreiben/reproduktive Literatur“, „wiederholende Literatur“, „Adaptation“, „Imitation“ als ideologisch weniger belastete Alternative zum Intertextualitätsbegriff vorgeschlagen hat.54 Homscheids Modell, in dem keine der drei Instanzen „Autor“, „Text“ und „Rezipient“ bevorzugt wird, macht auf den kulturellen Kontext aufmerksam, den der Autor und der (von diesem intendierte) Rezipient teilen. Diesen Kontext (oder zumindest seine wichtigste Komponente) bildet im Fall der spätantiken Centonendichtung, paradoxerweise, die Omnipräsenz Vergils in der zeitgenössischen Kultur und die allgemeine, bis ins Detail gehende Vertrautheit mit dem Text seiner Werke, zusammen mit seinem spezifischen symbolischen Wert. Daher ist das Funktionieren der subtilen Kontextstrategien nur im Kontext dieser geteilten Vergilkultur vorstellbar.55 Der oben durchgeführte Versuch zur Erfassung dieser Strategien kann als eine gattungsspezifische Teilantwort auf Homscheids Ruf nach den „mikro-taxonomische[n] Differenzierungen des Interkontextualitätsbegriffs“ gelesen werden.56 Der Vorteil dieser beiden Begriffe, desjenigen des „Kontextes“ bzw. desjenigen der „Interkontextualität“, als deskriptive Instrumente zur Beschreibung der Centonendichtung, besteht vor allem darin, dass sie – noch prägnanter als 54

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Homscheid (2007) z. B. 33–34, 122, 221–252 und passim; zur Intertextualität vgl. bes. 259–263, z. B. 259: „Die Intertextualität als Debatte um die Relationalität zwischen verschiedenen Texten erfährt mit der Interkontextualität insofern eine Erweiterung und auch Relativierung, da es nicht länger nur um Texte und ihre Beziehungen zu anderen Texten gehen soll, sondern auch um Kontexte und ihre Rekurrenzen auf vergangene Kontexte oder Projektionen auf parallele oder zukünftige Kontexte.“ Das ist auch einer der Gründe für die komplizierte Rezeptionsgeschichte des Phänomens ‚Cento‘ in der europäischen Literatur, besonders im 19. und 20. Jahrhundert. Vgl. dazu zum Beispiel Schottenius Cullhed (2015) 60–71; 76–81 oder Formisano/ Sogno (2010) 381: „Like other genres developed in this period, the cento draws attention to the difficulty modern readers have in appreciating its literariness, so different in kind“. Vgl. Homscheid (2007) 340: „Dennoch bleibt eine mikro-taxonomische Untergliederung der Interkontextualität in wahrnehmbare und beschreibbare Phänomentypen wünschenswert, um die Operationalisierbarkeit des Interkontextuellen als literaturtheoretische Methode mit verfeinerten terminologischen Instrumentarien zu versehen.“

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der in der Forschung inzwischen üblich gewordene intertextuelle Ansatz – die Aufmerksamkeit auf die Mechanik der Sinnstiftung und -erschließung lenken und eine nuanciertere Erfassung spezifischer semantischer Phänomene ermöglichen. Wie es scheint, spielen diese Phänomene (in der Regel auktoriale Strategien, die es seitens des Lesers zu eruieren gilt) eine wesentliche Rolle in der Kommunikation zwischen dem Centonisten und seinem Leser, da sie beiden Seiten ihren eigenen Anteil an der (auf diese Weise geteilten) gattungstypischen Virtuosität zuweisen – und somit einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Reiz der Centonenpoesie darstellen. Literatur Badini, A., Rizzi, A. (2011): Proba. Il Centone, Bologna. Bažil, M. (2009): Centones Christiani. Métamorphoses d’une forme intertextuelle dans la poésie latine chrétienne de l’Antiquité tardive, Paris (Collection des Études augustiniennes – Série Moyen Âge et Temps modernes. 47). Bažil, M. (2017): „La mémoire de la citation. Teneur littérale et évocation implicite dans les centons virgiliens de l’Antiquité“, in: Vallat, D., Garambois-Vasquez, F. (Hgg.), Varium et mutabile. Mémoires et métamorphoses du centon dans l’Antiquité, Saint-Étienne, 49–60. Broich, U. (1985): „Formen der Markierung von Intertextualität“, in: Ders., Pfister, M. (Hgg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 35), 31–47. Collignon, A. (1892): Étude sur Pétrone. La critique littéraire, l’imitation et la parodie dans le Satiricon, Paris. Combeaud, B. (Hg.) (2010): Ausone de Bordeaux. Œuvres complètes, Bd. 1, Bordeaux. Connors, C. (1998): Petronius the Poet. Verse and Literary Tradition in the Satyricon, Cambridge. Danneberg, L. (2000): Art. „Kontext“, in: Fricke, H., Grubmüller, K., Müller, J.-D., Weimar, K. (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin/New York, 333–337. Dräger, P. (Hg.) (2011): Ausonius. Opera omnia, Bd. 2: Trierer Werke, Trier. Formisano, M., Sogno, C. (2010): „Petite Poésie Portable. The Latin cento in its late antique context“, in: Horster, M., Reitz, Ch. (Hgg.), Condensing texts – condensed texts, Stuttgart, 375–392. Galli, M. T. (2014): I Vergiliocentones minores del Codice Salmasiano, Firenze. Galli, M. T. (2017): Hosidius Geta. Medea. Text, Translation, and Commentary, Berlin. Götte, J. (61983): Vergil. Aeneis, München, Zürich. Green, R. P. H. (Hg.) (1991): The Works of Ausonius, Oxford. Harich-Schwarzbauer, H. (2009): „Von Aeneas zu Camilla. Intertextualität im Vergilcento der Faltonia Betitia Proba“, in: Mal-Maeder, D. van, Burnier, A., Núñez, L. (Hgg.), Jeux de voix. Énonciation, intertextualité et intentionnalité dans la littérature antique, Bern u. a., 331–346.

Semantische Kontextstrategien in den spätantiken Vergilcentonen

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Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca: Stoische Kernbegriffe im Kontext römischer Werte Peter Kuhlmann (Göttingen)

Abstract Seneca’s Epistulae morales are usually read as a philosophical source of stoic doctrine; the historico-cultural and social context of both author and audience, however, is often neglected. The letters may also be read in terms of their rhetorical strategies, which suggest that the letters were in fact closely connected to the traditional value system of the mos maiorum. Stoic doctrine and Roman values, however, are often incompatible. The paper offers a reading of Seneca’s letters which draws on methods from the field of cultural studies and combines them with approaches to literary communication. The analysis shows characteristics of his teachings between the poles of Greek philosophy and Roman values: The Roman reader may in some places consider stoicism to be a combination of mos maiorum and common sense, hardly differing from the traditional Roman value system.

1. Kontext, Sprachform und kulturwissenschaftliche Interpretation Senecas ‚philosophische‘ Werke werden heute in der Regel als dezidiert philosophische Texte im Kontext der stoischen Lehre gelesen und entsprechend in der Forschung behandelt. Dies hängt mit der selbstverständlichen Zuweisung zusammen, bei diesen Schriften handele es sich um Texte eines ‚philosophischen‘, d. h. hier speziell: eines stoischen Autors. Immerhin hat man sich bei Senecas Epistulae morales auch mit der Briefform und der Frage nach dem Adressaten im Sinne der primär textanalytischen Literaturwissenschaft befasst.1 Bei einer aufmerksamen Lektüre fällt freilich besonders in den ersten Briefen der Epistulae morales das häufige Fehlen spezifisch stoischer oder philosophischer Inhalte und Begriffe in weiten Passagen auf; erst in späteren 1

Ansätze hierzu schon bei Cancik (1967) und Maurach (1970); aus neuerer Zeit vgl. besonders Mazzoli (1989); Graver (1996); Setaioli (2014) 193–200 und Dietsche (2014) 35–62.

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Briefen expliziert Seneca den philosophisch-stoischen Bezug.2 Dies wird gern mit Senecas Anlehnung an die Form der Diatribe erklärt.3 Streng genommen handelt es sich hierbei jedoch um eine dekontextualisierte Lesart dieser Texte, d. h. eine weitgehende Ausblendung des sozialen und kulturellen Kontextes. Man kann Senecas Texte auch von einer kulturwissenschaftlichen Seite her kontextualisieren, was eine andere Interpretation ermöglicht.4 Grundlage dieser hier vorgenommenen Interpretation ist die Verbindung von Schematheorie und neueren Konzepten der literarischen Kommunikation. In diesem Beitrag soll dabei speziell der Aspekt der Mehrdeutigkeit bzw. semantischen Offenheit von Texten im kulturellen Kontext ihrer muttersprachlichen Leser5 als Teil der römischen Oberschicht genauer beleuchtet werden. Seneca inszeniert mit seinen Epistulae morales eine literarische Kommunikation, deren Aktanten (Autor und Leser) von bestimmten ‚kulturellen Schemata‘ geprägt sind, die wiederum das Textverstehen steuern.6 Bei diesen kulturellen Schemata handelt es sich um komplexe Modelle der Weltwahrnehmung und -deutung, die auch für die kulturelle Identität der römischen Oberschicht und ihr Handeln maßgeblich sind. Sprachlich fassbar werden diese kulturellen Schemata besonders in kulturell aufgeladenen Begriffen wie mos maiorum, virtus oder honor. Deren Auftreten in einem Text aktivierte bei den nobilitär geprägten Lesern damit verbundene Vorstellungen wie die Anbindung an römische Traditionen, männlich geprägte Leistungsbereitschaft in politischen und militärischen Kontexten oder die daraus resultierende Anerkennung in der römischen Gesellschaft. Wenn in Senecas Briefen diese Begriffe immer wieder als Kernbegriffe auftauchen, muss auch ein entsprechender Bezug zu diesen kulturellen Schemata bei der Leserschaft evoziert worden sein. Seneca entstammt selbst der gebildeten Nobilität; er schreibt vorzugsweise für ein entsprechendes nobilitäres Lese-

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Vgl. schon die kritischen Bemerkungen Quintilians (Quint. Inst. 10,1,125). Zum Problem Dietsche (2014) 4–8. Damit folgt dieser Beitrag in gewisser Weise der in den Altertumswissenschaften üblich gewordenen Tendenz, Texte im Kontext ihrer umgebenden Kultur zu analysieren, was freilich für Seneca bislang nur wenig geschehen ist; zur Methodik der kulturwissenschaftlichen Betrachtung und der Kritik daran vgl. Jahraus (2007) 25–35. Vgl. zu diesem Verhältnis Baßler (2005) 333–338. Zum Problem der ‚Mehrdeutigkeit‘ von Texten je nach ‚Kontext‘ vgl. Lüdeke/Wiefarn/Krause (2008) 5–25. Zum ‚kulturellen Schema‘ als Kontext für das Verstehen von Texten vgl. Rath (2008).

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publikum.7 Merkmal dieser sozialen Gruppe ist die Einbindung der o.g. gruppenidentitätsstiftenden Wertvorstellungen und sozialen Codes (Leistung, politisch-militärische Karriere, Ruhm etc.).8 So gesehen gibt es zwei Kontexte für die Lektüre von Senecas Schriften, nämlich einen Kontext 1 im Sinne der römischen Kultur und Werteordnung sowie einen Kontext 2 im Sinne der stoischen, d. h. ursprünglich griechischen Philosophie. Diese Einbeziehung des kulturellen Kontextes der Leser gibt dem Text somit eine über die rein philosophische Lesart deutlich hinausgehende Bedeutung. Durch die Aktivierung dieser Schemata präsentiert sich das Brief-Ich der Epistulae morales als Teil der oberschichtlichen Werte mit ihren kulturellen Codes. Dies führt zu dem zweiten Aspekt der hier vorgenommenen Deutung, nämlich der bewussten Trennung zwischen dem historischen Autor Seneca, den man aufgrund seiner Schriften als Stoiker identifizieren kann, und dem Brief-Ich, das sich an einen (fiktiven?) Adressaten Lucilius richtet und in den ersten Briefen lebenspraktische Ratschläge im Rahmen des mos maiorum gibt. Speziell in Senecas Epistulae morales erscheint dabei das Brief-Ich auf einer sprachlichen Ebene partiell als vermeintlich typischer Römer der Nobilität, während der historische Autor Seneca durchaus Werbung für eine recht rigorose Richtung der Stoa machen will.9 Die bewusst gewählte sprachliche Form erweist sich daher als geschickte rhetorische Strategie, die stoische Konzepte für zeitgenössische römische Leser akzeptabel machen soll.10 Der hier gewählte theoretische Zugang ermöglicht somit eine präzise Analyse von Senecas rhetorischen Strategien, um seine oberschichtlichen und möglicherweise der Philosophie fernstehenden Leser für sein Programm einzunehmen.

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Zu Senecas Adressatenkreis vgl. Graver (1996) 36–45 und Dietsche (2014) 38–45. Generell zur Bedeutung solcher Codes vgl. Baßler (2005) 263–266; ausführlich zum römischen Kontext vgl. Pöschl (1980), Bettini (2000) und Haltenhoff (2000). Wir unterscheiden hier wie Teile der neueren Seneca-Forschung methodisch zwischen Brief-Ich und historischem bzw. realem Autor; vgl. etwa Dietsche (2014) 51. Diese Unterscheidung ergibt sich zwangsläufig aus der Interpretation der Texte als literarischer Briefe, in denen das schreibende Ich eine entsprechende Stilisierung durch den konstruierenden Autor erfährt. Freilich verzichten wir um der Klarheit willen auf eine weitere Differenzierung nach implizitem Autor/Leser, zumal dieses Konzept von bekannten Literaturwissenschaftlern wie Nünning (1993) zumindest in Frage gestellt wurde. Sen. Ep. 5,2 zeugt von den Vorbehalten, die offenbar durchaus in der römischen Gesellschaft gegenüber dem vielfach ungepflegten Äußeren von Philosophen verbreitet waren, was dann auf die Philosophie selbst übertragen wurde.

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Was die oben angesprochene Verwendung von kulturell aufgeladenen Begriffen mit ihrer nobilitären Konnotation in einem philosophischen Kontext bedeutet, sei an zwei Beispielen illustriert: a) Der lateinische Begriff virtus scheint bei Seneca den stoischen Kernbegriff ἀρετή zu ‚übersetzen‘, er bedeutet aber im Lateinischen zunächst „(militärische und politische) Mannhaftigkeit/Leistung“,11 dann in philosophischer Umdeutung auch „Tugend“ im Sinne einer „ethisch richtigen Einstellung“ (als summum bonum der Stoa).12 Man kann den Unterschied der Begriffe folgendermaßen als Schema darstellen, das die Unterschiede auch vom Ergebnis her jeweils verdeutlicht: Kontext 1: Römische Kultur/Werte virtus → honos/gloria (→ memoria)

Kontext 2: griech.-stoische Philosophie ἀρετή → εὐδαιμονία

Die spezifisch römische virtus führt im Rahmen des römischen Wertekodex zu Ruhm und Ehre, dann weiter zum Nachruhm in der Erinnerung der Nachwelt; dagegen führt die griechisch-philosophische ἀρετή zur inneren Glückseligkeit. Damit stehen soziale, z. T. gruppenspezifisch definierte Normen (römisch) dem individuellen Glücksstreben gegenüber. b) Das zweite Beispiel wäre die lateinische Substantivierung honestum als ‚Übersetzung‘ des griechischen Terminus ἀγαθόν zur Bezeichnung eines Gutes im philosophischen Sinne. Das Adjektiv bedeutet als Ableitung von honos eigentlich „geehrt“ und weiter „etwas, das Ruhm und Ehre einbringt“, wie etwa politische und militärische Leistungen im Kontext der römischen Nobilität.13 Doch in philosophischen Texten erfährt der Begriff dann eine Bedeutungsverschiebung hin zu: „sittlich gut; moralisch verantwortlich“.

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Hierzu Pöschl (1980) 15. Vgl. Wildberger (2006) 287; 292–293. Die Übersetzung stammt natürlich schon von Cicero, der damit bereits eine Annäherung griechischer Philosophie und römischer Werte für den lateinischsprachigen Leser intendierte; dazu in einem leider etwas abgelegen publizierten Beitrag Nickel (2014) 31–34. Seneca hat diese Art der sprachlichen Gleichsetzung übernommen. Auch Pohlenz (1959) 257–260 hatte bereits in seiner Standard-Monographie zur Stoa auf die spezifisch römischen Konnotationen von Begriffen wie virtus und honestum verwiesen. Vgl. auch Nickel (2014) 26–29.

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Ohne Frage haben lateinische Muttersprachler selbst diese Begriffe anders (nämlich bedeutungsoffener) gelesen, als wir sie heute in ihrem philosophischen Kontext gern übersetzen, denn für Römer evozierten die Begriffe all die kulturellen Schemata, die mit der alltagssprachlichen Verwendung außerhalb der Philosophenschule verbunden waren. Dies lässt sich schon aufgrund der jeweiligen Wortfamilien vermuten: vir-tus, vir, vir-ilis und wahrscheinlich auch vir-es bildeten für die römischen Leser eine Art etymologisches Wortnetz mit der Konnotation: „Mann“, „Kraft“. Demgegenüber bilden die griechischen Begriffe ἀρ-ετή, ἀρ-έσκω und ἄρ-ιστος eine eigene Wortfamilie mit der Konnotation: „gefallen“ und „gut“,14 sofern den griechischen Muttersprachlern der etymologische Zusammenhang bewusst war. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, erscheint bei Seneca vieles aufgrund dieser lateinischen Form, das in modernen Übersetzungen spezifisch philosophisch klingt, für den lateinischen Muttersprachler kompatibel mit dem traditionellen mos maiorum. In Wirklichkeit sind allerdings einige stoische Kernaussagen wie die Güterlehre, die Vorstellung vom Determinismus (gr. εἱμαρμένη) oder auch der philosophische Dogmatismus kaum mit dem römischen Wertekodex und Weltbild vereinbar; speziell das Verhältnis von virtus und honos/honestum unterscheidet sich jeweils deutlich. Nun könnte man einwenden, Seneca habe ja in seinen Schriften lediglich die ihm zumeist schon von Cicero vorgeprägten lateinischen Termini zur griechischen Philosophie übernommen und gar keine andere Wahl gehabt, als seinen Text sprachlich so zu gestalten wie in der uns vorliegenden Gestalt. Allerdings gab es zur bewussten Wahl des Lateinischen doch die Alternative des Griechischen selbst, um griechische Philosophie darzustellen. Cicero war hierauf z. B. am Beginn seines Dialogs De finibus eingegangen und berichtete dort von der Erwartungshaltung gebildeter Römer, die in der Tat griechische Philosophie lieber auf Griechisch und nicht in lateinischer Verfremdung lesen wollten.15 Somit hatte schon Cicero durch die bewusste Wahl römischer Termini für griechische Konzepte eine entsprechende Anbindung an einen römischen Kultur-Kontext intendiert.16 Seneca folgt ihm hierbei, obwohl andere Philosophen 14 15 16

Frisk (1960) 136. Cic. Fin. 1,1: erunt etiam, et ii quidem eruditi Graecis litteris, contemnentes Latinas, qui se dicant in Graecis legendis operam malle consumere. Dazu Nickel (2014).

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römischer Herkunft durchaus das Griechische bevorzugten, wie man aus Ciceros Darstellungen schließen kann oder wie durch Fälle wie Musonius Rufus oder den Kaiser Marc Aurel direkt bezeugt ist: Musonius Rufus war ein jüngerer Zeitgenosse Senecas und lehrte stoische Philosophie auf Griechisch; Marc Aurel verfasste seine stoischen „Selbstbetrachtungen“ ebenfalls in griechischer Sprache (Titel: εἰς ἑαυτόν). Eine weitere Möglichkeit für Seneca wäre übrigens auch die bewusste Wahl des Lateinischen unter Verwendung von Gräzismen oder auch Neologismen als Fachtermini gewesen, die es z. T. auch durchaus gab, wie die Beispiele philosophia oder atomus zeigen. Ähnlich wäre die Verwendung von Gräzismen wie *areta oder *logus statt virtus und ratio zumindest denkbar gewesen, zumal solche Wortbestandteile immerhin in Komposita existierten (philo-logus). Doch Seneca entschied sich bewusst nicht für diesen fachsprachlichen Weg, sondern blieb im Ganzen auf dem Boden des Lateinischen. Die Wahl des Lateinischen dürfte für die römischen, aber griechisch umfassend gebildeten Leser daher signalisiert haben: Hier geht es auch um Römisches. Von den beiden möglichen Kontexten wird also für den Leser (oder auch: den Käufer einer Buchrolle) der Epistulae morales zunächst der Kontext 1 (römische Kultur) aktiviert.

2. Die Epistulae morales – ein philosophisches Textcorpus? Wenn ein römischer Leser nun ganz praktisch die (erste) Buchrolle mit Senecas ersten 12 Briefen zur Hand nahm und mit der Lektüre begann, bestätigte sich der gerade beschriebene philosophie- bzw. stoa-ferne Eindruck auf der inhaltlichen Ebene: Im ersten Brief geht es um Tipps zur richtigen Nutzung der Zeit. Für die (subjektiv) viel beschäftigten und gestressten Männer der römischen Oberschicht war dies sicher ein aktuelles Thema, das ihren Alltag zu bestimmen schien. Der zweite Brief schließt direkt daran an und gibt Ratschläge für die richtige Lektüre; ganz praktisch bedeutete dies: Man sollte nicht zu viel lesen, denn (vermeintlich) geplagte Politiker, Offiziere oder Provinzverwalter hatten nicht viel Zeit und mussten eine sinnvolle Auswahl treffen. Der Brief passt somit gut in den kulturgeschichtlichen Kontext der frühen und hohen Kaiserzeit mit ihren aufkommenden Kompendien und Miszellanwerken (z. B. Plinius d. Ä.). Der dritte Brief behandelt dann das Thema Freundschaft und greift damit ein zentrales ‚kulturelles

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Schema‘17 der römischen Elitenkultur auf, in der die amicitia eine politische und gesellschaftliche Funktion besaß.18 Nur ein Thema kommt in diesen ersten Briefen noch nicht explizit vor, nämlich die Stoa oder überhaupt die Philosophie. Erst im vierten Brief taucht überhaupt zum ersten Mal der Terminus philosophia auf,19 doch gleich wieder eingebettet in einen typisch römischen Alltagskontext: Das Anlegen der toga virilis steht bildhaft für das Ablegen von Kindlichkeit durch die Hilfe der Philosophie. Ab dem sechsten Brief geht es dann vermehrt explizit um Philosophie,20 doch in den Briefen 6, 7, 8 und 9 kommen zunächst einige Epikurzitate im Text vor, die fast den Eindruck machen könnten, Seneca bzw. sein Brief-Ich sei Epikureer.21 Relativ explizit scheint erst in Brief 14 auf, dass die Briefe stoische Inhalte präsentieren.22 Zwar konnte der informierte Leser sicher aufgrund früherer Schriften oder persönlicher Bekanntschaft die stoische Einstellung des historischen Autors Seneca kennen; allerdings vermittelt diese Art der Textgestaltung doch einen ganz bestimmten Eindruck: Seneca konstruiert sein Brief-Ich zunächst als einen typischen Vertreter der römischen Oberschicht, der sich mit dem Alltag seiner Standesgenossen auskennt und als lebenspraktischer Ratgeber fungieren möchte. Er ist an Philosophie interessiert, allerdings scheinbar undogmatisch – dies sollen die Zitate des philosophischen Konkurrenten Epikur suggerieren. Das philosophische Interesse scheint nur soweit zu reichen, wie es die Lebenspraxis der eigenen sozialen Gruppe betrifft. Dass der historische Autor Seneca durchaus ein dogmatischer Stoiker ist, ergibt sich aus den späteren Briefen und ist im Übrigen gut von Jula Wildberger erschlossen worden.23 Hier soll es zunächst nur um die persuasive Strategie für wenig stoa-affine Leser gehen. Zu dem bisher festgestellten Befund passen weitere sprachliche Beobachtungen, nämlich das relativ späte Erscheinen typisch 17

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In der englischsprachigen Forschung spricht man statt von „Schemata“ von „frames“ im Sinne von eher statischen Strukturen, Institutionen oder allgemeinen Repräsentationseinheiten (im Gegensatz zu eher dynamischen „scripts“); zum Konzept vgl. Jahn (1997); zur Anwendung auf die kontextorientierte Textinterpretation Rath (2008). Dazu Kierdorf (1987). Sen. Ep. 4,2. Dazu Hachmann (1995) 55–61. Zur Bedeutung Epikurs für Seneca vgl. Dietsche (2014) 157–170; Freise (1989); Schottlaender (1987). Sen. Ep. 14,14. Wildberger (2006).

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stoischer Kernbegriffe wie virtus, ratio, honestum oder auch fatum.24 Man könnte diese Vermeidung des allzu Stoischen mit christlichen Predigern vergleichen, die ihre Missionierung auch nicht mit der Verkündigung der Erbsündenlehre beginnen, sondern mit unverfänglichen Ratschlägen zu Alltagsfragen.25 In den Epistulae morales tauchen nun die stoischen Kernbegriffe in den ersten Briefen entweder gar nicht auf oder sie haben zunächst aufgrund des sprachlichen Kontextes keine spezifisch stoische Bedeutung. Um zwei instruktive Beispiele hierfür zu nennen, sei hier die Semantik der Begriffe ratio und virtus vorgestellt: a) ratio: Diesen Begriff benutzen Cicero und Seneca als Äquivalent zum stoischen λόγος; er taucht in den ersten zwanzig Epistulae morales nicht mehr als sechsmal auf; zuerst in Ep. 1,4 in der Bedeutung „Rechnung“ (ratio mihi constat impensae), dann weiter in Ep. 14,17 und Ep. 19,10 in dieser Bedeutung, in Ep. 15,4 in der Kollokation rationem habere („Rücksicht nehmen auf“). Die Bedeutung „Vernunft“ taucht erst spät auf, nämlich in Ep. 13,9 (ratio als Mittel gegen überflüssige Ängste): ceteri enim sine ratione, hi sine mente sunt; hier verbleibt der stoische Kernbegriff aufgrund des Kontextes für den Leser eigentlich in einem allgemein lebensweltlichen Kontext, denn es heißt dort, Ängste vor realen Gefahren seien „unvernünftig“ (sine ratione), die vor mutmaßlichen/eingebildeten Gefahren sogar „hirnlos“ (sine mente), so dass die ratio durch den Kontext mit mens noch abgeschwächt erscheint. Weiter begegnet dieselbe Bedeutung in Ep. 14,2, wo es um die richtigen Güter des Lebens geht: Seneca schreibt dort, man solle seinen Körper zwar pflegen, aber nur so, ut cum exiget ratio, cum dignitas, cum fides, [corpus] mittendum in ignes sit. Hier bezeichnet ratio also offenbar den stoischen Kernbegriff, allerdings ist er hier in weitere typisch römische, kulturell aufgeladene Wertbegriffe eingebettet: ratio, dignitas und fides bilden hier ein römisches – zunächst einmal gar nicht stoisches – Triptychon. Überhaupt decken die beiden Begriffe ratio und λόγος im jeweiligen muttersprachlichen Kontext unterschiedliche semantische Felder ab und wurden von daher wohl auch verschieden konnotiert: lat. ratio Berechnung, rechnen → 24 25

Vernunft

gr. λόγος ← Wort, Rede

Beobachtet schon von Dietsche (2014) 21–30 und 261–263, mit statistischen Übersichten. Der Vergleich stammt von Dietsche (2014) 263.

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

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Insofern ist die „Übersetzung“ – ähnlich wie schon bei virtus < ἀρετή – hier ohnehin eher eine „Übertragung“, also im Grunde eine Art lateinischer Metapher. Geht man von der Semantik lateinischer Begriffe aus, wären für die Übertragung des stoischen Terminus durchaus noch andere Begriffe wie etwa mens oder intellectus in Frage gekommen, denen die Konnotation des „Berechnens“ fehlt. b) virtus: Ebenso wie ratio erscheint die virtus bei Seneca als typisch stoisches Gut. Bei Seneca ergeben sich drei grundlegende ‚Bedeutungen‘ oder besser: deutsche Übersetzungsmöglichkeiten für diesen Terminus, nämlich: 1. „Tapferkeit“ (römischer Wert), 2. allgemein „gute Eigenschaft, Funktionstüchtigkeit“ und 3. „sittlich-moralische Tugend/Vollkommenheit“ (stoisch). In den Briefen taucht der Begriff zuerst in Ep. 4,4 auf, wo die virtus der formido gegenübergestellt wird und die Tapferkeit gegenüber dem Tod bezeichnet.26 Erst in Ep. 9,8 kommt der Begriff wieder vor und ließe sich aufgrund des Kontextes mit „guten Eigenschaften“ und „sittlicher Tugend“ übersetzen: sapiens … tamen amicum habere vult, … ne tam magna virtus iaceat. Im selben Brief verwendet Seneca den Begriff noch einmal und zwar im Zusammenhang mit der Tapferkeit des Demetrios Poliorketes und den unverlierbaren bzw. wahren Gütern, nämlich hier: iustitia, virtus, prudentia, die alle in der Person des Demetrios vereint seien. Hier ist die virtus im Rahmen zweier Kardinaltugenden kontextualisiert und kann sowohl militärische „Tapferkeit“ als auch „sittliche Vollkommenheit“ bezeichnen – also ein eher offenes Konzept.27 In den ersten 30 Briefen gibt es insgesamt acht Belege für den Begriff virtus, von denen aber tatsächlich die Hälfte der militärischen Tapferkeit zuzuweisen ist (z. B. Mucius Scaevola vor Porsenna in Ep. 24,5: vide, quanto acrior sit ad occupanda pericula virtus quam crudelitas ad inroganda).28 Aufgrund dieses intratextuellen Gebrauchskontextes mit typischen Exempla aus der römischen Geschichte ist 26

27 28

Sen. Ep. 4,4 (Seneca warnt vor einem übereilten Suizid aus Angst und rät, sich einer lebensgefährlichen Situation auszusetzen): non putas virtutem hoc effecturam, quod efficit nimia formido? Auch Hachmann (1995) 306–310 behandelt die virtus im Kontext der übrigen Tugenden, bleibt allerdings in seiner Interpretation im stoischen Kontext verhaftet. Militärisch konnotiert sind demnach Sen. Ep. 4,4; 9,19; 13,3; 24,5. Eher offen ist die Bedeutung in Sen. Ep. 9,8; 27,3; 28,10. Als allgemein „gute Eigenschaft“ lässt sich der Begriff in Sen. Ep. 14,11 deuten. Als stoisches summum bonum taucht virtus hier also noch nicht auf.

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Peter Kuhlmann

die virtus entsprechend nicht auf eine exklusiv stoisch-philosophische Bedeutung festgelegt. Vielmehr evoziert Seneca hier kulturelle Schemata und Erzählungen aus dem kollektiven Gedächtnis der römischen Oberschicht, deren Wertesystem vielfach von militärischen Erfahrungen geprägt war. Argumentiert man dagegen von der Stoa aus, könnte man natürlich umgekehrt sagen: Männer wie Mucius Scaevola besaßen schon stoische Güter avant la lettre.

3. Römische Werte und stoische Konzepte im Text-Kontext Der bisherige kleine Überblick hat noch einmal die Bedeutung des eingangs erwähnten doppelten Kontextes deutlich gemacht (1. römische Lebenswelt vs. 2. griechische Stoa). Hieraus ergibt sich für die Lektüre von Senecas Briefen eine semantische Ambiguität vermeintlich stoischer Begriffe. Hierzu folgt eine Übersicht mit wichtigen Begriffen, die das zeigen soll: Kontext 1 röm. Lebenswelt (nicht-philosophisch)



Text

Kontext 2 ← Stoa (philosophisch)

gute männliche Eigenschaft ←

virtus

→ ἀρετή/ethisches Handeln

Denken, Berechnung



ratio

→ λόγος/göttliche Vernunft, Wort

was Ehre/Ruhm einbringt

← honestum → ἀγαθόν/ethisch gut

Anhand einiger exemplarischer Textstellen soll nun betrachtet werden, wie die Begriffe in Kookkurrenz miteinander interagieren und wie sie dann entsprechend gelesen werden können. Als erstes Beispiel dient Ep. 76, der die virtus als einzig wahres Gut thematisiert und bei dem der Leser keine Zweifel mehr haben kann, dass es sich bei dem Briefcorpus um prinzipiell stoische Texte handelt. In der ersten Hälfte dieses langen Briefes bringt Seneca alle wichtigen stoischen Kernbegriffe zusammen und verteilt sie wie ein Netz über den Text: 8 Omnia suo b o n o constant. Vitem fertilitas commendat et sapor vini, velocitas cervum; quam fortia dorso iumenta sint quaeris, quorum hic unus est usus, sarcinam ferre. In cane sagacitas prima est, si investigare debet feras, cursus, si consequi, audacia, si mordere et invadere: id in quoque optimum esse debet

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

329

cui nascitur, quo censetur. 9 In homine optimum quid est? r a t i o : hac antecedit animalia, deos sequitur. R a t i o ergo perfecta proprium b o n u m est, cetera illi cum animalibus satisque communia sunt. Valet: et leones. Formosus est: et pavones. Velox est: et equi. Non dico, in his omnibus vincitur; non quaero, quid in se maximum habeat, sed quid suum. Corpus habet: et arbores. Habet impetum ac motum voluntarium: et bestiae et vermes. Habet vocem: sed quanto clariorem canes, acutiorem aquilae, graviorem tauri, dulciorem mobilioremque luscinii? 10 Quid est in homine proprium? r a t i o : haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. Ergo si omnis res, cum b o n u m suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum r a t i o est, si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae suae tetigit. Haec r a t i o perfecta v i r t u s vocatur eademque h o n e s t u m est. (§ 12 „Adiaphora“ wie Gesundheit, Adel, Klienten …) 15 Bonus autem est, si r a t i o eius explicita et recta est et ad naturae suae voluntatem accommodata. 16 Haec vocatur v i r t u s , hoc est hone s t um et unicum hominis b o n um . Nam cum sola r a t i o perficiat hominem, sola r at i o perfecta b e a tu m facit; hoc autem unum b o n u m est quo uno be at us efficitur. (Sen. Ep. 76, 8–16) 8 Alles hat seinen eigentlichen Bestand in dem, was ihm seinen Wert und Vorzug gibt. Bei der Rebe kommt es auf die Fruchtbarkeit an und auf den Wohlgeschmack des Weines, beim Hirsch auf die Schnelligkeit. Bei den Lasttieren fragt man nach der Tragfähigkeit des Rückens, denn ihr ganzer Nutzen liegt im Schleppen von Packladungen. Beim Hund kommt es vor allem auf Spürkraft an, wenn er das Wild aufsuchen, auf Schnelligkeit, wenn er es verfolgen, auf unbedingten Mut, wenn er es beißen und anfallen soll. An jedem Ding ist das Beste das, wozu es von vornherein bestimmt ist und wonach es geschätzt wird. 9 Was ist nun das Beste am Menschen? Die ratio. Durch sie ist er den Tieren überlegen, steht er den Göttern nahe. Die ratio also, in ihrer vollendeten Gestalt, ist das eigentümliche bonum des Menschen, alles übrige hat er mit den Tieren gemein. Er ist stark: der Löwe desgleichen; er ist schön: der Pfau desgleichen; er ist schnell: das Pferd desgleichen. Ich könnte auch sagen: in alledem steht er hinter den Tieren zurück. Doch nein! Ich frage nicht, was er vergleichsweise in höchstem Maße habe, sondern was ihm als sein besonderes Eigentum zusteht. Er hat einen Körper: die Bäume auch. Er hat inneren Trieb und willkürliche Bewegung: die Tiere auch, selbst das Gewürm. Er hat Stimme: aber wieviel lauter ist die des Hundes, wieviel kreischender die des Adlers, wieviel wuchtiger die des Stieres, wieviel süßer und modulationsfähiger die der Nachtigallen. 10 Was ist das Eigentümliche am Menschen? Die ratio. Ist diese in Ordnung und voll ausgebildet, so liegt in ihr das volle Glück des Menschen beschlossen. Jedes Ding also ist lobwürdig, wenn es die ihm eigentümliche Vollkommenheit erreicht und den ihm von der Natur bestimmten Zweck erfüllt; wenn nun die ratio sein typisches bonum ist, so ist er, wenn er diese zur Vollkommenheit gebracht hat, lobwürdig und ist am Ziel seiner natürlichen Bestimmung angelangt. Diese ist zu ihrer Vollkommenheit erhoben. ratio heißt virtus, und sie ist eins mit dem honestum… 15 Gut aber ist er, wenn seine ratio ihre volle Entfaltung erreicht und ihre rechte Gestaltung erlangt hat und mit ihrem naturgemäßen Wollen in Einklang ge-

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Peter Kuhlmann bracht ist. 16 Das nennt man virtus, das ist das honestum, und das einzige bonum des Menschen. Denn da die ratio allein es ist, die den Menschen zum Menschen macht, so ist die zur vollen Reife gelangte ratio es auch allein, die ihn beatus macht. Das aber ist das einzige bonum des Menschen, was ihn allein beatus macht.29

Im Text werden zwei zentrale Themenkomplexe stoischer und allgemein antiker Philosophie miteinander verbunden: Zum einen die ratio („Vernunft“) als das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Menschen von allen anderen Lebewesen und zum anderen die Funktion der ratio im Sinne eines bonum bzw. einer virtus („gute Eigenschaft“). Nebenher werden in § 12 auch Adiaphora wie Gesundheit, Adel, Klientel etc. als keine eigentlichen „Güter“ (bona) im philosophischen Sinne angeführt, da sie anders als die ratio keinen Bestand haben. In § 10 definiert Seneca die ratio nicht nur als virtus und entscheidendes (summum) bonum des Menschen, sondern sogar als das honestum schlechthin, d. h. wer nach den Maßstäben der ratio handelt, handelt zugleich entweder „ehrenvoll“ (römisch) oder „sittlich gut“ (stoisch). Der Begriff hones-tum hatte – wie oben schon angedeutet – aufgrund seiner Ableitung von honos für die lateinischen Muttersprachler primär eine soziale Konnotation: honestum war nämlich das, was den Angehörigen der Nobilität „Ehre“ im Sinne sozialer und oft auch politischer Reputation einbrachte. Zwar erweitert schon Cicero diesen politisch-sozialen Wertbegriff um eine philosophische Bedeutung,30 doch schwingt die ursprüngliche Bedeutung für den muttersprachlichen Leser natürlich immer mit. Wie man hier schließlich erkennt, weist auch der virtus-Begriff eine komplexe Semantik auf: Im Text erscheint virtus (§ 10) quasi synonym mit honestum und hat dann eine ethische Bedeutung (Haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est), z. T. passt aber auch die Bedeutung „Funktionstüchtigkeit“: Die virtus eines Rebstocks ist demzufolge die Fruchtbarkeit bzw. Weinqualität (§ 8), die eines Hirsches die Schnelligkeit (§ 14) und die virtus des Menschen die Vernunft. Insofern lässt sich virtus auch nicht ohne Weiteres überall mit „Tugend“ übersetzen, sondern der lateinische Begriff deckt jeweils unterschiedliche Bedeutungsbereiche ab. Vollends bedeutungs29 30

Die Übersetzung stammt im Ganzen von Apelt (1993) 311–314, allerdings sind die hier behandelten Termini unübersetzt gelassen. Nickel (2014) 26–27.

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

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offen ist § 16, wo sich der Passus nam cum sola ratio perficiat hominem, sola ratio perfecta beatum facit z. B. übersetzen ließe: „… Denn da das (richtige) Berechnen allein den Menschen zum Menschen macht, macht die vollendete Berechnung ihn reich …“. Die Grundbedeutung von ratio ist „Berechnung“, eine in den nichtphilosophischen Texten auftretende Kernbedeutung von beatus „reich, mit Glücksgütern/Besitz gesegnet“, so dass gerade die Kookkurrenz beider Begriffe für lateinische Muttersprachler eine solche materielle Assoziation zumindest nahelegte. Der in Ep. 76 suggerierte und eigentlich überhaupt nicht stoische Zusammenhang von virtus und honor (honestum) erscheint übrigens auch an anderen Stellen, z. B. besonders deutlich in Ep. 71,5 (virtus als summum bonum): Hoc liqueat, nihil esse b o n u m nisi h o n e s t u m ; et omnia incommoda suo iure b o n a vocabuntur, quae modo v ir t u s h o n e s t a v e r i t . Das sollte klar sein, dass es kein Gut / nichts Gutes gibt außer dem Ehrenvollen / dem sittlich Guten; und alle Probleme werden sich mit Recht als gut / Güter bezeichnen lassen, solange die Tapferkeit ihnen nur Ehre verschafft / solange die Tugend ihnen nur eine sittlich-moralische Qualität verleiht.

Die Textstelle ist hier bewusst mit alternativen Übersetzungsmöglichkeiten versehen – je nachdem, ob man als Leser den Wortlaut im Rahmen römischer Werte oder stoischer Philosophie versteht. Aber – wie schon bemerkt – diese strikte Trennung resultiert zunächst einmal aus der deutschen Übersetzung und dürfte dem lateinischen Muttersprachler nicht in der Weise präsent gewesen sein.31 Anders als in der griechischen Stoa, aber genau wie im römischen Wertekodex erscheint hier auf den ersten Blick honos als Produkt der virtus. Dies wirkte auf römische Leser, die dem traditionellen mos maiorum verhaftet waren, völlig überzeugend. Honos und Virtus wurden im Übrigen sogar zusammen als Gottheiten kultisch verehrt – in Rom sind zwei verschiedene Tempel für den gemeinsamen Kult bezeugt.32 31

32

Interessant ist die Interpretation der Stelle bei Dietsche (2014) 222–224: Obgleich Dietsche eigentlich auch die Mehrdeutigkeit von Senecas ‚philosophischer‘ Sprache zur Grundlage seiner Untersuchung im Ganzen macht, deutet er gerade diese Stelle doch ganz einseitig philosophisch aus. Bezeugt z. B. bei Liv. 27,25,7–10; Plu. Marc. 28; V. Max. 1,1,8; inschriftlich CIL XI 1831. Unter Kaiser Vespasian fanden Renovierungen eines Tempels statt (Plin. Nat. 35,120). Plutarch beschreibt sogar die Riten des Opferkultes (Plu. quaest. Rom. 266–267).

332

Peter Kuhlmann

Wie Seneca die virtus für den Leser bewusst römisch konzeptualisiert, zeigt schließlich noch eine instruktive Passage aus dem Dialog De providentia (dial. 1): Hier lenkt Seneca den Leser offenbar bewusst zu einer ganz bestimmten, etymologisch begründeten Lesart, die aufgrund der auffälligen Kookkurrenz einen Zusammenhang mit vir und vis/vires suggeriert: ‚Quare multa bonis v i r i s adversa eveniunt?‘ Nihil accidere bono v i ro mali potest: non miscentur contraria. Quemadmodum tot amnes, tantum superne deiectorum imbrium, tanta medicatorum v i s fontium non mutant saporem maris, ne remittunt quidem, ita adversarum impetus rerum vi r i fortis non vertit animum: manet in statu et quidquid evenit in suum colorem trahit; est enim omnibus externis potentior. 2 Nec hoc dico: non sentit illa, sed vincit, et alioqui quie tu s pl acid u sq u e contra incurrentia attollitur. Omnia adversa exercitationes putat. Quis autem, vi r modo et erectus ad h o n e s t a , non est laboris adpetens iusti et ad officia cum periculo promptus? Cui non industrio otium poena est? 3 Athletas videmus, quibus v i r i u m cura est, cum fortissimis quibusque confligere et exigere ab iis, per quos certamini praeparantur, ut totis contra ipsos v i r i bus utantur; caedi se vexarique patiuntur et, si non inveniunt singulos pares, pluribus simul obiciuntur. 4 Marcet sine adversario V I R T VS: tunc apparet, quanta sit quantumque polleat, cum quid possit patientia ostendit. Scias licet idem v i r i s bonis esse faciendum, ut dura ac difficilia non reformident nec de f at o querantur, quidquid accidit boni consulant, in b o n u m vertant; non quid, sed quemadmodum feras interest. (Sen. De prov. 2,1) 1 ‚Warum begegnen den guten Männern viele Widerwärtigkeiten?‘ Dem guten Mann kann nichts Böses widerfahren: was einander entgegengesetzt ist, verschmilzt nicht zur Einheit. Wie die Menge der Ströme, wie die starke Kraft der Heilquellen den Geschmack des Meerwassers nicht ändert, nicht einmal abmildert, so bricht sich der Ansturm von Widerwärtigkeiten an der Sinnesart eines tapferen Mannes. Er, der Tapfere, verharrt in seiner Haltung und lässt kein Ereignis an sich herantreten, das nicht seine Farbe annehmen müsste; ist er doch mächtiger als alles, was von außen kommt. 2 Das soll nicht heißen: er fühlt es nicht, wohl aber: er überwindet es und bietet, sonst ruhig und gelassen, dem, was über ihn hereinbricht, mannhaft Trotz.“ Alle Widerwärtigkeiten sind in seinen Augen nichts als Kraftproben. Wer aber, wenn er überhaupt ein Mann und für Ehre empfänglich ist, sehnte sich nicht nach würdiger Anstrengung und nach Erfüllung gefahrvoller Aufgaben? Ist nicht für jeden Tatenfrohen das Nichtstun eine Strafe? 3 Man blicke doch um sich: Athleten, die sich um ihre Kraft bemühen, schlagen sich am liebsten immer mit den Tapfersten und verlangen von denen, durch die sie sich zum Wettkampf einüben lassen, dass sie ihre volle Kraft gegen sie selbst einsetzen; sie lassen sich Wunden und Drangsale gefallen, und wenn sich nicht Gegner finden, die einzeln ihnen gewachsen sind, so nehmen sie den Kampf zugleich mit mehreren auf. 4 Es erschlafft die virtus ohne Gegner; erst dann tritt ihre Größe und ihre Stärke hervor, wenn sie durch geduldiges Beharren ihr Vermögen bezeugt. Lass dir gesagt sein: ebenso müssen sich

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

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die guten Männer verhalten: sie dürfen sich nicht über das Schicksal beklagen; was auch kommen mag, sie müssen sich darein schicken, müssen es zum Guten auslegen. Nicht was, sondern wie man es erträgt, darauf kommt es an.33

Es geht hier um die Frage der Theodizee: Guten Menschen kann durch ein äußeres Unglück nur scheinbar etwas ‚Schlechtes‘ zustoßen.34 Gemäß der Lehre von den Adiaphora betreffen äußere Unglücksfälle den Weisen bzw. (sittlich oder philosophisch) Guten nicht, da sie sein Gut-Sein nicht tangieren. Im zweiten Teil betont Seneca die Opferbereitschaft und Tatkraft der Guten: Sie stellen sich bewusst und aktiv auch negativen Einflüssen der fortuna – so, wie der Athlet sich durch besonders schweißtreibende Anstrengungen bewusst trainiert. Äußeres Unheil ist also ein Training für die virtus der Guten (§ 4). Der Begriff virtus taucht erst nach etlichen Erwähnungen von Formen von vir/vis auf und wird wiederum durch den syntagmatischen Kontext (§ 4) marcet sine adversario virtus durch eine Kampf-Metapher aus den Bereichen Sport und Krieg versinnbildlicht. Obwohl es hier durchaus um ein stoisches Konzept geht, eröffnet Seneca auf der sprachlichen Oberfläche eine konkurrierende zweite Bedeutungsebene. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Aussage in § 2: Hier verwendet Seneca die allgemeinsprachlichen Adjektive quietus placidusque, die wiederum Äquivalente zu dem philosophischen Terminus technicus tranquillitas animi sind, aber eben nicht sofort so klingen. Auch kommt hier nach dem Substantiv vir das Adjektiv honestum vor: Der richtige Mann sucht Ehre und scheut dabei weder gerechte Mühen noch Gefahren; das otium ist ihm eine Strafe – um dem zuzustimmen, musste sicher kein männlicher Leser der römischen Nobilität ein Stoiker sein. Die folgende Aussage zum Ertragen des fatum – eigentlich eben kein Bestandteil des traditionellen römischen Weltbildes – mag dann dem einen oder anderen Leser etwas leichter gefallen sein. Das Thema Schicksal bzw. Determinismus wird im Übrigen von Seneca – offenbar wegen der mutmaßlich geringen Akzeptanz in der römischen Gesellschaft – überhaupt gemieden, was in der Forschung entsprechend bemerkt wurde.35 Schon Cicero opponierte in seiner Schrift De fato heftig gegen das

33 34 35

Die Übersetzung fußt auf Apelt (1993) 5–6; allerdings sind auch hier einige lateinische Termini entweder prägnanter übersetzt oder unübersetzt belassen. Hierzu Fischer (2008) 21–35. Vgl. zum Problem Fischer (2008) 179–197; zur Bedeutung der fata in den Tragödien siehe Fischer (2008) 205–226. Interessanterweise hat das Seneca-Companion von Damschen/Heil (2014) keinen eigenen Beitrag zum Thema fatum.

334

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Konzept der εἱμαρμένη (fatum),36 und auch im Rahmen der römischen Religion hat diese Vorstellung keinen Platz: Die Götter geben durch Zeichen zwar Auskunft über ihre (Un)zufriedenheit mit menschlichen Verhältnissen und wollen kultisch verehrt werden, aber sie determinieren keineswegs das Weltgeschehen, denn im Rahmen der religio Romana war der Mensch frei in seinem Handeln.37 Selbst in der stoisch-deterministisch wirkenden Aeneis ist auf der sprachlichen Ebene meist etymologisierend im Plural von den fata deum, d. h. also eigentlich von den „Sprüchen der Götter“ und nicht direkt von einem abstrakten Schicksal die Rede.38 Seneca versucht an einigen Stellen, den Determinismus in den Kontext römischer Religion einzubinden, z. B. Ep. 16,4–5: 4 Dicet aliquis: ‚quid mihi prodest philosophia, si f at um est? quid prodest, si d eu s rector est? quid prodest, si casus imperat? Nam et mutari certa non possunt et nihil praeparari potest adversus incerta, sed aut consilium meum de us occupavit decrevitque quid facerem, aut consilio meo nihil fortuna permittit.‘ 5 Quidquid est ex his, Lucili, vel si omnia haec sunt, philosophandum est; sive nos inexorabili lege f a t a constringunt, sive arbiter d e us universi cuncta disposuit, sive casus res humanas sine ordine impellit et iactat, philosophia nos tueri debet. Haec adhortabitur, ut d e o libenter pareamus, ut f or t unae contumaciter; haec docebit, ut deu m sequaris, feras casum. 4 Ich höre den Einwurf: ‚Was nützt mir die Philosophie, wenn es ein fatum gibt? Was nützt sie, wenn es einen Gott gibt, der die Welt regiert? Was nützt sie, wenn der Zufall waltet? Denn abgeändert kann das Gewisse nicht werden, und gegen das Unsichere lässt sich keine Vorkehrung treffen, sondern entweder ist der Gott meiner Entschließung zuvorgekommen und hat bestimmt, was ich tun soll, oder die fortuna stellt nichts meiner Entschließung anheim.‘ 5 Wähle daraus, was du willst, Lucilius, oder lass auch alles zusammen gelten – die Philosophie bleibt uns unentbehrlich, mögen uns die fata mit einem unerbittlichen Gesetz an sich ketten, mag ein Gott das All nach seinem Willen lenken, mag der Zufall blindlings den menschlichen Dingen den Anstoß geben und sie hin- und herwerfen – die Philosophie ist es, die uns stützen muss. Sie wird uns mahnen, dem Gott gern zu gehorchen, der fortuna die Stirn zu bieten; sie wird uns lehren, dem Gott zu folgen und den Zufall zu ertragen.39

Zwar gibt es hier das Bekenntnis zum Determinismus, und tatsächlich kommt das fatum zunächst in § 4 im Singular vor; doch wird es gleich darauf mit deus 36 37 38 39

Fischer (2008) 187–188. Dazu Kuhlmann (2011). Entsprechende Belege zum Ausdruck fata deum: Verg. A. 2,54; 2,257; 3,375; 6,376; 7,239; 7,584. Die Übersetzung ist angelehnt an Apelt (1993) 54–55.

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

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gleichgesetzt. In § 5 wechselt das Brief-Ich in den Plural fata, was an „Sprüche “ erinnert, und setzt dies wieder mit deus gleich. Der Ausdruck arbiter deus (§ 5) lässt sogar vermuten, es handele sich hier wie in der traditionellen römischen Religion um eine personale Gottheit und nicht um das pantheistische Konzept der Stoa. Im Schlusssatz suggeriert Seneca durch diese Gleichsetzung eine Äquivalenz von Schicksalsergebenheit und römischer pietas erga deos (deo libenter pareamus … deum sequaris). Ob ein römischer Leser diese doch etwas plumpe Gleichsetzung akzeptiert hat, ist natürlich eine andere Frage. Klar ist aber hier wieder: Das konstruierte Brief-Ich präsentiert sich als jemand, der sich im Rahmen des römischen mos maiorum und der religio Romana bewegt.

4. Fazit Wir haben nun alle wichtigen Begriffe einmal für sich einzeln und dann im Rahmen eines Textes – quasi in ihrer Vernetzung auf der Textebene – behandelt und kehren noch einmal zu der bereits oben in Kurzform präsentierten Kontext-Begriffstabelle zurück. Die Tabelle ließe sich nun aufgrund der behandelten Textstellen folgendermaßen für Seneca vervollständigen: Kontext 1 röm. Lebenswelt (nicht-philosophisch)



Text



Kontext 2 Stoa (philosophisch)

gute männliche Eigenschaft



virtus



ἀρετή/ethisches Handeln

Denken, Berechnung



ratio



λόγος/göttliche Vernunft, Wort

was Ehre/Ruhm einbringt

← honestum →

ἀγαθόν/ethisch gut

(allgemein) gut



bonum



(τὸ) καλόν/(höchstes) Gut

reich, wohlhabend



beatus



εὐδαίμων/innerlich glückselig

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Göttersprüche (fata deum)



polytheistische Götter



?

fatum, -a →

deus, -i

römischer Leser



εἱμαρμένη/stoisches Schicksal pantheistisch-unpersönlicher Gott

?

Hier stellt sich die Frage, ob römische Leser die Begriffe wirklich in dieser dualistischen Weise wahrgenommen haben. Für lateinische Muttersprachler ist dies wohl unwahrscheinlich – die Art der Darstellung ist eher für uns heute nützlich. Die lateinischen und griechischen Äquivalente sind jedenfalls keine echten Synonyme: λόγος ist eben doch nicht dasselbe wie ratio. Aus der Perspektive zeitgenössischer römischer Leser wirkten die lateinischen Begriffe als Filter, die die Stoa römischer erscheinen ließen. Im Resultat ergab sich für die Leser aufgrund der ambiguen lateinischen Begriffe eine Art römischer Stoa, die sich scheinbar nicht nur sprachlich-konzeptuell in die Semantik lateinischer Wertbegriffe integrierte, sondern überhaupt weitgehend dem traditionellen Weltbild der römischen Nobilität zu entsprechen schien. In Senecas ersten Briefen erscheint dabei die römische Lebenswelt und Werteordnung als der Rahmen, in den sich die stoische Philosophie vermeintlich leicht einfügt. In den späteren, erkennbar stoisch gehaltenen Briefen jedoch kehrt sich das Verhältnis für den Leser gewissermaßen um: Nun scheint sich die römische Lebenswelt in den explizit vorgegebenen stoischen Rahmen einzufügen. Als Schema ließe sich das so darstellen: Rahmen: Römische Lebenswelt

Rahmen: Stoische Philosophie

Stoische Philosophie

Römische Lebenswelt

lat. Sprache + röm. Konzepte

lat. Sprache

Kontextwechsel als Leserlenkung bei Seneca

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Es handelt sich hier um eine geschickte – in wesentlichen Teilen sprachbasierte – persuasive (oder auch: „rhetorische“) Strategie des konstruierenden Autors Seneca. In der Sprache und Begrifflichkeit von Senecas konstruiertem Brief-Ich konnte sich so die im mos maiorum sozialisierte römische Elite leicht wiederfinden. Literatur Albrecht, M. v. (2004): Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst, Leiden. Apelt, O. (1993): Seneca. Philosophische Schriften, Bd. I–IV, Hamburg. Baßler, M. (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen. Bettini, M. (2000): „mos, mores und mos maiorum. Die Erfindung der ‚Sittlichkeit‘ in der römischen Kultur“, in: Braun, M., Haltenhoff, A., Mutschler, F.-H. (Hgg.): Moribus antiquis res stat Romana: Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München (BzA. 134), 303–352. Braun, M., Haltenhoff, A., Mutschler, F.-H. (Hgg.) (2000): Moribus antiquis res stat Romana: Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München (BzA. 134). Damschen, G., Heil, A. (Hgg.) (2014): Brill’s Companion to Seneca. Philosopher and Dramatist, Leiden. Dietsche, U. (2014): Strategie und Philosophie bei Seneca. Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den ‚Epistulae morales‘, Berlin/New York. Fischer, S. E. (2008): Seneca als Theologe. Studien zum Verhältnis von Philosophie und Tragödiendichtung, Berlin/New York (BzA. 259). Freise, H. (1989): „Die Bedeutung der Epikur-Zitate in den Schriften Senecas“, Gymnasium 96, 532–556. Frisk, H. (1960): Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1: A–Ko, Heidelberg. Graver, M. R. (1996): Therapeutic reading and Seneca’s ‚moral epistles‘, Ann Arbor (Mich.). Hachmann, E. (1995): Die Führung des Lesers in Senecas Epistulae morales, Münster (Orbis antiquus. 34). Häcker, P., Mundi, T., Rath, B., Wiefarn, M. (Hgg.) (2008): textern. Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Kontext-Diskussion, München. Haltenhoff, A. (2000): „Wertbegriff und Wertbegriffe“, in: Braun, M., Haltenhoff, A., Mutschler, F.-H. (Hgg.): Moribus antiquis res stat Romana: Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München (BzA. 134), 15–29. Haltenhoff, A., Heil, A., Mutschler, F.-H. (Hgg.) (2005): Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München (BzA. 227). Haltenhoff, A. (2005): „Römische Werte in neuer Sicht? Konzeptionelle Perspektiven innerhalb und außerhalb der Fachgrenzen“, in: Haltenhoff, A., Heil, A., Mutschler, F.-H. (Hgg.): Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München (BzA. 227), 81–105. Jahn, M. (1997): „Frames, Preferences and the Reading of Third-Person Narratives: Towards a Cognitive Narratology“, Poetics Today 18.4, 441–468.

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Chariton von Aphrodisias und die Selbstkontextualisierung eines neuen Subgenres Oliver Ehlen (Jena)

Abstract In the first century AD, an author presenting himself as Chariton, secretary of the orator Athenagoras, writes about the fictional love story between Chaireas and Kallirhoe and extends his text to eight books. Ever since Erwin Rhode (1876), modern scholars have attempted to figure out the exact position of Chariton within the history of the ancient novel. Stefan Tilg (2010) sees him as the inventor of the Greek love novel and tries to collect evidence from many fields. The concept of “self-contextualism” can paint a more precise picture here: In positioning his text and himself in a literal historical context by following the ancient concept of aemulatio, Chariton hints at the mood in which he wants his work to be understood. In this way, he positions himself and his text amidst three literal generic contexts, obviously aware that he is attempting something new. When we explore his specific kind of “self-contextualism”, we see precisely what this means. He turns the love story from one of several, often short, elements that were previously introduced in the novels into a central one that dominates the plot of the entire novel. He therefore seems to be the inventor of a subgenre of the ancient novel, the love novel.

1. Einleitung Wer heutzutage seine Leser zu einer genauer eingehenden Betrachtung der Reste griechischer Romanliteratur auffordert, der darf freilich auf jene unbedingte ästhetische Anteilnahme nicht zählen, welche den übrigen dichterischen Kunstwerken des wunderbaren Volkes stets gewiß ist. Auch ohne uns an die hohe Vorzüglichkeit mancher modernen Romane zu erinnern, empfinden wir die Mängel der griechischen Erzeugnisse dieser Art, die Schwächlichkeit der ganzen Gattung so deutlich, daß wir kaum noch begreifen, wie eben diese leeren und schalen Gebilde in einer gar nicht fernen, und übrigens künstlerisch reich gebildeten, aber freilich alles Antike gewissermaßen in Bausch und Bogen gleichmäßig zu verehren gewohnten Zeit Gegenstand der Bewunderung, ja der Nachahmung für einen Cervantes und Tasso, weiterhin für die französischen Romanschreiber des siebzehnten Jahrhunderts sein konnten.1

1

Rohde (31914) 1.

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Mit diesen freundlichen Worten über das gesamte Genre beginnt Erwin Rohde 1876 seine monumentale Abhandlung Der antike Roman und seine Vorläufer. Dabei soll diese Einleitung keineswegs dazu dienen, den Gegenstand seiner Untersuchung zu diskreditieren, sondern im Gegenteil dazu, ihn im Urteil seiner Leser aufzuwerten. Das ist für uns aber heute nur verständlich, wenn wir den Kontext einbeziehen, in dem Rohde diese Äußerungen tat, d. h. die Zeit berücksichtigen, in der er schrieb und die Vorstellungen einer „hohen“ kanonischen Literatur, von der sich „niedere“ Formen unterscheiden, die ihrerseits sowohl nach ästhetischen wie thematischen Gesichtspunkten separiert werden. Dabei kann es zu der seltsamen Situation kommen, dass Texte, die den ästhetischen und thematischen Vorstellungen von Philologen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts nicht entsprechen, sehr wohl Literaten inspirierten, die von denselben Philologen als Vertreter der „hohen“ kanonischen Literatur anerkannt werden, wie Cervantes und Tasso. Dieses Beispiel verdeutlicht damit – meiner Ansicht nach – sehr gut, dass Kontextualisierung zum Verständnis von Texten unbedingt notwendig ist, und zwar sowohl für das Textverständnis selbst als auch für das seiner Rezeptionsgeschichte.2 Rohde befindet sich in einem Kontext spezifischer Vorstellungen, wie „hohe“ oder „triviale“ Literatur auszusehen hat, die wiederum sowohl individuelle als auch kollektive Prägungen aufweisen. Beide Arten der Prägung sind ihrerseits vom historischen Kontext abhängig und in ihm verortet. In diesem Fall geht es um einen mentalitätsgeschichtlichen wie literarhistorischen Kontext. Letzterer ist vor allem dadurch charakterisiert, dass der Roman im 19. Jahrhundert zum dominierenden literarischen Genre aufsteigt und durch seine vielfachen Subgenres eine massentaugliche Verbreitung erfährt, die in deutlicher Konkurrenz zu den etablierten literarischen Genres steht. Diese Verbreitung wird durch eine Ausweitung der Lesefähigkeit vorher zum Teil literarisch ungebildeter Schichten begünstigt, was sich auch in der explosionsartigen Vermehrung möglichst preisgünstig hergestellter Bücher niederschlägt. Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert gehören die Leser nicht mehr nur der gebildeten Ober- und Mittelschicht an, sondern breiteren lesefähigen Schichten,3 so dass schon 1819 das vielleicht klassischste Beispiel eines für 2

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Die Forderung nach einer Einbeziehung (der vom Kontext abhängigen) Lesererwartungen findet sich bereits bei Jauß (1970); vgl. vor allem seine Ausführungen zum „Erwartungshorizont“ 173–174. Allgemein über dieses Phänomen schon Engelsing (1973)

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die bloße Unterhaltung konzipierten Liebesromans, H. Claurens Mimili in der ersten Buchausgabe eine Auflage von 9000 Stück erreicht.4 Die Auseinandersetzung zwischen der Idee einer „hohen“ und einer „trivialen“ Literatur gipfelt damals in Hauffs parodistischer Fälschung eines Clauren-Romans unter dem Titel Der Mann im Monde oder der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme von H. Clauren und nach seiner Verurteilung wegen Plagiats in der Kontrovers-Predigt über H. Clauren. Claurens Mimili ihrerseits weist zahlreiche Parallelen zu den fünf vollständig erhaltenen griechischen idealistischen Liebesromanen auf, so dass sich Rohde in einem Diskurs befand, der schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts heftig im Gange war. Bei denen, die sich zu den Gebildeten rechneten, ging er mit einer regelmäßigen Abwertung dieser Art von Literatur einher. Nun war Rohde nicht nur Rezipient, sondern als Verfasser seiner Monographie auch Autor. In dieser Eigenschaft tritt er seinem Publikum in der „Persona“ des Wissenschaftlers entgegen, wodurch für seine Ausführungen auch wieder verschiedene Kontexte individueller wie kollektiver Wertvorstellungen eine Rolle spielen. Innerhalb dieser Kontexte verortet sich Rohde selbst und gibt dem „antiken Roman“, indem er ihn aus der Liebesdichtung ableitet,5 einen Ursprung in einem Genre, das von seinen Lesern zumeist als Teil der „höheren“ Literatur angesehen worden sein dürfte. Damit beschäftigt sich der Akademiker Rohde aber nicht aus eigenen trivialen Neigungen mit antiker „Trivialliteratur“, sondern arbeitet den hochliterarischen Ursprung eines dann devianten oder dekadenten Genres heraus. Man könnte in diesem Falle auch von einer „Selbstkontextualisierung“ des Autors Erwin Rohde in der „Persona“ des Wissenschaftlers sprechen. Lassen sich bei einem Autor des 19. Jahrhunderts aufgrund der besseren Quellenlage häufig die individuellen Prägungen rekonstruieren, so ist das bei einem antiken Autor wesentlich schwieriger, da – von wenigen Ausnahmen wie Marcus Tullius Cicero abgesehen – authentische Quellen, die Einblick in das private Denken vermitteln, z. B. Briefe, in der Regel nicht überliefert sind. In den allermeisten Fällen ist man auf das Werk angewiesen und damit darauf, wie die „Per-

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Claurens Mimili erschien zunächst als Fortsetzungsroman in Der Freimüthige, die erste Buchausgabe mit ergänztem Ende dann 1819; Neuausgabe von Schöberl (1984a); vgl. dazu Schöberl (1984b) 130–131. Vgl. den Exkurs zur Frage der Kontextualisierung der Rezeption am Ende dieses Abschnitts, S. 344–347.

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sona“ des Autors sich in eben diesem Werk präsentiert.6 Wie im oben angeführten Beispiel der Autor Erwin Rohde befindet sich aber auch ein antiker Autor in verschiedenen Kontexten individueller und kollektiver Art, von denen sich die kollektiven bis zu einem gewissen Grade rekonstruieren lassen. Aufgrund einer größeren Homogenität der literaturaffinen Kreise, deren Ausbildung auf verschiedenen Stufen dem griechischen Konzept der „enkyklios paideia“ verpflichtet war und sich sowohl im griechischen wie lateinischen Bereich an einem Schulkanon von Texten orientierte,7 gibt es zwischen einem antiken Autor und einem antiken Rezipienten eine viel größere Schnittmenge eines gemeinsamen Bildungshintergrundes als das in der Moderne der Fall ist. Eine Differenzierung besteht dann nur hinsichtlich der Stufe, welche die jeweiligen Rezipienten – soweit sie am antiken Bildungssystem teilhatten – innerhalb dieses Bildungsgangs erreicht haben. Damit kann sich aber ein antiker Autor einen „idealen Leser“ vorstellen, der mit dem tatsächlichen Rezipienten deutlich mehr gemein hat als das in der Moderne der Fall sein kann. Autor und Rezipient befinden sich also nicht nur in einem gemeinsamen historischen Kontext, sondern auch in dem einer gemeinsamen Bildungstradition, die bei allen individuellen Abweichungen auf einen gemeinsamen Pool von Vorstellungen rekurriert und die Grundkenntnis eines bestimmten Kanons von literarischen Texten voraussetzen kann. Ein weiterer Kontext ist dabei für einen antiken Autor von besonderer Bedeutung: das Feld der literarischen Tradition, das Kontinuum von Vorgängerwerken, mit denen sich ihr jeweiliger Autor in agonaler Weise einen eigenen Platz in eben dieser Tradition zu sichern suchte. Da dem Rezipienten dieses Feld der literarischen Tradition im Kontext der gemeinsamen Bildungstradition ebenso vertraut sein dürfte, hängt die Reputation des Autors bei seinem Publikum in hohem Maße davon ab, inwieweit es ihm gelingt, sich überzeugend mit dieser Tradition auseinanderzusetzen und darin einen eigenen, unbestrittenen Platz einzunehmen. Das kann dadurch geschehen, dass er in einem bestimmten Genre

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Hinter diese „Persona“ des Autors zu dringen und die Selbstpräsentation mit dem tatsächlichen Selbstbild zu vergleichen, ist in antiker Literatur nur in Ausnahmefällen möglich, da es dazu anderer zeitgleicher Quellen, wie z. B. Briefe bedarf. Selbst in den Fällen, wo es möglich ist, wie z. B. bei den Briefen des Marcus Tullius Cicero, ist je nach Adressat des Schreibens zu prüfen, ob der Autor hier nicht auch nur eine „Persona“ annimmt. Zum Problem von Autor und Persona vgl. auch die Arbeiten von Jannidis (2002a); (2002b) und (2004). Eine größere Differenzierung tritt in der Spätantike ein, ausführlich dazu Gemeinhardt (2007), zu den paganen Grundlagen 27–61.

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seine Vorgängertexte in einer bestimmten Hinsicht übertrifft, denn in der Antike ist die Gattungsvorstellung, neben bestimmten formalen und inhaltlichen Kriterien, stets auch an ein konkretes Beispiel eines konkreten Autors, der als besonders vorbildlich galt und mit dem sich alle Nachfolger agonal auseinanderzusetzen hatten, gebunden.8 Anders ausgedrückt: Für den antiken Autor besteht die Notwendigkeit, sich selbst sichtbar im Kontext der literarischen Tradition zu verorten; man könnte hier von einer Selbstkontextualisierung sprechen. Diese Selbstkontextualisierung wird sich im literarischen Bereich häufig der Methode des intertextuellen Spiels bedienen; dennoch geht es um mehr, als sich allein als poeta doctus zu gerieren. Ziel ist die Erlangung eines eigenen Platzes innerhalb der Tradition. Anspielungen auf Vorgängertexte können dafür ebenso methodisch fruchtbar gemacht werden wie die Gesamtkonzeption der Makrostruktur des Werkes. Erst im Zusammenspiel dieser Elemente ergibt sich für den antiken Rezipienten ein Gesamtbild, inwieweit dem Autor die agonale Auseinandersetzung gelungen ist. Für einen modernen Rezipienten, der diesem Konzept der Selbstkontextualisierung nachspürt, ergibt sich ein methodisch weiter gefasster Ansatz, in dem neben expliziten literarischen Bezügen auch implizite Hinweise auf den spezifischen Hintergrund, vor dem der Text entstanden ist, eine große Rolle spielen. Dabei müssen auch die konkreten Fragestellungen und Probleme in den Blick genommen werden, mit denen sich der Verfasser eines literarischen Werkes in einem bestimmten historisch-literarischen Kontext zwangsläufig konfrontiert sah, und die jeweils individuellen Lösungsansätze, die für uns in seinem Werk greifbar werden. Dieser Zugang scheint in besonderem Maße fruchtbar, wenn Grund zu der Annahme besteht, mit dem vorliegenden Text würden bestimmte Pfade der Tradition verlassen und neue Wege beschritten, die wiederum eine neue literarische Tradition generieren. Auf diese Art und Weise rückt die Kommunikation zwischen Autor und zeitgenössischen Rezipienten wieder stärker in den Fokus.9 Die Einbeziehung verschiedener Kontexte dient dabei dem Versuch der Rekonstruktion von 8

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Ein Musterbeispiel für diesen Doppelansatz bildet der Kanon, den der römische Rhetor Quintilian im ersten nachchristlichen Jahrhundert den angehenden Rednern empfiehlt (Quint. Inst. 10,1). Die griechische wie römische Literatur ist nach Gattungen geordnet, denen jeweils Autoren als „Klassiker“ des entsprechenden Genres beigesellt werden, vgl. dazu auch Ehlen (2011) 53–60. Für ein Gegenmodell, das versucht, auf Begriffe wie Autor, Rezipient und auch Kommunikationsakt zu verzichten, vgl. ausführlich Baßler (2005).

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Gegebenheiten, für die primäres Quellenmaterial (wie z. B. Briefe des Autors über die Thematik oder explizite Äußerungen eines Lesers) nicht (mehr) zur Verfügung steht,10 die aber für die Interpretation des Textes eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund der relativen Homogenität in Bezug auf den literarhistorischen Kontext von Autor und zeitgenössischen Rezipienten ergeben sich auf der Seite des Rezipienten Erwartungshaltungen, die der Autor erfüllen oder nicht erfüllen kann, auf der Seite des Autors ganz praktische Probleme, wie er mit diesen Erwartungshaltungen umzugehen hat und sich so innerhalb des literarhistorischen Kontextes selbst verortet. Im Folgenden sollen von daher anhand eines Beispiels aus dem Bereich fiktionaler antiker Prosa, genauer des so genannten „idealistischen Liebesromans“,11 nämlich dem des Chariton von Aphrodisias, einige Überlegungen angestellt werden, wie eine solche „Selbstkontextualisierung“ literarischen Niederschlag finden kann. Dabei wird der Schwerpunkt auf drei Bereiche gelegt werden: 1) die „Persona“ des Autors, 2) den Liebesroman in „nuce“ (Chariton 1,1–6), 3) weitere generische Anspielungen. Am Abschluss sollen einige kurze Bemerkungen stehen, wie die genannten Überlegungen in den Kontext der Gattungsgenese des „antiken Romans“ eingeordnet werden können, ein Thema, das, nachdem es über längere Zeit in der Forschung zum antiken Roman eher in den Hintergrund getreten ist, neuerdings, angeregt durch die Thesen von Stefan Tilg, zumindest im Bereich des Subgenres des idealistischen Liebesromans erneut diskutiert wird.12 Dazu ist es sinnvoll, zuvor kurz auf die Grundzüge der entsprechenden Diskussion seit Rohde einzugehen.

Exkurs: Kontextualisierung der Rezeption Aufgrund der Uneinheitlichkeit antiker und spätantiker Terminologie zeigt die Forschungsgeschichte ein breites Spektrum von Erklärungsversuchen über die Genese der Gattung, die z. T. erheblich von den geistigen Strömungen

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Im oben angeführten Beispiel von H. Claurens Mimili haben wir nicht nur mit den Werken von Hauff eine zeitgenössische Rezeption vorliegen, sondern sind sogar noch über die Auflage der ersten Buchausgabe (9000 Stück) informiert. Allgemein s. Hägg (1987). Tilg (2010).

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der Zeit, in der sie entstanden sind, abhängig sind und deswegen auch historisch verstanden werden müssen.13 Erwin Rhode sah den Ursprung des griechischen Romans in der Liebesdichtung, die zum Prosawerk gewendet mit anderen Elementen angereichert wird. Dabei unterstellt er (wohl zeitbedingt und zu Unrecht) den Romanautoren eine mangelnde psychologische Zeichnung der handelnden Personen.14 Bemerkenswert ist, dass Rhode hier zwar den Roman aus einer literarischen Gattung organisch hervorgehen lässt, die Einflüsse anderer Gattungen aber mit einbezieht (wobei er in der Folge vor allem auf die utopische Reiseliteratur rekurriert). Rhode ist außerdem von der Dekadenztheorie seiner Zeit stark beeinflusst, so dass er den Roman des Chariton erst ans Ende der Entwicklung setzt, eine These, die durch spätere Papyrusfunde, die ins zweite nachchristliche Jahrhundert datieren, widerlegt wurde. Da die erhaltenen griechischen idealistischen Liebesromane Elemente aus verschiedenen Gattungen aufnehmen, fehlt es in der Folgezeit nicht an Erklärungsversuchen, den antiken Roman aus einer dieser Gattungen abzuleiten (z. B. Historiographie und Drama, hier vor allem aus der Neuen Komödie). Zweifelsohne enthalten die vollständig erhaltenen griechischen Liebesromane sowohl Elemente aus der Historiographie als auch aus der Neuen Komödie. Ebenso finden sich gerade im Roman des Heliodor als auch des Xenophon von Ephesus religiöse Elemente, die mit dem Kult von Apoll und Artemis bzw. der Identifikation beider Gottheiten mit Helios und Selene verbunden sind. Da im lateinischen Bereich in den Metamorphosen des Apuleius sowohl das Märchen von Amor und Psyche als auch das elfte, das sogenannte „Isisbuch“, eine religiöse Interpretation zulassen, kann sich auch hier eine Deutung ergeben, die das religiöse Element als ein Bindeglied zwischen der ansonsten so unterschiedlichen Ausprägung der Romanliteratur im griechischen und lateinischen Bereich sieht. Dieses religiöse Moment bildet für Karl Kerényi,15 in Erweiterung der Thesen von Reitzenstein,16 den Ausgangspunkt für seine These, den Ursprung des

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14 15 16

Als Beispiel für einen modernen kritischen Umgang mit dem Begriff „Genre“ siehe Goodhill (2008), der allerdings auch die produktiven Elemente einer solchen Kategoriensetzung für die Interpretation herausstreicht. Rohde (31914) 171. Kerényi (1927). Reitzenstein (1906).

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antiken Romans in Mysterientexten zu sehen. Diese These wird in den sechziger Jahren von Reinhold Merkelbach17 aufgenommen. Gerade gegen diese Deutung wendet sich Ben Edwin Perry: „The first romance was deliberately planned and written by an individual author, its inventor. He conceived it on a Tuesday afternoon in July, or some other day or month in the year.”18 Perry hebt die Leistung eines individuellen (unbekannten) Autors hervor, den er in hellenistischer Zeit ansetzt. Die durch die hellenistischen Königsherrschaften hervorgerufene politische Entmachtung des einzelnen Bürgers (im Vergleich zur klassischen Polisgesellschaft) führt – so Perrys These – dazu, dass der einzelne Bürger sich ins Private zurückzieht und die individuellen und familiären Belange wichtiger werden als die Angelegenheiten der Polis. Parallelen dazu gibt es natürlich in der römischen Kaiserzeit, aus der die uns (mehr oder weniger) vollständig erhaltenen griechischen und lateinischen Romane stammen. In Anschluss an Perry steht B. P. Reardon, der seinerseits direkt auf das Erscheinen des Buches mit einem ausführlichen Aufsatz reagiert und dabei den kulturellen Faktor herausstreicht.19 Während Perry den Roman als “fundamentally Hellenistic drama in substance and historiography in outward form” beschreibt,20 spricht Reardon von “a cousin-german to New comedy”,21 der eine ähnliche Welt reflektiere. Dabei bezieht er die spezifische Ausformung in der Epoche der so genannten Zweiten Sophistik mit ein, in der es eine Entwicklung des Genres durch „literary practitioners of very distinct talent, sometimes of something like genius“22 gegeben habe. Der Tradition von Perry und Reardon folgt in den achtziger Jahren die Monographie von Tomas Hägg.23 Im Gegensatz zu Perrys These von der Besinnung auf das Individuelle und Private seit hellenistischer Zeit betont in neuerer Zeit Tim Whitmarsh,24 dass die Strukturen der Polisgesellschaft hinsichtlich der regionalen Selbstverwaltung weder im Hellenismus noch in der römischen Kaiserzeit vollständig zerstört wurden. In den frühen Romanen des Chariton und des Xenophon von Ephesus sieht er daher den Spiegel eines gesellschaft17 18 19 20 21 22 23 24

Merkelbach (1962). Perry (1967) 175. Reardon (1969) bes. 291. Vgl. Perry (1967) 72–74, hier: 140. Reardon (1969) 292. Reardon (1969) 309. Hägg (1980; dt. 1987). Whitmarsh (2011).

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lichen Übergangsritus, an dessen Ende ein junges Paar nach diversen Irrungen und Wirren mit der legitimen Ehe vollständig in die Erwachsenengesellschaft aufgenommen wird. Auf diese Weise wird aus soziologischer Sicht eine Brücke zu der religionswissenschaftlichen Interpretation eines Kerényi und Merkelbach geschlagen, in denen die rites de passage ebenfalls eine exponierte Rolle spielen. Allerdings ist einzuwenden, dass sowohl im Roman des Chariton als auch dem des Xenophon von Ephesus die Paare vor Trennung und Irrfahrt bereits verheiratet sind und die Hochzeit erst bei den späteren Vertretern aus dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert am Ende steht, dort aber die Polisgesellschaft für die Romanhandlung keine Rolle mehr spielt. Ein weiterer neuer Ansatz ist der von Stefan Tilg,25 wo Perrys These eines individuellen Erfinders der Gattung aufgegriffen, in die römische Kaiserzeit transponiert und der bei Perry unbekannte Erfinder mit Chariton, dem Autor des ältesten uns vollständig erhaltenen griechischen Liebesromans, identifiziert wird. Auch wenn in der Forschung über den antiken Roman in neuerer Zeit die Frage der Gattungsgenese im Vergleich zu anderen Schwerpunkten eher am Rande behandelt wird, zeichnen sich in den oben skizzierten Theorien doch verschiedene Kontexte ab, die weiter verstanden werden sollten, als das gewöhnlich geschieht. Vor allem ist zu berücksichtigen, dass sich unsere Kenntnisse über diese Art der Literatur seit Rhodes Zeiten auch durch Papyrusfunde beträchtlich erweitert haben und man die fünf (mehr oder weniger) vollständig erhaltenen antiken griechischen Romane als Vertreter eines Subgenres, des „idealistischen Liebesromans“ ansehen kann, für die Romanliteratur insgesamt aber eine breitere Definition zugrunde legen sollte. Daher soll folgende Definition zugrunde gelegt werden: Der Roman ist die Großform narrativer fiktionaler Prosa in Antike und Spätantike. Die Fiktionalität einer Schrift lässt sich einerseits dadurch bestimmen, ob die fiktionalen Elemente den Gesamtcharakter des Textes für den Rezipienten deutlich als erfundene Geschichte hervortreten lassen, andererseits durch spezifische Fiktionalitätssignale, wie eindeutig erdachte Protagonisten oder auch verschachtelte Beglaubigungskonstellationen, die dem geschulten Leser unglaubwürdig vorkommen müssen.

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Tilg (2010).

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2. Die „Selbstkontextualisierung“ des Chariton 2.1. Die „Persona“ des Autors Die „Persona“ des Autors tritt uns sowohl am Anfang wie am Ende des Werkes entgegen: Χαρίτων Ἀφροδισιεύς, Ἀθηναγόρου τοῦ ῥήτορος ὑπογραφεύς, πάθος ἐρωτικὸν ἐν Συρακούσαις γενόμενον διηγήσομαι. (Chariton 1,1,1) Ich, Chariton aus Aphrodisias, Sekretär des Rhetors Athenagoras, werde ein Liebesleiden schildern, das sich in Syrakus zugetragen hat.26 (Übers. O.E.)

Dieser erste Satz hat deutlich programmatischen Charakter: Zunächst ist er eine Anspielung auf den Anfang des thukydideischen Geschichtswerkes: Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέμησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάμενος εὐθὺς καθισταμένου καὶ ἐλπίσας μέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενημένων, τεκμαιρόμενος ὅτι ἀκμάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀμφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάμενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ μὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούμενον. κίνησις γὰρ αὕτη μεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ μέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. (Th. 1,1–2) Thukydides aus Athen schilderte den Krieg der Peloponnesier und der Athener, wie sie gegeneinander Krieg führten, und begann dabei direkt bei seinen Anfängen in der Erwartung, dass er groß sein werde und von allen Kriegen, die vorher geschehen waren, der, der am erwähnenswertesten sein würde, was er daraus schloss, dass beide Gegner auf dem Höhepunkt ihrer Macht in ihn zogen mit der gesamten Heeresmacht, und daraus, dass das übrige Griechenland sich einer der beiden Seiten anschloss, der eine Teil sofort, der andere, indem er erst überlegte. Diese Erschütterung nämlich wurde folglich die größte für die Griechen und einen Teil der Barbaren, sozusagen auch für den größten Teil der Menschheit.27 (Übers. O.E.)

Dabei ist der Bezug zu Thukydides deutlicher als ein entsprechender zu Herodot: Ἡροδότου Ἁλικαρνησσέος ἱστορίης ἀπόδεξις ἥδε, ὡς μήτε τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων τῷ χρόνῳ ἐξίτηλα γένηται, μήτε ἔργα μεγάλα τε καὶ θωμαστά, τὰ μὲν

26 27

Griechischer Text hier und im Folgenden nach Reardon (2004). Griechischer Text nach Jones (1900).

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Ἕλλησι, τὰ δὲ βαρβάροισι ἀποδεχθέντα, ἀκλεᾶ γένηται, τά τε ἄλλα καὶ δι’ ἣν αἰτίην ἐπολέμησαν ἀλλήλοισι. (Hdt. 1,1,1) Dies ist die Darstellung der Untersuchung von Herodot aus Halikarnass, damit weder das, was von Menschen vollbracht worden ist, durch die Zeit verlöscht, noch große und bewundernswerte Taten, die teils von den Griechen, teils von den Barbaren vollbracht worden sind, ruhmlos vergehen, und neben anderen auch, weswegen sie gegeneinander Krieg führten.28 (Übers. O.E.)

Der Name des Autors und seine Herkunft erscheinen bei Chariton exponiert an erster Stelle und bilden das Subjekt des folgenden Satzes (genau wie bei Thukydides), während bei Herodot die „Darstellung der Untersuchung“ (ἱστορίης ἀπόδεξις) zum Subjekt des Satzes gemacht wird. Damit reiht sich ein auktorialer oder extradiegetischer Erzähler in die Tradition der Historiographie ein. Ungewöhnlich dabei ist, dass sich hier nicht nur der auktoriale Erzähler vorstellt, sondern auch seine gesellschaftliche Position exponiert, die ganz von einem Gönner abhängig ist. Durch Nennung dieses Athenagoras wird zugleich diesem Gönner Referenz erwiesen.29 Damit stellt der Name Chariton mit Sicherheit kein Pseudonym, das dem erotischen Inhalt geschuldet ist, dar, denn in diesem Falle würde sich der auktoriale Erzähler gewiss nicht nur als „Sekretär“ eines anderen darstellen.30 Vielmehr deutet sich ein

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Griechischer Text nach Hude (1926). Zur Datierung dieses historischen Athenagoras in tiberianisch-claudische Zeit siehe ausführlich Tilg (2010) 45–59. Anders als bei späteren Vertretern des griechischen-idealistischen Liebesromans wie z. B. Xenophon von Ephesus, dessen Namen durchaus in Anklang an den Historiker Xenophon von Athen gewählt sein kann, ist hier mit großer Sicherheit nicht von einem Pseudonym auszugehen. Zu dem Autorenstolz, der sich in der persönlichen Rahmung von Anfangssatz und Sphragis manifestiert, passt die Selbstvorstellung als bloßer „Sekretär“ nicht und ist übrigens auch ohne Beispiel in den anderen erhaltenen griechischen idealistischen Liebesromanen. Zu einem Freigelassenen, der in eben diese Position aufgestiegen ist, hingegen passt eine solche Selbstvorstellung sehr gut. Ein weiteres Indiz fügt sich zu diesem Bild: Tilg (2010) 240–297 verwendet einen großen Teil seiner Abhandlung darauf, direkte oder indirekte Bezüge zwischen Vergils Aeneis und dem Roman des Chariton aufzuzeigen, was bei ihm zu der These führt, dass die Aeneis gleichsam ein Modell für den Roman des Chariton dargestellt habe. Auch wenn man dieser These nicht in Gänze folgt, sind frappante Parallelen auffällig, die von einem direkten oder indirekten Einfluss zeugen. Ein Freigelassener, der zum Sekretär eines Rhetors in einer griechischen Stadt

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gewisser Stolz an, der Stolz von jemandem, der sich bis in die Position eines Sekretärs hochgearbeitet hat. Chariton deutet eher in Richtung eines Sklavennamens, so dass die Vermutung naheliegt, dass es sich um einen Freigelassenen handelt, der entsprechend aufgestiegen ist. Ein solcher sozio-kultureller Hintergrund des Autors ist für die Kontextdiskussion nicht unwichtig, da er schon aufgrund seiner sozialen Herkunft in einer literarisch tätigen Elite zwangsläufig eine Außenseiterposition innehaben musste.31 Anders als Thukydides (und auch Herodot) nennt er dann zwar sein Thema, gibt aber keine explizite Begründung, warum er dieses Thema behandelt. Das Thema selbst ist etwas Ungewöhnliches, nämlich ein πάθος ἐρωτικὸν ἐν Συρακούσαις γενόμενον („ein Liebesleiden, dass in Syrakus geschehen ist“). Der letzte Teil verweist wieder auf die Gattung der Historiographie, der erste Teil auf etwas Neues, nämlich eine erotische Geschichte, die zugleich Emotion und Pathos erzeugen soll. Wir befinden uns damit im Bereich des Dramas, wenn man an die Tragödientheorie des Aristoteles denkt; das Liebesgeschehen in den Mittelpunkt zu stellen verweist aber eher auf die Neue Komödie, so dass das antike Drama in seiner Gesamtheit zum Referenzpunkt wird.32 Insgesamt spricht Chariton in seiner Rolle als auktorialer Erzähler viermal an exponierter Stelle von sich selbst. Nach dem oben behandelten Anfang des Werkes handelt es sich um eine Passage am Anfang des fünften, eine weitere

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32

aufgestiegen ist, die schon seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert unter besonderem Schutz der Römer stand und nun Teil des Imperium Romanum ist, dürfte aber für die Korrespondenz nicht nur mit den anderen griechischen Städten, sondern auch mit den römischen Herren zuständig gewesen sein. Da nicht alle Schreiben wirklich auf Griechisch verfasst sein müssen, ist es sinnvoll, eine solche Person Latein lernen zu lassen. In tiberianisch-claudischer Zeit wird dies im höheren Unterricht anhand von Vergils Aeneis geschehen sein, so dass sich eine Kenntnis auf Seiten des Chariton und Bezüge in seinem Roman gleichsam organisch ergeben. Anders übrigens als die erhaltenen Vertreter des lateinischen Romans: Wenn wir Petron (wahrscheinlich nur etwas später als Chariton) mit dem arbiter elegantiae am Hofe Neros gleichsetzen, stammte er aus den führenden Schichten, und auch Apuleius im zweiten Jahrhundert ist wohl (wie die späteren Vertreter des griechischen idealistischen Liebesromans) der Bewegung der Zweiten Sophistik zuzurechnen und gehört damit auch zu einer anderen sozialen Klasse. Zum Konzept des Tragikomischen bei Chariton und den Einfluss des antiken Theaters ausführlich Tilg (2010) 131–140. Tilg akzentuiert ferner den Begriff der Neuheit und widmet ihm ein ganzes Kapitel (164–197). Die Belege sind aber keineswegs immer zwingend; außerdem wird Neuheit in der Antike keineswegs immer im heutigen positiven Sinn von Innovation verstanden.

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am Anfang des achten und eine kurze Sphragis am Ende des achten Buches. Die ersten beiden Stellen (Chariton 5,1,1–2; 8,1,1–5) sind Rekapitulationen des vorangegangenen Inhalts. Dabei wird Chariton 8,1 nach der Rekapitulation (8,1,1) in einer Prolepse auf den Inhalt des abschließenden Buches davon berichtet, dass Aphrodite, die aus Zorn auf den Protagonisten Chaireas bisher der Göttin Tyche freien Lauf gelassen hat, diese nun zurückhält, um die Geschehnisse zu einem glücklichen Ende zu bringen (8,1,2–3). Die Ausführungen enden mit einer persönlichen Bemerkung des auktorialen Erzählers: νομίζω δὲ καὶ τὸ τελευταῖον τοῦτο σύγγραμμα τοῖς ἀναγινώσκουσιν ἥδιστον γενήσεσθαι· καθάρσιον γάρ ἐστι τῶν ἐν τοῖς πρώτοις σκυθρωπῶν. οὐκέτι λῃστεία καὶ δουλεία καὶ δίκη καὶ μάχη καὶ ἀποκαρτέρησις καὶ πόλεμος καὶ ἅλωσις, ἀλλὰ ἔρωτες δίκαιοι ἐν τούτῳ νόμιμοι γάμοι. πῶς οὖν ἡ θεὸς ἐφώτισε τὴν ἀλήθειαν καὶ τοὺς ἀγνοουμένους ἔδειξεν ἀλλήλοις λέξω. (Chariton 8,1,4–5) Ich glaube aber, dass dieses letzte Buch für die Leser das angenehmste sein wird. Reinigend nämlich ist es von den betrüblichen Geschehnissen in den ersten Büchern. Nicht mehr gibt es Piraterie, Sklaverei, Gerichtsprozesse, Kampf, Hunger, Krieg und den Fall einer Stadt, sondern gerechte Liebesverhältnisse und dabei legitime Ehen. Wie also die Göttin die Wahrheit ans Licht brachte und die beiden Liebenden, die sich nicht erkannten, einander zeigte, will ich erzählen. (Übers. O.E.)

Wiederum wird auf die antike Dramentheorie, wie sie für uns bei Aristoteles greifbar ist (Po. 1449b28), angespielt und das Ganze zu einem Konzept des Tragikomischen gewendet.33 Der entscheidende Punkt dabei ist, dass hier die „Reinigung“ explizit durch das Happyend geschieht und nicht durch den unglücklichen Ausgang einer Liebesgeschichte, also genauso, wie es für die Neue Komödie geradezu obligatorisch ist, während die Liebesgeschichten im Mythos in der Regel kein positives Ende nehmen.34 Der auktoriale Erzähler 33

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In diesem Sinne Tilg (2010) 131–135, wo Tilg auch über eine mögliche Referenz seitens Charitons auf das verlorene zweite Buch der aristotelischen Poetik spekuliert, vgl. auch Rijksbaron (1984). Das gilt sowohl für die mythologischen Stoffe, die uns in der Bearbeitung durch die Tragiker vorliegen, als auch für den größten Teil der von Ovid in seinen Metamorphosen verwendeten Mythen mit Liebesthematik. In der griechischen Tragödie stellt die Helena des Euripides eine Ausnahme dar, allerdings geht es mehr darum, den trojanischen Krieg als unsinnig darzustellen, da er um ein „Trugbild“ geführt wurde, während die richtige Helena in Ägypten im Exil lebt. Die Wiedervereinigung von Menelaos und Helena und die erfolgreiche (etwas burleske) Flucht vor

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reiht sich also hier (wie im ersten Satz) in einen bestimmten theoretischen Kontext ein (Dramentheorie), wendet ihn aber in einer ganz spezifischen Weise: Indem er auf das seit Aristoteles in der Dramentheorie bekannte Element der Katharsis anspielt, es zugleich aber mit dem Happyend verbindet, geht er über das, was der Rezipient von einer Tragödie erwartet, hinaus, verbindet es mit dem, was aus der Neuen Komödie vertraut ist, und zeigt, dass in dem Werk, das er seinen Rezipienten präsentiert, die Katharsis durch den positiven Ausgang geschieht. Damit wendet er ein Konzept des Tragikomischen auf sein Werk an und macht es dem Rezipienten deutlich. Die „Persona“ des Autors tritt dann noch einmal auf, ganz am Ende des Werkes (8,8,16): Τοσάδε περὶ Καλλιρόης συνέγραψα. („So viel habe ich über Kallirhoe geschrieben“). Dabei handelt es sich um eine typische Sphragis, in welcher der Autor auch auf den Titel des Werkes Kallirhoe oder Die Erzählungen bezüglich Kallirhoe Bezug nimmt.35 Entscheidend ist hier wohl, dass der Autor sich nicht (wie z. B. Herodot) mit einem Auftritt seiner „Persona“ auf Anfang oder Ende des Werkes beschränkt, sondern einen Rahmen vom Einleitungssatz zur Sphragis setzt, was auf einen gewissen auktorialen Stolz hindeutet. Was rechtfertigt aber einen derartigen Stolz? Kommen wir zum nächsten Punkt. Dabei ist der literarhistorische Kontext zu berücksichtigen, insbesondere die Tatsache, dass uns eingelegte Liebesgeschichten in verschiedenen narrativen literarischen Genres (angefangen vom Epos und den Historien des Herodot) begegnen, dort aber immer im textlich begrenzten Umfang, ohne dass sie das bestimmende Element der Makrostruktur darstellten.36 Wenn wir dem Prinzip der „Selbstkontextualisierung“ im

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den Nachstellungen des ägyptischen Königs weist das Stück bereits als Vorläufer der „Neuen Komödie“ aus. In den Liebesgeschichten, die Orpheus im zehnten Buch von Ovids Metamorphosen in den Mund gelegt sind, endet nur die Pygmalion-Episode mit einem „Happyend“, alle anderen ebenso unglücklich wie die eigene Geschichte des thrakischen Sängers, möchte man die Wiedervereinigung der Liebenden in der Unterwelt nach Orpheus’ eigenem Tod nicht als eine besondere Art des „Happyends“ ansehen. Letztere Form bevorzugt Tilg (2010) 198–200, was er vor allem durch den Vergleich mit den Titeln anderer fragmentarisch oder nicht fragmentarisch erhaltener Romane (allerdings nicht in jedem Fall zwingend) begründet. Vgl. z. B. Hdt. 1,8–13 (Gyges und Kandaules). In der „Neuen Komödie“ hingegen stellt die Liebesgeschichte sehr häufig ein verbindendes Element der Makrostruktur dar. Zudem ist der „Mythos“ im Sinne des „plot“ der Komödie auch nach antiker Auffassung fiktiver Natur.

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oben genannten Sinne der Selbstverortung eines Autors im literarhistorischen Kontext nachspüren, geschieht diese Selbstverortung in erster Linie mittels des von ihm verfassten Textes, entweder durch Äußerungen in der eigenen „Persona“, denen im vorangegangen Abschnitt nachgegangen wurde, oder durch intertextuelle bzw. generische Anspielungen, oder durch die Komposition des Textes in seiner Mikro- und Makrostruktur. Die letzten beiden Punkte werden wir im Folgenden eingehender betrachten. Dazu ist es notwendig, einen genaueren Blick auf die ersten Kapitel des Werkes zu werfen.

2.2. Der Liebesroman in „nuce“ Beginnt man mit der Lektüre der Kallirhoe des Chariton, ist der Anfang zunächst für einen modernen Leser überraschend. Denn im ersten Kapitel wird bereits eine vollständige Liebesgeschichte erzählt. Anders als bei romanhaft ausgeschmückten Biographien wie z. B. Xenophons Kyrupädie oder dem so genannten Ninos-Roman sind die Protagonisten nicht in der Geschichte greifbare historische Personen, sondern deren Kinder. Kallirhoe wird als Tochter des Hermokrates, des syrakusischen Feldherrn, der 413 v. Chr. die Athener besiegte, vorgestellt, Chaireas als der Sohn des Ariston, wohl in Anlehnung an Ariston von Korinth, der gegen die Athener kämpfte und bei Thukydides erwähnt wird.37 Die Protagonisten werden also in einem historischen Kontext verortet, mit dem zugleich sehr frei umgegangen wird. Chariton schildert Kallirhoe als denkbar schönste Frau, Chaireas als denkbar schönsten Jüngling; während die Schönheit der Kallirhoe in den Bereich des Göttlichen gehoben wird, erzielt Chariton einen ähnlichen Effekt, wenn er die des Chaireas mit der von Statuen vergleicht (1,1,1–3). Kallirhoe wird in guter mythologischer Tradition von Freiern umlagert, Hermokrates und Ariston sind persönliche Gegner, so dass Chaireas als Bräutigam für Kallirhoe eigentlich ausscheidet. Aber: φιλόνικος δέ ἐστιν ὁ Ἔρως καὶ χαίρει τοῖς παραδόξοις κατορθώμασιν· ἐζήτησε δὲ τοιόνδε τὸν καιρόν. (Chariton 1,1,4) Eros liebt es zu siegen und freut sich an Dingen, die wider Erwarten ins Lot gekommen sind: Er suchte aber eine derartige günstige Gelegenheit. (Übers. O.E.)

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Th. 7,39,2; siehe dazu Goold (1995) 31 Anm. A.

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Bei einem Fest für die Göttin Aphrodite erscheint Kallirhoe in der Öffentlichkeit, Chaireas und sie begegnen sich und verlieben sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander (1,1,4b–6): ταχέως οὖν πάθος ἐρωτικὸν ἀντέδωκαν ἀλλήλοις („Sofort also gerieten sie gegenseitig zueinander in leidenschaftliche Liebe/ein Liebesleiden“). Mit dem Begriff πάθος ἐρωτικόν („leidenschaftliche Liebe, Liebesleiden“) wird dabei das anfangs genannte Thema des Werkes dezidiert aufgegriffen.38 Das führt dazu, dass beide von der Leidenschaft zueinander gequält werden. Während Kallirhoe still leidet, gesteht Chaireas seinem Vater die Ursache seines Leiden, doch kann der ihn weder trösten noch ihm (aufgrund seiner Konkurrenz zu Hermokrates) helfen, sondern fürchtet, sein Sohn werde zugrunde gehen (1,1,7–10). Das Problem wird von Chariton auf unkonventionelle, etwas paradoxe Weise gelöst. Bei der nächsten Sitzung beschließt die Volksversammlung, die im Theater tagt, dass das Paar heiraten soll, und sowohl Hermokrates als auch Ariston müssen sich fügen (1,1,11–13). Auch für Kallirhoe erfüllen sich ihre Wünsche wider Erwarten (1,1,14–16). Ihre Reaktion schildert Chariton mit einem wörtlichen Zitat aus der Odyssee (Od. 4,703): τῆς δ’ αὐτοῦ λύτο γούνατα καὶ φίλον ἦτορ („Ihr aber lösten sich die Knie und das liebe Herz“). Es folgt die Schilderung des Happyends im Rahmen der Hochzeitfeierlichkeiten: ὁ μὲν οὖν Χαιρέας προσδραμὼν αὐτὴν κατεφίλει, Καλλιρόη δὲ γνωρίσασα τὸν ἐρώμενον, ὥσπερ τι λύχνου φῶς ἤδη σβεννύμενον ἐπιχυθέντος ἐλαίου πάλιν ἀνέλαμψε καὶ μείζων ἐγένετο καὶ κρείττων. (Chariton 1,1,15) Chaireas aber lief zu ihr und küsste sie; als Kallirhoe aber den Geliebten erkannte, glühte sie auf wie das Licht einer Lampe, das schon am Verlöschen war, wenn Öl darauf gegossen wird, und wurde größer und stärker. (Übers. O.E.)

Im Grunde ist die Liebesgeschichte, inklusive eines Happyends hier schon erzählt (nach etwa 4–5 Druckseiten) und sie entspricht in der Länge durchaus einer durchschnittlichen Einlage einer erotischen Erzählung in anderen Wer-

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Dass diese Begrifflichkeit hier durchaus auf ein theoretisches Konzept verweist, erörtert Tilg (2010) 130–137 ausführlich und erläutert, wie in der Nachfolge aristotelischer Vorstellungen ein Konzept des Tragisch-Komischen entsteht.

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ken erzählender Prosa.39 Doch das Werk ist hier nicht zu Ende, auch das erste Buch nicht, auf das noch sieben weitere Bücher folgen. Um es fortzuführen, bedient sich Chariton eines Kunstgriffs am Ende des Abschnittes: Er vergleicht die Hochzeit des Paares mit der von Peleus und Thetis und deren Konsequenzen. Damit kann er einerseits die Erzählung weiterführen, ordnet sie andererseits wie zuvor durch das Homerzitat in einen epischen Kontext ein: τοιοῦτον ὑμνοῦσι ποιηταὶ τὸν Θέτιδος γάμον ἐν Πηλίῳ γεγονέναι. πλὴν καὶ ἐνταῦθά τις εὑρέθη βάσκανος δαίμων, ὥσπερ ἐκεῖ φασὶ τὴν Ἔριν. (Chariton 1,1,16) Dass von solcher Art die Hochzeit der Thetis mit Peleus gewesen sei, besingen die Dichter. Jedoch wurde auch hier eine ränkeschmiedende Gottheit gefunden wie dort – so sagt man – die Eris. (Übers. O.E.)

Was folgt, ist eine zweite erotische Erzählung mit denselben Protagonisten, doch diesmal ins Gegenteil verkehrt und unter das Thema der Eifersucht gestellt. Vom Umfang her ist diese zweite erotische Erzählung etwa doppelt so lang wie die erste (1,2–6). Die zurückgewiesenen Freier sinnen auf Rache und spinnen eine Intrigenhandlung nach Art des späten Euripides oder der Neuen Komödie, die Chaireas zur Eifersucht anstacheln und das Paar auseinanderbringen soll. Ein erster Versuch, in Abwesenheit des Chaireas dessen Haus von außen zu schmücken und vorzutäuschen, hier hätten, während er bei seinem verunglückten Vater weilte, rauschende Feste stattgefunden, scheitert (1,2–3). Erst eine zweite, besser vorbereitete Intrige, bei der einer der Freier mit einer Dienerin der Kallirhoe anbandelt und so ins Haus kommt, während ein anderer in der vorgeblichen Rolle eines väterlichen Freundes Chaireas zu der Szenerie hinlockt und den Eindruck erweckt, der Freier sei nicht an der Dienerin, sondern an Kallirhoe selbst interessiert (1,4), führt dazu, dass Chaireas in einem Eifersuchtsanfall die nichtsahnende Kallirhoe tritt, diese zusammenbricht und von allen für tot gehalten wird (1,5,1). Es kommt zu einem Prozess vor dem Volk (wieder im Theater); während Chaireas sich selbst anklagt und voller Reue die Todesstrafe fordert, tritt sein Schwiegervater Hermokrates für ihn ein: Es sei nicht im Sinne seiner Tochter, dass auch ihr geliebter Chaireas den Tod finde (1,5). Das Volk spricht Chaireas frei (1,6,1) und die Episode endet mit der

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Vgl. Hdt. 1,8–13 (Gyges und Kandaules).

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Schilderung der prunkvollen Bestattung der Kallirhoe, an der ganz Syrakus Anteil nimmt (1,6,2–5). Wieder ist die Liebesgeschichte eigentlich zu Ende; spiegelbildlich zum ersten Teil endet sie aber nicht mit der Hochzeit, sondern mit dem Tod der Protagonistin. Mit diesen zwei Liebesgeschichten, einem Liebesroman „in nuce“ im ersten Kapitel und seiner spiegelbildlichen Wendung zu einem unglücklichen Ausgang danach ist gerade ein halbes Buch gefüllt, nicht mehr. Die uns vollständig erhaltenen (meist eingelegten) erotischen Erzählungen vor Chariton haben einen geringeren Umfang, so dass durch diese spiegelbildliche Doppelung schon eine gewisse Erweiterung des Themas, des πάθος ἐρωτικόν, gegeben ist. Wie schafft es Chariton aber nun, innerhalb seines Generalthemas weitere siebeneinhalb Bücher zu füllen? Die Lösung deutet er mit zwei Bemerkungen im Text an. Zunächst heißt es von Kallirhoe, nachdem sie zusammengebrochen und von ihren Dienerinnen auf eine Liege gelegt worden ist: Καλλιρόη μὲν οὖν ἄφωνος καὶ ἄπνους ἔκειτο νεκρᾶς εἰκόνα πᾶσι παρέχουσα, Φήμη δὲ ἄγγελος τοῦ πάθους καθ’ ὅλην τὴν πόλιν διέτρεχεν, οἰμωγὴν ἐγείρουσα διὰ τῶν στενωπῶν ἄχρι τῆς θαλάττης· καὶ πανταχόθεν ὁ θρῆνος ἠκούετο, καὶ τὸ πρᾶγμα ἐῴκει πόλεως ἁλώσει. (Chariton 1,5,1) Kallirhoe lag ohne Stimme und ohne Besinnung da und zeigte für alle das Bild einer Toten: Das Gerücht aber als Bote des schrecklichen Geschehens durchlief die ganze Stadt und weckte Wehklagen in den engen Gassen bis zum Meer: und von überallher wurde Trauergesang gehört und die Sache glich dem Fall einer Stadt. (Übers. O.E.)

Zum zweiten wird Kallirhoe bei ihrer Beerdigung mit der schlafenden Ariadne verglichen: κατέκειτο μὲν Καλλιρόη νυμφικὴν ἐσθῆτα περικειμένη καὶ ἐπὶ χρυσηλάτου κλίνης μείζων τε καὶ κρείττων, ὥστε πάντες εἴκαζον αὐτὴν Ἀριάδνῃ καθευδούσῃ. (Chariton 1,6,2) Es lag aber Kallirhoe in ein Brautgewand gehüllt auf einer goldenen Kline größer und mächtiger, so dass alle sie mit der schlafenden Ariadne verglichen. (Übers. O.E.)

Die weitere Handlung ist nur möglich, weil Kallirhoe nicht tot, sondern nur scheintot ist; die Schlafende weckt im nächsten Kapitel (1,7) aber nicht der Gott Dionysos, sondern ein Grabräuber namens Theron, der sie verschleppt und dadurch die folgenden Irrfahrten von ihr und Chaireas auslöst, der entdeckt, dass das Grab geplündert und Kallirhoe verschwunden ist. In der richti-

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gen Annahme, dass sie noch lebt, macht er sich auf die Suche und gerät selbst in diverse Gefahren, muss sich sogar als Feldherr beweisen (Buch 7) und findet schließlich Kallirhoe wieder, so dass es am Ende von Buch 8 zum endgültigen Happyend kommt. Damit bildet die Liebesgeschichte den Rahmen für die Makrostruktur des Werkes, die mit Anleihen und Reminiszenzen aus anderen literarischen Gattungen gefüllt wird. Darauf noch ein kurzer Blick.

2.3. Weitere generische Anspielungen Die Bemerkungen zu den ersten Kapiteln haben bereits gezeigt, dass Chariton sich selbst sowohl in den literarhistorischen Kontext40 der Historiographie41 als auch des Dramas42 wie des Epos (durch zahlreiche Homerzitate)43 einordnet. Methodisch geschieht diese Kontextualisierung durch intertextuelle Anspielungen, die sowohl in der eigenen „Persona“ gesprochen sind als auch in kommentierender Weise das geschilderte Geschehen begleiten. Zum Teil bestimmen sie aber auch den Lauf der Handlung selbst, wie z. B. die Volksversammlungen im Theater. Damit greifen sie in die Konzeption der Mikro- wie Makrostruktur des Textes ein. Das Gesagte gilt in derselben Weise für den Rest des Romans: Betrachtet man die Makrostruktur des Werkes, so sind vor allem zwei Parallelen auffällig: Zunächst die Irrfahrten der Protagonisten, deren klassisches Muster natürlich in Homers Odyssee zu sehen ist. Chariton selbst macht das explizit am Ende des ersten Kapitels des letzten Buches deutlich: Nach dem glücklichen Anagnorismos der Liebenden (ein typischen Motiv aus Epos und Neuer Komödie) erzählen sie sich beide von ihren Erlebnissen, wie Odysseus im 23. Gesang der Odyssee nach dem Anagnorismos mit Penelope seiner Gattin eine Kurzfassung seiner Erlebnisse schildert. Chariton schließt das mit einem wörtlichen Zitat ab: ἀσπάσιοι λέκτροιο παλαιοῦ θεσμὸν ἵκοντο. (Chariton 8,1,17 = Hom. Od. 23,296) 40

41 42 43

Literarhistorisch soll dabei hier verstanden werden als das, was für einen antiken Autor wie Chariton in den einzelnen literarischen Genera einerseits als formale Regeln, andererseits als Reihe exemplarischer Vertreter (unter anderem auch durch die schulische Bildung) greifbar war und womit er als Autor in einen Wettstreit treten konnte, um sich einen eigenen Platz in diesem Umfeld zu sichern. Vgl. dazu auch Luginbill (2000). Vgl. dazu auch Mason (2002). Vgl. dazu auch Manuwald (2000) sowie Hirschberger (2001).

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Oliver Ehlen Voll Freude schritten sie zum Brauch (bzw. zur Stätte) des altehrwürdigen (Ehe-) Bettes. (Übers. O.E.)

Anders als in der Odyssee gibt es keine mirakulösen Elemente auf der Reise. Chaireas erleidet auf der Suche nach Kallirhoe Schiffbruch gerät in Sklaverei und entkommt nur mit Mühe nach einem Sklavenaustand der Kreuzigung. Kallirhoe ist in der Annahme, Chaireas sei tot, eine zweite Ehe mit einem gewissen Dionysios eingegangen, um ihm das Kind, das sie noch von Chaireas empfangen hat, unterzuschieben. Da sich alle männlichen Handlungsträger, sobald sie Kallirhoe sehen, unsterblich in sie verlieben und natürlich auch schrecklich eifersüchtig sind, klagt Dionysios Mithridates, der Chaireas vom Kreuz gerettet hat und ihn wieder mit Kallirhoe zusammenbringen will, an. Der Prozess kommt vor den Großkönig und bietet die Gelegenheit für rhetorische Glanzstücke (5,4–8), womit sich Chariton auch im Bereich der antiken Rhetorik verortet. Mithridates, angeklagt, den verstorbenen Chaireas nur als Vorwand für eine Affäre mit Kallirhoe zu benutzen, könnte die Anklage einfach widerlegen, indem er Chaireas sofort vor Gericht auftreten ließe, hält aber stattdessen eine rhetorisch ausgefeilte Verteidigungsrede und lässt Chaireas erst danach als Zeuge auftreten. Da der Großkönig nun keine Entscheidung fällt, sondern den Prozess vertagt, Kallirhoe aber zunächst bei seinen eigenen Frauen unterbringt, schließt sich Chaireas den aufständischen Ägyptern an und steigt sogar zu deren Flottenkommandant auf (Buch 7). Im Gegensatz zum Landheer der Aufständischen, das von Dionysios im Auftrag des Großkönigs geschlagen wird, ist Chaireas zu See erfolgreich, bringt sogar die evakuierten Schätze und die Frauen des Großkönigs in seine Gewalt, so dass es zum Anagnorismos mit Kallirhoe (8,1) kommen kann. Selbstverständlich schickt er als edler Held die anderen Frauen unversehrt zum Großkönig zurück und kann dann mit Kallirhoe im Triumph in Syrakus einziehen. Das Ganze gipfelt darin, dass er vor der Volksversammlung (wieder im Theater) noch einmal die ganze Geschichte rekapitulieren muss, die Ägypter, die mit ihm gekommen sind, in Syrakus ansiedelt und seinen Freund und Begleiter Polycharmus mit seiner Schwester verheiratet, von deren Existenz der Leser dort zum ersten Mal etwas vernimmt (8,6–8). Auch hier also wieder eine Selbstkontextualisierung in den literarhistorischen Kontext des Dramas, verbunden mit epischen Reminiszenzen, die das Geschehen sowohl kommentieren als auch Auswirkungen auf die Konzeption der Mikro- und Makrostrukur des Werkes zeitigen.

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3. Fazit Blicken wir noch einmal zurück: Die „Persona“ des Autors tritt uns mit einem deutlichen Selbstbewusstsein am Anfang wie am Ende des Werkes entgegen, mit deutlicher Selbstkontextualisierung im Bereich der Historiographie, die aber durch die folgende Angabe des Themas, nämlich eines πάθος ἐρωτικόν spezifiziert und zugleich aus dem engeren Kontext der Historiographie herausgelöst wird. Charitons Selbstäußerungen stellen eben diese Thematik des πάθος ἐρωτικόν und die damit verbundenen theoretischen Implikationen in den Mittelpunkt, und die Liebesthematik bleibt über alle acht Bücher mit der starken emotionalen Komponente des πάθος verbunden. Damit ist per se schon eine Verbindung zum Drama gegeben, die von Chariton durch andere Reminiszenzen, aber vor allem durch entscheidende Szenen, die sich tatsächlich im Theater abspielen, unterstrichen wird. Zugleich verweist die Thematik, auch durch ihre Bezüge zur Neuen Komödie, auf den fiktionalen Bereich, so dass wir uns im Kontext der fiktionalen Prosa befinden, als deren Großform man den antiken Roman bezeichnen könnte. Die Tatsache, dass wir am Anfang des ersten Buches (Chariton 1,2) bereits einen „Lieberoman in nuce“ vorliegen haben, der dann spiegelbildlich erweitert wird (Chariton 1,2–6), verweist auf ein Problem, mit dem sich der Autor ganz offensichtlich konfrontiert sah. Zwar gab es umfangreiche fiktionale Prosawerke schon vorher, doch entwickelten diese sich gleichsam organisch aus ihren nicht-fiktionalen Vorbildern. So wird die Historiographie in Verbindung mit der Biographie zum Subgenre des biographischen Romans weiterentwickelt; mit Xenophons Kyrupädie ist uns ein Beispiel aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert erhalten. Von uns nicht mehr vollständig fassbaren Reiseberichten, die ins Utopische münden und ebenfalls in die vorchristliche Zeit zu datieren sind, haben sich zumindest Spuren erhalten, z. B. der Roman des Euhemerus, der von Ennius bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert ins Lateinische übertragen worden ist. Schon bei Xenophon gibt es eingelegte Liebesgeschichten, die aber nicht die Makrostruktur und das Thema des Romans bestimmen. Das muss, wenn das πάθος ἐρωτικόν ausdrücklich zum Thema gemacht wird, natürlich anders sein. Ein Motiv, das bereits vorher vorhanden war, wird nun zum Generalthema und auf acht Bücher (so viel wie Xenophons Kyrupädie umfasst) gedehnt. Das ist etwas Neues und deutet auf den Anfang eines neuen Subgenres fiktionaler erzählender Prosa hin: den idealistischen Liebes-

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roman, für den es noch keine literarische Tradition gibt. Wenn es aber noch keine literarische Tradition gibt, steht ein antiker Autor, der bemüht ist, sich durch Auseinandersetzung mit der generischen Tradition einen eigenen Platz darin zu erobern, vor einem Problem. 44 In was für eine Tradition soll er sich einordnen? Historiographie? Epos? Drama? Rhetorik? Chariton löst das Problem, in dem er sich in allen diesen Traditionen selbst kontextualisiert und damit die neue Form als eine übergreifende Synthese bereits bestehender literarischer Traditionen exponiert. Das aber deutet darauf hin, dass er ganz am Anfang des Subgenres des „idealistischen Liebesromans“ steht und mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Schöpfer ist. Das Beispiel zeigt, dass die Einbeziehung des Konzepts einer Selbstkontextualisierung für in der Forschung so umstrittene Fragen wie die Genese des griechischen idealistischen Liebesromans fruchtbar gemacht werden kann. Selbstkontextualisierung war verstanden worden als Selbstverortung des Autors in einem literarhistorischen Kontext. Diese Selbstverortung geschieht in erster Linie durch den Text; insofern der Autor wie im Falle Charitons seinem Publikum als „Persona“ entgegentritt, erfolgt sie zugleich für den Autor, der sich durch eine erfolgreiche aemulatio mit seinen Vorgängertexten Nachruhm sichern kann. Methodisch geschieht sie nicht nur durch Äußerungen in der eigenen „Persona“ und intertextuelle Anspielungen, sondern ebenfalls in der Konzeption der Mikro- und Makrostruktur des Werkes. Praktische Problemstellungen, denen sich der Autor ausgesetzt sehen musste, sind dabei ebenso interpretationsrelevant. Da sich die Verbreitung des Prinzips der aemulatio bis zum Anfang des Mittelalters (und zum Teil noch darüber hinaus) nachweisen lässt,45 ergibt sich hier ein Ansatzpunkt für das Herausarbeiten derartiger praktischer Problemstellungen. Selbstkontextualisierung mittels der oben genannten Methoden wird damit in gewisser Weise zu einer Notwendigkeit für den Autor, und zwar nicht nur, wenn er in sich im literarhistorischen Kontext eines etablierten Genres einen eigenen Platz zu sichern 44

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Tilgs Betonung der Neuheit (ausführlich (2010) 121–197) bei Chariton hilft m. E. da nur wenig weiter, da ein antiker Autor sich im Sinne einer aemulatio gerade in eine Tradition einzuordnen pflegt, der er vielleicht neue eigene Elemente hinzufügt, dabei aber sorgfältig darauf achtet, dass er am Ende nicht außerhalb dieser Tradition steht. Z. B. im Liber de sanctae crucis des karolingischen Gelehrten Hrabanus Maurus, der dort explizit als Dichter erscheint und seine Vorgänger Optatianus Porfyrius und Venantius Fortunatus formal wie inhaltlich zu übertreffen sucht.

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sucht, sondern auch wenn er die Gattungsgrenzen transgrediert und etwas Neues schafft. Wie das Beispiel des Chariton zeigt, kann man diesem Konzept der Selbstkontextualisierung nachspüren, indem man dem Text selbst sowohl auf der Ebene der intertextuellen Anspielungen als auch auf derjenigen der Konzeption nachgeht und diese in außertextliche historische Gegebenheiten und Vorstellungen einordnet. Dabei ließ sich hier konkret aufweisen, dass Chariton einerseits neue Pfade im Bereich des antiken Romans, der Großform der narrativen fiktionalen Prosa in der Antike, beschritten hat und anderseits, worin diese Neuerungen genau bestanden. Seine Selbstkontextualisierung in gleich mehreren literarisch-generischen Kontexten ließ seinen Roman als den Prototyp eines neuen Subgenres, des Liebesromans, erscheinen, indem er die Liebesgeschichte von einem Randelement oder einer Einlage zum bestimmenden Element der Makrostruktur machte und sie so auf acht Bücher ausdehnte. Die Untersuchung dieser Selbstkontextualisierung hat zudem deutlich gemacht, dass er sich der Problematik, etwas bis dahin Neues zu schaffen, offenbar bewusst war. Was er nicht erahnen konnte, sind die Folgen dieser Neuerung, die sich noch weit über H. Claurens Mimili (1819) erstrecken und bis heute zu erkennen sind. Literatur Baßler, M. (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen. Clauren, H. (1819): Mimili, Dresden. Ehlen, O. (2011): Venantius-Interpretationen. Rhetorische und generische Transgressionen beim „neuen Orpheus“, Stuttgart (AwK. 22). Engelsing, R. (1973): „Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert,“ in: Ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 4), 108–224. Gemeinhardt, P. (2007): Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, Tübingen (Studien und Texte zu Antike und Christentum). Goodhill, S. (2008): „Genre“, in: Whitmarsh, T. (Hg.), The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel, Cambridge, 188–200. Goold, G. P. (Hg.) (1995): Chariton. Callirhoe, Cambridge (MA). Hägg, T. (1980): Den antika Romanen, Uppsala. Hägg, T. (1987): Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, übers. von K. Brodersen, Mainz. Hirschberger, M. (2001): „Epos und Tragödie in Charitons Kallirhoe. Ein Beitrag zur Intertextualität des griechischen Romans“, WJA 25, 156–187. Hude, C. (Hg.) (1926): Herodoti historiae, Oxford. Jannidis, F. (2002a): „Autor, Autorbild und Autorintention“, editio 16, 26–35.

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Index locorum A A.D. Pron. 100,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 AL 13,7–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 710a3–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Alc. fr. 309 Lobel/Page =13 Diehl . . . . 252 Alcm. fr. 26 Page = 94 Diehl . . . . . . . . . . . 250 fr. 52 Page . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Anacr. fr. eleg. 2 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 AP 7,42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 7,353 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 7,455 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Apollon. Lex. p. 75,22 Bekker . . . . . . . . 110, 111 Apul. Apol. 81–84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Met. 6,22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Met. 9,29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Ar. Ra. l,52–54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 A.R. 3,1256–1262 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Arist. fr. var. 640 Rose . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Po. 1449b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Po. 1461a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Pol. 1335b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Rh. 1393a–1394a . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Ath. 4,141e–f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Auson. C. n. pr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 C. n. 33–45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 C. n. 46–56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 C Call. Aet. fr. 2d Ha. = schol. Flor. 15–20 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Aet. fr. 7a,10 Ha. = schol. Flor.

10 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 137a,8 Ha. . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 1,1–2 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Aet. fr. 1,21–24 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . 123 Aet. fr. 1,37 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 1,37–38 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 1 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Aet. fr. 2,1 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Aet. fr. 3 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Aet. fr. 7,13–14 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . 124 Aet. fr. 7,19–26 Pf. = 7c,1–8 Ha. 125 Aet. fr. 7,22 Pf. = fr. 7c,4 Ha. . . . . 127 Aet. fr. 43,50–57 Pf. . . . . . . . . . . . . . 128 Aet. fr. 43,56 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 75,74–77 Pf. . . . . . . . . . . . . . 130 Aet. fr. 75,77 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Aet. fr. 112,5–6 Pf. . . . . . . . . . . . . . . . 126 Epigr. 21,5–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Cato orat. 8, fr. 238 ORF . . . . . . . . . . . . . . 196 Cens. 14,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Chariton 1,1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 1,1,1–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1,1,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 1,2–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 1,2–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 5,1,1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 5,4–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8,1,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 8,1,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8,6–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8,8,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Cic. ad Brut. 1,17,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Amic. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Att. 1,13,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Att. 1,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Att. 1,16,6–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Att. 1,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Att. 1,17,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Att. 1,19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168, 171

364

Index locorum

Att. 2,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Att. 2,1,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Att. 2,1,3 . . . . . . . . . . . . . . . 161, 162, 170 Att. 2,1,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Att. 4,7,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Att. 7,3,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Att. 7,13,1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Att. 10,5,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Brut. 8–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Brut. 91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Cael. 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Catil. 1,6–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Catil. 1,20–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Catil. 1,22–32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Clu. 139 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Dom. 92–94 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Fam. 5,2,6–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Fam. 5,12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Fam. 5,12,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Fam. 5,12,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Fin. 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Off. 1,84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Off. 3,104–105 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Q. fr. 3,1,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Rep. 1,1–13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Sen. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Sen. 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Sen. 82 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144, 152 Tusc. 1,7–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Tusc. 1,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Tusc. 1,18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Tusc. 1,32–34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Tusc. 1,66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Tusc. 4,55 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Tusc. 4,69 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Tusc. 5,32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Clem. Al. Strom. 6,144,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Com. inc. inc. v. 72 Ribbeck2 . . . . . . . . . . . . . . 190 D D.C. 37,33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166, 174 Demetr. Eloc. 289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Eloc. 294 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Dem. Sceps. fr. 1 Gaede/Biraschi . . . . . . . . . . . . . 206 fr. 2 Gaede/Biraschi . . . . . . . . . . . . . 211

T1 Biraschi . . . . . . . . . . . . . . . . . 203, 207 T4 Biraschi . . . . . . . . . . . . . . . . . 203, 207 D.L. 1,47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1,55 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5,80 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 D.S. 40,5a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 E EM 359,17–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enn. Ann. v. 329 Sk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. v. 363–365 Sk. . . . . . . . . . . . . . Med. 224 Jocelyn = 92 TrRF . . . . trag. inc. 350 Jocelyn = trag. inc. 165 TrRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eub. fr. 43 Kock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eust. ad Il. 2,285,25–30 . . . . . . . . . . . . . . . ad Il. 2,557 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ad Il. 24,802 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ad Il. 24,802–804 . . . . . . . . . . . . . . . . F FGrHist 115 F357

........................

248 191 193 198 196 269 243 243 210 209

212

H Harp. 123,9–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Hdt. 1,1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1,8–13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352, 355 1,32,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1,66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5,113,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Hes. Op. 127–142 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Op. 286–292 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Οp. 695 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Op. 696–697 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Th. 77–79 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Th. 81–84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Th. 96–97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Th. 114–116 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hesych. ε 5669 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

365

Index locorum h.Hom. h.Merc. 579–580 . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Hom. Il. 1,8–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Il. 2,485–486 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Il. 2,816–877 . . . . . . . . . . . . . . . 203, 207 Il. 3,352 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Il. 3,445 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Il. 4,350 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Il. 5,808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 6,503–514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Il. 6,506–511 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Il. 6,507 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286, 287 Il. 7,444 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Il. 8,43 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 9,189 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Il. 9,409 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Il. 9,443 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Il. 9,524 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Il. 10,317 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Il. 13,241 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 14,40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 14,65–81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Il. 14,83 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Il. 14,84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114, 117 Il. 14,104–105 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Il. 15,263–268 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Il. 18,476 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 18,477 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 24,525 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 24,525–526 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Od. 1,64 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 1,302 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Od. 1,398 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Od. 3,230 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 4,197 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Od. 4,197–198 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Od. 4,703 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Od. 5,22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 8,62–63 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Od. 9,3–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Od. 10,328 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 19,492 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 21,168 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 22,412 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Od. 23,70 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Od. 23,296 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Od. 24,192–202 . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Hor. Ars 156–178 S. 1,2,67–71 I Isoc. antid. 10

..................... .....................

255 270

.........................

115

L Liv. 27,25,7–10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luc. 1,67–212 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,192–194 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,220 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,291–295 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,294 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,498–504 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lucil. 766 K. (= 767 M.) . . . . . . . . . . . . . . . dub. 1375–1376 M. . . . . . . . . . . . . . .

331 283 283 284 284 286 279 269 195

M Mimn. fr. 6 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 fr. 12–14 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Monumentum Archilochium . . . . . . . 128 O Ov. Her. 18,161–166 . . . . . . . . . . . . . . . . . Met. 3,704–707 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tr. 5,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tr. 5,9,23–32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tr. 5,9,33–34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288 290 289 289 290

P Paus. 3,13,3–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Petr. 132,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Ph. op. mund. 103 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 op. mund. 104 . . . . . . . . . . . . . . 238, 240 op. mund. 128 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Phaed. 1,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1,14,17–18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3 prol. 33–37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3 prol. 45–50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

366

Index locorum

3,1,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3,1,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3,12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3,12,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3 epil. 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3 epil. 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4,2,1–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4,2,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4,11,14–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 5,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5,10,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 app. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 app. 7,17–18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Plat. Lg. 808d6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Men. 88b8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Phdr. 275e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Prt. 338e–347 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Plaut. Cist. 149 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Cur. 76–81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Cur. 96–98 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Plin. Nat. 35,120 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Nat. 36,32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Plin. Ep. 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . 146, 147, 148 Ep. 1,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Ep. 1,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147, 148 Ep. 1,3,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144, 148 Ep. 1,3,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Ep. 1,3,3–4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ep. 2,1,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Ep. 2,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 144, 148 Ep. 2,2,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 149 Ep. 2,10,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Ep. 3,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 3,7,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 3,7,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 149 Ep. 4,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 4,16,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 5,5,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 5,5,4–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Ep. 5,6,45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Ep. 5,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ep. 5,19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 6,6,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144, 145 Ep. 6,16,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Ep. 6,16,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ep. 7,26,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144, 148

Ep. 7,33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ep. 8,24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Ep. 9,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146, 147 Ep. 9,2 . . . . . . . . . . . . 146, 147, 148, 153 Ep. 9,2,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Ep. 9,2,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 9,2–3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ep. 9,3 . . . . . . 139, 146, 147, 148, 149, 151, 153 Ep. 9,3,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148, 152 Ep. 9,3,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147, 150 Ep. 9,3,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 152 Ep. 9,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142, 146 Ep. 9,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Ep. 9,23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ep. 9,32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Ep. 9,37 . . . . . . . . . . . . . . . 141, 148, 149 Ep. 9,38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Ep. 9,40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Plu. aud. poet. 22a . . . . . . . . . . . . . . 107, 108 aud. poet. 22a–b . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 aud. poet. 22b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Caes. 33,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Caes. 34,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Cic. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Cic. 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Marc. 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 mor. 1068d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 mor. 1108d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 quaest. Rom. 266–267 . . . . . . . . . . . 331 Sol. 218 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Porph. quaest. Hom. p. 56,5–6 Sodano . . 110 quaest. Hom. p. 63,15 Sodano . . . 110 quaest. Hom. p. 64,12–13 Sodano 110 Praxill. fr. 7 Page . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Proba cento 372–376 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 cento 384–387 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 cento 403–412 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cento 474–486 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Ps.-Apollod. 2,8,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Q Quint. Inst. 9,2,65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Inst. 10,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Index locorum Inst. 10,1,125 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inst. 10,7,30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inst. 12,11,4–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inst. 12,11,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320 167 154 153

S Sal. Cat. 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Cat. 1,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Cat. 2,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Cat. 31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Cat. 31,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162, 174 Jug. 14,15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Sapph. fr. 55 Lobel/Page = 58 Diehl . . . . . 253 fr. 147 Lobel/Page = 59 Diehl . . . 253 schol. Aesch. Eu. 473 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 schol. Dem. 20,197 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 schol. Eur. Ph. 805 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 schol. Hes. Op. 324–326. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 schol. Hom. Od. 2,11b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Od. 3,71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Od. 13,223 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 schol. Hom. A Il. 3,261–2a Ariston. . . . . . . . . . . . . . 117 Il. 3,352a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . 115 Il. 3,368a Did. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 3,432 Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Il. 3,445 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Il. 6,169a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . 116 Il. 8,43a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 8,53a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Il. 10,317a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . 110 Il. 13,25b Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . 109 Il. 14,40a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 14,84a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . . 114 Il. 19,149a Ariston. . . . . . . . . . . . . . . 109 schol. Hom. b Il. 2,848a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 schol. Hom. bT Il. 5,807–808 Did. . . . . . . . . . . . . . . . 112 Il. 6,354–355a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Il. 21,40 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 schol. Theoc. 5,83a Wendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

367

Sen. Cl. 1,3,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 142 Const. 3,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 De prov. 2,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Ep. 1,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 4,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ep. 4,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 5,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Ep. 9,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 9,19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 13,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 13,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 14,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 14,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 14,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ep. 14,17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 15,4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 16,4–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Ep. 19,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Ep. 24,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 27,3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 28,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Ep. 58,33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Ep. 71,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Ep. 73,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ep. 76,8–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Ep. 102,28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ep. 121,24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141, 142 Sid. Ep. 6,12,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Sol. fr. 4a West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 fr. 5 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 fr. 5,5–6 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 fr. 5,36 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 fr. 13,52 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 fr. 16 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 fr. 18 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 fr. 19 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 fr. 20 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 fr. 24,10 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 fr. 27 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235, 237 fr. 33 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 fr. 36 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 fr. 36,27 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 fr. 37 West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 fr. 37,9–10 West . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Str. 9,1,22 (C399) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 13,1,45 (C603) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 13,1,55 (C609) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

368

Index locorum

T Tac. Ann. 3,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hist. 2,53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ter. An. 228–232 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tert. praescr. haer. 39,4–7 . . . . . . . . . . . . Th. 1,1–2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,5,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7,39,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thgn. 681–682 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tib. 1,4,32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trag. inc. inc. 111 Ribbeck2 = adesp. 49 TrRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . inc. 174–175 Ribbeck2 = adesp. 62 TrRF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verg. A. 1,315 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,319 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,361 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,475 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,503 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,506 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,650 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,664 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 1,722 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,257 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,548 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,591–592 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,778 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 2,797 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 3,51 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 3,55 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 3,178 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 3,375 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 4,136 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 4,137–139 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 4,514 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 5,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 6,376 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 6,562–627 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. 6,724–751 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144 144 269 296 348 106 353 271 288 195 199

304 304 306 307 304 304 304 309 310 334 334 307 304 300 310 306 306 310 334 304 304 301 307 334 303 303

A. 6,851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 A. 7,53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 A. 7,81–106 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 A. 7,96–101 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 A. 7,97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 A. 7,100 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 A. 7,101 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 A. 7,239 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 A. 7,341 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 A. 7,584 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 A. 8,124 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 A. 8,483 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 A. 8,589 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 A. 8,591 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 A. 9,436 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 A. 10,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 A. 10,132 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 A. 10,362 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 A. 10,498 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 A. 10,507 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 A. 11,36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 A. 11,155 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 A. 11,267 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 A. 11,486–497 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 A. 11,492 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 A. 11,493 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 A. 11,559 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 A. 12,56–57 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 A. 12,65–66 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Ecl. 1,51 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ecl. 1,52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ecl. 5,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Ecl. 6,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ecl. 6,67 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ecl. 7,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300, 301 Ecl. 8,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Ecl. 8,48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 G. 2,126 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 V. Fl. 2,384–391 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2,387 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Vita Arist. Marc. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6 V. Max. 1,1,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 X X. Mem. 2,21–34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Xenoph. fr. B1,19–24 West . . . . . . . . . . . . . . . 104