Wahnsinn, Text und Kontext. Die historischen Wechselbeziehungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie 978-3-8204-6212-8

Eine Essaysammlung, die die gegenseitige Beeinflussung der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und der Geschichte der P

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German Pages 120 Year 1981

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Wahnsinn, Text und Kontext. Die historischen Wechselbeziehungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie
 978-3-8204-6212-8

Table of contents :
Aus dem Inhalt: Der Schwarze als der Repräsentant von Wahnsinn: Zur Geschichte eines Stereotyps - Zur Physiognomie des Geisteskranken in Geschichte und Praxis, 1800-1900 - Den Geisteskranken sehen: Mackenzie, Kleist, James - Van Gogh und die Ikonographie des Wahnsinns.

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Europäische Hochschulschriften

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Sander L.Gilman

Wahnsinn, Text und Kontext Die historischen Wechselbeziehungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie

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Peter Lang

Frankfurt am Main • Bern

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Die thematisch zusammengefaßten Reihen der EUROPÄISCHEN HOCHSCHULSCHRIFTEN sind mittlerweile - wie von uns angestrebt — zu einem Forum der jungen Wissen¬ schaftler geworden. Insbesondere Doktoranden sollen hier die Möglichkeit erhalten, ihre Arbeit der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit vorzulegen und zur Diskussion zu stellen. Interessenten senden bitte ihr Manuskript an eine der untenstehenden Adressen. Comme nous le souhaitions, les diverses s^ries des PUBLICATIONS UNIVERSITAIRES EUROPEENNES group^es par sujet, sont devenues le "forum" des jeunes scientifiques. GrSce ä cette collection, les doctorants en particulier trouveront l'occasion de faire connaitre leurs travaux ä des spfecialistes et au public concern6 en suscitant leurs discussions. Les personnes int^ress^es voudront bien envoyer leur manuscrit ^ l'une des adresses mentionnöes ci-dessous. Our series EUROPEAN UNIVERSITY STUDIES grouped according to subject, have become an important forum for young scholars all over the world. Especially candidates for a doctor's degree are given the opportunity to present their work to experts as well as to the general public for discussion and evaluation. Please submit your manuscript to: Verlag Peter Lang GmbH Wolfsgangstrasse 92 D-6000 Frankfurt/Main Tel: 0611/55 59

Verlag Peter Lang AG Jupiterstrasse 1 5 CH-3000 Bern 15 Tel.: 004131/321122

Wahnsinn, Text und Kontext

Europäische Hochschulschriften Publications Universitaires Europeennes European University Studies

Reihe I Deutsche Sprache und Literatur Serie I

Seriesl

Langue et litterature allemandes German Language and Literature

Bd./Vol.417

PETER LANG Frankfurt am Main • Bern

Sander L.Gilman

Wahnsinn, Text und Kontext Die historischen Wechselbeziehungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie

PETER LANG Frankfurt am Main • Bern

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Gilman, Sander L.: Wahnsinn, Text und Kontext : d. histor. Wechselbeziehungen d. Literatur, Kunst u. Psychiatrie / Sander L. Gilman. Frankfurt am Main ; Bern : Lang, 1981. (Europäische Hochschulschriften : Reihe 1, Dt. Sprache u. Literatur; Bd. 417) Auch als: Literatur & Psychologie ; Bd. 8 ISBN 3-8204-6212-0 NE: Europäische Hochschulschriften / 01

ISBN 3-8204-6212-0 ©Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1981 Alle Rechte Vorbehalten. Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, in allen Formen wie Mikrofilm, Xerographie, Mikrofiche, Mikrocard, Offset verboten. Druck und Bindung: fotokop Wilhelm weihert KG, darmstadt

INHALT

Einleitung.7 Teil I:

Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte der Psychiatrie für die Literaturwissenschaft: Zur Lektüre eines Dickens Textes.9 I. Theoretische Bemerkungen.9 II. Der Text.10 III. Das gegenwärtige Moment.13 IV. Das versteckte Moment..16 V. Das historische Moment.20 VI. Dickens zu neuem Leben erweckt.24 VII. Zusammenfassung.26 Anmerkungen.28

Teil II:

„Der Schwarze ist wahnsinnig”: Die Entwicklung des Stereotyps vom wahnsinnigen Schwarzen in der Literatur und Psychiatrie.33 I. Theoretische Vorbemerkungen.33 II. Der Schwarze als die Inkarnation von Geisteskrankheit.34 III. Der historische Kontext.38 IV. Wahnsinn und schwarze Hautfarbe.45 V. Der historische Kontext.47 VI. Zusammenfassung.50 Anmerkungen.52

Teil III: Den Geisteskranken sehen: Henry Mackenzie, Heinrich von Kleist, William James.59 I. Theoretische Vorbemerkungen.59 II. Henry Mackenzie.60 III. Heinrich von Kleist.62 IV. William James... . .67 V. Zusammenfassung.71 Anmerkungen.73

Teil IV: Zur Physiognomie des Geisteskranken in Geschichte und Praxis, 1800-1900.77 Einleitung.77 I. Pinel und die Anfänge der psychiatrischen Abbildung.78 II. Die physiognomische Tradition.78 III. Die englische Tradition.81 IV. Die französische Entwicklung.83 V. Die physiognomische Tradition in England.86 VI. Die physiognomische Tradition in Deutschland.87 VII. Die Einführung der Photographie.87 VIII. Darwin und der Anfang der Ausdruckspsychologie.90 IX. Das Ende des Jahrhunderts.92 X. Abschließende Betrachtungen.93 Anmerkungen.98 Teil V:

Vincent van Gogh und die Ikonographie des Wahnsinns.103 Anmerkungen.110

Register.111

EINLEITUNG

Die vorliegende Essaysammlung dokumentiert die gegenseitige Beeinflussung von Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Geschichte der Psychiatrie. Die Dar¬ stellung der verschiedenen Stereotypen von Geisteskranken in Kunst und Litera¬ tur Jahrhunderte hindurch ist noch wenig untersucht worden, insbesondere nicht in einer Weise, die beide Begriffe von Geisteskrankheit, den künstlerischen und den wissenschaftlichen, integriert. Die Essays in diesem Band haben eine solche Untersuchung in einem weiten Bereich, nämlich von der Voistellung des Wahn¬ sinns bei den alten Griechen bis zur Assoziationspsychologie eines William James, versucht. Die Autoren und Künstler vertreten literarische und künstlerische Tra¬ ditionen in Europa und Amerika über eine gleiche Zeitspanne. Das Einfügen der Verschiedenheit der Auffassungen von Geisteskrankheit in die Geschichte der Wissenschaften, besonders in die Geschichte der Ausdruckspsy¬ chologie, verschafft Einsicht in die komplizierten Gesetzmäßigkeiten des Stereotypisierens von Geisteskranken, Gesetzmäßigkeiten, die über alle Grenzen zwi¬ schen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften hinweggehen. Entwürfe dieser Essays sind schon früher in den folgenden Zeitschriften in engli¬ scher Sprache erschienen: MLN, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwis¬ senschaft und Geistesgeschichte, Forum on Medicine und in dem Buch The Turn of the Century, herausgegeben von Gerald Chappel. Ich bin meinen Kollegen, Prof. Eric T. Carlson und Jacques Quen von der medizinischen Fakultät der Cornell Universität, sowie U.H. Peters, Professor der Psychiatrie an der Universität Köln, sehr verbunden für ihre kritische Durchsicht dieses Materials. Dieser Stoff ist in anderen Fassungen, in Form von Vorlesungen in der Abteilung für Psychiatrie an der Cornell Universität und an der Universität Mainz vorgetra¬ gen worden, ferner auch auf der Tagung der Neurologen und Psychiater in BadenBaden und auf dem ‘Turn of the Century’ Symposium an der McMasters Univer¬ sität. Ich bin den verschiedenen Kollegen für ihre Bemerkungen und Kommentare zu diesem Material sehr zu Dank verpflichtet. Ich möchte der Hüll Memorial Fund der Comell Universität für einen Druckkostenzuschuß danken.

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Teil I

VOM NUTZEN UND NACHTEIL DER GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE FÜR DIE LITERATURWISSENSCHAFT: ZUR LEKTÜRE EINES DICKENS TEXTES

I. Theoretische Bemerkungen Nach Miriam Siegler und Humphry Osmond geht die moderne Medizin von acht klar differenzierten Modellen der Geisteskrankheit aus. Angefangen vom „medi¬ zinischen Modell”, bei dem der Patient Gegenstand einer Behandlung ist, bis hin zum „konspirativen Modell”, das die Existenz des Begriffs Patient negiert, um¬ schreiben diese Ansichten die komplexe Art, in der verschiedene Gruppen ihre Beziehung zum Geisteskranken definieren. Modelle sind, wie Siegler und Osmond immer wieder betonen, „Abstraktionen; Erfindungen des menschlichen Geistes, um Fakten, Ereignisse und Theorien in methodisch geordneter Weise darzustel¬ len. Sie sind nicht notwendigerweise wahr oder falsch.Sie sind Ordnungsprin¬ zipien, nichts mehr und nichts weniger. Aber diese Ordnungsprinzipien, wie sie von Siegler und Osmond beschrieben werden, geben die oft unmerklichen Unter¬ schiede zwischen den einzelnen Modellen nicht erschöpfend wider. Denn es han¬ delt sich weniger um acht in sich geschlossene Strukturen, als vielmehr um acht Knotenpunkte eines zusammenhängenden Spektrums ineinandergreifender Defi¬ nitionen. Jedes Modell geht durch eine unendliche Serie von Untermodellen in andere verwandte Modelle über. Von konstrastiven Modellen aber kann man erst nach einer gewissen Anzahl von Differenzierungen sprechen. Eine solche synchronische Betrachtungsweise der bestehenden Modelle, die Geisteskrankheit be¬ schreiben, ist jedoch in sich unvollständig. Denn so, wie es ein synchronisches Modellkontinuum gibt, so gibt es auch zahllose historische Modelle, aus denen diese Modelle hervorgehen, oder auf die die bestehenden Modelle eine Reaktion darstellen. Die diachronische Betrachtung der acht Modelle von Siegler und Osmond würde ein Geflecht von Modellen zu jeder Zeit und jeder Stufe der hi¬ storischen Entwicklung zeigen, die gleichsam als Bodensatz innerhalb einer dia¬ chronischen Betrachtungsweise von Geisteskrankheit präsent sind. Einige Modelle sind rein volkstümlich, wieder andere existieren nur im allgemeinen historischen Bewußtsein des Westens. So ist der kritische Leser gezwungen, nicht nur die zeit¬ genössische Betrachtungsweise der Geisteskrankheit zu verstehen, sondern auch die Evolution des angewandten Modells. Denn reichlich oft enthüllt die histori¬ sche Entwicklung eines gegebenen Modells oder einer gegebenen Modellreihe ver¬ steckte, im Lauf der Zeit maskierte oder verstümmelte Vorurteile. Um das historische Moment sichtbar zu machen und um zu zeigen, wie verschie¬ dene Ebenen des historischen Bewußtseins in einem Modell der Geisteskrankheit gegenwärtig sind, wurde ein Text gewählt, der selbst historisch ist. Das histori-

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sehe Moment soll weniger in der Art gehandhabt werden, daß dadurch die Vor¬ urteile gegenwärtiger Modelle sichtbar gemacht werden sollen, wie es mit den, ich möchte sagen „Übungen” zur Geschichte der Psychiatrie von Michel Foucault, Thomas Szasz und Klaus Dörner der Fall war; der in Betracht gezogene Text soll vielmehr ohne jede negative vorgefaßte Meinung auf seinen Stellenwert in der Geschichte der Psychiatrie untersucht werden.^ Ein prae-freudianisches Modell wurde gewählt, da der historische Abstand zwischen zeitgenössischer Kritik und „altertümlicher” Betrachtungsweise der Geisteskrankheit es dem Kritiker erleich¬ tert, den Text in seinen eigenen Kontext zu stellen. Frühere Untersuchungen von Modellen der Geisteskrankheit, die die historische Entwicklung solcher Struktu¬ ren untersuchen, haben es vorgezogen, diesen distanzierenden Effekt zu ignorie¬ ren und haben statt dessen frühere Texte benutzt, um implizite Betrachtungen über zu einem späteren Zeitpunkt bestehende Modelle anzustellen. Solche Betrach¬ tungen sind natürlich möglich, laufen aber darauf hinaus, eine vereinfachte Parallele zwischen früheren und bestehenden Modellen zu ziehen, und weniger das tatsächli¬ che subtile und komplexe Ineinanderspiel von Modellen zu zeigen. Eine solche Komplexität ist in den nach-freudianischen Modellen sichtbar. Sie ist jedoch in al¬ len Modellen zu finden, angefangen von denen der alten Griechen bis hin zu jenen des viktorianischen London.

II. Der Text Am 17. Januar 1852 brachte Charles Dickens’ Zeitschrift Household Words einen anonymen Beitrag mit dem Titel ‘A Curious Dance Round a Curious Tree’ (Ein merkwürdiger Tanz um einen merkwürdigen Baum), ein Beitrag, der das Ziel ver¬ folgte, beim Leserein Gefühl der Zufriedenheit mit seinem Los während der Feier¬ tage zu wecken. Der Essay war im wesentlichen von Dickens, wie das Manuskript zeigt, jedoch mit einigen Passagen von Dickens’ Subeditor William Henry Willst Bei dem „merkwürdigen Tanz” handelte es sich um eine Festlichkeit am Zweiten Weihnachtsfeiertag, dem sogenannten Boxing Day, die jedes Jahr im Hospital für Geisteskranke in St. Luke’s (Old Street, London) stattfand; der „merkwürdige Baum” war das Entzünden des Weihnachtsbaums, mit dem der Essay endet. Der Essay warf ein so positives Licht auf die Anstalt, daß die Direktoren von St. Luke’s ihn 1860 mit Dickens’ Erlaubnis als Separatdruck neu herausgaben/* Der Essay, der sicherlich geeignet ist, eine moralische Lektion darüber zu ertei¬ len, für die Segnungen des eigenen Daseins dankbar zu sein, beginnt mit einer Be¬ schreibung der reformierten Anstalt im ausgehenden 18. Jahrhundert, die das sprichwörtliche Bedlam, Bethlehem Hospital, ablöste, wo . . Geisteskranke an¬ gekettet, nackt, in Käfigreihen eine Promenade entlang von Londoner Müßiggän¬ gern durch die Eisenstäbe hindurch angestaunt und verhöhnt wurden. . .” (382). Das Wohlwollen der neuen Insititution war . . wie gewöhnlich zu jener Zeit, mit einem merkwürdigen Grad an unbewußter Grausamkeit vermischt” (382). In seinem weiteren Vorgehen zitiert Dickens ziemlich ausführlich und detailliert aus

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Haslam’s „Observations on Madness and Melancholy, Including Practical Remarks on those Diseases” („Beobachtungen zu Wahnsinn und Melancholie, mit prakti¬ schen Anmerkungen zu jenen Krankheiten”) aus dem Jahre 1809. Haslam wurde von seinem Posten in Bedlam entlassen, nachdem eine parlamentarische Untersu¬ chung 1815 die dortigen Praktiken aufgedeckt hatte. Dickens sieht in der Zwangsemährung von Patienten im Hungerstreik, in der Praktik, renitenten Pa¬ tienten Handfesseln anzulegen, Zeichen des älteren Konzepts von Geisteskrank¬ heit: „Diese Praktiker des Alten scheinen unbewußt frühe Homöopathen gewe¬ sen zu sein; ihr Motto muß gewesen sein ‘similia similibus curantur’ (Gleiches heilt man mit Gleichem); sie glaubten, daß die gewalttätigsten und sichersten Mittel, einen Menschen zum Wahnsinn zu bringen, auch die einzigen Mittel seien, die die Hoffnung auf eine Wiederherstellung seiner Vernunft zuließen.” (383) Es war jedoch nicht in den „Schreckenskammem” (383) der alten Windmill Hill Anstalt, in der sich Dickens nun an jenem Boxing Day, Freitag, dem 26. Dezem¬ ber 1851, tatsächlich befand, sondern in einer Anstalt, in der es „an jenem Abend einen ‘Weihnachtsbaum für Patienten’ geben sollte. Und weiter, daß der ‘gewöhn¬ liche vierzehn tägliche Tanzabend’ vor der Verteilung der Geschenke unter dem Baum stattfinden sollte.” (384). Die Anstalt, die Dickens betrat, hatte wenig Ähnlichkeit mit den „Schreckens¬ kammem”. Spuren, die an die alte Behandlungsart der Insassen erinnerten, sind nur in den Alkoven sichtbar, „. . . wo die Stühle, auf denen man die Patienten für eine zeitlich nicht begrenzte Dauer sitzen ließ, in der guten alten Zeit mit Nägeln gepolstert waren” (388). Dieses Zeichen der Vergangenheit, ironisch als „gute alte Zeit” charakterisiert, steht in Kontrast zu ,,. . . einer Nische, (in der) ein Piano stand, mit ein paar zerrissenen Notenblättern auf dem Notenpult. Die Mu¬ sik natürlich verkehrt hemm.” (386) Diese Beobachtungen werden gemacht, während er durch die Anstalt geht, zu dem „merkwürdigen Tanz”, der in einer Galerie weiter vom stattfinden soll. „Als ich zu den Pfostenabdrücken in den Wänden der Gallerie schaute, an die die Patienten früher angekettet waren, waren aus der Feme Klänge von Musik zu hören” (388). Die polarisierende Struktur des Essays wird in diesen Passagen sichtbar. Die Vergangenheit ist die Zeit, in der die Folter in der Anstalt dominierte; heute ist die Anstalt die Welt der Zivilisa¬ tion. Dickens wählt bewußt das Bild von Musik und Tanz als Metapher für diese neue Anstalt. Wenn Dickens schließlich die Galerie erreicht, in der der Tanz stattfindet, hat er (und mit ihm sein Leser) die Anstalt ihrer ganzen Länge nach durchquert.5 Er wirft einen Blick „auf den dunklen, mit Stechpalmen geschmückten Ort, der an beiden Enden nur schwach erleuchtet ist” (388), und sein Blick heftet sich auf die Tänzer: Die Patienten, die man gewöhnlich in all solchen Anstalten finden kann, waren unter den Tänzern. Die lebhafte, eitle, apfelgesichtige kleine, alte Lady in ihrer phantastischen Kappe — stolz auf ihren Fuß

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und seine schlanke Fessel; die alte-junge Frau mit dem aufgelösten, lan¬ gen, hellen Haar, der mageren Gestalt und dem merkwürdigen FeineLeute-Gehabe; das Mädchen mit dem abwesenden Lachen, das hin und wieder einen warnenden Finger zur Ermahnung brauchte; die stille jun¬ ge Frau, fast gesund und kurz vor der Entlassung. Als Partner, der unge¬ schlachte, stiernackige, untersetzte kleine Kerl, der vergangene Woche auszureißen versuchte; der schiefgesichtige Schneider, der früher zum Selbstmord neigte, sich nun aber wieder gefangen hatte; der argwöhni¬ sche Patient, der mit düsterer Miene immer wiederum Fremde herum¬ geht, sie verstohlen von hinten von Kopf bis Fuß mustert, nicht unge¬ neigt, ihr Eindringen übel zu nehmen. Der alte Mann in seiner glückli¬ chen Einfältigkeit, mit allem zufrieden. Aber das einzig vernehmbare Geräusch einer Kette war beim Tanzen der Damenkette zu hören, und es gab keine einzwängendere Jacke als das Leibchen vom Polkakostüm der alten-jungen Frau mit dem merkwürdigen Feine-Leute-Gehabe, das aus verblichenem schwarzen Satin war und mit schmachtender Leut¬ seligkeit und Herablassung gegenüber dem Zwang der Umstände durch den Tanz dahinschmolz; in sich ein flüchtiger Abglanz von ganz Bed¬ lam. (388-89) Unter den Tänzern befanden sich nicht nur die Patienten, sondern auch die Be¬ schäftigten der Anstalt. Sie waren nicht mehr die sadistischen Folterknechte der alten Anstalt; sie waren zu einer großen Familie geworden. Das Oberhaupt, Tho¬ mas Collier Walker und seine Frau, werden als die Eltern dieser Familie beschrie¬ ben, seine Frau, Charlotte Eliza Walker, als jemand, „deren klarem Verstand und starkem Herzen der Himmel eingegeben hatte, keinen Weihnachtswunsch zu ha¬ ben, der über diesen Ort hinausreichte, vielmehr auf ihn als ihr Zuhause zu sehen und auf seine Insassen als ihre leidenden Kinder.” (389) Das Entzünden des Weihnachtsbaumes stellt den Höhepunkt von Dickens’ Be¬ such dar. In diesem Augenblick sind die Schatten vergangener Weihnachtsfeste ein für allemal aus der Anstalt verbannt: Im gleichen Augenblick, da der Tanz vorüber war, stürzte der Pförtner, nicht im mindesten außer Atem, davon, um den Baum anzünden zu helfen. Da stand er, in der Mitte des Raumes, aus dem Boden wachsend, eine Lohe aus Licht und Schimmer; an diesem Ort (wie man von der amerikanischen Aloe erzählt) zum ersten Mal seit einhundert Jahren erblühend. O, Ihr Schatten von Irrenärzten, mit Euren Spitzenhals¬ krausen und gepuderten Perücken, o Ihr Schatten von Patienten, die Ihr in der guten alten Zeit wahnsinnig wurdet, um hier entweder für im¬ mer wahnsinnig zu bleiben oder gesund zu werden, und die Ihr deshalb verarzneit, angekettet, geschlagen, mißhandelt, in Zwangsjacken ge¬ steckt und gefoltert wurdet, schaut, von

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wo immer in euren unsichtbaren Substanzen Ihr wartet auf dieses ausländische Unkraut im degenerierten Garten von St. Luke’s! (390) Dieses Bild vor Augen verließ Dickens St. Luke’s. Er schloß sein Essay mit der Hoffnung auf künftige Weihnachtsfeste in St. Luke’s: Das Leiden der Geisteskrankheit auf alle nur menschenmögliche Art zu erleichtern bedeutet nicht, die größte der göttlichen Gaben wiederher¬ zustellen; und jene, die sich dieser Aufgabe weihen, geben dies auch nicht vor. Sie finden ihre Stütze und Anerkennung darin, daß sie Menschlichkeit anstelle von Brutalität setzen, Freundlichkeit anstelle von Mißhandlung, Friede anstelle von rasender Wut; daß sie Liebe an¬ stelle von Haß erwerben; sie finden Stütze und Anerkennung in dem Wissen, daß von einer solchen Behandlung Besserung und die Hoffnung auf endgültige Wiederherstellung ausgeht, sofern solche Hoffnung möglich ist. Es mag gering erscheinen, aus einem Irrenhaus all das abge¬ schafft zu haben, was abgeschafft wurde, all das ersetzt zu haben, was ersetzt wurde. Und dennoch, Leser, wenn Du zu einer guten Sache einen geringen Beitrag leisten kannst —, leiste ihn. Es wird viel sein — eines Tages. (391) Für Dickens ist das letzte Ziel einer Anstalt die Wiederherstellung ihrer Insassen für die menschliche Gesellschaft, eine „Wiederherstellung”, die nur auf dem We¬ ge der „Liebe” erreicht werden kann.

III. Das gegenwärtige Moment Um die unmittelbare Wirkung von Dickens’ Essay auf das Bewußtsein des Lesers in der ausgehenden ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ermessen, muß man wissen, daß jene Periode den Abschluß einer die Reform der Anstalten betref¬ fenden Debatte in England sah. Während man auf dem Kontinent verschiedene Anstaltsreformen in Angriff ge¬ nommen hatte, die in Pinels Reform von Bicdtre während der Französischen Revo¬ lution ihren Höhepunkt fanden, ist es nur zu verständlich, daß in England ein brei¬ tes öffentliches Interesse an der Behandlung von Geisteskranken wach wurde. Durch die Aktivitäten der Quäker zuerst ins Leben gerufen, errang die Bewegung des „non-restraint”, der „Gewaltlosigkeit gegenüber Geisteskranken”, durch die Aktivitäten von John Conolly in der Hanwell-Anstalt ihren entscheidenden Durch¬ bruch. „Non-restraint”, ein Terminus, der darauf hinauslief, die gesamte humane Behandlungsweise von Geisteskranken zu umfassen, wurde von Conolly in den vier¬ ziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Hanwell eingeführt. Conolly, ein Freund von

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Dickens, wurde zum Wortführer dieser neuen Art der Behandlung von Geisteskran¬ ken.^ Diese neue Behandlungsart impliziert eine neue Betrachtungsweise der Gei¬ steskranken. In ihrer Studie über die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zur Gei¬ steskrankheit betont Vieda Skultans, daß zwar die Methoden der früheren Behand¬ lungsart aufgegeben wurden, „die Ärzte des 19. Jahrhunderts aber dennoch ihre Rolle als Wächter der herrschenden moralischen Ordnung und Agenten der sozialen Kontrolle keineswegs aufgaben. Physischer Zwang, Nötigung und Exil sind durch eine Philosophie der Persönlichkeit ersetzt, die die Dualität der menschlichenNatur betont, die Macht des Willens, Geisteskrankheit zu verhindern und zu kontrollie¬ ren, was die Kunst der Selbstkontrolle hervorbrachte.”^ Die Kontrolle antisozialen Verhaltens steht im Mittelpunkt dieses neuen Systems. Sein vordringlichstes Ziel ist die Wiederherstellung dieser Selbstkontrolle. „Non-restraint” wird für Dickens zum Zentralbegriff der Reform, die notwendig ist, um das Bild der Gesellschaft vom Verrückten zu verändern: von einem asozialen Wesen, das, keinen gesellschaftlichen Zwängen unterworfen, außerhalb der Gren¬ zen der Gesellschaft existiert, zu einem Wesen, das wieder in die Gesellschaft einge¬ gliedert werden kann und will. Um dies innerhalb der engen Grenzen eines Essays zu erfüllen, beginnt Dickens mit einem Bild von Geisteskrankheit, wie es für seine Leser akzeptabel ist. Dickens erzählerische Werke sind gepfeffert mit Verrückten, deren Bandbreite vom Autor des „Madman’s Manuscript” in den Pickwick Papers bis hin zu der schizophrenen Figur desJohn Jasper in Edwin Drood reicht. Alle ver¬ rückten Gestalten bei Dickens haben eines gemeinsam: ihre Geistesgestörtheit macht sie eher sympathisch als furchterregend. Sie sind Figuren, die den Leser we¬ niger abstoßen, ihm vielmehr ein Gefühl geistiger Überlegenheit vermitteln. Die Figur des Mr. Dick, des sympathischen Irren in David Copperfield, kann als hervorragendes Beispiel für die Kunstfertigkeit dienen, mit der es Dickens gelingt, ein sympathisches Bild vom Verrückten zu vermitteln. Der Erstentwurf von Mr. Dicks erstem Auftreten im Roman liest sich wie folgt: Ich erhob meine Augen zum Fenster darüber, wo ich einen rotgesichtigen, grauhaarigen Gentleman mit einnehmendem Äußeren sah, der seine Zunge herausstreckte und mit ihr über die Fensterscheibe hin und her fuhr; der, als sein Blick mich traf, auf höchst erschreckende Art zu mir herschielte, lachte und verschwand. Mit den Augen des jungen David Copperfield gesehen, wäre diese erste Begegnung mit Mr. Dick eine erschreckende Erfahrung gewesen. Bei der Korrektur der Druck¬ fahnen änderte Dickens diese Passage, um den ersten Eindruck von Mr. Dick anders darzustellen: Ich erhob meine Augen zum Fenster darüber, wo ich einen rotgesichtigen, grauhaarigen Gentleman mit einnehmendem Äußeren sah, der auf groteske Art ein Auge schloß, mir mehrmals mit dem Kopf zu¬ nickte, ihn ebenso oft schüttelte, lachte und verschwand.®

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Die Umarbeitung dieser Passage zielt darauf ab, die abstoßende Groteskheit zu modifizieren, die das Schielen und Lachen des Verrückten hervorruft. Daraus wird die nicht ganz verständliche Handlung eines „einnehmend aussehenden Gentleman”. Die Ablösung des einen Modells für Geisteskrankheit durch ein anderes — eine Erfahrung, die Dickens zu seinen Lebzeiten selbst machte, und die sich in seinem Essay über St. Luke’s widerspiegelt — stellt die Einführung des „non-restraint” in den Mittelpunkt. „Non-restraint” als Modell für Geisteskrankheit impliziert die theoretische Möglichkeit, ein Individuum so zu verändern, daß es mit den sozia¬ len Zwängen der Gesellschaft, in der er oder sie funktionieren muß, konform geht. So nimmt Dickens in seinem Essay den Schwerpunkt von dem hoffnungslos Geisteskranken, ignoriert die mehr grotesken und abstoßenden Aspekte der Sym¬ ptome von Geisteskrankheit zugunsten der komischen, gewinnenden. Der erste Insasse, der in dem Essay detailliert beschrieben wird, sitzt da und.näht an einer verrückten Art von Näharbeit und zankt sich mit einer imaginären Person”. (386) Was Dickens stört, ist das Fehlen jeder sinnvollen Aktivität („Arbeit”): „Keine häuslichen Gegenstände, um den Verstand zu beschäftigen, zu interessie¬ ren oder von seiner Krankheit abzulenken. Völlige Leere.” (387) An ,,. . . der großen Anzahl von Heilungen”, die in diesem Hospital erzielt wurden (mehr als 69 Prozent während des letzten Jahres), (387) sieht er, daß Fortschritte erzielt wurden und folgert daraus, daß, wenn . . das System, den Insassen eine Be¬ schäftigung zu finden (System der Arbeitstherapie) ... in St. Luke’s eingeführt würde, die Heilungsrate noch viel höher läge.” (387) Eine produktive Restruktu¬ rierung des Geisteskranken ist Dickens’ Ziel, und gemäß dieser Absicht muß der Geisteskranke in großer Nähe zum Gesunden gesehen werden: Streng genommen sind wir alle verrückt, wenn wir Leidenschaft, Vorurteil, Laster oder Eitelkeit freien Lauf lassen; aber wenn all die in Leidenschaft, Vorurteil, Laster oder Eitelkeit befangenen Men¬ schen dieser Welt als Verrückte hinter Schloß und Riegel gebracht werden sollten, wer sollte da die Schlüssel dieser Anstalt verwahren? Aber wie von einem gelehrten Baron of the Exchequer sehr klar be¬ merkt wurde, als er mit dieser Argumentation konfrontiert wurde; wenn wir auch alle verrückt sind, alle Geistesgestörte sind, so müssen wir unter so widrigen Umständen unser bestes tun.9 Soweit die Times am 22. Juli 1853. Wenn der Gesunde tatsächlich in so großer Nähe zum Geisteskranken steht, dann ist unsere ablehnende Haltung der Geistes¬ krankheit gegenüber tatsächlich die Repression unserer eigenen, inneren Furcht um unsere eigene Stabilität. In einem späteren Essay, das er auch gemeinsam mit W.H. Wills abfaßte, be¬ schreibt Dickens die Anstalt für Idioten (Parkhouse, Highgate, London). Auch hier wendet er sich an sein imaginäres Pubükum und spricht es an:

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Madam, Sie sind eine Dame von sehr zarten Gefühlen, Sie sind leicht schockiert, Sie können eine ganze Menge Dinge nicht ertra¬ gen’, die eine höhere Weisheit als die Ihre Ihnen eigentlich zu tragen zugedacht zu haben scheint, als Ihnen Ihr kleiner Platz auf diesem Erdball zugeteilt wurde. Dieses Kind von dreizehn Jahren, ein Idiot, der in seinem kleinen Stuhl vor dem Feuer sitzt — seinem Körper¬ wuchs nach ein Kind von sechs Jahren, seiner geistigen Entwicklung nach, ein Nichts — ist ein abstoßender Anblick für Sie. Dieser Idiot, ein alter Mann von acht Jahren, mit dem außergewöhnüch kleinen Kopf, den paralytischen Gesten und dem halbgelähmten Zeigefinger, den er ewig vor seinem Hakengesicht hin und her bewegt, während er schwätzt und schwätzt, stört Sie sehr. Aber, Madam, es wäre wert zu fragen - während der Unverschämte Ihnen noch dazu unablässig sagt ‘Es ist Zeit’ — es wäre wert zu fragen, in welchem Maß das Beiseite¬ schieben dieser Unglücklichen in den vergangenen Jahren, und in welchem Maß das Beiseiteschieben so vieler Arten von Unglücklichen zu jeder Zeit, der gleichen Empfindsamkeit anzulasten ist, die es nicht ertragen kann, daß man ihr davon spricht. Und Madam, wenn ich mich erkühnen darf, will ich es wagen zu unterbreiten, ob eine so zartfühlende Person wie Sie, Madam, einen recht beachtlichen Vorrat an Verantwortung nicht beiseitelegen könnte; und Sie werden ver¬ zeihen, wenn ich sage, daß ich kein so sensibles Herz für die Würde der ganzen Korporation in meinem Busen hättet® Dickens’ Ziel ist es, den Abscheu vor Geisteskrankheit und Idiotie zu mildem, so daß sein idealer Leser (weiblich, gut bürgerlich) über ihre soziale Verantwortung reflektieren kann, ohne völlig von ihrer eigenen inneren Angst überwältigt zu werden.

IV. Das versteckte Moment Noch ein anderes zeitgenössisches Modell für Geisteskrankheit ist jedoch in Dickens Essay untergründig vorhanden. Es ist ein Modell, das der französische Kri¬ tiker Hippolyte Taine in seinem Essay über Dickens von 1858 spürte, den er wie folgt beschreibt: In ihm ist Bildhaftigkeit, englische Bildhaftigkeit. Niemals, glaube ich, hat menschlicher Geist sich mit genauerem Detail und gewalti¬ gerer Kraft alle Teile und Farben eines Gemäldes ausgedacht.*1 Für Taine ist diese deskriptive Fähigkeit vor allem in seinen Portraits von Geistes¬ kranken sichtbar:

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Dickens hat drei oder vier Portraits von Verrückten gemacht; sehr amüsant, auf den ersten Blick, aber so wahr, daß sie im Grunde ge¬ nommen schrecklich sind. Es bedurfte einer Vorstellungskraft wie der seinen — keiner Regel verpflichtet, exzessiv, fixer Ideen fähig — um die Geisteskrankheiten in Szene zu setzen. Vor allem zwei ma¬ chen lachen und erschauern: Augustus, der Manisch-Depressive, der im Begriff ist, Miß Pecksniff zu heiraten, und der arme Mr. Dick, Halb-Idiot, Halb-Monomane, der mit Miß Trotwood lebt. Diese plötzlichen Begeisterungsausbrüche zu verstehen, diese unvorhergese¬ henen Phasen der Traurigkeit, diese unglaubliche Sprunghaftigkeit einer pervertierten Sensibilität; dieses Innehalten des Denkens wie¬ derzugeben, diese Unterbrechung einer angestellten Überlegung, die¬ ses Dazwischenfahren eines Wortes, immer des gleichen, das den be¬ gonnenen Satz auseinanderbricht und die wiedererstehende Vernunft zu Fall bringt; das stupide Lächeln zu sehen, den leeren Blick, die zwergenhafte, unruhige Physiognomie dieser alten Kinderaugen ohne Verstand, die sich schmerzhaft von Idee zu Idee tasten, sich bei je¬ dem Schritt an der Schwelle der Wahrheit stoßen, die sie nicht über¬ winden können: dazu bedarf es einer Fähigkeit, wie sie nur Hoffmann in gleichem Maß zuteil ward wie Dickens. Das Spiel solcher in Trümmern daliegenden Vernunft gleicht dem Quietschen einer aus den Angeln gehobenen Tür: es schmerzt beim Zuhören. Man findet darin, wenn man so will, einen Ausbruch von Lachen in Dissonan¬ zen, aber noch eher entdeckt man darin ein Stöhnen und Klagen, und man erschaudert, versucht man, die Klarheit, das Bizarre, die überschäumende Begeisterung und die Virulenz der Vorstellungskraft dessen zu ermessen, der solche Geschöpfe hervorgebracht hat, der sie getragen und gestützt hat, bis zum Ende, ohne schwach zu werden, und der sich in seiner wahren Welt befunden hat, als er ihren Wahn¬ sinn nachempfand und hervorbrachte.^ Es ist der visuelle Aspekt des Geisteskranken, das Modell der Physiognomie der Geisteskrankheit, das Taine in den Portraits von Dickens sah. Am 27. Juni 1851 schrieb Dickens an T.W. Bankesund „regte an, daß er als Ma¬ ler ihn bei einem Besuch einer Irrenanstalt vielleicht begleiten möchte.”^ Die Ansicht, daß der Künstler das Wesen der Geisteskrankheit am besten fassen könnte, hatte seine Wurzeln in den Theorien der Physiognomie, die im späten 18. Jahrhundert entwickelt wurden.Basierend auf Lavaters impressionisti¬ schem System entwickelten europäische Theoretiker bald eine ausgefeilte Tech¬ nik, die äußere Erscheinung des Geisteskranken zu analysieren. Während Alexan¬ der Morison, dessen umfassender Atlas „The Physiognomy of Mental Disease” („Die Physiognomie der Geisteskrankheit”) im Jahre 1838 erschien, bereits 1826 mit der systematischen Analyse der Physiognomie der Geisteskrankheit begon-

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nen hatte, war es John Conolly Vorbehalten, in einer Serie von Essays im Jahre 1858 die umfassendste Theorie dieses Modells auszuarbeiten. Als Grundlage für seine Essays diente Conolly eine Serie von Photographien, die ein Kollege, Hugh W. Diamond, im Surrey Asylum aufgenommen hatte.15 Ausgehend von diesen Photographien präsentierte Conolly Unterscheidungskriterien zwischen „dem ge¬ wöhnlichen Ausdruck von Passionen und Emotionen” und ,,ihrer Übersteigerung bei Menschen, deren Verstand an einem Punkt ist, wo er anfängt, seine Kontrolle aufzugeben und sich von der wahrhaften Erkenntnis der Dinge zu entfer¬ nen. . .”1^ Ziel ist, die feine Grenzlinie zwischen Normalem und Anomalem zu ziehen, so daß eine wirkungsvollere Wiederherstellung von Normalität errreicht werden kann. In seinem ganzen fiktionalen Werk, ebenso wie in dem Essay, das untersucht wird, greift Dickens auf diese Art der Unterscheidung zwischen gesund und gei¬ steskrank zurück. Aber, wie die Beschreibung des Mr. Dick zeigt, tendierte er da¬ zu, seine Beschreibungen auf jenen schmalen Bereich entlang der Grenzlinie zwi¬ schen Gesundheit und Geisteskrankheit einzuschränken. Ein Satz aus Dickens Essay illustriert hinreichend dieses Vorgehen durch die Präsentation von vier schnell aufeinander folgender, visueller Bilder: Da war die lebhafte, eitle, apfelgesichtige kleine alte Lady, in ihrer phantastischen Kappe — stolz auf ihren Fuß und seine schlanke Fes¬ sel; die alte junge Frau mit dem aufgelösten, langen, hellen Haar, der mageren Gestalt und dem merkwürdigen Feine-Leute-Gehabe; das Mädchen mit dem abwesenden Lachen, das hin und wieder einen warnenden Finger zur Ermahnung brauchte; die stille junge Frau, fast gesund und kurz vor der Entlassung. (388) Vier Fälle, so dargestellt, daß sie der Leser in einer ganz spezifischen Reihenfolge betrachtet. Der erste Fall ist ein Beispiel chronischer Manie, die Conolly auf fol¬ gende Weise beschreibt: So komisch das Bild einer alten Frau auf den ersten Blick erscheint, so erzählt es doch die bejammernswerte Geschichte einer langen Gei¬ stesstörung. . . Die offensichtlich sorglose Miene, die verkehrt aufge¬ setzte Mütze und eine Art Schalk, der um Wangen und Kinn lauert, sind weitgehend vermischt mit den Spuren früherer Erregung, aber auch mit dem Schatten verlorener Hoffnung und Freude.17 Die „alte junge Frau” ist ein Beispiel religiöser Melancholie, während die letzten beiden Fälle „Melancholie im Übergang zu Manie” und den schließlich wieder¬ hergestellten Zustand darstellen. Die Visualisierung des Geisteskranken versetzt Dickens hier in die Lage, gewisse Urteile abzugeben. Geisteskrankheit ist heilbar, sie ist auch in der Ausdrucksweise medizinischer Beschreibung definierbar. Sie ist

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weiterhin die Übersteigerung normaler Zustände menschlichen Verhaltens. In einer Aneinanderreihung dieser vier Beschreibungen präsentiert er jedoch auch die Entwicklung der Fälle vom hoffnungslosen (aber komischen, und daher an¬ nehmbaren) bis zum geheilten. Die Bewegung geht von der Aufgabe angemesse¬ nen Verhaltens bis zum stillen Akzeptieren seiner Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber. Als Dickens im Januar 1858 nach St. Luke’s zurückkehrte, war es seine Absicht - wie aus einem Brief an Wilkie Collins hervorgeht - „einige klar und deutlich entwickelte Typen von Geisteskrankheit”18 zu sehen. Diese Typen sind die visu¬ ellen Kategorien von Geisteskrankheit, die Dickens anwendet, wenn er selbst Geistesgestörtheit beschreibt. Gleich zu Beginn seines Essays stellte Dickens eine ästhetische Struktur für die Beobachtung der Geistesgestörtheit bereit. Diese verblüffende Passage ist eine der extrem seltenen Bemerkungen von Dickens über die Natur der visuellen Kün¬ ste, wobei er hier die Metapher des Theaters benutzt: Wie kam ich dazu, so könnte man fragen, von all den Tagen des Jahres ausgerechnet am Boxing Day, nach Einbruch der Dunkelheit, vor St. Luke’s herumzustreichen, wenn ich stattdessen auch in die unbekümmerte Welt eines Pantomimenspiels hätte gehen können, eine Welt, in der kein Kümmernis, kein Unglück auch nur den leise¬ sten Nachhall hinterläßt, wo jemand im Eis einbrechen oder ins Kü¬ chenfeuer hineingreifen kann, um deshalb nur noch drolliger zu sein; wo man Säuglinge herum prügeln, sich auf sie setzen oder beim Füt¬ tern mit Saucenlöffeln bis zum Ersticken stopfen kann, ohne daß nach einem Leichenbeschauer gerufen wird oder sich jemand deshalb unbehaglich fühlt; wo Arbeiter vom Dach eines Hauses auf den Bo¬ den herunterfallen können, ja sogar vom Boden eines Hauses aufs Dach, und keine Verletzungen am Kopf davontragen, kein Hospital brauchen, keine he ran wachsen den Kinder hinterlassen; eine Welt, um es kurz zu sagen, in der jeder über all die Unglücksfälle des Lebens so erhaben ist — obwohl er sie bei jeder Gelegenheit trifft, daß ich da¬ hinter das Geheimnis des allgemeinen Vergnügens vermute (auch wenn viele Leute sich dessen nicht bewußt sind), das ein Publikum verletzbarer Zuschauer, die Leiden und Kummer unterworfen sind in dieser Art von Unterhaltung findet. (383-84) Für Dickens’ hypothetisches Publikum ist die auf der Bühne dargestellte Welt eine Reduzierung des gewöhnlichen, nicht voraussehbaren Lebens auf eine Schat¬ tenwelt, in der selbst die erschreckendsten Ereignisse ohne irreversible Resultate bleiben. Das Individuum bleibt von der Zufallsnatur der Welt unberührt. Dickens sieht in dem Sinn für die Distanz zwischen Wirklichkeit und Betrachter einen notwendigen Zug der Welt. Parallel zu dieser Sicht des Theaters verläuft Dickens’

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Beschreibung von St. Luke’s. Die Realitäten der Geistesgestörtheit werden vor dem Betrachter ausgespielt. In seiner Rolle als Beobachter bleibt er innerhalb un¬ berührt und ist so in der Lage, das, was er als eine Welt dargestellt sieht, in der Heilung eine Gewissheit ist, als Paradigma zu betrachten. Es liegt in diesem Vor¬ gehen begründet, daß Geisteskrankheit einzig Teil einer äußeren Welt wird. Ein Resultat der Visualisierung von Geisteskrankheit liegt darin, daß sie außerhalb des Betrachters in Distanz zu ihm gestellt wird und so ihre Unmittelbarkeit ver¬ liert.

V. Das historische Moment Neben dem Modell des „non-restraint” und dem Modell der Physiognomie, die das 19. Jahrhundert in gleicher Weise als erlaubte Parameter zur Identifizierung von Geisteskrankheit zugelassen hat, ist ein drittes Modell aus dem Text zu re¬ konstruieren. Obwohl dieses Modell komplexere volkstümliche Übertöne hat als die beiden anderen, ist es zu tief in das Bewußtsein des Westens vom Bild der Geistesgestörtheit eingegraben, als daß es nicht unmittelbar deutlich würde. Warum geht Dickens nach St. Luke’s? Der Hauptgrund, den er in seinem Essay angibt, ist der festliche Anlaß, der Weihnachtsbaum und der Tanz, der ,,. . . vor der Verteilung der Geschenke unter dem Baum stattfinden soll.” (384) Es ist der Tanz, dieser äußerste soziale Akt der kultivierten Gesellschaft seiner Zeit, der Dickens an diesem besonderen Tag zu der Anstalt lockt. Tanzveranstaltungen wurden in den viktorianischen Anstalten tatsächlich abgehalten. Edgar Sheppard, im Colney Hatch Asylum zum Beispiel „. . . hatte dramatisches und musikali¬ sches Talent, organisierte Konzerte, Lesungen, Vorlesungen, ‘Theateraufführun¬ gen’ und vierzehn tägig Bälle, und begründete außerdem das Anstaltsorchester. In einer Lithographie von Katharine Drake aus dem Jahre 1848 wird ein „Ball der Verrückten” portraitiert, auf dem schon alle Charakterentwürfe von Dickens vorhanden sind. Sie tanzen zu einer Kapelle, die hinten auf der Galerie spielt, während über dem Portal das Wort „Harmonie” scheint.^ Der viktorianische „Tanz der Verrückten” ist nur eine Entwicklungsstufe in der langen Tradition dieses Topos. Eine Illustration der „Akademie der Narren” aus dem 17. Jahrhundert zeigt: Alles, was tolle Manie An Komischem In einem bizarren Gehirn erfinden kann, Sieht man in dieser Akademie.21 Die Narren In Masken verkleidet, Strengen sich an, hemmzuhüpfen

Drehen und wenden ihre grotesken Leiber In tausend phantastischen Figuren. Der Tanz der Geisteskranken ist seine totale Loslösung von jedem gesellschaftli¬ chen Zwang, und so wird die Logik, als sie durch das Portal eintreten will, von einem Narren bedroht: Sie könnte wohl ihre Prügel bekommen Von jenem Narren, der sich lustig macht über sie. Diese französische Illustration steht in engem Zusammenhang mit einer Radie¬ rung von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahre 1559, die den Titel „Das Fest der Narren” trägt.22 Auch hier spielen Musikanten für die tanzenden Nar¬ ren auf, die rund um die Bühne herum, auf der sich das Orchester niedergelassen hat, taumeln und tanzen. Dies ist aber nur ein Moment in der komplexen Dar¬ stellung der Aktivitäten, der Narren. Die, zumindest im Denken des 16. Jahrhun¬ derts enge Beziehung zwischen der Welt des Narren und der des Geisteskranken, wird auch in Bruegels Werk sichtbar. In einer Serie von Bildtafeln, die die Pilger¬ fahrt von Epileptikern zum Schrein von Molenbeek zeigt, gehen den Illustratio¬ nen von den Pilgern zwei Tafeln mit Narrenfratzen voraus.23 Auch hier tritt der musizierende und tanzende Narr in Erscheinung. Die volkstümliche Meinung as¬ soziierte die unkontrollierten Spasmen der Choreomanie mit den gleichfalls un¬ kontrollierten Aktionen überaktiver Psychopathologien. Man betrachtete sie als Tänze von Narren oder Besessenen. In engem Zusammenhang mit dieser Ent¬ wicklung während des Mittelalters steht das Auftreten von hysterischen Massen¬ tänzen, dem später der volkstümliche Name „Veitstanz” (oder St. John’s dance), oder noch später „Tarantismus” gegeben wurdet Ein weiteres Element, das mit zum Bild des tanzenden Verrückten gehört, sollte erwähnt werden. Eine der Unterhaltungen am Hofe Karls VI. von Frankreich war der „Tanz der wilden Männer”, der „wodwoses”. Sie waren ursprünglich die Wickingberserker, die Ge¬ folgsleute von Wotan=Odin, wurden aber dann zur Verkörperung des Verrückten als dem Wilden schlechthin. Ihr Tanz war eine Quelle der Unterhaltung am Hof. Dieses Faktum ist uns nur deshalb überliefert, weil im Jahre 1392 Karl persön¬ lich, als er mit dem haarigen Kostüm eines Berserkers gekleidet war und sein Ko¬ stüm Feuer fing, nur mit knapper Not mit dem Leben davon kam und nicht bei lebendigem Leib verbrannte.25 Alle diese Vorstellungen vom tanzenden Verrückten basieren letztlich auf dem späten corybanthischen Dionysosritus. Der Dionysoskult mit seinen besessenen Tänzern, seinen Menschenopfern, wurde bei seiner Übernahme aus seinen phrygischen Ursprüngen in die griechische Tradition domestiziert.2^ Was aber unabän¬ derlich blieb, war die Assoziation des harmlosen griechischen Festes um den Weingott mit der besinnungslosen Passion des dionysischen Rituals. Für Aristo¬ teles war diese Art des Wahnsinns ein direktes Resultat der „phrygischen Tonart / die göttliche Besessenheit inspiriert”.27 Der Klang der Flöte, die so spielte, er-

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griff vom Zuhörer Besitz und zwang ihn zu tanzen. Sein Tanz ist das Ergebnis einer totalen Verdrängung seiner gesamten logischen Fähigkeiten und die Kapi¬ tulation seiner selbst vor der Macht der Musik. Stellte dies die gesamte Evolution des Modells von „Wahnsinn” dar, das in Dickens’ Essay kulminiert, so hätte man damit wenig gewonnen, den Topos „Tanz des Wahnsinnigen” bis hin zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen; denn er ist in der westlichen Kultur allgegenwärtig. Es gibt jedoch einen weiteren Aspekt an dem dionysischen Ritual, der, nach einer Serie komplizierter Entwick¬ lungen, wieder in Dickens’ Essay auf taucht. Es ist dies die heilende Kraft des Tanzes des Geisteskranken. Plato beschreibt in den „Gesetzen”, wie Mütter, ,,. . . die ihre verängstigten Säuglinge zum Einschlafen bringen möchten. . .” ,,... nicht Ruhe, sondern gerade das Gegenteil, Bewegung. . .” zusammen mit irgendeiner Melodie anwenden. . . . tatsächlich, so könnte man sagen, besprechen sie ihre Kinder —, gerade so, wie es die Priesterin mit dem Wahnsinnigen des Dionysos tut — durch diese Verbindung von Tanzbewegungen und Gesang. Clinias: Und bitte, Meister, welche Erklärung sollen wir dem ge¬ ben? Athener: Nun, die Erklärung ist nicht weit zu suchen. Clinias: Aber welches ist sie? Athener: Beide Störungen sind Formen von Furcht, und Furcht entsteht durch irgendeine Krankheit der Seele. Daraus folgt nun, daß, wenn solche Störungen durch eine wiegen¬ de Bewegung behandelt werden, so gewinnt die äußere Be¬ wegung, wie wir sie dargelegt haben, über die innere die Oberhand, die die Quelle der Furcht und des Wahnsinns ist. Dadurch ruft sie ein Gefühl der Ruhe und Erleichte¬ rung hervor von der vorangegangenen bedrückenden Erre¬ gung des Herzens und bewirkt so in beiden Fällen ein will¬ kommenes Ergebnis; die Herbeiführung von Schlaf in dem einen, und im anderen — ich meine im Fall von Patienten, die bei dem Ritual der Gottheiten, denen man bei diesen Gelegenheiten opfert, dazu gebracht wurden, zum Klang der Flöte zu tanzen — in diesem Falle also das Ersetzen ihres vorübergehenden Zustandes der Verwirrung durch Gesundheit.^ So ist der Tanz nicht nur Ursache des Wahnsinns, sondern auch Heilung davon, und so verhält es sich auch mit den anderen Formen der tanzenden Verrückten oder Narren. Felix Plater berichtet in seinem Praxeos medicae opus („Praktisches Werk der Medizin ’) von 1656, wie die Behörden der Stadt Basel mehrere kräftige junge Männer anwarben, die so lange mit einem Mädchen tanzen sollten, das die Tanzmanie hatte, bis es geheilt war. So wird deutlich, daß Bruegels „Tanzende

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Narren auf der Pilgerfahrt als antithetische Kraft zu den Epileptikern dienen sollen, dadurch helfen sollen, sie zu heilen, oder sie wenigstens durch ihre Musik und ihre Possen zu zerstreuen. So ist auch Katharina Drakes „viktorianischer Ball” eine Art, durch Musik und Tanz die Gesundheit des Geisteskranken wieder herzustellen. Hier jedoch haben wir den Übergang von den wundertätigen Kräf¬ ten des Tanzes zu der Kraft des Tanzes als Sozialisationsmittel. Denn in Drakes Lithographie wird, ebenso wie in Dickens’ Essay, die Wiederherstellung des Gei¬ steskranken zu einer anerkennenswerten sozialen Rolle mittels des Tanzes unter¬ nommen. Das Konzept, das Dickens anwendet, ist für den Leser zu Eingang des Essays buchstäblich beschrieben. Er kritisiert die „gute alte Behandlungsweise”, in der man Wahnsinn durch Folter behandelte: „Jene Ärzte der Vergangenheit schei¬ nen, ohne es selbst gewußt zu haben, frühe Homöopathen gewesen zu sein; ihr Motto muß gewesen sein ‘similia similibus curantur’; sie glaubten, daß die violentesten Mittel, einen Menschen zum Wahnsinn zu bringen, auch die einzigen Mittel waren, die auf eine Wiederherstellung seiner Vernunft hoffen ließen.” (383) Samuel Hahnemanns Homöopathie hatte im viktorianischen London so fest wie auf dem Kontinent Fuß gefaßt. Die Idee einer Behandlung, die die glei¬ chen Symptome wie die Krankheit selbst hervorruft, war, wie die Physiognomie der Geisteskrankheit, bereits in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingegangen. Dickens argumentierte aber nicht, daß Wahnsinn durch Musik in der phrygischen Tonart verursacht sei und nur durch Musik geheilt werden konnte -, nach Ari¬ stoteles Musik in der dorischen Tonart. Dickens sieht die Gesellschaft an sich als eine der Hauptursachen von Geistesgestörtheit an. Tatsächlich ist einer der Grün¬ de für seine fragliche Reise nach St. Luke’s seine Besorgnis über die Unsicherheit der Verhältnisse auf dem Viehmarkt von Smithfield: Nicht lange vor jenem fraglichen Weihnachtsabend hatte man mir von einer Patientin in St. Luke’s erzählt, einer Frau von großer Kraft und Energie, die durch einen wildgewordenen Ochsen auf der Straße dem Wahnsinn verfallen war — eine an sich kaum erwähnenswerte Unbill, für welche die Bewohner Londons ihrer unschätzbaren Kor¬ poration häufig zu Dank verpflichtet sind. Sie ergriff also die Kreatur buchstäblich bei den Hörnern und hielt sie fest so lange Leib und Le¬ ben in Gefahr waren; als aber die Gefahr vorüber war, verlor sie den Verstand und wurde zu einer der am wenigsten lenkbaren Insassen der Anstalt. (384) Es ist nicht allein der Smithfieldmarkt und seine Umgebung, die der Grund für Geisteskrankheit sind. Die ganze Welt, die Dickens auf seinem Weg nach St. Luke’s durchstreift, ist selbst aus dem Gleichgewicht: Eine Reihe Mietskutschen stand an der Mauer entlang; einige der Kutscher schlafend; einige wach; einige auf dem Stroh ihres Wagens 23

ausruhend, ließen die Beine aus den geöffneten Türen heraushängen, an diesem Boxing Day selbst an halb ausgepackte Weihnachtsge¬ schenke erinnernd. Da gab es flackerndes Gaslicht, Orangen, Austern, Papierlatemen, Metzger und Kolonialwarenhändler, Bäcker und öf¬ fentliche Häuser entlang des Wegs; vorbeiratternde Omnibusse, Bän¬ kelsänger, Straßengeschrei, Straßenbettler und Straßenmusik. . . (384) Dies ist die Welt nachweihnachtlicher Trunkenheit, Boxing Day Exzesses. Es sind die Saturnalien des viktorianischen London, das Fest der Narren, die Welt als Irrenhaus.Wie schmal ist die Linie zwischen gesund und verrückt, wie nah die äußere Welt der Welt der Anstalt. Und das Umgekehrte ist wahr. „Der merkwür¬ dige Tanz” ist an sich ein Beispiel dafür, wie nahe Geisteskrankheit und Norma¬ lität durch das befreiende Moment eines Festes aneinanderrücken können, eines Festes, das sich im vorliegenden Fall sicherlich innerhalb der Grenzen viktoriani¬ scher Wohlanständigkeit abgespielt hat.

VI. Dickens zu neuem Leben erweckt Ungefähr zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung (und der späteren Neuheraus¬ gabe des „Merkwürdigen Tanzes um einen merkwürdigen Baum”), als die Erinne¬ rung an das Essay also schon allgemein verblaßt war, erschien im Londoner „Daily Telegraph” ein Artikel unter der Überschrift: „Ein Irren-Ball” (A Lunatic Ball). Der Autor, Charles Maurice Davies, ein anglikanischer Priester, hatte im „Telegraph” eine Reihe von Kolumnen über ungewöhnliche religiöse Praktiken in England veröffentlicht.3° Im vorliegenden Fall war er von seiner normalen Praxis abgewichen und hinter die Mauern des Hanwell Asylum gegangen, verklei¬ det in der Art eines hart arbeitenden Londoner Zeitungsmannes, eines James Greenwood zum Beispiel, um seine Story zu bekommen. „A Lunatic Ball” ist zeitlich weit genug von Dickens’ Essay entfernt, um einen Eindruck von der Ent¬ wicklung zu geben, die die drei Konzeptionen von Geisteskrankheit aus dem früheren Essay durchlaufen haben. Der besagte Ball in Hanwell, John Conollys erster reformierter Anstalt, fand ebenfalls um die Weihnachtszeit statt, während der alten römischen Saturnalien. Es ist an einem „neblig feuchten Januarabend”, als der Autor durch das „danteske Portal der Anstalt” schreitet, (31) verkleidet als Mitglied einer deutschen Musikkapelle. Die Örtlichkeit ist zwar Hanwell und nicht St. Luke’s, die Atmo¬ sphäre aber ist identisch. Der Autor (und mit ihm seine Leser) schreitet durch die Galerien und bemerkt, daß diese „Insassen den Eindruck erwecken, nur durchgangsweise hier zu leben”. (32) Auch hier trifft man „eine alte Lady, die vorgibt, ein königlicher Sproß zu sein. . .” mit ihrer „auffälligen Moppkappe” (34). In Davies Essay spielt die visuelle Illustration eine bedeutende Rolle, die Grenzlinie zwischen Normalität und Wahnsinn zu ziehen. Er sieht „einen oder

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zwei, deren Auftreten ihr Eingesperrtsein wirklich zu rechtfertigen schien. . Das Fest selbst ist weniger zurückhaltend als in St. Luke’s: In der Mitte des Raumes war alles feierliche Gemessenheit, die lu¬ stigsten Tänze aber fanden in den Ecken statt. Man spielte eine iri¬ sche Quadrille, und ein unverkennbarer Paddy (Ire) unterhielt sich köstlich mit einem höchst reizenden Tänzchen. Ein, zwei Figuren lang, dann, sich zweifellos daran erinnernd, daß das Glück ‘als Zwil¬ ling geboren wurde’, tauchte er in die Menge, wählte einen weißhaa¬ rigen Freund von ungefähr sechzig Jahren und beeindruckte ihn mit der Idee eines Pas-de-deux. Das führten sie in ihrer Ecke fort, die ganze Quadrille lang, imaginäre Shillelaghs (Eichenknüppel) schwin¬ gend und sich gegenseitig mit jener ausdrucksstarken irischen Inter¬ jektion ermunternd, die man so gar nicht zu Papier bringen kann. Eine Stunde lang ging alles so lustig zu wie die sprichwörtliche Hoch¬ zeitsglocke, und dann vertagte sich der männliche Teil der Gesell¬ schaft zum Abendessen. (36-37) Die Ähnüchkeiten zwischen Dickens’ Besuch und dem von Davies sind augen¬ fällig. Was sich geändert hat, ist die Stellung der Anstalt in dem impüzierten Mo¬ dell der Geisteskrankheit. Davies, und mit ihm all diejenigen, die sich zur Re¬ formtheorie des „moral management” bekannten, ließ sein Essay offen, als er abschließend die Frage überlegte: Eine Frage sollte mir immer wieder durch den Sinn gehen. Man hat gesagt, daß wenn man sich in einem Ballsaal die Ohren verstopfen und dann auf die Menschen dort schauen würde — die alle im Rufe stehen, geistig normal zu sein — wie sie im neuesten Walzer oderim letzten Galopp herumhüpfen, dann wird man den Eindruck bekom¬ men, daß das alles Verrückte sein müssen; ich habe an jenem Abend meine Ohren nicht verstopft, ich habe vielmehr meine Augen geöff¬ net und sah hunderte von Mit-Geschöpfen, alle mit irgendeinem Wahn, viele mit dem Hang zur Wildheit und Lasterhaftigkeit, jedoch alle von ein paar Wärtern, einer handvoll Mädchen zusammengehal¬ ten, und sie verhielten sich alle so geziemend wie in einem wirklichen Ballsaal. Und die Frage, die mich auf meinem ganzen Heimweg ver¬ folgen sollte, war, welches sind die normalen Leute, welches die ver¬ rückten? (41) Für den Autor erschien die Linie zwischen Normalität und Geisteskrankheit schmal. Für die Insassen andererseits ist die Unterscheidung klar: Die vorherrschende Meinung innerhalb der Anstaltsmauem war, daß der größte Teil der Verrückten außerhalb zu finden sei, und daß

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die hoffnungslosesten Fälle die Beamten seien, die unmittelbar mit der Leitung der Einrichtung selbst betraut waren. (31) Die Distanz zwischen Normalität und Geisteskrankheit ist groß, vor allem, wenn man sie von innerhalb der Anstalt aus betrachtet. Denn die Anstalt mit ihrem dantesken Portal ist in der Tat ein Ort, dessen Motto ist „Lasciate ogni speranza voi ch’entrate” („Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr hiereintretet”). Ein Entrin¬ nen gibt es nur durch „. . . das kleine Totenhaus und den stillen Friedhof, die im Mondlicht dalagen. . . und auf sie warteten, wenn, wie der arme, dem Wahnsinn verfallene Edgar Allen Poe schrieb, das ‘Fieber, das man Leben nennt’ endlich vorüber sein wird” (37-38). Für Davies liegt die Reform der Anstalt in der Ver¬ gangenheit verborgen. Sein historisches Bewußtsein ist auf eine einzige Erwäh¬ nung von Wahnsinnigen „als angekettet und wie wilde Tiere behandelt” be¬ schränkt. Für ihn sind die Mauern der Anstalt tatsächlich die klare Trennlinie zwischen der Welt, die sich selbst normal nennt, und der Welt des Geisteskran¬ ken. Denn die Feste von Hanwell stellen keine Brücke dar, auf der der Geistes¬ gestörte die Welt des Gesunden wieder betreten könnte. Die Feste sind Aktivitä¬ ten von der Anstalt und für sie. Die Anstalt ist ,/u einer kleinen Stadt in sich ge¬ worden, zu einem großen Ausmaß von sich selbst abhängig und selbst regiert”. (40) Aber sie ist gleichzeitig eine abgeschlossene Welt, die die eigene Distanz zur Welt der Normalen fühlt. Das Irrenhaus hat aufgehört, ein Asyl zu sein, ein Refu¬ gium vor der Welt, und ist statt dessen zu einer Institution geworden, einem Schutzhafen für den Geisteskranken. Was das erstere betrifft, so gab es das Ver¬ sprechen auf eine Rückkehr in die Außenwelt; beim letzteren fehlt dieses Ver¬ sprechen.

VII. Zusammenfassung In Dickens’ Essay „Ein merkwürdiger Tanz um einen merkwürdigen Baum” exi¬ stieren drei Konzeptionen von Geisteskrankheit nebeneinander. Das Modell des „moral management”, verwurzelt in der zeitgenössischen Anstaltsreform, wird am unmittelbarsten bewußt. In Dickens’ Essay ebenso gegenwärtig wie in der psychiatrischen Praxis seiner Zeit ist das Modell der „Physiognomie der Geistes¬ krankheit”. Dieses, in dem Essay nur unterschwelüg vorhandene Modell unter¬ stützt die allgemeine These von der äußerlichen Natur (und daher auch der Be¬ handlung) von Geisteskrankheit als Einzelmomente eines Kontinuums. Nur einen Aspekt der individuellen Persönlichkeit berührend, stellt die aus der Geistesstö¬ rung herrührende Behinderung die Übersteigerung eines normalen Aspekts dar. Ist diese Übersteigerung erst korrigiert, kann das Individuum wieder der Gesell¬ schaft eingegliedert werden. Ja, die Verwandtschaft zwischen Normalität und Geisteskrankheit ist so weitgehend, daß nur ein erfahrenes Auge diesen Unter¬ schied wirklich sehen kann. Wenn es jedoch einmal darauf trainiert ist, kann es jene asozialen Mitglieder einer Gemeinschaft beurteilen und sie einer institutio-

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nalisierten Behandlung zuführen, damit sie geheilt als funktionierende Mitglieder eben dieser Gesellschaft wieder eingegliedert werden können. Der Prozeß einer solchen Resozialisierung wird bei dem erwähnten dritten Aspekt von Dickens’ Essay sichtbar. Die therapeutische Natur des Tanzes für die Geistesgestörten ist ein Behandlungsmuster, das im Denken des gesamten Westens immer wieder auf¬ taucht. Motto des heilenden Tanzes ist: „Gleiches wird durch Gleiches geheilt.” Wahnsinn durch Musik verursacht und geheilt. An diesem Punkt variiert Dickens sein Thema leicht. Es ist die Gesellschaft selbst, die den Keim zu potentiellem Wahnsinn in ihren Institutionen birgt. Aber durch andere Institutionen, wie z.B. Tanz, kann die geistige Balance auch wieder hergestellt werden. Bei der Untersuchung des Essays von Davies, so wie er ungefähr zwanzig Jahre nach der Publizierung von Dickens Arbeit geschrieben wurde, sind gewisse Ver¬ änderungen im Bewußtseinsstand sichtbar. Zum ersten, der historische Kontrast zwischen alter und neuer Behandlungsart ist in Davies’ Verständnis nicht mehr so lebendig. Die Anstaltsreform gehört der Vergangenheit an. Die Praxis hatte ge¬ zeigt, daß das Modell einer Resozialisierung, das diese Reform umschloß, ideali¬ stisch war. Die Anstalt ist zu einem Ort geworden, wo der Geisteskranke, fern der Gesellschaft, nur verwahrt wurde. Hier beginnt eine neue Tradition, Geistes¬ krankheit als moralisches Problem (moral insanity), der Glaube an die totale, alles überwältigende Natur des Wahnsinns, das Konzept von der Möglichkeit sei¬ ner moralischen Bewältigung (moral management) zu verdrängen. Davies’ Essay führt in diese Richtung. Für ihn ist die Physiognomie der Geisteskrankheit nur ein zusätzlicher Beweis für die leicht zu treffende Unterscheidung zwischen Nor¬ malität und Geisteskrankheit. Seine Anstalt ist das Inferno — ohne Ausweg, huis clos. Dieser vorhegende Versuch, die Geschichte der Psychiatrie auf einen spezifischen Text anzuwenden, kann zeigen, wie komplex, versteckt und oft widersprüchlich jene Konzepte von Geisteskrankheit sind, die in literarischen Texten zu finden sind. Denn der literarische Text spiegelt das Verständnis eines Einzelnen von sei¬ ner Epoche. Es enthält alle Konfusionen und Widersprüche, wie sie zu einem ge¬ gebenen Zeitpunkt hinsichtlich eines Modells bestehen. Diese richtigen und fal¬ schen Vorstellungen gehen außerdem noch durch den Filter des kreativen Pro¬ zesses eines komplexen Individuums mit all seinen Vorurteilen und all seinen Glaubenssätzen. Nach einem einzigen übergreifenden Modell Ausschau halten zu wollen, das im Bewußtsein des ganzen Westens aufrecht erhalten wird, käme einer groben Übersimplifizierung gleich, die nur dazu führen kann, die Geschich¬ te der Psychiatrie als Zwangsjacke zu gebrauchen, in die die komplexen Struktu¬ ren von Literatur und Geschichte gepreßt würden.

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ANMERKUNGEN

1

Miriam Siegler und Humphry Osmond, Models of Madness, Models of Medicine (New York: Macmillan, 1974), xviii. Siegler und Osmond nennen die Modelle, die sie in einiger Ausführlichkeit beschreiben „medical”, „moral”, „impaired”, „psychoanalytic”, „social”, „psychedelic”, „conspiratorial” und „family interactional”. (Alle Überset¬ zungen vom Verfasser). Von Interesse in diesem Zusammenhang ist Roger Mucchielli, lntroduction to Structural Psychology, übersetzt von Charles Lam Markmann (New York: Avon,1970)

2

Als Hauptwerke in dieser neueren Tradition sind sicher zu sehen: Michel Foucault, Histoire de la Folie (Paris: Pion, 1961) Thomas Szasz, The Manufacture of Madness (New York: Harper & Row, 1970) Klaus Dörner, Bürger und Irre (Köln: Europäische Verlagsanstalt, 1969) Alle diese Arbeiten vertreten die absolute Ansicht, daß die „Irrtümer der zeitgenössischen Psychoanalyse und der psychiatrischen Praxis durch ihre Geschichte erklärbar” sind.

3

Alle Zitate aus diesem Essay beziehen sich auf die Edition von Harry Stone, ed., Charles Dickens’ Uncollected Writings from Household Words 18501859 (Bloomington: Indiana University Press, 1968), II, 381 -391. Stone beschreibt den Zustand des erhaltenen Essaymanuskripts und gibt editorische Kommentare. Literatur zu diesem Essay und zur Frage nach Dickens’ Kenntnis der psychiatrischen Theorie und Praxis des 19. Jahrhunderts ist nicht ergiebig. Die hauptsächlichen Aufsätze hierzu sind: Richard A. Hunter und Ida Macalpine, „A Note on Dickens’ psychiatric reading”, The Dickensian 53 (1957), pp. 49-51 und Leonhard Manheim, „Dickens’ Fools and Madmen”, Dickens Studies Annual 2 (1971), pp. 6997, 357-359. Außerdem von Interesse sind: H.P. Sucksmith „The Identity and Significance of the Mad Huntsman in The Pickwick Papers”, The Dickensian 68 (1972), pp. 109-114; A. und P. Plichet, „Charles Dickens et ses observations neuropsychiatriques”, Presse medicale 64 (1956), pp. 2230 -2233; L. Schotte, „La medecine et les medecins dans la vie et l’oeuvre de Charles Dickens (1812-1870), Chronique medicale 19 (1912), pp. 97-105; Isaak Oehlbaum, Das pathologische Element bei Dickens (Diss.), Zürich, 1944; Dickens and Medicine. Exhibition Catalogue No. 5 (London: The Wellcome Institute of the History of Medicine, 1970), pp. 9-10; Fred Kap¬ lan, Dickens and Mesmerism: The Hidden Springs of Fiction (Princeton: Princeton University Press, 1975).

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4

Richard A. Hunter und Ida Macalpine, Three Hundred Years of Psychiatry: 1535-1860 (London: Oxford University Press, 1963), pp. 998-999.

5

Ein ähnlicher Gang durch eine Anstalt wird in Kap. 4 des gemeinsamen Ro¬ mans von Dickens und Wilkie Collins „The Lazy Tour of Two Idle Apprentices” The Nonesuch Dickens (Bloomsbury: Nonesuch Press, 1938), pp. XXI, 822-823 beschrieben.

6

Conolly wurde in Charles Reades Roman ,, Very Hard Cash ” angegriffen, der von Dickens in seiner Zeitschrift „All The Year Round” (1863) veröffent¬ licht wurde. Die dadurch für Dickens persönlich entstandenen Schwierigkei¬ ten spiegeln sich in seiner Korrespondenz jener Zeit. Vgl. Richard A. Hunter und Ida Macalpine, „Dickens and Conolly: An Embarrassed Editor’s Disclaimer”, in: The Times Literary Supplement, 11. August 1961, pp. 534-535 und ein Brief von Philip Collins, „Dickens and Conolly” ibid, 18. August 1961,p.549.

7

Vieda Skultans, ed., MadnessandMorals: Ideas on Insanity in the Nineteenth Century (London: Routledge and Kegan Paul, 1975), p. 9.

8

Der Text ist zitiert bei Harvey Peter Sucksmith, The Narrative Art of Charles Dickens (Oxford: The Clarendon Press, 1970), 37-38. Sucksmith gibt in einem ansonsten genauen Buch Gemeinplätze über Dickens Verständnis von Geisteskrankheit wider. Eine flüchtige Anmerkung zu Conolly mit falscher Schreibweise seines Namens!

9

Zitiert bei Skultans, p. 172.

10

Nachdruck bei Stone, II, 497. Stone erwähnt nicht, daß Harriet Martineau eine Fortsetzung zu dem Essay geschrieben hat mit dem Titel „Idiots again” Household Words 9 (15. April 1854), pp. 197-200. Of. Ann Lohrli, comp. Household Words. A Weekly Journal 1850-1859 (Toronto: University of Toronto Press, 1973), pp. 357-60. Ein Vergleich dieser beiden Essays wäre lohnend.

11

Dieses Essay, später in Taines Geschichte der englischen Literatur veröffent¬ licht, erschien zuerst in seinen Essais de Critique et d’histoire (Paris: Hachette, 1858), p. 76.

12

Taine, p. 86.

13

Die Beschreibung eines unveröffentlichten Briefes, zitiert nach The Letters of Charles Dickens, ed. Walter Dexter (Bloomsbury: The Nonesuch Press), II,p.321.

14

Die beste Untersuchung zu dieser Frage bei Gerhard Kloos, Die Konstitu¬ tionslehre von Carl Gustav Carus mit besonderer Berücksichtigung seiner Physiognomik (Basel: Karger, 1951)

15

Of. Hierzu Sander L. Gilman, The Face of Madness: Hugh W. Diamond and the Rise of Psychiatric Photography (New York: Brunner und Mazel, 1976)

29

16

John Conolly, The Physiognomy of Insanity, in: The Medical Times and Gazette Nr. 17 (2. Januar 1858)

17

Conolly, ibid, (17. April, 1858), p. 397

18

Dickens, Letters,op. cit., III, 3

19

Richard A.Hunter und Ida Macalpine, Psychiatry for the Poor: 1851 Colney Hatch Asylum - Friern Hospital 1973: A Medical and Social History (Lon¬ don: Dawsons, 1974), p. 86

20

Beschrieben in „Dickens and Medicine”, op. cit. p. 31. Die Lithographie ist aus der Kollektion des Royal College of Psychiatrists, London.

21

Abgedruckt bei Rene Fülöp-Miller, Kampf gegen Schmerz und Tod: Kultur¬ geschichte der Heilkunde (Berlin: Süd-Ost, 1938), p. 286.

22

Jacques Lavalleye, comp. Lucas van Leyden/Pieter Bruegel d.Ä.: Das gesam¬ te graphische Werk (Wien/München: Schroll, o. J.), Bilder 55, 59, 120-124. Ein Kommentar über die Bedeutung des Tanzes in Bruegels Werk bei Carl Gustav Stridbeck, Bruegelstudien: Untersuchungen zu den ikonologischen Problemen bei Pieter Bruegel d.Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederlän¬ dischen Romanismus, Stockholm Studies in the History of Art, 2 (Stock¬ holm: Almquist & Wiksell, 1956), pp. 218-219

23

Zur Tradition der verschiedenen Typen exstatischen Tanzes im Mittelalter vgl. Justus Friedrich, Karl Hecker, Die Tanzwut. Eine Volkskrankheit im Mittelalter (Berlin: Enslin, 1832) und Die großen Volkskrankheiten des Mit¬ telalters (Berlin: Enslin, 1865). Als interessante Parallelstudie hierzu cf. Stephan Cosacchi, Makabertanz. Der Totentanz in Kunst, Poesie und Brauch¬ tum des Mittelalters (Meisenheim an der Glan: Anton Hain, 1965)

24

Eine volkstümüche Erklärung zum Ursprung des Veitstanzmythos findet sich bei Johannes Agricola von Eisleben in seiner Sprichwörtersammlung von 1534. Agricola betont, daß der Glaube, Choreomanie könne vom Hl. Vi¬ tus geheilt werden, mit dem Glauben zu tun hatte, daß Vitus denen gute Ge¬ sundheit schenken könnte, die an seinem Namenstag vor seinem Bild tanzen würden. Vgl. hierzu meine Ausgabe der Sprichwörter: Johannes Agricola von Eisleben, Die Sprichwörtersammlungen (Berlin: De Gruyter, 1971), I, 384.

25

Penelope R.R. Doob, Nebuchadnezzar ’s Children: Conventions of Madness in Middle English Literature (New Haven: Yale University Press, 1974), pp. 45-48 Vgl. auch Judith Neaman, Suggestions of the Devil: The Origins of Madness (New York: Anchor, 1975) und Richard Bemheimer, Wild Men in the Middle Ages: A Study in Art, Sentiment and Demology (Cambridge: Har¬ vard University Press, 1952)

26

30

Grundlegende Studie ist immer noch Erwin Rohde,Psyche: Seelenkult und

Unsterblichkeitsglaube der Griechen (Tübingen: Mohr, 19033), II, 44-45. Vergleiche auch Paulys Real-Enzyklopädie der classischen Altertumswissen¬ schaft (Stuttgart: Metzler, 1922), Sp. 1441-1446. S.a.E.R. Dodds, The Greeks and the Irrational (Berkeley/Los Angeles: University of California Press, 195 1), Kapitel III ,,The Blessings of Madness.” 27

Zitiert nach der Edition von Richard McKeon, ed., The Basic Works of Aristotle (New York: Random House, 1941), p. 1312

28

„Gesetze”, Vii, 790 e — 791 b. Zitiert nach der Edition von Edith Hamilton und Huntington Cairns, edsPlato: The Collected Dialogues, Bollingen Series, 71 (New York: Pantheon, 1961), p. 1363

29

Die Literatur zum Bild des Narren zusammengefaßt im Kapitel „The Feast of the Fools” in meiner Studie: The Parodie Sermon in European Perspective (Wiesbaden: Steiner, 1974)

30

Biographische Informationen über Davies bei Joseph McCabe, A Biographical Dictionary of Modern Rationalists (London: Watts, 1920), col. 198. Alle Zitate aus dem Essay nach der Ausgabe Charles Maurice Davies, Mystic Lon¬ don; or Phases of Occult Life in the British Metropolis (New York: Lovell, Adam, Wesson & Co., 1884), pp. 31 -41

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Teil II

„DER SCHWARZE IST WAHNSINNIG”: DIE ENTWICKLUNG DES STEREOTYPS VOM WAHNSINNIGEN SCHWARZEN IN DER LITERATUR UND PSYCHIATRIE

/.

Theoretische Vorbemerkungen

Negative Stereotypen schweben über dem Abgrund, den der Betrachterzwischen sich und Anderen wahrnimmt.* Diese Distanz zum Anderen verschafft dem Be¬ trachter ein Projektionsmedium für seine eigenen Ängste. Seine manichäische Perspektive ist das Resultat dieser verborgenen Ängste, seine Projektionen dage¬ gen artikulieren sich in Stereotypen, deren Struktur über den individuellen Be¬ obachter und seine Zeit hinausreichen. Es sind dies die continua, auf die wir bei der Formulierung individueller negativer Stereotypen zurückgreifen. Diese Kon¬ figurationen, oder, um mit Gordon Allport zu sprechen, „Traditionen”^ haben durch allen historischen Wandel hindurch Bestand. Sie verschwinden nie, son¬ dern richten sich nach den Bedürfnissen einer Epoche oder persönlichen Phanta¬ sie. Die komplizierte Wechselwirkung von universellem Stereotyp und seiner indi¬ viduellen Adaption wird nirgends deutlicher als in Arrah B. Evarts’ früher Fall¬ studie einer Patientin in St. Elisabeth, der psychiatrischen Anstalt in Washington D.C. Die Patientin hatte ihre eigene Farbensymbolik mit höchst individuellen Konnotationen entwickelt. Schwarz ,,.. . bedeutet [für sie] Päderastie. Ihrer Über¬ zeugung nach war die gesamte afrikanische oder schwarze Rasse ursprünglich durch Päderastie gezeugt und perpetuiert sich noch immer so.”3 Die individuelle Bedeutung einer solchen Generalisierung bedarf weiterer analytischer Definition. Evarts bemerkt: ,,. . . vieles ist individuell bedingt, durch ihr eigenes Leben und ihre eigene Erfahrung geprägt, vieles hat sie aus dem gegenwärtigen Symbolismus absorbiert, und doch bleibt sie den archaischen Wurzeln ziemlich treu, sie brau¬ chen lediglich rekapituliert zu werden: schwarz die Farbe des Bösen. . .,>4 Auch Frantz Fanon hat die dem Konzept von „Tradition” oder „archaischer Wurzel” zugrundeliegende Struktur beobachtet. In einer Skizze über die Dichotomie, die in der westlichen Kultur hinsichtlich schwarzer Hautfarbe besteht, schreibt er: Wird diese Aussage Verstehen zulassen? Der Schwarze ist in Europa das Symbol des Bösen. . . Der Folterknecht ist schwarz; Satan ist schwarz; man spricht von dunklen Schatten; wenn man schmutzig ist, ist man schwarz — ganz gleich, ob man an physischen oder mora¬ lischen Schmutz denkt. Die große Zahl von Redewendungen, die den Schwarzen zum Äquivalent von Sünde stempeln, würde einen in Er-

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staunen versetzen, unterzöge man sich der Mühe, sie alle zu sammeln. In Europa repräsentiert der Schwarze - konkret oder symbolisch — die dunkle Seite des menschlichen Charakters. Solange man diese Tatsache nicht begreift, wird man sich in der Diskussion über das „schwarze Problem” unweigerlich im Kreise drehen. Schwärze, Dun¬ kelheit, Schatten, Nacht, die Labyrinthe der Erde, Abgrundstiefen schwärzen die Reputation eines Individuums. Auf der anderen Seite: strahlende Unschuld, die weiße Friedenstaube, magisches himmlisches Licht. Ein prächtiges, blondes Kind — wieviel Friede liegt in diesem Satz, wieviel Freude, und vor allem, wieviel Hoffnung! Es gibt keinen Vergleich mit einem prachtvollen schwarzen Kind: so etwas ist buch¬ stäblich ungewohnt. . . in Europa, d.h. in jedem zivilisierten oder zi¬ vilisierenden Land ist der Neger das Symbol der Sünde.^ Es ist jedoch nicht der Schwarze allein, der in der westlichen Vorstellung diese polare Antiwelt bevölkert. Es sind dort alle Randfiguren vertreten — der Schwar¬ ze, der Jude, der Zigeuner, der Geisteskranke, ja sogar die Frau. Es sind dies die Realitäten, auf die die gesellschaftlich dominierenden Gruppen ihre Ängste pro¬ jezieren. Man kann die Evolution dieser Strukturen, mittels derer wir andere se¬ hen, durch eine Untersuchung der Adaption solcher Formen innerhalb verschie¬ dener gesellschaftlicher und historischer Kontexte nachvollziehen. Für die Heuri¬ stik bietet sich die Untersuchung solcher Beispiele aus Grenzbereichen dazu an, die Wechselwirkung von Inhalt und Implikation im Rahmen der verschiedenen, zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb einer Gesellschaft bestehenden, negati¬ ven Stereotypen zu beobachten. Dabei wird deutlich, daß ‘Perspektive’ die trei¬ bende Kraft ist, die unser Verständnis vom Anderen verändert. Die Perzeption des Anderen, was ihm Gestalt verleiht, geschieht innerhalb strikten, historisch determinierten Strukturen. Das Überschneiden solcher Strukturen, wie z.B. die Verknüpfung von Geisteskrankheit und schwarzer Hautfarbe, liefert die Konstan¬ ten, mittels derer sich die individuelle Adaption universeller Strukturen untersu¬ chen läßt.

II. Der Schwarze als die Inkarnation von Geisteskrankheit Nach der mißglückten dritten Aufführung ihrer derben Farce entkommen der Duke und King erfolgreich dem Zorn der Bewohner jener Stadt am Arkansas und treiben zusammen mit Huck und Jim immer weiter flußabwärts, immer tiefer in die sklavenhaltenden Südstaaten. An diesem Punkt haben die Abenteuer des Huckleberry Finn alle Kennzeichen der Entlaufener-Sklave-Literatur angenom¬ men.^ Während Hucks Zentralproblem das moralische Dilemma von Jims Flucht in die Freiheit ist, bleibt für Jim seine Flucht aus der Sklaverei im Brennpunkt. Als die beiden Schwindler flußabwärts anhalten, um ihren nächsten ‘Coup’ zu planen, muß dem Problem ins Auge gesehen werden, wie Jims Freiheit bewahrt

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und seine weitere Flucht ermöglicht werden kann. „Siehst du, wenn wir ihn ganz allein ließen, müßten wir ihn fesseln; weil wenn ihm irgend jemand zufällig be¬ gegnet wäre, allein und ungefesselt, dann würde es nicht so sehr nach weggelaufe¬ nem Neger aussehen, nicht wahr. Deshalb sagte der Duke, es wäre wirklich schon ziemlich hart, den ganzen Tag gefesselt rumzuliegen, und er würde sich etwas ein¬ fallen lassen, das Ganze zu umgehen.Die Lösung, auf die der Duke kam, war nicht nur genial, sie bietet auch einen angemessenen Testfall, den Zusammen¬ hang zwischen Geisteskrankheit und schwarzer Hautfarbe an diesem spezifischen Fall und seinem historischen Hintergrund zu untersuchen. Er war ungewöhnlich schlau, der Duke, und bald hatte er’s. Er ver¬ kleidete Jim mit König Lear seinem Kostüm — das war ein langes Ge¬ wand aus Vorhangkattun und eine weiße Roßhaarperücke mit Bakkenbart, und dann nahm eine seine Theaterschminke und schminkte Jims Gesicht und seine Hände und seine Ohren und seinen Hals über¬ all mit einem fahlen, matten, ebenmäßigen Blau, so daß er aussah wie ‘n Mensch, der schon seit neun Tagen ersoffen ist. Ich freß einen Besen, wenn das nicht der scheußlichste und abstoßendste Anblick war, der mir je vor die Augen gekommen ist. Dann nahm der Duke ein Brettchen und schrieb darauf: Kranker Araber - aber harmlos, wenn nicht gerade verrückt Das Brett nagelte er auf eine Latte, und die Latte stellte er vier oder fünf Fuß weit vor dem Wigwam auf. Jim war zufrieden. Er sagte, das wäre bedeutend besser, als täglich zwei Jahre lang dazuliegen und je¬ desmal, wenn irgend'n Laut zu hören war, zu zittern. Der Duke er¬ klärte ihm, er sollte sich‘s nur bequem und gemütlich machen, und falls irgendjemand sich hier zu schaffen machen würde, müsse er ein¬ fach aus dem Wigwam springen, sich ein bißchen aufführen, ein oder zweimal wie ein wildes Tier heulen; dann, so schätzte er würden sie schon davon rennen und ihn in Ruhe lassen. Das war ziemlich ver¬ nünftig geurteilt, aber nimm den Durchschnittsmenschen an, der würde nicht mal warten bis er heult. Er sah nämlich nicht nur wie tot aus, er sah weit mehr als tot aus. (Nach der Übersetzung von Gertrud Baruch) Das ‘Chiffrieren’ des Duke liefert uns einen ganzen Komplex von Hinweisen auf die besondere Beziehung zwischen Geisteskrankheit und schwarzer Hautfarbe in der westlichen Kultur. Zuerst verkleidet der Duke Jim als König Lear. Twain, mit seinem speziellen In¬ teresse an Shakespeare, läßt den Duke Shakespeare-Englisch sprechen.® An frü¬ herer Stelle des Romans war eine Parodie des Monologs aus dem dritten Akt von Hamlet, mit einer starken Dosis von jedermanns Lieblingszitaten aus Shakespeare der Programmankündigung von Szenen aus Romeo und Julia und Richard III,

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dargestellt vom Duke und King als David Garrick und Edmund Kean, vorausge¬ gangen. Aber trotz all dieser Hinweise auf Shakespeare wird König Lear in die¬ sem Abschnitt zum ersten Mal genannt. Lear ist die Verkörperung des Shakespear’schen Wahnsinnigen, ist, wie Mark Van Doren bemerkt, . *. Wahnsinn, zu dessen poetischem Muster er wird. . Aber es ist eine ganz spezifische Manifestation von Wahnsinn, nämlich die äußere Erscheinung des Wahnsinnigen, die er von Lear borgt. Nach der Sturmszene im dritten Akt beginnt Lear in seinem Wahnsinn immer mehr einem Wilden zu glei¬ chen, „phantastisch bekleidet mit wilden Blumen”. Er wütet gegen seine Töchter: „Through tatter’d clothes small vices do appear;/Robes and furr’d gown hide all. all. . . [IV:6:163]. Hier liegt das Gegenteil vor. Jim versteckt sich hinter dem zer¬ lumpten Umhang eines Irren; aber nicht nur das. Der Duke setzt ihm „eine weiße Roßhaarperücke mit Backenbart” auf. Behaartheit gehört zum Bild des rasenden Wilden und hat seine Wurzeln in der Beschreibung Nebukadnezars in der Bibel, der.verstoßen war von den Menschen und Gras aß, wie die Ochsen, und sein Leib war feucht vom Tau des Himmels, bis seine Haare gleich Adlerfedem ge¬ wachsen waren, und seine Nägel wie der Vögel Klauen.”10 Die bildende Kunst, bis William Blake 1795, stellt Nebukadnezar als Wüden mit wallendem Bart- und Haupthaar dar.11 Der Duke vervollständigt Jims Verkleidung, indem er alle seine sichtbaren Kör¬ perstellen mit einem „matten Blauton” zudeckt. An anderer Stelle verwendet Twain ‘Blau’ als die Farbe des Todes. Tante Sally beschreibt das Opfer einer Dampferexplosion: [er] . . verfärbte sich überall blau und starb in der Hoff¬ nung auf eine glorreiche Auferstehung.” In leicht verändertem Kontext wird in der später ausgelassenen Flußepisode von der Farbe Gebrauch gemacht, als die Flußleute den nackten Huck entdecken und drohen, „ihn von Kopf bis Fuß him¬ melblau anzumalen.” Um dem zu entgehen, nimmt Huck die Identität des toten Kindes an, über das die Flußleute gerade hatten berichten hören, und entgeht so der Bestrafung. Tod und Betrug sind hier mit der Farbe Blau assoziiiert, und nicht zufälligerweise. Aufgrund der Assoziation von Betrug und Wahnsinn war Blau traditionell die Farbe der Narren: ... La gist l’amour, non pas au bleu porter Mais peut estre que plusiers le meffait De faulsete cuident couvrir soubz lame Par bleu porter. . . ^ [. . . Darin liegt Liebe, nicht im Tragen von Blau. Aber manch einer mag daran denken, die Untat Der Falschheit unter dem Grabstein zu bedecken Indem er Blau trägt.] In Jims Verkleidung sind Tod und Wahnsinn als parallele Ängste miteinander ver¬ knüpft. Auch Twain sieht in dieser Beziehung eine Möglichkeit, Jim mit der

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Schutz gewährenden Kolorierung von Tod und Wahnsinn auszustatten. Die Ver¬ kleidung ist in sich ein Beispiel, wie man unter falscher Flagge segelt, jedoch zum besten aller möglichen Ziele, der Bewahrung der Freiheit. Nur unter der Maske letzter Unfreiheit, der Maske von Tod und Wahnsinn, kann Jims Freiheit gesichert werden. Jims operettenhafte Verkleidung scheint dem Duke, der sein Publikum nur allzu gut kennt, nicht zu genügen. Auf ein Schild schreibt er „Kranker Araber — aber harmlos, wenn nicht gerade verrückt.” Der blaue Araber ist eine doppeldeutige Ironie. Für Twain, den Amateurfolkloristen, mag es ein Hinweis auf die indigogefärbten Tuareks in Nordafrika und ihr System der schwarzen Sklavenhalterei gewesen sein, der Sklave wird zum Sklavenhalter. Twain weist aber auch auf die traditionell im Westen herrschende Konfusion im Hinblick auf Araber und Schwarze hin, eine Konfusion, die in der zweideutigen Verwendung des Wortes ‘Mohr’ (engl, ‘moor’) deutlich wird.^ Diese Konfusion ist eine Replika der Ge¬ schichte des Bildes, das der Westen von den Schwarzen hatte. Jim wird zum my¬ thischen Schwarzen, um den Realitäten seiner schwarzen Hautfarbe zu entflie¬ hen. Die Verwendung dieses Bildes, das Araber und Schwarze gleichsetzt, in die¬ sem Kontext ist keineswegs zufällig. Es versetzt den Leser an den Anfang des Ro¬ mans zurück, wo Huck Finn die zivilisierten Abenteuer in Tom Sawyers Welt von „Spaniern und Arabern” als „bloß eine von Tom Sawyers Lügen” zurückweist. „Ich vermutete, daß er an die Araber und Elephanten glaubte, aber was mich an¬ geht, ich denke anders. Es hatte alle Zeichen von Sonntagsschule an sich.” Als es aber um Jims Verkleidung geht, erkennt Huck den pragmatischen Wert von My¬ thos als ein Mittel, die zu manipulieren, die daran glauben. Die zweite Hälfte der Aufschrift auf dem Schild, das der Duke anfertigte, unter¬ streicht mehr als alles andere die zentrale Implikation von Jims Verkleidung. Sie warnt, daß er harmlos ist, es sei denn, er ist in Rage. Jim ist der geistesverwirrte Schwarze, in beidem dem Wilden äquivalent. Der Duke sagt ihm „. . . falls ir¬ gend jemand sich hier zu schaffen machen würde, müsse er einfach aus dem Wig¬ wam springen, sich ein bißchen aufführen, ein oder zweimal wie ein wildes Tier heulen. . .” Huck weiß die Reaktion der weißen Südstaatler einzuschätzen. „. . . nimm den Durchschnittsmenschen an, der würde nicht mal warten bis er heult. Er sah nämlich nicht nur wie tot aus, er sah weit mehr als tot aus.” Der Schwarze in seinem Wahnsinn ist die Apotheose der Angst, die Verknüpfung, an der sich alle Angst vereinigt. Aber diese Furcht wird nur vom Betrachter wahrgenommen, der Arkansas (i.e. westlichen) Gemeinde. In einem glänzenden Kapitel über Aber¬ glauben in Twains Huckleberry Finn bemerkt Daniel Hoffman, daß ,,. . . nur Ne¬ ger, Kinder und Pöpel. . . die Träger volkstümüchen Aberglaubens in der wieder¬ erschaffenen Welt von [Twain’s] Kindheit sind.”^ Aber hier ist es die gesamte Welt der Weißen, ausgenommen jene zu Eingang er¬ wähnten Personen, die mit Jim auf dem Floß sind, die auf diese Gestalt eines wahnsinnigen Schwarzen mit Angst und Entsetzen reagieren wird. Die erfolgrei-

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che Verwendung eines im Westen universell gültigen Stereotyps bewahrt Jims Freiheit, zumindest für den Augenblick. Zum Abschluß der Abenteuer des Huckleberry Finn kehrt Twain noch einmal zum Thema Wahnsinn und schwarze Hautfarbe zurück. Huck kapituliert ange¬ sichts Tom Sawyers verwickeltem und romantischen Vorschlag, wie Jim endgül¬ tig entkommen könnte. In einem Widerhall der Welt der „Spanier und Araber” versetzt Toms ausgeklügelter Fluchtplan mit seiner Serie von Mann-in-der-eisernen-Maske Graffiti die örtliche Bevölkerung in Verwunderung. Typisch für alle ist die alte Mrs. Hotchkiss, die, „ihre Zunge. . . ständig in Bewegung” sagte: „Nun, Schwester Phelps, ich hab die Hütte da durchsucht, und ich glaube, der Nigger ist verrückt gewesen. Ich hab’s schon zu Schwester Damrell gesagt — nicht wahr, Schwester Damrell? — ich hab gesagt, er ist verrückt, sag ich - das waren genau meine Worte. Ihr habt’s alle gehört: er ist verrückt, sag ich; alles beweist’s ja, sag ich. Guckt euch doch nur den Schleifstein da an, sag ich; wollt ihr mir vielleicht erzählen, ‘ne Kreatur, die ganz bei Trost ist, würde all das verrückte Zeugs in einen Schleifstein einkratzen? sag ich. ‘Hier hat der und der sein Herz kaputtgebrochen’, und ‘Hier hat der und der siebenund¬ dreißig Jahr lang geschmachtet’, und all das — natürlicher Sohn von Ludwig Sowieso und lauter solchen blödsinnigen Quatsch. Total ver¬ rückt ist er, sag ich, gleich zu Anfang hab ich das gesagt, in der Mitte hab ich das gesagt, und zum Schluß sag ich’s auch immerzu: der Nig¬ ger ist verrückt — so verrückt wie Nebokudnieser, sag ich.” (Deutsch von Gertmd Baruch) Die von Tom und Huck gestiftete Verwirrung führt zu dem unausweichlichen Schluß, daß Jim verrückt ist, verrückt wie Nebukadnezar, ein Wilder außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Diese Schlußpassage faßt die Sicht der traditio¬ nellen Beziehung zwischen schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit in der Welt eines Tom, Huck und Jim zusammen. Die Furcht vor der Wildheit des An¬ deren, vor seiner potentiellen Destruktivität, charakterisiert den Nexus zwischen schwarzer Hautfarbe und Wahnsinn. Darüber hinaus verwendet Twain diese uni¬ versale Struktur, um auf ein aktuelles Problem anzuspielen.

III. Der historische Kontext Die Frage nach den aktuellen Implikationen, die Twain veranlaßten, die Gestalt eines geisteskranken Schwarzen aufzunehmen, führt unmittelbar zu der Frage nach seinem Beweggrund, diesen scheinbar geheimnisvollen, stereotypischen My¬ thos in den gesamten Roman einzubauen. Mit Huckleberry Finn hoffte Mark Twain die Welt von 1840 wieder auferstehen zu lassen. Wie an dem zentralen Thema das Romans deutlich wird, ist das moralische und politische Hauptpro-

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blem in den Vereinigten Staaten zu jener Zeit die Debatte über die Abschaffung der Sklaverei. Eines der interessanten Streiflichter jener Debatte rief der 6. Na¬ tionale Zensus von 1840 hervor.15 Mit seiner Veröffentlichung im Jahre 1841 war es zum ersten Mal möglich, Zahlenmaterial über die Verbreitung von Geistes¬ krankheit in den Verinigten Staaten zu erhalten. Die Gesamtzahl von Geistes¬ kranken betrug über 17.000, annähernd 3.000 davon waren Neger. Die Statisti¬ ken waren schwindelerregend. Der Zensus schien zu zeigen, daß das Vorkommen von Geisteskrankheit unter freien Negern elfmal größer war als unter Sklaven, und sechsmal größer als unter der weißen Bevölkerung. Die unmittelbare Inter¬ pretation dieser Statistiken besagte, daß die freie schwarze Bevölkerung eine hö¬ here Rate von Geisteskrankheit (und anderen Krankheiten) aufwies als die ver¬ sklavten Neger. Es gab den Gegnern der Abolition einen bedeutenden wissen¬ schaftlichen Beweis für ihre These in die Hand, daß Neger biologisch für die Frei¬ heit untauglich seien. John C. Calhoun, Vize-Präsident und vielleicht der ver¬ nehmbarste Sprecher für die sklavenhaltenden Staaten in jenen vierziger Jahren, machte dieses Argument in einem Brief an den englischen Botschafter zur Haupt¬ stütze seiner Verteidigung jener „besonderen Institution”: Der Zensus und andere authentische Dokumente zeigen, daß in all den Fällen, wo Staaten die frühere Beziehung zwischen den beiden Rassen geändert haben, sich die Situation der Afrikaner nicht ver¬ bessert, sondern im Gegenteil verschlechtert hat. Sie sind ausnahms¬ los in Laster und Armut versunken. Dies ging zu einem beispiellosen Ausmaß einher mit physischen und psychischen Heimsuchungen wie Taubheit, Blindheit, Geisteskrankheit und Idiotie; andererseits hat sich ihre Situation in allen anderen Staaten, die die alte Beziehung zu ihnen aufrecht erhalten haben, in jeder Hinsicht verbessert, was Zahl, Wohlbefinden, Intelligenz und Moral betrifft. . . Außerdem sollte erwähnt werden, daß in Massachusetts, wo die alte Beziehung zwischen den beiden Rassen zuerst verändert worden war (vor nun mehr als 60 Jahren), wo zu ihren Gunsten der größte Eifer an den Tag gelegt wird, und wo ihre Anzahl vergleichsweise gering ist (nur wenig mehr als 8.000 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von mehr als 730.000), die Situation der Afrikaner eine der erbärmlich¬ sten ist. Nach letzten authentischen Zählungen war unter der schwar¬ zen Bevölkerung einer von 21 in Gefängnissen oder Besserungsanstal¬ ten, einer von 13 war entweder taub und stumm, blind, ein Idiot, geistesgestört oder im Gefängnis. Andererseits zeigen der Zensus und andere authentische Informationsquellen unwiderlegbar, daß sich die Lage der afrikanischen Rasse überall in den Staaten, wo die alte Be¬ ziehung zwischen den beiden Rassen beibehalten worden ist, eines Grades von Gesundheit und Wohlbefinden erfreut, der sich sehr wohl mit dem der arbeitenden Bevölkerung in jedem christlichen Land vergleichen läßt. Und es soll noch hinzugefügt werden, daß unter kei-

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nen anderen Gegebenheiten, weder zu einer anderen Zeit noch in einem anderen Land, die Negerrasse je einen so hohen Standard an Moral, Intelligenz oder Kultur erreicht hat.1(> Calhoun’s politische Rhetorik war nicht die einzige Rechtfertigung für die Skla¬ verei, die sich auf den Zensus von 1840 berief. Noch interessanter als die Ver¬ wendung dieser Daten im politischen Bereich, war die medizinische Literatur, die aus der statistischen Beziehung zwischen schwarzer Hautfarbe und Geisteskrank¬ heit hervorging.17 Obwohl Edward Jarvis die fehlerhaften Statistiken des 1840er Zensus erfolgreich durch den Hinweis auf die groben Fehler in der Datensamm¬ lung widerlegt hatte (so waren in Worchester, Mass. z.B. bei einer Gesamtbevöl¬ kerungszahl von 151 insgesamt 133 geisteskranke und verarmte Schwarze ange¬ führt), die Assoziation von schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit herrschte jedoch für den Rest des Jahrhunderts weiter vor.1® Diese Assoziation hatte in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Be¬ wußtsein der Öffentlichkeit durchdrungen. Im Fall William Freemans, der 1846 im Norden des Staates New York eine Famüie angegriffen und ermordet hatte, bestätigte die Realität die Parallele, die zwischen diesen beiden Kategorien des Anderssein bestanden. Freemans Bild, wie es die lokalen Zeitungen brachten, war das eines durchschnittlichen Individuums und weist auf die in der öffentli¬ chen Meinung zwischen Geisteskrankheit und Hautfarbe bestehende Parallele hin. Seine Verbrechen wurden zum Gegenstand einer Moritat, die seine Untat bis ins kleinste Detail darstellte. Interessant ist der Ausdruck von Geistesverwirrung in Freemans Gesicht, was sowohl die Darstellung der Ausführung des Verbre¬ chens betrifft, als auch die Darstellung, wie er durch das Fenster auf seine Opfer späht. Sein intensiver Gesichtsausdruck entspricht der traditionellen Vorstellung von der Erscheinungsform von Manie. Das Bild des Mörders ist das Bild des Gei¬ steskranken. Darüber hinaus reflektiert Freemans Bild die von der Phrenologie angelegte Erscheinungsskala, in der schwarze Hautfarbe mit Geisteskrankheit gleichgesetzt wird. Der Schwarze, der Mörder und der Geistesgestörte werden so¬ mit zu austauschbaren Bildern. Freeman, ein „ungelernter, beschränkter, dummerund heruntergekommener Ne¬ ger”, wie ihn der Staatsanwalt laut Prozeßprotokoll genannt hatte, wurde von William H. Seward, dem späteren Außenminister, verteidigt. Er stützte seine Ver¬ teidigung Freemans, die erfolglos bleiben sollte, zu einem beachtlichen Grad auf die äußere Erscheinung seines Klienten: Es gibt einen Beweis, Gentlemen, der stärker ist als all dies. Er ist stumm und doch vernehmbar. Ich spreche von jenem Idiotenlächeln, das ständig auf dem Gesicht des manisch Kranken spielt. Es hat sich dort eingeschlichen, als er im Staatsgefängnis saß. In seiner Einzel¬ zelle, unter dem Druck der schweren Anforderungen, die ihm in der Werkstatt gestellt wurden; und während der Feierlichkeiten des Got-

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tesdienstes in der Kapelle erschien es, wenn auch vergeblich, seinen Aufsehern und seinen Lehrern. Es ist ein Lächeln, das niemals zu einem Lachen wird, ohne Motiv oder Grund — das Lächeln derLeere. Seine Mutter sah es, als er aus dem Gefängnis kam, und es brach ihr das Herz. John DePuy sah es und wußte, sein Bruder hatte den Ver¬ stand verloren. Deborah DePuy bemerkte es und erkannte den Narren in ihm. Es hat ihn in seinen späteren Prüfungen nie mehr verlassen. Er lachte Parker bei der Beichte in Baldwinsville ins Gesicht. Er lachte Warden, Curtis, Worden, Austin, Bigelow, Smith, Brigham, er lachte ihnen allen unwillkürlich ins Gesicht. Er lacht auch hier stän¬ dig. Sogar als Van Arsdale die vernarbten Spuren von des Mörders Messer zeigte, und als Helen Holmes die entsetzliche Geschichte des Mordes an ihrer Herrschaft und ihren Freunden erzählte — er lachte. Er lacht, während ich hier für ihn plädiere. Er lacht, wenn des Staats¬ anwalts Blitzstrahl sein Herz zu durchbohren scheint. Er wird lachen, wenn Ihr den Schuldspruch fällt. Wenn der Richter zu jener letzten schicksalhaften Zeremonie schreiten und ihn fragen wird, ob es einen Grund gäbe, warum der Spruch des Gesetzes nicht auf ihn angewen¬ det werden soll; und obwohl kein Auge in dieser großen Versamm¬ lung trocken zu verbleiben mag, und die strenge Stimme, die ihn an¬ spricht, vor Empfindung zittern mag, selbst dann wird er dem Ge¬ richtshof ins Gesicht blicken und lachen, aus den unwiderstehlichen Gefühlswallungen eines zerrütteten Verstandes heraus, entzückt und verloren in der verwirrten Erinnerung absurder und lächerlicher Assoziationen. Folgt ihm aufs Schafott. Der Henker kann die Ruhe des Idioten nicht erschüttern. Er wird in der Agonie des Todes la¬ chen. Kennt Ihr nicht die Bedeutung dieser merkwürdigen und unna¬ türlichen Lachlust? Sie ist Beweis dafür, daß Gott nicht einmal den armen Unglückseligen, den wir bemitleiden oder verachten, aufgibt. In jedem menschlichen Bewußtsein gibt es einen Brunnen der Freude und eine Quelle der Trauer. Krankheit öffnet den einen weit und ver¬ siegelt die andere für immer. Die unangebrachte Wirkung des Geisteskranken, sein Gesichtsausdruck, sind, zu¬ mindest für Seward, Beweis genug für seinen Geisteszustand. Noch 1851 zitierte ein Artikel im American Journal of Insanity den Zensus von 1840 als Argument für die Inferiorität der Schwarzen: Es ist jedoch offensichtlich, . . . daß unter den freien Schwarzen Idiotie und Geisteskrankheit im Vergleich zu Weißen und besonders zu Sklaven bestürzend vorherrschen. Wer würde glauben, hätten wir nicht die Fakten schwarz auf weiß vor Augen, daß jeder vierzehnte Farbige in Maine ein Idiot oder geistesgestört ist? Und obwohl von

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Westen nach Süden eine graduelle Verbesserung in ihrer Lage zu ver¬ zeichnen ist, so bleibt doch offensichtlich, daß hauptsächlich in den freien Staaten Idiotie und Geisteskrankheit unter den Farbigen beheimatet ist.

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Im gleichen Jahr veröffentlichte Samuel Cartwright einen Artikel im New Orleans Medical and Surgical Journal, in dem er einen Zusammenhang zwischen schwar¬ zer Hautfarbe und Geistesgestörtheit zu substantiieren suchte, indem er spezi¬ fisch jene Psychopathologien zu identifizieren suchte, denen Schwarze allein aus¬ gesetzt sind.^O Er identifizierte zwei Krankheiten, Drapetomanie „oder die Krankheit die Sklaven davonlaufen läßt” und Dysaesthesia aethiopis „Trägheit des Geistes und stumpfe Sensibilität — eine spezifische Negerkrankheit — von Aufsehern ‘Schurkerei’ genannt.” Geisteskrankheiten wurden mit der Ablehnung der Sklaverei durch die Schwarzen in Zusammenhang gebracht und dem klini¬ schen Bild von Geisteskrankheit einverleibt. Cartwrights Ansichten erzielten eine recht weite Verbreitung und waren Gegenstand von sowohl Angriffen als auch Verteidigungen. Trotz des medizinischen Vokabulars hatte seine Rhetorik ein¬ deutig politische Implikationen, wie aus seiner Beschreibung der Aetiologie der Dysaestesia aethiopis hervorgeht: Nach unabänderlichen physiologischen Gesetzen können Neger im allgemeinen — und es gibt hier nur wenige Ausnahmen — ihre intelektuellen Fähigkeiten der zivilisierten Moral, religiöser und anderer Un¬ terrichtung nur dann in angemessenem Maß öffnen, wenn sie unter der Zwangsauthorität des weißen Mannes stehen; denn, und dies ist wieder eine allgemeingültige Regel, zu der es nur wenige Ausnahmen gibt, sie werden sich, wenn sie der Authorität des weißen Mannes entzogen sind, nicht genügend körperliche Bewegung verschaffen, um ihr Blut durch tiefe, freie Atmung zu vitalisieren und zu dekarbonieren, was nur durch aktive Bewegung, welcher Art auch immer, geschehen kann. [. . .] Das schwarze Blut, das dem Hirn zugeführt wird, kettet den Geist an Ignoranz, Aberglauben und Barbarei, und verbarrikadiert die Tür, die zu Zivilisation, moralischer Kultur und religiöser Wahrheit führt. Indem sie den trägen Neger zu physischer Aktivität anhält, versetzt die Zwangsgewalt des weißen Mannes seine Lungen in aktives Spiel, wodurch das vitalisierte Blut dem Hirn zuge¬ führt wird und so dem intellektuellen Fortschritt die Tür öffnet. Eben diese körperliche Betätigung, die für den Neger so vorteilhaft ist, wird dazu verwendet, jene glühendheißen Baumwoll-, Zucker-, Reis- und Tabakfelder zu bebauen, die wegen der klimatisch beding¬ ten Hitze ohne seine Arbeitskraft unbebaut blieben und deren Er¬ träge der Welt verloren wären. Beiden Teilen ist somit gedient - dem Neger wie seinem Herrn, dem ersteren vielleicht sogar mehr. Aber eine dritte Partei trägt Nutzen davon, die Welt im Gesamten. Drei

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Millionen Ballen Baumwolle von Sklavenarbeit versorgen die zivili¬ sierte Welt mit billiger Kleidung. Die arbeitenden Klassen der gesam¬ ten Menschheit können, wenn sie weniger für Kleidung auszugeben haben, mehr Geld für die Erziehung ihrer Kinder, und für ihren in¬ tellektuellen, moralischen und religiösen Fortschritt ausgeben.21 Es ist vor allem seine Physiologie, die den Schwarzen zu Geisteskrankheit prädis¬ poniert. Der Zusammenhang von schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit ist hier unabänderlich gemacht. Von Natur aus hat der Schwarze ein größeres Poten¬ tial für Wahnsinn. In seiner Darstellung des geisteskranken Schwarzen bezog sich Twain indirekt auf die Auseinandersetzung um die Schwarzen, wie sie in Amerika vor dem Bür¬ gerkrieg tobte. Einen Zusammenhang zwischen Geisteskrankheit und Hautfarbe als politisches Argument einzusetzen, geht auf die falschen Statistiken des 1840er Zensus zurück, es blieb aber auch nach der Abolition lebendig. Die besondere Be¬ ziehung zwischen schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit blieb über die fol¬ genden Jahrzehnte ein Thema, sogar als Twain Huckleberry Finn schrieb. 1887 schrieb J.B. Andrews über die rasch um sich greifende Zunahme von Geistes¬ krankheit unter Schwarzen: Unter der schwarzen Rasse ist die proportionale Zunahme von Gei¬ steskrankheit weitaus größer als in jedem anderen Bevölkerungsbe¬ reich. Zwischen 1870 und 1880 nahm die schwarze Rasse von 34 Prozent auf 85 Prozent zu, während Geisteskrankheiten gleichzeitig um 285 Prozent Zunahmen. Diese überwältigende Zunahme ereignete sich seit der Abschaffung der Sklaverei und dem daraus resultieren¬ den Wandel in den Lebensbedingungen. Die Gründe sind schnell auf¬ geführt: größere Freiheit, allzu oft zu Zügellosigkeit führend, exzessi¬ ver Gebrauch von stimulierenden Mitteln; Weckung von bereits allzu stark entwickelten Emotionen; der ungewohnte Kampf um die Exi¬ stenzgrundlage; erzieherische Belastung und Armut. Der vollständige Zensus der anderen farbigen Rassen zeigt 105 Geisteskranke bei einer Gesamtzahl von 172.000, oder ein Geisteskranker auf 1.638. Der geringe Prozentsatz von Geisteskranken unter den Ureinwohnern und Chinesen stimmt vollständig mit den Beobachtungen von Auto¬ ren hinsichtlich den zu Geisteskrankheit führenden Ursachen überein. Weit geringer entwickelte Zivilisation, weniger Wettbewerb und Kampf um Stellung, Macht oder Reichtum, und als Folge, geringere Tendenz zu geistiger Deteriorisierung.22 1896 bemerkte J.F. Miller die radikal zunehmende Zahl von Schwarzen in An¬ stalten seit der Sklavenbefreiung. Miller ordnet diese Zunahme der Mentalität der Schwarzen zu, die „unter weniger günstigen Umständen als der weiße Mann in

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Zufriedenheit leben konnten, da ihr Nervensystem ihrer Umgebung gegenüber weniger sensitiv ist; und doch ist es wahr, daß ihr seelisches Gleichgewicht ge¬ ringer ist und durch Einflüsse und Triebkräfte geistige Entfremdung erleiden können, die eine geistig stärkere Rasse nicht betreffen würden.”2 3 In einem Vor¬ trag vor der 35th National Conference of Charities and Correction 1908 verwen¬ det William F. Drewry den modernen wissenschaftlichen Begriff der Eugenik, um die „Ursache für Geisteskrankheit” unter Schwarzen „erblich bedingten Mängeln und unentdeckten konstitutionell bedingten Krankheiten und Defekten. . .”^4 zuzuschreiben. 1916 argumentiert eine wissenschaftliche Darstellung der Bezie¬ hung zwischen Geisteskrankheit und Hautfarbe, daß „die einfache Mentalität” der Schwarzen, ihr kindhaftes Wesen es ihnen nicht gestatten, in der Komplexi¬ tät der modernen Welt gut zu funktionieren und sie zu Geisteskrankheiten prä¬ disponiert.^5 Der Zusammenhang zwischen schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit ist im 19. Jahrhundert ein Gemeinplatz. Er reflektiert das negative Bild des Schwarzen als „dem unedlen Wilden”, das Gegengewicht zu der idyllischen Welt des edlen Wilden, in der Krankheit keinen Platz hat. Aber die Beständigkeit dieser Assozia¬ tion ist recht überwältigend. Noch 1964 fühlte sich Benjamin Pasamanick veran¬ laßt, den „Mythos hinsichtlich des Vorherrschens von Geisteskrankheit beim amerikanischen Neger”, - so der Titel seines Essays — zu widerlegen. „Nach Un¬ tersuchung aller Daten” schließt er, daß „die Rate von Geistesgestörtheit unter Negern immer noch nicht diejenige unter Weißen übersteigen würde.Histo¬ risch sucht Pasamanick die Anfänge dieser Assoziation von schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit in der Zeit der Aufklärung: Das Dogma der Inferiorität des Negers nahm zum großen Teil seinen Ursprung in der Zeit der Aufklärung und ist seither aus vielen Quel¬ len verstärkt worden. Als Begleiterscheinung entstand fast gleichzei¬ tig das Dogma, das Sklaverei als den Idealzustand für solch inferiore und inadäquate Personen betrachtete, da Freiheit tatsächlich zu Ver¬ fall und Degenerierung führen würde. Die politische, soziologische und anthropologische Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von Be¬ weisen für diese Vermutungen. In unserem Jahrhundert, mit geschärf¬ ter wissenschaftlicher Evidenz und Methode, wurden diese Dogmen fanatisch angewandt.-^ Pasamanicks Verständnis von der besonderen Beziehung zwischen schwarzer Hautfarbe und Geisteskrankheit reflektiert die zunehmende Politisierung des Be¬ griffes ‘schwarz’ im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Denn mit dem Ver¬ schmelzen der Begriffe ‘schwarz’ und ‘Sklave’ entwickelten sich besondere Krite¬ rien für den speziellen Status des schwarzen Sklaven im westlichen Bewußtsein. Er wurde entweder zum edlen versklavten Prinzen oder zur Randfigur, durch die Zivilisation von der Barbarei gerettet. Dieser Wandel in der Perspektive vereinigte in der Verfolgung seiner verschiedenen Ziele bestehende Vorstellungen von der

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Beziehung zwischen Geisteskrankheit und schwarzer Hautfarbe. Pasamanick ist nicht der einzige Wissenschaftler, der die Entstehung dieses Nexus zwischen Hautfarbe und Geisteskrankheit in der Aufklärung sieht. Peter Thorslev bemerk¬ te: . . . Rousseau war der erste, der den Wilden ‘verinnerlichte’, der nahelegte, daß er in uns allen lebt, daß wir, wenn wir sowohl die Übel als auch die Errungenschaften der Zivilisation ablegen, nackte Wilde finden. Diese Aussicht ist nicht unerfreuüch, solange dieser nackte Wilde gleichzeitig auch edel ist. Das soll nicht heißen, daß Rousseau vorschlug, wir sollten oder gar könnten uns all dessen entledigen — obwohl er häufig so interpretiert wurde — zumindest aber sagte er nicht, daß die Seele dieses Urwilden von der Erbsünde befleckt oder von dunklen, mysteriösen Gewalten besessen sei. Im 19. Jahrhundert aber, als der zivilisierte Mensch in sich blickte und sein primitives Unbewußtes entdeckte, grüßte ihn immer seltener das tapfere und offene Antlitz des Edlen Wilden als vielmehr Dionysos’ dunkles Ge¬ sicht. Ich sehe den Grund hierfür hauptsächlich in der Tatsache, daß der Wilde in unserer Vorstellung immer mehr zum Schwarzen wurde, und daß der Schwarze die Ketten des weißen Mannes trug. Natürlich spielt da auch die weit zurückreichende christliche Tradition mit, die schwarze Herzen und schwarze Haut mit Bösem und Teufelswerk in Verbindung bringt, und in dieser Vorstellung hat sicherlich einige un¬ bewußte Rechtfertigung der Sklaverei gelegen. Andererseits hat eine Antisklavenliteratur fast ebenso lang wie die Sklaverei selbst existiert, zumindest in englisch-sprachigen Ländern, und ein konstantes The¬ ma dieser Literatur war die Bruderschaft zwischen Schwarz und Weiß, das Begleitthema dazu das von der weniger fortgeschrittenen Zivilisation des Schwarzen, seiner Mentalität eines Kindes, besonders ein Kind der Natur zu sein — liebenswert, spontan, bisweilen mit der kapriziösen und irgendwie unschuldigen Grausamkeit von Kin¬ dern.^ Diese Ansicht ist nur zum Teil richtig. Die Identifizierung von schwarzer Haut mit Sklaverei ist tatsächlich im 18. Jahrhundert entstanden. Die strukturelle Be¬ ziehung zwischen Geisteskrankheit und schwarzer Hautfarbe dagegen ist weit äl¬ ter.

IV. Wahnsinn und schwarze Hautfarbe Einer der Kernpunkte in der Iwainlegende ist der Bruch des Versprechens, das

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Iwain seiner Frau Alundyne gab, nämlich nach einem Jahr zu ihr zurückzukehren. Nach Ablauf dieses Jahres konfrontiert ihn Alundynes Magd und nimmt den Ring, den Alundyne ihm gegeben hatte, an sich. Diese Geste treibt Iwain in den Wahnsinn. In Hartmann von Aues deutscher Version (um ca. 1200) irrt ein wahn¬ sinniger Iwain durch die Wälder. Wo immer er auftaucht, weckt er Furcht: ,,Was weit ir dazu der tore tuo”, „Was soll der Tor tun?”29 Seine äußere Erscheinung gleicht immer mehr dem Bild des wahnsinngen Wilden: So blieb der Irrsinige Im Walde mit dieser Art Nahrung Bis der edle Narr Am ganzen Leibe Einem Mohren gleich wurde. [3345-3349] Aber nicht nur Iwain wird in seinem Wahnsinn als Mohr beschrieben. In Wimt von Grafenbergs Wigalois, ungefähr zehn Jahre nach Hartmanns Iwain geschrie¬ ben, konfrontiert ein Ungeheuer den Helden: Da kam der Ritter mit dem Rade Aus des Waldes Enge. Durchs dichte Unterholz zwängte er sich. Er nahm das Floß und zog es dorthin Wo er sein Pferd hatte stehen lassen. Nun gab es in seiner Nähe eine Höhle Aus der er ein Weib auf sich zulaufen sah, Ganz von schwarzer Farbe Und sie roch wie ein Bär.^0 Die Tierhaftigkeit des Wilden wird hier als schwarz und behaart beschrieben. Die¬ selbe Tradition findet sich im anonymen Wolfdietrich aus der Mitte des 13.Jahr¬ hunderts: Ein ungeschlachtes Weib, geboren von wilder Art Kam durch die Bäume auf ihn zu; Ein größeres Weib hat es nie gegeben. Da dachte der edle Ritter bei sich: O lieber Christ im Himmel, hab mich in deiner Hut. Zwei unfüge Brüste an ihrem Leib sie trug ‘Wem du nur wirst zuteile’, so sprach der Ritter klug, ‘Der hat des Teufels Mutter, das mag ich wohl sagen’. Ihr Leib der war geschaffen, noch schwärzer als ein Stück Kohle Ihre Nase reichte unters Kinn; lang und schwarz, so war ihr Haar.^

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Die Beziehung zwischen schwarzer Hautfarbe und Wildheit oder Wahnsinn scheint, zumindest im deutschen Epos, ein Gemeinplatz zu sein.32 Richard Bemheimer hat in seinem Standardwerk über den Wilden bemerkt: „In Klammem muß hin¬ zugefügt werden, daß die Autoren der Epen Behaartheit nicht notwendigerweise als Symptom einer durch Geisteskrankheit hervorgerufenen Wildheit betrachten; es genügt ihnen, die totale Verwirrung des Opfers zu beschreiben, oder es zum Zeichen seines dämonischen Zustandes gänzlich schwarz werden zu lassen.”33 Die Assoziation von Wahnsinn mit der Behaartheit des wahnsinnigen Nebukadnezar ist eine klare biblische Parallele. Dennoch argumentiert Bemheimer, daß die Assoziation zwischen Hautfarbe und Wahnsinn — erworben (wie im Iwain) oder inhärent (wie im Wigalois und Wolfdietrich) — einfach dämonische Beses¬ senheit mit Wahnsinn gleichsetzt. Weitere Klärung dieser Parallele ist in der Dar¬ stellung schwarzer Hautfarbe als ästhetisches Konzept in der Bibel zu finden.

V. Der historische Kontext Die den Abstraktionen von schwarzer Hautfarbe und Wahnsinn inhärenten Asso¬ ziationen gehen über eine einfache Abstemplung des Schwarzen als Wildem hin¬ aus. Solche simplifizierten Parallelen, wie z.B. Duarte Pacheo Pereiras aus dem Jahre 1505, der die Eingeborenen Westafrikas als Wilde abstempelte, bringen das Argument ebenso wenig weiter wie die Präsentierung eines negativen Bildes vom Schwarzen in Kontrast zu den positiven Wohltaten der Zivilisation.34 Die Ver¬ kettung der Abstraktionen von Wahnsinn und Hautfarbe ist weit komplexer. In den biblischen Diskussionen schwarzer Hautfarbe33 und ihren Exegesen im Mittelalter nimmt ein Text eine zentrale Stellung ein. Es ist die Anfangspassage des Hohen Lieds „Nigra sum sed formosa (Schwarz bin ich aber schön].” Diese Passage hat, mehr als die Diskussion unter den Söhnen Noahs3® über die Entste¬ hung der Rassen den Kommentatoren eine Basis für ihre Diskussion über schwar¬ ze Hautfarbe zur Verfügung gestellt. Ein selbst kursorischer Überblick über die mittelalterlichen Interpretationen die¬ ser Passage müßte zumindest dreißig Kommentare heranziehen. Eine chronologi¬ sche Untersuchung dieser Interpretationen läßt ein bestimmtes Muster erkennen, das zur historischen Entwicklung der Interpretation des Hohen Liedes eine Paral¬ lele aufweist.37 Hippolytos, einer der frühesten Exegeten (ca. 170-236) und Theologen der römischen Kirche, sah gemäß einem armenischen Fragment seines verlorenen Kommentars zum Hohen Lied, in der schwarzen Hautfarbe der Sulamith ein einfaches und direktes Gleichnis für den Sündenfall des Menschen.3® Hippolytos, wie alle frühen Kommentatoren zugleich Jude und Christ, sah in die¬ sem ersten Dialog aus dem Hohen Lied eine Allegorie zur Beziehung zwischen Gott und der individuellen Seele. Die Gestalt der schwarzen Frau wird zur Alle¬ gorie der in Sünde gefallenen Seele, die aber noch errettet werden kann. „Ich bin schwarz,öfter schön.”

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Diese so einfache Interpretation legte das allegorische Fundament für eine kom¬ plizierte Darstellung, warum die Seele durch den Sündenfall schwarz wird. Schwarze Hautfarbe ist für Ambrosius (ca. 339-397) in seinem Kommentar zum Hohen Lied, aber noch deutlicher in seiner Rede De Isaac et anima [Über Isaak, oder Die Seele] eine Erklärung für den nach-paradiesischen Zustand der Seele: Und doch sagt eben diese Seele, wissend, daß sie durch ihre Vereini¬ gung mit dem Körper dunkel geworden, zu anderen Seelen oder je¬ nen Gewalten, die der Himmel zum heiligen Dienst eingesetzt hat: ‘Schau nicht auf mich, denn meine Haut ist dunkel, weil die Sonne nicht auf mich geblickt hat. Die Söhne meiner Mutter haben gegen mich gekämpft, das heißt die Leidenschaften des Leibes haben mich angefochten, und die Lockungen des Fleisches haben mir meine Far¬ be gegeben; die Sonne der Gerechtigkeit hat deshalb nicht auf mich geschienen. Ambrosius sieht den allegorischen Wert der Gestalt der Schwarzen im Hohen Lied als Indiz für die Dominanz des Physischen über das Spirituelle. Er artikuliert diese Dominanz basierend auf den medizinischen Vorstellungen der Griechen, wenn er von den Leidenschaften als den Determinanten des menschlichen Tem¬ peraments spricht. Seit dem Sündenfall ist die Seele ständig den Angriffen jener Kräfte ausgesetzt, die den Leib dominieren. Diese Kräfte sind die Temperamente. Sie geben durch ihre Präsenz der Seele Far¬ be. Wie allbeherrschend diese Sicht der schwarzen Hautfarbe ist, kann, zumindest zum Teil, an der berühmtesten Deutung des Hohen Lieds, der von Bernhard von Clairvaux (1090-1 153) ermessen werden. Im dritten Sermon spricht er auf die Passage „Nigra sum sed formosa” an: . . . geblendet vom ungewohnten Glanz der göttlichen Majestät mö¬ gen sie andererseits verdeckt sein von einer Wolke dichteren Dunkels. O, wer auch immer du bist, eine solche Seele zu haben, es möge dir jener Ort nicht gemein und verabscheuenswert erscheinen, jener Ort, wo die heilige Sünderin ihre Sünden abgelegt und das Kleid der Hei¬ ligkeit angelegt hat. Dort hat die Äthiopierin ihre Farbe verändert, wieder zum strahlenden Weiß ihrer langverlorenen Unschuld herge¬ stellt. Dann konnte sie jenen, die ihr mit Vorwurf begegneten, mit dem Worte antworten: ,,Schwarz bin ich, aber schön, o Töchter Je¬ rusalems. ” Wundert ihr euch durch welche Kunst sie dies vermocht hat, durch welches Verdienst sie dies erzielt? Vernehmt in wenigen Worten. Sie weinte bitterlich, und aus tiefstem Innern seufzend, von heilsamem Schluchzen geschüttelt, spie sie die giftigen Säfte aus. Der himmlische Arzt kam ihr eilig zu Hilfe: denn schnell eilt sein Wort. Denn ist nicht ein Heiltrunk das Wort Gottes? Ja fürwahr, stark und wirksam, und sucht sowohl Herz als auch Adern.40

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Bernhard sieht schwarze Hautfarbe als direkt vom Temperament verursacht. Christus’ traditionelle Rolle ist die des himmlischen Arztes, der die Sulamith heilt, da sie an einer Krankheit leidet. Aber ihre Krankheit, jene Krankheit, die vom Temperament verursacht ist und die Farbe ihrer Haut bestimmt, ist nicht somatischer Natur. Es ist eine emotionale Krankheit, eine Krankheit, typifiziert durch dunkle Hautfarbe und Verzweiflung, zwei der Eigenschaften, die die Sula¬ mith im Hohen Lied charakterisieren. Hier läßt sich wieder an die Iwain-Legende anknüpfen. Penelope Doob beschreibt Iwains Wahnsinn als direktes Resultat sei¬ nes Schmerzes über seinen Wortbruch gegenüber seiner Frau: ,,‘For wa he wex al wilde and wode’ (1.1650). Medizinisch betrachtet bringt diese Leidenschaft ein Übermaß an Melancholie hervor und beraubt Iwain seiner Vernunft, worauf er — wie alle Melancholiker —, dem Anblick der Menschen durch seine Flucht in die Wälder zu entgehen sucht.”41 Trauer, Verzweiflung, Wahnsinn und schwarze Hautfarbe scheinen im Mittelalter unabänderlich miteinander verbunden. Hier in der Allegorie geht ‘schwarze Hautfarbe’ als Charakteristikum einer bestimmten Rasse in die Vorstellung von Melancholie, dem Exzess an schwarzer Galle, über. Die Verschmelzung der Begriffe ‘schwarze Hautfarbe’und ‘Wahnsinn’ wurzelt in der klassischen Medizin. Dem Melancholiker wird dunkles Aussehen nachgesagt ‘Facies nigra propter melancholiam’ [‘das Gesicht ist aufgrund von Melancholie schwarz’], sagt Ibn Ezra.4^ In dem klassischen Werk über griechische Physiogno¬ mik — lange Zeit Aristoteles zugeschrieben — erscheint das Bild des Melancholi¬ kers als das des Schwarzen: Warum sind manche Menschen liebenswert und lachen und scherzen, warum sind andere verdrießlich, mürrisch und deprimiert, andere wieder reizbar, gewalttätig und Wutanfällen zugeneigt, während an¬ dere träge, unentschlossen und schüchtern sind? Der Grund dafür hegt in den vier Temperamenten. Denn jene mit dem reinsten Blut sind liebenswürdig, lachen, scherzen und haben rosige, wohlgefärbte Körper; jene, die von gelber Galle dominiert sind, sind reizbar, heftig, kühn und haben helle, gelbliche Körper; jene, bei denen schwarze Galle vorherrscht, sind träge, scheu, kränklich und, hinsichtlich ihres Körpers, dunkelhäutig und schwarzhaarig; aber jene, bei denen das Phlegma dominiert, sind traurig, vergeßlich und, hinsichtlich ihres Körpers, sehr blaß 4 ^ Man muß jedoch eine wichtige Unterscheidung treffen. In demselben Text fin¬ den sich zwei Passagen, die den Äthiopier beschreiben. „Jene, die zu dunkelhäu¬ tig sind, sind feige; dies trifft auf Ägypter und Äthiopier zu. . . Jene mit sehr wolligem Haar sind feige; dies betrifft die Äthiopier.”44 Dunkle Hautfarbe, ob¬ wohl als Qualität angeführt, ist ein Attribut, das sich direkt auf das Individuum bezieht. Die Medizin der Griechen basierte auf einem ästhetischen Konzept, das die äußere Erscheinung des Geisteskranken als diagnostisches Mittel benutzte. Für Galen z.B. basierte der Prozeß, wie jene berühmte Flüssigkeit — schwarze

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Galle —, Melancholie verursachte, auf der Analogie zwischen schwarzer Hautfar¬ be und Dunkelheit: „Wie äußere Dunkelheit fast alle Menschen furchtsam macht . . . so verursacht die Farbe des schwarzen Temperaments Furcht, wenn seine Dunkelheit einen Schatten über die Region des Denkens [im Gehirn] wirft.” Die klassischen Physiognomiken hatten ihre eigenen negativen Stereotypen in Bezug auf die Äthiopier, aber die Konfusion hinsichtlich der beiden Typen, d.h. die von Rasse oder Temperament bedingte dunkle Hautfarbe kommt nicht vor. Das Pro¬ blem des Rassenunterschieds mag auf Klima oder beliebig viele andere Ursachen zurückgeführt werden, nie jedoch auf eine Verschmelzung von zwei unterschied¬ lichen Vorstellungen von dunkler Hautfarbe 4^ Die Trennung, die die griechische Medizin zwischen dunkler Hautfarbe und Wahnsinn macht, repräsentiert die Phase vor der Verschmelzung der beiden Ste¬ reotypen. Eine solche Verschmelzung war in der Welt der Griechen nicht mög¬ lich.4^ Der pragmatische Grund hierfür war die Präsenz von Schwarzen in der täglichen Erfahrung der Menschen der klassischen Welt. Die reale Präsenz von In¬ dividuen, nicht abstrakter Vorstellungen, lieferte der Maßstab, mit dem jede Generalisierung gemessen werden konnte. Im Mittelalter, im Lichte der Dissozia¬ tion des Schwarzen von jeder Beziehung zu tatsächlichen Individuen, wie die In¬ terpretationen des Hohen Lieds deutlich machen, tritt Abstraktion anstelle von Realität. Schwarze haben an der täglichen Erfahrung von Europäern nur noch durch die Welt des Mythos teil.4^ In dieser Schattenwelt einer Fata Morgana vollzieht sich die Assoziation der Vorstellungen von Dunkelhäutig und Wahnsinn auf der Ebene mystischer Abstraktion. Sobald diese Verschmelzung vollzogen ist, sobald der visuelle Aspekt von Dunkelhäutigkeit mit dem medizinischen Be¬ griff der Melancholie identifiziert wird, werden sie untrennbar miteinander ver¬ bunden.4® Diese Verflechtung wird dadurch verstärkt, daß jedes Mittel fehlt, die Richtigkeit der Mythischen Referenzen zu prüfen.

VI. Zusammenfassung Der diachronische Rückblick läßt die besondere Beziehung zwischen Dunkel¬ häutigkeit und Wahnsinn als das Produkt der Mythologisierung sowohl des Schwarzen als auch des Geisteskranken erscheine. Es ist die Vereinigung von zwei Abstraktionen. Mit Hilfe beider manifestieren sich die Projektionen der Ängste der westlichen Zivilisation. Daß diese Ängste sowohl auf den Geisteskran¬ ken als auch auf den Schwarzen projiziert werden konnten, macht die fehlende Differenzierung deutlich. Leslie Fiedler sieht in seinem brillianten Essay über Huckleberry Finn Jims Verkleidung als Hinweis auf den Archetyp des „Anderen als der attraktive Exote”: Unser dunkelhäutiger Geliebter wird uns ohne Groll und ohne die Beleidigung des Vergebens aufnehmen, so versichern wir uns selbst, wenn wir von allen anderen abgeschnitten sind oder uns selbst abge-

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schnitten haben. Er wird uns in seine Arme nehmen, ‘Liebling’ oder ‘Aikane’ sagen; er wird uns trösten, als wäre die Beleidigung, die wir ihm zugefügt haben, lange vergeben, wäre niemals wahr gewesen. Und doch können wir niemlas unsere Schuld ganz vergessen; die Ge¬ schichten die den Mythos verkörpern, dramatisieren geradezu zwin¬ gend die Rolle des Farbigen als Opfer. Danas Hope stirbt an der Sy¬ philis des weißen Mannes; Queequeg ist von Fieber gequält, eine sinnlose Episode, wenn nicht im Licht dieser Notwendigkeit gesehen; Cranes Neger ist bis zur Ungeheuerlichkeit verumstaltet; Coopers In¬ dianer verglimmt zu einem Alter ohne Hoffnung, im Bewußtsein des bevorstehenden Verschwindens seiner Rasse; Jim wird gezeigt, von Ketten niedergedrückt, von den hundert Quälereien geschwächt, die sich Tom im Namen der Dickköpfigkeit ausdenkt. Der ungeheure Strom der Schuld darf ebenso wenig gelindert werden wie die Ver¬ schiedenheit der Hautfarbe (Queequeg ist nicht nur braun, sondern auch ungeheuerlich tätowiert; Chigachgook ist entsetzlich in seiner Farbe, Jim ist als kranker, blau gefärbter Araber gezeigt), so daß die letzliche Versöhnung umso unglaublicher und zärtlicher erscheint. Der Archetyp versucht nicht, das Faktum unseres Frevels zu leug¬ nen, er stellt es als im Angesicht der Liebe bedeutungslos dar/*9 Jims Maskerade ordnet ihn jener speziellen Untergruppe des Exoten zu, der auch Joseph Conrads Jimmy Wait angehört. Wie Jim in der zuvor diskutierten Passage, so vereinigt auch Wait die antithetischen Aspekte des Anderen, das Abstoßende und das Anziehende des Exotischen. Denn sowohl der Kranke als auch der Schwarze üben in der westlichen Kultur eine Faszination aus.50 In der Beobach¬ tung des Kranken, ebenso wie in der absoluten Dichotomie zwischen schwarz und weiß,51 schafft der Beobachter zwischen sich und dem Leidenden einen Ab¬ grund. Er projiziert seine eigene Gebrechlichkeit auf die, die er beim Anderen wahrnimmt. Aus dieser Perspektive betrachtet wird der Kranke gleichzeitig zum Diener und Herrn des Betrachters. Ihre Hilfsbedürftigkeit, eine Reflexion der Be¬ dürfnisse des Betrachters, ruft entweder samaritische Gefühle oder Furcht und Zurückweisung hervor. Auf Samaritertum stoßen wir in Hartmann’s Iwain, wo die Frauen, die ihn dunkelhäutig und nackt erkennen, in Tränen ausbrechen (1.3390) und es unternehmen, ihn zu retten. Iwains Errettung aus dem Wahnsinn wird, wie Jims Errettung aus der Sklaverei dadurch erreicht, daß der Andere als krank betrachtet wird. Twain perpetuiert mit Jims Verkleidung als geistesgestör¬ tem Schwarzen die Furcht, die er dem westlichen Denken zuschreibt (wie in Hank Morgans Supremat über die abergläubischen Bewohner des Artushofes), während bei Hartmann von der Aue der wirre Schwarze zum Gegenstand retten¬ der Sorge einer höfischen Gesellschaft wird. Hier wie dort sind ‘Archetypen’ vorhanden, um mit Fiedlers Begriff zu sprechen; aber beide sind lediglich Varian¬ ten derselben Grundstruktur. Die Verschmelzung der Begriffe Dunkelhäutigkeit und Wahnsinn reflektiert, obwohl anfänglich auf einer verständlichen Konfusion von Abstraktionen beruhend, die Vielgestaltigkeit des Anderen.

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ANMERKUNGEN

1

Für einen Überblick über die Literatur vgl. die ausführliche Bibliographie in Wolfgang Manz, Das Stereotyp: Zur Operationalisierung eines sozialwissen¬ schaftlichen Begriffs, (Meisenheim: Hain, 1968), pp. 399-412. Vgl. auch Manfred S. Fischer, „Komparatistische Imagologie: für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme”, Zeitschrift für Sozialpsychologie, 10(1979), pp. 30-44

2

Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, (Garden City, N.Y.: Doubleday, (1958), p. 364

3

Arrah B. Evarts, ,,Color Symbolism”, Psychoanalytic Review, 9 (1919), p. 156. Vgl. auch Richard Sterba, “Some Psychological Factors in Negro Race Hatred and Anti-Negro Riots”, Psychoanalysis and the Social Sciences (1), (1947), pp. 411-427

4

Evarts, p. 157

5

Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, (New York: Grove Press, 1967), p. 188. Weniger polemisch ist Urs Bitterli, Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’: Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, (München: C.H. Beck, 1976)

6

Bedeutend für die vorhegende Studie waren: Harold Beaver, „‘Run, Nigger, Run’: The Adventures of Huckleberry Finn as a Fugitive Slave Narrative,” Journal of American Studies, 8 (1974), 339-361; Arthur Gordon Pettit, Mark Twain, Southerner, and his Attitüde Toward the Negro, (Diss., Berke¬ ley, 1970); Arthur Gordon Pettit, „Mark Twain and dthe Negro, 1867-1869”, Journal of Negro History, 56 (1971), 88-96; Michael Egan, Mark Twain’s Huckleberry Finn: Race, Class and Society (London: Sussex University Press, 1977), bes. pp. 66-102

7

Alle Verweise auf den Text zitiert nach der Ausgabe von Sculley Bradley, Richmond Croom Beatty, E. Hudson Long, and Thomas Cooley, Hrsg., Ad¬ ventures of Huckleberry Finn (New York: W.W. Norton, 1977), hier p. 126

8

Vgl. Twains Essayband Is Shakespeare Dead? (New York: Harper Brothers, 1909). Twains lebenslanges Interesse am Exotischen und sein soziales Be¬ wußtsein sind dokumentiert in Philip S. Foner, Mark Twain: Social Critic (New York: International Publishers, 1958)

9

Mark Van

10

Richard Bernheimer, Wild Men in the Middle Ages: A Study in Art, Senti¬ ment, and Demonology (Cambridge: Harvard University Press, 1952), ist noch immer das Standardwerk zu diesem Thema

52

Doku,Shakespeare

(GardenCity, N.Y.: Doubleday, 1939), p. 210

11

Für eine illustrierte Geschichte des Themas vom Mittelalter bis Blake vgl. Bo Lindberg, „William Blake’s Nebuchadnezzar och Mänskodjuret”, Konsthistoriska stüdior, 1 (1974), 10-18

12

J. Huizinga, The Wanting of the Middle ylgej(Garden City.N.Y.: Doubleday, 1954), pp. 271-272. Ebenso J.P. Heather, „Color Symbolism”, Folklore, 59 (1948), 165-183; 60 (1949), 208-216, 266-276,316-331 und Don Cameron Allen, „Symbolic Color in the Literature of the English Renaissance”, Philological Quarterly, 15 (1936), 81-92

13

Zur Bedeutungsveränderung vgl. Oxford English Dictionary (‘moor’) und Grimm’s Wörterbuch (‘Mohr’ und ‘Neger’). Ebenso Lemuel A. Johnson, The Devil, The Gargoyle, and the Buffoon: The Negro as Metaphor in Western Literature (Port Washington, N.Y.: Kennikat Press, 1971) und Hans Bächtold-Stäubli, Hrsg., Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (Berlin: De Gruyter, 1934), 6,452-453

14

Daniel G. Hoffman, Form and Fable in American Fiction (1961, Kapitel 15, repr. in Bradley et al.), p. 434. Vgl. auch sein „Jims Magic: Black or White?” American Literature, 32 (1960), 47-54; Ray W. Frantz, Cr., „The Role of Folklore in Huckleberry Finn”, American Literature, 28 (1956), 314-327; und Victor Royce West, Folklore in the Works of Mark Twain, University of Nebraska Studies in Language and Literature, 10 (Lincoln: University of Nebraska, 1930). Zum allgemeinen Hintergrund vgl. Harry Levin, The Power of Blackness (New York: Random House, 1958), bes. pp. 245-246

15

Der Hintergrund dieses Problems ist angedeutet bei John S. Haller, Outcasts from Evolution: Scientific Attitudes of Racial Inferiority 1859-1900 (Urbana: University oflllionois Press, 1971), bes. pp. 40-69

16

Richard K. Cralle, ed., The Works of John Calhoun (New York: D. Apple¬ ton, 1974), 5,337-338

17

Die neueste und vollständigste Diskussion findet sich bei Gerald W. Grob, Edward Jarvis and the Medical World in Nineteenth Century America, (Knoxville: University of Tennessee Press, 1978), pp. 70-75. Vgl. auch Eric T. Carlson, „Nineteenth Century Insanity and Poverty”, Bulletin of the New York Academy of Medicine, 48 (1972), 539-544 hinsichtlich Daten über frühere statistische Untersuchungen zu Geisteskrankheit. Carlson läßt die Parkman-Untersuchung über Geisteskrankheit, die 1817 in Massachusetts unternommen wurde, unerwähnt.

18

Andere Reaktionen auf den Zensus in C.B. Hayden, „On the Distribution of Insanity in the United States”, Southern Literary Messenger, 10( 1844), 180; Samuel Forrey, „Vital Statistics Furnished by the Sixth Census of the United States, Bearing Upon the Question of the Unity of the Human Reace, and On the Relative Proportion of Centenarians, if Deaf and Dumb, of Blind, and of Insane, in the Races of European and African Origen, as Shown by

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the Census of the United States”, New York Journal of Medicine and the Collateral Sciences, 1 (1843), 15 1 -167 und 2 (1844), 310-320 19

„Startling Facts from the Census”, American Journal of Insanity, 8 (1851), 154, repr. aus dem New York Observer. Jarvis sofortige Erwiderung war „Insanity Among the Coloured Population of the Free States”, American Journal of Insanity, 8 (1885), 268-282

20

„Report on the Diseases and Physical Peculiarities of the Negro Race, (Part 1], New Orleans Medical and Surgical Journal (1851), 692-713. Cartwrights Ansichten wurden bald zum Gegenstand häufiger Debatten. Vgl. sei¬ nen Brief zu diesem Thema an Daniel Webster in DeBow’s Review, 11(1951), 184-187. Zu Cartwright vgl. James Denny Guillory, „The Pro-Slavery Argu¬ ments of Dr. Samuel A. Cartwright”, Louisiana History, 9 (1968), 209-227; Thomas S. Szasz, „The Sane Slave: An Historical Note on the Use of Medical Diagnosis as Justificatory Rhetoric”, American Journal of Psychotherapy, 25 (1971), 228-239 und sein „The Negro in Psychiatry: An Historical Note on Psychiatric Thetoric”, American Journal of Psychotherapy, 25 (1971), 469-471

21

Zitiert nach Szasz, pp. 233-234

22

J.B. Andrews, „The Distribution and Care of the Insanein the United States”, Transactions of the Intrenational Medical Congress, Ninth Session (1887), 5, 226-237, zitiert nach George Rosen,Madness in Society: Chapters in the Historical Sociology of Mental Illness (Chicago: University of Chicago Press, 1968), pp. 190-191.

23

J.F. Miller, „The Effects of Emancipation upon the Mental and Physical Qualifications of the Negro in South”, North Carolina Medical Journal, 38 (1896), 287, zitiert nach Haller, p. 45

24

Zitiert nach Henry M. Hurd, ed., The Institutional Care of the Insane in the United States and Canada, (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1916), pp. 372-373

25

Hurd, p. 376

26

Benjamin Pasamanick, „Myths Regarding Prevalence of Mental Disease in the American Negro: A Century of Misuse of Mental Hospital Data and Some New Findings”, Journal of the National Medical Association, 56 (1964), 17. Vgl. auch William D. Postell, „Mental Health among the Slave Population on Southern Plantations”, American Journal of Psychiatry, 1 10 (1953), 52-54

27

Pasamanick, p. 6

28

Peter L. Thorslev, Jr„ The Wild Man’s Revenge, in The Wild Man Within: An Image from the Renaissance to Romanticism, ed. Edward Dudley und Maximillian E. Novak (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1972), 298-299

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29

Alle Zitate nach der Ausgabe von Ernst Schwarz (Darmstadt: Wissenschaftli¬ che Buchgesellschaft, 1967), hier 1.3309. Ein Überblick über die Literatur bei Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, Sammlung Metzler, 17 (Stuttgart: Metzler, 1967). Eine philologische Einführung zur Komplexität dieser Frage bei Francis B. Gummere, „On the Symbolic Use of the Colors Black and White in Germanic Tradition”, Haverford College Studies, 1 (1889), 1 12-162

30

Zitiert nach J.M.N. Kapteyn, Hrsg., Wimt von Gravenberc, Wigalois der Rit¬ ter mit dem Rade, Rheinische Beiträge und Hilfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde, 9 (Bonn: Fritz Klopp, 1926), 1 1,6279-6291

31

Zitiert nach Justus Lunzer Edlervon Lindhausen, Hrsg.,Orneit und Wolfdiet¬ rich nach der Wiener Piaristenhandschrift, Bibliothek des Literarischen Ver¬ eins, 239 (Tübingen: Literarischer Verein, 1906), vers 1352-1354. Zur Dis¬ kussion dieser Passage vgl. auch Hermann Schneider, Die Gedichte und die Sage von Wolfdietrich (München: Beck, 1913), pp. 266-267

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Eine der erstaunlichsten Darstellungen der Gestalt des Schwarzen in der deutschen Literatur des Mittelalters ist der vielfarbige Feirefiz, Parzifals Halbbruder, der Sohn einer schwarzen Heidin und eines christlichen Ritters. Es ist offensichtlich, daß diese Figur das Verschmelzen von zwei Stereoty¬ pen darstellt, des Schwarzen und des Heiden. Diese Gestalt und ihre Farbe mag eher eine islamische als eine abendländische Tradition reflektieren. Zum Hintergrund dieser Verschmelzung mittelalterlichen christlichen Glaubens vgl. Marilyn Robinson Waldman, „The Development of the Concept of Kufr in the Qur’an”, Journal of the American Oriental Society, 88 (1968), 442455 und Bemard Lewis, Race and Color in Islam (New York: Harper and Row, 1871)

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Bemheimer, p. 15

34

Zitiert nach Margaret T. Hodgen, Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1964), p. 362. Vgl. auch Marvin Harris, The Rise of Anthropological Theory (New York: Thomas Y. Crowell, 1968), bes. pp. 8-52, und Bede Jarrett, Social Theories of the Middle Ages (1926; repr. New York: Ungar, 1966), bes. pp. 94-121

35

Vgl. Alfred Dunston, Jr., The Black Man in the Old Testament and Its World (Philadelphia: Dorrance, 1974)

36

Vgl. Winthrop D. Jordan, White over Black: American Attitudes Toward the Negro, 1550-1812 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1968), p. 16, und Joel Kovel, WhiteRacism: A Psychohistory (New York: Pantheon, 1970), pp. 63-64. Vgl. auch David Brion Davis, The Problem of Slavery in the Age of Revolution 1770-1823 (Ithaca: Comell University Press, 1975), pp.523-556

37

Nach der Interpretation von Friedrich Ohly, Hohelied-Studien: Grundzüge

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einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 (Wies¬ baden: Steiner, 1958). Der Einfachheit halber beziehen sich alle Hinweise auf Kommentare auf den Patrologiae Cursus Completus: Series Latina (PL), ed. J.P. Minge, 221 vols (Paris, 1844-1864), sofern Texte vorhanden. Der Index (PL 219, vols. 107-108) verzeichnet allein 30 Kommentare zum Ho¬ henlied; andere Interpretationen zu diesem Abschnitt finden sich in anderen Exegesen. Für eine allgemeine Zusammenfassung der umfangreichen mittel¬ alterlichen Interpretationen dieses Textes vgl. Cornelius a Lapide, Commentarius in Scipturam Sacram (Paris: Ludovicus vives, 1868), 7, 492-496 38

G.N. Bonwetsch und Hans Achelis, Hrsg., Hippolytus: Werke I. Die griechi¬ schen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte (Leipzig: J.C. Hinrich, 1897), p. 359

39

Eadem tarnen anima cognoscens se corporis societate fuscatam, dicit ad alias animae vel ad illas coelestes et appositas sacro ministerio potestates: Nolite aspicere me quod obfuscata sum; quoniam non est intuitus me sol. Filii matris meae pugnaverunt adversum me, hoc est, camis illecebrae coloraverunt; ideo mihi sol jusititiae non refulsit. PL. 14, 508.

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. . . atque insolitis reverberata spendoribus majestatis, densioris rursum caecitate caliginis obvolvatur. Non tibi o quecunque es talis anima, non tibi ille locus vilis aut despicabilis videatur, ubi sanctapeccatrixpeccata deposuit, induit sanctitatem. Ibi Aethiopissa mutavit pellem, et in novum restituta candorem, iam tune fiducialiter veraciterque respondebat exprobantibus sibi verbum: Nigra sum, sed formosa, filiae Jerusalem. Miraris quanam id arte potuerit, vel quibus obtinuerit meritis? Paucis accipe. Fleuvit amare, et de intimis visceribus longa suspiria trahens, salutaribus intra se succussa singultibus, felleos humores evomuit. Coelestis medicus celerrime subvenit: quia velociter currit sermo eius. Nunquid non potio est sermo Dei? Est ubique, et fortis et vehemens, et scrutans corda et renes. PL. 183, 794-795

41

Penelope B.R. Doob, Nebuchadnezzar ’s Children: Conventions of Madness in Middle English Literature (New Haven: Yale University Press, 1974), p. 140

42

Die klassische Diskussion in Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn and Melancholy: Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art (London: Nelson, 1964), pp. 289-290

43

Zitiert nach Klibansky, et al., p. 59. Vgl. Lynn Thorndike, ,,De Complexionibus”, Isis, 49 (1958), 404 und die Referenz auf den luteique coloris des Me¬ lancholikers. Grundlegend ist die Einführung in die Geschichte der klassi¬ schen Physiognomik von Elizabeth C. Evans, Physiognomics in the Ancient World, Transactions of the American Philosophical Society, NS 59, pt. 5 (Philadelphia: American Philosophical Society, 1969), bes. p. 29. Neuere

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Untersuchungen zu diesem Thema in der Literatur sind Helen WatanabeO’Kelly, Melancholie und die melancholische Landschaft, ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 1 7. Jahrhunderts (Bern: Lang, 1978) und Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung: Melancholie und ihre Kritiker in Er¬ fahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhundert (Stuttgart: Metzler, 1975) 44

Zitiert nach der Ausgabe und Übersetzung von W.S. Hett, Aristotle: Minor Works (Cambridge: Harvard University Press, 1936), pp. 125, 127 und 131. Vgl. Thomdike, p. 402

45

Zur Diskussion des Wandels im Bild des Schwarzen im Mittelalter vgl. Jean Vercoutter, et al., The Image of the Bläck in Western Art (New York: Wil¬ liam Morrow, 1976 ff.). Galen ist nach folgenden Übersetzungen zitiert: Rudolf E. Siegel, Trans., Galen: On the Affected Parts (Basel: Karger, 1976) , p. 93. Vgl. auch Stanley W. Jackson, „Galen — On Mental Disorders”, Journal of the History of Behavioral Sciences, 5 (1969), p. 375

46

Vgl. Frank M. Snowden, Jr., Blacks in Antiquity: Ethiopians in the GrecoRoman Experience (Cambridge: Harvard University Press, 1970) und Ben¬ jamin N. Azikiwe, „The NegroinGreekMythology”, Crisis, 41 (1934), 65-66

47

Eine parallele Ansicht zur Perzeption der Welt durch den Schwarzen findet sich bei Witelo, dem Mönch, 13. Jahrhundert, der sein Kapitel über ästheti¬ sche Wahrnehmung mit den unterschiedlichen ästhetischen Normen von Schwarzen und Nordeuropäem belegt: alios enim colores et proportiones partium corporis humani et picturarum approbat Maurus, et alios Danus, et inter haec extrema et ipsis proxima Germanus approbat medios colores et corporis proceritates et mores: et sicut unicuique suus proprius mos est, sic et propria aestimatio pulchritudinis accidit unicuique. Denn der Moor begünstigt andere Farben und Proportionen der Körperteile des Menschen und ihrer Abbildung; aber der Däne wieder andere. Zwischen diesen Extremen favorisiert der Germane mittlere Farben, Körpergröße und Sitten. So erachtet ein jeder das als schön, was er als angemessen erachtet. (Alessandro Parronchi, ed., Vitellione, Teorema della belleza (Milano: All’ insegna del pesce d’oro, 1967), p. 25

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Die Assoziation von schwarzer Hautfarbe und Krankheit taucht noch oft auf. Robert Burton glaubt, daß schlechte Luft eine Ursache für Melancholie unter Afrikanern sein kann, da „heiße Länder sehr häufig von Melancholie heimgesucht sind.” (The Anatomy of Melancholy, ed. Holbrook Jackson [London: J.M. Dent, 1932], 1,237-238). Benjamin Rush sieht die Hautfar¬ be der Schwarzen als Ergebnis einer bestimmten Art von Lepra; wieder wird schwarze Hautfarbe mit Krankheit gleichgesetzt. Vgl. Donald J. D’Elia, „Dr.

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Benjamin Rush and the Negro", Journal of the History of Ideas, 30(1969), 413-422; Howard Feinstein, „Benjamin Rush, A Child of Light for the Children of Darkness”, The Psychoanalytic Review, 58 (1971), 209-222; und B.L. Plummer, „Benjamin Rush and the Negro”, American Journal of Psychiatry, 127 (1970), 793-798 49

Leslie Fiedler, „Come Back to the Raft Ag’in, Huck Honey”, Partisan Re¬ view (1948), repr. in Bradley, et al. p. 420

50

Susan Sontag, Illness as Metaphor (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1977)

51

Harold R. Isaacs, „Blackness and Whiteness”, Encounter, 21 (1963), 8-21

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III DEN GEISTESKRANKEN SEHEN: HENRY MACKENZIE, HEINRICH VON KLEIST, WILLIAM JAMES Teil

I. Theoretische Vorbemerkungen Wie lernen wir sehen? Nach Oscar Wildes Auffassung wird die Welt durch das Prisma Kunst wahrge¬ nommen: ,,Äußere Natur imitiert Kunst. Die einzigen Eindrücke, die sie uns zei¬ gen kann, sind die Eindrücke, die wir bereits durch die Poesie oder in der Male¬ rei gesehen haben.”* Diese Ästhetik des Verständnisses, wie wir sehen lernen, er¬ scheint in unserer post-modernen Ära veraltet. Aber Wildes These verdient eine Neuuntersuchung. Der Fluß der Realität mit ihren Myriaden von unterschiedli¬ chen Formen kann nur auf der Basis eines präselektiven Modells wahrgenommen werden. Stephen Pepper nennt ein solches Modell eine Wurzelmetapher: Der Mensch, der die Welt verstehen will, sieht sich nach einem Schlüssel zu ihrem Verständnis um. Er verfällt auf irgendeinen, vom gesunden Menschenverstand als Faktum akzeptierten Bereich und versucht zu sehen, ob er mittels dieses Bereichs nicht noch andere verstehen kann. Dieser ursprüngliche Bereich wird dann zu einer Ba¬ sisanalogie oder Wurzelmetapher. Er beschreibt die Charakteristika dieses Bereichs so gut er kann, oder, wenn man so will, unterscheidet dessen Struktur. Eine Liste seiner strukturellen Charakteristika wird ihm zum Basiskonzept für Erklärung und Beschreibung. Wir nennen sie eine Menge von Kategorien. Anhand dieser Kategorien geht er da¬ zu über, alle anderen Faktenbereiche zu studieren, die entweder noch nie, oder bereits zuvor einer Kritik unterzogen worden sind. Er unternimmt es, alle Fakten im Sinne dieser Kategorien zu interpre¬ tieren. Als Ergebnis des Einflusses dieser anderen Fakten auf seine Kategorien modifiziert oder orientiert er diese Kategorien möglicher¬ weise neu, so daß eine Menge von Kategorien sich im allgemeinen verändert und weiterentwickelt.^ Weder das Konzept der Wurzelmetapher noch dessen Anwendung muß jedoch notwendigerweise richtig sein. Perzeption erlernen wir innerhalb historisch de¬ terminierter Mengen von gleichzeitig wirkenden Wurzelmethaphern. Oft wider¬ sprechen oder ergänzen sie einander und sind so für unsere einzigartige Perzep¬ tion von Welt verantwortlich.

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Um sowohl die historische Veränderung als auch den einzigartigen Individuali¬ sierungsprozeß bei der Perzeption von Welt zu zeigen, wurde eine Serie von Tex¬ ten ausgewählt, die zeitlich beinahe zweieinhalb Jahrhunderte umfassen. Diese Texte spiegeln alle die subtile Interaktion zwischen historischen Modellen und persönlicher Perspektive am Beispiel eines spezifischen Moments wider: der Kon¬ frontation des Autors mit Wahnsinn. Die Texte sind hinsichtlich ihrer Gattung ebenso verschieden wie hinsichtlich ihres Entstehungsdatums: Henry Mackenzies sentimentaler Roman The Man of Feeling von 1771, Heinrich von Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge von Mitte September 1800 und William James’ GiffordVorlesungen über Naturreligion, die er 1901 an der Universität von Edinburgh hielt und unter dem Titel The Varieties of Religious Experience veröffentlicht wurden. Diese Werke schildern individuelle Konfrontationen mit dem Bild des Geisteskranken, durch spezifische Wurzelmetaphern wahrgenommen. Jeder Text zeigt die individuelle Handhabung solcher Wurzelmetaphem und wie sie die Er¬ fahrung und deren Ausdruck in literarischer Form prägt. Die Verschiedenartig¬ keit der Texte trägt zum Verständnis der Funktion einer solchen Sicht des Gei¬ steskranken in den letzten beiden Jahrhunderten bei.

II. Henry Mackenzie Harley, der sentimentale Held in Henry Mackenzies Roman The Man of Feeling, wird von einem Bekannten zum Besuch eines jener Sehenswürdigkeiten genann¬ ten Dinge in London überredet, „die jeder Fremde zu sehen angeblich begierig ist”,^ gemeint ist die Irrenanstalt, die offiziell Bethlehem Royal Hospital heißt, aber besser als Bedlam bekannt ist. Nach anfänglichen humanen Einwänden dage¬ gen, „das größte Elend, von dem unsere Natur betroffen werden kann, jedem müßigen Besucher, der ein kleines Trinkgeld für den Aufseher erübrigen kann” zur Schau zu stellen, begleitet er seinen Freund „und die übrigen Personen der Gesellschaft (darunter auch einige Damen)” zu der Irrenanstalt. Der Weg, den diese Gesellschaft durch die Irrenanstalt einschlägt, ist geprägt von den Insassen, die sie sehen. Zuerst werden sie zu den „trostlosen Bleiben derer” geführt, „die im entsetzlichsten Zustand unheilbaren Wahnsinns” sind. Hier „bil¬ deten das Klirren der Ketten, die Wildheit ihrer Schreie, die Verwünschungen, die manche von ihnen hervorstießen, eine unaussprechlich schockierende Szene.” Die Gesellschaft ist entsetzt und möchte fliehen, sehr zum Leidwesen ihres Füh¬ rers, der ihnen noch Patienten vorführen möchte, „die, wie er es in der Redensart von Leuten, die wilde Tiere zu Ausstellungszwecken halten, darlegte, viel sehens¬ werter wären, als alles, was sie bisher gesehen hatten. . .” Die Gruppe ging dann zu jenem Teil der Irrenanstalt, der etwas abgesetzt war für solche Patienten, „die weder für sich selbst noch für andere eine Gefahr darstel¬ len”, und Harley verläßt seine Gefährten, um auf eigene Faust die Insassen zu be¬ obachten. Zuerst sieht er einen Mann, der mit „Fadenstückchen Pendel macht”

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und „mit Kreide an der Wand ein Kreissegment. . markiert. Er ist ein Mathe¬ matiker, der bei dem Versuch, auf Newtons Annahmen basierend einen Plan der Kometenbahnen zu erstellen, verrückt geworden war. Er sieht dann eine Gestalt, die Zahlen auf eine Schiefertafel kritzelt. Er ist ein „der Armut und dem Wahn¬ sinn” verfallener Börsenspekulant. Ein Schulmeister „von einiger Reputation” fehlt in Mackenzies Bedlam ebenfalls nicht. Sein Geist verwirrte sich, als er ver¬ suchte, „die echte Aussprache der griechischen Vokale zu finden”. Im Frauenflügel schließt Harley sich wieder seinen Gefährten an, wo er „abge¬ sondert vom Rest. . . eine” Frau erspäht, „deren Erscheinung etwas von überle¬ gener Würde hatte.” Mackenzie widmet mehr als die Hälfte dieses Kapitels der Geschichte dieser melancholischen Gestalt. Von dem Mann ihrer wahren Liebe getrennt, der in die Karibik ging, um dort sein Glück zu suchen und starb, wurde sie beinahe gezwungen, „einen reichen Geizhals zu heiraten, der alt genug war, ihr Großvater zu sein.” So verfiel sie dem Wahnsinn. Harley, der sich mit dem armen, wahnsinnigen Mädchen unterhält, verläßt sie „in Erstaunen und Mitleid! ... Er gab dem Mann ein paar Guineas in die Hand: ‘Sei gut mit dieser Unglück¬ lichen’ — Er brach in Tränen aus und verließ sie.” Mackenzies Bild von Bedlam steht recht klar innerhalb der traditionellen Gren¬ zen des Verständnisses von Geisteskrankheit im 18. Jahrhundert. Wahnsinn ist das Produkt angeborener Unfähigkeit, mit den Wechselfällen des Lebens fertig zu werden. Darüber hinaus aber bietet Mackenzie seinem Leser ein Modell, den Gei¬ steskranken zu sehen. Der anfängliche Kontakt ist vage, distanziert, nicht wirk¬ lich beschreibend, eher die Reaktion der Beobachter widergebend. Die zweite Ebene ist detaillierter, eine gedrängte Beschreibung der Geschichte und des ge¬ genwärtigen Zustands des Wissenschaftlers, des Spekulanten und des Schulmei¬ sters. Die detaillierteste Darstellung, die der melancholischen Liebenden, steht am Ende des Kapitels. Mackenzie wendet ein spezifisch visuelles Modell für sein Portrait von Bedlam an, ein dreigeteiltes, das, wie der literarische Sketch in The Man of Feeling, eine moralische Lektion in sich trägt. 1735 veröffentlichte William Hogarth seine Serie „A Rake’s Progress”. Diese Se¬ quenz von acht Tafeln war so populär, daß 1763 eine umgearbeitete Version neu herausgegeben wurde, deren letzte Tafel die einflußreichste Bilddarstellung einer Irrenanstalt und ihrer Insassen in der europäischen Kunst des 18. Jahrhunderts ist.4 Sie stellt eine Auswahl von Anstaltsinsassen dar, darunter den irren Wissen¬ schaftler, der Längengrade auf die Wand abbildet, einen wahnsinnigen Astrono¬ men, der den Himmel durch ein Rohr observiert, einen geisteskranken Schnei¬ der, den sein Stolz zum Wahnsinn gebracht hat. Die Dynamik innerhalb der Ta¬ fel, die den Höhepunkt von Rakewells Degenerierung darstellt, geht von den dunklen Zellen am oberen Rand zurück zu der hingestreckten Gestalt Rakewells im Vordergrund. Auch hier erscheinen die Gestalten der weiblichen Besucher, die so willkürlich in Mackenzies Bild von Bedlam eingeführt worden waren. Hogarths Einfluß auf Mackenzies Bedlam-Beschreibung ist an sich nicht unerwar¬ tet. In „The Legion Club” (1736) hatte Swift, was man als Hogarth’sche Tech-

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nik bezeichnen könnte, in seiner Analogie zu einem Irrenhaus verwendet, unter direkter Bezugnahme auf Hogarth’ Tafelt Mackenzie gelingt es, sowohl die bild¬ liche Darstellung von Hogarths Bedlam als auch ihre moralische Botschaft in eine Fiktion vom Geisteskranken zu transponieren. Hogarth unterstrich seine Botschaft mit einem Gedicht unter der Tafel, das mit der Strophe endete: O Eitelkeit des Alters! Sieh hier Das Mal des Himmels ausgelöscht von dir — Der eigensinnige Lauf der Jugend vergeht so, welch Trost von diesem geliebten Sohn! Seine klirrenden Ketten höre mit Entsetzen Hab vor Augen den Tod, zupackend mit Verzweiflung; Sieh ihn, von dir zum Untergang verkauft. Und Fluch dir selbst, und Fluch deinem Gold.^ Auflösung ist hier mit Wahnsinn bestraft. In Mackenzies Portrait von dem jungen Mädchen, das durch das widernatürliche Verlangen seines Vaters zum Wahnsinn getrieben wurde, resultiert Wahnsinn aus einem ähnlichen Bruch der natürlichen Ordnung. Rakewells Wahnsinn jedoch ist seine Bestrafung; der Wahnsinn des Mädchens seine Flucht. Ihr Vater jedoch wird bestraft: „Gott aber wollte solche Grausamkeit nicht begünstigen; die Angelegenheiten ihres Vaters gingen bald dar¬ auf ihrem Ruin entgegen und er starb, beinahe ein Bettler.” Sowohl der Künstler als auch der Schriftsteller legen ihr moralisches Anliegen offen dar. Die Fiktio¬ nen unterscheiden sich, ihre Darstellungen sind identisch. Jede ist von vergleich¬ baren Charaktertypen umgeben, um ein Gefühl für die Welt der Anstalt zu ver¬ mitteln. Bei beiden liegt ein Eindringen des Beobachters vor, der die Ereignisse sieht. Er sieht außerdem die anderen Beobachter (die weiblichen Besucher), di¬ stanziert sich aber von deren Neugier. Auf der Bildtafel sieht er durch das Auge des Künstlers, seine Stimme ist die des moralischen Gedichts unter der Tafel; im Roman sieht er mit den Augen des sentimentalen Helden. Im Gegensatz zu der moralischen Entrüstung in der Reaktion des frühen 18. Jahrhunderts ist Harleys Reaktion die eines Mannes von Gefühl: er bricht in Tränen aus und verläßt die Anstalt.

III. Heinrich von Kleist Im Herbst des Jahres 1800 reiste der junge Heinrich von Kleist nach Würzburg.^ Zwei Tage nach seiner Ankunft besuchte er das Julius-Hospital, eine Anstalt, die vom Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn im Jahre 1576 gegründet wor¬ den war. Kleists Bericht über seinen Rundgang durch die Anstalt beginnt mit einer Beschreibung der Baulichkeiten, sein Interesse und sein Auge wenden sich

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aber bald den Insassen zu. Die ersten Patienten, die er beobachtete „. . . lagen übereinander, wie Klötze, ganz unempfindlich . . ”8 Sie waren ohne Gesichtszü¬ ge, Schatten, über die man sich fragen konnte, . . ob sie Menschen zu nennen wären.” Wie in Mackenzies Portrait der Anstalt nehmen auch Kleists Wahnsinnge in den Augen des Beobachters dreidimensionale Gestalt an, wenn tatsächlich einer der Patienten sich diesem nähert. Harleys Führer, der über andere Insassen vernünftig reden kann, der intelligent bemerken kann, daß „die Welt in den Augen eines Philosophen ein großes Irrenhaus genannt werden kann”, glaubt gleichzeitig, selbst der Khan der Tartaren zu sein. Bei Kleist ist es der verrückte Professor, der „. . . fragte so schnell und flüchtig und sprach ein so richtiges, zu¬ sammenhängendes Latein, daß wir im Ernste verlegen wurde um die Antwort wie vor einem gescheuten Manne.” Ein Gespenst in schwarzer Kutte, ein Mönch, der unter der Wahnvorstellung litt „. . . er habe das Wort Gottes verfälscht”, da er einmal während einer Predigt gemurmelt hatte. Auch hier finden wir einen Kauf¬ mann, „. . . der aus Verdruß und Stolz verrückt geworden weil, weil sein Vater das Adelsdiplom erhalten hatte, ohne [daß er] es auf den Sohn forterbte.” Aber diese Hintergrundsfiguren werden mit ein paar Zeilen abgetan. An zentraler Stelle in Kleists Portrait der Anstalt steht die letzte Gestalt, die „. . . ein unna¬ türliches Laster wahnsinnig gemacht hatte.” Kleist beschreibt mit bemerkens¬ werter Detailfreudigkeit: Ein 18jähriger Jüngling, der noch vor Kurzem blühend schön gewe¬ sen sein soll und noch Spuren davon an sich trug, hieng da über die unreinliche Öffnung, mit nackten, blassen, ausgedorrten Gliedern, und eingesenkter Brust, kraftlos niederhängendem Haupte, — Eine Röthe, matt und geadert, wie eines Schwindsüchtigen, war ihm über das Todtenweisse Antlitz gehaucht, kraftlos fiel ihm das Augenlid auf das sterbende, erlöschende Auge, wenige saftlose Greisenhaare deckten das frühgebleichte Haupt, trocken, durstig, lechzend hieng ihm die Zunge über die blasse, eingeschrumpfte Lippe, eingewunden und eingenäht lagen ihm die Hände auf dem Rücken — er hatte nicht das Vermögen die Zunge zur Rede zu bewegen, kaum die Kraft, den stechenden Athem zu schöpfen — nicht verrückt waren seine Ge¬ sichtsnerven aber matt, ganz entkräftet, nicht fähig seiner Seele zu gehorchen, sein ganzes Leben nichts als eine einzige, lähmende, ewige Ohnmacht — Kleists Reaktion auf dieses Bild ist ausgeprägt: O lieber tausend Tode, als ein einziges Leben wie dieses! So schreck¬ lich rächt die Natur den Frevel gegen ihren eigenen Willen! O weg mit diesem fürchterlichen Bilde — Kleists Schilderung des Julius-Hospitals ist dem visuellen Bild und der damit ver-

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bundenen Wurzelmetapher des Bildes vom Wahnsinnigen bei Hogarth und Mackenzie verpflichtet. The Man of Feeling war 1794 ins Deutsche übersetzt worden (mit weiteren Editionen und Übersetzungen in den Jahren 1802, 1803 und 1808). Hogarths unverminderte Popularität wird an der fortgesetzten post¬ humen Publikation von Lichtenbergs Kommentar deutlich. Lichtenbergs umfas¬ sende Interpretation der Bedlam-Szene in The Rake’s Progress erschien zuerst 1808. Während es nicht sicher ist, ob Kleist die Illustration oder den Roman überhaupt kannte, wird aus seinem Text deutlich, daß er diesem, aus dem 18. Jahrhundert datierenden visuellen Modell einer Anstalt ausgesetzt war. Sei¬ ne Beschreibung reflektiert somit die Gestalten und deren Anordnung, wie es in Hogarths Anstalt zu finden ist. Darüber hinaus reflektiert sie aber auch seine Wurzelmetapher, zu der Lichtenberg bemerkt: ,,In dem Mikrokosmos nämlich, worin er [RakewellJ hier versetzt ist, wird es ungefähr so gehalten, wie in dem ausgebreiteten Makrobedlam, der Welt selbst; es liegen nicht alle Narren an Ket¬ ten, und selbst die Ketten haben ihre Grade.”^ Die Sicht der Anstalt als Mikro¬ kosmos der rationalen Welt ist die äußere Struktur, nach der Kleist sein Verständ¬ nis vom Wahnsinnigen organisiert. Sie liefert ihm außerdem den Schlüssel dazu, Aspekte seiner persönlichen, ungelösten Kämpfe in die fiktionale Welt einer An¬ stalt zu transponieren, die als Metapher für die Welt dient. Kleist gibt der Funktion des visuellen Bildes der Anstalt eine über die des 18. Jahrhunderts hinausreichende Ausdehnung und Transzendenz. Obwohl er unter den tatsächlichen Anstaltsbewohnern Gestalten auswählt, um sie in seine Be¬ schreibung so einzuordnen, daß sie seine Vorstellung reflektieren, fügt er außer¬ dem ein neues Bild hinzu, eine neue Fiktion, erwartungsgemäß im Vordergrund des Modells. Alle Gestalten, die Kleist beschreibt, befanden sich um die Wende des 19. Jahrhunderts im Julius-Hospital, alle, mit Ausnahme der Gestalt des 18jährigen Jünglings.10 Obwohl deutlich wird, daß die Beschreibung des Jugendli¬ chen stark der Hogarth’sehen Darstellung des daniederliegenden Rakewell ver¬ pflichtet ist, gab Kleists Beschreibung seiner Krankheit und ihres Erscheinungsbil¬ des seinen Zeitgenossen einen spezifischen Schlüssel zu dieser Fiktion zur Hand. Während Rakewells Zustand das Resultat eines Lebens der Auflösung ist, ist Kleists Jugendlicher durch „ein unnatürliches Laster” in die Anstalt gebracht. Zum Verständnis dieses Hinweises und seiner Bedeutung in diesem Brief, muß man die Natur von Kleists Reise nach Würzburg verstehen. Kleist hatte seine Of¬ fiziersstelle in der preußischen Armee im April 1799 aufgegeben. Während der folgenden zwei Jahre verlobte er sich mit Wilhelmine von Zenge, unternahm die immer noch rätselhafte Reise nach Würzburg und beschloß, Schriftsteller zu wer¬ den. Elaborierte Theorien über den Beweggrund für die Reise nach Würz bürg sind vorgebracht worden, die meist irgendeine physische Krankheit zum Gegenstand hatten, die Kleist daran hinderte, in sexuelle Beziehungen zu seiner Verlobten zu treten.11 Die beste Erklärung für seine Würz burgreise ist jedoch von Heinz Politzer vorgeschlagen worden, der in der Reise das Mittel sieht, mit der Kleist seine Iden¬ titätskrise löste, die bei seinem Übergang von der Welt des Miütärs in die der Li-

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teraten entstanden war. Politzer übersah in seiner Analyse der Beschreibung des Julius-Hospitals jedoch einen zentralen Punkt, daß nämlich Kleist in dieser Be¬ schreibung sein erstes fiktionales Werk schafft. Für Politzer stellt die Beschreibung des Julius-Hospitals nichts anderes dar als: . . . Projektionen der Selbstvorwürfe, mit denen er sich kasteite. Das unnatürliche Laster des einen, diese Ohnmacht, die man wohl ins Lateinische übersetzen darf, nimmt den größten Platz ein und ist mit der äußersten Beteiligung vorgetragen. Womit immer sich diese Sym¬ pathie identifizieren mochte — ob mit Masturbation, Homosexuali¬ tät, oder einem uns unbekannten Dritten — sie galt einem, der sich gegen den Willen der Natur gewandt hatte und der sozusagen den Zu¬ stand Kleists vor der Reise nach Würz bürg repräsentierte. Hier führt der Versuch von Politzer, die Frage nach Kleists eigener Quelle seines Selbstzweifels zu umgehen, dazu, daß eines der stärksten Argumente zugunsten seiner These außer acht gelassen wird. Kleist beschreibt nämlich in seinem Por¬ trait des Jugendlichen einen Fall von durch Masturbation hervorgerufener Gei¬ steskrankheit, und die damit verbundenen Implikationen sind ein direkter Re¬ flex der Natur seiner Identitätskrise. Die Hypothese, daß Masturbation ein Grund, wenn nicht die Hauptursache für Geisteskrankheit war, wurde zuerst in dem anonymen englischen Traktat Onania; or, The Heinous Sin of Self-Polution verbreitet.Aber erst mit der Veröffent¬ lichung von Samuel Auguste Andre David Tissots L ’Onanisme, ou Dissertation physique surles maladies produites par la masturbation (1785 ins Deutsche über¬ setzt) wurde die Idee einer durch Masturbation verursachten Geisteskrankheit sowohl unter Laien als auch unter Medizinern zum Gemeinplatz. 1784 hatte Deutschlands meist respektierter Erzieher, Christian Gotthilf Salzmann, für ein breitestes Publikum seinen Aufsatz Über die heimlichen Sünden der Jugend ver¬ öffentlicht, der 1819 in seiner 4. Auflage erschien.* Mit Kleists Interesse an populären medizinischen und psychologischen Fragen ist es höchst wahrschein¬ lich, daß er den allgemeinen Tenor der Literatur über Geisteskrankheit ex onania kannte, entweder direkt oder indirekt.*4 Kleists Beschreibung des 18jährigen reflektiert mit all ihren Verästelungen das zeitgenössische Verständnis von durch Masturbation entstandener Geisteskrank¬ heit. Nach dem Verständnis des 18. Jahrunderts verschwendete Masturbation die vitale Substanz des natürlichen Geistes und führte so zum Wahnsinn. Benjamin Rush, die bedeutendste Gestalt in der amerikanischen Medizin des 19. Jahrhun¬ derts, berichtet 1812 die folgende Fallstudie: „A.B., 17 Jahre alt, kaltes, phleg¬ matisches Temperament, sitzende Lebensweise, lernbeflissen, ist in letzter Zeit als Folge davon, daß er dem einsamen Laster der Onanie frönte, schwer erkrankt. Sein Sehvermögen ist undeutlich, sein Gedächtnis sehr vermindert und erleidet nun stark an Muskelerschlaffung, Kräfte verfall, Auszehrung und Depression des

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Geistes.”*5 j.jne weitere Fallstudie aus dem Originaltraktat Onania, hier in der deutschen Übersetzung von 1765 zitiert, betont ebenfalls den paralytischen Ef¬ fekt von Masturbation: . . eine Woche darauf fühlte ich ein innerliches Zittern in meinen Nerven, und bisweilen eine rechte todte Empfindlichkeit in allen Glie¬ dern.”!6 Diese „Schwäche des ganzen Körpers” oder „Reizlosigkeit”!^, wie sie von G.W. Becker in seiner Verhütung und Heilung der Onanie mit allen ihren Folgen bey beyden Geschlechten aus dem Jahre 1803 beschrieben wird, führt „bey einigen. . . [zu] Ohnmächten und der hinfallenden Sucht. . .”1® Tatsächlich läßt schon die Behandlung des Patienten den Leser die Art seiner Krankheit ver¬ stehen. Total katatonisch, in Zwangskleidung eingenäht, die seine Hände auf den Rücken bindet, um weitere Masturbation zu verhindern, sitzt er auf einem ,ge¬ ruhiger”, ein Sitzmöbel, das unter anderem „. . . mit Hilfe eines verborgenen, halb mit Wasser gefüllten Stuhls, über dem er ständig sitzt, ihn vom Gestank und Schmutz seiner Leibesexkremente erleichtert.”!^ Letzteres wird von Kleist als die „unreinliche Öffnung” beschrieben. So verwendet Kleist die allgemein ver¬ standene Beschreibung einer Geisteskrankheit ex onania, um seine zentrale Fik¬ tion für seine Beschreibung des Julius-Huspitals zu schaffen. Kleist zieht das Bild des jungen Mannes heran, der, wie Voltaire den Masturbie¬ renden beschreibt, „. . . Verlust der Kräfte, Impotenz, Degenerierung des Magens und der Eingeweide, Zittern, Schwindel, Verblödung und oft einen frühen Tod”20 erleidet, in einem Briefwechsel mit seiner Verlobten. Es handelt sich hier um eine Korrespondenz, die zumindest teilweise in der doppelten Tradition der philosophischen und der Reiseepistel steht. Diese im 18. Jahrhundert so be¬ liebte Form der Fiktion legte den Schwerpunkt auf den didaktischen Aspekt der Prosa. Diese Sicht fügt sich gut in die didaktische Natur der Metapher von der Ir¬ renanstalt bei Hogarth und Mackenzie. Bis zu diesem Punkt bleibt Kleist Ver¬ wendung des Bildes von der Irrenanstalt innerhalb der Form der philosophischen Korrespondenz. Aber diese Korrespondenz stellt auch einen Briefwechsel zwi¬ schen zwei Liebhabern dar, von denen der eine von emotionalen Problemen ge¬ quält wird, die sowohl sein privates als auch sein öffentliches Leben betreffen. Wenn Kleists Angst vor der Aussicht auf eine, durch seine frühen sexuellen Prak¬ tiken herbeigeführte Geisteskrankheit herrührte, so hing sie auch eng mit seiner potentiellen Wahl einer Karriere zusammen. Während den Ursachen für Mastur¬ bation in den Studien des 18. Jahrhunderts wenig Raum eingeräumt wird, und die meisten Autoritäten jener Zeit einfach „. . . ärgerliche Bücher, böse Gesell¬ schaft, Romane und Liebes-Geschichten. . .”21 dafür verantwortlich machen, spezifiziert Becker seinen Vorwurf mehr: Es haben sich viele Schriftsteller, vorzüglich französische, die Mühe gegeben, alle Arten der physischen Wollust, der natürlichen und un¬ natürlichen, mit so reizenden Farben zu schildern, daß ihre Schriften von vielen, vorzüglich vornehm eizogenen und wohlhabenden Perso¬ nen beyderley Geschlechts gekauft und mit unglaublichem Eifer ge¬ lesen werden. Sie kitzeln ihre Phantasie und Einbildungskraft mit den

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üppigsten Darstellungen, die sie sich im Geiste ausmahlen, betrachten mit unverkennbarem Wohlgefallen die Kupfer, und halten sich wohl gar noch für überzeugt, daß diese Art, sich zu vergnügen, ohne Nach¬ theil für den Körper, und immer erlaubter sey, als die Befreidigung des Geschlechtstriebes ausser der Ehe.22 Somit ist die Lektüre von Fiktion die Hauptursache für Masturbation. Hier wird Kleists Dilemma deutlicher. Nachdem er seines früheren Kampfes gegen Mastur¬ bation Herr geworden war, aber noch immer von der Aussicht auf Geisteskrank¬ heit verfolgt wird, zieht er nun eine neue Karriere als Schriftsteller in Betracht. Fiktion als die Quelle des Masturbationsimpulses ist ebenfalls ein Element in der Wurzelmetapher von Geisteskrankheit, die er auf seine Realität anwandte. Schreiben ist irgendwie synonym für Wahnsinn. So entfernt er sich in der Kom¬ position seiner Beschreibung des Julius-Hospitals vom traditionellen didaktischen Modell und nähert sich einer Fiktion, die auf dem Modell von Geisteskrankheit ex onania basiert, und die er zur Austreibung des Gespensts seines eigenen Wahn¬ sinns verwendete. Die Schaffung einer Fiktion (hier die Gestalt des Jünglings) dient der Zerstörung einer Fiktion (der Koppelung von Wahnsinn und Schrift¬ stellerei). Die Veräußerlichung seiner Angst in der Fiktion des jungen Mannes zerstört die Furcht, indem sie sie greifbar, äußerlich macht. Kleists Horror am Ende der Beschreibung (,,0 lieber tausend Tode, als ein einziges Leben wie die¬ ses!”) stellt seine Reaktion auf die von ihm selbst geschaffene Fiktion dar. Die¬ se Passage endet mit dem Ausdruck des Bewußtseins, ein Kunstwerk geschaffen zu haben: „O weg mit diesem fürchterlichen Bilde —” Das Bild ist das von Hogarths Anstalt, modifiziert, um Kleists inneren Konflikt darzustellen. Der Akt des Schreibens bannt diese Furcht, indem sie sie auf verständliche Form redu¬ ziert. Kleists Erstfiktion resultiert für ihn in einer Reinigung von seiner Furcht. Mit dem Akt der schriftlichen Niederlegung seines ersten fiktiven Werkes erreicht er das erste Stadium seiner neuen Identität als Autor.

IV. William James Ungefähr hundert Jahre nach Kleists Besuch im Julius-Hospital hielt der amerika¬ nische Philosoph William James in Edinburgh, der Heimatstadt von Henry Mackenzie, seine Gifford-Vorlesungen über Naturreligion.23 James fügte eine breite Diskussion über die psychopathischen Aspekte des religiösen Erlebens ein. Es ist jedoch weniger seine Diskussion dieses Aspekts von Religion, die hiervon Interesse ist, als vielmehr seine Beispiele dazu. In dem „The sick soul” betitelten Abschnitt seiner Vorlesungen zitiert James ausführlich aus Tolstoi und Bunyan zur Beschreibung des melancholischen Geisteszustands. In der Conclusio dieses Kapitels in der gedruckten Version der Vorlesungen wird „die schlimmste Art von Melancholie” präsentiert, die „die Form panischer Angst annimmt.”2* Zur

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Illustration dieser äußersten Form der kranken Seele zitiert er ein ausführliches Beispiel: In diesem Zustand philosophischen Pessimismus und allgemeiner gei¬ stiger Depression über meine Zukunftsaussichten ging ich eines Abends in einen Ankleideraum, der in der Dämmerung lag, um einen Gegenstand zu besorgen, der sich dort befand; als plötzlich, ohne je¬ de Vorwarnung, gerade, als ob sie aus der Dunkelheit käme, eine furchtbare Angst vor meiner eigenen Existenz mich überfiel. Gleich¬ zeitig erhob sich vor meinen Augen das Bild eines epileptischen Pa¬ tienten, den ich in der Anstalt gesehen hatte, ein Jugendücher mit schwarzen Haaren und grünlicher Haut, vollkommen idiotisch, der gewöhnlich den ganzen Tag auf einer jener Bänke, oder besser gesagt jener Bretter, gegen die Wand gelehnt dasaß, die Knie unters Kinn ge¬ zogen und das grobe graue Unterhemd, das sein einziges Kleidungs¬ stück war, darübergezogen, so daß es seine ganze Gestalt umschloß. Er saß da, der Skulptur einer ägyptischen Katze vergleichbar, oder einer peruvianischen Mumie, nur seine schwarzen Augen bewegend und absolut nicht menschlich aussehend. Dieses Bild und meine Furcht gingen eine Art Verbindung miteinander ein. Diese Gestalt bin ich, fühlte ich, potentiell. Nichts, das ich besitze, kann mich ge¬ gen dieses Schicksal schützen, sollte mir die Stunde schlagen, wie sie ihm schlug. Da war ein solcher Horror vor ihm und eine so deutliche Wahrnehmung meiner eigenen, lediglich momentanen Verschieden¬ heit von ihm, daß es mir war, als ob etwas bis dahin Stabiles in mei¬ ner Brust vollkommen nachgab und ich zu einem Bündel zitternder Angst wurde. . . Die Passage beschreibt weiter, wie der Autor erst nach Monaten fähig war, seine Angst zu überwinden. Seine „Melancholie” hatte, dem Autor entsprechend, „eine religiöse Dimension”, und er war fähig, sie durch Festhalten an der Schrift zu überwinden. Die Quelle zu der Vision von dem geisteskranken Jüngling wird von James fol¬ genderweise angegeben: ,,Hier ist ein ausgezeichnetes Beispiel, für dessen Druck¬ erlaubnis ich dem Erduldenden zu danken habe. Das Original ist in Französisch, und obwohl der Betreffende offensichtlich in schlechter Nerven Verfassung war, als er dies schrieb, hat sein Fall andererseits das Verdienst extremer Einfachheit. Ich übersetze frei.” In der Tat, seine Übersetzung ist frei, denn ihr Autor ist niemand anders als William James selbst. Wie sich James’ Sohn erinnerte, hatte sein Vater erklärt, daß der Vorfall sich tatsächlich ihm selbst zugetragen hatte, und der Sohn datierte diese Vision auf Frühling 1870.2^ Die Vision des Wahnsinnigen hat innerhalb der Variety of Religious Experience eine spezifische Funktion. Als das Schlußbeispiel in James’ Diskussion der „kran-

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ken Seele” dient sie dem Autor dazu, „die Angst vor dem Universum” und „den wahren Kern des Religionsproblems: Hilfe! Hilfe!” dazulegen. Im Brennpunkt von James’ Hilferuf steht die Darstellung seiner eigenen Erfahrung. Aber die Ver¬ wendung von Fiktion als Ausdrucksmittel und ihre Form ist der Vision, die ge¬ wöhnlich mit „dem großen dorsalen Kollaps” vom Januar 1870 gleichgesetzt wird, nicht inhärent, wohl aber dem Modell von James.26 Innerhalb der fiktionalen Struktur, die das erfundene Zitat umgibt, finden sich zwei Hinweise auf Ursprung und Beschaffenheit der Modelle des Autors. Der erste Haupthinweis ist explizit. In einer Fußnote zu diesem Abschnitt bezieht sich William James auf die Arbeit seines eigenen Vaters, Society the Redeemed Form of Man, „für einen weiteren, ebenso plötzlichen Fall von Furcht. . .” Der ältere James gab einen Bericht einer halluzinatorischen Erfahrung von ihm in der Nähe von Windsor Castle, als William im Säuglingsalter war. Er erlebte seine Krisis nach einem „komfortablen Dinner” mit seiner Familie: Allem Anschein nach war es ein vollkommen wahnsinniger und höchster Terror, ohne ersichtli¬ chen Grund, und meiner verblüfften Vorstellung nach nur hervorgerufen durch irgendeine verdammte Gestalt, die, unsichtbar für mich, innerhalb der Grenzen dieses Raumes kauerte und von ihrer stinkenden Persönlichkeit Ausstrahlungen aussandte, die für Leben tötlich sind.27 Für den älteren James ist der Ursprung dieser Vision „der Fluch der Menschheit, der unser Menschsein so gering hält und so. . . den Sinn für das eigene Selbst pervertierte.” Dies manifestiert sich in der fruchtlosen Suche nach Wahrheit, und die Erfahrung des älteren James be¬ wies ihm, daß „Wahrheit sich selbst enthüllen muß, wollte sie erkannt werden. . . Denn Wahrheit ist Gott, der allwissende und allmächtige Gott, und wer mag vor¬ geben, diese große und anbetungswürdige Vollkommenheit zu verstehen?” Ohne die Swedenborg’sche Theologie seines Vaters zu beachten, verwendet William James die äußere Struktur dieser Erfahrung, wenn er kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts zurückschaut, um seine ungefähr dreißig Jahre früher gemachte Er¬ fahrung niederzulegen. Die allgemeine Struktur der beiden Passagen ist von be¬ merkenswerter Ähnlichkeit. Das Gefühl der Angst tritt plötzlich auf, es wird als Wesen verstanden, es zerstört jeden Gleichgewichtssinn und löst sich in einer Form religiösen Bewußtseins auf. Unterschiedlich aber ist das Spezifische dieser Vision. Die amorphe „verdammte Gestalt” nimmt für den jüngeren James in sei¬ ner Vision vom Wahnsinnigen fest umrissene Form an. Hier gewinnt die Frage nach dem zweiten Modell große Bedeutung. Wie sieht James den Geisteskranken? Denn sein Bild ist ganz anders als die Anstaltsszenen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit ihren Hogarth’schen Wur¬ zelmetaphern. Er sieht eine solitäre Gestalt ohne Hintergrund oder Kontext, in sitzender Haltung, die Knie ans Kinn gezogen, ein Idiot, der „absolut nicht¬ menschlich aussieht”. Denn James’ Beschreibung ist eine beinahe getreue Wieder¬ gabe einer der Tafeln in Jean Etienne Dominique Esquirols monumentalem Werk Des maladies mentales considerees sous les rapports medical, hygienique et medico-legal aus dem Jahre 1838. Dieses Standardwerk enthielt den ersten Atlas

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mit Ganzportraits von Geisteskranken. Tafel 24 stellt eine, auf einem niederen Brett sitzende Gestalt dar, die Knie an die Brust, das grobe Hemd über die Knie gezogen, den Blick direkt auf den Beobachter gerichtet. Esquirols Text bemerkt, daß diese Gestalt einen Idioten namens Aba in der Anstalt von Bicetre darstellt. Er kann nur ,,ba ba ba” sagen, ist geistig so unterentwickelt, daß er nur sich selbst füttern kann. Er hat kein Gedächtnis. Und schließlich: „Aba ist Onanist. . .” James’ Vision vom Geisteskranken ist durch Esquirols Bild von Aba gefiltert. Dies erklärt, zumindest zu einem gewissen Grad, warum James für seine Vision eine französische Quelle erfindet. James beschreibt nicht so sehr Esquirols Tafel, vielmehr stellte er sich seine Vision innerhalb des 19. Jahrhundert herrschenden Verständnisses von Geisteskrankheit und dessen visueller Ausprägung vor. Auf der Suche nach dem letzten Informationsstück, James’ zeitgenössischer Nie¬ derschrift seiner Vision, gelangt der Leser an einen toten Punkt. Denn obwohl es deutlich ist, daß James im Winter 1870 durch eine Periode tiefer Depression ging, findet sich zu diesem Zeitpunkt weder in seinen Tagebüchern noch in sei¬ nen Briefen ein Hinweis auf eine solche Vision. Man gelangt zu dem unausweich¬ lichen Schluß, daß James diese Vision erstmals während der Niederschrift sei¬ ner Gifford-Vorlesungen niederlegte. Zu diesem Zeitpunkt schaute er zurück auf seine frühere Erfahrung, durch die Beschreibung in seines Vaters Text, der erst 1879 veröffentlicht wurde, und durch seine eigene wissenschaftliche Lektüre zu der Physiognomie des Geisteskranken beeinflußt. Man könnte sich vorstellen, daß ein Gelehrter von James Reputation eine offen autobiographische Darstel¬ lung in einer Serie von Universitätsvorlesungen vermeiden würde. Aber James’ Vision hatte einen sogar noch tieferen persönlichen Zuschnitt, als das aus seinem Text deutlich wird. In James’ Text hatte die existentielle Angst, die die Vision hervorbrachte und von dieser hervorgebracht wird, eine spezifisch persönliche Beziehung. Warum sieht James einen Geisteskranken, wo sein Vater nichts sieht, nur die Präsenz des Bösen fühlt. Wenn man die Auseinandersetzung zwischen dem älteren Henry James und seinen Söhnen, William und Henry Jr., berücksichtigt, könnte man an¬ nehmen, daß die Verwendung der Struktur der Vision seines Vaters zu einer Lö¬ sung des Rätsels der Vision führen könntet® James’ Verwendung des Bildes vom Geisteskranken liefert den letzten Hinweis. Denn die Vision, die James so er¬ schreckte, mit der er sich so identifizierte, portraitierte ein Opfer von durch Ma¬ sturbation verursachter Geisteskrankheit. James’ Seelenkrankheit von 1870 war in ihrer Manifestation tatsächlich philosophisch, aber das Böse, „das seinen [des Universums] Details inhärent” war, war persönlicher Natur. James’ Furcht vor Wahnsinn war keine abstrakte Furcht, wie die von seinem Vater geschilderte. Sie war eine direkte Furcht, als Resultat seines eigenen Seins in Wahnsinn zu verfal¬ len. Die ausführliche Eintragung in James’ Tagebuch unter dem 1. Februar 1870 be¬ schreibt seine Furcht auf direkte Art: „Bis jetzt habe ich versucht, mich selbst

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mit dem moralischen Interesse anzufeuern, als Hilfe bei der Erfüllung gewisser utilitaristischer Ziele, gewisse schwierige, aber heilsame Gewohnheiten anzuneh¬ men. Ich versuchte, das Gefühl moralischer Degradierung mit Versagen zu asso¬ ziieren. . . Aber in all dem kultivierte ich Moral. . . nur als ein Mittel und foppte mich mehr oder weniger selbst.”31 James’ Gefühl der Unzulänglichkeit, seine kürzlich beendeten medizinischen Studien, der Erfolg seiner Freunde (wie Charles Peirce), all das konnte seinem persönlichen Leben zur Last gelegt wer¬ den. Zeitgenössische Schriftsteller wie Henry Maudsley hoben die Beziehung zwi¬ schen Charakterdiffusion und Masturbation hervor: ,,Der Patient wird verletzend egoistisch und unlenksam, er ist voll von Selbstgefühl und Selbstdünkel; den An¬ sprüchen anderer an ihn und seinen Pflichten ihnen gegenüber unsensibel: nur daran interessiert, seine morbiden Empfindungen hypochondrisch zu beobachten und auf seine morbiden Gefühle zu achten. Seine geistige Energie ist erschöpft, und trotz extravaganter Prätentionen, wo er oft von großen Projekten spricht, er¬ wachsen aus seiner Eitelkeit, arbeitet er nie systematisch auf irgendein Ziel hin, sondern legt in seinem Verhalten unglaublichen Wankelmut an den Tag und ver¬ bringt seine Tage in trägem und argwöhnischem Brüten.”32 Dies führt schließlich zu Geisteskrankheit. Rückblickend auf seine Erfahrung von 1870 strukturiert James seine Vision so, daß die Struktur des Angstgefühls seines Vaters inkorporiert wird. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn, das in seinem persönlichen Leben empfundene Schuldgefühl, das Gefühl der Unzulänglichkeit, besonders im Hinblick auf seinen Vater, all das geht in die Vision ein. Indem er diesen Gefühlen fast 30 Jahre spä¬ ter Struktur gibt, ist es James möglich, sie in der Fiktion zu veräußerlichen, die seine frühere Vision seiner Angst vor durch Masturbation verursachtem Schwach¬ sinn wiedererzählt. Katharsis wird hier durch die Beschreibung einer früher statt¬ gefundenen Katharsis erzielt.

V. Zusammenfassung Die drei untersuchten Texte stellen drei unterschiedliche Perspektiven zu Geistes¬ krankheit dar. Mackenzies romanhafte Handhabung ist dem Hogarth’schen Mo¬ dell verpflichtet, es aus dem Bereich der darstellenden Kunst in den der Literatur transponierend. Er behält Hogarths didaktisches Modell der Anstalt als einem moralischen Mikrokosmos bei, indem er einfach Hogarths Fabel von The Rake’s Progress durch seine eigene Geschichte unerwiderter Liebe ersetzt. Auf einer be¬ stimmten Ebene verfährt Kleist ebenso. Er verwendet die didaktische Wurzelme¬ tapher von der Anstalt zu einer Lektion über die Welt für seine Verlobte. Er er¬ setzt jedoch die zentrale Figur in dem Tableau des Geisteskranken durch eine sei¬ ner Schöpfung. Hier jedoch liegt der grundlegende Unterschied zwischen Mackenzie und Kleist. Während es für Mackenzie (und Hogarth) Gegenstand ihres Werkes ist, den Leser (oder Betrachter) eine moralische Lektion zu lehren, liegt bei Kleist ein privater Beweggrund zur Verwendung dieses Motivs vor. Denn

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Kleists Text enthält eine zweite Imaginationsebene, begründet in der Wurzelmeta¬ pher des durch Masturbation hervorgerufenen Wahnsinns. In der Niederschrift dieses Textes veräußerlicht Kleist seine innere Identitätssuche. Veräußerlichung ist nach Karen Horney „ein aktiver Prozeß von Selbsteliminierung”, manifestiert in der „Tendenz, innere Prozesse zu erleben, als liefen sie außerhalb seiner selbst ab, und, in der Regel, diese äußeren Faktoren für die persönlichen Schwierigkei¬ ten verantwortlich zu machen.”33 Sie kann ebenso als Mitte] dazu dienen, mit solchen Prozessen fertig zu werden, indem man sich von ihnen disassoziiert. Kleist präsentiert seiner Verlobten eine moralische Lektion über die Natur des Mannes, während der Akt des Schreibens ihm gleichzeitig als Mittel zur Selbstbe¬ freiung von seinen inneren Konflikten dient. Mit William James’ Vision geht das Bild vom Wahnsinnigen vom Modell des 18. Jahrhunderts in das des 19. Jahr¬ hunderts über. Die didaktischen Übertöne eines Hogarth sind hier nicht vorhan¬ den. Der Geisteskranke wird als Individuum, nicht als Anstaltsinsasse gesehen. James zieht sowohl Kleists zweite Wurzelmetapher, die eines durch Masturbation hervorgerufenen Schwachsinns, als auch das Modell der Vision seines eigenen Va¬ ters vom Verderben für die Struktur seines Textes heran. Der dem Konzept einer durch Masturbation hervorgerufenen Geisteskrankheit inhärente Eltem-KindKonflikt wird von James in dem Bericht seiner eigenen früheren Erfahrung ausge¬ spielt. Er erinnert sich seiner Version durch den Filter dieser zwei Arten, eine Er¬ fahrung darzustellen. So lernen wir sehen. Wildes These, daß „Leben Kunst weit mehr imitiert, denn Kunst das Leben”34 enthält den Schlüssel zu unserem Sehenlemen. Denn wir sehen die Welt durch je¬ ne Strukturen, die, seien sie wahr oder falsch, es uns gestattet haben, Aspekte der Welt zu verstehen. Wir lernen, historisch zu sehen, im Sinne unserer Zeit, un¬ serer Kultur, unserer Klasse, wir lernen aber auch, individuell zu sehen, im Sinne dieser Wurzelmetaphem, die uns die Welt verstehen lassen und so in ihr zu funk¬ tionieren.

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ANMERKUNGEN

1

Oscar Wilde, „The Decay of Lying”, in: The Soul of Man Under Socialism and Other Essays, hrsg. von Philipp Rieff (New York: Harper& Row, 1970), 72.

2

Stephen Pepper, World Hypothesis (Berkeley: University of California Press, 1966), 91.

3

Alle Verweise nach der Ausgabe von Brian Vickers, Henry Mackenzie, The Man of Feeling (London: Oxford University Press, 1967), 29-35. Die be¬ deutendste Studie zu Mackenzie bleibt Harold W. Thompson, A Scottish Man of Feeling (London: Oxford University Press, 1931), von Interesse ist aber auch W.F. Wright, Sensibility in English Prose Fiction, 1760-1814: A Reinterpretation. Illinois Studies in Language and Literature, xxii, 3-4 (Urbana: University of Illinois Press, 1937) und das Essay von A.M. Kinghom, „Literary Aesthetics and the Sympathetic Emotions — A Main Trend in Eighteenth Century Scottish Criticism”, Studies in Scottish Literature I (1963), 35-47. Allgemeinerzu diesem Gegenstand sind folgende neuere Stu¬ dien von Interesse: Max Byrd, Visits to Bedlam: Madness and Literature in the Eighteenth Century (Columbia, S.C.: University of South Carolina Press, 1974); Michael V. DePorte, Nightmares and Hobbyhorses: Swift, Sterne and Augustan Ideas of Madness (San Marino CA.: The Huntington Library, 1974); Mervyn James Jannetta, ,,‘The predominant Passion, and its Force’: Propensity, volition and motive in the works of Swift and Pope” (Disserta¬ tion: Y ork, 1975).

4

Eine detaillierte Beschreibung dieser Tafel findet sich bei Ronald Paulson, Hogarth’s Graphic Works, überarbeitete Ausgabe (New Haven: Yale Univer¬ sity Press, 1970), I, 169-170. Zu der, während des ganzen 19. Jahrhunderts bestehenden Reputation von Hogarth und seinem Einfluß auf die Anstalts¬ szene von Wilhelm Kaulbach von 1835 vgl. Fritz von Ostini, Wilhelm Kaulbach. Künstler und Monographien, 84 (Bielefeld und Leipzig: Velhangen und Klasing, 1906), 58-66.

5

The Poems of Jonathan Swift, hrsg. von Harold Williams (Oxford: Claren¬ don Press, 1958), 3,837-839.

6

Zitiert bei Paulson, 169.

7

Zu diesem Abschnitt sind in neuerer Zeit zwei größere Interpretationen er¬ schienen: Heinz Ide, Der junge Kleist: . . in dieser wandelbaren Zeit. . .’ (Würzburg: Holzner, 1961), 224-227 und Heinz Politzer, „Auf der Suche nach Identität: Zu Heinrich von Kleists Würzburger Reise”, Euphorion 61 (1967), 383-399. Außerdem von Interesse ist Hans Joachim Kreutzer, Die

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dichterische Entwicklung Heinrich von Kleists. Untersuchungen zu seinen Briefen und zur Chronologie und Aufbau seiner Werke. Philologische Stu¬ dien und Quellen, 41 (Berlin: Eric Schmidt, 1968), bes. 45-105. 8

Alle Verweise auf den Brief nach der Augabe von Helmut Sembder, Heinrich von Kleist, Sämtlich Werke und Briefe (München: Carl Hanser, 19612), 2, 559-562.

9

G.C. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, mit verkleinerten aber vollständigen Copien derselben von E. Riepenhausen (Göttingen: Dieterich, 1808), 3, 133-144.

10

Diese Tatsache wurde von Max Morris festgestellt. Vgl. Erich Schmidt, Hrsg., H. v. Kleists Werke (Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut [1904]), 5, 454. Die ältere philologische Literatur zur Würzburgreise liefert viel von diesem Hintergrund: Max Morris, Heinrich von Kleists Reise nach Würzburg (Berlin: Conrad Skopnik, 1899); S. Rahmer, Das Kleist-Problem auf Grund neuer Forschungen zur Charakteristik und Biographie Heinrich von Kleists (Berlin: Georg Reimer, 1903),bes. 75-93; und Berthold Schulze,Neue Stu¬ dien über Heinrich von Kleist (Heidelberg: Carl Winter, 1904).

11

Die Frage, welche Rolle Masturbation in Kleists frühem Leben gespielt hat, ist ausschöpfend diskutiert. Politzer liefert eine hervorragende Zusammen¬ fassung der älteren Diskussion. In der älteren Literatur wurde diese Frage aufgeworfen von J. Sadger, Heinrich von Kleist; eine pathographisch-psychologische Studie (Wiesbaden: Bergmann, 1910). Höchst einflußreich war Stefan Zweigs Essay über Kleist in Der Kampf mit dem Dämon (Leipzig: In¬ sel, 1925), 153-224. Ein wenig bekanntes Werk, das bewundernswertes Ma¬ terial zum Kontextverständnis von Kleists Text liefert, ist Karl Birnbaum, Psycho pathologische Dokumente: Selbstbekenntnisse aus dem seelischen Grenzlande (Berlin: Julius Springer, 1920), bes. das Kapitel „Visionäre und phantastische Veranlagungen”, 72-84.

12

Die Standardstudie zu durch Masturbation verursachter Geisteskrankheit ist E.H. Hare, „Masturbatory Insanity: The History of an Idea”, The Journal of Mental Science 108 (1962), 1-25. Hilfreich ist auch Karl-Felix Jacobs, Die Entstehung der Onanie-Literatur im 17. und 18. Jahrhundert (Dissertation, München 1963) und R.P. Neumann, „Masturbation, Madness, and the Modem Concepts of Childhood and Adolescence”, Journal of Social History 8 (1975), 1-26. Keine dieser Studien geht auf die im 18. Jahrhundert in Deutschland erschienene Literatur ein.

13

Vgl. vor allem Gudrun Burggraf, Christian Gotthilf Salzmann im Vorfeld der französischen Revolution (Gemering bei München: Stahlmann [1966]).

14

Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Essay von Maria M. Tatar, „Psychology and Poetics: J.C. Reil and Kleist’s Prinz Friedrich von Hom¬ burg”, The Germanic Review 48 (1973), 21 -34.

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15

Benjamin Rush, Medical Inquiries and Observations upon The Diseases of the Mind (18 12), Facsimile edition (New York: Hafner, 1962), 349-350.

16

Onatiia, oder die Sünde der Selbst-Befleckung, mit allen ihren schädlichen Folgen. . . (Leipzig: Jacobäer, 1765), 52-53.

17

G.W. Becker, Verhütung und Heilung der Onanie mit allen ihren Folgen bey beyden Geschlechten (Leipzig: Karl Tauchnitz, 1803), 250-251.

18

Onania, 23.

19

Rush, 182.

20

Voltaire, „Onan, Onanisme”, Oeuvres completes, 20: Dictionnaire philosophique 4 (Paris: Garnier, 1879), 133-135.

21

Onania, 13. Vgl. auch Rush, 350.

22

Becker, 245-246. Die Verästelung dieses Texts für Kleists spätere Werke ist klar. Die Frage nach den emotionalen Zuständen und ihrer Darstellung könnte im Licht dieses früheren Darstellungsmodells von Wahnsinn neu un¬ tersucht werden. Vgl. Joachim Müller, ,,Verwirrung des Gefühls”: Der Be¬ griff des ,.Pathologischen” im Drama Goethes und Kleists. Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaft zu Leipzig, Philologisch-histo¬ rische Klasse, Band 117, Heft 2 (Berlin: Akademie Verlag, 1974).

23

Die Standardbiographie zu James ist Ralph Barton Perry, The Thought and Character of William James, I: Inneritance and Vocation (Boston: Little, Brown, 1935), 320-323. Perry ist äußerst vorsichtig, die literarische Datie¬ rung dieser Passage nicht auf den Winter 1870 anzunehmen. Ebenso von In¬ teresse ist Maurice Le Breton, La personnalite de William James (Bordeaux: Imprimerie de l’Universite, 1928), vgl. besonders 238-244.

24

Alle Zitate aus dem Text aus William James, The Varieties of Religio us Experience (New York: Collier, 1961), 137-139. Dies ist die am leichtesten zugängliche Ausgabe. In der ersten Ausgabe findet sich diese Passage auf den Seiten 160-161. Die Frage, ob James seine eigene Erfahrung mit älteren Beispielen von Melancholie (primäre Affektstö¬ rung) verknüpfte, ist müßig; vgl. Bridget Geliert Lyons, Voices of Melancholy: Studies in Literary Treatments of Melancholy in Renaissance England (London: Routledge and Kegan Paul, 1971) für vergleichende Beispiele.

25

Gay Wilson Allen, William James: A Biography (New York: Viking, 1967), 164-167.

26

Zitiert nach James’ Tagebüchern bei Allen, 164.

27

Henry James, Society the Redeemed Form of Man (Boston: Houghton, Os¬ good & Co, 1879), 44-49. Vgl. auch Frederic Harold Young, The Philosophy of Henry James, Sr. (New York: Bookman Associates, 1951).

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28

S. meine Arbeit „Zur Physiognomie des Geisteskranken in Geschichte und Praxis, 1800-1900” in diesem Band.

29

J.E.D. Esquirol, Des Maladies mentales considerees sous les rapports medical, hygienique et medico-legal (Paris: J.B. Bailiiere, 1838), 2, 93-94.

30

Die Standarduntersuchung war bisher C. Hartley Grattan, The Three Jameses: A Family of Minds. (London: Longmans, Green and Co., 1932), 122-125. Siehe auch Howard Feinstein, „Fathers and Sons: Work and the Inner World of William James,” (Diss., Cornell, 1977) und Cushing Strout, „William James and the Twice-Born Sick Soul,” in seinem The Veracious Imagination (Middletown: Wesleyan University Press, 1981), 199-222

31

Zitiert nach Perry, 165

32

Henry Maudsley.ßody and Mind (London: Macmillan, 1873), 86-87

33

Karen Horney, Our Inner Conflicts: A Constructive Theory of Neurosis (New York: Norton, 1945), 1 15-30

34

Wilde, 71

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Teil IV

ZUR PHYSIOGNOMIE DES GEISTESKRANKEN IN GESCHICHTE UND PRAXIS, 1800 - 1900

Einleitung Die erste Probe Taminos, des Helden in Mozarts Zauberflöte, prüft seine Liebe zu Pamina an seinem Schweigegelöbnis. Pamina glaubt sich von ihrem Geliebten verlassen und versinkt in Melancholie. Sie steht isoliert von allen übrigen Charak¬ teren der Oper und ergreift von ihrer Mutter den Dolch, um sich zu töten. Hier und da in ihre Verzweiflungsarie eingefügt sind die Bemerkungen der drei ‘Kna¬ ben’, der Geister des Tempels. In der Funktion eines griechischen Chors geben sie das Echo auf die Reaktion des Publikums wider. Die drei Geister und das Publikum sehen: „die Arme ist dem Wahnsinn nah.” Nicht nur ihre „halb wahn¬ witzigen” Äußerungen, auch ihre Erscheinung lassen ihre Absichten erraten. „Wahnsinn tobt ihr im Gehirne / Selbstmord steht auf ihrer Stirne” singen sie unmittelbar bevor sie sie vom Selbstmord zurückhalten.1 Die Zauberflöte wurde 1791 geschrieben und im gleichen Jahr erstaufgeführt. Zu dieser Zeit galt es bereits als unbestritten, daß bestimmte Formen von Geistes¬ krankheit, Melancholie z.B., an der physischen Erscheinung der Betroffenen er¬ kannt werden könnten. Kurz danach taucht dieser kulturelle Gemeinplatz erst¬ malig in medizinischen Fachbeschreibungen von Geisteskrankheit in der Form von Abbildungen von Geisteskranken auf. Daher ist man bei der Durchsicht der medizinischen Literatur des 18. Jahrhunderts über Geisteskrankheit von der ge¬ ringen Anzahl graphischen Materials überrascht. Sogar in den fortschrittlichsten Schriften über Geisteskrankheit fehlen solche Darstellungen. In Vincenzo Chiarugis Deila pazzia in genere, e in specie trattato medico-analitico (Medizinisch¬ analytische Abhandlung über den Wahnsinn im allgemeinen und besonderen) aus den Jahren 1793 und 1794 finden sich nur zwei Bildtafeln. Die erste illustriert Behandlungsmethoden, wobei die Patienten nur als Objekte fungieren, bei der zweiten — Illustrationen anatomischer Studien der Gehirnstruktur —, tritt der Patient als solcher total in den Hintergrund.^ Um so überraschender ist es, daß Phillipe Pinel seinen Tratte medico-philosophique sur l’alienation mentale, ou la manie (Medizinisch-philosophische Abhandlung über Geisteskrankheit, oder Die Manie) mit einer Bildtafel veröffentlichte, die Geisteskrankheit bei zwei Patien¬ ten, einem Idioten und einem Manischen, illustrierte.^ So fanden im ersten Jahr des 19. Jahrhunderts Illustrationen zu Geistesgestörtheit über eine veränderte Philosophie in der wissenschaftlichen Beschreibung von Geisteskrankheit Eingang in medizinische Werke über psychische Krankheiten.

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I. Pinel und die Anfänge der psychiatrischen Abbildung Phillipe Pinels Rolle bei der Einführung humaner Behandlungsmethoden auch für Geisteskranke ist allseits bekannt; weniger hingegen sein Beitrag zu einer verän¬ derten Beobachtungsweise der Geistesgestörten. Seine Studie über medizinische Klassifizierungen Nosographie philosophique ou methode de Vanalyse appliquee a la medicine (Philosophische Nosographie, oder Methodik der Analyse, ange¬ wendet auf die Medizin) aus dem Jahre 1798 beschrieb Krankheiten im Hinbück auf ihre mögliche Klassifizierung.4 Pinels Zugang zur Medizin stand in der Tradi¬ tion der Ideologues, die, ihre Wissenschaftstheorie auf Condillacs Sensuaüsmus gründend, eine streng empirische Methode gegenüber wissenschaftlichen Fakten entwickelten. Helvetius, Condorcet, Pinel und die übrigen Ideologues betrachte¬ ten eine systematische Beschreibung als eine Unmöglichkeit, nur Einzelfälle konnten beobachtet und begrenzte Schlußfolgerungen daraus abgeleitet werden. Dieser radikale Empirismus führte direkt zur Aufnahme von Illustrationen psy¬ chiatrischer Patienten in die medizinische Literatur. Denn mit Hilfe der Illustra¬ tionen in Pinels Studie über Geistesgestörtheit war es dem Leser mögüch, die be¬ schriebenen Fälle selbst zu beobachten. Die Konfrontation zwischen dem wissen¬ schaftlichen Betrachter und den zu beobachtenden Fakten wird durch die Un¬ mittelbarkeit des Mediums Illustration erhöht. Auf seiner Abbildung, die den Idioten und den Manischen darstellt, verglich Pinel die Größe des Schädels mit der Gesamtkörpergröße. Er behauptet, daß der Manische, der nur gelegentlichen Anfällen von Geistesgestörtheit ausgesetz war, einen, im Verhältnis zu seiner Gesamtkörpergröße, besser proportionierten und näher an die Idealproportionen des Apollo Belvedere reichenden Schädel hat als der Idiot. Obwohl er keine wei¬ teren Vergleiche anstellte, stellte Pinel ein Analogon zwischen der jeweüigen Er¬ scheinung des Idealen und des Pathologischen auf. Er konfrontierte den Betrach¬ ter mit einer Serie optischer Anhaltspunkte zu zwei Formen von Geisteskrank¬ heit (Idiotie und Manie) in Kontrast zu einem klassischen Ausdrucksideal. Somit war eine Skala normativer Erscheinungen aufgestellt. Denn der Manische kommt den idealen Proportionen des Apollo Belvedere, und auch seinem Ausdruck, nä¬ her als der Idiot. So ist es auch nicht überraschend, daß die Behinderung des Ma¬ nischen nicht die gleiche Konstanz oder Größe hat wie die des Idioten.

II. Die physiognomische Tradition Wenn auch Pinels Einführung von Abbildungen geistesgestörter Patienten größere Objektivität herzustellen schien: die Art der Graphik enthüllte die ihr innewoh¬ nenden Vorurteile. Die angestrebte Objektivität der Methode Pinels kann als be¬ fangen an sich betrachtet werden, sobald die Parallelen zu seiner Illustrations¬ weise bekannt sind. Denn die optische Struktur in Pinels Tafel ist der Tradition der Physiognomik entlehnt. Schon in der Renaissance wurden Kopfstudien cha¬ rakteristischer Menschentypen zu Darstellungen inhärenter Erscheinungstypolo-

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gien herangezogenß Obwohl diese Tradition der Physiognomik von der Renais¬ sance durch das 18. Jahrhundert hindurch unvermindert fortdauerte, fand man in Europa erst um 1770 allgemein an dieser Art der Beschreibung und Illustration Gefallen. In diesem Jahrzehnt wurden Johann Caspar Lavaters Werke zum sofor¬ tigen Erfolg auf dem ganzen Kontinent. In seinem programmatischen Werk Von der Physiognomie aus dem Jahre 1772 findet sich ein Abriß zu einer Kranken¬ physiognomik, die jedoch in seinem vierbändigen Hauptwerk Physiognomische Fragmente aus den Jahren 1774 bis 1778 nur unverhältnismäßig kurz abgehan¬ delt wird. Lavaters impressionistische Physiognomieanalyse postulierte eine enge Beziehung zwischen physischen und geistigen Charakteristika. Ausgehend von der Leibniz'sehen These von der Individualität des Körpers als Quelle der menschlichen Identität, sah Lavater in der monistischen Beziehung zwischen Körper und Geist den Schlüssel zur Persönlichkeit. Seine Illustrationen zu dieser Beziehung haben ihre Wurzel in den simplifizierenden optischen Analogien der Renaissance sein Einfluß jedoch war intensiv und unmittelbar. Im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente finden sich zwei Bildtafeln, die, unter der allgemeinen Überschrift „Schwache, thörichte Menschen”, psy¬ chische Krankheiten der unterschiedlichsten Art illustrieren. In seiner Einführung zu dem fraglichen Fragment geriet Lavater über die Natur der Psychopathologie ins Emotionale und leitete von diesen Fällen einen weiteren Beweis für die Wirk¬ samkeit der Methode ab: Lässige Verzogenheit, thierische Stumpfheit, zuckendes Behagen, schiefes Lächeln, Unständigkeit, Unbestimmtheit, Stierigkeit, Lokkerheit - die gewöhnlichsten, allgemeinsten, auffallendsten Zeichen der angebohmen und natürlichen Dummheit. Lässige Verzogenheit, Lockerheit, Unständigkeit — nicht nur Zei¬ chen, Sache. . . Und was ist am Menschen bloß Zeichen, nicht Sache? O wir schlauen Taschenspieler mit Worten — wie verführen wir uns! was ist am Menschen Sache, das nicht Zeichen? Zeichen, das nicht Sache sey? . . . der Gedanke ist wesentlich, und mehr als Grundpfei¬ ler der Physiognomik!6 Die Bildtafeln zeigen vier männliche und zwei weibliche Kopfstudien. Bei den mit ziemlicher Genauigkeit radierten Tafeln liegt die Betonung auf dem Ge¬ sichtsausdruck der Betreffenden als sichtbarem Beweis ihrer angeborenen Behin¬ derung. Auch hier dient der Gesichtsausdruck als zusätzlicher Beweis von Gei¬ steskrankheit. Die Unzulänglichkeit des Mediums, das zur Abbildung der in Lavaters Fragmen¬ ten herangezogenen Fälle Verwendung fand, war seinen Mitarbeitern an diesem Werk bewußt, besonders dem damals 26jährigen Johann Wolfgang von Goethe. In einem Kommentar zu Lavaters Physiognomieanalyse eines auf den Tafeln ab¬ gebildeten Geisteskranken schreibt Goethe über die durch die Art der Illustration zusätzlich bedingte Kompliziertheit an Lavater:

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Hab gestern ein bissgen über die vier Wahnsinnigen und Brutus ge¬ klimpert. Bruder Bruder wie schwer ists das todte Kupfer zu bele¬ ben, wo der Charakter durch missverstandne Striche nur durchschim¬ mert und man immer schwankt warum das was bedeutet und doch nichts bedeutet. Beym Leben wie anders!7 Goethe befaßt sich eher mit der Problematik des Mediums als mit der Stichhaltig¬ keit der Methode. Dieser Standpunkt findet später in Immanuel Kants Kommen¬ tar über die Natur physiognomischer Analyse sein Echo. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 vergleicht Kant die Zeichnungen der Renais¬ sance mit den modischen Silhouetten, wie Lavater sie teilweise verwendet, und kommt zu dem Schluß, daß es das Medium ist (,,die Kunst der Kultur”), das die Analyse des Betrachters determiniert.® Die Unmittelbarkeit wie auch die Problematik im Zusammenhang mit der Beob¬ achtung der Einzigartigkeit eines Geisteskranken liegt sowohl Lavaters als auch Pinels Abbildungen von Geisteskranken zugrunde. Obwohl sie von zwei, im gro¬ ßen und ganzen unterschiedlichen Konzepten von Geistesgestörtheit ausgehen, benutzen beide die Illustration um aufzuzeigen, daß sich die Pathologie der Gei¬ stesgestörtheit auch in der physiologischen Kopfstruktur der Patienten zeigt. Bei¬ de klassifizieren zweitens die abgebildeten Köpfe aufgrund ihres starren Gesichts¬ ausdrucks als die von Geisteskranken. Diese beiden Methoden gehen in der von Jacques Louis Moreau de la Sarthe herausgegebenen französischen Lavaterausgabe ganz natürlich ineinander auf. Moreau de la Sarthe war einer der einflußreich¬ sten Psychiater seiner Zeit, Autor des Essays “Medecine mentale” (Mentale Me¬ dizin) in der Encyclopedie methodique (1816).^ 1807 brachte er eine siebenbän¬ dige Übersetzung von Lavaters Fragmenten mit einer Reihe von Anhängen her¬ aus. Der erste behandelte die „physiognomies des fous” (Physiognomie von Ir¬ ren). Auf der Haupttafel dieser Sektion sind aus Pinel die Kopfstudien des Mani¬ schen und des Idioten zusammen mit einer Kopfstudie von Viktor, dem Findel¬ kind von l’Aveyron aus Jean Marc Gaspard Itards De l’education d’un jeune sauvage, ou des premiers developpements physiques et moraux du jeune sauvage de l’Aveyron (Die Erziehung eines jungen Wilden, oder Die ersten physischen und moralischen Entwicklungsstadien des jungen Wilden von l’Aveyron) von 1801 abgebildet. Aber Moreau ist weit mehr am Ausdruck der bei Pinel und Itard abgebildeten Gesichter interessiert. Zur Erscheinung des Manischen extra¬ poliert Moreau folgendes: Sein Zustand von schwerem, melancholischem Wahnsinn ist unver¬ kennbar; aber man kann leicht sehen, daß die charakteristischen Züge hierfür viel eher im ständigen Ausdruck seiner Physiognomie als in der Beschaffenheit seines Kopfes liegt Das Portrait des ,jungen Wilden von l’Aveyron”, der ebenfalls für geisteskrank gehalten wurde, „bedarf, wie ich glaube, keines Kommentars, und man kann in

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ihm einen dominierenden Ausdruck von Wildheit, von Erstaunen, gemischt mit Unruhe, und vor allem von exzessiver Mobilität kaum verkennen. . ,”10 Hier ist der Übergang von der strengen Objektivität des Meßbaren (d.h. Pinels Messungen der relativen Schädelgröße) zur Subjektivität des Eindrucks (d.h. die Analyse des Gesichtsausdrucks des Geisteskranken) vollzogen. Obwohl Studien über den Ge¬ sichtsausdruck, wie Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (1785-1786) Ende des 18. Jahrhunderts Popularität gewannen stand die Pathologie des Aus¬ drucks nicht im Zentrum ihres Interesses. Erst mit der Verbindung zwischen Physiognomik und neuer Psychiatrie kamen solche Fragen erstmalig auf dem Kontinent auf.

III. Die englische Tradition Im Jahre 1806 wandte sich Sir Charles Bell, einer der Pioniere auf dem Gebiet der beschreibenden Ausdrucksphysiologie mit der Veröffentlichung seiner Essays in the Anatomy of Expression (Essays zur Anatomie des Ausdrucks) dem Pro¬ blem der Darstellung von Emotionen in der Kunst zu. Beils Arbeit — von ihm selbst illustriert —, enthielt ein Kapitel über „Wahnsinn”, den er sowohl mit sei¬ nen äußerlichen als auch moralischen Begleiterscheinungen beschreibt. Ich habe nicht vor, hier die Krankheiten des Geistes in ihrem Ent¬ wicklungsprozeß nachzuzeichnen, ich möchte lediglich einige Andeu¬ tungen hinsichtlich des Charakters des Manischen in seiner schockierendsten Form anbringen. Man sieht ihn in seiner Zelle liegen, ohne für irgendetwas einen Blick zu haben, mit todesgleicher Schwermut auf seiner Miene. Wenn ich todesgleiche Schwermut sage, so meine ich damit eine Schwere der Gesichtszüge, ohne ein Zusammenziehen der Augenbrauen oder irgendeine Muskeltätigkeit. Wenn man ihn während eines Anfalls sieht, kann man sehen, wie ihm das Blut in den Kopf steigt; sein Gesicht wird dunkler rot; er wird unruhig; dann erhebt er sich von seiner Couch, durchmißt seine Zelle und zerrt an seinen Ketten. Jetzt ist sein entflammtes Auge auf dich, fixiert, und seine Gesichtszüge erhellen sich zu unausprechlicher Wildheit und Grausamkeit. . . Ich habe so ein paar Hinweise über einen höchst unangenehmen und erschütternden Betrachtungsgegenstand niedergeschrieben. Aber nur, wenn der Enthusiasmus eines Künstlers stark genug ist, um seinem Widerwillen gegenüber rauhen und unerfreulichen Szenen entgegen¬ zuwirken, wenn er sorgfältig alle Gelegenheit sucht, sein Gedächtnis mit den Bildern menschlicher Leidenschaft und menschlichen Lei¬ dens anzufüllen, wenn er neben dem Körper und den charakteristi¬ schen Zügen eines Menschen auch dessen Verstand und Affekte phi¬ losophisch studiert, erst dann kann er wahrhaft den Titel „Maler”

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verdienen. Ich wäre sonst geneigt, ihn unter jene Ärzte zu klassifizie¬ ren, die, für den interessantesten Beruf ausgebildet, sich abwenden, um mit pretentiösen Fertigkeiten nach Lohn zu haschen, als in der strengen und unerfreulichen Verfolgung der Wissenschaft.* * Bell, der an anderer Stelle argumentiert, daß, wenn man den Geisteskranken por¬ trätiert, „dies mit einer moralischen Zielsetzung geschieht, um die Folge von La¬ sterhaftigkeit und des Schweigens in Leidenschaft zu zeigen”, steht in einer älte¬ ren englischen Tradition der Beschreibung von Geisteskranken. Diese Tradition hob die Visualisierung von Geisteskrankheit hervor. Im frühen 18. Jahrhundert hatte Caius Gabriel Cibber zwei Statuen für das Portal von Bethlehem Hospital (Bedlam) angefertigt, die melancholischen und rasenden Wahnsinn darstellten. Diese Figuren verköperten schließlich, in der Meinung der englischen Öffentlich¬ keit, das Bild vom Geisteskranken. Ihre moralische Implikation war augenschein¬ lich. Eine ähnliche Darstellung von Geisteskrankheit erschien im abschließenden Bild in William Hogarths Reihe „The Rake’s Progress” (1735). Hier werden die verschiedenen Typen von Geisteskrankheit portraitiert, als der Protagonist der Serie, Rakewell, wegen seines unmoralischen Lebenswandels mitten unter sie geschickt wird: Wahnsinn, du Chaos des Gehirns, Was bist du, daß du gibts Lust und Pein? Tyrannei des Reichs der Phantasien!. . . Der eigensinnige Lauf der Jugend vergeht so, Welch Trost von diesem geliebten Sohn! Seine klirrenden Ketten höre mit Entsetzen, Hab vor Augen den Tod, wie er mit Verzweiflung zupackt, Sieh Ihn, von dir zum Untergang verkauft, Und Fluch dir selbst, und Fluch deinem Gold.12 Ende des 18. Jahrhunderts war die Idee einer Typologie der Geisteskrankheiten in der darstellenden Kunst Englands zum Gemeinplatz geworden. 1795 konnte William Blake diese Erkenntnis der moralischen Implikationen von Geisteskrank¬ heit in seiner Druckzeichnung der biblischen Figur des Nebukadnezzar (Daniel 4) zur Anwendung bringen. Blake läßt diese Gestalt allein das Tierische im Men¬ schen unter der Dominanz der Vernunft darstellen, aber die historische Tradition ist deutlich.1 ^ Charles Beils Theorie ist weniger Verkünder eines neuen Zugangs zur bildlichen Darstellung von Geisteskranken, als vielmehr eine Zusammenfas¬ sung der traditionellen britischen Sicht. Nach Blakes Nebukadnezzar entstand in England, ausgehend vom Kontinent, eine neue Tradition in der bildlichen Darstellung von Geisteskranken. Franz Josef Gail, der Begründer der Phrenologie, war 1801 aus Wien geflüchtet und hatte sich in Paris niedergelassen, wo er zwischen 18 10 und 1818 seine umfang-

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reiche Studie in vier Bänden der Anatomie et Physiologie du Systeme nerveux en general et du cerveau en particulier avec des observations sur la possibilite de reconnaftre plusieurs dispositions int eile ctuelles et morales de l’homme et des animaux par la configuration de leur tete (Anatomie und Physiologie des Nerven¬ systems im Allgemeinen und des Gehirns im Besonderen mit Beobachtungen zur Möglichkeit der Erkenntnis verschiedener intellektueller und moralischer Dispo¬ sitionen bei Mensch und Tier anhand ihrer Schädelkonfiguration) veröffentlichte. 1819 erschien ein ergänzender Atlas mit Illustrationen zur Gehimstruktur zu ver¬ schiedenen Menschentypen.1 ^ Viele der zitierten Bildtafeln waren aus Moreau de la Sarthes Lavaterübersetzung entnommen, darüber hinaus fanden sich darin aber auch 18 Tafeln von Schädelstudien und / oder Gesichtsstudien von Geistes¬ kranken. Galls Mitarbeiter an diesem Projekt war Johann Gaspard Spurzheim, der den Begriff Phrenologie prägte. 1817 veröffentlichte Spurzheim, der in Lon¬ don praktizierte, eine Monographie mit dem Titel Observations on the Deranged Manifestations of the Mind, or Insanity (Beobachtungen zu gestörten Manifesta¬ tionen des Verstandes, oder Wahnsinn). Für Spurzheim (wie für die späteren phrenologischen Interpretationen von Geisteskrankheit, wie z.B. der von Andrew Combe) bestand eine klare Beziehung zwischen Schädelform und -große und po¬ tentieller Geistesgestörtheit: ,,Wir wiederholen beständig, daß das Gehirn ein Organ ist, . . . und somit denselben Überlegungen unterworfen ist,wie jedes an¬ dere Organ. Jeder Körperteil, was auch immer seine Beschaffenheit sein mag, kann von Krankheit befallen werden.” Seiner Meinung nach „darf die Beschaf¬ fenheit des Kopfes weder übersehen noch überschätzt werden.” Bezugnehmend auf Pinels überaus vorsichtige Ablehnung, „irgendwelche Schlußfolgerungen zu ziehen, nicht einmal anhand der kleinen Schädel von Idioten”15 setzten die Illu¬ strationen Spurzheims jedoch die äußere Erscheinung des Geisteskranken (in dem hier genannten Fall drei Idioten) wieder mit der Form und Größe ihres Schädels gleich. Implizit jedoch wird, wie bei Pinels Bildtafel, der gleiche Nach¬ druck auf das Gesicht und den Gesichtsausdruck der bei Spurzheim abgebildeten Idioten gelegt. Obwohl er sich nicht vorrangig mit dem Gesichtsausdruck bei Geisteskranken beschäftigt, diente dieser als optischer Beweis für deren Schwach¬ sinn und somit als Teilbeweis für die Richtigkeit seiner Gleichung von Schädel¬ größe und mentaler Pathologie. Diese Tradition wurde durch die phrenologische Literatur des 19. Jahrhunderts, in der Geisteskranke oft portraitiert wurden, populär gemacht.1 ^

IV. Die französische Entwicklung Charakteristisch für die Arbeit des Phrenologen ist die Auffassung, daß Beobach¬ tung die Richtigkeit der Analyse erhöht. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Gail und Spurzheim Illustrationen von Geisteskrankheit zur Stützung ihrer Theorie des physiologischen Ursprungs von Wahnsinn verwendeten, begann ein Schüler Pinels, das Konzept psychiatrischer Illustrationen auszudehnen. Jean Etienne Dominque

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Esquirol fügte einer Artikelserie im Dictionnaire des Sciences (Wörterbuch der medizinischen Wissenschaft) einfache Zeichnungen von Patienten bei. Einzigar¬ tig dabei ist, daß viele dieser Illustrationen Ganzstudien zu Haltung und Aus¬ druck der Geisteskranken waren. Als 1838 Esquirols gesammelte Werke erschie¬ nen, wurden diese Illustrationen als selbständiger Atlas hinzugefügt. Diese 27 Ta¬ feln, die Desmaison von Patienten in der Salpetriere gezeichnet hatte, stellten nur einen Bruchteil der tatsächlichen Anzahl von Studien dar, die Esquirol in Auftrag gegeben hatte: . . . physiognomische Studien von Geisteskranken sind nicht Gegen¬ stand einer flüchtigen Neugier; diese Studie trägt dazu bei, den Cha¬ rakter der Ideen und Affekte, die das Delirium dieser Kranken aus¬ machen, zu entwirren. Welch interessante Resultate könnte man nicht von einer solchen Studie erzielen! Ich habe mehr als zweihun¬ dert Geistesgestörte in dieser Absicht zeichnen lassen; vielleicht werde ich eines Tages meine Beobachtungen zu diesem interessanten Thema veröffentlichen.* 7 Esquirol führte eine Art der Betrachtung des Geisteskranken ein, die, trotz ihrer bewußten Wurzeln in der bei Pinel zu erkennenden Philosophie der psychiatri¬ schen Illustration und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Phrenologen, um vieles anspruchsvoller ist. Das stark Portraithafte, der Verzicht auf jeden Hin¬ tergrund, das Detail in Haltung und Gesichtsausdruck, alles summiert sich dra¬ matisch zum Gesamtbild des Geisteskranken. Esquirols Neuerung in der psychiatrischen Illustration war jedoch nicht ohne Vorgänger. Blakes Nebukadnezzar ist ein Ganzbild jenes geistig umnachteten Herrschers: seine Haltung ist für seinen Wahnsinn ebenso ausdrucksstark wie sein Gesichtsausdruck. Andere Künstler des frühen 19. Jahrhunderts verfertigten Ganzstudien von Geisteskranken, in denen die Gesamtgestalt den Wahnsinn ver¬ rät. Blakes Freund Henry Fuseli bediente sich in seiner Zeichnung Mad Kate (Wahnsinnige Kate) ebenso wie Thomas Barker von Baths in Crazy Kate (Ver¬ rückte Kate), die beide auf eine Gestalt aus William Cowpers The Task (1785) zurückgehen, der Ganzstudie der Dienerin, um ihren Wahnsinn darzustellen.18 Esquirols Illustrator Desmaison ist derselben Tradition verpflichtet. Seine Zeich¬ nungen, und Ambrose Tardieus Radierungen davon, schufen eine Art isolierter Wahrscheinlichkeit, eine, von jedem allgemeinen Kontext isolierte Realität, wie in den Portraits eines Fuseli und eines Thomas Barker von Baths. Eine der Anomalien einer Geschichte der psychiatrischen Illustration im 19. Jahr¬ hundert besteht darin, daß die Originalzeichnungen der psychiatrischen Patien¬ ten, die als Basis für die Illustrationen in medizinischen Werken verwendet wur¬ den, gewöhnlich nicht erhalten sind; mit einer bedeutenderen Ausnahme. Einer der Schüler Esquirols in der Salpetriere gab bei der Überarbeitung seines ersten Werks über Geisteskrankheit eine Serie von Illustrationen seiner Patienten in

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Auftrag. Die Zeichnungen von diesen Patienten sind erhalten, aber der Tod hin¬ derte den Autor an der Realisierung seiner Pläne, sie als Illustrationen zu verwen¬ den. Etienne Jean Georgets De la folie (Über den Wahnsinn) aus dem Jahre 1820 war eine der bedeutenderen Arbeiten der Schule Pinels. In dieser Studie bemerkt Georget hinsichtlich der Notwendigkeit einer Beobachtung der äußeren Erschei¬ nung der Patienten als diagnostisches Hilfsmittel: Es ist schwierig, die Physiognomie des Geistesgestörten zu beschrei¬ ben; man muß diese Physiognomie beobachten, um ein Bild davon zu behalten. Die Betreffenden sind dann nicht wieder zu erkennen, die Gesichtszüge verschoben, in ihrer Gesamtheit völlig deformiert. Die Physiognomien sind beinahe so verschieden wie die Individuen; sie variieren je nach den Leidenschaften, den verschiedenen Ideen, die sie beherrschen oder treiben, je nach dem Charakter des Deli¬ riums, dem Stadium der Krankheit etc. Im Allgemeinen ist das Ge¬ sicht des Schwachsinnigen dümmlich, ohne Bedeutung, das des Menchen ebenso in Unruhe wie sein Geist, manchmal verzerrt und ver¬ krampft; beim Blöden sind die Gesichtszüge niedergeschlagen und ohne Ausdruck; die Facies der Melancholiker ist zusammengekniffen, von Schmerz oder einer extremen Unruhe geprägt; der monomani¬ sche König hat einen stolzen, hohen Gesichtsausdruck; der Devote demütig, er bittet, indem er die Augen auf den Himmel oder die Erde heftet; der Ängstliche flieht, zur Seite blickend, etc. Ich belasse es bei dieser einfachen Aufzählung, da allein direkte Beobachtung eine Idee vom Übrigen geben kann. Georget betonte mit Nachdruck die Flüchtigkeit des Gesichtsausdrucks beim Geisteskranken. Für ihn war direkte Beobachtung eine Notwendigkeit, um zu einem Verständnis seiner Physiognomie zu gelangen. Die Hauptkritik an einer Physiognomik der Geisteskrankheiten hat hier ihren Ursprung nicht in ihrer Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, sondern, wie schon bei Pinel, an ihrem Be¬ darf an direkter Beobachtung. Es ist außerdem augenscheinlich, daß Georgets Ansichten über psychiatrische Illustrationen trotz ihrer Ähnlichkeiten mit denen der Phrenologen, dennoch von jenen abweichen. Sein Interesse liegt eher darin, momentane typische Physiognomien für weitere Studien festzuhalten. In dieser Absicht bat er seinen Freund Theodore Gericault, einer der bedeutendsten fran¬ zösischen Maler der Romantik, zwischen 1821 und 1824 eine Serie von zehn Pa¬ tienten der Salpetriere als potentielle Illustrationen zu malen. Fünf dieser Bilder sind erhalten. Sie sollten später als Vorlage für Stiche dienen. Sie sind deshalb, wie die Illustrationen zu Esquirols Werk, ohne Hintergrund gemalt. Sie sind je¬ doch auch als Portraits gemalt. Im Unterschied zu vielen Illustrationen Esquirols und anderer zeitgenössischer Illustrationen, z.B. eines Fuseli, zu eher symboli¬ schen Zuständen des Wahnsinns, erfassen Gericaults Bilder alle passiven Stadien. Sein Portrait der „monomanie du vol” wird im systematischen Katalog seiner

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Werke beschrieben als „. . . intelligenter Kopf mit einem Ausdruck von Unverfro¬ renheit und Perversität.”^ Solche Eigenschaften sind jedoch meist aus der Tota¬ lität des Ausdrucks herausgelesen. Die Portraits sollen sowohl die Einzigartigkeit als auch die Universalität eines jeden einzelnen geistigen Zustands bei jedem ein¬ zelnen Patienten festhalten. Der Beobachter hat hier die seltene Möglichkeit zu beurteilen, wie der Künstler, der mit dem Patienten in unmittelbarem Kontakt stand, die Physiognomie des Geisteskranken interpretierte. Alle Zwischenstadien fehlen. Es ist augenscheinlich, daß Gericault viele Techniken der Portraitmalerei dazu verwendet hat, die Individualität eines jeden Patienten in angemessener Weise festzuhalten. Sie sind jedoch, als zeitgenössiche Vertreter des Genre der Portraitmalerei, alle ausnahmslos Halbstudien der Patienten, wobei das Schwer¬ gewicht auf das Gesicht des Modells gelegt ist, das als Ausgangspunkt für jede In¬ terpretation seines oder ihres geistigen Zustandes dient.

V. Die physiognomische Tradition in England Der Bruch mit der moralischen oder symbolischen Darstellung des Geisteskran¬ ken vollzog sich in England unter dem direkten Einfluß der französischen Tradi¬ tion. 1825 veröffentlichte Alexander Morison seine Outlines of Lectures on Mental Diseases (Skizzen zu Vorlesungen über Geisteskrankheiten). Im folgenden Jahr wurde dieses Werk in seiner zweiten Auflage um substantielle Texterweite¬ rungen und einen Anhang von dreizehn Stichen erweitert. Obwohl einige dieser Tafeln aus Esquirols Werk entnommen waren, lag der Schwerpunkt bei Morisons Illustrationen ausschließlich auf dem Gesicht. Er beschreibt in der „Erläuterung zu den Tafeln”, daß „die Wiederholung derselben Ideen und Gefühle, und die sich daraus ergebende Wiederholung derselben Muskelbewegungen des Auges und Gesichts einen besonderen Gesichtsausdruck verleihen, der im Stadium der Gei¬ stesgestörtheit eine Kombination aus Wildheit, Zerstreutheit oder Leere und je¬ nen dominierenden Ideen und Emotionen ist, die die verschiedenen Arten geisti¬ ger Gestörtheit charakterisieren. . .” Morison steht in Opposition zu den rein ma¬ terialistischen Ansichten von Gail und Spurzheim und sieht, daß „die folgende Serie von Bildtafeln. . . einen Begriff von der beweglichen Physiognomie bei be¬ stimmten Arten von Geisteskrankheiten geben.”21 Morison postuliert damit den Gesichtsausdruck nicht als das Resultat eines dem Patienten anhaftenden Defekts, sondern als Resultat einer Aneignung von Ausdrucksmustem, bedingt durch konstante Wiederholung. 1840 brachte Morison einen selbständigen Atlas der Geisteskrankheiten heraus, seine Physiognomy of Mental Diseases (Physiognomik der Geisteskrankheiten), der 98 Illustrationen enthielt. Die ergänzenden Portraits zeigen den Verzicht auf die scharfen Linien des Stichs zugunsten einer mehr impressionistischen Verwendung der Lithogra¬ phie. Diese Skizzen scheinen den momentanen Zustand des Kranken festhalten zu wollen. Hier ist eine bedeutende Veränderung in der Illustrationstechnik un-

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temommen worden, die zudem der Bewegung der Patienten größeren Raum ein¬ zuräumen scheint. Morison konzentriert sich noch auf die Gesichter seiner Pa¬ tienten, aber der generelle Schwerpunkt ist auf die allgemeine Haltung der Ge¬ stalt verlagert. Esquirols Einfluß wird bei Morisons anfänglicher Verwendung sei¬ nes Illustrationsmaterials noch deutlich; in der umfangreicheren Sammlung zeigt der Kontrast zwischen diesen frühen Portraits und den Lithographien des Jahres 1838 Morisons eigenen bedeutenden Beitrag zu der Tradition der psychiatrischen Illustration.

VI. Die physiognomische Tradition in Deutschland Eine weitere Ergänzung zu diesen frühen Versuchen, die Wahrscheinlichkeit psy¬ chiatrischer Illustrationen zu erhöhen, findet sich in der zweiten Ausgabe von Karl Heinrich Baumgärtners Kranken-Physiognomik aus dem Jahre 1842. Baum¬ gärtner präsentiert einen weiten Bereich von Illustrationen zum äußeren Erschei¬ nungsbild von Patienten, einschließlich solcher, die an verschiedenen Formen von Geisteskrankheit leiden. Alle diese Illustrationen sind handcoloriert, was der Darstellung Unmittelbarkeit verleiht. Gericaults Bilder waren zu schwarz-weiß Stichen reduziert worden; Baumgärtner verwendet die auf Skizzen von Sandhas basierenden Stiche und wertet sie durch Colorierung auf. Aber die den sieben Il¬ lustrationen von Baumgärtner zugrundeliegende Philosophie reflektiert noch im¬ mer ein simplifiziertes Verständnis des Verhältnisses Körper-Geist: „Die Seele beherrscht die motorischen Nerven; es reflectiert sich daher ihr Zustand in den Bewegungen des Körpers.”^^ So portraitiert er Gestik und Haltung ebenso wie äußere Erscheinung. Die Tradition der Baum gär tn ersehen Darstellung der menschlichen Physiognomie findet ihren Widerhall in Karl Wilhelm Idelers Bio¬ graphien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwicklung dargestellt aus dem Jahre 1841. Die elf von Ideler dargestellten klinischen Studien sind von Lithographien der betreffenden Patienten von der Hand C. Reseners begleitet. In ihrer Analyse zwar weit anspruchsvoller als die Fallstudien Baumgärtners, re¬ flektieren Idelers Portraits aber noch die monistische Anschauung über die Be¬ ziehung von Geist und Körper, wie sie bei Baumgärtner zu finden war.

VII. Die Einführung der Photographie Ungefähr um 1850 erfuhr die psychiatrische Illustration durch einen bedeuten¬ den Durchbruch in der Technik neue Impulse: die Anwendung der kurz zuvor erfundenen Photographie zur bildlichen Darstellung von Geisteskranken. Die Photographie hatte sich in den dreißiger Jahren in England und Frankreich mehr oder weniger gleichzeitig entwickelt. Obwohl die Wissenschaft zu den ersten An¬ wendungsgebieten der Photographie gehörte, dauerte es bis in die Fünfziger Jahre, bis von Hugh W. Diamond ein systematischer Versuch der Anwendung der

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Photographie in der Psychiatrie unternommen wurde. In seiner Eigenschaft als Direktor der Frauenabteilung der Irrenanstalt von Surrey County begann Dia¬ mond sein Interesse an der Photographie auf seine Patienten anzuwenden. Am 22. Mai 1856 trug Diamond seinen richtungsweisenden Aufsatz On the Applica¬ tion of Photography to the Physiognomie and Mental Phenomena of Insanity (Über die Anwendbarkeit der Photographie hinsichtlich physiognomischer und mentaler Phänomene der Geisteskrankheit) vor der Royal Society (Königlichen Gesellschaft) vor. Diamonds Aufsatz skizziert drei Hauptbereiche, in denen die Photographie als Mittel zur Diagnose und Behandlung der Geisteskranken ver¬ wendet werden könne. Erstens: die Photographie „spricht für sich selbst mit höchster Eindringlichkeit.”^ Sie ist eine in ihrer Objektivität zuverlässige Auf¬ zeichnung der Physiognomie der Geisteskranken. Zweitens kann sie aus diesem Grund zur Katalogisierung der Entwicklung mentaler Pathologien verwendet werden. Drittens kann sie dem Patienten auf die direkteste Art seinen eigenen pathologischen Zustand enthüllen. Die Photographie stellt demnach für Diamond eine substantielle Verbesserung gegenüber den älteren Formen psychiatrischer Il¬ lustrationen dar. Der gleiche Gedanke kam dem anonymen Schreiber im Cornhill Magazine von 1861: Es ist in gleicher Weise wahr, daß es mit den Portraits und den Sti¬ chen, wie wir sie hatten, völlig unmöglich war, über die nebulöse Wis¬ senschaftlichkeit eines Lavater hinauszukommen. Wir bedurften der Photographie. Sicherlich erscheint es schwerwiegend zu sagen, daß den großen Portraitmalern nicht zu trauen ist. Sollten diese Meister etwa ihr Handwerk nicht verstanden haben, und sollte es ihnen nicht gelungen sein, uns eine genaue Ähnüchkeit von den Personen wider¬ zugeben, die ihnen Modell saßen? Man muß daran erinnern, daß es zum einfachsten in der Kunst gehört, eine allgemeine Ähnlichkeit wi¬ derzugeben. Mit einem halben Dutzend Linien ist das Bild vollstän¬ dig, wie Jedermann an den unzähligen Holzschnitten heutzutage se¬ hen kann; dabei wäre es aber schwierig, aus diesen rohen Skizzen, wo zwei Punkte für die Augen stehen, und ein Strich für den Mund, zu folgern, wie die genaue Anatomie eines jeden Gesichtszuges ist. Ob¬ wohl wir die Portraits, die uns überkommen sind, in der Hauptsache als wahrhaftig akzeptieren können, so ist es unmöglich, sich auf ir¬ gendeinen besonderen Gesichtszug vollkommen zu verlassen.“4 Betrachtet man Diamonds Photographien heute, so wird deutlich, daß die auf¬ grund der Unmittelbarkeit des Mediums Photographie zu vermutende Objektivi¬ tät suspekt ist. Die Photographien sind wegen der in der Talbotphotographie noch erforderlichen langen Belichtungszeit statisch. Diamonds Bilder von Gei¬ steskranken sind mit der Portraitphotographie seiner Zeit und mit der allgemei¬ nen, von Esquirol geprägten Tradition eng verwandt. Die neue Technologie ver¬ langt nach Aufzeichnungen jedweder Art, nur nicht eines starren Ausdrucks.

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Die Bedeutung von Diamonds Theorie und Praxis der psychiatrischen Illustra¬ tion wurde fast unmittelbar erkannt. Benedict Augustin Morel bringt in dem Atlas zu seinem 1857 veröffentlichten Traite des degenerences physiques, intellectuelle et morales de l’espece humaine et des causes que produisent ces Varietes maladises (Lehrbuch der physischen, intellektuellen und moralischen Degenera¬ tionserscheinungen des Menschen und der Ursachen dieser verschiedenen Krank¬ heiten) zumindest eine auf photographischer Darstellung basierende Bildtafel einer mentalen Pathologie. Bei Morel können die Schwierigkeiten der ersten Ge¬ neration psychiatrischer Illustration mittels der neuen Technologie der Photo¬ graphie gesehen werden.Denn obwohl die Photographie der Ausgangspunkt für die Illustration ist, geschieht die Reproduktion mittels der Lithographie. Die¬ ser Ersatz eines Mediums durch ein anderes führte zu subtilen aber bedeutungs¬ vollen Änderungen. Ein Zeitgenosse, H.G. Wright, bemerkte, daß es einer Litho¬ graphie „. . . vollkommen all jener Feinheiten des Ausdrucks ermangelt, die einer solchen Illustration allein Wert verleihen könnten.”26 Seine Bemerkung richtete sich jedoch nicht gegen Morel, sondern gegen die Reproduktion einer Auswahl der Photographien von Hugh W. Diamond in einer Aufsatzreihe von John Conolly. Conolly, eine der bedeutendsten Gestalten in der englischen Psychiatrie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, publizierte diese Essaysüber,,'The Physiognomy of Insanity” (Physiognomik der Geisteskrankheit) 1858 in The Medical Times and Gazette. Conolly glaubte, daß ein Studium wissenschaftlicher Abbil¬ dungen von Geisteskranken zu einem Verständnis des „besonderen Ausdrucks und des allgemeinen äußeren Charakters von mentalem Leiden, oder Geistesge¬ störtheit, und der strukturellen Veränderungen sowohl von primären als auch von sekundären Anomalien des Gehirns. . führen könnte. Denn Conolly glaubte, daß weder Esquirol noch Morison eine wahrhaft wissen¬ schaftliche Darstellung der Stimmungen von Geisteskranken gelungen war wegen der Grenzen im „graphischen Können oder. . . in der Kunst des Malers.” Photo¬ graphie jedoch vermag dies: In einer gut ausgeführten Photographie liegt eine so einzigartige Treue in der Widergabe, daß der Eindruck einer gerade erfolgten Muskelbewegung des Gesichts bei diesem Verfahren eingefangen wer¬ den kann. Diese Besonderheit scheint einen Teil der oft zum Aus¬ druck gebrachten Unzufriedenheit hervorzurufen, wenn Leute die photographischen Portraits ihrer Freunde oder ihrer selbst sehen. Sie verleiht jedoch einen besonderen Wert, wenn, wie bei den Portraits von Geisteskranken, es das Ziel ist, den einzigartigen Ausdruck widerzugeben, der aus den morbiden Bewegungen des Verstandes entsteht, und so, anstatt Bilder zu geben, die man nur mit eitler Neu¬ gier anschaut, Bilder liefert, die mit Gewinn studiert werden können... 27' Hier wird das Problem des Übergangs von der Photographie zur Lithographie

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deutlich. Denn obwohl Photographien von Geisteskranken als Gegenstand wis¬ senschaftlicher Untersuchungen zugänglich sind, finden sie wegen der Reproduk¬ tionsschwierigkeiten und den damit verbundenen hohen Kosten als Illustrations¬ material noch keine Verwendung. Obwohl Isaac Newton Kerlin im Jahre 1858 tatsächlich eine Serie von Photographien zur Illustration seines The Mind Unveiled, or A brief history of twenty-two imbecile children (Der unverhüllte Geist, oder Eine kurze Geschichte zweiundzwanzig schwachsinniger Kinder) verwendet, bleibt dies doch einer der seltenen Versuche einer direkten Verwendung des Me¬ diums Photographie. Medizinische Handbücher der fünfziger und sechziger Jahre befassen sich mit der Frage der bildlichen Darstellung von Geisteskrankheit. Wilhelm Griesingers Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten von 1845, eines der be¬ kanntesten Lehrbücher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, diskutiert diese Frage im Detail, ohne jedoch irgendwelche Illustrationen zu bringen.Griesinger wirkte jedoch bei der Errichtung des Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankhei¬ ten im Jahre 1868 mit, das, vom ersten Band an Lithographien mentaler Patho¬ logien veröffentlichte. In Max Leidesdorfs Lehrbuch der psychischen Krankhei¬ ten von 1865 präsentiert der Autor eine Reihe von Illustrationen, die „die we¬ sentlichsten Formen der psychischen Krankheiten, von der melancholischen Ver¬ stimmung bis zum ausgesprochensten Blödsinne darstellen. . und auf Photo¬ graphien aus der Anstalt in Hall basierten.3® So wurden noch in den sechziger Jahren interpretierende Lithographien zur Illustration medizinischer Texte ver¬ wendet. Das Konzept der Darstellung von Geisteskranken war zum Allgemeingut in der medizinischen Literatur geworden. So muß Leidesdorf die Verwendung solchen Bildmaterials nicht einmal rechtfertigen.

VIII. Darwin und der Anfang der Ausdruckspsychologie Die Periode des Übergangs in der psychiatrischen Illustration endete in den sieb¬ ziger Jahren. Komplizierte Theorien zum Verhältnis von Geist und Körper er¬ schienen allmählich in den fünfziger Jahren, gleichzeitig mit der Einführung der Photographie in das Studium psychiatrischer Pathologien. Dennoch dauerte es bis in die siebziger Jahre, bis sich diese beiden bedeutenden Richtungen trafen. Alexander Bain hatte — in den Fußstapfen von John Stuart Mill —, in seinem The Senses and the Intellect (Sinne und Intellekt) von 1855 und The Emotions and the Will (Emotionen und Wille) von 1859 ‘Bewußtsein’ neu definiert.31 Die mechanistische Beziehung zwischen mentaler Pathologie und ihrem einzigartigen Ausdruck, die frühere Theorien der Darstellung vom Geisteskranken so über¬ schattete, bedürfe der Modifizierung, sobald die Beziehung zwischen Gesichtsaus¬ druck und Geisteskrankheit als in den normalen Formen des Ausdrucks verwur¬ zelt angesehen wird. Bain diskutiert diese Frage nicht direkt. 1873 erschien je¬ doch ein Band, der, oberflächlich betrachtet, keinen größeren Beitrag zur Ent-

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Wicklung der psychiatrischen Illustration darstellen sollte, der tatsächlich aber deren Konzept vollständig veränderte. Charles Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animais (Gefühlsausdruck bei Mensch und Tieren) wird allgemein als die Pionierarbeit auf dem Gebiet menschlicher und tierischer Aus¬ drucksweise betrachtet. Während Darwins Band als erste bedeutende Ausdrucks¬ studie betrachtet wird, hat man seiner Schlüsselstellung in der Entwicklung der psychiatrischen Illustration keine Aufmerksamkeit gezollt. Darwins Studie ba¬ sierte auf drei Hauptquellen: seinen eigenen Beobachtungen (insbesondere an sei¬ nem eigenen Kind), anthropologischen und zoologischen Studien und Beschrei¬ bungen und einer ausgedehnten Sammlung von Illustrationen und Photogra¬ phien, von denen einige der Arbeit von Charles Bell, andere Guillaume Benjamin Armand Duchennes Mecanisme de la Physiognomie humaine ou analyse electrophysiologique de l’expression des passions (Mechanismus der menschlichen Phy¬ siognomie, oder Elektrophysiologische Analyse des Ausdrucks von Leidenschaf¬ ten) aus dem Jahre 1862 entnommen waren .Darwin konnte neben diesen Litho¬ graphien auch Originalphotos heranziehen. Einige stammten von einem der be¬ kanntesten spätviktorianischen Photographen, Oscar Rejlander. Aber eine Unter¬ suchung des von Darwin verwendeten Illustrationsmaterials, das sich heute zu¬ sammen mit seinen Unterlagen in der Bibliothek der Universität Cambridge be¬ findet, zeigt, daß Darwin außerdem zu hunderten von Photographien psychiatri¬ scher Patienten Zugang hatte.32 Diese Photos machen einen Großteil des unver¬ öffentlichten Materials für seine Studie aus. Sie waren von Dr. J. Crichton Browne von der West-Riding-Anstalt aufgenommen worden. Brownes Beobach¬ tungen der Emotionen und ihres Ausdrucks bei Geisteskranken sind bei Darwin wörtlich zitiert. Darwin druckt sogar eine der Photographien Brownes ab, als Lithographie jedoch. Während andere Studien der menschlichen Physiognomik aus dem 19. Jahrhun¬ dert die Physiognomie des Geisteskranken nur im Vorübergehen streiften, wie z.B. Theodor Piderits Mimik und Gestik von 1867, werden Geisteskranke bei Darwin erstmals als nicht völlig einzigartig, sondern als Teil des Kontinuums menschlichen Ausdrucks betrachtet. Darwin bezieht sich zehnmal ausführlich auf den Ausdruck bei Geisteskranken und beobachtet in jedem dieser Fälle einen verstärkten Effekt der Emotionen auf die Kranken. Nach Darwins „intensiviert der freie Ausdruck einer Emotion mittels nach außen gerichteter Zeichen diese Emotion.”33 Die Übersteigerung in der Physiognomie des Geisteskranken hat ih¬ ren Ursprung in dieser Intensivierung. So würde die Wiederherstellung der Kon¬ trolle über die Emotionen eine Zurückführung in den Normalzustand des Aus¬ drucks darstellen. Alle Beispiele Darwins zu Geisteskrankheiten verdeutlichen die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem Normalzustand. Seine Illustration „von einer Photographie einer geisteskranken Frau, die den Zustand ihres Haares zei¬ gen soll”, zeigt das Sträuben des Haars als ein „sicheres und praktisches Krite¬ rium eines . . . geistigen Zustands.” Er zitiert aus Browne,.als empirische Bestätigung jener Beziehung zwischen dem Zustand des Haaresund des Verstan¬ des beim Geisteskranken” die folgende Beobachtung eines Patienten über einen

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anderen: ,,‘Ich glaube, der Zustand von Frau. . . wird sich bald bessern, denn ihr Haar wird glatt und weich; ich stelle immer fest, daß sich der Zustand unserer Pa¬ tienten bessert, wenn deren Haar aufhört, rauh und widerspenstig zu sein.’”34 Darwin betrachtet Ausdruckspathologie als vorübergehenden Zustand, der aus einer Unterbrechung der normalen Kontrolle über die Emotionen resultiert. Sei¬ ne Theorie bedeutet einen radikalen Bruch mit der rein diagnostischen Funktion starrer Ausdruckszustände, wie man sie in früheren Abbildungen von Geistes¬ kranken findet. Darwin bringt außer den 21 Lithographien noch sieben Heliotyptafeln. Er ist sich des verzerrenden Effekts in der Lithographie wohl bewußt, wenn er zu der Photographie einer geistesgestörten Patientin bemerkt: „ich ließ eine der Photographien kopieren, und die Radierung gibt, wenn sie aus einer ge¬ wissen Distanz betrachtet wird, eine zuverlässige Reproduktion des Originals wi¬ der, mit Ausnahme des Haares, das eher zu grob und zu gelockt erscheint.”35 Medizinische Werke lehnten es ab, sich auf solche Kompromißabbildungen von Geisteskranken für ihre Illustrationen zu verlassen.

IX. Das Ende des Jahrhunderts Zwischen 1877 und 1880 veröffentlichten Desire Magloire Bourneville und Paul Regnard, die beide der Salpetriere angehörten, die Inconographie photographique de la Salpetriere (Photographische Ikonographie der Salpftriere). Diese Samm¬ lung illustrierter Untersuchungen stützte sich auf direkte Reproduktion medizi¬ nischer Abbildungen von Geisteskranken. 1888 wurde unter der Leitung von J.M. Charcot, dem Direktor der Salpetriere, die Zeitschrift Nouvelle Iconographie de la Salpetriere (Neue Ikonographie der Salpetriere) begründet. Unter den Grün¬ dern war Albert Londe, Direktor der photographischen Abteilung der Anstalt. Diese Zeitschrift, die sich sowohl illustrierten Untersuchungen von Psychopatho¬ logien als auch Untersuchungen zur Darstellung von Geisteskrankheit in den bil¬ denden Künsten widmete, existierte nur in 28 Bänden bis zum Jahre 1918. In den neunziger Jahren gehören sowohl Photographien als auch die Diskussion über den Geisteskranken zum festen Bestand in medizinischen Werken über Gei¬ steskrankheiten. Henri Dagonets Traite des maladies mentales (Lehrbuch der Gei¬ steskrankheiten) aus dem Jahre 1894 weist 42 Photographien auf. Sie ergänzen die Diskussion über die Physiognomie der beschriebenen Psychopathologien. So beschreibt Dagonet z.B. die für Fälle von Manie typischen äußeren Symptome: Die Physiognomie des Manischen enthüllt auf den ersten Blick die ge¬ störte Ordnung seiner Gedanken, die Zusammenhanglosigkeit seiner Ideen und den Aufruhr seiner Gefühle. Bis zu einem gewissen Grad reflektiert sie die verschiedenen Stadien und die spezifische Form der Krankheit. Das Gesicht ist von lebhafter Farbe, zuweilen jedoch auch von bemerkenswerter Blässe; sehr häufig sind die Gesichtszüge entstellt, abgezehrt. Die Haare sind in Unordnung; die Kleidung zer-

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rissen, unsauber, die Gestik deutet ebenso wie die Sprache auf eine Art Unverschämtheit und Brutalität hin, die deutlich das Vorherr¬ schen instinktgeleiteter Tendenzen und schlechter Triebe verrät, die den Kranken dominieren. Der Blick des Manischen ist charakteri¬ stisch: von exzessiver Mobilität hat er doch etwas Vages, Unsicheres, bisweilen Freches; er heftet sich auf nichts, macht nirgends halt. Die Augen sind lebhaft, glänzend, manchmal von konvulsiven Bewegun¬ gen; die Pupille weitet und verengt sich im Wechsel; sie ist äußerst lichtempfindlich. Auf dem Höhepunkt des Anfalls sind die Augen im wahrsten Sinn des Wortes ‘funkelnd’; bei einigen Kranken sind die Lider von spastischen Blinzeln befallen.37 Die Universalität von Dagonets Beschreibung wird durch die Abbildung einer ty¬ pischen Photographie eines Patienten, der an solch einer ‘manischen Erregung’ leidet, unterstrichen. Dagonet präsentiert anhand der Gestik, äußeren Erschei¬ nung und des Gesichtsausdrucks beim Kranken eine ganze Skala von Sympto¬ men. Er gibt Pinels Zurückhaltung auf, aus spezifischen Fällen allgemeine Kate¬ gorien abzuleiten. Eine Parallele hierzu bietet der letzte größere Atlas psychia¬ trischer Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert, A. Albers Atlas der Geistes¬ krankheiten, der, 1898 zusammengestellt, erst 1902 veröffentlicht wurde. Alber legt 110 Photographien von geisteskranken Patienten vor, mit lichtempfindli¬ chem Film aufgenommen. Aufgrund der technischen Verbesserungen zu Ausgang des Jahrhunderts mußten Photographien nicht mehr nur auf stillsitzende Patien¬ ten beschränkt bleiben. So konnten typische Gesten mit der Kamera eingefan¬ gen werden. Robert Sommer, der die Einführung zu diesem Band schrieb, stellte die technische Reproduktion von Photographien mit ihrem diagnostischen Wert auf eine Ebene: ,,Dabei galt es einerseits, die physiognomischen Züge nach klini¬ schen Gesichtspunkten zusammenzustellen, andererseits die technischen Beson¬ derheiten der Aufnahme, welche die klare Hervorhebung bestimmter Erschei¬ nungen ermöglichen, kenntlich zu machen.”38 Sommers und Albers Sinn für den spezifischen Charakter und die Grenzen der Photographie stellen die letzte Ent¬ wicklungsstufe in der Illustration psychiatrischer Fälle dar, die von den simplifi¬ zierenden Zeichnungen eines Lavater und Pinel im ausgehenden 18. und begin¬ nenden 19. Jahrhundert bis zur anspruchsvollen Verwendung lichtempfindlicher Kameras am Ende des Jahrhunderts reicht.

X. Abschließende Betrachtungen Mit der allmählichen Verbesserung der Reproduktionsmittel verlor sich das Be¬ wußtsein für den Zusammenhang mit den Anfängen der psychiatrischen Illustra¬ tion. Die theoretischen Grundlagen der Verwendung von Abbildungen von Gei¬ steskranken wurden damit aber nicht aufgegeben. Die den Abhandlungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts über Physiognomik eigene Theorie, die eine Er-

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scheinungsstandardisierung und eine Skala ihrer Abweichungen errichtete, ist das ganze 19. Jahrhundert lebendig. Während sich die Theorien zu den Ursachen sol¬ cher Variationen vom primitiven Konzept statischer Physiognomie über die Phrenologie zu den komplexen Theorien der Gesichtsmuskelfunktion entwickel¬ ten, wurde die Vergleichsskala Normalität/Anomalität des Gesichtsausdrucks oder der Erscheinung nie aufgegeben. Obwohl zahlreiche Klassifkationssysteme der Geistesgestörtheit im Laufe der Entwicklung der klinischen Psychiatrie von Pinel bis Charcot entwickelt wurden, stützten sich die meisten Klassifikationen im 19. Jahrhundert auf die Verwen¬ dung von psychiatrischen Illustrationen. Das deskriptive Moment spielte in allen diesen systematischen Klassifizierungen eine ausschlaggebende Rolle. Das ge¬ meinsame Moment aller wissenschaftlichen Klassifizierungen seit Linnaeus ist das Bestreben, diese Klassifizierung direkt auf beobachtbare Phänomene zu be¬ gründen, und dies gilt besonders für medizinische Klassifizierungen. Die lange und bemerkenswerte Geschichte der anatomischen Illustration verläuft mit der Entwicklung von Klassifizierungssystemen parallel; ebenso die Verwendung von Illustrationsmaterial in der Geschichte der klinischen Kategorisierungim 19. Jahr¬ hundert. Unbeantwortet ist die Frage, ob eine Physiognomik der Geisteskrankheiten, auf die man sich im 19. Jahrhundert stützte, tatsächlich existiert. Es ist unbestritten, daß viele Arten von Geisteskrankheiten, die man zumindest im 19. Jahrhundert als solche verstand, und hierbei besonders die somatischen Ursprungs, eine Aus¬ druckspathologie haben; daß starre, ungleiche Pupillen eines der erkennbaren Symptome von progressiver Paralyse oder daß das Downsche Syndrom im allge¬ meinen an einer Reihe physiognomischer Abweichungen erkannt wird. Ob je¬ doch der fließende und oft widersprüchliche Ausdruck anderer Formen von Gei¬ steskrankheit ebenso reduziert werden kann, ist eine Frage, die noch immer un¬ beantwortet ist.39 Die Schwierigkeit dieser Frage wird durch den Umstand vergrößert, daß die Ent¬ wicklung medizinischer Abbildungen von Geisteskrankheit im 19. Jahrhundert von vielen außermedizinischen Gesichtspunkten abhängig war. Die Tatsache, daß man die Anfänge solcher medizinischen Abbildungen von Geisteskrankheit in der Tradition der physiognomischen Illustration findet, macht eine Analyse der Vor¬ aussetzungen solcher Illustrationen erforderlich. Die gegenseitige Befruchtung zwischen medizinischen und anderen Abbildungen von Geisteskrankheit, bei de¬ nen ein moralisches oder literarisches Interesse im Brennpunkt stand, verdunkelt das Problem zusätzlich. Es scheint fast, daß mit verfeinerten Reproduktionsmit¬ teln zur Hand und komplizierteren Theorien über die Interaktion von Geist und Körper, sich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit psychiatrischer Illustration von selbst lösen würde. Die zu jedem Stand der Entwicklung gegebenen techni¬ schen Grenzen der Photographie (bis hin zum Film) hat der vermeintlichen Ob¬ jektivität dieses Mediums Grenzen gesetzt. Allen diesen Reproduktionen ist der

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Prozeß der Selektion und Edition eigen. Diese einschränkenden Faktoren gingen bei dem Wunsch des 19. Jahrhunderts nach einer größeren positivistischen Ähn¬ lichkeit in der Portraitierung des Kranken verloren.4® Obwohl seit dem Portrait Paminas in der Zauberflöte eine radikale Änderung in der Betrachtung des Gei¬ steskranken stattgefunden hat, hat sich die Grundannahme nicht geändert: daß dem wissenden Auge der Geisteskranke anders erscheint als der Gesunde.

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ANMERKUNGEN

1

Die Zauberflöte, 2. Aufzug, 27. Auftritt.

2

Die Literatur zur medizinischen Abbildung hat die Frage der psychiatrischen Illustration fast gänzlich ignoriert. Robert Herrlinger berührt dieses Problem im ersten Band der Geschichte der medizinischen Abbildung, München: Moos 1967-1972, überhaupt nicht, und der zweite Band, verfaßt von M. Putscher, befaßt sich nur mit Gericault. Weitere, in diesem Zusammenhang zu nennende Werke sind: Helmut Vogt: Das Bild des Kranken: die Darstellung äußerer Veränderungen durch innere Leiden und ihrer Heilmaßnahmen von der Renaissance bis in unsere Zeit. München 1969. Kunst und Medizin. Köln: DuMont/Schau bürg 1966. Rudolf Lemke: Psychiatrische Themen in Malerei und Graphik. Jena: Gustav Fischer 1958. Rene Fiilöp-Miller: Kampf gegen Schmerz und Tod: Kulturgeschichte der Heilkunde. Berlin: Süd-Ost 1938. Hermann August Adam: Über Geisteskrankheit in alterund neuer Zeit: Ein Stück Kulturgeschichte in Wort und Bild. Regensburg: L. Rath 1928. Eugen Holländer: Die Karrikatur und Satire in der Medizin. Stuttgart: Enke 1905. Jean Martin Charcot et Paul Richer: Demoniaques dans l’art. Paris: A. Delahaye et E. Lecrosnier 1887. Diese Studie geht der Darstellung von Hysterie in der Kunst nach, die in einem Kapitel über ,,les demoniaques convulsionnaires d’aujourd’hui” gip¬ felt, in dem detaillierte Zeichnungen von Patienten aus dem späten 19. Jahr¬ hundert widergegeben werden. (Vgl. Henri F. Ellenberger: The Discovery of the Unconscious: The History and Evolution of Dynamic Psychiatry. New York: Basic Books 1970, S. 95). Ein kurzer Kommentar zur geringen An¬ zahl früher psychiatrischer Illustrationen findet sich in Wolfgang Promies’ Auswahl aus Christian Heinrich Spiess: Biographien der Wahnsinnigen (1795 -96). Neuwied: Luchterhand 1966, S. 335-337.

3

Phillipe Pinel: Traite medico-philosophique sur l’alienation mentale, ou La manie. Paris: Richard, Caille et Ravier. IX 1801. Zu Pinel vgl. Walter Riese: The Legacy of Phillipe Pinel: An Inquiry into Thought on Mental Alienation. New York: Springer 1969.

4

George Rosen: The Philosophy of Ideology and the Emergence of Modern Medicine in France. In: Bulletin of the History of Medicine 20(1946), 329339.

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5

Zu den Theorien der Physiognomik wurden zahlreiche Untersuchungen angestellt. Die besten sind die Einführungen zum Band Ausdruckspsycholo¬ gie, hrsg. von R. Kirchof: Handbuch der Psychologie 5. Göttingen: Hogrefe 1965. Hier in P. Kirchhof: Zur Geschichte des Ausdrucksbegriffs, S. 9-38 und K. Holzkamp: Zur Geschichte und Systematik der Ausdruckstheorien, S. 39-116. Unter kunsthistorischen Gesichtpunkten bleibt die beste Einfüh¬ rung Ernst Kris: Die Charakterköpfe des Franz Xavier Messerschmidt. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen. Wien N.F. 6 (1932) 169-228. Letztere enthält zahlreiche Illustrationen zu Werken der Physiognomik.

6

Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur: Wiedmann 1776,S.2,181. Zu Lavater vgl. Reinhard Kurz: Johann Caspar Lavaters Physiognomielehre im Urteil von Haller, Zimmermann und anderen zeitgenössischen Ärzten (Züricher Medizingeschichtliche Abhandlungen N.F. 71). Zürich: Juris 1970.

7

Goethe und Lavater: Briefe und Tagebücher. Hrsg, von Heinrich Funck. (Schriften der Goethe-Gesellschaft 16). Weimar: Goethe-Gesellschaft 1901. S. 58. Vgl. außerdem den Corpus der Goethezeichnungen. Leipzig: See¬ mann 1958 ff. Vol.I: 239, vol. 3: 52, 122, 127, 133, 139, 140, 170.

8

Immanuel Kant: Werke. Hrsg. Wilhelm Weischedl. Wiesbaden: Insel 1964, 10,S.638-639.

9

Encyclopedia methodique, vol. 172: Medicine 9. Paris: Agasse 1816, S. 136219.

10

L’art de connaitre les hommes par Gaspard Lavater. Paris 1807, S. 8, 224, 230.

11

Charles Bell: Essays in the Anatomy of Expression. London: Longman et al. 1806, S. 153-157. Zu Bell vgl. Gordon Gordon-Taylor: Sir Charles Bell: His Life and Times. Edinburgh and London: E.S. Livingstone 1958. Besonders S. 17-26.

12

Ronald Paulson: Hogarth’s Graphic Works. New Haven: Yale University Press 1965, I, S. 169-170. Hogarths Bildtafel von Bedlam leistete einen wichtigen Beitrag zur neuen Tradition der Narrenhausszene. Eine Interpreta¬ tion dieser Tafel, die in der Weiterführung von Lichtenbergs Hogarth-Interpretation erschien (G.C. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarth' sehen Kupferstiche, mit verkleinerten, aber vollständigen Copien derselben, 3. Göttingen: Dieterich 1808, S. 132-144), wird in Moreau de la Sathes An¬ hang zur Physiognomik der Geisteskrankheit zitiert. Sie diente außerdem als Modell für Wilhelm Kaulbachs: Das Narrenhaus, 1835, die vielleicht bekann¬ teste Darstellung der Physiognomie der Geisteskrankheit in der graphischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Kaulbachs Stich wurde bei Guido Görres: Das Narrenhaus von Wilhelm Kaulbach. Regensburg: Pustet 1836 und bei Johann

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August Schilling: Psychiatrische Briefe oder die Irren, das Irresein und das Irrenhaus, Augsburg: Schlosser 1864, S. 387-473 ausführlich in der Tradi¬ tion der Physiognomik der Geisteskrankheit interpetiert. 13

Vgl. Antony Blunt: Blake’s Pictorial Imagniation. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1943, S. 203-204\Jean H. Hagstrum: William Blake: Poet and Painter. Chicago: Chicago University Press 1964, S. 38; Kathleen Raine: William Blake. London: Thames and Hudson 1970, S. 85. Blake verweist auf die Nebukadnezzar-Legende in einem Brief an William Payley vom 23. Oktober 1804 (Letters of William Blake, hrsg. Geoffrey Keynes. Cambridge: Harvard University Press 1968, S. 106.

14

Der Atlas wurde von Maze, Paris, herausgegeben. Zur Entstehung und Ver¬ breitung der Phrenologie vgl. David De Giustino: Conquest of Mind: Phrenology and Victorian Social Thought. London: Croom Helm 1975.

15 Johann Gaspard Spurzheim: Observations on the Deranged Manifestation of the Mind, orlnsanity. London: Baldwin Cradock and Joy 1817, S. 132137. Ein Nachdruck der Observations mit einer historischen Einführung von Anthony A. Walsh erschien 1970. Walsh schrieb außerdem die Einleitung zum Nachdruck von Andrew Combe: Observations on Mental Derangement. 1831. Delmar New York: Scholar’s Facsimiles 1972. Vgl. außerdem P.S. Noel und E.T. Carlson: The Origins of the Word ‘Phrenology’. In: American Journal ofPsychiatry 127,694-697. 16

Die in Deutschland sicherlich einflußreichste Gestalt in der Synthese von Phrenologie und Ausdruckstheorie war Goethes Freund Carl Gustav Carus. In seinen Vorlesungen über Psychologie gehalten im Winter 1829/30, hrsg. von Edgar Michaelis, Erlenbach-Zürich: Rotapfel, 1931, diskutiert Carus das Problem des Wahnsinns als die Unterbrechung der Identität von Verstand und Körper (Vorlesungen XI-XIII). In seinem Atlas Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioscopie, Stuttgart: Balz 1841, legt er zwei Bildtafeln mit den Schädeln von Geisteskranken vor. Eine Zusam¬ menfassung der zentralen Punkte seiner Arbeit ist seine Symbolik der menschlichen Gestalt: Ein Handbuch der Menschenkenntnis. Leipzig: Brockhaus 1853. Vgl. außerdem Gerhard Kloos: Die Konstitutionslehre von Carl Gustav Carus mit besonderer Berücksichtigung seiner Physiognomik (Bibliotheca psychiatrica et neurologica 90). Basel: Karger 1951.

17 Jean Etienne Dominque Esquirol: Des Maladies Mentales, considerees sous le rapport medical, hygienique et medico-legal. Paris: Bailliere 1838,11, 167. 18

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Die Tradition des symbolischen Ganzbildportraits der Wahnsinnigen findet sich in der gesamten englischen Kunst jener Zeit. Mortimers Britannia ba¬ siert auf einem Gedicht von Thomson, und Richard Rainagles The Fair Maria auf einer Gestalt in Sternes Sentimental Journey. Vgl .Peter Tomory: The Life and Art of Henri Fuseli. London: Thames and Hudson 1972, Ta-

fein 190-193. Die Tradition reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. 1864 schuf der belgische Maler Antoine Wiertz sein Faim, Folie, Crime. Trotz seines Symbolismus gehört dieses Gemälde in die Tradition der psy¬ chiatrischen Illustration. Vgl. Antoine Wiertz, 1806-1865. Paris-Bruxelles: Jacques Damse 1974. 19

Etienne Jean Georget: De la Folie. Paris: Crevot 1820, S. 133. Der grundle¬ gende Aufsatz zu Gericault und Georget ist nach wie vor Margaret Miller: Ge ricault s Painting of the Insane. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes (1940-41), 151-163. Wie Gericault so ging auch Goya in die Ir¬ renanstalten, um die Insassen zu malen. Seine Gemälde und Zeichnungen aus der Anstalt von Saragossa zeigen das Interesse jener Zeit an bestimmten Typen von Geisteskrankheit, die in vielen seiner anderen Werke wieder auf¬ tauchen. Vgl. August Liebmann Mayer: Francisco de Goya. In der Übersetzungvon Robert West. London: T.M. Dent 1924,Tafeln 115,401,402.

20

Charles Clement: Gericault. Paris: Didier 1879, Tafel 36 c.

21

Alexander Morison: Outlines of Lectures on Mental Diseases. London-Edin¬ burgh: Longman et al. 1826J, 125-126 und seine Physiognomy of Mental Diseases. London: Selbstverlag 1840, mit fast unveränderter Einleitung. Ein Nachdruck des Atlases in deutscher Übersetzung erschien 1853. Vgl. außer¬ dem Vieda Skultans (Hrsg.): Madness and Morals: Ideas of Insanity in the Nineteenth Century. London: Routledge and Kegan Paul 1975, S. 71-98.

22

Karl Heinrich Baumgärtner: Kranken-Physiognomik. Stuttgart: L.F. Rieger 18425, S. 22 und Karl Wilhelm Ideler: Biographien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwicklung dargestellt. Berlin: E.H. Schröder 1841. Vgl. Oppenheim: Beiträge zum Studium des Gesichtsausdrucks der Geisteskran¬ ken. In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 40 (1884), 840-863.

23

Sander L. Gilman: The Face of Madness: Hugh W. Diamond and the Origin of Psychiatric Photography. New York: Brunner and Mazel 1976, S. 19-24.

24

„The first principle of physiognomy”, Comhill Magazine 4 (1861), S. 570.

25

Benedict Augustin Morel: Traite des degenerescences physiques intellectuelles et morales de l’espece humaine et des causes que produisent ces Varietes maladises. Atlas de XII Plaches. Paris: J.B. Bailiiere 1857, S. 5: „Die Charakteristika intellektueller, physischer und moralischer Ordnung, die die krankhaften von den natürlichen Varianten in der Gattung unter¬ scheiden, waren der Gegenstand meiner Untersuchung im ‘Traite’, der diesen Atlas begleitet. Die Beschreibung aller Varianten, die vom menschlichen Normaltypus abweichen, wird — und dessen bin ich mir bewußt — nur durch eine Verallgemeinerung dieser Studien möglich sein. Dennoch glaube ich, be¬ reits so viele Fakten zusammengetragen zu haben, um unabweislich zu be¬ weisen, daß zwischen den natürlichen Rassen und den degenerierten Varian¬ ten distinktive, feste und unvariable Charakteristika bestehen.”

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26

H.G. Wright: On the medical uses of photography. In: The Photographie Journal 9 (1867), 204.

27 John Conolly: The Physiognomy of Insanity. In: The Medical Times and Gazette, N.S. 16 (1858), 3. 28

Veröffentlicht bei U. Hunt, Philadelphia.

29

Die Erstausgabe erschien 1845 bei Krabbe (Stuttgart), die zweite Ausgabe 1861, die dritte 1871, die vierte 1876 und die fünfte 1892. Eine englische Ausgabe erschien 1867 in New York.

30

Veröffentlicht in Erlangen von Ferdinand Enke, 18652. Andere zeitgenös¬ sische illustrierte Handbücher sind Dietrich von Kieser: Elemente der Psychiatrik. Breslau: Kaiserliche L.C. Akademie 1855, mit elf Bildtafeln, und A. Tebaldi: Fisionomia ed Espressione. Padua: Drucker e Tedeschi 1884, mit Büdtafeln aus Morison und Leidesdorf.

31

Für eine allgemeine Untersuchung dieser Frage vgl .Jerome Shaffers Aufsatz Mind-Body Problem. In: The Encyclopedia of Philosophy,ed. Paul Edwards. New York: Macmillan 1967, 5, 336-346.

32

Paul Ekman (ed.): Darwin and the Facial Expression. New York: Academic Press 1973, S. 261-262. Siehe auch meine Arbeit: Darwin sees the Insane. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 15 (1979), 253-262.

33

Charles Darwin: The Expression of the Emotions in Man and Animais. Lon¬ don: J. Murrey 1872, S. 12. Zu Darwins Diskussion des Geisteskranken vgl. S. 155-156, 185-186, 199,205,244-246,264,292-293,295-297,31 1.

34

Darwin (1872), 297.

35

Darwin (1872), 296.

36

Veröffentlicht in drei Bänden von Progres medical von 1877-1880.

37

Henri Dagonet: Traite des maladies mentales. Paris: J.B. Bailiiere 1894, S. 265-266.

38

A. Alber: Atlas der Geisteskrankheiten im Anschluß an Sommer’s Diagno¬ stik der Geisteskrankheiten. Berlin-Wien: Urban und Schwarzenberg 1902. Auch in seiner Diagnostik der Geisteskrankheiten für praktische Ärzte und Studierende. Wien-Leipzig: Urban und Schwarzenberg 1894, auf der Albers Atlas basiert, verwendet Sommer Photographien. 1895 veröffentlichte Theodore Ziehen im zweiten Band der neuen deutschen medizinischen Illu¬ stration gewidmeten Zeitschrift einen Aufsatz mit Illustrationen: Der Ge¬ sichtsausdruck des Zorns und des Unmuts bei Geisteskranken. In: Internatio¬ nale medizinische photographische Monatsschrift (1895), 225 ff. In England veröffentlichte das Journal of Mental Science (1855 ff.) zahlreiche Illustra¬ tionen von psychiatrischen Patienten.

39

100

Für eine Übersicht der neueren Literatur vgl. H. Brengelmann: Expressive

Movements and Abnormal Behavior. In: H.J. Eyseneck (Ed.): Handbook of Abnormal Psychology. New York: Basic Books 1961, S. 62-107; und M. Hertl: Allgemeine Pathologie des Ausdrucks unter besonderer Berücksichti¬ gung des Gesichtsausdrucks”. In: Ausdruckspsychologie. Hrsg, von R. Kirch¬ hof (1965), 309-350. 40

Eine bemerkenswerte Kritik der Grenzen darstellender Medien findet sich bei Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer 1913, S. 134. Für eine Übersicht anderer Theorien zu psychiatrischen Illustrationen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vgl. Theodor Kirchhof: Der Gesichts¬ ausdruck und seine Bahnen beim Gesunden und Kranken, besonders beim Geisteskranken. Berlin: Springer 1922, S. 28-29.

101

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Teil V

VINCENT VAN GOGH UND DIE IKONOGRAPHIE DES WAHNSINNS

Am Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte die bildliche Darstellung der Geistes¬ kranken in der Kunst eine erstaunliche Vielfalt erreicht. Elemente der Bedeut¬ samkeit in früheren Darstellungen der Kunst und medizinische Zeichnungen von verschiedenen psychopathologischen Zuständen waren so verwoben mit und un¬ tergegangen in volkstümlichem Gedankengut, daß ihre Vorgänger auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen waren. Beispiele solcher Schwierigkeiten in der In¬ terpretation sind im Spätwerk Vincent van Goghs zu finden.^ Schon Anfang der sechziger Jahre reflektiert das Werk van Goghs eine Faszina¬ tion für das Rekonstruieren klassischer Bilder von geistig und emotional anoma¬ len Zuständen. 1881 und 1882 zeichnete er eine Reihe sitzenderund weinender Figuren. Von seinem Aufenthalt in der Hague existieren Skizzen einer weinen¬ den Frau, ihren Kopf mit den Armen bedeckend, in schwarzer Farbe gezeichnet (F 1060, 1960).^ Aus der gleichen Zeit stammen wenigstens vier verschiedene Ansichten eines weinenden alten Mannes (1863, 164, 997, 998). Diese Zeich¬ nungen sitzender, weinender Gestalten kulminieren in zwei Hauptwerken, näm¬ lich die nackte Frauengestalt „Leid” (F 929, 929 bis, 1655) in drei Ausführun¬ gen, und die sitzende weinende Männergestalt in „Am Tor der Ewigkeit” (F 702, 1662) in seinen zwei Ausführungen. Ikonographisch stehen alle diese Werke in der Tradition der Renaissance-Darstellung der ‘Melancholie’ und ihrem Analog, der „Trauer”, die in volkstümlichem Gedankengut durch Albrecht Dürers Kup¬ ferstich „Melencholia I” typisiert wurdet Vincent van Gogh verändert die implizierten Bedeutungen dieser Gestalt in einer Art und Weise, die einerseits seine persönliche Ansicht über Depressionen reflek¬ tiert und andererseits die veränderte Haltung des späten 19. Jahrhunderts den Geisteskrankheiten gegenüber aufweist. Der Hintergrund in van Goghs Lithograph „Leid” reflektiert die Ansicht des Künstlers, die sich aus dem klassischen Vorbild der „Melancholie” entwickelt hatte. Van Goghs frühere Studien von sitzenden, weinenden Bauernfrauen ma¬ chen den nun mehr eckigen Darstellungen der abgezehrten dunkleren Frau in „Leid” Platz. Wie die früheren Studien war auch diese auf Beobachtungen aus er¬ ster Hand an Modellen aus der Arbeiterklasse basiert. Van Goghs Verhältnis zu dem Modell für „Leid”, der Frau, die er „Sien” nennt, ist ausführlich beschrie¬ ben in einem Brief von 1882 an seinen Bruder Theo. Vielleicht ist aber seine Be¬ schreibung der Ästhetik seines Modells in einem Brief an seinen Freund Rappard im Frühjahr des gleichen Jahres noch bemerkenswerter. „. . . Ich habe nie eine so gute Helferin gehabt wie die häßliche (???), verwelkte Frau. In meinen Augen ist sie schön, und ich finde in ihr genau das, was ich suche. Ihr Leben war rauh,

103

Leid und Unglück haben sie gezeichnet — jetzt kann ich etwas mir ihr machen.”4 Da diese Wirkung so erfolgreich festgehalten wurde in der Zeichnung, daß das Werk mehr diejenigen Eigenschaften darstellt, die er in der Lithographie festzu¬ halten suchte — eine Gestalt von der Last der Welt niedergedrückt. Van Gogh hat die anfänglich implizierten Bedeutungen der Gestalt der Melan¬ cholie gegenüber denen der Künstler der Renaissance verändert. Er filtriert auch seine Eindrücke von Sien durch noch ein anderes Prisma, denn seine Überschrift für die Zeichnung „Leid” (F 929) ist ein Zitat aus Jules Michelets La Femme, das er schon 1874 gelesen hatte: „Wie kann es sein, daß es eine einsame verlasse¬ ne Frau gibt auf der Erde?” Jean Seznec sagt dazu, daß „nach Michelet das 19. Jahrhundert das Jahrhundert des Elendes, des Verlassenseins auch der Verzweif¬ lung der Frau gewesen sei. Die Aufgabe des Mannes sei gewesen, sie zu befreien, und sie von allen Knechtschaften, die sie unterdrückt hielten, zu erlösen.Tat¬ sächlich ist Van Goghs „Leid”, obwohl es in der Traditionsreihe der RenaissanceGestalt der Melancholie steht, eine beträchtliche Erweiterung des philosophi¬ schen Begriffs der Gemütsunordnung. In der Renaissance wurde Melancholie als eine angeborene Eigenschaft des Individuums angesehen, in der die Oberherr¬ schaft bestimmter innerer Mächte unter den allgemeinen Einflüssen des Kosmos reflektiert wurde. Van Goghs Gestalten „Leid” und „Am Tor der Ewigkeit” stel¬ len Personen dar, die von der Unmenschlichkeit der Gesellschaft an den Rand des Abgrundes getrieben wurden. Sie sind von der Gesellschaft isoliert und kön¬ nen in ihr nicht mehr zweckmäßig leben. Der alte Mann, der keine nützliche Arbeit mehr leisten kann, und die verstoßene schwangere Frau sind beide Parias in der Ordnung der Gesellschaft, da sie keine wirtschaftlichen Vorteile zu bieten haben. Es gibt keinen Ausweg aus ihrem Di¬ lemma und ihre Niedergeschlagenheit ist eine realistische Reaktion auf ihre Le¬ benslage. Diese Gestalten der Depressionen sind jedoch nicht nur ein sozialer Kommentar, sie sind auch representativ für mögliche Wandlungen und zwar für die wichtigen Änderungen in der Haltung gegenüber Geisteskrankheit im 19. Jahr¬ hundert.^ Sie rufen das Gefühl der Sinnlosigkeit hervor, das auch in dem von Van Gogh benutzten Michelet-Zitat zum Ausdruck kommt: wie kann eine solche Vergeudung erlaubt werden? Van Gogh war scheinbar überzeugt, daß sein Ge¬ mälde genügt, diese Botschaft zu vermitteln, da er das Michelet-Zitat schließlich nicht unter seine Studie „Leid” setzte. Die Neuerarbeitung des klassischen Themas der Melancholie im Lichte von van Goghs ausgeprägtem sozialem Gewissen gibt uns ein Muster zum Verständnis von zwei späteren Bildern. Diese Werke (Die Männerstation in Arles, F. 646, und Kopf eines Patienten, F 703) stehen in einem ähnlichen ununterbrochenen Zu¬ sammenhang der Darstellungen von geistigen und emotionalen Störungen — Dar¬ stellungen, die ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert haben. Aber sie stehen nicht in einer so ausdrücklichen ikonoklastischen Tradition wie die Gestalten des Melan¬ cholikers, da ihr geschichtlicher Kontext nicht so gut bekannt ist. Die Männerstation in Arles steht in der Tradition der Asylszene, deren erster und

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bekanntester Vertreter die letzte Bildtafel in William Hogarths The Rake’s Pro¬ gress (1735-1763) ist. Diese Bildtafel ist der Abschluß der Chronik vom Unter¬ gang des Rakewell, dessen hingestreckte Gestalt umringt ist von Wärtern und von anderen Insassen im Bethlehem Hospital, dem sprichwörtlichen Irrenhaus. Die Reihe von Typen, die Hogarth illustriert, reflektiert die Ansicht des frühen 18. Jahrhunderts, daß Wahnsinn das Resultat einer Persönlichkeitsschwäche ist, die offengelegt wird von den Bedrängnissen und Versuchungen des täglichen Lebens. Angefangen von dem religiösen Fanatiker in der Zelle links bis zu dem schwer¬ mütigen Liebhaber auf der Treppe rechts ist das Irrenhaus als Mikrokosmos des eingeschlossenen und auf den Kopf gestellten Universums gesehen. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Tollhausszene nach dem Vorbild Ho¬ garths von Goya in zwei Gemälden des Irrenhauses in Saragossa weitergeführt. Wie in Hogarths Stich so sind auch hier die Typen der Insassen deutlich erkenn¬ bar als beschädigte Bewohner einer Welt hinter Mauern, angefangen vom Irren als König rechts bis zum hockenden Rasenden in seiner ,,casa de locos” zur Linken. Zum Unterschied von Hogarth läßt Goya einzelne Momente in seinem Gemälde erstarren. Die Reihenfolge der Abbildungen in The Rake’s Progress liefert den Zusammenhang für das letzte Bild von Rakewell im Irrenhaus. In Goyas Werk muß dieser Zusammenhang vom Betrachter selber geschaffen werden. Die Tradi¬ tion wurde fortgesetzt von Kaulbach, dessen Narrenhaus (1834) eine zeichne¬ risch genau dargestellte Gruppe von visuellen Topologien liefert. Das Gefühl der Handlung, das in Goya noch gegenwärtig war, ist hier fallengelassen worden, und dem Betrachter wird eine Reihe erstarrter Gestalten präsentiert. Dieser Kupfer¬ stich war so populär, daß er eine Serie von psychologischen Interpretationen er¬ zeugte, die sich auf Kaulbachs visuelle Klassifikation der Physiognomie des Wahnsinns stützte. Wahnsinnige als Krieger, als Gelehrte und als Herrscher waren Gestalten, die denen in Hogarths Tollhaus verwandt waren. Anfang der fünfziger Jahre führte Paul Gachet, ein junger Arzt im Salpetriere sei¬ nen Freund, den Maler Amand Gautier, in die Welt des berühmten Pariser Irren¬ hauses ein. Es war seine Absicht, den Maler mit Modellen zu versorgen, die die verschiedenen Typen von Geisteskrankheiten aufzeigen. Aus diesen Studien er¬ wuchs Les folles de la Salpetriere im Jahre 1857, das die Tradition der Tollhaus¬ szene fortführte. Gautier versuchte, die Geisteskranken nicht so sehr nach ihrer Physiognomie zu katalogisieren wie Kaulbach es getan hatte, sondern vielmehr nach bestimmten Kategorien der Krankheit, angefangen von Hebephrenie bis zur Manie. Noch eine weitere kontinentale Darstellung des Irrenhauses im späten 19. Jahrhunderts sollte erwähnt werden. Es ist die Darstellung des Daniel Urrabieta y Vierge, in derCharenton eine ähnliche Struktur wie das Salpdtriere Gau¬ tiers aufweist. Wie in all diesen Irrenhausbildern ist das Unterscheidungsmerkmal des Raumes, hier die Mauer, die die Anstalt umschließt. Aber die Gestalten sind, wie auch in Gautiers Werk, eine spezifische Darstellung von Psychopathologien, angefangen von der fixierten Geste der Gestalt unten links bis zu der niederge¬ schlagenen sitzenden Gestalt im Vordergrund rechts. Die sehr kleine tanzende

105

Gestalt im Hintergrund der Szene ist auch von einigem Interesse. Schon in einer früheren Anstaltszene, nämlich Dance of the Insane (1848) von Katharine Drake, ist die schließliche Rückkehr des Geisteskranken zur Außenwelt angedeutet in dem Motiv des Tanzes als gesellschaftliche Gepflogenheit. Einige Kenntnis der Komplexität der Irrenhausszene in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts ist notwendig zum Verstehen von van Goghs Gemälde Männer¬ station in Arles. Van Gogh beschreibt das Vollenden der Leinwand in einem Brief an seine Schwester, geschrieben vom Sanatorium in Saint-Remy-de-Provence im Oktober 1890. Ich arbeite jetzt auf einer Station im Krankenhaus. Im Vordergrund ein großer schwarzer Ofen, umgeben von einer Anzahl Patienten, Ge¬ stalten in Grau und Schwarz; dahinter ein sehr langer Raum mit ro¬ tem Fließenfußboden, mit zwei Reihen weißer Betten, aber von einem grünlichen oder violetten Weiß, und die Fenster mit rosa und grünen Vorhängen, und im Hintergrund die Gestalten von zwei Schwestern in Schwarz und Weiß. Die Decke ist violet mit großen Balken. Ich habe einen Artikel über Dostojewski gelesen, der das Buch Souvenirs de la maison des morts geschrieben hat, und dies veranlaßte mich, eine große Studie wieder aufzunehmen, die ich auf der Fieberstation in Arles angefangen hatte. Aber es ist ärgerlich. Gestal¬ ten ohne Modelle zu malen. (S. 461) Die Anfänge des van-Gogh-Gemäldes liegen in den Erfahrungen im Krankenhaus in Arles nach seiner Selbstverstümmelung, Ende des Jahres 1858, und wieder im Februar des folgenden Jahres, als er wegen Leiden am Verfolgungswahn einge¬ liefert worden war. Im Frühjahr 1889 lieferte er sich freiwillig in das private Sa¬ natorium in Saint-Paul-de-Mausole ein, das am Stadrand von Saint-Remy-deProvence lag. Er blieb hier ein Jahr, während welcher Zeit er eine große Anzahl Studien von der Umgebung des Asyls malte. Aber dieMännerstation in Arles ist einmalig in der Darstellung einer Krankenhausszene mit Patienten. Sein Gemälde ist am engsten verwandt mit den Kopien von Daumier, die er während seines Krankenhausaufenthaltes machte. Diese stellen Gestalten in geschlossenen Räu¬ men dar. Van Goghs Brief an seine Schwester beleuchtete das Bild, das er sich von dem Krankenhaus machte. Zunächst einmal ist das Bild eine Zusammenset¬ zung. Es wurde auf der „Fieberstation” in Arles angefangen und erst vollendet, als er im Asyl in Saint-Remy war. Seine Klage, keine Modelle für seine Gestalten zu haben, weist darauf hin, daß er die geschlossene Welt der Station aus seinem Gedächtnis während seines Aufenthaltes in einer anderen Anstalt rekonstruiert. Das Bild vom Hospital in Arles scheint durch seine Erfahrungen in Saint-Remy gefiltert zu sein. Es wird die Abstraktion der Welt der lebendig Toten, der Wahn¬ sinnigen mit denen van Gogh lebte und mit denen er sich identifizierte. Dostojewskis Werk, das er nur unter dem Titel „Notizen aus dem HausderToten”

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kannte, diente ihm als Motto für seine Arbeit, so wie das Zitat von Michelet einen weiteren sozialen Kontext für das Gemälde ‘Sorrow’ gab. In einem Brief an seinen Bruder schreibt er: „Vor einigen Tagen las ich im Figaro die Geschichte eines russischen Schriftstellers, der sein ganzes Leben an einer Nervenkrankheit ütt, an der er auch schließlich starb und die von Zeit zu Zeit furchtbare Anfälle mit sich brachte. Was kann man da tun? Es gibt keine Heilung dafür, sollte es aber eine geben, dann ist es fleißiges Arbeiten.” (S. 204) Van Gogh identifiziert sich mit Dostojewskis Fallsucht als der Krankheit, an der er selber auch litt. Und ihre Krankheit konnte durch ihre schöpferische Arbeit in Zügel gehalten werden. Van Goghs Verständnis seelischer Leiden erfuhr eine radikale Wandlung nach sei¬ ner freiwilligen Einlieferung in Saint-Remy. Seine früheren Darstellungen von gei¬ stigen und emotionalen Störungen waren Teil seines Verstehens des gesamten menschlichen Leidens in dieser Welt. In Saint-Remy wurde er mit der eigentli¬ chen Wirklichkeit der Geisteskrankheit als der Totalität der Welt in der er sich befand, konfrontiert. Am 9. Mai 1889 unmittelbar nach seiner Ankunft schreibt er: „Obwohl hier einige Patienten schwer krank sind, hat die Angst und das Grausen, die ich der Geisteskrankheit gegenüber empfand, schon erheblich nach¬ gelassen. Und obwohl man hier dauernd schreckliches Schreien und Heulen hört wie von Tieren in der Menagerie werden die Patienten doch sehr gut miteinander bekannt und helfen einander, wenn ihre Anfälle kommen.” (S. 170) So wie Depressionen in van Goghs Kunst Ausdruck fanden nach seiner persön¬ lichen Erfahrung und nach seiner Lektüre, so wurde sein Verstehen der Geistes¬ kranken von seinen Erfahrungen erster Hand bestimmt.^ Er fürchtete sich vor dem Wahnsinn, als er in der Irrenanstalt ankam. „Aber Spaß beiseite, die Furcht vor dem Wahnsinn ist zum größten Teil gewichen, sobald ich mir die angesehen habe, die sich im gleichen Zustand befinden, der mir selbst eines Tages wieder¬ fahren kann.” (S. 174) Sein Mitleiden in der hoffnungslosen Lage der anderen Patienten ist in der Tatsache reflektiert, daß er sich mit ihnen identifiziert. Er schreibt: „Früher empfand ich diesen Kreaturen gegenüber Abscheu, und es war furchtbar für mich, daran zu denken, daß so viele aus unserem Beruf so geendet haben. Ich konnte es nie über mich bringen, sie mir in diesem Zustand vorzustel¬ len.” (S. 174) Unter den Künstlern, die van Gogh im Irrenhaus glaubte, war der berühmte Illustrator Vierge, der Schöpfer der berühmten Irrenhausszene (S. 243). Die Struktur des van-Gogh-Gemäldes der Krankenhausstation reflektiert noch die Tradition der Irrenhausszene. Der deutlich begrenzte Raum des Krankenhau¬ ses mit den Bewohnern kennzeichnet das Universum der Irrenanstalt. Die sitzen¬ de Gestalt mit der Zigarette ist eine Version des melancholischen alten Mannes aus „Am Tor der Ewigkeit”. Tatsächlich ist eine Skizze (F 1601 verso), die van Gogh höchst wahrscheinlich für diese Figur benützte, noch augenscheinlicher eine Darstellung von chronischer Depression. Van Goghs Krankenstation unterscheidet sich von allen früheren Krankenhaus¬ szenen8, indem die manischen Gestalten, die in den früheren Szenen zu sehen

107

sind, fehlen. Es waren tatsächlich keine in Saint-Remy. (S. 174) Es unterscheidet sich noch mehr in einem anderen Punkte: Es werden nicht so sehr besondere Ty¬ pen oder Klassifikationen von Geisteskrankheiten dargestellt, sondern van Goghs Gestalten bringen das täglich Leben der Insassen der Heilanstalt zum Ausdruck. Diese Gestalten sind der Inbegriff der Bewohner des Hauses der Toten. Sie sind tot, weil sie zur Untätigkeit gezwungen sind. Sie rauchen, sitzen, lesen die Zei¬ tung und reden, aber haben keine schöpferische Rolle, wie die, die van Gogh sei¬ ner eigenen Arbeit als Malerzuschreibt. Im September schreibt er: ,,Die Behand¬ lung der Patienten hier ist allerdings leicht, man könnte sie auch während einer Reise durchführen, denn sie tun absolut nichts. Sie lassen sie im Nichtstun vege¬ tieren. . .” (S. 213) Für den Beobachter des 19. Jahrhunderts war das Haus der Toten das Haus des Nichtstuns. Charles Dickens, van Goghs Lieblingsdichter, verurteilte den Mangel an sinnvoller Beschäftigung in den englischen Anstalten. Er argumentierte, daß wenn „ein System gefunden würde, das den Bewohnern Arbeit verschaffte, der Prozentsatz der Heilungen viel größer sein würde.”9 Die¬ ser Mangel an Arbeit oder der Mangel an sinnvoller Beschäftigung ist es, der in dem in Arles begonnenen und in Saint-Remy vollendeten Bild zum Ausdruck kommt. Das bloße Erwähnen des Dostojewski Titels löst die Angst vor nutzlosem Dasein und vor dem Dahinvegetieren in der Anstalt bei van Gogh aus. Das Ge¬ mälde ist van Goghs eigene Notiz vom Haus der Toten, der Irrenanstalt. Nachdem van Gogh von Saint-Remy entlassen worden war, kam er unter die Aufsicht eines Arztes, der selber ein Förderer der Kunst war. Paul Gachet, der Freund Gautiers, hatte sich in Auvers-sur-Oise niedergelassen und bot sich an, van Gogh zu beaufsichtigen. Während seines Aufenthaltes in Auvers verfertigte van Gogh eine erstaunliche Reihe von Portraits und Landschaften. Eines der Wer¬ ke, das augenscheinlich in Auvers vollendet wurde, jedoch in Saint-Remy begon¬ nen worden war, ist das Bild „Kopf eines Patienten”. Dieses Bild des anonymen Kranken steht in noch einer weiteren Tradition der Abbildung von Geisteskran¬ ken. Eugen Delacroix’ Portrait „Tasso im Irrenhaus” hatte van Gogh schon früher fas¬ ziniert. Er erbat sich eine Lithographie des Bildes von seinem Bruder nach Arles (S. 109). Er bezieht sich auf dieses Bild als das eines „werklichen Mannes. Ah! Abbildungen, Abbildungen mit den Gedanken, mit der Seele des Modells in ih¬ nen, das glaube ich, muß kommen.” (S. 25) Aber Delacroix’ Bild des italieni¬ schen Dichters im Irrenhaus, wo andere Insassen und gaffende Besucher den me¬ lancholischen Tasso beobachten, erinnert an die Struktur von Hogarths Bedlam. Um den Insassen in Saint-Remy zu malen, benützt van Gogh als Prisam für seine Darstellung Theodore Gericault, einen Künstler, den er in seiner privaten Samm¬ lung von Abdrücken parallel zu Delacroix einordnet. Sein Portrait des Patienten von Saint-Remy enthält ein visuelles Echo von Gericaults Monomanie du vol, das zwischen 1821 und 1824 im Salpetriere gemalt wurde. Die Haltung des Kopfes, der Mantel, der Schal, die mit den Lidern bedeckten Augen, all das erinnert an Gericaults Werk. Van Gogh gebraucht also ein klassisches Werk, das die Geistes-

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kranken portraitiert, um die Banalität des Wahnsinns zu unterstreichen. Das Anomale des Subjekts wird nämlich nur offenbar, wenn man weiß, daß das Por¬ trait im Irrenhaus gemalt wurde. Die Grenze zwischen Wahnsinn und gesundem Verstand ist hier sehr fein. Der Künstler präsentiert die Abnormalität seines Mo¬ dells nur, indem er die Tradition der Portraitmalerei der Wahnsinnigen verwen¬ det. Dieser künstlerische Ansatz kann mit den Versuchen der medizinischen Zeichner am Ende des 15. Jahrhunderts verglichen werden, die die Psychopatho¬ logien festhalten wollten. Byrom Bramwells Atlas of Clinical Medicine, heraus¬ gegeben im Jahre 1892, brachte Porträtstudien von erstaunlicher diagnostischer Genauigkeit, wie zum Beispiel eine Studie unter chronischem Wahnsinn.* ^ Aber der Unterschied zwischen den Traditionen eines Gericault und van Gogh einer¬ seits und Morison und Bramwell andererseits ist die Hervorhebung der passiven über die aktiven Zustände des Wahnsinns. In der Anstaltsszene van Goghs er¬ scheint alles an der Oberfläche als normale Tätigkeit, und das Gleiche gilt für seine Portraits der Insassen. Van Gogh spielt jedoch auf größeren historischen Kontext dieser Gemälde an: durch sein Aufnehmen von früheren Strukturen in Darstellungen von Wahnsinnigen. Die Wichtigkeit dieser beiden Gemälde von Geisteskranken innerhalb van Goghs Werk liegt teilweise in ihrer Einmaligkeit. Wenn man van Goghs Schöpfungen der letzten zwei Jahre untersucht - der diese Zeitspanne teils in Anstalten verbracht hatte und immer bedroht war von unmittelbarem Zusammenbruch — findet man wenige direkte Hinweise auf Geisteskrankheit. Landschaften, Portraits und Ko¬ pien bilden den Hauptbestand seines Werkes. Wenn er Delacroix kopiert, ist sein Modell nicht Tasso im Irrenhaus, sondern vielmehr Der gute Samariter. Sein Ver¬ such, die Angst vor dem Wahnsinn zu unterdrücken, eine Angst, die in fast allen Briefen nach seiner Selbstverstümmelung Ausdruck findet, wird in seinem Werk kaum so unmittelbar deutlich, und der erlaubte Ausdruck ist eingeschlossen in die ikonoklastischen Strukturen einer langen Tradition, die die Geisteskranken als Bewohner einer anderen Welt klassifizieren, einer von dem beobachtenden Auge des Künstlers isolierten Welt.

109

ANMERKUNGEN

1

Für diese Studie waren die folgenden Werke von Wert: Jaspers, K.: Strindberg und van Gogh, Berlin, Springer 1926; Mauron, C.: Vincent et Theo, L’Arc 2:3-12, 1959; Hulsher, J.: Van Gogh’s threatened life in Saint-Remy and Auvers, Vincent 2:21-39, 1972.

2

Alle Bezüge auf van Goghs Werk sind aus De La Faille, J.B.: L'Oeuvre de Vincent van Gogh: Catalogue raisonee, Paris et Bruxelles, Van Oest, 1928, 5 vols.

3

Die komplizierten Verwicklungen dieser Tradition sind von Klibanksy, R. Panofsky, E., Saxl, E. Erforscht worden in: Saturn and Melancholy: Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art, London, Thomas Nelson, 1964.

4

Alle Zitate aus seinen Briefen beziehen sich auf: The Complete Letters of Vincent Van Gogh, Greenwich, CT., New York Graphic Society, n.d., hier Bd. 3,S. 323.

5

Seznec, J.: Literary Inspiration in Van Gogh, In Welsch-Ovchavov, B. (ed): Van Gogh in Perspective, Englewood Cüffs, N.J., Prentice Hall, 1971, S. 126-133).

6

Skulkins, V. (ed.): Madness and Morals: Ideas on Insanity in the Nineteenth Century, London, Routledge and Kagan Paul, 1975, besonders S. 1-30.

7

Es gibt eine Landschaft von van Gogh vom März 1884 (F 1130), die eine be¬ schwörende Szene darstellt mit dem Titel Melancholie.

8

Einen weiteren Einfluß mögen die passiven Gestalten in Charles Greens Illu¬ stration vom Hospital für die Graphic auf van Gogh gehabt haben. Er er¬ wähnt diese Illustration in einem Brief vom Februar 1883 (S. 364).

9

Harry Stone, ed., Charles Dickens’ Uncollected Writings from Household Words 1850-1859. (Bloomington: Indiana University Press, 1968), 2,381391.

10

Bramwell, B.: Atlas of Clinical Medicine, Edinburgh, T. and A. Constable, 1892, plate XXV.

110

REGISTER

Alber, A. Allport, Gordon Ambrosius Andrews, J.B. Aristoteles Aue, Hartmann von Iwein

93 33 48 43 21,23,49 45-47

Bain, Alexander Bankes, T.W. Barker von Bath, Thomas Baumgärtner, Karl Heinrich Becker, G.W. Bell, Sir Charles Bernhard von Clairvaux Bemheimer, Richard Blake, William Bourneville, Desire Magloire Bramwell, Byrom Brown, J. Crichton Bruegel, Pieter d. Ä. Bunyan,John

90 17

Calhoun, John C. Carlson, Eric T. Cartwright, Samuel Chappel, Gerald Charcot, J.M. Chiarugi, Vincenzo Cibber, Caius Gabriel

39 8 42 8 92,94 77 82 19 83

Collins, Wilkie Combe, Andrew Condillac, litienne Bonnot de Condorcet, Marquis de Conolly, John

84 87 66 81-82 48-49 47 82 92 109 91 21,22 67

78 78 13,18, 24,89

Conrad, Joseph Cooper, James Fenimore Cowper, William Crane, Stephen

51 51 84 51

Dagonet, Henri Dana, Richard Henry Darwin, Charles Daumier, Honore Davies, Charles Maurice Delacroix, Eugen Diamond, Hugh W. Dickens, Charles “A Curious Dance Round a Curious Tree” David Copperfield Edwin Drood Pickwick Papers Dömer, Klaus Doob, Penelope Dostojewski, Feodor Drake, Katharine Drewry, William F. Duchenne, Guillaume Benjamin Armand Dürer, Albrecht

92-93 51 91 106 24-25 108-109 18,87-88

Engel, Johann Jakob Esquirol, Jean Etienne Dominique Evarts, Arrah B.

81 69,83,85 33

Fanon, Frantz Fiedler, Leslie Freeman, William Foucault, Michel Fuseli, Henry

33 50-51 40 10 84

Gachet, Paul

105,108

10-27, 108 14 14 14 10 49 106-108 20, 106 44 91 103

111

Galen Gail, Franz Josef Garrick, David Gautier, Amand Georget, litienne Jean Gericault, Theodore Goethe, Johann Wolfgang von Goya, Francisco Grafenberg, Wimt von Wigalois Greenwood, James Griesinger, Wilhelm Hahnemann, Samuel Haslam, John Helvetius, Claude Adrien Hippolytus Hoffman, Daniel Hogarth, William

49 82,83 36 105,108 85 85-86,108109 79 105 46-47 24 90

Homey, Karen

23 11 78 47 37 61,64,66, 71,82,105, 108 72

Ibn Ezra, Mosche Ideler, Karl Wilhelm Itard, Jean Marc Gaspard

49 87 80

James, Henry Jr. James, Henry Sr. James, William Jarvis, Edward

70 69-70 8,60,67-71 40

Kant, Immanuel Karl VI. von Frankreich Kaulbach, Wilhelm von Kean, Edmund Kerün, Isaac Newton Kleist, Heinrich von

80 21 105 36 90 60,62-67, 71

Lavater, Johann Caspar

17,79-80, 93

112

Leidesdorf, Max Londe, Albert

90 92

Mackenzie, Henry

60-62,63, 66,71

Mespelbrunn, Julius Echter von Michelet, Jules Mill, John Stuart Miller, J.F. Moreau de la Sarthe, Jacques Louis Morel, Benedict Augustin Morison, Alexander Mozart, Wolfgang Amadeus

62 104 90 43 80, 83 89 17,86,109 77,95

Nebukadnezar

36,82

Osmond, Humphry

9

Pasamanick, Benjamin Peirce, Charles Pepper, Stephen Pereiras, Duarte Pacheo Peters, U.H. Piderit, Theodor Pinel, Phillipe

Plater, Felix Plato Poe, Edgar Allan Politzer, Heinz

44 71 59 47 8 91 13,77-78, 80,81,83, 85, 93,94 22 22 26 64-65

Quen, Jacques

8

Regnard, Paul Rejlander, Oscar Resener, C.

92 91 87

Salzmann, Christian Gotthilf Seward, William H.

65 40

Shakespeare, William Sheppard, Edgar Siegler, Miriam Sommer, Robert Spurzheim, Johann Gaspard Swift, Jonathon Szasz, Thomas

35 20 9 93

Taine, Hippolyte Thorslev, Peter Tissot, Samuel August Andre David Tolstoi, Leo

16-17 45

Twain, Mark (Samuel Longhom Clemens) The Adventures of Huckleberry Finn A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court

83 61 10

65 67

34-38

51

Van Doren, Mark 36 Van Gogh, Vincent 103-109 Vierge, Daniel Urrabieta y 105,107 Walker, Charlotte Eliza Walker, Thomas Collier Wilde, Oscar Wills, William Henry Wolfdietrich

12 12 59, 72 10, 15 46-47

Zenge, Wilhelmine von

64

LITERATUR UND PSYCHOLOGIE Herausgegeben von Bernd Urban und Wolfram Mauser Band

1

Band 2 Band

Bernd Urban: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Quellenkundliche Un¬ tersuchungen. 1978. Louk M.P.T. Wijsen: Cognition and Image Formation in Literature. 1980.

3 Ursula Renner: Leopold Andrians Garten der Erkenntnis. Literarisches Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900.1981.

Band 4 Peter Henninger: Der Buchstabe und der Geist. Unbewußte Determinierung im Schreiben Robert Musils. 1980. Band 5 Maud Curling: Joseph Roths Radetzky marsch. Eine psychosoziologische Interpreta¬ tion. 1981. Band 6

Freiburger literaturpsychologische Gespräche I herausgegeben von Johannes Cremerius, Wolfram Mauser, Carl Pietzcker, Frederick Wyatt. 1981.

Band 7

Henning Krauß/Reinhold Wolff (Hrsg.): Psychoanalytische Literaturwissenschaft und Literatursoziologie. Akten der Sektion 17 des Romanistentages 1979 in Saar¬ brücken. In Vorbereitung.

Band 8 Sander L. Gilman: Wahnsinn, Text und Kontext. Die historischen Wechselbezie¬ hungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie. 1981.

BASCHNAGEL, GEORG "NARRENSCHIFF" UNV "LOB VER TOR. Fnankfunt/U., Benn, Las Vegas, 79?9. 25S S. m. ö £ti>. EUROPÄISCHE HOCHSCHULSCHRIFTEN: Reihe 1, Veutsche. Sprache, und LLtenatun. Bd. 283 ISBN 3-8204-6469-7 bn. 4Fn. 41.— *) Sebastian Bhants Nannenschiff (1494) -ci-t hinsichtlich seinen Winkungs- and Rezeptionsgeschichte noch wenig untensucht wonden. Vies ist umso enstaunlichen, als dieses Wenk zum bedeutendsten Buchenfolg de>t deutschen Litenatuh in den vonnefonmatonischen Zeit henanwuchs, nickt. zuletzt dunch die. lateinischen Beanbeitungen von Jakob Lochen and Jodocus Badius. 1511 enschien Vau& Lob deA Tonheit du Enasmus von Rottendam. Vie vonliegende Studie weist iibzA den bishen non. im Thematischen postulienten koftn.espondieAenden Chanakten den. beiden Wende hinaus and zeichnet mit sabtiteA philologischen. Analyse die Kontunen einen. Aus einandens etzung von außenondentlichen Bnisanz, die aus deA litenanischen Begegnung ins Biognaphische hineinneichende Reflexe zeigt. Aus de» Inhalt: Anknüpfungspunkte and Ziele den Anbeit [Vie Kontnovense ein Besicht zun "Nannenschiff"-Fonschung - Zun Bnantschen Vidaktik - Litesanhistonische Isoliesung des "Noniae Encomium") - Vas System den Zusammenhän¬ ge and Beziehungen (Satine-Viskussion - Pensonifizienung den Nasnheit - Pensonifikationen des Tönichten im "Lob den Tonheit" - Auflösung des apodik¬ tischen Anspruchs des "Nannenschiffs" - Ven neligio ns pädagogische Begniff den "uiiszheyt" - Mantin Vonp empfiehlt Enasmus za uidennufen} - Biognaphische Reflexe (Enasmus-Badius, Enasmus -Bnant) .

BINDER-RA1TH, EVA SELBST- UNV WELTBILV BEI VEPRESSIVEN UNV SOZIAL-ÄNGSTLICHEN MENSCHEN Viagnose und Umonientienung im thenapeutischen Gespnäch Fnankfunt/M., Benn, 1980. 8/ 205 S. EUROPÄISCHE HOCHSCHULSCHRIFTEN: Reihe 6. Psychologie. Bd. 73 ISBN 3-8204-6850-1 hn. sFn. 46.- *) Als Altennatcve zun tnaditconellen Viagnostik in den Psychothenapie stellt die Autonin einen Individuen-zentnienten Ansatz von, den nelative Leitsät¬ ze und Onientcenungssysteme von depnessiven und sozialängstlichen Klienten enfaßt. Thenapeutcsche Ges pnächs fonmen zun Umonientienung wenden im Rahmen eines kommunikatio ns psycho lo gisch-nhetonischen ModelLs entwickelt. Aus dem Inhalt: Onientcenungssysteme und individuenzentiiente Viagnostik Entstehung und Stabilisienung von OnientienungsSystemen - Sozial-ängstli¬ che und depnessive Oncentcenungen - Thenapeutesche Topiken zun Umonientie¬ nung - Heunistiken fän den Einsatz thenapeutischen Gespnächsmittel - Zun Innatconalität den 'Ratconalität’ - Philosophische Lebenshegeln.

*) unvenbindliche Pneisempfehlung Ausliefenung: Venlag Peten Lang AG, Jupitenstn. 15, CH-301S Benn

PN 56 .M45 G54 1981

Gilman, L. . ilman, Sander Ss Wahnsinn. /ahnsinn Text yndJCpntext. d

010101 000

IIIIIII IUI

163 0169186 5 TRENT UNIVERSITY

PW56 .Mi+5G5ii 1981 Gilman, Sander L • Wahnsinn, Text und Kontext.

DATE ISSUEDTO iS 1 TST

Eine

Essaysammlung, die die gegenseitige Beeinflussung der Literaturge¬

schichte, Kunstgeschichte und der Geschichte der Psychiatrie dokumentiert. Die Untersuchungen der bildlichen Stereotypen der Geisteskranken wurde von der Antike über das Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert verfolgt.

Sander L. Gilman geboren 1944 in Buffalo, New York. Studium an der Tulane Universität, Universität München, Freien Universität Berlin. Guggenheim Stipendiat. Gastprofessor an der Universität Paderborn. '»ncnarrr