Der Thul in Text und Kontext: Þulr/Þyle in Edda und altenglischer Literatur 9783110457308, 9783110455625

The Thul, a figure in Old Norse and Old English literature, resists precise definition. In his analysis of the textual c

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Der Thul in Text und Kontext: Þulr/Þyle in Edda und altenglischer Literatur
 9783110457308, 9783110455625

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Schreibkonventionen
1. Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen
1.1 Einführung
1.2 Basis: Begriff und Belege
1.2.1 Etymologie
1.2.2 Überlieferung
1.2.2.1 Literarische Texte
1.2.2.2 Toponyme
1.2.2.3 Runensteine
1.2.2.4 Runeninschriften auf Brakteaten
1.3 Forschungsüberblick
1.4 Grundlagen der Untersuchung
1.5 Einzelkriterien der Untersuchung
1.5.1 Text(re-)produktion
1.5.1.1 Originalität
1.5.1.2 Formale und ästhetische Aspekte
Sprecherorientierung und Publikum
Stilistik
1.5.1.3 Performative Aspekte
1.5.2 Situationskontext
1.5.3 Informations(re-)produktion
1.5.3.1 Informationsarten
1.5.3.2 Informationskontext (Motivation/Organisation)
1.5.3.3 Tradierung
1.5.3.4 Validierung
1.6 Exkurs: Kompetitivität – Wissenswettstreit und mannjafnaðr
2. Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál
2.1 Einführung
2.2 Close Reading
2.2.1 Der Wissensdialog
2.2.2 Exkurs: Vafþrúðnir und Namen
2.2.3 Einladung und Statuserhöhung
2.2.4 Exkurs: fróðr/svinnr
2.2.5 Strophenauswertung
2.2.5.1 Vierersequenz 1: Str. 20–27
2.2.5.2 Vierersequenz 2: Str. 28–35
2.2.5.3 Vierersequenz 3: Str. 36–43
2.2.5.4 Exkurs: Die Regeln des Wettstreits
2.2.5.5 Antworten Vafþrúðnirs und Vierersequenz 4: Str. 44–51
2.2.5.6 Exkurs: Str. 48
2.2.5.7 Abschluss der Sequenz
2.2.5.8 Odins letzte Fragen
2.3 (Kon-)Texte des Thuls in den Vafþrúðnismál
2.3.1 Text(re-)produktion
2.3.1.1 Originalität
2.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)
Publikum und Sprecherorientierung
Stilistik
2.3.1.3 Performative Aspekte
2.3.1.4 Situationskontext
2.3.1.5 Rollen und Autorität
2.3.2 Informations(re-)produktion
2.3.2.1 Informationsarten
2.3.2.2 Informationskontext
2.3.2.3 Tradierung
2.3.2.4 Validierung
2.4 Zusammenfassung und Fazit
3. Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál
3.1 Einführung
3.2 Close Reading
3.2.1 Charakterisierung Reginns
3.2.2 Horterzählung
3.2.3 Verhältnis zu Sigurd und Versprechen der Ziehvaterschaft
3.2.4 Erstes eggja
3.2.5 Vaterrachefahrt und Proklamation
3.2.6 Zweites eggja und Drachenkampf
3.2.7 Fürsten- und Siegeslob
3.2.8 Wortgefecht
3.2.9 Exkurs: Reginns Schuld
3.2.10 Herz und weiteres Wortgefecht
3.2.11 Sprecherfragen
3.2.12 Die Vogelstrophen
3.3 (Kon-)Texte des Thuls in Regins- und Fáfnismál
3.3.1 Text(re-)produktion
3.3.1.1 Originalität
3.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)
3.3.1.3 Performative Aspekte
3.3.1.4 Situationskontext
3.3.1.5 Rollen und Autorität
3.3.2 Informations(re-)produktion
3.3.2.1 Informationsarten
3.3.2.2 Informationskontext
3.3.2.3 Tradierung
3.3.2.4 Validierung
3.4 Zusammenfassung und Fazit
4. Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf
4.1 Überblick: Der Thul in der altenglischen Literatur
4.1.1 Widsið
4.1.2 Belege in nicht-narrativen Texten
4.2 Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf
4.2.1 Close Reading
4.2.1.1 Beowulfs Eintritt und Wortwechsel mit Hroðgar
4.2.1.2 Unferð
4.2.1.3 Das flyting
Unferðs Angriff
Beowulfs Verteidigung
Beowulfs Attacke
Reaktion und Ausklang
Unferð und Hrunting
4.2.2 Exkurs: Jüngere Theorien über Unferð
4.2.2.1 Enright: Der Thul als Vermittler zwischen warband und König
4.2.2.2 Donovan: Der Thul als frühmittelalterlicher fool
4.2.2.3 Gwara: Thul und heroische Identität
4.3 (Kon-)Texte des Thuls im Beowulf
4.3.1 Text(re-)produktion
4.3.1.1 Originalität
4.3.1.2 Formale und ästhetische Elemente
Sprecherorientierung und Publikum; Wirkung
Stilistik und Bewertung
4.3.1.3 Performative Aspekte
4.3.1.4 Situationskontext
4.3.1.5 Rollen und Autorität
4.3.2 Informations(re-)produktion
4.3.2.1 Informationsarten
4.3.2.2 Informationskontext
4.3.2.3 Tradierung
4.3.2.4 Validierung
4.4 Zusammenfassung und Fazit
5. Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál
5.1 Einführung
5.2 Der Thul in Hávamál-Strophe 80
5.2.1 Kontext der Belegstrophe
5.2.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 80
5.2.2.1 Text(re-)produktion
Originalität
Formalästhetik und performative Aspekte
Situationskontext, Rollen und Autorität
Exkurs: fimbul-
5.2.2.2 Informations(re-)produktion
Informationsarten
Informationskontext
Tradierung
Validierung
5.2.3 Fazit
5.3 Der Thul in Hávamál-Strophe 111
5.3.1 Kontext der Belegstrophe
5.3.1.1 Sprecheridentität und Verortung – ec und Odin in Háva holl
5.3.1.2 Urdquell und þular stóll
5.3.1.3 Exkurs: Der þulr-Stuhl und die Rímur
5.3.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 111
5.3.2.1 Text(re-)produktion
Originalität
Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)
Performative Aspekte
Situationskontext
Rolle und Autorität
5.3.2.2 Informations(re-)produktion
Informationsarten
Exkurs: Das Hängeritual nach Adam von Bremen
Informationskontext
Tradierung
Validierung
5.3.3 Fazit
5.4 Der Thul in Hávamál-Strophe 134
5.4.1 Kontext der Belegstrophe
5.4.1.1 Hávamál und Hugsvinnsmál
5.4.1.2 vilmogom
5.4.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 134
5.4.2.1 Text(re-)produktion
Originalität
Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung und Publikum)
Performative Aspekte
Situationskontext
Rollen und Autorität
5.4.2.2 Informations(re-)produktion
Informationsarten und Informationskontext
Tradierung
Validierung
5.4.3 Fazit
5.5 Der Thul in Hávamál-Strophe 142
5.5.1 Kontext der Belegstrophe
5.5.1.1 Exkurs: Hroptr
5.5.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 142
5.5.3 Fazit
5.6 Zusammenfassung: Der Thul in den Hávamál
5.7 Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze
5.7.1 Exkurs: Vogts Interpretation des Íslendingadrápa-Belegs
6. Zusammenfassung und Abschluss
7. Bibliographie
7.1 Primärliteratur
7.2 Referenzwerke
7.3 Sekundärliteratur
Register

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Kieran R.M. Tsitsiklis Der Thul in Text und Kontext

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Heinrich Beck · Sebastian Brather · Dieter Geuenich · Wilhelm Heizmann · Steffen Patzold · Heiko Steuer

Band 98

Kieran R.M. Tsitsiklis

Der Thul in Text und Kontext Þulr/Þyle in Edda und altenglischer Literatur

ISBN 978-3-11-045562-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045730-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045632-5 ISSN 1866-7678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Bei dieser Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation aus dem Jahre 2015. Wie immer ist die Entstehung eines solchen Texts weit mehr Personen als nur dem Autor geschuldet; im Folgenden sollen daher einige Namen der – mehr oder weniger unmittelbar – daran Beteiligten genannt werden. Erster und tiefer Dank gilt meiner Promotionsbetreuerin, Professorin Stefanie Gropper, ohne deren Unterstützung diese Arbeit wohl kaum zu einem erfreulichen Abschluss gefunden hätte. Mit ihrer ausnahmslos konstruktiven Kritik, ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem enormen Wissen und ebenso immensen Verständnis für alle Unwägbarkeiten und noch so absurden Fragen im Laufe einer Dissertation, ist sie mir fachlich wie menschlich seit Jahren ein Vorbild. Bei – in alphabetischer Reihenfolge – Stephanie Baur, Matthias Beschorner, Lydia Carstens, Reinhard Hennig, Courtnay Konshuh, Hendrik Lambertus, Antje vom Lehn, Christiane Lemke, Dominique Sommer, Matthias Teichert, Sixt Wetzler und weiteren, Ungenannten, sowie natürlich bei den Studierenden meiner Kurse bedanke ich mich für unzählige interessante Diskussionen über Mittelalterliches und allerhand andere Dinge. Großer Dank geht auch an Professorin Antje Wischmann, von der ich über die Jahre eine Unmenge Wertvolles erfahren durfte, darunter viele spannende neu(skandinavistisch)e Blicke auf alte Themen, an Professor Jürg Glauser für die freundliche und instruktive Zweitbegutachtung meiner Dissertation, an Professor Bernhard Maier für erhellende Einsichten in und aus Keltologie und Religionswissenschaft ebenso wie für die Teilnahme an meinem Promotionskolloquium, für die ich mich auch bei Professorin Ingrid Hotz-Davies und Professorin Annette Gerok-Reiter herzlich bedanken möchte. Professor Wilhelm Heizmann sowie de Gruyter sei vielmals für die großzügige Aufnahme meiner Arbeit in das Verlagsprogramm gedankt, ebenso Christoph Schirmer und Sophie Fendel für die umfassende Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts. Professor Jörg O. Fichte, Fritz Kemmler und Christine Baatz verdanke ich wegweisende Einblicke in die mittelalterliche Literatur Englands, insbesondere die alteng­ lische, deren Faszination bis heute anhält. Þæs ofereode, þisses swa mæg gilt nicht in diesem Fall! Familiäres: Fionn und Fianna gebührt mehr als nur lobende Erwähnung, unter anderem für hartnäckiges Erinnern daran, dass es zuweilen doch Wichtigeres gibt, als vor dem Rechner zu sitzen (alles in Hoffnung auf eine Vogelfütterung monumentalen Ausmaßes). Und last, but not at all least, seien hier meine Eltern, Marlies und Costas Tsi­tsiklis, genannt, die mir das Studium der Altanglistik und Altnordistik ermöglicht und mich – nicht nur darin – fortwährend unterstützt haben. Dieses Buch ist ihnen gewidmet, in Liebe und Dankbarkeit.

Inhaltsverzeichnis Vorwort   V Inhaltsverzeichnis   VII Siglenverzeichnis   XIII Schreibkonventionen   XV 1 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen  1.1 Einführung   1 1.2 Basis: Begriff und Belege   2 1.2.1 Etymologie   2 1.2.2 Überlieferung   3 1.2.2.1 Literarische Texte   4 1.2.2.2 Toponyme   4 1.2.2.3 Runensteine   6 1.2.2.4 Runeninschriften auf Brakteaten   8 1.3 Forschungsüberblick   9 1.4 Grundlagen der Untersuchung   15 1.5 Einzelkriterien der Untersuchung   16 1.5.1 Text(re-)produktion   16 1.5.1.1 Originalität   16 1.5.1.2 Formale und ästhetische Aspekte   17 Sprecherorientierung und Publikum   17 Stilistik   18 1.5.1.3 Performative Aspekte   20 1.5.2 Situationskontext   20 1.5.3 Informations(re-)produktion   21 1.5.3.1 Informationsarten   21 1.5.3.2 Informationskontext (Motivation/Organisation)   22 1.5.3.3 Tradierung   23 1.5.3.4 Validierung   24 1.6 Exkurs: Kompetitivität – Wissenswettstreit und mannjafnaðr   25 2 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál   32 2.1 Einführung   32 2.2 Close Reading   34 2.2.1 Der Wissensdialog   48 2.2.2 Exkurs: Vafþrúðnir und Namen   54 2.2.3 Einladung und Statuserhöhung   58 2.2.4 Exkurs: fróðr/svinnr   59 2.2.5 Strophenauswertung   65 2.2.5.1 Vierersequenz 1: Str. 20–27   65 2.2.5.2 Vierersequenz 2: Str. 28–35   66 2.2.5.3 Vierersequenz 3: Str. 36–43   68

 1

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

2.2.5.4 Exkurs: Die Regeln des Wettstreits   70 2.2.5.5 Antworten Vafþrúðnirs und Vierersequenz 4: Str. 44–51   76 2.2.5.6 Exkurs: Str. 48   78 2.2.5.7 Abschluss der Sequenz   80 2.2.5.8 Odins letzte Fragen   81 2.3 (Kon-)Texte des Thuls in den Vafþrúðnismál   88 2.3.1 Text(re-)produktion   88 2.3.1.1 Originalität   88 2.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)   89 Publikum und Sprecherorientierung   90 Stilistik   91 2.3.1.3 Performative Aspekte   92 2.3.1.4 Situationskontext   93 2.3.1.5 Rollen und Autorität   93 2.3.2 Informations(re-)produktion   94 2.3.2.1 Informationsarten   94 2.3.2.2 Informationskontext   95 2.3.2.3 Tradierung   96 2.3.2.4 Validierung   97 2.4 Zusammenfassung und Fazit   98 3 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál   100 3.1 Einführung   100 3.2 Close Reading   102 3.2.1 Charakterisierung Reginns   104 3.2.2 Horterzählung   106 3.2.3 Verhältnis zu Sigurd und Versprechen der Ziehvaterschaft   107 3.2.4 Erstes eggja   108 3.2.5 Vaterrachefahrt und Proklamation   112 3.2.6 Zweites eggja und Drachenkampf   114 3.2.7 Fürsten- und Siegeslob   115 3.2.8 Wortgefecht   116 3.2.9 Exkurs: Reginns Schuld   119 3.2.10 Herz und weiteres Wortgefecht   124 3.2.11 Sprecherfragen   130 3.2.12 Die Vogelstrophen   133 3.3 (Kon-)Texte des Thuls in Regins- und Fáfnismál   139 3.3.1 Text(re-)produktion   139 3.3.1.1 Originalität   139 3.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)   140 3.3.1.3 Performative Aspekte   142 3.3.1.4 Situationskontext   142 3.3.1.5 Rollen und Autorität   143

Inhaltsverzeichnis 

 146 3.3.2 Informations(re-)produktion  3.3.2.1 Informationsarten   146 3.3.2.2 Informationskontext   146 3.3.2.3 Tradierung   147 3.3.2.4 Validierung   148 3.4 Zusammenfassung und Fazit   149 4  Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf   151 4.1 Überblick: Der Thul in der altenglischen Literatur   151 4.1.1 Widsið   151 4.1.2 Belege in nicht-narrativen Texten   153 4.2 Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf  4.2.1 Close Reading   158 4.2.1.1 Beowulfs Eintritt und Wortwechsel mit Hroðgar   158 4.2.1.2 Unferð   165 4.2.1.3 Das flyting   168 Unferðs Angriff   172 Beowulfs Verteidigung   177 Beowulfs Attacke   184 Reaktion und Ausklang   197 Unferð und Hrunting   200 4.2.2 Exkurs: Jüngere Theorien über Unferð   210 4.2.2.1 Enright: Der Thul als Vermittler zwischen warband und König  4.2.2.2 Donovan: Der Thul als frühmittelalterlicher fool   215 4.2.2.3 Gwara: Thul und heroische Identität   226 4.3 (Kon-)Texte des Thuls im Beowulf   248 4.3.1 Text(re-)produktion   248 4.3.1.1 Originalität   248 4.3.1.2 Formale und ästhetische Elemente   249 Sprecherorientierung und Publikum; Wirkung   249 Stilistik und Bewertung   252 4.3.1.3 Performative Aspekte   253 4.3.1.4 Situationskontext   254 4.3.1.5 Rollen und Autorität   255 4.3.2 Informations(re-)produktion   256 4.3.2.1 Informationsarten   256 4.3.2.2 Informationskontext   257 4.3.2.3 Tradierung   257 4.3.2.4 Validierung   258 4.4 Zusammenfassung und Fazit   260 5 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál   262 5.1 Einführung   264 5.2 Der Thul in Hávamál-Strophe 80   266

 IX

 157

 211

X 

 Inhaltsverzeichnis

5.2.1 Kontext der Belegstrophe   267 5.2.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 80   273 5.2.2.1 Text(re-)produktion   273 Originalität   275 Formalästhetik und performative Aspekte   275 Situationskontext, Rollen und Autorität   276 Exkurs: fimbul-   277 5.2.2.2 Informations(re-)produktion   289 Informationsarten   289 Informationskontext   289 Tradierung   289 Validierung   289 5.2.3 Fazit   290 5.3 Der Thul in Hávamál-Strophe 111   290 5.3.1 Kontext der Belegstrophe   291 5.3.1.1 Sprecheridentität und Verortung – ec und Odin in Háva hǫll   296 5.3.1.2 Urdquell und þular stóll   304 5.3.1.3 Exkurs: Der þulr-Stuhl und die Rímur   307 5.3.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 111   313 5.3.2.1 Text(re-)produktion   313 Originalität   313 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum)   313 Performative Aspekte   316 Situationskontext   317 Rolle und Autorität   317 5.3.2.2 Informations(re-)produktion   318 Informationsarten   318 Exkurs: Das Hängeritual nach Adam von Bremen   318 Informationskontext   321 Tradierung   321 Validierung   322 5.3.3 Fazit   322 5.4 Der Thul in Hávamál-Strophe 134   323 5.4.1 Kontext der Belegstrophe   323 5.4.1.1 Hávamál und Hugsvinnsmál   329 5.4.1.2 vilmǫgom   334 5.4.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 134   346 5.4.2.1 Text(re-)produktion   346 Originalität   346 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung und Publikum)   347 Performative Aspekte   348 Situationskontext   348

Inhaltsverzeichnis 

 349 Rollen und Autorität  5.4.2.2 Informations(re-)produktion   351 Informationsarten und Informationskontext   351 Tradierung   352 Validierung   352 5.4.3 Fazit   353 5.5 Der Thul in Hávamál-Strophe 142   353 5.5.1 Kontext der Belegstrophe    354 5.5.1.1 Exkurs: Hroptr   359 5.5.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 142   361 5.5.3 Fazit   362 5.6 Zusammenfassung: Der Thul in den Hávamál   363 5.7 Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze   364 5.7.1 Exkurs: Vogts Interpretation des Íslendingadrápa-Belegs  6 Zusammenfassung und Abschluss   375 7 Bibliographie   385 7.1 Primärliteratur   385 7.2 Referenzwerke   387 7.3 Sekundärliteratur   388 Register   399

 368

 XI

Siglenverzeichnis Baetke B/T B/T Supplement C/V Collins EK3

EK4

EK5

EK6

Fritzner [Bandnummer] IK2

Klaeber KLNM [Bandnummer] Kock [Bandnummer] LF/T LP

Neckel/Kuhn ONP

Rigs. ark. sek.

Baetke, Walter (Hg.). Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. (ohne Bandnummer: diese ist, da durchgehend nummeriert, anhand der Seitenzahl ersichtlich.) Bosworth, John; and T. N. Toller (Hgg.). An Anglo-Saxon Dictionary. Toller, Northcote T. (Hg.). An Anglo-Saxon Dictionary. Based on the Manuscript Collections of the Late Joseph Bosworth. Supplement. Cleasby, Richard; and Gudbrand Vigfússon (Hgg.). An Icelandic-English Dictionary. Collins English Dictionary. See, Klaus von; La Farge, Beatrice; Picard, Eve; und Katja Schulz (Hgg.). Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 3. Götterlieder: Vǫlundarkviða, Alvíssmál, Baldrs draumar, Rígsþula, Hyndlolióð, Grottasǫngr. See, Klaus von; La Farge, Beatrice; Gerhold, Wolfgang; Dusse, Debora; Picard, Eve; und Katja Schulz (Hgg.). Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 4. Heldenlieder: Helgakviða Hundingsbana I, Helgakviða Hjǫrvarðssonar, Helgakviða Hundingsbana II. See, Klaus von; La Farge; Beatrice; Gerhold, Wolfgang; Picard, Eve; und Katja Schulz (Hgg.). Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 5. Heldenlieder: Frá dauða Sinfiǫtla, Grípisspá, Reginsmál, Fáfnismál, Sigrdrífumál. See, Klaus von; La Farge, Beatrice; Picard; Eve, Schulz; Katja; und Matthias Teichert (Hgg.). Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 6. Heldenlieder: Brot af Sigurðarkviðo, Guðrúnarkviða I, Sigurðarkviða in skamma, Helreið Brynhildar, Dráp Niflunga, Guðrúnarkviða II, Guðrúnarkviða III, Oddrúnargrátr, Strophenbruchstücke aus der Vǫlsunga saga. Fritzner, Johan (Hg.). Ordbog over det gamle norske Sprog. Axboe, Morten; Düwel, Klaus; Hauck, Karl; Padberg, Lutz von; und Cajus Wypior (Hgg.). Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. 2,1 Ikonographischer Katalog (IK 2, Text). Klaeber, Frederick (Hg.). Beowulf and the Fight at Finnsburg. Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid. Kock, Ernst Albin. Den norsk-isländska skaldediktningen. La Farge, Beatrice; and John Tucker (Hgg.). Glossary to the Poetic Edda. Based on Hans Kuhn’s Kurzes Wörterbuch. Egilsson, Sveinbjörn; and Finnur Jónsson (Hgg.). Lexicon poëticum antiquæ linguæ septentrionalis. Ordbog over det norsk-islandske skjaldesprog. Neckel, Gustav; und Hans Kuhn (Hgg.). Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. 1. Text. Sigurðardóttir, Aldís; Battista, Simonetta; Jóhannsson, Ellert Þór; und Þorbjörg Helgadóttir (Hgg.). Ordbog over det norrøne prosasprog/A Dictionary of Old Norse Prose. Onlinepräsenz. Rigsantikvarens arkæologiske sekretariat (Hg.). Danmarks længste udgravning. Arkæologi på naturgassens vej 1979–86.

XIV 

 Siglenverzeichnis

RGA1911–19 [Bandnummer] RGA [Bandnummer]

Rímnaflokkar Rímnasafn 1 Rímnasafn 2 Rímur-Ordbog Rundata

S/G 1 S/G 2 S/G 3/1 S/G 3/2

SkaldP 1/1 SkaldP 2/2 SkaldP 7/1 Skjald B [Bandnummer] de Vries AL [Bandnummer] de Vries AR [Bandnummer]

Hoops, Johannes (Hg.). Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Beck, Heinrich; Brather, Sebastian, Geuenich, Dieter; Heizmann, Wilhelm; Patzold, Steffen; und Heiko Steuer (Hgg.). Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Jónsson, Finnur (Hg.). Fernir forníslenskir rímnaflokkar. Jónsson, Finnur (Hg.). Rímnasafn. Samling af de ældste islandske rimer. Bd. 1. 1905–1912. Jónsson, Finnur (Hg.). Rímnasafn. Samling af de ældste islandske rimer. Bd. 2. 1913–1922. Jónsson, Finnur (Hg.). Ordbog til de af samfund til udg. af gml. nord. litteratur udgivne rímur samt til de af Dr. O. Jiriczek udgivne Bósarímur. Elmevik, Lennart; Peterson, Lena; Williams, Henrik; Bianchi, Marco; Källström, Magnus; und Jan Owe (Hgg.). Samnordisk Runtextdatabas – Rundata. Sijmons, Barend; und Hugo Gering (Hgg.). Die Lieder der Edda. Erster Band. Text. Sijmons, Barend; und Hugo Gering (Hgg.). Die Lieder der Edda. Zweiter Band. Vollständiges Wörterbuch zu den Liedern der Edda. Sijmons, Barend; und Hugo Gering (Hgg.). Die Lieder der Edda. Dritter Band. Kommentar zu den Liedern der Edda. Erste Hälfte: Götterlieder. Sijmons, Barend; und Hugo Gering (Hgg.). Die Lieder der Edda. Dritter Band. Kommentar zu den Liedern der Edda. Zweite Hälfte: Heldenlieder. Whaley, Diane (Hg.). Skaldic Poetry of the Scandinavian Middle Ages I. Poetry from the Kings’ Sagas. Teil 1. (ohne Bandnummer: diese ist, da durchgehend nummeriert, anhand der Seitenzahl ersichtlich.) Gade, Kari Ellen (Hg.). Skaldic Poetry of the Scandinavian Middle Ages II. Poetry from the Kings’ Sagas. Teil 2. (ohne Bandnummer: diese ist, da durchgehend nummeriert, anhand der Seitenzahl ersichtlich.) Clunies Ross, Margaret (Hg.). Skaldic Poetry of the Scandinavian Middle Ages VII. Poetry on Christian Subjects. Teil 1. Jónsson, Finnur (Hg.). Den norsk-islandske skjaldedigtning. B. Rettet tekst. Band 1 und 2. Vries, Jan de. Altnordische Literaturgeschichte. Band I und II. Vries, Jan de. Altgermanische Religionsgeschichte. Band I und II.

Schreibkonventionen Im deutschen Sprachraum sehr verbreitete Namen und Begriffe, wie Odin, Urd, Sigurd, Ragnarök, Völsungen, Asgard oder Thor, werden in ihren eingedeutschten Versionen verwendet; nicht so häufige, etwa Eysteinn, Hroðgar, Wealhþeow, Fáfnir, Reginn oder Sinfjǫtli, in ihrer Ursprungssprache. Einen Sonderfall stellt dabei Vafþrúðnir dar, dessen Name in der hier zugrunde gelegten Edition zwar entsprechend der Handschrift als Vafðrúðnir transliteriert ist, sich aber allgemein als Vafþrúðnir etabliert hat und daher auch – außerhalb von Zitaten – in dieser Form verwendet wird. Bei den Übersetzungen handelt es sich, sofern nicht anders ausgewiesen, um eigene, wobei deren Schwerpunkt auf der Nähe zum Originaltext liegt.

1 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen 1.1 Einführung Der þulr respektive þyle stellt seit langer Zeit ein Faszinosum der nordwestgermanischen Literatur und Kultur dar. Bereits weit vor dem zwanzigsten Jahrhundert war er Gegenstand der Forschung und ist es bis heute geblieben, ohne dass sich an der grundlegenden Ungewissheit seiner Rolle, Darstellung und Charakteristika viel geändert hätte. Dabei war dieser Charakter, oder Typus, immer auch ein Feld für Projektionen, für die gerade die altnordische Kultur mit ihrer besonderen Überlieferungstradition großen Raum bietet. Viel stärker als in anderen frühen germanischen Literaturen, etwa der althochdeutschen oder altenglischen, scheinen im Norrönen Elemente vorchristlicher Zeit auf (wenn auch bei Weitem nicht immer ersichtlich wird, wo die Authentizität endet und der Antiquarianismus beginnt). Dazu existiert im Bereich der Schnittstellen von Religion und Säkularität, von formalisierter Sprache, Dichtung und „Gebrauchstext“ ein Spannungsfeld, dem gleich mehrere Elemente zugrunde liegen: die Sonderposition des Goden mit seiner doppelten, weltlichen und geistlichen, Autorität (wobei in den überlieferten Texten, wie de Vries notiert, die weltlichen Aspekte überwiegen),1 die Debatte über die Existenz einer offiziellen, dezidierten Priesterschaft2 sowie, im säkularen Bereich, die Ausdifferenzierung verschiedener altnordischer Dichtungstypen mit entsprechenden Urhebern (Skaldik, eddische Dichtung, Rímur  …), welche teils im Dunkeln bleiben (der begrifflich unsichtbare Edda-Dichter) und teils im Bereich zwischen weltlicher Dichtung, Mythos und Magie3 changieren. Dieser weiträumige Bereich ist das Feld, in welchem der þulr/þyle4 gewöhnlich situiert wird. Dabei erweist sich vor allem die Frage nach religiöser bzw. weltlicher Verortung als kaum lösbar, und die meisten Textbelege erlauben genügend Spielraum für Ausdeutungen in beide Richtungen. Da der Thul aufgrund seiner eventuellen kultischen Einbindung nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch religionswissenschaftlich von Interesse ist, unterscheiden sich die diversen Untersuchungen zudem auch entsprechend in Ansatz und Methodik.

1 de Vries 1934, S. 57; zu Widerspruch und übergreifender Debatte s. Sundqvist 2003, S. 109 f. 2 Sundqvist, RGA 23, S. 425; Sundqvist 2003, S. 110. 3 V. a. níð und sonstige Zauberdichtung. 4 An die Stelle des Doppelbegriffs tritt im Folgenden, nicht zuletzt der besseren Lesbarkeit halber, der eingedeutschte „Thul“. Darüber hinaus wird zur Verdeutlichung mancher, meist sprachlicher, Charakteristika weiterhin der altnordische bzw. altenglische Terminus verwendet; ebenso, wenn die jeweilige spezifische Ausprägung gemeint ist.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

Nicht zuletzt der wenig ergiebigen Überlieferungslage ist es geschuldet, dass trotz allem viele weiße Flecken auf der Karte verbleiben, die nur mehr oder minder spekulativ ausgefüllt werden können. Ein weiteres Problem stellt dar, dass die wenigen Belege sich als durchaus disparat erweisen: So wirken auf den ersten Blick mehrfache eddische Textzeugnisse einheitlicher, als es bei genauerer Betrachtung der Fall ist, denn Gattungen und Inhalte unterscheiden sich, nicht zuletzt im Bereich der eigentlichen Textpassage, mitunter deutlich. Von den (zwei) skaldischen Lausavísur zeigt zumindest eine bereits unzweifelhaft christliche Thematik und die (drei) Rímur-Belege, die ebenfalls kein einheitliches Bild offenbaren, müssen weitaus später datiert werden, sodass eine Rückbindung an uralte Traditionen auch aus dieser Perspektive kaum mehr möglich scheint. Früheste Funde für den Begriff þulr sind in Runeninschriften überliefert, von denen allerdings nur eine einzige, der Stein von Snoldelev, eine größere Aussagekraft besitzt, da hier ein zumindest kleinräumiges textliches Umfeld gegeben ist, an dem es allen anderen derartigen Inschriften gebricht. Das ist auch der Grund, weshalb bei letzteren Inschriften nicht einmal befriedigend festgestellt werden kann, ob es sich überhaupt um Belege für den Begriff þulr handelt oder schlicht Eigennamen vorliegen. Auch Ortsbezeichnungen scheinen einen Anhaltspunkt zu bieten; der weitaus überwiegende Teil der Namen, bei denen ein Bezug zum Begriff bestehen könnte, hat sich allerdings als sprachgeschichtlich oder grammatikalisch unvereinbar erwiesen. Was letztlich bleibt, sind vor allem Spuren – literarische Spuren, archäologische Spuren, onomastische Spuren. Es überrascht daher nicht, dass auch heute noch die Deutungen des Thuls kein einheitliches Bild ergeben. Daran wird mit Sicherheit auch diese Arbeit nichts ändern, aber vielleicht – hoffentlich – etwas mehr Licht auf einen kleinen Teilaspekt dieser faszinierenden Gestalt werfen können.

1.2 Basis: Begriff und Belege 1.2.1 Etymologie Die Begriffe þulr wie þyle gehen auf das germanische *þuliz zurück,5 über dessen Vorläufer immer noch Unklarheit herrscht. Von den diversen Erklärungsversuchen (üblicherweise mittels geographisch nahe gelegener Sprachen, vgl. dazu etwa Vogt,6 bis hin zu Verbindungen ins Hethitische bei Polomé7) hat sich kein einziger breit durchsetzen können,8 sodass auch in der jüngeren Forschung weiterhin festgestellt werden muss,

5 Klingenberg, RGA 5, S. 385. 6 Vogt 1927, S. 26 ff. 7 Polomé 1975, S. 661 f. 8 S. Libermann 1996, S. 76 f. für einen detaillierteren Überblick.



Basis: Begriff und Belege 

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der Terminus sei „of obscure sense and origins“.9 Überliefert ist þulr ausnahmslos in poetischen Texten, und auch þyle tritt im Rahmen erzählender Literatur einzig dort auf, findet sich außerdem aber noch vereinzelt in lateinischen Übersetzungen bzw. Glossen. An verwandten Begriffen existiert im Altnordischen darüber hinaus das Sekundärverb þylja (eine Lautäußerung, die gemeinhin als „murmeln“ oder „vortragen, rezitieren“ gedeutet wird10) sowie die literarische Bezeichnung þula (ein listenartiger Text, im engeren Sinne „gestabte Wortreihen“11), dazu im Altenglischen þylcræft bzw. þelcræft („craft“, also das Handwerk, Gewerbe, die Fertigkeit oder die Kunst des þyle). Das altnordische Verb þylja erweist sich als vergleichsweise verbreitet – es ist in eddischer wie skaldischer Dichtung und besonders auch in der Prosa vertreten, während þula vor allem als konkrete Gattungsbezeichnung (Rígsþula, Þorgrímsþula, die Þulur in den Manuskripten der Snorra Edda) ins Auge fällt und im Ganzen eher spärlich überliefert ist. Das noch seltenere altenglische þylcræft/þelcræft, schließlich, erscheint einzig im Rahmen von Glossen. Bei der Überlieferung der Termini fällt zudem auf, dass nur ein einziger Fall existiert, in dem þulr und þylja gemeinsam auftreten,12 und eine þula wird dieser Figur sogar nirgendwo zugeschrieben. Aus diesem Grund lässt sich annehmen, dass zum Zeitpunkt der Komposition der jeweiligen Texte kein unmittelbarer, zwingender Zusammenhang zwischen den Begriffen mehr bestand. Da diese Untersuchung ausschließlich auf die Figur abzielt und angesichts der Beleglage weder davon ausgegangen werden kann, dass eine þula, noch þylja als Handlung einen þulr voraussetzen oder implizieren, sind der Ausgangspunkt für diese Arbeit allein die Termini þulr und þyle.

1.2.2 Überlieferung Die Überlieferung des Begriffs ist weder besonders reichhaltig noch von eindeutiger Aussagekraft. Zu den wenigen Belegen in literarischen Texten gesellen sich ebenfalls wenige runische Inschriften, von denen zumindest (oder: nur) eine mit Sicherheit den Terminus zeigt; außerdem sind gewisse Ortsnamen als mit dem Begriff in Verbindung stehend angesehen worden. Aufgrund der rein literarischen Ausrichtung der hiesigen Untersuchung werden diese Belege, deren Sitz im Leben ein anderer ist, zwar nicht in die Auswertung miteinbezogen, für einen anfänglichen Gesamtüberblick sollen sie dennoch vorgestellt werden.

9 Poole, RGA 30, S. 544. 10 LF/T, S. 315: „to recite“; C/V, S. 754: „to say, read, chant, in one continuous tone, without either stopping, or any intonation“ sowie „to chant or murmur in a low voice, as one saying charms, prayers, or the like“. Hierbei ist unklar, ob die Wurzel *þul-, die dem Verb zugrunde liegt, von þula oder þulr stammt: „The literal meaning of þylja was to ‚speak like a þulr‘ or ‚to compose þulur‘“ (Libermann 1996, S. 75). 11 de Vries, AR 1, S. 403. 12 Hávamál Str. 111.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

1.2.2.1 Literarische Texte Belege für den Begriff þulr sind in folgenden Werken erhalten: In den altnordischeddischen Hávamál (gleich viermal), Vafþrúðnismál und Fáfnismál. Weiterhin tritt der Begriff in dem in die Gautreks saga integrierten Víkarsbálkr auf, in der Íslendinga­ drápa Haukr Valdísarsons sowie einer skaldischen Lausavísa von Jarl Rǫgnvaldr kali; schließlich in zwei Rímur: den Griplur (zweimal) sowie den Hrings rímur ok Tryggva oder Geðraunir. Mit insgesamt sechs Vorkommen zeigt sich die Belegdichte in der Liederedda somit am weitaus höchsten und gleichzeitig ist durch den kompilatorischen Charakter des Werks auch ein ansatzweise konsistentes Umfeld gegeben, weswegen ebendiese Eddalieder die altnordische Textbasis für diese Untersuchung bilden. Im angelsächsischen Sprachgebiet ist die Belegdichte für þyle noch geringer. Hier findet sich der Terminus vor allem im Beowulf (zweimal); dazu erscheint er, wohl als Eigenname, im Widsið, weiterhin im Kontext lateinischer Übersetzungen im Liber Scintillarum sowie einigen lateinischen Glossen, dort teils im Rahmen eines Kompositums. Da hier somit nur ein einziger narrativer Text existiert, der auch sichere Belege für den Begriff þyle im Sinne einer Rollen- oder Funktionsbezeichnung beinhaltet, erübrigt sich eine weitere Auswahl; gleichwohl werden die anderen Vorkommen ebenfalls kurz angerissen werden. Die Untersuchungen dieser Arbeit beginnen und enden mit eddischen Texten, deren Anordnung grundsätzlich jener in der Liederedda folgt. Allerdings wurden die hochkomplexen Hávamál, welche im Rahmen dieser Sequenz eigentlich den Anfang bilden müssten, aufgrund der ihnen eigenen Problematik, aber auch der dortigen, vergleichsweise großen Zahl an Belegen, ans Ende gestellt. Der hier als Erstes untersuchte Text sind somit die Vafþrúðnismál, gefolgt von den Fáfnismál (einschließlich der für die Figurenzeichnung wichtigen Reginsmál). Es schließt sich der Blick auf den altenglischen þyle, und damit den Beowulf, an, ehe mit den Hávamál abschließend die Rückkehr zur Edda erfolgt. 1.2.2.2 Toponyme Von der früheren Forschung als in größerem Umfang vertreten angesehen, zeigte Sørensen,13 dass vor allem die Elemente tuls-/tulles-/tolles-/tols- in Ortsnamen nicht auf das Substantiv þulr zurückgeführt werden können:14 Das Genitiv-s verweist auf a-Stämme, bei þulr handelt es sich jedoch um einen i-Stamm (mit der Genitiv-Endung -ar) und eine analogische Genitivbildung sei in diesem Fall äußerst unwahrscheinlich, da der Zeitraum für eine solche Entwicklung sehr knapp

13 Sørensen 1955. 14 Dies gilt nicht für das Element Tulle, welches sich aus dem regulären i-Stamm-Genitiv þular über þula/þulæ entwickelte (Sørensen 1955, S. 99).



Basis: Begriff und Belege 

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ist15 und überdies nur drei (bzw. bei unschärferen Vergleichskriterien fünf16) Beispiele für eine solche Analogiebildung des s-Genitivs im dänischen Runeninschrifteninventar existierten, welche „most questionable and quite inapplicable as evidence“ seien.17 All dies macht eine Verbindung des Begriffs zu derartigen Toponymen mit Genitiv-s im ersten Element unwahrscheinlich. Aufgrund von phonetischen Details in der Aussprache von -u und -l im Dänischen bezeichnet Sørensen überdies auch die (wenigen) restlichen Belege als problematisch: „in the case of West Danish localities“ sei für eine entsprechende Verbindung notwendig, „that the first component is pronounced with the open vowel“, hingegen: […] in the case of the majority of the Jutlandish names, that the first component is pronounced with [ł] in the area in which this sound appears, and [l] in the greater part of the rest of Jutland. When the West Danish names in Tulle- because of the pronunciation cannot be interpreted as being derived from tul, one would shrink from interpreting East Danish names of the same form as derived from this first component, even though the linguistic conditions are present.18

Auch die sakralen Verbindungen, auf welche Aakjær verwies, seien kritisch zu betrachten und nicht zu weit zu fassen:19 Only if a Tullehøj is situated within an area which according to the evidence of a number of placenames can be assumed to have been a cultic centre, this interpretation, too, should be taken into consideration if, otherwise, the linguistic possibilities are present.20

Sørensen bietet als Hauptalternative die Rückführung von Namen mit den Elementen Tul(le)s-/Tol(le)s- auf Eigennamen wie Thōlv, Thūlv, Tūlir und Tōlir an und beschreibt deren historische Entwicklung sowie Vorkommen.21 Im Ganzen zieht er den Schluss, „that the possibilities of interpreting the first component of these names as tul, ON

15 Die Grenze ist das Jahr 1000: The heathen tul must have lost his importance at any rate after 1000. […] The word tul has presumably been forgotten comparatively soon together with the concept it covered, and only living words will take part in such a morphological change. (Sørensen 1955, S. 99) If this heathen title entered into them [die Ortsnamen, KRMT], they must have been coined before 1000, but analogical genitival s does not occur until 200 years later (Sørensen 1955, S. 103). 16 Sørensen 1955, S. 100. 17 Sørensen 1955, S. 99. 18 Sørensen 1955, S. 105. 19 Sørensen 1955, S. 106. 20 Sørensen 1955, S. 106. 21 Sørensen 1955, S. 106 ff. Eine weitere, allerdings in ihrer Gültigkeit eingeschränkte, Alternative ist told („thole-pin; cork“, Sørensen 1955, S. 114) für das Element Tol(le)-, Tols-, welches als „boundary, strip of land between two men’s lots“ (Sørensen 1955, S. 115) zu deuten wäre.

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þulr, are slight […] the possibilities of other interpretations are numerous“,22 zumal die Gruppe dieser Namen auch nicht homogen sei. Ein eventueller weiterer Beleg bietet sich möglicherweise noch mit dem schwedischen heutigen Torsåker, dessen Name im Mittelalter unter anderem als „Thywlsaker“ verzeichnet ist.23 Brink führt diesen unter der Rubrik „sacral landscapes“24 als mögliche Verbindung zum þulr an; allerdings ohne große Emphase und ohne die Rolle der Figur genauer zu definieren.25 Auch bei dieser Bezeichnung läge allerdings das von Sørensen beschriebene problematische Genitiv-s vor. Sundqvist legt hier eine Rückführung auf „OSw þala, thol, þola as its first element“26 nahe. Eilersgaard Christensen schließlich setzt den Begriff im Kontext von Toponymen ganz allgemein in Verbindung „med rang og prestige“27 und schließt daraus, dass „personbetegnelsen thul repræsenter elite og eventuel politisk ledelse“,28 ohne sich mit der Frage der gesellschaftlichen Verortung weiter zu befassen. 1.2.2.3 Runensteine An Inschriften auf Runensteinen sind zwar gleichfalls mehrere diskutiert worden, aber nur bei einem, dem Stein von Snoldelev (DR 248),29 liegt ein etwas längerer kohärenter Text vor, in dem der Begriff ansatzweise kontextualisiert wird. Bei den beiden anderen Inschriften (der Steine von Tumbo (Sö 82)30 und Salmunge (U 519)31), für welche Rundata die Zeichensequenz þulr (Sö 82) bzw. þulir (U 519) notiert, „hieb“ (iuk, an. hjó), also ritzte, der so Benannte die Runen, wobei es sehr wahrscheinlich ist, dass es sich nicht um eine Funktionsbezeichnung, sondern vielmehr um Eigennamen handelt.32 Damit bleibt einzig der Stein von Snoldelev als belastbares Zeugnis. Die Inschrift lautet hier:33 „Gunnvalds Stein, des Sohnes Hróalds, des þulr auf Salhaug“ (Salløv) oder „auf den Saalhügeln“. Diese Lesartsalternativen sind nicht unwichtig,

22 Sørensen 1955, S. 116. 23 Folgende Namen sind im 14. und 15. Jahrhundert belegt: „in villa Thywlsaker“, „de Thyulsakre“, „i Thwrsaker“ sowie „Thylsaker“ und „j Tiwrsaaker“ (Wessén; Jansson 1940–43, S. 459). 24 Brink 1997, S. 429. 25 „[…] it seems possible to see here the word þulr ‚pagan priest (or whatever)‘“ (Brink 1997, S. 430). 26 Sundqvist 2003, S. 115. 27 Eilersgaard Christensen 2010, S. 103. 28 Eilersgaard Christensen 2010, S. 103. 29 Stoklund, RGA 29, S. 168 ff.; Moltke 1985, S. 158; zur Grabstätte s. auch Rigs. ark. sek., S. 160 ff. 30 Brate; Wessén 1924–36, S. 60 f. 31 Wessén; Jansson 1943–46, S. 379 ff. 32 Poole, RGA 30, S. 544. In einem späteren Aufsatz verweist er auf die Parallele zum Widsið, wo þulr ebenfalls einen Eigennamen darstellt, und erwägt eine Entwicklung von der Funktion hin zum Namen (Poole 2010, S. 240). 33 Gemäß Rundata: „kun'uAlts| |stAin ' sunaʀ ' ruHalts ' þulaʀ ' o salHauku(m)“, an.: Gunnvalds steinn, sonar Hróalds, þular á Salhaugum.



Basis: Begriff und Belege 

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da hier eine Verbindung zu Hügeln und Halle als exponierten Plätzen34 in der frühen Wikingerzeit und damit eventuell auch zum Kult gezogen werden kann.35 In diese Richtung deuten wohl auch die „vermutlich gleichzeitig“36 eingebrachten Symbole: ein Hakenkreuz sowie eine Triskele. Mit dem Stein von Snoldelev beschäftigte sich bereits Wimmer,37 der auf Basis der Eddalieder den þulr als „taler, wismand“38 deutete, aber auch die Möglichkeit erwähnte, „at der ved þ u l r på Snoldelev-stenen menes en gejstlig ‚taler‘ (»præst«)“, im gleichen Zug allerdings auch darauf hinweist, dass schon bei den Eddatexten keine Sicherheit über die Bedeutung besteht.39 Sundqvist40 übersetzt den Namen hier als „on the hall-mounds“ und schließt an: It indicates a connection between the „thul“ and the representation hall (ON salr), where, for instance, the ceremonial banquets were celebrated. This place must be regarded as a representation room where different kinds of official meetings were held. It is possible that the „thul“ took care of and recited mythical and judicial traditions during these meetings.41

Als Indiz für letztere Annahme dient Sundqvist dabei auch der þyle Unferð aus dem Beowulf und gleichfalls die altenglischen Glossen, sodass hier ein gewisser kultureller wie geographischer Abstand überbrückt werden muss. Dies führt Sundqvist allerdings zur Assoziation der Figur mit sehr weltlichen Aufgaben, sodass er stärker auf das Religiöse abzielenden Thesen wie beispielsweise der Olriks von einer „anden klasse af folkets ledere i oldtiden“42 mit dem Thul als „en styrer af egnen, men med fredelig præstelig karakter, til hvis rolige vismandsfærd det religiøs-magiske at sitja á haugi allerbedst passer“43 eine Absage erteilt.44

34 „Die Sequenz osalhauku(m), á salhaugum, setzt sich zusammen aus Präposition + sal + hög und läßt sich ‚bei den Hügeln am Saal‘ deuten, d. h. als der Platz, an dem man zeremonielle Feste beging. Der Saal scheint auf einem erhöhten Platz gelegen zu haben“ (Sundqvist, RGA 23, S. 431 f.). Die Inschrift wird gewöhnlich der Vor- oder Frühwikingerzeit zugerechnet (Stoklund, RGA 29, S. 169; Christensen (1989, S. 4) datiert ihn auf etwa 800, Moltke (1985, S. 183) stellt fest: „The stone cannot be later than the end of the eigth [sic] century“). 35 Für diese Arbeit weniger wichtig ist, dass rein grammatikalisch nicht ersichtlich wird, auf wen oder was sich der Genitiv þular bezieht, und daher unklar bleibt, ob Gunnvald oder Hróald jener þulr war; „aber in der Regel gilt Gunvald als Thul“ (Stoklund, RGA 29, S. 170). 36 Stoklund, RGA 29, S. 170. 37 Wimmer 1874, S. 227 ff. 38 Wimmer 1874, S. 229. 39 Wimmer 1874, S. 229. 40 Sundqvist 2009, S. 660. 41 Sundqvist 2009, S. 660. 42 Olrik 1909, S. 8. 43 Olrik 1909, S. 9. 44 Sundqvist 2009, S. 661.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

Eine Sakralverbindung ebenfalls kritisch sieht Eilersgaard Christensen, die zudem auf eine etwas zirkulär anmutende Argumentation in diesem Punkt hinweist, in der sich Stein- und Textinterpretation gleichsam gegenseitig stützen: Det er Snoldelev-stenen indskrift „Gunvalds sten, søn af Roald, thul i [eller på] Salhøje“, der ligger til grund for flere forskeres tolkning af subst. sal i en sakral betydning, fordi en person med betegnelsen thul relateres til et sted med navneleddet sal. Det er dog uvist, hvilke funktioner en thul har bestredet, og dermed også hvor snævert denne personbetegnelse kan relateres til (førkristen) kult og religion.45

1.2.2.4 Runeninschriften auf Brakteaten Ein eventueller zusätzlicher, allerdings deutlich unsichererer Beleg liegt mög­ licherweise mit der runischen Inschrift des Brakteaten DR IK 364 U vor,46 die als „wenig prägnant“47 beschrieben wurde und sich, je nach angesetzter Grundlinie, als luþ (Grundlinie in Richtung Brakteatenrand) oder þul (Grundlinie in Richtung Brakteatenmitte)48 lesen lässt. Rundata stuft sie als „[k]anske en förvanskad laukazinskrift“ ein, gemäß IK 2 sind die Voraussetzungen dafür aber nicht gegeben.49 In der Lesung þul wurden von Beck,50 über die Brücke des Kultredners, die Zeichen als Vokativ von *þulir und damit als Anrufung Odins, des fimbulþulr, gedeutet. Er notiert dabei „gewisse Schwierigkeiten“ bei der „Bestimmung der Schriftrichtung“, dennoch hält er diese Lesart für „erwägenswert“.51 Möglicherweise gesellt sich zu diesem Brakteaten noch ein zweiter, jüngerer Fund, bei dem die Verbindung allerdings noch weniger gesichert ist: DR IK 585 U. Axboe; Behr; Düwel vermerken dazu: „Ob die Inschrift ein Element þul enthält (vgl. IK 364), muß offen bleiben“.52 Rundata verzeichnet nichts dergleichen, sondern deutet die Zeichen als Futhark-Inschrift, was wiederum von Nowak aufgrund von deren Form und Positionen als „gewagt“ bezeichnet wird,53 während Hauck und Heizmann dieser Lesart „große Plausibilität“ bescheinigen.54 Von letzteren beiden Autoren wird hier außerdem eine eventuelle Verbindung mit DR IK 225 vorgeschlagen; folgt man

45 Eilersgaard Christensen 2010, S. 129. Zum Namensbestandteil sal (bei dem ebenfalls säkulare und religiöse Deutung diskutiert wird) und bei dessen Auslegung der Stein von Snoldelev „har haft stor betydning for den sakrale tolkning“, s. Eilersgaard Christensen 2010, S. 88 f. 46 S. IK 2, S. 217 ff. 47 Nowak 2003, S. 641 f. 48 IK 2, S. 218. 49 IK 2, S. 218. 50 Beck 2001, S. 66. 51 Beck 2001, S. 66. 52 Axboe; Behr; Düwel 2011, S. 938. 53 Nowak 2003, S. 660 f. 54 Hauck; Heizmann 2003, S. 253.

Forschungsüberblick 

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ihnen, ließe sich in allen drei Fällen die Kombination þul als Vokativ zu *þulir lesen.55 Auch bei diesem zweiten eventuellen Beleg ist allerdings die Schriftrichtung nicht gewiss,56 noch gibt es exklusive Argumente für eben eine solche Lesart – oder überhaupt irgendeine: Aufgrund diverser „Leseschwierigkeiten ist jegliche Deutung von Inschrift I mit einem hohen Maß an Unsicherheit belastet“.57 Zu DR IK 225 wiederum geben sowohl Rundata als auch IK 258 gar keine Deutung an, was auch Hauck und Heizmann notieren und zu der möglichen Verbindung feststellen: „Inhaltlich hilft die Inschrift jedoch nicht viel weiter“.59 Es können damit in allen drei Fällen viele relevante Fragen nicht mit so ausreichender Sicherheit beantwortet werden, als dass man davon ausgehen könnte, dass in den Inschriften mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit Belege für den Terminus þulr vorliegen.

1.3 Forschungsüberblick Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Forschungslage gegeben werden. Dabei wird im Rahmen der frühen Literatur Vogts Monographie wegen ihres Stellenwerts die größte Beachtung geschenkt. Auf eine Darstellung der Arbeiten vor dem zwanzigsten Jahrhundert wird verzichtet; stattdessen sei auf den Abriss ebendieser bei Vogt verwiesen.60 Der Thul ist im Laufe der Zeit in vielerlei Hinsicht ausgedeutet worden. In der älteren Forschung am Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war es noch meist der Zusammenhang mit der Eddadichtung, der im Vordergrund stand  – so etwa bei Müllenhoffs61 Spielmann (und im Endeffekt fast schon Every­ man), Bugges62 Suche nach Parallelen in christlichen Schriften oder Kauffmanns Hofmeisteramt.63 Auch Olrik berief sich bei seiner Deutung des hochangesehenen weisen

55 Hauck; Heizmann 2003, S. 252, zum Brakteaten DR IK 225 allgemein s. IK 2, S. 30 f. 56 „Rechtsläufigkeit bleibt unsicher“ (Hauck; Heizmann 2003, S. 255). 57 Hauck; Heizmann 2003, S. 251. 58 IK 2, S. 31. 59 Hauck; Heizmann 2003, S. 252. 60 Vogt 1927, S. 11 ff. Zudem werden einige Theorien, besonders solche, die sich auf ein bestimmtes Werk beziehen, in ausführlicherer Form in den folgenden Kapiteln noch einmal auftreten und daher hier entsprechend kürzer abgehandelt. Studien, welche sich praktisch ausschließlich mit einer bestimmten Thul-Figur beschäftigen (etwa mit dem þyle Unferð im Beowulf), werden erst im entsprechenden Kapitel genauer betrachtet. 61 Müllenhoff 1908. 62 Bugge 1881–89. 63 Kauffmann 1896, S. 159 f.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

Ratgebers „med fredelig præstelig karakter“64 erheblich auf diese Werke, während Noreen, ebenfalls auf Basis der Edda, den entgegengesetzten Weg ging und die Figur radikal auf „blott ‚talare, recitator, skald e. d.‘“65 reduzierte, was sehr nahe an Heuslers nüchterner Lesart66 lag. Zu einem Kurswechsel kam es spätestens mit der Monographie Walther Heinrich Vogts,67 der sich bereits zuvor mit dem Thul und dessen Textproduktion befasst hatte.68 Mit dieser Arbeit und ihrer enormen Ausweitung hinzugezogener Texte kehrte der vielgestaltige „Kultredner“ und damit die ganz ausdrückliche Einbindung des Thuls ins sakrale Leben, die schon im neunzehnten Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hatte,69 wirkmächtig zurück. Vogts Arbeit aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts stellte damals praktisch einen Meilenstein dar und befasste sich detailliert und mit fundierter Quellenkenntnis mit den Zeugnissen für þulr, þylja und þula wie für den angelsächsischen Begriff þyle. Zwar hat sie sich nicht in allen Punkten durchgesetzt – die Arbeit weist diverse Schwächen auf, und viele Schlussfolgerungen zeitigen erheblichen Diskussionsbedarf, was in dieser Untersuchung noch mehrfach Thema sein wird70  –, erscheint aber auch gegenwärtig nicht selten als fast unverzichtbare Anlaufstelle

64 Olrik 1909, S. 9. 65 Noreen 1921, S. 25. Für die Inschrift des Steins von Snoldelev sowie den þyle setzt der Autor dort eine Art unklare „Titel- oder Berufsbezeichnung“ an. Einen Forschungsüberblick gibt er auf S. 19 ff. 66 „Die Bedeutung ‚Wortführer‘ in untechnischem, neutralen Sinne gibt die geeignete Grundlage, woraus sich die vorliegenden Verwendungen erklären“ (Heusler, RGA1911–19 1, S. 444). Noreen selbst notiert die Ähnlichkeit seiner Lesart mit der Heuslers. 67 Vogt 1927. 68 Vogt 1915, 1925 und 1927–28. 69 Vogt 1927, S. 14 f. 70 Exemplarisch soll die Problematik an Vogts Methode bei der Deutung der Skaldenverse aufgezeigt werden, die in einem späteren Kapitel folgen wird. Allgemein fällt in der Monographie, neben nicht immer leicht verständlichen Formulierungen, welche bereits in zeitgenössischen Rezensionen bemängelt worden waren (vgl. van Hamel 1928, S. 310), vor allem eine Tendenz zu A-priori-Feststellungen und dem „Stapeln“ von Thesen auf, wobei keine Sorgfalt darauf verwendet wird, jede einzelne zunächst stichhaltig zu belegen, das Gesamtkonstrukt dann aber in der weiteren Diskussion als Tatsache behandelt wird. Auch Le Roy Andrews (1929, S. 220) bemängelte in seiner Rezension die schwache Faktenbasis für vor allem Vogts weitergehende Überlegungen zum Thul, während er den textnäheren Bereichen durchaus Verdienste bescheinigte. Hierin ähnelt er de Boor (1929). Dieser lehnt die Definition als „Kultredner“ rundheraus ab (de Boor 1929, S. 13), und das, obwohl er in diversen Detailaspekten ein durchaus ähnliches Bild des Thuls mit magischer, übermenschlicher, teils gar „dämonischer“ (de Boor 1929, S. 12) Konnotation ansetzt. Neben dem Argumentationsmuster selbst, welches de Boor ebenfalls bemängelt (de Boor 1929, S. 9), übt er auch detaillierte Kritik an vielen Details der Untersuchung. Vogts stilistische Analysefähigkeit hingegen findet seine nahezu uneingeschränkte Zustimmung. Malones Rezension (1929) wiederum bezweifelt die Einbindung in einen Kult zugunsten einer individuelleren Funktion, spricht dem Thul aber übernatürliche Elemente nicht grundsätzlich ab: „a speaker, whose words were words of power“ (Malone 1929, S. 130).

Forschungsüberblick 

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bei der Beschäftigung mit Figur und Umfeld und liegt daher speziell Deutungen des Thuls als in irgendeiner Form kultisch aktiv wenigstens teilweise zugrunde. Eine ähnlich umfassende Betrachtung des Gesamtkomplexes ist bis zum heutigen Tage nicht mehr erschienen. Vogts Deutung schreibt dem Thul allerdings im Rahmen von dessen Aufstieg und Niedergang so viele Rollen und Ämter zu, dass kaum eine sprachbezogene Funktion existiert, die die Figur auf dieser Basis nicht innehaben könnte. Mit einem solchen Ansatz ist es nicht erstaunlich, dass seine Arbeit bis heute als eine der Quellen für die meisten Aspekte eines Thuls dienen kann, auch wenn die Argumentationsstrategien und die teils ausgesprochen großzügige Auslegung von Texten durch den Autor einer unbedingten Gültigkeit entgegenstehen. Neben anderem bezogen sich de Vries,71 Heusler72 und Ohlmarks73 im Anschluss bei ihren eigenen Studien ausdrücklich auf Vogts Monographie. Dabei ist Heusler, der den altnordischen þulr als Weisen und Redner (nach Verlust eines früheren Hofamts) auffasst,74 am kritischsten: „In den neueren Jahren ging das Bemühen mehr dahin, Kultisches oder Kultisch-Magisches in den Thul hineinzuzaubern“.75 Ebenso betont Ohlmarks die schlechte Indizienlage für einen „Kultredner“,76 weshalb er die Theorie des Edda-Dichters am Hofe vorzieht,77 setzt aber ebenfalls eine Niedergangsphase an, deren neue Realität er in den Ratschlägen der Hávamál zu Vorsicht und Bescheidenheit manifestiert sieht, was deutliche Anklänge an Vogts Darstellung zeigt. Ähnlich weicht de Vries’ anfängliche Kritik im Laufe seiner Arbeiten78 immer mehr einer  – zumindest teilweisen – Akzeptanz Vogts, und sein Bild vom Thul als Priester, Traditionswahrer79 und Quelle früher, sakraler Poesie80 ist in der Tat in vielen Elementen nahe an der Deutung des früheren Autors. Die neuere Forschung, vor allem ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, konzentrierte sich weit weniger auf eine ausführliche und detaillierte Gesamtbetrachtung „des“ Thuls, sondern untersuchte vielmehr meist einzelne Charaktere oder auch nur Aspekte der Figur. Im angelsächsischen Bereich betrifft das (zwangsläufig) am stärksten den þyle Unferð im Beowulf, zu dem und dessen Verhältnis zum Helden zahllose, oft hochgradig differierende Beiträge publiziert werden. Etwas anders verhält es sich in der

71 de Vries 1934; AR 1; AL 1. 72 Heusler 1941. 73 Ohlmarks 1948. 74 Heusler 1941, S. 110 f. 75 Heusler 1941, S. 111. 76 Ohlmarks 1948, S. 22. 77 Ohlmarks 1948, S. 21 ff. 78 de Vries 1934; AL 1; AR 1. 79 de Vries AL 1, S. 32. 80 de Vries AR 1, S. 404.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

Altnordistik, wo viel stärker der zugrunde liegende Text den Schwerpunkt bildet, und der Thul eher als Teil solcher Studien erscheint. Ein Unterschied, der sicherlich auch darin begründet liegt, dass diese Figur in kaum einem anderen Text so prägnant und farbig dargestellt wird wie in jenem altenglischen heroisch-elegischen81 Gedicht. Entsprechend finden sich zu Unferð unter anderem Lesarten des þyle als heidnischer Priester,82 als Hofnarr,83 als personifizierter Streit,84 Verräter,85 Exorzist,86 aber auch hervorragender Krieger87 sowie (heidnischer) Sprecher der warband und Mittler zwischen ihr und dem Herrscher88 oder „morale officer“89 – der Bereich vom Sakralen bis ins vollständig Profane wird damit praktisch komplett abgedeckt.90 Bei den Studien zur norrönen Literatur haben wiederum die Hávamál  – auch hier fast unausweichlich – die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Anders als beim Beowulf ist bei diesem Text allerdings nicht davon auszugehen, dass die (vier) ausdrücklichen Erwähnungen eines þulr sich auf ein und dieselbe Figur beziehen. In der Tat ist sogar bei keiner einzigen Figur hundertprozentig sichergestellt, wen der Begriff referenziert; wenn auch bei zweien, dem fimbulþulr von Str. 80 und 142, mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass es sich dabei um ein Odinsheiti handelt. Angesichts der vielen Probleme, die gerade dieser Text auch als Ganzes aufwirft, ist es nicht erstaunlich, dass sich die wenigsten Untersuchungen umfassend spezifisch mit dem þulr beschäftigen. Dennoch werden Begriff oder Figur durchaus – mal knapper, mal ausführlicher – thematisiert, wie etwa bei Pipping,91 Schneider,92 Hummelstedt,93 von See,94 Evans,95 Larrington,96 Jackson97 oder McKinnell.98

81 Tolkien 1936, S. 34. 82 Hardy 1969, Baird 1970, Hollowell 1976. 83 Eliason 1963, Donovan 2009. 84 Bloomfield 1968, Hughes 1977. 85 Rosier 1962 (kritisiert von Bjørk 1980). 86 Clarke 1936. 87 Ogilvy 1964. 88 Enright 1998. 89 Gwara 2008. 90 Zu weiterer Forschung sowie einem kurzen Überblick über die Figur Unferð s. Orchard 2003, S. 247 ff. 91 Pipping 1928. 92 Schneider 1948. 93 Hummelstedt 1949. 94 von See 1972a. 95 Evans 1986. 96 Larrington 1993. 97 Jackson 1994 und 1995. 98 McKinnell 2007a.

Forschungsüberblick 

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In Studien zu Fáfnis- und Vafþrúðnismál wiederum findet zwar Erwähnung, dass der jeweilige Charakter þulr genannt wird. Dies mündet in den meisten Fällen jedoch in keine ausführlichere Diskussion, was durchaus nachvollziehbar ist, da es sich jeweils um einen Einzelbeleg in einem längeren Text handelt, der einen erkennbar anderen Schwerpunkt besitzt (Kompetitivität und Wissensvermittlung), und der Begriff überdies auch nicht an deutlich exponierter Stelle steht. Bei den Vafþrúðnis­ mál führen vor allem Machan,99 McKinnell100 sowie Ruggerini101 den Begriff an. Und in den Fáfnismál findet sich der þulr außer bei Motz’ Schmiedestudie102 so gut wie überhaupt nicht eigens thematisiert. Der umfangreiche Frankfurter Kommentar zu den Liedern der Edda103 widmet der Bezeichnung dort immerhin eine knappe Seite, in der vor allem die Beleglage beschrieben und die Assoziation mit Weisheit betont wird.104 Eine schlüssige durchgängige Deutung des Begriffs kann aber auch dies unverzichtbare Werk nicht bieten. Viel weniger Aufmerksamkeit als die Hávamál, und auch die weiteren Eddalieder, haben die Skaldenstrophen sowie die noch jüngeren Rímur-Belege auf sich gezogen (die in dieser Arbeit zwar durchaus angesprochen, aber ebenfalls nicht intensiv erörtert werden). Auch hier ist Vogt wieder die Instanz, welche sich am eingehendsten damit beschäftigt hat, allerdings gleichermaßen mit bei Weitem nicht immer befriedigenden Schlussfolgerungen. Ähnlich verhält es sich mit der Bezeichnung Starkaðrs im Víkarsbálkr, obwohl dieser Beleg nicht selten zur Untermauerung der Ritualthese herangezogen wird. Eine der jüngsten Arbeiten zu diesem Werk findet sich hier in Clunies Ross’ Poet into Myth,105 welche sich stark auf Pooles Deutung eines þulr stützt, für den der Facettenreichtum an Aufgaben und produzierten Texten maßgeblich ist.106 Unter den jüngeren, kürzeren interdisziplinären (literaturwissenschaftlichen) Studien, die altenglische und norröne Belege komparatistisch bearbeiten, fallen weiterhin Libermann und Jackson ins Auge. Während Libermanns Arbeit recht sprachhistorisch ausgerichtet ist, arbeitet Jackson stärker inhaltsorientiert. Libermann erkennt im Thul vor allem eine Sprecherfunktion mit offensiven Elementen.107 Für Jackson hingegen liegt eine Verbindung der Figur mit dem Odinskult nahe und ebenso mit

99 Machan 1988 und 2008. 100 McKinnell 1994. 101 Ruggerini 1994. 102 Motz 1983. 103 Im Weiteren kurz Eddakommentar bzw. EK. 104 EK 5, S. 471 f. 105 Clunies Ross 2006. 106 Poole 2010 arbeitet diese These weiter aus. 107 „[…] an admired orator, a despised taunter, a feared character assassin, a repository of obscure gossip – the þulr was all of this and much more, but never a wizard or officiating priest (Kultredner) and hardly ever an evil counselor“ (Libermann 1996, S. 75).

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

instruktiver Weisheitsdichtung unterschiedlicher Art,108 was sie vor allem an den Hávamál-Belegen festmacht, und diese wiederum mit altenglischen Maximen verbindet. Noch jünger als diese beiden Arbeiten ist Pooles bereits erwähnte Erörterung der „Þulir as tradition-bearers“, die viele interessante Feststellungen beinhaltet,109 wobei der Autor einen Vogts Deutung teils recht ähnlichen, multifunktionalen Typus annimmt, der in die gesellschaftliche Elite eingebunden war.110 Besonders auf eine eventuelle kultische Funktion hin untersucht schließlich die Religionswissenschaft unter anderem die Frage nach einer Lehr- und Tradentenfunktion im Rahmen des Sakralkönigtums (Fleck111 und ähnlich Haugen112) sowie die Rolle als „Kultspezialist“,113 priesterlicher Sprecher von Liturgie und Magie114 oder Mystiker,115 aber auch eine funktionale Generalisierung zum allgemeinen Redner (vorzugsweise als Sprecher für den Herrscher).116 Tendenziell – und nicht wirklich verwunderlich – ist die kultische Verortung in diesem Fachbereich deutlich ausgeprägter; zumal hier auch häufig außerliterarische Quellen stärker miteinbezogen und größere Zeiträume zugrunde gelegt werden. Der zentrale Text für diese Perspektive sind ebenfalls die eddischen Hávamál, in denen mit dem mythischen fimbulþulr und mit der in offensichtlichem Götterkontakt stehenden Figur „auf dem þulr-Stuhl am Urdquell“ zwei Charaktere vorhanden sind, denen numinose Elemente zugeschrieben werden können. Gerade die Odin-Bezogenheit des gesamten(?) Gedichts sowie die mystisch-esoterischen Passagen des Rúnatal und Ljóðatal bieten in diesem Werk attraktive Ansatzpunkte für eine religionswissenschaftliche Betrachtung. In gesamtenzyklopädischer Hinsicht, schließlich, führt Halvorsens Überblick im KLNM117 hauptsächlich weltliche Rollen auf (Weiser, Skalde) und sieht die Bedeutung der Inschrift des Steins von Snoldelev als nicht gesichert an. Im Gegensatz dazu zeich-

108 Jackson 2000, S. 186. 109 So etwa, dass der þulr nicht einmal in der Morkinskinna „and other kings’ saga compilations“ erwähnt wird, „despite their interest in various kinds of speakers“ (Poole 2010, S. 237). Das kann vielleicht auch als Hinweis auf die Relevanz dieser Figur für zumindest die Verfasser dieser Texte gesehen werden. 110 Poole 2010. 111 Fleck 1968, 1970 sowie 1971a und b. 112 Haugen 1983. 113 Sundqvist 1998, 2003, 2007 und 2009. 114 Buchholz 1984. 115 Grønvik 1999 (kritisiert von McKinnell 2007a). 116 Brink 1996. Er sieht die Hauptfunktion des þulr als „to talk“, ohne den Text- oder Inhaltstypus genauer festzulegen, obwohl er einen Sprecher für den König dem eines Rezitators von Dichtung oder juristischen Texten vorzieht („[…] or to function as a spokesman, the one who speaks for a king or a chieftain during a banquet, lawsuit, cultic feast, etc., hence a kind of equivalent to the so-called ‚talking‘ chief (tulafale in Samoa) known in Oceania, is uncertain; personally I like the latter idea“ (Brink 1996, S. 257)). 117 Halvorsen, KLNM 20, S. 402 f.



Grundlagen der Untersuchung 

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net Pooles Artikel im RGA118 (in der vollständig überarbeiteten, zweiten Ausgabe) ein allgemeineres und damit umfangreicheres Bild, welches dem kultischen Bereich viel Raum gibt, aber auch die Möglichkeit einer säkulareren Funktion als Ratgeber oder Lehrer beschreibt.

1.4 Grundlagen der Untersuchung In ihrem Ziel tritt diese Arbeit ganz bewusst einen Schritt hinter Vogts Ansatz zurück: Sie sucht nicht, die historische Realität hinter den Belegtexten, und mittels dieser, zu ergründen, noch bemüht sie sich um eine diachrone Gesamtschau des Begriffs- und Motivkomplexes von þulr, þyle, þylja und þula, sondern konzentriert sich, wie bereits angeklungen, einzig auf die Akteursgestalt im jeweiligen Werk und deren literarische Abbildung. Auf einen sehr reduzierten Nenner gebracht, geht die Fragestellung dabei nicht davon aus, dass eine Figur, die im Text als þulr oder þyle bezeichnet wird, dessen prototypische Verkörperung darstellt  – und damit die Grundlage für verlässliche Aussagen über Amt oder Funktion des Thuls an sich bilden kann. Noch viel weniger versucht sie, Klarheit über dessen mögliche historisch-vorschriftliche Rolle zu schaffen – ein Ansinnen, das bereits durch die aufgrund der Medialität dieser Epoche praktisch nicht existenten Quellen nur wenig erfolgversprechend scheint.119 Vielmehr wird hier nach verschiedenen Kontexten gefragt, also, in welchem Umfeld und unter welchen Bedingungen eine solche Bezeichnung, die, vor allem dem Verb nach zu urteilen, ganz offenbar eng mit oraler Textproduktion in Verbindung steht, im jeweiligen Werk eingesetzt wird. Konkret an einem Beispiel verdeutlicht: Nicht, was wir von Vafþrúðnir über „den Thul“ erfahren können, sondern, unter welchen Umständen (der mächtige, weise, wohlhabende, mythische, urzeitliche … Riese) Vafþrúðnir sich gegenüber seinem Gast als þulr bezeichnet; und ohne dass daraus Schlüsse auf „den (historischen) þulr“ gezogen werden sollen. Ganz allgemein eröffnen sich damit drei Fragen: –– Wie äußert sich der Thul? –– Was äußert er? –– Unter welchen Bedingungen äußert er es?

118 Poole, RGA 30, S. 544 ff. 119 So stellt Fleck zur ähnlichen Problematik religionswissenschaftlicher (vorchristlicher) Belege fest: In fact, our source material is extremely stingy in presenting description of any and all rites of primitive Germanic religion. Even in cases where worldwide distribution of a structure leads us to suppose that it must also have existed in the Germania, we are forced to fine-tooth comb our texts with the subtlest philological tools to provide any actual evidence (Fleck 1971a, S. 124).

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

Es stellen sich also die Fragen nach den formalen, inhaltlichen und (textintern-)situationellen Kontexten. Die in dieser Arbeit untersuchten Aspekte sind hier grob zwei zentralen Kriterien zuzuordnen, „Text(re-)produktion“ sowie „Informations(re-)produktion“, welche jeweils in diverse Einzelelemente untergliedert sind. Die Grenzen zwischen beiden Kategorien lassen sich nicht immer völlig scharf ziehen; insbesondere der Situationskontext spielt in beiden Bereichen eine Rolle und nimmt daher gewissermaßen eine Zwischenposition ein.120 „Text(re-)produktion“ als Kategorie enthält vor allem formale und kontextuelle Aspekte von – nicht nur oralen – Äußerungen des Thuls, während „Informations(re-)produktion“ größtenteils inhaltliche Elemente sowie etwaige damit verbundene Fragestellungen und Zwecke der vermittelten Informationen umfasst. An der Form der zwei Zentralbegriffe lässt sich zudem bereits ersehen, dass auch die Frage der Eigen- oder Fremdschöpfung eine nicht unerhebliche Rolle spielt.

1.5 Einzelkriterien der Untersuchung 1.5.1 Text(re-)produktion 1.5.1.1 Originalität Dieser Punkt benötigt vergleichsweise wenig Erklärung: Gibt die als Thul bezeichnete Figur fremde, bereits präexistierende Texte wieder – und wenn ja, welche – oder ist sie selbst schöpferisch tätig? Neben einer vollständig autonomen Produktion „neuer“ Originaltexte sind hier zusätzlich auch Mischformen möglich. Dabei handelt es sich vor allem um Texte, die bereits bekannte Inhalte eigenschöpferisch ein- oder umarbeiten und sich dadurch von der Quelle entfernen. In welchem Grad dabei autarke Kreativität vorliegt und welche (sowie gegebenenfalls wie diese) existierenden Elemente verarbeitet werden, ist ebenfalls Gegenstand der Auswertung. Die bloße Übereinstimmung mit gewissen rein formalen Vorgaben beeinflusst den Grad an Originalität dabei kaum (sonst wäre etwa jedes Gedicht in einem bereits etablierten Versmaß keine komplette Eigenschöpfung mehr, was dem Sinn dieses Kriteriums zuwiderlaufen würde).

120 In den Kapiteln wird der Situationskontext zumeist als Bindeglied dem ersten Teil, also der Text(re-)produktion zugeordnet werden.



Einzelkriterien der Untersuchung 

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1.5.1.2 Formale und ästhetische Aspekte Sprecherorientierung und Publikum Die Sprecherorientierung ist in gewissem Maße, aber nicht vollständig, mit dem Publikumsaspekt verbunden. Das „Publikum“ wird hierbei anhand der situativen Rezeptionsmöglichkeit definiert, also als Figuren jeglicher Art, die Gelegenheit zur Wahrnehmung der Äußerungen haben; unabhängig davon, ob von deren Reaktion berichtet wird oder nicht. Die Rezeptionsabsicht hingegen, also das Bemühen um oder die Intention der Aufnahme, spielt für die Einstufung keine Rolle  – auch unfreiwillig Zuhörende besitzen Publikumsstatus. Zuweilen findet sich eine Zuhörerschaft auch nur implizit; etwa, wenn sich eine Figur in einem Kontext äußert, der das Vorhandensein von Umstehenden sehr wahrscheinlich macht, diese aber nicht genannt werden (so zum Beispiel nach einer großen Schlacht, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Sprecher nicht der einzig Überlebende ist). Dazu steht noch allgemein im Raum, ob es sich bei der Zuhörerschaft um eine einzelne Figur handelt, eine Menge, oder auch gestaltlosere Rezipienten, etwa übernatürliche Mächte (was vor allem im Zusammenhang mit Magie und Religion von Interesse ist), ebenso wie eventuelle Wirkungen auf diese. Die Sprecherorientierung, andererseits, hängt einzig vom sich Äußernden121 und dessen Hinwendung ab und kann in ihrem Ziel durchaus vom anwesenden Publikum abweichen. Ein sehr klares Beispiel, was in dieser Form in den Texten allerdings nicht gegeben ist, wäre ein lautes Gebet, bei dem andere Figuren unbemerkt zuhören: Der Sprecher richtet sich hier an das Numinose, von welchem, kontextabhängig, nicht immer klar sein muss, ob es überhaupt vorhanden ist oder nicht (und gegebenenfalls als Publikum angesehen werden kann). Die Umstehenden hingegen wenden sich hin zum Sprecher, ohne dass dieser davon Kenntnis nimmt oder gar ein Wort an sie richtet. Hier handelt es sich also um zwei fast schon gegensätzliche Konstellationen: Die Sprecherorientierung ins Übernatürliche, von den Anwesenden fort, und die unbemerkte, sehr weltliche Rezeptionsmöglichkeit anderer Charaktere, die auf den Sprecher gerichtet ist. Eine solche gegensätzliche Ausrichtung tritt allerdings, wie erwähnt, in den Belegtexten nicht auf; bei diesen kann man daher gewöhnlich davon ausgehen, dass das Ziel der Sprecherorientierung auch Teil des Publikums ist (wie in Dialogen grundsätzlich der Fall). Darüber hinaus sind auch gezielte mehrfache Sprecherorientierungen möglich, indem ostentativ das Wort an bestimmte Adressaten gerichtet wird, dabei aber die (intendierte) Wirkung auf andere Teile des Publikums in die Äußerung einfließt. Eine solche Variante findet sich etwa im Beowulf mit einer Doppelorientierung: einerseits

121 Die als þulr oder þyle bezeichneten Figuren sind, soweit ersichtlich, ausnahmslos männlichen Geschlechts.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

demonstrativ hin zum unmittelbaren Dialogpartner und andererseits mit der impliziteren Ausrichtung hin zu den restlichen Anwesenden beim Festgelage. Sollte im Text ferner eine Bewertung abgebildet sein, wird auch darauf näher eingegangen. In diesem Rahmen bezieht sich das Bewertungselement dabei vor allem auf etwaige formale, mithin „künstlerische“ Aspekte und weniger auf inhaltliche; insbesondere nicht auf die Frage nach der „Korrektheit“ vermittelter Inhalte (die mittels eines eigenen Kriteriums erörtert wird). Sofern also Äußerungen des Thuls als formalästhetisch auf die eine oder andere Art herausstechend eingestuft werden können, stellt sich die Frage, ob im Anschluss von irgendeiner Seite Bezug darauf genommen wird – anerkennend, abwertend oder auch mit sonstigen Reaktionen. Als Bewertungsinstanz ist hier nicht nur der direkte Adressat oder das Publikum denkbar, sondern auch eine Selbstbewertung durch den Thul. Infrage steht also das, insbesondere stilistisch-strukturell bedingte, Ansehen der Texte des Thuls in der Gesellschaft – genauer gesagt, in den Teilen der (literarischen) Gesellschaft, die in der entsprechenden Passage als Charaktere abgebildet sind – und in den Augen seiner selbst. Stilistik Inwieweit die Äußerungen des Thuls als (Dicht-)„Kunst“ eingestuft werden können, birgt einiges an Problematik. Bereits die Definition dieser Kunst setzt sich bekanntlich im frühen skandinavischen Mittelalter deutlich von der modernen Interpretation ab: Dichtung erscheint hier als íþrótt, mithin als quasisäkulare Fähigkeit,122 die zwischen deutlich physischeren oder alltäglicheren Aktivitäten wie Reiten, Schwimmen oder Bogenschießen angesiedelt wird.123 Damit wird sie praktisch zu einer Art Handwerk. Wenn sie auch unter solchen Bedingungen kaum etwas von ihrem elitären Aspekt verliert (was zumindest die Mythisierung und der Status der Skalden anzudeuten scheinen), spielt doch der romantische Geniegedanke, der dem heutigen Gebrauch des Begriffs „Dichtkunst“ immer noch zu einem erheblichen Teil innewohnt, keine Rolle. Zwar war ein göttlicher Impetus auch für den altnordischen Skalden vonnöten (der Mythologie gemäß etwas vom Dichtermet,124 sonst auch als Odins Gabe dargestellt125), dieser ist aber eher als Initialmoment für die Dichtertätigkeit per se anzusehen und (hierin deutlich vom modernen Inspirationstopos abweichend) nicht als spezifische Eingebung für das individuelle Werk.

122 Etwa im Sonatorrek Str. 24. 123 Jarl Rǫgnvaldr kalis Lausavísa 1. 124 En Suttunga mjǫð gaf Óðinn Ásunum ok þeim mǫnnum er yrkja kunnu (Skáldskaparmál, Faulkes 1985, S. 5). 125 Beispielsweise in den Skáldskaparmál (Faulkes 1985, S. 5): Því kǫllum vér skáldskapinn feng Óðins ok […] gjǫf hans oder, erneut, im Sonatorrek Str. 24.



Einzelkriterien der Untersuchung 

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Nicht anwendbar sind somit folgende Kriterien, die sich eher in moderneren Definitionen der Kunst finden: –– Inhaltlich das erwähnte betonte Eingebungselement, das handlungsbegleitend erscheinen könnte. –– Rezeptionsorientiert die Erbauung des Publikums. –– Stilistisch ist die gebundene Sprache als formaler Maßstab nicht praktisch anwendbar, da sich die gesamten literarischen Belege für þulr und þyle in der Dichtung finden. Gerade auf Basis dieser letzten Tatsache bieten sich dennoch bestimmte Kriterien an, welche sich zwar nicht an der gebundenen Sprache selbst, wohl aber an etablierten Charakteristika altnordischer und altenglischer Dichtung festmachen lassen und sich vor allem auf struktureller Ebene finden. Sind diese auch traditioneller Bestandteil der jeweiligen Poetik und daher grundsätzlich in den Äußerungen enthalten, deutet ein gehäuftes Auftreten doch auf eine Intensivierung und damit ein erhöhtes Bemühen um ausgeprägte Formalästhetik hin. Eine etwaige „künstlerische“ Komponente wird in dieser Untersuchung daher an folgenden Kriterien festgemacht: einerseits auf Basis von „(Dicht-)Kunst“ in Sinne stilistischer Elaboriertheit, etwa durch Kenningtechnik, metrische Verfeinerungen oder auch Variation, die sich vom Umfeld abheben, beispielsweise durch vermehrtes Auftreten oder höhere Komplexität. Andererseits durch eine gewisse „Werkhaftigkeit“,126 in der als Mindestes erkennbar wird, dass die Äußerung (oder ein Teil davon) als in sich abgeschlossenes und auf die eine oder andere Art von der sonstigen Rede abgesetztes Element konzipiert ist. Das Erkennen vereinfacht sich, wenn eine solchen Textpassage mit einem eigenen Titel versehen wird. Aber auch, wenn der Kontext ersehen lässt, dass vor und nach dem Abschnitt Elaboriertheit und/oder Duktus abweichen. Vergleichsweise einfach erwiese sich eine solche Bestimmung damit vor allem beim Víkarsbálkr, der als gesamter Text bereits dem þulr Starkaðr zugeschrieben ist, einen eigenen Titel besitzt (und damit den Charakter einer abgrenzbaren, dauerhaften Schöpfung) und sich vom umgebenden Text der Gautreks saga abhebt. Deutlich schwieriger gestaltet sich eine Bestimmung hingegen bei unmarkierten Äußerungen, etwa denen Reginns im Dialog mit Sigurd in den Fáfnismál.

126 Dieser Terminus wird in Anlehnung an den Werkbegriff der älteren neuzeitlichen Musikwissenschaft gebraucht (insbesondere vor dessen Infragestellung durch John Cage; für einen kurzen Überblick über die Entwicklung des musikalischen Werkbegriffs s. Dahlhaus/de la Motte-Haber 1982, S. 93 ff.). Maßgeblich sind für diese Untersuchung, unabhängig von Inhalt und genauer Ausführung sowie rein auf Schöpfungsebene, vor allem die Konzeption und Komposition als zumindest grob in sich geschlossenes Gefüge und damit implizite Hervorhebung aus dem Umfeld, die meist auch mit einer gewissen angestrebten Dauerhaftigkeit einhergeht. Hingegen ist vollständige inhaltliche Unveränderlichkeit, wie sie etwa der gedruckte Text oder die Partitur vermitteln, hierbei nicht zwangsläufig erforderlich; geringfügige Abweichungen, etwa in der Performanz, sind also in Kauf zu nehmen.

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

1.5.1.3 Performative Aspekte In diesem Bereich ist zunächst grundsätzlich zu unterscheiden zwischen „externer“ Performanz und Performativität,127 mithin einer an der Schnittstelle zwischen Text und Rezipienten anzusetzenden allgemeinen „Aufführung“ oder „Aufführbarkeit“ eines Texts durch einen oder mehrere Performer (also „Verkörperer“ oder Vortragende), und der „internen“ Performanz bzw. Performativität  – oder, besser gesagt, performativen Elementen, die Akteuren, Szenarien oder Äußerungen innerhalb des Textes zugeschrieben werden können. Die externe Performativität (mit der sich etwa Gunnells Monographie über die Ursprünge des Dramas in Skandinavien128 ausführlich beschäftigt) spielt für diese Arbeit keine maßgebliche Rolle: Ob ein Werk eine solche Komponente besitzt, bietet keine Anhaltspunkte für die jeweilige Darstellung des Thuls, da es sich hier um zwei verschiedene Textebenen handelt. Performative Aspekte sind daher nur im Kontext der Figur, also im textinternen Bereich, zu diskutieren. Insbesondere bezieht sich dies auf Merkmale mit dramatischem oder inszenatorischem Potenzial; also auf Elemente, durch die eine Äußerung einen gewissen Aufführungs-, oder genereller, Ereignischarakter129 erhält. Dies kann im Bereich der Textzeugnisse beispielsweise mittels eines etablierten Rahmens geschehen, einer fixen traditionellen Form, oder mit der Aufnahme einer typisierten Diskursrolle, die mit bestimmten funktional dramatisch konnotierten Äußerungsformen einhergeht – etwa bei einem „Kultredner“ oder aktivem Teilnehmer eines mann­ jafnaðr. Gleichzeitig bedingt dies eine gewisse Wiederholbarkeit von Äußerungshandlungen und Rolle (wenn auch nicht der exakten Inhalte) und birgt als möglichen minimalen Effekt deren Akzeptanz und eine entsprechende Reaktion seitens der Rezipienten.

1.5.2 Situationskontext Wie bereits angesprochen, nehmen Fragen zur textinternen Situation eine Art Mittelstellung zwischen Text- und Informations(re-)produktion ein, da sie inhaltliche und formale Elemente vereinen. Zu untersuchen sind hier vor allen Dingen zwei Punkte:

127 Die beiden Begriffe werden hier nicht synonym gebraucht. „Performanz“ wird eingesetzt in Bezug auf die konkrete Aufführung, also die synchrone Verkörperung, den Vortrag, das In-die-WeltBringen eines Texts, während „Performativität“ sich auf das grundlegende Aufführungspotenzial, die Inszenierbarkeit, d. h. ermöglichende und bedingende performative Elemente bezieht. Grundsätzlich wird also von einer eher kulturwissenschaftlichen Definition des Performativen ausgegangen (zur Begriffsgeschichte und Problematik s. etwa Schuegraf 2008, S. 68 ff., Fischer-Lichte 2012, S. 37 ff. oder Krämer 1998, dort insbesondere S. 38 ff.). 128 Gunnell 1995. 129 Krämer 2004, S. 17.



Einzelkriterien der Untersuchung 

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einmal die grundlegende Markierung der Situation. Dabei wird unterschieden zwischen weltlichem und übernatürlichem Setting, und im Falle übernatürlicher Verortung weiterhin zwischen mythologisch und religiös-kultisch konnotiert. Gerade Letzteres ist ein eigentlich sehr problematischer Punkt, da zumindest im zeitlichen Umfeld bzw. Nachklang der Christianisierung die Grenzen zwischen praktiziertem Kult und zu literarischen Mythen kondensierten Elementen alter Religion kaum zu ziehen sind. Da bei den herangezogenen Texten allerdings jeweils die überlieferten Fassungen zugrunde gelegt werden und jene weit nach dem Glaubenswechsel geschrieben wurden, kann zumindest in diesen Fällen davon ausgegangen werden, dass, sofern keine eindeutigen Anzeichen für religiös-kultische Szenarien zu finden sind, die mythischen Elemente wohl auf der literarischen Ebene verharren. Den zweiten Aspekt stellt die soziale Stellung des Vortragenden dar: In enger Verbindung mit dem jeweiligen Setting steht ein möglicher Autoritätsanspruch der Thul-Figur. Neben dieser grundlegenden Frage ist auch zu untersuchen, worauf eine solche etwaige Position gründet (auf einer in irgendeiner Form „offiziellen“, gar institutionalisierten Rolle?) sowie, ob es sich dabei um einen dauerhaften Zustand handelt oder eher um einen temporären, situativ bedingten. Als letzter Punkt in diesem Bereich steht im Raum, ob mit dem Ausfüllen der jeweiligen Rolle auch ein bestimmtes Zeremoniell verbunden ist und wie sich dies im Text gegebenenfalls gestaltet.

1.5.3 Informations(re-)produktion 1.5.3.1 Informationsarten Die grundsätzlichste Frage im Bereich der Informations(re-)produktion ist selbstverständlich, Inhalte welcher Kategorien überhaupt von der jeweiligen Figur vermittelt werden. Gemäß der Theorie des Thuls als „Kultspezialisten“ ist hier auf allgemein mythologische Inhalte zu untersuchen (also im weitesten Sinne übernatürlich-welterklärende ohne konkreten Bezug zu Ritus und Götterverehrung) sowie gegebenenfalls auf kultische Inhalte, vor allem im Sinne konkreter ritueller Praxis.130 Dabei kann insbesondere im Bereich der Mythologie weiterhin unterteilt werden in kosmogonische, ätiologische und eschatologische Elemente sowie gegebenenfalls in kosmo- und geographische, wobei mit letztgenanntem Gebiet dann die Brücke zum säkularen Wissen geschlagen wird. Auch andere weltliche Kategorien sind eine Betrachtung wert; so etwa, ob sich im Rahmen des jeweiligen Settings auch ethisch-moralische (insbesondere „heroische“) und, als Letztes, gnomische Inhalte finden – mithin die prototypi-

130 Die bereits beim Situationskontext erwähnte Vorsicht bei der Bewertung von Elementen als konkret religiös-kultisch wird auch in diesem Fall zugrunde gelegt. Dass ein Graubereich dabei leider kaum zu vermeiden ist, muss in Kauf genommen werden.

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sche „Weisheitsdichtung“, mit der der Thul so häufig in Verbindung gebracht wird. Sollten abseits dieser Varianten noch andere Arten von Informationen vermittelt werden, wird bei der jeweiligen Untersuchung entsprechend darauf eingegangen. 1.5.3.2 Informationskontext (Motivation/Organisation) Mit diesem Aspekt ist das unmittelbare textintern auslösende und interaktive Umfeld der Äußerungen eines Thuls bezeichnet. Es werden dabei unterschiedliche Kontexte angesetzt: Die Rede kann persönlich motiviert sein und damit weniger durch allgemeine Handlungsereignisse bedingt als durch Charakterzüge der Figur selbst. Sie kann aber auch aus gewissen offiziellen und/oder institutionalisierten Pflichten zur verbalen Interaktion heraus und somit in einem Rahmen formalisierter Sprechsituationen erfolgen (und knüpft so direkt an den Situationskontext an). Letzteres schließt ein persönliches Element allerdings nicht völlig aus, wie sich etwa in der Aussage des Erzählers zu Unferðs Eifersuchtsmotivation zu Beginn des flyting im Beowulf zeigt. Die Grenzen sind also auch hier nicht eindeutig zu ziehen. Vor allem formalisierte Sprechsituationen können wiederum kompetitiv bzw. kombativ oder nicht-kompetitiv sein – unter „kompetitiv“ wäre etwa der Wissenswettstreit in den Vafþrúðnismál einzuordnen, unter „kompetitiv-kombativ“ das flyting.131 Der Unterschied zwischen den beiden Kategorien liegt in Gesprächsinhalten und Redestrategien: Die rein kompetitive Äußerung ist inhaltlich weitgehend neutral und sucht den Sieg durch Erfüllung gewisser festgelegter Regeln, ohne die Person des Gegenübers signifikant miteinzubeziehen. Dies findet sich bei den diskutierten Texten vor allem in den Vafþrúðnismál, in denen die beiden Beteiligten Fragen ihres Dialogpartners korrekt zu beantworten haben. Diese Fragen sind dabei, wie auch die Antworten, weitestgehend unpersönlich (mit ein paar wenigen Ausnahmen) und ihre Formulierung erfordert keinen Verweis auf das Selbst oder den Gegenspieler. Kombativ bzw. kompetitiv-kombativ sind hingegen Äußerungen, die auf den Kontrahenten bewusst und aggressiv Bezug nehmen und bei denen dessen offensive Ansprache eine zwingende Komponente der Gesprächsstrategie darstellt. Sehr gut zu erkennen ist dies etwa im flyting zwischen Beowulf und Unferð. Dabei muss nicht jede kombative Äußerung den Gegner direkt adressieren; der Zusammenhang kann auch aus der Mechanik des Wortwechsels heraus erfolgen. So wäre etwa der Selbstpreis eines Helden in Zusammenhang mit einer zuvor erfolgten Herabsetzung des Gegners ebenfalls (kompetitiv-)kombativ, da er auf dem dadurch implizit etablierten Gegensatz aufbaut und die Differenz als der Herabsetzung weiter steigert.

131 Diese Zuordnung ist unabhängig davon, ob – und wie – der aufgebrachte Konflikt letztlich gelöst wird: Clover (1983, S. 456) folgend wird hier das flyting als eine in sich abgeschlossene Einheit aufgefasst.



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In beiden kompetitiven Fällen ist also auch zumindest ein Gegenüber erforderlich, wenn nicht gar zusätzliches Publikum. Ob weitere Zuhörerschaft benötigt wird, hängt dabei vor allem auch vom Zweck des Austauschs ab und wird in den einzelnen Kapiteln noch einmal separat aufgegriffen werden. Den nicht-kompetitiven Texten lässt sich, als Gedicht und durch die Vortragssituation durchaus performativ und formalisiert, Starkaðrs Víkarsbálkr zuordnen und wohl auch die nicht genau berichteten Äußerungen des „grauen Thul“ der Hávamál,132 über welchen „nicht gelacht“ werden soll: Hier wird keinerlei Element von Konkurrenz im Umfeld der Äußerung erkennbar. In den beiden nicht-kompetitiven Fällen spielt darüber hinaus Publikum keine tragende Rolle. 1.5.3.3 Tradierung Eine Schnittstelle zwischen Informationskontext und Handlungssituation bildet die Frage nach einer Tradentenfunktion des Thuls: Das kulturelle Gedächtnis spezifischer Sprecherfiguren in gerade (primär133) mündlichen Gesellschaften macht die Sprecherfiguren zu einem menschlichen Medium, dessen Tradentenrolle einen wichtigen Anteil ihrer Identität darstellt. Kulturell, sozial und religiös „wertvolles“ und damit erhaltenswertes Wissen wird durch solche Persönlichkeiten bewahrt und je nach Informationsarten einem allgemeinen oder auch stark eingeschränkten Rezipientenkreis vermittelt. Ein scop, welcher Heldenlieder vorträgt, tut dies gewöhnlich für eine Vielzahl an Zuhörern, etwa die Menge der Halleninsassen, eine Gefolgschaftsschar; der guslar aus Parrys und Lords Studien134 tritt in Gasthäusern oder auf Hochzeiten auf, und der lǫgsǫgumaðr bewahrt und verbreitet die Details der Rechtsprechung unter den Thingbesuchern. Im Gegensatz ist esoterisches Wissen, wie etwa kultisches oder magisches, nicht selten einem nur sehr kleinen Kreis von Eingeweihten oder „Würdigen“ vorbehalten. Wie schwierig die Unterscheidung zwischen Tradierung und Performanz gerade bei letzterer Art Wissen sein kann, zeigt sich in den Vafþrúðnismál und (auch wenn hier vom Thul nicht die Rede ist135) vor allem den Grímnismál, bei denen Odins Rede als rituelle Selbst-Ent-Deckung [sic] im Rahmen einer kultischen Lehrsituation für

132 Hávamál Str. 134. Da die adressierte Figur hier explizit als þulr bezeichnet wird, ohne dass persönlichere Details genannt werden, deutet die entindividualisierende Typenbezeichnung darauf hin, dass dabei wohl eher auf eine Kategorie Bezug genommen wird, nicht auf einen spezifischen Charakter, der persönlich motiviert spricht. Wie sich in der weiteren Untersuchung zeigen wird, ist der Fall allerdings nicht ganz so eindeutig gelagert. 133 Gemäß Ong 1982, S. 31. 134 Lord 1960. 135 Der Flussname fimbulþul (Grímnismál Str. 27) sei hierbei außen vor gelassen. Es wird in dieser Arbeit nicht davon ausgegangen, dass es sich hier um denselben Begriff wie fimbulþulr aus den Há­ vamál handelt, also eine Personenbezeichnung, wie im Kapitel zu den Hávamál noch weiter ausgeführt werden soll.

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einen jungen König gelesen wurde.136 Hier fielen also gegebenenfalls Ritus, Performanz und Tradierung zusammen.137 Gleichzeitig wird die Abhängigkeit dieses Kriteriums von der Interpretation sehr deutlich. Nimmt man nämlich nur die Offenbarung Odins an, nicht aber die Lehrsituation, wird die Tradierung eher temporär – sie dient der kurzfristigen Identifikation des Gottes, ist aber nicht aktiv auf die Weiterverbreitung des vermittelten Wissens ausgerichtet. 1.5.3.4 Validierung In der Validierung findet sich das Komplement zum bereits erläuterten Bewertungskriterium: Während die Bewertung vor allem auf die Form, das heißt stilistisch-strukturell, auf gewisser Ebene auch semantisch (Metaphern, Heiti, Kenningar) ausgerichtet ist, beschäftigt sich die Validierung mit der Wertigkeit konkreter Inhalte, nämlich der „Korrektheit“ oder, allgemeiner gefasst, der Gültigkeit der vorgebrachten Informationen. Dabei sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Als Erstes ist zu fragen, ob ein solcher Punkt im vorliegenden (Kon-)Text überhaupt Relevanz besitzt; und, sofern dies der Fall ist, auch nach deren Grad. Je geringer dieser ist, umso weniger ergiebig wird sich gewöhnlich auch ihre Untersuchung gestalten. Solch eine Situation liegt am ehesten in rein persönlichen Äußerungen vor, welche in einem neutralen Umfeld erfolgen; also einem Kontext, der weder aggressiv oder defensiv noch kompetitiv, noch in irgendeiner anderen Art wirkmächtig (performative Äußerungen eingeschlossen) ist; damit im Ganzen, besonders aber inhaltlich, keinen gesteigerten Einfluss auf Plot oder Szene ausübt. Ferner entfällt dieser Aspekt natürlich auch, wenn der Protagonist überhaupt keine Äußerung tätigt, welche in irgendeiner Art validiert werden könnte. Spielt Validität hingegen eine Rolle, werden mehrere weitere Aspekte interessant: Zentral ist vor allem, was genau auf seine Gültigkeit oder Wertigkeit überprüft und in Folge als korrekte bzw. „gelungene“ Information angesehen wird. Wird etwa im Sinne historischer „Wahrheit“ (im zeitgenössischen Verständnis einer solchen) validiert, oder mythischer, oder kann gar eine Fiktion in ihrem Kontext gültig sein, wenn sie den Adressaten in irgendeiner Weise entgegenkommt? Sind dafür reine Fakten relevant oder auch, vielleicht gar ausschließlich, deren Darstellung? Diese Punkte betreffen die inhaltliche Seite. Ebenso ist aber zu fragen, ob Formalia einen Einfluss auf die Einstufung haben, metrische Vorgaben etwa, fest gefügte Abläufe in etablierten Kommunikationsschemata oder eine(r) Performanz.

136 Fleck, v. a. 1970 und 1971c; s. auch 1971a und b. 137 In diesem Rahmen ist nochmals zu betonen, dass es sich selbst bei solchen möglicherweise rituellen bzw. kultischen Elementen im Text immer noch nur um deren literarisierte Form handelt, also auch hier keine direkten Niederschläge historischer Realitäten vorliegen. Für den Hinweis auf diese Unklarheit bedanke ich mich bei Professor Jürg Glauser.



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An der Schnittstelle zwischen Inhalt und Formalia findet sich zuletzt die Frage nach eventueller Wirksamkeit, etwa, ob ein Zauber einen Effekt auslöst (und ob dies auch der gewünschte ist)138 – ein Kriterium, das sich zu einem gewissen Grad mit der Publikumswirkung der Text(re-)produktion überschneiden kann. Sind diese Details festgestellt, ist der Prozess zu betrachten: Wodurch und in welcher Form werden Informationen validiert? Wird explizit auf die Prüfung hingewiesen oder das Ergebnis bekanntgegeben (etwa im Sinne einer Beschuldigung als Lügner)? Oder erfolgt die Validierung implizit und muss, ebenso wie das Ergebnis, aus der Dialogsituation erschlossen werden? Geschieht dies im Rahmen eines kompetitiven Szenarios und ist damit die Validierung der geäußerten Informationen zentral für das geregelte Fortschreiten des Plots? Auch, ob es sich um einen öffentlichen oder privaten Prozess handelt, wäre von Interesse. Dass dieser letzte Punkt nicht unerheblichen Einfluss hat, zeigt Snorris Feststellung in der Heimskringla,139 in welcher der Dichtkunst (kveðskap) gerade aufgrund des öffentlichen Vortrags eine hohe Verlässlichkeit zugesprochen wird. Damit findet sich dort ein Verweis auf einen öffentlichen, wenn auch impliziten, Validierungsprozess: Solange das Publikum nicht irgendeine Art von kritischer Reaktion an den Tag legt, können die Informationen als gültig (zuverlässig, belastbar und damit tradierenswert) betrachtet werden.

1.6 Exkurs: Kompetitivität – Wissenswettstreit und mannjafnaðr Ein nicht unerheblicher Teil der Belegtexte für den Begriff zeigt den Thul in längeren Verbalgefechten unterschiedlicher Art, so in den Fáfnismál, Vafþrúðnismál und im Beowulf, welche in den jeweiligen Werken als wichtige Handlungsträger fungieren. Es bietet sich daher an, diese Textart vorab etwas genauer zu betrachten, beginnend mit den Grundlagen des flyting. Basis für die Untersuchung der Wortgefechte in den in dieser Arbeit herangezogenen Werken ist Clovers bahnbrechende Studie von 1980 über germanische Verbalauseinandersetzungen. Entsprechend ihrer Feststellung, es sei aufgrund der Varianz der Texte mit der Bezeichnung senna, flyting und mannjafnaðr praktisch nicht möglich, eine klare Grenze zu ziehen,140 werden die Termini hier gleichfalls nicht mit großer

138 Ein Musterbeispiel für diesen Fall wäre Egils Runenzauber (Egils saga Kap. 74, Einarsson 2003, S. 136), der den misslungenen Zauber des Vorgängers kontert: Beide Zauber sind wirksam  – daher auch Egils sorgsames Vernichten der alten Runen –, aber nur Egils Ritzung bringt den gewünschten Effekt. Aus der Perspektive der Betroffenen wäre somit der unabsichtliche Schadzauber ungültig bzw. wertlos (aus der Perspektive reiner magischer Effektivität dagegen nicht), da er nicht mit der Intention übereinstimmt. 139 Prolog zur Ólafs saga helga (Heimskringla, Aðalbjarnarson 1945, S. 422). 140 Clover 1980, S. 445.

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Trennschärfe eingesetzt. Wird der Begriff mannjafnaðr gebraucht, liegt die Konzentration in dieser Arbeit vor allem auf dem vergleichenden Aspekt jener Dialogform als in verschiedenen Kontexten auftretendes Phänomen, das bereits der Name selbst beschreibt. Im Gegenzug soll für die aggressiven Auseinandersetzungen allgemein der Begriff flyting verwendet werden, unter dem Clover alle Varianten subsumiert. Die Nähe des flyting zum Wissenswettstreit wird dabei bereits von der Autorin selbst betont: The flyting impinges on two other categories […]. The second is the wisdom dialogue (e. g., Vafþrúðnismál), of which Frode’s exchange with Ericus Disertus (Saxo V) stands as an intermediate example. The sapiential dimensions of the flytings themselves should not be ignored […].141

Ebenso lässt sich auch ihre Beschreibung „words as ammunition in verbal warfare“142 auf beide Texttypen beziehen, wobei die Ausprägung unterschiedlich ist. In beiden Formen der Auseinandersetzung ist der Inhalt ausschlaggebend für die erfolgreiche „Kriegsführung mit Worten“, jedoch ist für das offen aggressive flyting die personalisierte, direkte Konfrontation maßgeblich: der explizite Vergleich der Kontrahenten, die individuelle Herabsetzung mittels etwa Fluch oder Beleidigung, die Beschämung durch unterstellte bzw. aufgedeckte Schwächen, die Schmähung wegen Verletzungen soziokultureller Tabus oder heroischen Versagens143 ebenso wie die Selbsterhöhung mittels Eigenlob, Prahlen oder Gelübde.144 Im Wissenswettstreit erfolgt die Konfrontation hingegen weitaus indirekter, nämlich vor allem aufgrund des Vermögens bzw. Unvermögens, auf Nachfrage korrekte sach- oder weltbeschreibende Inhalte hervorzubringen (oder auch der Unfähigkeit, ein unbekanntes, aber wichtiges Gegenüber zu erkennen, wenn man McKinnells These145 ansetzt, die später noch genauer dargestellt werden soll). Zwar erfolgt auch in den Vafþrúðnismál eine Infragestellung des Gegnerwissens, diese tritt allerdings nur als allgemeine, formelhafte Einleitung der jeweils folgenden eigentlichen Frage auf. Entsprechend ist auch die Reziprozität der Äußerungen im hier untersuchten Wissenswettstreit weit geringer ausgeprägt als im flyting: Wo im flyting formal oder inhaltlich Argumente des Gegners aufgegriffen, variiert, beantwortet oder umgedeutet werden (häufig auch mittels persönlicher oder aktueller Bezugnahme), herrscht im Wissensdialog die Form der objektiv-neutralen Antwort vor (wobei wörtliche Übernahmen aus der Frage als Teil der Antwort vorkommen können), die gegebenenfalls

141 Clover 1980, S. 446, n. 7. 142 Clover 1980, S. 452. 143 Für eine detaillierte Darstellung der sozialen Implikationen derartiger Anwürfe und Herausforderungen sowie allgemeiner, provokativer Sprache in der altnordischen Literatur, s. Amory 1991. 144 Clover 1980, S. 453. 145 McKinnell 1994, S. 100 f.



Exkurs: Kompetitivität 

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noch um zusätzliche Informationen ergänzt wird, welche aber ebenso unpersönlich gehalten sind. Es stellt sich also die explizite, offensiv-konfrontative Sprech-Handlung, in der letztlich die zutreffendste Darstellung146 oder auch überzeugendste Interpretation147 über Sieg oder Niederlage entscheidet (und nicht etwa der brachialste Angriff), gegen den impliziten Konflikt durch Austausch reinen bzw. neutralen Wissens, bei dem das bloße Vorhandensein den Ausschlag gibt – zentral ist dort somit das „Ob“; nicht, wie im flyting, das „Wie“. Bemerkenswert ist weiterhin, dass, obwohl das flyting aggressiver, ja, martialischer148 erscheint, es der Wissenswettstreit ist sowie Wissensdialoge mit einer kompetitiven oder aggressiven Komponente, welche in gravierenden physischen Nachteilen resultieren können:149 Der Ausgang, der mit dem Tode des Verlierers einhergeht, wird in den Vafþrúðnismál sogar bereits vor Beginn etwas verklausuliert und, zu diesem Zeitpunkt noch einseitig, vom Gastgeber festgelegt (Str. 7,4), nach der Anfangsbefragung des Gastes präzisiert der Riese die Bedingungen noch einmal und weitet die Folgen auf alle Beteiligten aus (Str. 19,4) – wobei Odin dies beide Male nicht infrage stellt, also stillschweigend anerkennt; und auch in der finalen Szene werden die Konditionen ein letztes Mal bestätigt, indem der unterlegene Vafþrúðnir die Folgen nennt und damit akzeptiert (Str. 55,4). Gleichermaßen verliert Alvíss sein Leben und wird am Ende der Alvíssmál der gängigen Deutung nach zu Stein,150 weil er trotz seines „All-Wissens“ überlistet wurde, den Sonnenaufgang außer Acht zu lassen. Heiðrekr in der Hervarar saga wiederum erhält die Ankündigung seines baldigen Todes durch den Sieger Odin, die sich später auch erfüllt (in diesem Fall erfolgt die Prophezeiung allerdings nicht als direkte Konsequenz seiner Niederlage. McKinnell und Ruggerini sehen die Szene dennoch als Versuch des Verfassers, dem etablierten Muster zu genügen).151

146 „It is not, however, the most flamboyant provocations that win the flyting, but the most accurate ones“ (Clover 1980, S. 454). 147 „This is perhaps the most striking characteristic of flytings: they argue interpretations, not facts“ (Clover 1980, S. 458). 148 „The use of martial terms and images […] and the emphasis on winning and losing make it clear that the flyting is not just a prelude to violence but itself the oral equivalent of war“ (Clover 1980, S. 452). 149 Aber nicht müssen: der Wissensdialog der Svipdagsmál, der aufgrund des motivierenden Bestrebens Svipdagrs, Einlass zu finden, während Fjǫlsviðr ihn fernzuhalten versucht, ein kompetitives Element aufweist, endet mit dem Einzug Svipdagrs in die Halle seiner zukünftigen Gemahlin, während der „unterlegene“ Fjǫlsviðr schlicht als Bote fungiert. 150 Dieser Vorgang wird im Gedicht selbst nicht explizit genannt, aber Thor triumphiert: miclom tálom / ec qveð tældan þic (Alvíssmál Str. 35,4 f.): Alvíss sei oben, während die Sonne scheine; was der Mythologie gemäß bedeutet, dass der Zwerg versteinern muss (Krause 2011, S. 151). 151 Die Todesprophezeiung sei „necessary in narrative terms […] to compensate for the absence of the head-wager from this version of the story“ (Ruggerini 1994, S. 178).

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Demgegenüber mündet ein flyting, wie Clover betont, gewöhnlich nicht in körperliche Gewalt,152 sondern in Schweigen.153 (Amorys Darstellung von „violence-provoking speech acts“, die mehrere Komponenten eines flyting unter diese Kategorie subsumiert,154 und damit Clover zu widersprechen scheint, wirft Licht auf eine interessante Frage, nämlich das Verhältnis von flyting-Szenen155 zu etwaiger im Text folgender Gewalt. Allerdings sind die Untersuchungsziele von Clover und Amory nicht wirklich vergleichbar.156 Ob es indes überhaupt keine Verbindung gibt, wird später noch genauer betrachtet werden.) Auch das Schweigen als Ausklang erstreckt sich im Grunde wieder auf beide Varianten des verbalen Kampfs, wobei es erneut der Wissenswettstreit ist, der weiterreichende Folgen hat: Der Unterlegene in einem flyting verstummt nur eine Zeit lang, der im Wissenswettstreit hingegen für immer.

152 „Critics seem uniformly attached to the idea that flytings end in violence. This is not so; posturings and threats to that effect are commonplace, but they belong to the genre and are not to be taken literally as prefatory remarks. […] If a loser decides to seek redress in battle, that is a new phase of the story and may be treated independently as a revenge episode“ (Clover 1980, S. 459). 153 Clover 1980, S. 465. 154 Drohungen, Schmähungen und Herausforderungen (Amory 1991, S. 62). 155 Ganz abgesehen davon bliebe zu überlegen, unter welchen Bedingungen man in diesem Rahmen bei einem verbalaggressiven Austausch überhaupt von einem „formalen“ flyting und wann von eher „informellen“ Beschimpfungen sprechen kann. Auch hier scheinen die Übergänge fließend zu sein. Dialogizität und Reziprozität, vor allem aber auch ein gewisser Umfang, also mehrere „Gänge“ oder aber eine hohe Zahl topischer Einzelelemente in der Äußerung der beteiligten Figuren, scheinen mir jedoch wichtige Grundfaktoren des flyting darzustellen. Weiterhin liegt noch nahe, dass gerade diese Variante des offensiven Wortwechsels die besonders starken emotionalen Affekt provozierenden Verbalaggressionstypen Drohung, Herausforderung und Schmähung (wie Amory 1991, S. 73 es mit der Sprechakttheorie nennt, eine Art „extra perlocutionary force“, insbesondere im Fall von Schmähungen, S. 75) durch die stärkere Formalisierung des flyting in eine Art Distanz erzeugenden Rahmen stellt, welcher dem Adressaten so eine (physisch) friedlichere Reaktion ohne größeren Gesichtsverlust ermöglicht und damit die Gefahr der fast unvermeidbar folgenden Ausbrüche von Brachialgewalt, wie sie Amory bei den zwangloseren Wortwechseln im Sagaumfeld ausmacht, einigermaßen „entschärft“. Auch dieser Punkt wird später, vor allem im Kontext des Beowulf, nochmals Thema sein. 156 Amory erörtert gezielt bestimmte Äußerungen hinsichtlich ihres zu Gewalt führenden Potenzials im Saga-Kontext. Andere Typen, so zum Beispiel Schwüre und Gelübde, unter welche etwa auch die flyting-Taktik des beot fallen würde, werden von ihm hingegen als „speech acts with violent potential […] which are marginal to or unprovocative in the classical sagas“ ausgeschieden (Amory 1991, S. 62). Im Kontrast dazu machen die Gesprächsfolgen bei Clover, die ihre Arbeit v. a. den Strukturen, Inhalten und Einzelelementen der formalisierten Streitrede widmet, nur einen Nebenabschnitt aus. Darüber hinaus stellt Amory fest, dass die Alternative zur direkt ausbrechenden Gewalt auch in den Sagas Schweigen sein kann („[…] may be met with aggrieved silence (a huff) or outward complacency (a smirk, a shrug)“, Amory 1991, S. 62), das als Vorläufer der späteren endgültigen Befriedung oder aber Gewalteruption fungiert. Hier wäre zumindest im Fall von Stille und folgendem Frieden ein gewisser – aber nicht vollständiger – Berührungspunkt mit Clover gegeben (denn das Aufrechterhalten der Spannung im Schweigen Amorys widerspricht Clovers Grundaussage des Episodenabschlusses).



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Faktisch ist also der Wissenswettstreit der folgenschwerere, das flyting hingegen der in der Ausführung aggressivere kompetitive Dialog. Selbst der Tod Reginns in den Fáfnismál resultiert nicht aus dem vorausgehenden Wortgefecht, sondern es bedarf erst des diesem folgenden, drängenden Vogelrats, um Sigurd zum Handeln zu bewegen. Damit entspricht diese Sequenz exakt Clovers These, dass eine solche Aktivität einen neuen Handlungsabschnitt darstellt; zumal Sigurds Totschlag nicht als Reaktion auf den Wettstreit erfolgt, sondern auf die Bedrohung, die von seinem (in dieser Szene völlig passiven) Ziehvater ausgeht und die die Vögel zuvor mehrfach betonen. Und noch in einem weiteren, letzten Punkt besteht eine Verbindung zwischen Wissenswettstreit und flyting: dem der Qualifikation der Teilnehmer. Wie Clover anmerkt, ist: „the single most important attribute, and perhaps the only shared one, of flyting contenders […] their verbal skill“,157 um anschließend zu präzisieren: „[…] not pure but applied eloquence: words as ammunition in verbal warfare“.158 In einem solchen Kontext wird die dabei teilweise anzutreffende Bezeichnung der Protagonisten als Thul159 besonders interessant, zumal so eine weitere Gemeinsamkeit von flyting und Wissenswettstreiten, in diesem Fall also vor allem den Vafþrúðnismál, aufscheint, nachdem der Riese dort gleichfalls ebenjenen Begriff im Umfeld des Konflikts als Eigenbezeichnung verwendet. Nichtsdestotrotz: Auch in diesem Fall sind die Situationen nicht identisch. Der Einfluss der Wortgewandtheit, Ausgestaltung, Formulierung und Interpretation, ist im flyting wesentlich stärker zu gewichten. Wollte man ein Bild bemühen, wäre diese Form des verbalen Austauschs vergleichbar mit einem Fechtkampf, bei dem das Bemühen der Kämpfer darin liegt, mittels diverser variabler gezielter Stöße, Paraden, Finten und Riposten (bzw. deren rhetorischer Gegenstücke) den Gegner auszumanövrieren. Im Gegensatz dazu ist der Wissenswettstreit eine lineare Sequenz vergleichsweise uniformer und gut vorhersehbarer Doppelbewegungen, nämlich Angriff-Abwehr, also Frage und Antwort, bei denen die „Schlagkraft“ in der Breite bzw. Tiefe abgefragten Wissens liegt. Eloquenz im Sinne kampfbeeinflussend nutzbarer Geschicklichkeit spielt hingegen keine erkennbare Rolle – dies ließe sich eher bei einem Rätselwettstreit ansetzen, in dem konstruierte Ambiguität wichtiger Bestandteil der Formulierungen ist. Die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Beredsamkeit, wie sie Clover hier vornimmt, ist aber auch noch aus einer ganz anderen Perspektive interessant. Eine solche Differenzierung passiver Kompetenz und aktiver Anwendung, nachdem zuvor noch auf den Thul-Status mancher Protagonisten Bezug genommen wurde, stellt eine generelle Frage in den Raum, nämlich, ob reine Eloquenz, oder eben

157 Clover 1980, S. 451. 158 Clover 1980, S. 452. 159 Clover nennt hier Starkaðr und Unferð (Clover 1980, S. 452).

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 Vorüberlegungen, Forschungsüberblick und theoretische Grundlagen

auch reines Wissen, überhaupt eine größere Rolle in diesem Umfeld spielt. Immerhin ist es Unferð der þyle, der den Redestreit gegen Beowulf verliert. Und es ist Vafþrúðnir der þulr, der im Wissensstreit gegen Odin unterliegt. Odin selbst kann sich wiederum allem Anschein nach mit dem Titel fimbulþulr schmücken, tritt aber unter dieser Bezeichnung nicht in als contest markierten Settings in Erscheinung. Das alles lässt sich auf mehrere Arten deuten und es wird sich im Laufe der Untersuchungen erst zeigen müssen, inwieweit die daraus folgenden Fragen überhaupt auf Basis der Texte zu beantworten sind: 1. Wird ein Charakter þulr oder þyle genannt, weil er ein flyting oder einen Wissenswettstreit initiiert? Handelt es sich also um einen ad-hoc-Titel, der in Richtung „formaler kompetitiver Sprecher mit hoher Kompetenz“ deutet? 2. Oder übernimmt ein Charakter (zwangsläufig) das flyting/den Wettstreit, weil er ein Thul ist, also eine wie auch immer geartete formale Funktion innehat, welche ihn u. a. zum Antritt solcher Aufgaben ermächtigt, wenn nicht gar verpflichtet? 3. Impliziert þulr oder þyle, dass der Sprecher „pure eloquence“ besitzt, also die grundlegende Kompetenz, aber unklar bleibt, ob sie in ihrer Umsetzung zur erfolgreichen Bewältigung der Aufgabe führt bzw. ausreicht? Dass die Figur auch dann noch nicht notwendigerweise der Gewinner eines solchen Zusammentreffens ist, könnte darauf hindeuten. 4. Oder impliziert þulr bzw. þyle, dass der Sprecher sowohl „pure“ als auch „applied eloquence“ aufweist, die Fähigkeit also gewinnbringend anwenden kann (und sein Gegner im Falle einer Niederlage des Sprechers ihn dann darin noch übertrifft)? Im weiteren Rahmen des Texts als literarischem Projekt ist außerdem zu fragen, ob der Autor dem Gegner des Protagonisten (so nicht dieser selbst als Thul bezeichnet wird) durch dies Attribut ein größeres Gewicht verleihen will, um dadurch die Qualitäten seines Helden aufzuwerten. Grundlage für diese Fragen ist vor allem das flyting. Im Falle des Wissenswettstreits liegt bei den Punkten 3 und 4 der Fokus auf Information(-skompetenz)160 und dem Status als „Wissender/Weiser“, aber weniger auf Eloquenz. Damit wäre zu fragen, ob der Thul-Status auf reinem Wissen im Sinne eines jederzeit verfügbaren Kenntnisinventars fußt (3) oder aber auch der kompetente Umgang mit ebendiesem Wissen eine Rolle spielt (4). Hier handelte es sich dann allerdings nicht um die moderne Definition etwa von prozeduralem und deklarativem Wissen, sondern eher

160 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die hier angewandte Differenzierung von Eloquenz und Information in der Art des Dialogs begründet ist, nicht aber im Unterschied zwischen angelsächsischer und altnordischer Kultur oder gar reiner Terminologie. Wäre der Dialog Unferðs mit Beowulf ein Wissenswettstreit, wäre auch hier Information das Hauptmerkmal.



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um die Fähigkeit, Wertigkeit und Qualitäten einzuschätzen, um die Informationen auch soziokulturell oder situationsgebunden klassifizieren, evaluieren und einsetzen zu können – etwa in der Form, anhand des eigenen Wissens Schwachstellen in dem des Gegners auszumachen. In den Vafþrúðnismál scheint eine solche Differenzierung vorzuliegen. Zumindest könnte man die Fähigkeit, auf Fragen korrekt zu antworten, als „pure knowledge“ beschreiben. Im Gegenzug läge „applied knowledge“ im Sinne des Suchens nach Schwachstellen vor, wenn der Thul der Fragende ist; und ebenso, im Rahmen von McKinnells erwähnter Theorie, beim Versuch, den unbekannten Gegner im Wissenswettstreit zu demaskieren. Auf jeden Fall gestaltet sich eine Unterscheidung im Wissenswettstreit aufgrund der (zumindest pro eindeutig markiertem Abschnitt) fest definierten Rollen der beiden Dialogpartner deutlich einfacher als im flyting. Dort befinden sich die Rollen nämlich mehr oder weniger im Fluss und können unmittelbar wechseln; etwa, wenn der sich eben noch Verteidigende aus dieser Handlung heraus direkt zum Angriff übergeht – das fällt als situationsangepasste Kommunikationsstrategie eindeutig in den Bereich der angewandten Eloquenz. Einige weitere, über Clovers Studie hinausgehende oder darauf aufsetzende Untersuchungen derartiger Dialogformen werden vor allem im Rahmen des Beowulf relevant und aus diesem Grund auch im dortigen Kapitel erörtert.

2 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál 2.1 Einführung Der erste Beleg des Begriffs þulr, der in dieser Arbeit erörtert werden soll, findet sich in den Vafþrúðnismál. Dabei handelt es sich um ein eddisches dialogisches Gedicht, das den mythologischen Texten oder Götterliedern zugerechnet wird. Die Datierung des Werks ist strittig; bereits Snorri Sturluson nimmt in seiner ProsaEdda darauf Bezug, sodass Entstehungszeit des Texts und Niederschriftszeit des erhaltenen Manuskripts (sowie des Fragments) nicht identisch sein können. Bei der genaueren Datierung herrscht in der Forschung keine völlige Einigkeit: Simek und Pálsson etwa halten sowohl das 10. als auch das 12./13. Jahrhundert für mögliche Varianten, nennen die spätere jedoch wahrscheinlicher.1 Machan konstatiert, wie auch Holtsmark,2 eine Ähnlichkeit zum hochmittelalterlichen Lehrdialog.3 Dabei stellt Machan aber auch die Frage nach Zufall oder unmittelbarer Beeinflussung und lässt frühe oder späte Schöpfung eher offen, um schließlich festzustellen: „The tenth century still seems the most likely“.4 Eindeutiger gegen eine späte Datierung posi­ tioniert sich etwa McKinnell, der ebenfalls das 10. Jahrhundert bevorzugt,5 und Hultgård notiert, dass, wie bei den Grímnismál, auch bei diesem Werk gängigerweise kein erkennbarer christlicher Einfluss angenommen wird.6 Eine eingehendere Diskussion der möglichen Entstehungsdaten findet sich bei Machan.7 Generell kann bei mittelalterlichen anonym überlieferten Texten, insbesondere den eddischen, nicht selten davon ausgegangen werden, dass zwischen der ursprünglichen Entstehung und der Niederschrift ein gewisser Zeitraum liegt, was bisweilen auch mehrere Bearbeitungsschritte einschließt, bis der heute überlieferte Text erreicht wurde. Wie Machan in seiner Beschreibung von Editionsproblematiken8 darlegt, stehen Herausgeber so vor der Frage, welcher Schicht sie sich mit ihrer Bearbeitung nähern möchten. Dieselbe Frage stellt sich zu einem gewissen Grad auch der hiesigen Untersuchung und kann für sämtliche erörterten Texte wie folgt beantwortet werden: In dieser Arbeit wird immer die uns im Manuskript überlieferte Schicht zugrunde gelegt und nicht ver-

1 Simek; Pálsson 2007, S. 409. 2 Holtsmark, KLNM 19, S. 423 und 1964, S. 103. 3 Machan 2008, S. 29. Hultgård notiert dies ebenfalls, sieht diese Form der „erotapokrisis“ (Hultgård 2009, S. 534) aber nicht nur als (hochmittelalterlich) christlich, sondern auch klassisch antik an und stellt den Typus per se nicht in Zusammenhang mit einer spezifischen Datierung. 4 Hultgård 2009, S. 8. 5 McKinnell 1994, S. 87 f. 6 Hultgård 2009, S. 531. 7 Machan 2008, S. 2 ff. 8 Machan 1992, S. 223.

Einführung 

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sucht, Vorgänger oder gar „das Original“ zu finden (ohnehin ein kaum mögliches Unterfangen). Für die eddischen Texte bildet dabei die Ausgabe von Neckel/Kuhn in der fünften Auflage die Basis9 und für den Beowulf die dritte Auflage von Klaebers Edition des altenglischen Werks.10 Konzeptionell wie inhaltlich liegt in den Vafþrúðnismál ein Wissenswettstreit11 vor, also ein kompetitiver, dialogischer Informationsaustausch zweier Kontrahenten, welcher mit im Vorfeld festgesetzten Nachteilen für den Verlierer einhergeht; im hiesigen Fall droht ganz explizit der Verlust des Lebens. Im Gegensatz zum strukturell ähnlichen Rätselwettstreit handelt es sich bei den Informationen des Wissenswettstreits um (im Rahmen des Settings) konkrete, faktenund weltbezogene, mithin „wahre“ Informationen, die textinterne Realitäten referenzieren. Realitäten, welche auch und vor allen Dingen, nicht durch die Fragestellung gezielt verunkenntlicht werden. Den Stoff des Wettstreits bilden im untersuchten Werk mythologische Inhalte, die die beiden Hauptfiguren, Gott und Riese, in derartiger Form austauschen. Die Handlung der Vafþrúðnismál kann in verschiedene Abschnitte unterteilt werden. Dieser Untersuchung zugrunde gelegt wird die Einteilung McKinnells,12 der Prolog, die Befragung des Asen durch Vafþrúðnir (diese wiederum aufgespalten in die Gastankunft und Vafþrúðnirs eigentliche Fragen), Odins Fragen an den Riesen über Vergangenheit und Gegenwart (12 nummerierte Strophen) sowie seine daran anschließenden Fragen über die Zukunft zu Zeiten von Ragnarök und danach, unterscheidet. Während eine solche Unterteilung zum größeren Teil als die gängige angesehen werden kann, ist der exakte Beginn des Wissenswettstreits etwas strittig und wird in Kürze noch genauer diskutiert werden. In diesem, wie auch in allen weiteren untersuchten Texten dieser Arbeit, soll nun zunächst auf Close-Reading-Basis der allgemeine Kontext erschlossen und dargestellt werden, in dem der als Thul bezeichnete Charakter agiert, ehe das jeweilige Werk anhand der zuvor erläuterten Kriterien zu untersuchen ist.

9 Neckel/Kuhn 1983. 10 Klaeber 1950 (Zitate erfolgen hier, wie auch aus B/T, ohne Längenzeichen). 11 Holtsmark, KLNM 19, S. 422. 12 McKinnell 1994, S. 88–92.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

2.2 Close Reading Die Belegstelle des Begriffs þulr findet sich in den Vafþrúðnismál in dem den eigentlichen Wissenswettstreit einleitenden Dialog: Odin in seiner Verkleidung als Gagnráðr (möglicherweise auch Gangráðr13) ist über die Schwelle des Riesen getreten, es kommt zum ersten Wortwechsel und damit sehr schnell zur Herausforderung durch den Asen: hitt vil ec fyrst vita, ef þú fróðr sér eða alsviðr, iotunn. (Str. 6,4–6) Das Ausmaß von Vafþrúðnirs Wissen bzw. Weisheit14 soll also geprüft werden, wobei sich alsviðr sowohl universal („allweise/-wissend“) als auch super- bzw. elativisch („sehr weise/wissend“)15 lesen lässt, mithin nicht zwingend Unfehlbarkeit impliziert sein muss – etwas, das gewissermaßen auch mit seiner späteren Niederlage in Konflikt stehen würde. Auf jeden Fall liegt aber bereits morphologisch eine Steigerung zu fróðr vor.16

13 Gangráþr ist die Form, in der der Name in einer Liste von Odinsheiti in der Snorra Edda vorkommt (Machan 2008, S. 76; Ejder 1960, S. 11 ff.). Die Namen werden unterschiedlich gedeutet, sind aber alle auf typische Aspekte des Gottes zurückführbar: Machan übersetzt nach Boer, Bugge und Gering: „The One Who Counsels Victory“/„The Victorious One“ für die erste, und nach Jónsson und Olsen „‚The One Who Counsels Travel‘ or ‚The Wanderer,‘ perhaps with the suggestion of ‚beggar‘“ für die zweite Variante (Machan 2008, S. 76). Beide Übersetzungen von ráða als „counsel“ werden von Gade als inkorrekt kritisiert: „Those names should be translated as ‚The One Who Rules over Travel‘ and ‚The One Who Rules over Victory‘“ (Gade 1991, S. 371). Sowohl Machan (2008, S. 76) als auch Ruggerini (1994, S. 167) schlagen weiterhin „the Disputant“ – (also „Widerredner“ oder „Dagegenhalter“) – vor, wobei Letztere noch auf die Heiti-Liste hinweist und in der Namenswahl darüber hinaus einen ersten Hinweis des Gottes an Vafþrúðnir sieht, was Odins Identität betrifft. Von Sees Feststellung, Gangráðr sei „die zweifellos richtige Lesung gegenüber dem handschriftlichen Gagnráðr, das Gering verteidigt“ (von See 1972a, S. 16), wird hingegen nicht weiter begründet, sodass ihre Überzeugungskraft nicht ganz so groß ist. Auch Falk zieht Gang­ ráðr vor, sieht dabei aber die Wahl durch den Verskontext gestützt, insbesondere nú emk af gǫngu kominn (Falk 1924, S. 11). Das ist einerseits plausibel, andererseits tritt Odin in seiner Rolle als Wanderer und Redner aber nicht ausschließlich unter Pseudonymen auf, die auf ebendiese Eigenschaft verweisen (vergleiche etwa die Grímnismál). 14 Machan (2008, S. 25) beschreibt wisdom in diesem Kontext und damit auch als Gegenstand des Wettbewerbs wie folgt: „[…] here is understood to mean aphoristic knowledge as well as accumulated knowledge of history and mythology“. Es geht also auf jeden Fall grundsätzlich um Wissen als Inventar, nicht um prozedurale Kenntnisse. 15 LF/T, S. 7. 16 Ejders abweichende Annahme wird im Verlauf dieses Kapitels noch diskutiert werden.



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Auf die Herausforderung17 antwortet der Riese unmittelbar mit einer Formulierung seiner Bedingungen, welche bereits eine Drohung,  – eventuell auch einen Wunsch, gar im Sinne einer Verwünschung,18 – beinhaltet: Út þú né komir órom hǫllom frá, nema þú inn snotrari sér. (Str. 7,4–6) Schorn erkennt in dieser Reaktion des Riesen einen Beweis (einen äußerst frühen in diesem Fall) dafür, dass Vafþrúðnir eben nicht alsvinnr sei, denn indem er die Identifikation seines Gastes nicht abwartet und sich damit der Gelegenheit beraubt, anhand jener Rückschlüsse auf die Natur und damit Gefährlichkeit des Ankömmlings zu ziehen,19 verwirkt er im Endeffekt auch die Chance, einer Konfrontation auszuweichen, welche unausweichlich zu seiner Niederlage und damit seinem Tod führen muss. Dies umso mehr, da Odins Alias-Namenswahl „typically less than subtle“20

17 Ruggerini (1994, S. 144) sieht hier keine besondere Implikation: „Óðinn simply presents himself in the guise of an ordinary beggar, without apparent motives for hostility towards the person he is asking for hospitality and refreshment“. Eben davon ist allerdings in Odins Eingangsstrophe (Str. 6) überhaupt nicht die Rede; der Ase verkündet nur seine Ankunft und bereits der nächste Satz enthält die Herausforderung (Str. 6,4 ff.), welche die Stimmung ins Negative umschwenken lässt. Seinen Durst erwähnt Odin erst nach Vafþrúðnirs aggressiver Antwort. (Die Darstellung Ruggerinis erscheint umso verwunderlicher, als sie selbst nur kurz darauf den Asen einen „insolent guest“ nennt (Ruggerini 1994, S. 144), „addressing his host with words whose tone sounds rude and aggressive“, mit dem Resultat, Vafþrúðnir zeige sich „offended and irritated“ (Ruggerini 1994, S. 145), und etwas später auch feststellt, dass Odin bei der Ankunft vom normalen Zeremoniell abweicht und dem potenziellen Gastgeber „an unusual, almost rude question“ (Ruggerini 1994, S. 166) stellt). 18 Machan 2008, S. 76. Der Konjunktiv comir werde, so der Autor, meist zu cømr emendiert, wohingegen die Konjunktivform einen „charm-like wish“ beinhalte und damit der konfrontativen Qualität des Abschnitts folge. Angesichts dessen, dass sowohl Riese wie auch Gott mit magischen Qualitäten assoziiert sind und weiterhin dieselbe Form auch in der Snorra Edda in ähnlichem Kontext auftritt (Machan 2008, S. 75), hier im Gespräch zwischen dem zauberkundigen Gylfi und der gleichfalls zauberkundigen Asen-Trias, wirkt auch eine solche Deutung stichhaltig. Die deutsche Übersetzung könnte in diesem Fall lauten: „Heraus-/Entkommen aus unseren Hallen sollst Du nicht, bist Du nicht der Klügere/es sei denn, Du wärst der Klügere“. Vergleiche hierzu vielleicht auch aus Odins Frageformel: allz þic svinnan qveða, / oc þú, Vafðrúð­ nir, vitir [Fettdruck von mir, KRMT], im Sinne einer in der Konjunktivform enthaltenen Infragestellung des Riesenwissens bzw. Aufforderung zu dessen Beweis („da man Dich weise nennt, und Du, Vafþrúðnir, wüsstest/wissen solltest“). S. hierzu weiterhin Machan 2008, S. 79 f. sowie die im EK 5, S. 430 angemerkte große Ähnlichkeit zur Frageformel aus den Fáfnismál Str. 12,1–3: allz þic fróðan qveða / oc vel mart vita. 19 Schorn 2012, S. 83. 20 Schorn 2012, S. 83.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

ausgefallen sei, was Vafþrúðnir aber dennoch nicht helfe, ihn zu erkennen. Damit liegt gemäß Schorn hier also ein Zeichen für mangelnde Weisheit vor – wobei jene dann als gezielte und reflektierte Anwendung des Kenntnisinventars zu begreifen ist. Erst nach der Herausforderung und deren Annahme durch den Herrn der Halle nennt Odin dann seinen (Tarn-)Namen21 und verlangt Gastfreundschaft: laðar þurfi hefi ec lengi farit oc þinna andfanga, iotunn. (Str. 8,4–6) Es entsteht dabei der Eindruck, dass die Regeln und Bedingungen der Gastfreundschaft durch die abrupte Herausforderung gleich bei der Ankunft Odins an den Riesen unter- bzw. durchbrochen werden.22 Denn das Gastrecht stellt Bedingungen

21 Machan vermutete 1988 noch angesichts der Häufigkeit, mit der Odin in Wissensdialogen seinen Namen verbirgt (Baldrs draumar, Hervarar saga, Grímnismál …), dass dies „characteristic of Óðinn as a wisdom figure“ sein könne (Machan 1988, S. 75). In der überarbeiteten Ausgabe von 2008 ist diese These getilgt, und auch McKinnell (1994, S. 97) stellt einer solchen Annahme die Theorie entgegen, dass eine derartige Handlung zu den stereotypen Szenen eines in der nordeuropäischen Tradition verbreiteten Wissens- bzw. Rätselwettstreits gehöre, was später noch genauer zu betrachten sein wird. Machans Annahme hat allerdings durchaus etwas für sich, zumal Odin auch außerhalb derartiger Texte ano- bzw. pseudonym auftritt (etwa in der Vǫlsunga saga, aber auch im Hárbarðslióð), was ebenso die Liste seiner Heiti selbst belegt, die mit den Namen in diversen Texten korrespondieren. Nicht zuletzt handelt es sich bei diesem Verbergen des Namens grundsätzlich um das Vorenthalten von Informationen, das im Kontext von Wissenswettstreiten durchaus als „Spielzug“ verstanden werden kann. Fraglich bleibt aber auch unter derartigen Umständen, ob diese Handlung charakteristisch für Odin als „wisdom figure“ ist oder eher für die „wisdom figure“ per se in einem solchen Kontext, die im aktuellen Werk (und anderen) natürlich mit Odin übereinstimmt – aber dies nicht unbedingt muss, wenn man an den pseudonymen König Gylfi/Gangleri aus der Gylfaginning denkt. McKinnells These einer gattungs-, nicht figurenbezogenen Konvention erfasst hingegen auch diese Fälle. In eine solche Lesart fügte sich zudem Gunnells Beobachtung ein, der Sigurds Selbstbezeichnung gǫfugt dýr, mit der jener sich dem sterbenden Fáfnir vorstellt (Fáfnismál Str. 2,1), in den Kontext stereotyper Pseudonymität im kompetitiven Dialog stellt: „the visiting ‚aggressor‘ initially disguises his real name“ (Gunnell 1995, S. 267; die Prosaeinschübe werden hierbei nicht miteinbezogen). Da jener Autor auch die Lokasenna zu den dieses Motiv einsetzenden Texten zählt, lässt sich seine Aussage zwar nicht auf den kompetitiven Wissensdialog beschränken, er kann aber als Unterkategorie angesehen werden. 22 S. auch Ruggerini 1994, S. 166: Óðinn's speech as he enters therefore places itself outside the ritual governing requests by strangers for admission and hospitality in a place of safety (the inside of a dwelling). The traditional roles appear to be reversed: the stranger who has just arrived from outside dares – without even having declared who he is – to begin by putting an unusual, almost rude question to the person who has yet to decide whether or not to allow him hospitality.



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an Gast und Gastgeber,23 und die Herausforderung durch den Bittsteller gleich zu Beginn dürfte der Friedfertigkeit als einem der Grundprinzipien der Gastfreundschaft kaum genügen, und ebenso wenig der Anerkennung des Status’ des Gastgebers als Herrscher über Halle und Insassen dienen. Auch Vafþrúðnir verletzt die Gebote, wie McKinnell herausstellt, der die Drohung des Riesen als „unpardonable reversal of the normal courtesy shown to a guest, even if Óðinn’s brusque opening speech has done much to provoke it“ bezeichnet.24 Es ließe sich hier vielleicht noch fragen, inwieweit Aspekte der weltlichen Tradition in einem so vielschichtigen mythischen Dialog, der zudem deutlich dem historischen Alltag enthoben ist, in dem mit Täuschung und – vermutlich beiderseitigem – Fallenstellen operiert wird, und sich teils (scheinbar) weltliche und (offensichtlich) übermenschliche Aspekte überlagern (der Gott als einfacher Wanderer), absolute Gültigkeit beanspruchen können. Zu diesem Punkt bietet sich ein Vergleich mit der Gylfaginning an, da diese deutliche Parallelen zur den Vafþrúðnismál aufweist (von wörtlichen Zitaten ganz zu schweigen): Abgesehen vom allgemeinen Erzählrahmen rechnet Beck zu derartigen Korrespondenzen die Reise des einzelnen Wanderers zwecks der Erprobung von orðspeki und den Wettstreit um den eigenen Kopf.25 Auch die Konstellation des ein-

Fleck vermutet hier einen Übergang zu einer „Sondergesetzgebung der Wissensbegegnung“ (Fleck 1968, S. 14 und S. 137 ff.). Allerdings scheint die Argumentation etwas selbstreferentiell: Die Sondergesetzgebung ergeht nicht erkennbar aus dem Text, sondern, da die Begegnung als Spiel eingestuft wird, wird angenommen, dass eine Sondergesetzgebung für dies Spiel herrschen muss, die dann im Text gefunden wird. Wichtiger noch, trifft nur eines der Indizien, die Fleck für das Vorhandensein dieser Sonderregeln anführt, zu, da der Autor Frigg nicht als „Vorbegegnende mit warnender Funktion“ nennt (Fleck 1968, S. 137; wie mir scheint, zu Recht, da es sich bei der anfänglichen Szene nicht um eine Begegnung handelt, obgleich Frigg Odin warnt). Damit fände sich nur in der Kopfwette selbst ein solches Indiz (Fleck 1968, S. 138) – und wo der Beginn des Wettstreits, also der konkreten Wette um beider Teilnehmer Kopf, nun anzusetzen ist, erscheint durchaus diskussionswürdig. Vor allem, da die erste Reaktion Vafþrúðnirs nicht aus einer Formulierung beidseitig gültiger Bedingungen besteht, sondern nur aus einer Drohung an den Gast. 23 Machan (2008, S. 37 f.) nennt dies das „ritual of entrance in Norse literature“ und verortet es z. B. im Nornagests þáttr, in der Gylfaginning, der Lokasenna und natürlich in den Vafþrúðnismál sowie im Beowulf. Der Aufbau des „Rituals“ sei wie folgt: Ein unbekannter, unerwarteter Gast kommt in einer Halle an und bringt entweder Neuigkeiten bzw. Informationen oder aber es entspinnt sich ein FrageAntwort-Dialog. Im Gegenzug empfangen die Anwesenden den Ankömmling nahezu zeremoniell und bieten ihm Speise und Trank an. 24 McKinnell 1994, S. 99. Gerade zum Bereich „Provokation“ passt auch Ruggerinis Annahme, dass dies von Odin genau so beabsichtigt gewesen sei, um den Riesen aus der Reserve zu locken und damit ein Eingehen auf sein Ansinnen überhaupt erst zu ermöglichen. Dadurch erkläre sich auch die Rückkehr des Gottes zu den Konventionen, sobald er dies erreicht hat (Ruggerini 1994, S. 167). 25 Beck 1992, S. 613; gerade dieser Körperteil als Einsatz lässt sich zudem, wie Finlay feststellt, als Sitz von Weisheit, Sprache und Gedächtnis sowie poetischer Textproduktion wiederum mit dem Konflikttypus in Verbindung bringen (Finlay 2011, S. 93).

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

zelnen Protagonisten, der sich allein einer mächtigen, wissenden Instanz gegenüberstellt, kann man hierzu zählen; wobei die Konstellation in der Gylfaginning zumindest dem Anschein nach aus drei Figuren besteht (Hárr, Jafnhárr und Þriði). Interessant ist an dieser Stelle auch ein, aus Rezipientenperspektive, deutlicherer Unterschied in den Qualitäten der beiden Parteien: Odin/Gagnráðr sticht als „der Fragende, aber Überlegene“ hervor, während Gylfis/Gangleris Fähigkeit sich einzig darauf beschränkt „die rechten Fragen zu formulieren“.26 Zudem beanspruchen die Befragten bei Snorri (euhemeristischen) Götterstatus und der Gast ist ein Mensch; dementsprechend ist das Macht- und Weisheitsgefälle nicht nur größer als das zwischen Gott und Riesen im eddischen Text, sondern es verläuft auch in die entgegengesetzte Richtung. Vergleicht man nun die Ankunftsszenen und Darstellung der Gastgeberreaktion der beiden Werke, ist festzustellen, dass bei Snorri den Konventionen der Gastfreundschaft gefolgt und der Gast aufgenommen und bewirtet wird;27 eine Übertragbarkeit der Zeremonie auch auf Texte mit mythologischem Personal dürfte damit in der Tat gegeben sein und die Abweichung in den Vafþrúðnismál wird signifikant. McKinnells Interpretation entspricht außerdem, dass Vafþrúðnir als Herr der Halle Odin auch keine „offizielle“ bzw. explizite Aufnahme als Gast angedeihen lässt. Dies äußert sich darin, dass er, wie Sprenger anmerkt,28 auf die Aussage Odins, er sei durstig (Str. 8,3), überhaupt nicht eingeht. Hierin unterscheidet sich der Text auch klar von der Gylfaginning, in der die Asentrias dem Gast Speis und Trank ausdrücklich zur Verfügung stellt.29 Dabei muss allerdings offenbleiben, ob bei Odins Durst eine eher stereotype Aussage innerhalb einer formalisierten „Gast-Vorstellung“ vorliegt,30 der – gerade auch, weil bereits andere Bedingungen verhandelt wurden  – keine weitere Bedeutung beigemessen wird, oder ob es sich seitens Vafþrúðnirs um ein Missachten der Regeln der Gastfreundschaft im Namen des Wissenswettstreits handelt, vielleicht gar aufgrund riesischer Tücke.31 Statt auf den impliziten Wunsch Odins einzugehen, lädt der Herr der Halle ihn jedenfalls ein: farðu í sess í sal (Str. 9,3). McKinnell erkennt gerade in dieser Äußerung

26 Beck 1992, S. 613. 27 Gylfaginning Kap. 2 (Lorenz 1984, S. 72). 28 Sprenger 1985, S. 196. 29 Gylfaginning Kap. 2 (Lorenz 1984, S. 72). 30 Vgl. auch Lokasenna Str. 6: Þyrstr ec kom […] sowie Str. 7, wo der Ankömmling Loki die Anwesenden um die Auswahl/Zuweisung eines Sitzes (sess) und/oder eines Orts bzw. Platzes (staðr) „beim Gelage“ bittet, das wiederum mit den folgenden Handlungen Vafþrúðnirs korrespondiert. Weiterhin findet in der Hervarar saga zwar keine vorausgehende Bewirtung des Gastes (der pseudonyme Odin) statt, dessen erstes Rätsel thematisiert aber ebenfalls Bier, in Kombination mit dem Wunsch danach, und ebendiesen erfüllt der König dann auch prompt: „Hafa vildak / þat er hafða í gær […]“ – „Góð er gáta þín, Gestumblindi, getit er þessar. Fœri honum mungát!“(Tolkien 1960, S. 32 f.). 31 Machan 2008, S. 36.



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eine weiterreichende Bedeutung: Für ihn würde es eine Annahme von Vafþrúðnirs Bedingungen (einseitiger Einsatz des Lebens Odins) darstellen, wenn der Gast der Aufforderung des Riesen, Platz zu nehmen, nachkäme.32 Unklar bleibt dann allerdings, wie ihr Ignorieren durch den Gott in diesem Lichte aufzufassen ist; immerhin kommt es ja trotzdem zum Wettstreit und Vafþrúðnir thematisiert Odins Nichtakzeptanz zudem formelhaft in seinen Fragen, ist sich ihrer also eindeutig bewusst. Odin scheint die Bedingungen folglich so oder so anzuerkennen. Mit der Einladung überführt der Riese jedenfalls die Situation in das neue Szenario – zwei Gegner im Streit –, welches ebenso neue Bedingungen mit sich bringt; seien sie auch erst die einer vorgeschalteten Prüfung auf generelle Eignung. Etwas strittig ist nämlich, wo genau der Beginn des Wissenswettstreits anzusetzen ist:33 bereits bei der Befragung von Odin durch Vafþrúðnir oder erst bei den Fragen des Gottes an den Riesen. Betrachtet man die beiden Teile des Wissensgesprächs genauer, ist festzustellen, dass die erste Befragung durch ein einseitiges Risiko (Odin riskiert sein Leben, der Hallenherr jedoch noch nichts), vergleichsweise kurze Dauer und vor allem eine abschließende Einladung inklusive ausdrücklicher Proklamation eines positiv anzusehenden, vorher nicht genannten Status (Fróðr ertu nú, gestr, / far þú á becc iotuns, Str. 19,1 f.) gekennzeichnet und somit abgesetzt wird. Der Wissenswettstreit – oder kompetitive Wissensdialog – beinhaltet der gängigen Auffassung nach (die sich bereits in der Bezeichnung „Wettstreit“ bzw. „(wisdom) contest“ niederschlägt) vergleichbare Bedingungen und damit auch ein beiderseitiges Risiko für die Teilnehmer (auch wenn Frage-/Antwortrolle dabei nicht wechseln). Dies ist in der ersten Sequenz nicht gegeben. Vafþrúðnir bedroht zwar seinen Gast mit dem Tode, lässt aber nichts verlauten, das auf ähnliche Konditionen für ihn als Gegner schließen ließe – noch nichts. Damit wäre die erste Frageserie eher als Vorabprüfung bzw. Qualifikationsphase einzustufen, oder, wie Ruggerini es nennt, als „wisdom procedure“;34 im Gegensatz zur darauf folgenden „wisdom interrogation“ Vafþrúðnirs durch Odin.35 Im Manuskript steht überdies nach Vafþrúðnirs Anerkennen von Odins Wissen (Fróðr ertu nú, gestr, Str. 19,1) Capitulum geschrieben. Das zeigt für Ruggerini, dass der folgende Teil vom Schreiber des Codex als eigenständiger Abschnitt gesehen wurde,36 der den eigentlichen Wettstreit enthält.37 Es seien zwar auch andere Gründe möglich, aber für Ruggerini unwahrscheinlicher, etwa dass der Text aus zwei verschiedenen

32 McKinnell 1994, S. 92. 33 S. auch Ruggerini 1994, S. 181 ff. 34 Ruggerini 1994, S. 182. 35 Ruggerini 1994, S. 171. 36 Ruggerini 1994, S. 171. 37 Ruggerini 1994, S. 173.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

Quellen stamme.38 Machan,39 der sich auf Ejder beruft,40 hält zwei verschiedene Quellen für durchaus plausibel und verweist neben der deutlich unterschiedlichen Länge der beiden Befragungen auch darauf, dass das Fragment A mit Str. 20 (also dem eigentlichen Wissenswettstreit) beginnt; wobei dort auch das vorausgehende Blatt fehlt, sodass nicht klar wird, ob die Vafþrúðnismál dort weiteren Text, und wenn ja, welcher Art und vor allem, in welchem Umfang, enthielten.41 Im Ganzen gesehen scheinen sich diese zwei Perspektiven aber  – sofern nicht beispielsweise Werkursprünge zentral für eine Erörterung sind (sondern, wie in dieser Arbeit, der überlieferte Text) – eher wenig zu unterscheiden: In beiden Fällen wird davon ausgegangen, dass der Wettstreit ab Str. 20 einen autonomen und zentralen Bereich darstellt. Ob dieser nun einst „die“ Vafþrúðnismál bildete (Machan, Ejder) oder nur so sehr als deren Kern angesehen wurde, dass die umgebende Erzählung variabler gehalten wurde, ist aus der Perspektive der hiesigen Untersuchung eher eine Nuance, zumal alle Parteien sich bei den zugrunde liegenden Texten auf die mündliche Tradition berufen, deren Details zwangsläufig nicht belegbar sind. Zuletzt: Sollte in der Tat der abgesetzte Teil einst eine eigene Version dargestellt haben, würde eine derartige Version der Vafþrúðnismál für diese Untersuchung keine Rolle spielen, da die Belegstelle für den Begriff þulr in ihr nicht mehr enthalten wäre. Da jedoch keine weiteren Indizien für eine solche separate Version existieren, kann nur der erhaltene Text die Grundlage sein. Wie auch immer die Erstbefragung Odins durch den Riesen eingestuft wird, handelt es sich bei den von Vafþrúðnir gestellten Bedingungen für die nun folgende Frage-Antwort-Sequenz um Konditionen, welche die Anforderungen und Privilegien des Gastrechts einschränken oder überlagern, auf jeden Fall aber höhere Priorität besitzen. Was hierdurch entfällt, ist irgendeine Form der Verköstigung (und sei es auch nur der Becher, der dem Gast zur Begrüßung gereicht wird, wie etwa bei Beowulfs Ankunft in Heorot); und damit auch eine Geste, die auf Odins explizit erklärten Durst eingehen würde. Eben das könnte, neben der Frage der Formelhaftigkeit, aus der Perspektive des bevorstehenden Konflikts auch strategisch begründet sein; so lässt sich an diesem Teil des Austauschs bereits eine Art Gefecht auf einer Metaebene, nämlich der der Umgangsformen und -konventionen feststellen, deren Vorteile der Gast in Anspruch zu nehmen versucht, während der Gastgeber sie ihm mittels Ignorieren vorenthält. Zusätzlich lässt sich dies Vorenthalten auch als subtile, quasi passiv-aggressive, Erwiderung der vorherigen, offen provozieren-

38 Ruggerini 1994, S. 172 f. 39 Machan 2008, S. 27 ff. 40 Ejder 1960, S. 15 ff. 41 Machan 2008, S. 28; s. dazu auch Jónsson 1896b, S. IV und S. 5; allerdings beginnt der Text in Str. 20 nicht mit dem exakten Strophenanfang, sondern erst mit æði dugir, was vermuten lässt, dass zumindest der vorausgehende Teil der Eingangsformel im verlorenen Teil zu finden war.



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den Herausforderung des Ankömmlings lesen: unsichtbar im Ausdruck, aber klar im Effekt. Mit Vafþrúðnirs Einladung, vom Gang hinein in den Saal zu treten, also die Schwellensituation (die in einer ähnlichen Form auch im bald untersuchten BeowulfAbschnitt auftritt) zu beenden, geht also einerseits eine gewisse Akzeptanz des unverschämten Ankömmlings und seiner Herausforderung einher; andererseits, wie eben beschrieben, aber nur eingeschränkt. Der Unbekannte hat sich identifiziert und sein Anliegen vorgebracht, welches sich der Riese daraufhin anschickt, umzusetzen. Vafþrúðnirs folgende Worte sind gleichzeitig seine letzten vor Beginn der formalisierten Auseinandersetzung. Hier nun bezeichnet er sich selbst als þulr und stellt sich zum Gast Odin/Gagnráðr noch einmal explizit in Opposition: þá scal freista, hvárr fleira viti, gestr eða inn gamli þulr. (Str. 9,5 ff.) Das Grundproblem der Bezeichnung tritt bei diesem Beleg deutlich zutage: Aus der vorliegenden Konstellation ist nicht ausreichend erkennbar, auf welcher Basis die Eigenbezeichnung beruht und was genau þulr bedeutet;42 die Begleitumstände liefern ebenfalls keinen eindeutigen Ansatz, wenn auch diverse Anknüpfungspunkte gegeben sind: Die Szene leitet den folgenden Wissenswettstreit ein (als Vorabprüfung oder erster Teil) und befindet sich auch semantisch in diesem unmittelbaren Umfeld (freista43 […] fleira viti); daher kann als wahrscheinlich gelten, dass Weisheit oder

42 Sowohl Machan („wiseman“, 2008, S. 78) als auch Ruggerini („orator“, 1994, 167 f.) gehen der Bezeichnung nicht weiter nach, sondern sehen sie eher als Beleg für die Macht oder Bedeutung des Riesen. Ruggerini (1994, S. 168) stellt in den Raum, der Terminus „refers to a role and a wisdom of a sacred kind“, ohne dies weiter zu begründen oder zu belegen. Machan, der eine solche Verbindung nicht anführt, hält ebendiesen Status als Weiser für ursächlich für Odins Fahrt: „It is the giant’s reputation as a þulr, Óðinn tells Frigg in the beginning of Vafþrúðnismál, that has attracted the god“ (Machan 2008, S. 78). Bei ihm scheint allerdings eine Übertragung des übersetzten Begriffs stattzufinden, die aus dem Text selbst nicht ergeht: In der Einleitung nennt Odin zwar Vafþrúðnirs große Weisheit bzw. deren Prüfung als Motivation. Ob genau diese aber später vom Riesen selbst mit dem Begriff þulr referenziert wird, kann, obwohl nicht unwahrscheinlich, nicht als gesichert gelten. Zusätzlich stellt der Autor einen negativen Beiklang anhand des Kontexts desselben Begriffs in den Fáfnismál in den Raum (wo er den Ausdruck mit „(hoary) magician“ übersetzt), der in den Vafþrúðnismál allerdings in Anbetracht des Handlungsverlaufs ironische Funktion habe, wenn er auch vom Riesen ernsthaft gebraucht werde (Machan 2008, S. 78). 43 Zu freista und seiner möglichen Funktion als Merkmal für eine bestimmte Art von Wissenstest, insbesondere in enger Verbindung zu Odin, s. Ruggerini 1994, S. 159 ff. Vor allem der Verweis auf Há­ vamál Str. 144,4, wo freista im Kontext runischer und religiöser Praktiken erwähnt wird, lässt eine Verbindung mit mythisch-religiösem Wissen oder geistigen/verbalen Auseinandersetzungen nicht unwahrscheinlich wirken.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

Klugheit, zumindest aber eine damit verbundene Qualifikation, bei der Begriffsverwendung impliziert ist. Ein þulr im Sinne von etwa „der Weise“ vielleicht auch „der (fähige) Redner“ ist, da es sich um die Eigenbezeichnung des Riesen handelt, überdies positiv-affirmativ zu sehen.44 Weiterhin fällt hier das Attribut ins Auge, welches den þulr mit hohem Alter verknüpft. Diese Kombination findet sich gleichfalls in anderen Belegen: in den Hávamál (at három þul, Str. 134,5) und Fáfnismál (inn hára þul, Str. 34,2) explizit, und implizit beim Víkarsbálkr Starkaðrs, dessen Protagonist, der sich dort als þǫglan þul (Str. 30,7) bezeichnet, ebenfalls bereits in fortgeschrittenem Alter ist. Damit enthält praktisch jeder eddische, oder der eddischen Dichtung nahestehende, Text, der den Begriff þulr anführt, auch zumindest einmal45 ein solches Bild, wobei offenbleibt, ob es sich dabei um eine notwendige oder hinreichende Bezeichnung handelt, und was genau diese Bezeichnung eventuell über den þulr hinaus besagen soll. Gerade der HávamálBeleg mit seinem Lehrsatz (Str. 134) enthält einige Ansatzpunkte für die Deutung des Adjektivs in zumindest diesem bestimmten Umfeld. Ob andererseits eine Übertragbarkeit auf Vafþrúðnismál und Fáfnismál besteht, lässt sich nicht zufriedenstellend erschließen,46 sodass erst einmal nur die Häufung per se festzustellen ist sowie, dass das Alter in den Vafþrúðnismál nicht durch das halbmetaphorische hárr, sondern das explizite gamall denotiert wird. Angesichts der Tatsache, dass sowohl der Hávamál-, als auch der Fáfnismál-Beleg in einem Kontext stehen, in dem die dadurch bezeichnete Figur der Kritik ausgesetzt ist, ließe sich eventuell noch vermuten, dass hárr eine pejorative Komponente besitzt. Dies soll in den entsprechenden Kapiteln weiter beleuchtet werden.

44 Eine andere Möglichkeit wäre noch die ironisch-selbstherabsetzende Bezeichnung der Art „(der Gast oder der alte) Schwätzer“, wie sie Müllenhoff (1908, S. 289) und Gering für die sehr ähnliche Bezeichnung Reginns durch die Vögel in den Fáfnismál annehmen (S/G 2, S. 1229). Einer solchen Lesart entgegen wendet sich allerdings bereits beim eddischen Sigurdlied  – in dessen aufgeladener Situation ein pejorativer Kontext deutlich plausibler wäre  – der Kommentar: „kaum eine verächtliche bedeutung“ (S/G 3/1, S. 139). Auch weicht das Attribut geringfügig ab: Der Thul dort ist hárr, nicht gamall – ein Detail, auf das gleich noch weiter einzugehen sein wird. Es finden sich in den Vafþrúð­ nismál darüber hinaus keine weiteren Anhaltspunkte für eine solche herabsetzende Verwendung, und (Selbst-)Ironie im Altnordischen bewegt sich im Allgemeinen eher im heroischen Bereich, etwa dem körperlicher Auseinandersetzungen, in welchem selbst tödliche Verletzungen minimalisiert oder mittels einer markigen Bemerkung überspielt werden (etwa wenn in der Grettis saga (Kap. 45) Atli, nachdem er von einem Speer durchbohrt wurde, nur sagt: „die breiten Speere sind nun in Mode“, und dann tot niederfällt). Eine derartige Deutung soll daher, auch gemäß Occams Rasiermesser, nicht weiterverfolgt werden, sofern sich nicht weitere Anhaltspunkte dafür ergeben – es wäre eine unnötig verkomplizierende Interpretation. Die bereits angeführte von Machan (2008, S. 78) erwähnte Ironie der Szene selbst schließt dies hingegen nicht aus. 45 In den Hávamál gibt es vier Belege, nur bei einem ist explizit vom Alter die Rede, zwei andere – fimbulþulr aus Str. 80,5 und Str. 142,5– sind ur- oder überzeitlich konnotiert. 46 S. dazu die folgenden Kapitel, die sich diesen Texten widmen.



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Interessant ist darüber hinaus auch ein anderes Charakteristikum des Riesen, welches bereits ganz zu Anfang des Texts im Vordergrund steht: Er ist rammr („strong, powerful, mighty“47), gemäß LF/T dies zudem ein Attribut „never used of human strength“.48 Von Ruggerini wird das Adjektiv ebenfalls als beachtenswert angesehen, allerdings wirkt ihre Interpretation „it denotes a special kind of strength, not merely physical but also indicating magical power, which we may assume comes from the knowledge of runes, from ritual drinks such as mead, and from the practice of prophecy or the enhancement of one’s own psychic powers“49 vor allem in Bezug auf den angenommenen Ursprung der Macht zu weit gefasst, zumal sie nur die eben zitierte Stelle aus LF/T zur Quelle hat.50 Sicherlich lassen sich all diese Konnotationen auf den Riesen anwenden, allerdings scheint es sich dabei wohl eher um Textextrapolationen zu handeln. C/V51 führen rammr darüber hinaus als Schreibvariante zu ramr an, was Noreen52 bestätigt, wodurch deutlich mehr Belege, auch jenseits eddischer Texte, zur Verfügung stehen, etwa „strong, stark, mighty“ bis hin zu „vehement“ und „strong, mighty, with the notion of fatal or charmed power“.53 Im Ganzen scheint die Bedeutung also auch durch den Kontext präzisiert zu sein und selbst menschliche Körperkraft kann in dem Fall durchaus, dann teils mit dem Zusatz at afli,54 von rammr beschrieben werden.55 Auch für Jakobsson ist der genaue Bereich der durch das Adjektiv denotierten Stärke nicht ersichtlich, wenn er auch anmerkt, dass es nicht selten in Verbindung mit galdr bzw. galdrar auftritt.56 Fritzner führt weitere Beispiele mit der Bedeutung „stærk“ für das Adjektiv allein auf, im Umfeld von Thor in der Gylfaginning und Rígr in der Rígsþula.57 Sowohl C/V als auch Fritzner nennen als weitere Bedeutungsvariante für rammr „bitter, biting“ bzw. „skarp, streng, stram, bitter i smag“58 (wobei sich das, wie Fritzner bereits ausdrücklich anführt, meist auf einen Geschmack bezieht) und Fritzner als zusätzliche dritte Übersetzung „schlecht, böse“ (íllr).59

47 LF/T, S. 212. 48 LF/T, S. 212. 49 Ruggerini 1994, S. 146; auch Hultgård (2009, S. 531) nimmt eine magische Konnotation an. 50 LF/T, S. 146. 51 C/V, S. 482. 52 Noreen 1970, S. 234, § 318, n. 10. 53 C/V, S. 482. 54 C/V, S. 482. 55 Dies findet sich u. a. in so späten Texten wie der Sörla saga sterka Kap. 1. 56 Jakobsson 2008, S. 266. 57 Fritzner 3, S. 30. 58 Fritzner 3, S. 31. 59 Fritzner 3, S. 31.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

Dass rammr daher auch übermenschlich-gewaltig, magisch oder mythisch konnotiert sein kann  – aber nicht sein muss (und vor allem nicht so exakt und auch nicht so eindeutig, wie Ruggerini formuliert) – würde einerseits zur riesischen Natur passen, andererseits aber auch dem þulr als in einem oder eventuell gar mehreren dieser Gebiete bewanderter Figur zu Gesicht stehen. Selbst die anderen Varianten sind hierfür denkbar, insbesondere im Zusammenhang mit Verbalattacken oder offizieller/ formalisierter Sprache, einer hervorgehobenen sozialen Rolle und deren Gewaltpotenzial. Andererseits wird, wie sich anhand der anderen Belege ergibt, der þulr nicht gängigerweise als rammr bezeichnet, sodass hier eine Verbindung zur Natur Vafþrúðnirs selbst wahrscheinlicher wirkt und in Beziehung zu Friggs einführender Warnung gesetzt werden kann.60 Letztlich ließe sich das Adjektiv eventuell noch direkt mit dem Namen des Riesen in Verbindung bringen; bzw. mit dessen zweitem Teil, da das Element þrúð- in Vafþrúðnir ebenfalls Macht oder Stärke anzeigt.61 In jedem Fall ist der Zusammenhang mit dem Begriff þulr hier offenbar sekundär. Um zur Szene zurückzukehren, äußert sich Odin auf diese abschließende Bemerkung des Riesen hin erneut, diesmal jedoch mit einer Gnome, deren Verwendungsgrund sich aus dem Text nicht ganz eindeutig erschließt. Wie McKinnell sehr schlüssig darlegt, handelt es sich dabei um ein gezieltes Spiel mit Ambivalenzen. Ihm zufolge

60 McGillivray (2015, S. 93 ff.) macht bei dieser Warnung auf einen interessanten Widerspruch aufmerksam: Wenn Frigg, wie andernorts beschrieben, die Gabe hat, das Schicksal vorherzusehen (vgl. Lokasenna Str. 29), müsste sie wissen, dass Odin in seinem Besuch beim Riesen keiner Gefahr ausgesetzt sein wird – und ihre Warnung wäre unangebracht. Andererseits vermerkt der Autor, dass es auch Frigg war, die Loki die Schwachstelle verraten hatte, welche zur Tötung Baldrs führte – was mit Schicksalswissen ebenfalls kaum vereinbar gewesen wäre. Er vermutet, dass aus dieser Erfahrung (wie an der Siegesfrage des Gottes im Wissenswettstreit zu ersehen ist, muss Baldrs Tod bereits stattgefunden haben) die erhöhte Vorsicht der Figur zu erklären ist. Aus einer allgemeineren Perspektive stellt sich grundsätzlich die Frage, wie umfassend Charakteristika und Figurenverhalten in einem mythologischen Narrativ sich auf jeglichen weiteren Text dieser Art übertragen lassen; gerade auch angesichts der durchaus großen Varianz in den Beschreibungen. Wie McKinnell in seiner Untersuchung von 1994 feststellt, ist es im Norrönen begründet, mehrere unterschiedliche, quasi parallel existierende Varianten anzunehmen; dies könnte dann ebenfalls bei der „unwissenden“ Frigg der Vafþrúðnismál der Fall sein. Auch McGillivray trägt dem zu einem gewissen Grad Rechnung, wenn er feststellt: „[…] Vafþr and Gylf are not necessarily complementary texts“, sieht im Vergleich beider aber eine Möglichkeit, mehr über die möglichen Eigenschaften der Frau Odins zu erfahren (McGillivray 2015, S. 95). 61 LF/T, S. 312 listen etwa folgende Termini auf: þrúð-móðugr „stout-hearted or full of great rage“, þrúðugr „powerful, strong“, þrúðvaldr „powerful ruler“. C/V enthält mehrere Einträge, in denen Wörter mit þrúð- als Wurzel als „heroic, doughty“ qualifiziert werden, wobei Kontexte mit Riesen oder Thor recht häufig sind, und leitet þrúðr in Komposita von þrótt ab (C/V, S. 747), was Baetke (der þrúðnicht nennt) über þróttr auf „Kraft, Seelenstärke, Standhaftigkeit, Tapferkeit, Schneid“ zurückführt (Baetke, S. 785). Auch Fritzner übersetzt þrúð- im Sinne von Macht und Stärke, so etwa þrúðheimr „den kraftige Bolig“, þrúðmóðugr „modig, kraftig i Aanden“, þrúðugr „stærk, mægtig“, þrúðvaldr „mægtig Hersker“ (Fritzner 3, S. 1045).



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dürfte die – scheinbar – offensichtliche Aussage sein, dass der Sprecher Gagnráðr/ Odin mit dem (zu) Redseligen, dem es nicht gut ergeht, sich selbst meint und damit eine Art Rückzieher von der aggressiv-fordernden Haltung seiner Ankunft zu machen versucht. Eine Annahme, der wohl auch der Riese erliegt, während ihm die fundamentale Doppeldeutigkeit der Gnome entgeht. Die Rollen können nämlich auch genau entgegengesetzt verteilt sein und der Satz damit eine heimliche Verhöhnung des Gastgebers darstellen: eines zu Gesprächigen, der besser geschwiegen hätte, statt sich gleich mit der ersten Antwort auf Odins tödliches Spiel einzulassen.62 Eine derartige Deutung wird häufiger vertreten63 und Schorn stellt sie zusätzlich in Verbindung zu Odin als Dichtergott und nicht vertrauenswürdige Instanz:64 „This strategy of deceiving with the truth is a favourite of Óðinn’s and his mastery of poetic language makes him particularly adept at it“.65 Setzt man bei der Strophe nun die erste, „offensichtliche“ Interpretation an, lässt sich außerdem noch eine andere Kritik oder gar Beleidigung des Gastgebers aus der Strophe herauslesen, nämlich kaldrifiaðr, wörtlich „kalt-gerippt“, wobei dieser Begriff nur einmal belegt ist und gemeinhin als negativ konnotiert angesehen wird, beispielsweise als „verschlagen“, „kaltherzig“ oder „bösartig“.66 Sprenger führt in

62 McKinnell 1994, S. 99; Ruggerini führt diese beiden gegensätzlichen Deutungen noch etwas weiter aus (Ruggerini 1994, S. 168 f.). 63 Ruggerini (1994, S. 168) erkennt hier einerseits ein Sich-Geringreden des Gastes (óauðigr maðr), andererseits eine versteckte Drohung an den Riesen (ofrmælgi mikil) und bemerkt, wie auch Machan (2008, S. 78), dass Inhalt und Sprache eng mit zwei Strophen der Hávamál korrespondieren (Str. 19,3 und Str. 7,1–3). Ähnlich deutet von See (1972a, S. 17) das óauðigr maðr aus Str. 10 als „mit boshaft verstellter Bescheidenheit“ und konstatiert hier ebenfalls eine Nähe zum „Alten Sittengedicht“ der Hávamál, was für ihn gleichzeitig zum Anlass wird, eine Beeinflussung der Hávamál durch die Vafþrúðnismál anzunehmen und rückzuschließen, dass es aufgrund der verbalen Parallelen nicht unbegründet sei, „auch in dem gestr der Hávamál-Strophen den Gott Odin zu vermuten“. Eine Beeinflussung in die Gegenrichtung sei zwar ebenfalls denkbar, aber weniger wahrscheinlich (von See 1972a, S. 17). 64 Wobei dies mit Auswirkungen auf seine Rolle als Schutzpatron einhergeht: „[…] the characteristics behind Óðinn’s success in acquiring wisdom are exactly what make him problematic as a benefactor“ (Schorn 2012, S. 83). 65 Schorn 2012, S. 84. 66 C/V, S. 329: „‚cold-ribbed‘, scheming, cunning“; LF/T, S. 141: „‚cold-ribbed‘, cold-hearted, hostile, scheming“. Fritzner (2, S. 248) listet nur die Vafþrúðnismál als Quelle und verweist für die Übersetzung auf Flateyarbók II, 25423 (Óláfs saga hins helga). Ebendiese Stelle, héðan skulu honum koma köld ráð undan hverju rifi, führen C/V als Beispiel für „metaph. cold, chilling, baneful, fatal“ an (C/V, S. 329). Beide Belege sind allerdings nicht unbedingt vergleichbar, da sich kaldr in der Ólafs saga auf ráð, nicht auf die Rippen bezieht. In den Vafþrúðnismál bleibt kaldrifiaðr damit weiterhin etwas rätselhaft und, sofern man nicht ausschließlich mit C/Vs Lesart „cunning“ im Sinne von „listenreich“ (neutral) übersetzt, falls es auf den Riesen bezogen ist, auch beleidigend (bereits „scheming“ impliziert böse Absichten und die restlichen Varianten sind ebenfalls nicht unbedingt als Kompliment zu verstehen).

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

ihrer Untersuchung67 die Bedeutung des hapax legomenon auf die geistliche Tradition zurück, in welcher das Herz bereits symbolisch für Gefühlsregungen steht und die Rippen hier metonymisch verwendet werden – ein erkaltetes, ein kaltes, gefühlloses, und gerade nach der christlich-biblischen Tradition auch böses Herz. Eine Alternative dazu zeigt von See auf,68 dessen Untersuchung zwei unterschiedliche Traditionen in der Herzdarstellung ausmacht: Die ältere, einheimisch-pagane, in der ein kleines, hartes Herz exemplarisch für Mut steht, da es von wenig Blut durchflossen ist, sowie die jüngere christliche, in der das Herz bereits stärker metaphorisch verwendet wird und, hierin der Darstellung Sprengers sehr ähnlich, Emotionen signalisiert. McKinnell weist zudem darauf hin, dass es für beide Bedeutungen frühere Zeugnisse als die von Sprenger genannten gibt – so würden in skaldischer Dichtung brjóst und hjarta bereits „in transferred, emotional senses“ verwendet (etwa in den im 11. Jahrhundert entstandenen Werken Erfidrápa Haralds harðráða (von Arnórr jarlaskáld, Str. 14,2) sowie der Erfidrápa Óláfs helga (von Sigvatr Þórðarson, Str. 7,4)) – und auch kaldr „in the sense ‚malicious‘, ‚ill-omened‘ in poems which Sprenger accepts as ancient (e. g. Vkv 31,6, Akv. 2,6)“ auftritt, weshalb Sprengers Datierungsargumentation kritisch zu sehen ist.69 Setzt man von Sees ältere, positive Tradition an (und übernimmt von Sprenger die metonymische Funktion der Rippen), stellt sich indes die Frage nach dem Sinnzusammenhang innerhalb der Gnome – es wird nicht ersichtlich, wieso zu große Beredsamkeit/Redseligkeit/Prahlerei70 – ofrmælgi mikil – einem Manne Böses einbringt, wenn er zu einem Mutigen kommt. Wesentlich sinnhafter wird die Formulierung mit der negativ konnotierten Alternative, zumal Bösartigkeit in ihren verschiedenen literarischen Ausprägungen nicht selten mit Jähzorn einhergeht, der auch durch Geschwätzigkeit entfacht werden kann. Sprenger71 verweist überdies ähnlich McKinnell darauf, dass das Adjektiv kaldr an sich bereits in manchen Kontexten als „schlecht“, „bedrohlich“ oder „feindselig“ übersetzt werden kann, was eine solche Interpretation zusätzlich stützt.72 Damit kann die Strophe unter diesen Umständen auch als eine Art Rückzugsgefecht des dreisten Gastes gelesen werden; nicht ohne dass jener mit dem Begriff noch einmal eine letzte Spitze zu setzen vermag. Egal, auf welche der beiden Figuren die Bezeichnung ursprünglich bezogen war; sie passt durchaus sowohl zum Charakter Odins als auch zu Vafþrúðnir, dessen erste Antwort bereits eine Drohung beinhaltet (und vor dessen Macht schon Frigg im Prolog gewarnt hatte73); in der Tat passt sie selbst zum eigentlichen Doppelspiel, das der Ase hier vollführt. Für beide Varianten

67 Sprenger 1985. 68 von See 1978. 69 McKinnell 1994, S. 88. 70 Machan 2008, S. 78. 71 Sprenger 1985, S. 192. 72 Siehe dazu auch Machan 2008, S. 106 f. 73 Str. 2,5.



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der Bezugsperson würde sich daher vielleicht eine Übersetzung des Adjektivs im Sinne von „kaltblütig“ anbieten, was ebenso neutrale (sogar positive) wie negative Konnotation zu besitzen vermag und überdies genau die Berechnung impliziert, die man Odin hier zutrauen kann. Auch das allgemeine Thema der Sentenz ist der Situation angemessen: Sie bezieht sich auf eine Gastsituation mit dem Schwerpunkt auf Gespräch(-igkeit). Zusätzlich bildet der Sinnspruch auch formal ein Bindeglied, da er vom vergleichsweise74 zwanglosen Austausch zur formelhaft-stilisierten Wissensprüfung überleitet. Als Letztes ist nicht auszuschließen, dass die Sentenz durch Vafþrúðnirs vorausgehende Verwendung von þulr als Eigenbezeichnung motiviert ist. In diesem Kontext diente sie dem Zweck, die Gleichwertigkeit mit dem dadurch als – in welcher Art auch immer – besonderem Sprecher oder Wissendem Ausgezeichneten durch formalisierten Sprachgebrauch und/oder traditionelle Weisheit zu bezeugen. Folglich wäre þulr in diesem Kontext als eine Art „Trigger“-Begriff für stark formalisierte Rede anzusehen, insbesondere solche traditionellen, gnomischen oder anderweitig hervorgehobenen Inhalts; oder anders gesagt: Vafþrúðnirs Beanspruchung des Status þulr würde in diesem Fall mannjafnaðr-artig75 gekontert durch Odins Gnome als praktischem Ausweis seiner eigenen Redekunst bzw. seines Wissens. Überhaupt ist an den Dialogszenen Odins mit Vafþrúðnir interessant, dass deren Ausführung sich häufig, und auch außerhalb der reinen Wettkampfsequenz, in das von Clover entwickelte flyting-Muster einfügt: Bereits in der Einleitung und der dortigen Konfrontation der beiden Gestalten (Odins Zweifel an Vafþrúðnirs Klugheit, die darauf folgende Drohung des Riesen, Odin werde die Halle nur wieder verlassen, wenn er der Klügere sei) werden keinerlei Metabemerkungen formuliert, sondern die Herausforderung klar ausgesprochen und direkt mit einer Gegendrohung beantwortet. Dies erinnert an das von Clover beschriebene Muster76 „Claim – Defense – Counterclaim“, wobei das Element der Verteidigung, in dem die Behauptung des Angreifers reinterpretiert und rekontextualisiert wird, entfällt.77 Auch sollte das einleitende

74 Eventuell geht Odins Gastvorstellung, wie erwähnt, auf ein Zeremoniell zurück; seine Herausforderung und Vafþrúðnirs Antwort jedoch kaum. 75 Einen Clovers Theorie ähnlichen Ansatz hinsichtlich Männervergleich und flyting verfolgt Machan (2008, S. 27), der auch in den Heiðreks gátur der Hervarar saga einen mannjafnaðr erkennt. Interessanterweise ist es in den Vafþrúðnismál gerade das Adjektiv kaldrifiaðr, welches der Autor als Element der flyting-Tradition sieht (Machan 2008, S. 27). Dass das Werk selbst, wie Machan (2008, S. 45) unter Rückgriff auf Ejder (1960, S. 7 f., dessen Definition allerdings auf Vigfússons Übersetzung beruht (Ejder 1960, S. 7; C/V, S. 410), nicht auf der weiter gefassten Clovers) anmerkt, keinen reinen mannjaf­ naðr und ebenso keine senna, also kein flyting darstellt, ist offensichtlich; entsprechende Elemente sind aber durchaus vorhanden und werden im Verlauf der Untersuchung noch öfter angesprochen werden. 76 Clover 1980, S. 452. 77 Dies dürfte sowohl der Situation als vor allem auch der unterschiedlichen Zielrichtung (Austausch von Fakten statt Verhandlung von Interpretationen) der beiden Streitsituationen geschuldet sein.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

Wortgefecht nicht mit dem rätselspielartigeren Wettstreit per se gleichgesetzt werden, selbst wenn es sich bei beidem um eine konfrontative Szene handelt. Das allgemeine Muster des Vafþrúðnismál-Dialogs ähnelt ebenfalls in Vielem dem von der Autorin beschriebenen Schema:78 Es findet zwischen einem unbekannten Gast und einem Ansässigen innerhalb eines Hauses statt und beginnt mit einer Schwellensituation, in der sich der Ankömmling sehr bald identifiziert. Zur Identifikation – in diesem Fall mittels Alias-Namen, wie häufig bei Odin – kommt es dabei direkt (oder auch: erst) nach der Herausforderung des Riesen durch den wandernden Gott. Sie entspricht damit Clovers Beobachtung, dass die Begrüßung zwar höflich sein kann, häufiger jedoch eine Provokation beinhaltet.79 Angesichts der diversen Ähnlichkeiten zum heroischen Männervergleich sowie eingedenk dessen, dass Odin aller Wahrscheinlichkeit nach auch der fimbulþulr der Hávamál ist, könnte man bei der Begegnung des Asen mit Vafþrúðnir daher vielleicht sogar von einer Art *þuljafnaðr sprechen. In jedem Fall handelt es sich hier um den performativen, kompetitiven und dialogischen Vergleich zweier mythisch-mächtiger, weiser Autoritätsgestalten.

2.2.1 Der Wissensdialog Um nun zum eigentlichen Wissensdialog zu kommen, bietet sich als Erstes ein Blick auf die formalen Gegebenheiten an. Auf verschiedenen Ebenen sind Elemente des Texts gebunden: Im Ganzen ist das Gedicht durch die Rahmenhandlung von Odins Reise geschlossen, auch wenn dieser Strang nach dem Ende des Wettstreits nicht wieder aufgenommen wird; immerhin erfolgt durch den Ausgang aber eine Antwort auf Odins ursprünglichen Wunsch, zu erfahren, wie viel Vafþrúðnir denn wisse, sodass eine erneute Schilderung im Setting Asgards als unökonomisch angesehen werden könnte. Eine direkte Verknüpfung von Göttergespräch und Binnenhandlung existiert ebenfalls: Bereits in seinem Gespräch mit Frigg verwendet der Gott eine der Formeln, welche er später auch bei der Befragung Vafþrúðnirs einsetzt: Fiolð ec fór,

fiolð ec freistaða,

fiolð ec reynda regin; (Str. 3,1–3)80

78 Clover 1980, S. 447 ff. 79 Clover 1980, S. 450. 80 Während Machan (2008, S. 98) Jónssons Lesart mit einem Beiklang der Art: „noch niemals bin ich jemandem wie Dir begegnet“, zitiert, also eine Anerkennung des riesischen Gegners, scheint mir durchaus berechtigt, auch das Gegenteil herauszulesen, also eine Zurschaustellung von Odins Wissen



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Und auch hier steht diese direkt im Zusammenhang mit Wissen (wenn auch in ebendieser Strophe genau genommen nur über dessen Wohnsitz): hitt vil ec vita,

salakynni sé

hvé Vafðrúðnis

(Str. 3,4–6) Odins vorausgehende Strophe referenzierte jedoch sowohl fornom stǫfom als auch den alsvinna iotun (Str. 1,5 f.), also Inhalt und Autorität, und Friggs folgende Antwort benennt Bereich (œði) und Mittel (orðom mæla, Str. 4,4 und 4,6). Gemäß Ruggerini handelt es sich bei letzterem Ausdruck überdies aufgrund des Dativs um einen Wortwechsel mit der spezifischen Bedeutung „to discuss heatedly“ bzw. „to conduct a verbal struggle“, der im Gegensatz zum Akkusativ, etwa in orð kveða, steht, welcher im Ganzen neutrale Bedeutung („Worte sprechen“) sowie ein tautologisches Moment aufweise.81 Der kompetitive Aspekt wäre mit ihrer Lesart also bereits im Prolog eingebracht und damit die Richtung des folgenden Texts festgelegt. Während diese Deutung für die Vafþrúðnismál alleine durchaus plausibel scheint, ist die als direkte Parallele herangezogene Strophe der Hávamál in ihrer Auslegung problematischer82 und auch

(Wissen und Reisen bzw. das Verlassen des Heims waren eng verknüpft; Ruggerini 1994, S. 146; vgl. auch heimskr als pejorativer Terminus für das Gegenteil). Ruggerini erkennt gar einen feierlichen Ton, stelle sich Odin hier doch als „inquisitor of the celestial beings“ dar (Ruggerini 1994, S. 146). Im Dialog mit Frigg erscheint die Phrase als Mischung aus Beruhigung (der Gott als erfahrener Wissenssucher) und Motivationsdarlegung für den geplanten Besuch bei Vafþrúðnir, während die spätere formelhafte Verwendung im Streitgespräch die letzte, wichtigste Fragesequenz einleitet, welche zudem eschatologische Thematik bemüht, womit ein „solemn tone“ durchaus angemessen wäre. Zur Fiolð ec fór-Formel s. weiterhin Ruggerini 1994, S. 161 f., die nahelegt, dass die Formel so eng Odin zugeordnet war, dass deren Verwendung im Wissenswettstreit gleichsam einen Hinweis bzw. eine Herausforderung zur Enttarnung darstellt. 81 Ruggerini 1994, S. 162 ff. 82 Hávamál Str. 104,4 f.: mǫrgom orðom / mælta ec í minn frama. Ruggerini vermutet hier aufgrund der Darstellung ein Zwiegespräch and certainly one whose outcome would be binding, whether it is thought of as developing into a senna/mannjafnaðr or according to the rules of a wisdom contest. The god’s opponent is the giant Suttungr, who is described as ancient, and therefore wise. We may suppose that through this verbal contest Óðinn gains the trust and admiration of the giant’s daughter Gunnlǫð […]. (Ruggerini 1994, S. 164) Von einer solchen Art des Austauschs ist allerdings nirgendwo im eddischen Text die Rede: Es gibt überhaupt keine Angaben über die Form – und diese Deutung vernachlässigt zudem den unmittelbaren Strophenkontext: Bereits in Str. 103 der Hávamál wird betont, wie wichtig Gesprächigkeit  – vielleicht auch Beredsamkeit? – ist (minnigr oc málugr, / ef hann vill margfróðr vera, / opt scal góðs geta, Str. 103,4 ff.), und in Str. 104 geht dem Beleg direkt die Aussage voraus: fát gat ec þegiandi þar (Str. 104,3).

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

die postulierte Riesenparallele83 sowie die hinzugezogenen analogen Konstruktionen sind nicht gänzlich tragfähig,84 sodass nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei dieser spezifischen Bedeutung eher um eine aus der Textkenntnis geborene Interpretationsleistung der Autorin handelt. Im Ganzen scheint es mir unproblematischer, die neutralere, wörtliche Bedeutung von orðom mæla anzusetzen. Mit beiden Lesarten wird indes die Rahmenerzählung nicht nur inhaltlich, sondern auch formal mit dem zentralen Wissenswettstreit vernetzt.85 In der eigentlichen Handlung des Wettstreits dominieren dann formelhafte Einleitungen des jeweils Fragenden.86 Der Antwortende nimmt wiederum nicht selten Elemente der vorhergegangenen Frage wieder auf:

In diesem Umfeld wirkt es für mich erheblich wahrscheinlicher, dass das orðom mæla der Vafþrúðnismál mit der in Hávamál Str. 103 gelobten, relativ neutralen Redseligkeit – für die mǫrgom orðom mæla zudem als direkte Paraphrase gelesen werden kann –, möglicherweise auch Eloquenz, in Verbindung steht, welche durch den ausdrücklichen Kontrast des erfolglosen Schweigens in Str. 104 noch einmal betont wird. Dass hierbei irgendeine Art Formalisierung oder offene Aggression hineinspielen würde, ergeht aus dem Text ebenfalls nicht. 83 Ob jeder „alte“ Riese („weise“ wird Suttungr im Text nicht genannt, jedoch ist bei Vafþrúðnir diese Verbindung problemlos zu ziehen) automatisch als Teilnehmer in einem Wissenswettstreit fungiert, ließe sich ebenfalls fragen, zumal auch in den Skáldskaparmál (Faulkes 1998, S. 4 f.) nicht berichtet wird, dass sich Suttungr derartig betätigt hätte – hier gerät Odin nicht einmal in direkten Dialog mit der Figur. Die Handlung weicht dort allerdings generell von der der Hávamál ab. (Zur Frage von Snorris Anteil an diesem Mythos s. Simek 1995, S. 387 f.) 84 Alternativen, welche Ruggerini für das Auftreten von orðom mit einem „verb of action“ (Ruggerini 1994, S. 164) anführt, sind, neben zwei neutralen Verben, Termini, die auch für Elemente physischen Kampfs verwendet werden, nämlich „bregða […]; hǫggva […]; verpa“ sowie zwei, die Verbalaggression denotieren, saka und senna (Ruggerini 1994, S. 163 f.). Da die meisten dieser Verben somit eine offensive Komponente bereits in sich tragen, ist es auch etwas fraglich, inwieweit von diesen aus auf die Bedeutung von mæla geschlossen werden kann, wie die Autorin es tut (Ruggerini 1994, S. 165). Ihre Aussage, dass mæla ursprünglich „formal speech of a legal or ritual kind before an assembly“ bezeichnet habe, würde, zuletzt, gewisse Anknüpfungspunkte für eine eventuelle frühere Verbindung zu zumindest formalisierter Sprache in einer dem Alltagsleben enthobenen Situation bieten; auch wenn eine Publikumsmenge in den Vafþrúðnismál nicht vorhanden ist. Leider enthält Ruggerinis Darstellung aber keine Belege (Ruggerini 1994, S. 165) und beispielsweise LF/T (S. 187) oder auch S/G 2 (S. 705 f.) verzeichnen keine Anhaltspunkte für eine solche Verwendung; selbst de Vries (1962, S. 399) führt eine solche Urbedeutung nicht an. Ganz abgesehen davon lassen Ausdrücke wie verpa orðom überlegen inwieweit der Verbalkampf ein etabliertes Pendant zu dem mit Waffen bzw. allgemeiner körperlichem Kräftemessen, dargestellt haben mag, was hier aber nicht weiter verfolgt werden soll. 85 McKinnell sieht gerade diese Wiederaufnahme als gezielte Wiederholung Odins an, ein „piece of bravado, asserting his own security while coming perilously close to revealing who he is“ (McKinnell 1994, S. 99) – auch dies passte gut zur möglichen Selbstbeschreibung Odins als kaldri­ fiaðr. 86 Gunnell weist in seiner Untersuchung dramatisch-performativer Elemente in der eddischen Dichtung auf die direkte Anrede des Gegenübers in der stereotypen Frage hin (er ordnet sie als „partial context marker“ ein), welche die Sprecher- und Rezipientenzuordnung in einer Performanz ermög-



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[Vafþrúðnir] „Segðu mér, Gagnráðr, allz þú á gólfi vill þíns um freista frama, hvé sá hestr heitir, er hverian dregr dag of dróttmǫgo.“ [Odin/Gagnráðr] „Scinfaxi heitir, hesta beztr

er inn scíra dregr dag um dróttmǫgo; þyccir hann með Hreiðgotom, ey lýsir mǫn af mari.“ (Str. 11 f.)87

Inwieweit diese Wiederaufnahme nicht nur formelhaft ist, sondern darüber hinausgehende Funktionen besitzt  – etwa mnemotechnische, bestätigende oder emphatische Wirkung oder auch den Zweck, Zeit für die Antwort zu gewinnen – kann nicht abschließend beantwortet werden. Dass Formeln per se mnemotechnischen Nutzen haben, ist bekannt und sowohl Betonung wie auch eine bestätigende Wiederholung des Gehörten (etwa, um nicht aufgrund eines Verständnisfehlers die falsche Antwort zu geben) wären im vorliegenden Rahmen begründet. Dem Zweck zeitlichen Aufschubs hingegen läuft zuwider, dass in den Vafþrúðnismál gerade bei onomastischen Fragen die Lösung, also der Name, meist bereits das erste Element der Antwort ist (vgl. Str. 12,1: Scinfaxi heitir […]), dem die eigentliche Repetition oder Formel folgt, eine „Denkpause“ daher nicht nötig wäre, da mit diesem Teil der Antwort die Anforderungen des Gegners eigentlich bereits erfüllt sind. Dies führt gleich zu einem weiteren Merkmal der Antworten, nämlich, dass jene nie nur ausschließlich das umfassen, was erfragt wurde. Dies trifft immer nur auf deren erste zwei bis drei Zeilen zu. Die folgenden Verse hingegen dienen als Erweiterung, in der zusätzliche Informationen vermittelt werden. Dies ließe sich auch als eine Art amplificatio deuten und stünde damit in der Tradition antiker Rhetorik. Folgt man der späten Datierung der Vafþrúðnismál auf das 12./13. Jahrhundert nach Simek/Pálsson, böte sich damit ein weiteres Argument für ein derartiges, deutlich von der mittelalterlich-lateinischen Gelehrsamkeit beeinflusstes Verfassungsdatum. (Allerdings scheinen mir auch viele Argumente für ein

licht und von Odin in der Frageformel der abschließenden Sequenz nicht mehr verwendet wird, sowie auf die Betonung der physischen Position (Gunnell 1995, S. 275 f.). 87 Fettdruck von mir [KRMT].

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früheres Schöpfungsdatum nicht von der Hand zu weisen zu sein. Daher wird, wo sinnvoll, auch diese Variante berücksichtigt.) Eine andere, gerade in diesem Kontext mindestens ebenso stichhaltige und vom Entstehungsdatum unabhängige Erklärung wäre indes, dass es sich bei diesen Zusatzinformationen um einen prahlerischen Effekt handelt, indem der Befragte sein enormes Wissen zur Schau stellt und demonstriert, dass es noch weit über die Frage hinausgeht. Auch hier kann man sich wieder an den mannjafnaðr erinnert fühlen: an das Bestreben, dem Gegner zu beweisen, dass man ihn übertrifft. Der Dialog selbst zeigt dann weniger ein im skaldischen Sinne künstlerisches, artifizielles Formstreben als eine geradezu „natürlich“88 erscheinende didaktische Ausprägung des Zwiegesprächs, in der die Frageformeln89 Odins außerdem sehr häufig explizit Fähigkeit oder Wissen des Befragten thematisieren bzw. in Zweifel ziehen (Segðu þat (iþ) [Ordinalzahl], / ef þitt œði dugir / oc þú, Vafðrúðnir, vitir (Str. 20, 22), Segðu þat iþ [Ordinalzahl], / allz þic [svinnan/fróðan] qveða / oc þú, Vafðrúðnir, vitir, (Str. 26, 28), allz þú tíva rǫc90 / ǫll, Vafðrúðnir, vitir, (Str. 38,2)). Wobei dies sicher auch der allgemeinen kompetitiven Gesprächssituation geschuldet ist, ist der Wissenswettstreit ja genau das, was der Ase hier ausdrückt, strukturelles und performatives Infragestellen der Fähigkeit des Gegners.91 Im Textgefüge erfüllen die Frageformeln Odins ebenfalls eine Funktion, denn sie knüpfen sowohl an seine im Prolog gegenüber Frigg geäußerte Motivation an als auch immer wieder an den formalen Rahmen (gegenseitige Prüfung) sowie, mittels

88 Die Problematik dieser Begrifflichkeit ist mir bewusst. Hier wird „natürlich“ im weiteren Sinne einer gemäß der oral poetry theory durch langes Lernen internalisierten „poetischen Grammatik“ verwendet, in der kohärenter, verständlicher, informativer rhythmischer Textfluss Priorität über hyperkomplexe Metrik und hochelaborierte Metaphorik erhält, wenn auch beide Aspekte – auf einem funktionelleren Niveau – ihre Bedeutung haben. 89 Dabei ist die Varianz in den Formeln v. a. metrischen Gegebenheiten geschuldet (Alliteration der Zahlwörter, s. Machan 2008, S. 84). De Vries nennt „Segðu mér eller en Variation deraf“ sogar die meistgebrauchte in den von ihm als Kategorie des Frage-Antwort-Wissensdialogs ausgewiesenen Werken, darunter die Vafþrúðnismál, Alvíssmál, Svipdagsmál sowie Fáfnismál (de Vries 1934, S. 55). 90 Hierzu Machan 2008, S. 92: „Óðinn begins to refer to Vafþrúðnir’s knowledge of tíva rǫc ǫll, when the nature of the questions turns from cosmogonical to eschatological. The alteration is in a sense the poet’s rather than Óðinn’s, for Óðinn does not in fact ask about the Ragnarǫk, though it does figure in Vafþrúðnir’s answer“. Allerdings erscheint tíva rǫc in der Fragesequenz nur zweimal insgesamt (in den Strophen 38 und 42; Str. 40 hingegen ist unvollständig (wenn auch in R nicht physisch beschädigt) und nur der erste Teil der Frageformel mit der Ordinalzahl erhalten). Str. 38 thematisiert Njǫrðrs Herkunft und genau genommen findet sich erst in der Antwort Vafþrúðnirs ein eschatologisches Moment. 91 Das Formelhafte zeigt sich hier gleichfalls in einer der Wendungen: œði þér dugi äußert auch Frigg gegenüber Odin (Str. 4,4), hier allerdings als Wunsch für den Wettstreit. Die Formel allz þic fróðan qveða / oc […] vitir/vita ist überdies, wie bereits angemerkt, nicht auf die Vafþrúðnismál beschränkt, sondern findet sich auch in den Fáfnismál (etwa in Str. 12,2 und 14,2), also ebenfalls in einem Wissensdialog.



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des Konditionalsatzes, an die direkte Konkurrenzbeziehung zum Riesen. Durch das In-Zweifel-Ziehen der Fähigkeiten stellt der Gott zudem Vafþrúðnirs Status als Weiser generell infrage – explizit in den ef þitt … dugir- und impliziter in den oc þú … vitirPhrasen. Dies erinnert erneut an die bereits erwähnten Charakteristika eines mann­ jafnaðr bzw. flyting nach Clover, in diesem Fall speziell an das Herabsetzen des Gegenübers, gerade auch durch die der Aufzählung eigener Großtaten folgende Frage, ob der Gegner denn Ähnliches geleistet habe (mit der Implikation, dass dies natürlich nicht der Fall ist). Auch in anderer Hinsicht sind die einleitenden Formeln der Fragenden interessant, da einerseits Relevanzen erkennbar werden – Vafþrúðnir wird nicht als Fürst, Hallenherrscher oder dergleichen angesprochen, sondern es geht rein um geistige Kompetenz. Andererseits fällt ins Auge, dass der Riese im Unterschied zu Odin ein ganz anderes Merkmal ins Spiel bringt, nämlich die spatiale Position. Odin will „vom Flur aus“ (af gólfi, Str. 9,2, á gólfi in Str. 11,2; 13,2, 15,2 und 17,2) seine Fertigkeiten erproben. Dies deutet auf eine Art impliziten Status hin, auch angesichts der Prominenz, welche die Position des Asen in mehreren Teilen des Texts besitzt: Der Gott ist der unbekannte bzw. nur (deck-)namentlich bekannte Gast, der anfangs noch keinen Platz innehat – und wohl auch nicht innehaben will; immerhin hatte ihn Vafþrúðnir bereits vor Beginn des eigentlichen Wettstreits eingeladen, sich „zu einem Sitz zu begeben“: Hví þú þá, Gagnráðr, mæliz af gólfi fyrir? farðu í sess í sal! (Str. 9,1–3) Gólf ist hier also direkt mit sess (í sal) kontrastiert. Dass der Riese in seiner anschließenden Frageformel immer noch den Flur, nicht aber den Sitz erwähnt, weist darauf hin, dass sein Gegner der Einladung nicht nachgekommen ist.92 Mehrere Gründe können dafür angesetzt werden. Am naheliegendsten ist wohl die Vorsicht des reise- und gefahrkundigen Gottes, den Äußerungen seines Kontrahenten nicht unkritisch Folge zu leisten, sei es aus taktischen Überlegungen, etwa für einen schnellen Rückzug, oder auch, um etwaige Fallen seines Gastgebers zu vermeiden. Hier bestünde allerdings ein gewisser Kontrast zum Verhalten des Asen in den Grímnismál, wo Odin den ihm zugewiesenen, negativ besetzten Platz zwischen zwei Feuern einnimmt und trotz starker physischer Belastung tagelang beibehält, ohne sich in irgendeiner Form zu wehren. Andererseits besucht der Ase in jenem Gedicht auch die Halle seines menschlichen Ziehsohns und nicht die eines rammr Riesen, und die Gründe dafür unterscheiden sich ebenfalls. Zudem kann er sich seiner Über-

92 So auch Ruggerini 1994, S. 169.

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legenheit bei Geirroðr sehr sicher sein, während das, angesichts Friggs Warnung, für den Besuch bei Vafþrúðnir nur bedingt gewährleistet ist. Unmittelbare Vergleichbarkeit scheint somit nicht gegeben. In einem vollkommen anderen Kontext bewegt sich in puncto Position Gunnell, der einmal mehr auf die performative Seite des Texts abhebt und in den Raum stellt, ob eine Rolle gespielt haben könne, dass der Vortragende für das Publikum besser zu sehen gewesen sei, wenn er stehen blieb.93 Solche externen Gründe lassen allerdings die Frage aufkommen, wieso das Nicht-Sitzen Odins dann im Text derart extensiv von Vafþrúðnir thematisiert wird, sodass es mir naheliegender erscheint, für das Verhalten der Figur auch inhaltliche Gründe und Relevanz, wie oben erwähnt, anzunehmen. McKinnells These schließlich, dass sich Odin durch seine Weigerung konkret den Spielregeln des Riesen und damit der davon ausgehenden Bedrohung entzieht, wirkt nicht vollständig schlüssig, da der Wettstreit ja durchaus stattfindet und der Riese dabei auch weiterhin die Bedingungen diktiert.

2.2.2 Exkurs: Vafþrúðnir und Namen Vergleicht man die nun folgenden Frage-Antwortkomplexe der beiden Widersacher, wird ersichtlich, dass sie sich bei durchgängig gleichem Metrum beträchtlich unterscheiden. Dabei fallen besonders die inhaltlichen Differenzen auf: Im Gegensatz zu Odins mehrthematischen Fragen sind Vafþrúðnirs Prüfungen trotz unterschiedlicher thematischer Bereiche ausschließlich und explizit onomastisch (hvé sá/sú … heitir) und erreichen damit nicht die Komplexität der Fragen des Gottes. Ihr spezifischer Gegenstand ist beim Riesen dabei ätiologisch (die mit Naturereignissen94 verbundenen Pferdenamen, Str. 11 und 13), kosmologisch/geographisch (der trennende Fluss, Str. 15) und eschatologisch (Ort des Kampfs zwischen Surtr und Asen, Str. 17).95 Gerade aufgrund des Variantenreichtums der Äußerungen seines Gegenspielers fällt die Namensfixierung Vafþrúðnirs besonders ins Auge. Dies nicht zuletzt, da „der alte Thul“ auch in seiner späteren Prüfung durch den Asen sogar auf nicht explizit onomastische Fragen teilweise immer noch an erster Stelle den Namen des verbundenen Wesens oder Objekts nennt. So etwa, wenn er auf Odins Frage nach der Herkunft

93 Gunnell 1995, S. 280. 94 McKinnell (1994, S. 93) ordnet alle Fragen des Riesen Naturphänomenen zu, Str. 15, „presumably because giants are thought of as the patrons of natural forces“ sowie Str. 17, da Surtr „the ultimate representative of a natural force, namely fire“ darstellt. 95 Hierbei macht McKinnell (1994, S. 170) darauf aufmerksam, dass die zeitlichen Referenzpunkte der Fragen denen des eigentlichen Wettstreits gleichen: „from hinting at an event in the remote past which has consequences and perpetuates itself in the present […] we pass on to a situation which concerns the present of the gods and guarantees their security […], and finally come to the mention of a place whose purpose will become clear only in the distant future“.



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des Mondes (hvaðan,96 Str. 22,4) antwortet Mundilfœri heitir  … (Str. 23,1), was exakt dem Antwortmuster Odins auf onomastische Fragen entspricht; ebenso in Str. 24 f. und Str. 26 f.97 Es ist verlockend, hier eine Verbindung zur nafnaþula zu sehen und sich zu fragen, inwieweit die Namenskunde ein zentrales, bestimmendes Charakteristikum eines þulr dargestellt haben könnte; ebenso, wie zu überlegen, ob es sich bei derartigen þulur dann eventuell um eine Art auf den Namen konzentrierter narrativer (mythologischer) Inventare handelt, welche der þulr als kulturelles Gedächtnis bewahrte.98 In dieser Hinsicht stünden die Namen in den þulur funktionell grob in der Nähe mythologischer Kenningar, die gleichfalls bestimmte Narrative evozieren.99 Beweise dafür liefert der Text jedoch nicht, und in der Untersuchung der weiteren Werke wird noch zu sehen sein, dass das onomastische Element in keinem anderen Text so zentral ist

96 Zur strukturellen Unterteilung anhand der Fragepronomen s. auch Ruggerini 1994, S. 182 f. 97 Diese Kombination erscheint gleichfalls in den Grímnismál häufiger, dort etwa in den Str. 4, 7, 8, 11 etc., tritt also im Kontext derartiger Wissensdichtung mythologischen Inhalts des Öfteren auf. Ebenso in den Alvíssmál, etwa in Str. 10, 12, 14 etc., wobei dort zuvor auch explizit nach dem Namen gefragt wird (hvé sá/sú/þat/þau/ … [Objekt(e)] heitir/heita …). Vafþrúðnir beantwortet aber andererseits auch nicht alle hvaðan-Fragen mit der „[Name] heitir“Formel: Str. 21, Str. 31 (beide mit der Kombination ór + [Name]) sowie Str. 39. (í + [Name]) und Str. 47 (eina dóttur / berr + [Name]) sind anders aufgebaut. Wobei aber auch in diesen vier Beispielen immer in der ersten Langzeile ein Name genannt wird; hvaðan hier also offenbar eine namentliche Antwort wenigstens begünstigt. Interessanterweise reagiert der Riese zudem im ersten Teil sogar auf eine Frage, in der direkt und spezifisch nach einer Person gefragt wird, nicht mit der Namensformel, und zwar auf hverr ása elztr / eða Ymis niðia / yrði í árdaga (Str. 28,4–6). Hier beginnt Vafþrúðnir seine Erwiderung mit einer Beschreibung der (Ur-)Zeit, die diesem Wesen zugeordnet ist, um dann erst den Namen zu nennen: Ørófi vetra, / áðr væri iorð scǫpuð, / þá var Bergelmir borinn (Str. 29, 1–3). In den späteren Antworten, nach dem Wechsel der Frageformel Odins, kommt die „[Name] heitir“-Formel dann überhaupt nicht mehr vor; erneut nicht einmal bei expliziten Fragen nach Figuren, etwa bei: hvat lifir manna, / þá er inn mæra líðr / fimbulvetr með firom (Str. 44,4–6). Zwar nennt Vafþrúðnir in seiner Replik die Namen, die heitir-Formel wird aber nicht verwendet: Str. 45,1–3: Líf oc Lífðrasir, / enn þau leynaz muno / í holti Hoddmimis. Gleichermaßen in Str. 51,1–3: Víðarr oc Váli / byggia vé goða, / þá er slocnar Surtar logi; als Antwort auf Str. 50,4–6: hverir ráða æsir / eignom goða, / þá er slocnar Surtar logi? In beiden Fällen beinhaltet die Antwort allerdings gleich zwei Figuren, sodass das Entfallen von heitir vielleicht auch auf metrische Gründe zurückgeführt werden kann. Vollkommen stereotyp sind die Reaktionen des Riesen also nicht, wenn auch vor allem die Häufung der Namen hervorsticht. 98 Zu þulur auch Fleck: „Die þula ist unbestreitbar eine Wissensaussage; da sie aber keine Spuren eines Rahmens aufweist, kann sie nicht zur Erzählform gerechnet werden. Ihr Inhalt läßt sich aber mit dem der Begegnungsaussage vergleichen“ (Fleck 1968, S. 141). 99 S. dazu beispielsweise die Liste der Goldkenningar bei Meissner (1921, insb. S. 227 f.) und vor allem von Sees Darstellung, wie die Kenningwahl weiterführende Informationen über das bezeichnete Objekt konnotativ vermittelt, bis hin zu einem moralischen Urteil (von See 1999, S. 212 f.).

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wie in den Vafþrúðnismál, was diese Möglichkeit eher unwahrscheinlich, auf jeden Fall aber unbeweisbar macht. Voraussetzung für eine solche These wären darüber hinaus eine frühe Datierung der Vafþrúðnismál in Verbindung mit der Annahme, dass sich der þulr im Laufe der Zeit von einem ebensolchen in traditionellem Wissen bewanderten „offiziellen“ bzw. institutionalisierten oder auch nur sozial spezifizierten Redner fortentwickelte, dessen Bedeutung in dem Maß schwand, in dem das traditionelle Wissen abnahm oder an gesellschaftlicher Bedeutung verlor. Zu einem gewissen Grade entspräche dies durchaus Vogts Darstellung, allerdings ohne die für jenen zentrale kultische Situierung. Und ebenso wie dessen Theorie leidet auch diese an einem Mangel an Beweismaterial. Es bieten sich immerhin auch andere Gründe für Vafþrúðnirs augenfälligen Hang zu „mere names“, im Gegensatz zu Odins Interesse an „origins rather than names“.100 Dies könne nach McKinnell einerseits dem Wunsch des Dichters geschuldet, sein, den Riesen als selbstgefällig und oberflächlich zu zeichnen,101 andererseits den alten Glauben an die Macht, welche die Namenskenntnis über das damit Bezeichnete verleiht, zur Basis haben.102 Prüft er auch ausschließlich das Wissen um Namen, wird an Vafþrúðnirs Antworten dabei dennoch ersichtlich, dass, obwohl nur Odin nach mythischen Ursprüngen fragt, der Riese mit diesen ebenfalls, und sogar detailliert, vertraut ist. So bleibt letztlich offen, ob die Motivation der Figur zu dieser eher einseitigen Konzeption der Äußerungen, insbesondere der Fragen, in mangelndem Können oder fehlendem Willen begründet liegt – etwa wegen Unterschätzung des Gegners –, die wiederum durch die Tarnung Odins zu erklären wäre.103 Die beiden Kontrahenten haben außerdem abweichende Perspektiven (Riese und Gott) sowie unterschiedliche Motivationen; dies gilt insbesondere, wenn man McKin-

100 McKinnell 1994, S. 95; Vafþrúðnir werde in diesem Fall als arrogant, aber ohne wirkliches Verständnis der Welt dargestellt, so der Autor: „an empty parade of knowledge without wisdom“. 101 McKinnell 1994, S. 94; auch de Vries sieht die Wahl von Fragen „nur nach totem Wissen“ dadurch motiviert, die Unterlegenheit des Riesen zu illustrieren (de Vries AR 1, S. 244). 102 Er verweist (wie auch Machan 2008, S. 77) auf die Fáfnismál: „þat var trúa þeira í fornescio at orð feigs mannz mætti mikit, ef hann bǫlvaði óvin sínom með nafni – ‚it was believed in ancient times that a dying man’s word was of great power, if he cursed his enemy by name‘. The same belief may be reflected in those runestones on which the betrayer or murderer of the commemorated man is named, e. g. the eleventh-century Söderby Stone, Uppland, Sweden (U954) on which a man named Sassurr is accused of betraying his comrade […]“ (McKinnell 1994, S. 94). 103 Ähnlich Machan 2008, S. 45, wobei die dort erwähnten Einschätzungen von de Vries („characterizes Vafþrúðnir’s knowledge as limited to a disjointed series of mythological facts“) und Jónsson („contrasts Óðinn’s genuine wisdom and intellectual vision, delivered in an elegantly calm voice, with Vafþrúðnir’s self-confidence, intellecual inflexibility, and sterile command of past and future events“) nicht völlig unproblematisch scheinen, da diese von den Fragen des Riesen direkt auf dessen Wissen zurückschließen, wobei jedoch auch textintern durchaus andere Gründe für seine Ausdrucksform denkbar sind – wie Jónssons „self-confidence“ bereits andeutet.



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nells Theorie folgt, derzufolge Odin in seiner Reise nicht so sehr Wissen erwerben als vielmehr sein Schicksal auf die Probe stellen will.104 Für den Riesen handelt es sich dann um die Konfrontation mit einem mehr oder weniger lästigen (tragisch unterschätzten) Gegenspieler. Für Odin hingegen ist es eine Episode, bei der es gleich in mehrerer Hinsicht um Leben und Tod geht: um den Tod im Wettkampf, im Gegensatz zu dem bei Ragnarök, und damit im Endeffekt um die Frage nach der Unveränderlichkeit des Schicksals – des Untergangs der gesamten Welt. Beide Theorien – „leere Namen“ als Zeichen der Arroganz sowie der hohe Stellenwert von Namen (als Symbol der Macht) – sind also begründet. Eingedenk der Tatsache, dass der Riese auch nach der Anfangsbefragung Odins noch des Öfteren die Namensformel einsetzt, was sich als Indiz für Relevanz oder Gewohnheit lesen lässt, scheint mir die zweite hier noch minimal angebrachter zu sein. Setzt man für das Gedicht zusätzlich ein frühes Entstehungsdatum an, ließe sich hierin noch ein Argument für einen Einfluss des angesprochenen archaischen Namensglaubens finden, und zuletzt könnte auf dieser Basis noch die Brücke zum Adjektiv rammr in magisch-mächtiger Bedeutung geschlagen werden: Eine große Namenskenntnis, die in ebenso großer Macht über die Schöpfung resultiert, verliehe Friggs Warnung vor dem Riesen, dem keiner iafnramman sei, merklich stärkere Durchschlagskraft und würde zugleich durch Vafþrúðnirs Formulierungen im Wettstreit nachträglich bestätigt. Es ist allerdings nicht abzustreiten, dass auch bei dieser Lesart mit einer erheblichen Menge an Annahmen gearbeitet werden muss. Gleichermaßen ließe sich schließlich in den Raum stellen, dass auch die Erklärung, Vafþrúðnir nutze im eigentlichen Wissenswettstreit ebenfalls die Form, weil er selbst dann seinen Gast noch nicht für voll nimmt, nicht gänzlich zu widerlegen ist. Zwar zeigt die Einladung des Riesen auf seinen Sitz an, dass Odin einen Aufstieg erfahren hat, aber ob dies zur vollen Akzeptanz als komplett ebenbürtiger Kontrahent ausreicht, bei dem derartig demonstrative Nachlässigkeit nicht (mehr) angebracht ist, steht außerhalb der Beweisbarkeit. Indes: Dass der þulr Vafþrúðnir in jedem Fall, also auch ohne die spezifisch archaischen Implikationen umfangreicher Namenskenntnis, ein gefährlich mächtiges Wesen ist, bekräftigt bereits der Prolog.

104 McKinnell 1994, S. 98 ff. Dies wird in Kürze noch ausführlicher diskutiert werden. Ruggerini (1994, S. 156) sieht in den Vafþrúðnismál einen „thematischen Nukleus“ den man in gewissem Sinne sogar als „formelhafte Erzählstruktur“ ansehen könne. Einen bereits existierenden Mythos, auf dem das Gedicht aufsetzt, hält sie für unwahrscheinlich, die Vafþrúðnismál seien „a literary episode which uses mythological schemes and characters“. Dies schließt McKinnells Deutung nicht aus, reduziert sie aber auf die literarische Ebene und trennt sie von Fragen eines eventuell mythischkultischen Ursprungs – was angesichts der Beleglage durchaus sinnvoll scheint.

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2.2.3 Einladung und Statuserhöhung Nachdem Odin die Fragen Vafþrúðnirs erfolgreich beantwortet hat, spricht dieser die Einladung auf seinen eigenen Sitz aus: Fróðr ertu nú, gestr, far þú á becc iotuns, oc mælomc í sessi saman! hǫfði veðia við scolom hǫllo í, gestr, um geðspeki. (Str. 19) Auch hier findet sich also wieder eine Orientierung im physischen wie sozialen Raum. Das Vordringen (bzw. die Einladung dazu – ob Odin diese annimmt, wird erneut nicht erwähnt) des Fremden in seiner Halle und zur erhöhten, dem Herrscher gleichen Position bedeutet einen weiteren Statuswandel. Odin bewegt sich also von der Türschwelle zum gólf,105 wird í sess í sal eingeladen (dem er nicht nachkommt) und zuletzt á becc iotuns. Der „Aufstieg“, der damit einhergeht, ist deutlich erkennbar und man kommt kaum umhin, auch an andere Dichter-/Sprecherpositionen106 zu denken, die explizit herausgestellt werden; am bemerkenswertesten hier wohl die von Unferð, dem þyle Hroðgars im Beowulf, der zu Füßen des Herrschers sitzt und von dort den eben angekommenen Protagonisten herausfordert. In all diesen Bewegungen Gagnráðrs bleibt für den textexternen Rezipienten letztlich aber auch immer eine unterschwellige Ironie gewahrt: ist die Gestalt, die sich hier so allmählich, und auf gnädige Veranlassung des Riesen, mühsam im Ansehen emporarbeitet, doch der höchste Gott des Nordens. Aus dem szenischen Kontext (fróðr ertu nú) heraus lässt sich zudem fróðr107 nun etwas näher deuten, und zwar als „an verbal zu vermittelndem Wissen voll qualifi-

105 Teils wird gólf auch selbst als „Schwelle“ übersetzt, allerdings eher in anderen Kontexten: s. LF/T, S. 89. 106 Machan (2008, S. 39) erkennt in der Darstellung der Position bzw. Bewegung eine „distinctly theatrical quality“. Das ist einerseits zutreffend, andererseits vielleicht etwas zu sehr vom modernen Standpunkt aus gedacht, auch wenn er an dieser Stelle auf Phillpotts’ Theorie eddischer Ritualdramen (Phillpotts 1920) verweist. Mit Sicherheit sind Positionsänderungen dramatisch gut umsetzbar. Daraus aber, wie Phillpotts, direkt auf eine dramatische Konzeption zu schließen, lässt außer Acht, dass auch in eindeutig nicht-dramatischen Texten bestimmte Punkte an/innerhalb bestimmten/r Örtlichkeiten signifikant sind, wie etwa der Fürstensitz in der Halle, die Schwelle etc. Nicht zuletzt ist diese Einstufung diskussionswürdig, da größtenteils unklar bleibt, ob Odin den Einladungen Vafþrúðnirs folgt, i. e. die Bewegung überhaupt stattfindet. Gunnell (1995, S. 280) betont ebenfalls den Stellenwert von Position und Bewegung, erörtert dies indes aus dem Blickwinkel einer Solo-Performanz und deren Anforderungen an den Ausführenden. 107 S. auch McKinnell 1994, S. 101: „Fróðr usually means ‚wise‘, particularly with regard to esoteric information“ sowie Sprenger, RGA 16, S. 128, die auf margfróðr als Teil des Königsideals in der Ko­ nungsskuggsjá verweist.



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ziert für einen Wissenswettstreit mit einem mächtigen und renommierten Gegner“. Erst nach bzw. mit dieser Einladung auf den Sitz leitet Vafþrúðnir zum eigentlichen Wissenskampf über, indem er den Einsatz formuliert, der nun erstmals beidseitig ist.

2.2.4 Exkurs: fróðr/svinnr An dieser Stelle scheint es sinnvoll, die Terminologie etwas genauer zu betrachten, und zwar die Frage, ob bei der Variation von fróðr und sviðr/svinnr für geistige Kapazität reine Variation vorliegt oder die beiden Termini auch unterschiedliche Arten denotieren, etwa allgemeine, gegenwartsbezogene oder auch traditionelle „Lebens“Klugheit und andererseits überzeitlich-mythisches Weltwissen. Dazu soll hier ein kurzer Überblick über deren Auftreten in eddischen Texten, die Wissensdialoge108 enthalten, gegeben werden. Fróðr ist ein zentrales Attribut in den Vafþrúðnismál. Schon bei Odins Ankunft nennt der Ase es als eine der zwei Qualitäten, auf die er Vafþrúðnir testen möchte: ef þú fróðr sér / eða alsviðr, iotunn (Str. 6,5 f.), offenbar die geringerwertige. Und es ist auch das Niveau, auf das Vafþrúðnir seinen Herausforderer hebt, nachdem dieser die vier Eingangsfragen beantwortet hat, Fróðr ertu nú, gestr (Str. 19,1), und der Gastgeber im Anschluss die Bedingungen für den nun folgenden Wettstreit festlegt. Zudem sind diverse mythische Wesen (dabei vor allem Riesen) in diesem Werk als fróðr beschrieben, etwa in Str. 20,6, Str. 26,6, Str. 30,6, Str. 33,5, Str. 35,5 sowie in  – der notorisch schwierigen109 – Str. 48,6 mit fróðgeðiaðr. Auch in anderen Texten steht der Begriff mit Wissen und Wissensdialogen in enger Verbindung: In den Hávamál, in denen der Begriff ohnehin eine zentrale positive Qualität darstellt und sich entsprechend oft erwähnt findet,110 wird Odin ganz ausdrücklich fróðr, nachdem er am Windbaum die Runen aufgenommen hat (Str. 141,2).111 In den Svipdagsmál stellt sich der Wächterfunktion einnehmende Riese und künftige Gegenspieler im Gespräch so vor (Str. 4,2), und auch die formelhafte Anrede Fáfnirs durch Sigurd im Wissensdialog der Fáfnismál bezeichnet den Wurm als fróðr (Str. 12,2 und 14,2). Ein letztes maßgebliches Vorkommen mit einem derartigen Kontext findet sich in Kap. 2 der Gylfaginning, wo Gylfi/Gangleri nach einem fróðr maðr in der Halle der Asen fragt und Hárr antwortet, er (Gylfi) käme nicht heil heraus,

108 Belege außerhalb dieses Kontexts, wie etwa in den Skírnismál (Str. 1,5 und 2,5) werden hier nicht aufgeführt. 109 S. dazu Ruggerini 1994, S. 184 ff. sowie Machan 2008, S. 102 f., außerdem die spätere Besprechung. 110 Dementsprechend gebraucht beispielsweise in Hávamál Str. 7,6, Str. 28,1, Str. 31,1, Str. 63,2 (hier horscr untergeordnet), Str. 103,5 (margfróðr) oder Str. 107,3. 111 „[…] the god becomes ‚fróðr‘, a desideratum of the Gnomic Poem“, Larrington 1993, S. 61.

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wenn er nicht fróðari sei, was sehr nahe an der Drohung Vafþrúðnirs (Vafþrúðnismál Str. 7,6) liegt, die dafür möglicherweise Modell gestanden hat112 und in beiden Fällen einen kompetitiven Wissensdialog einleitet. Nicht zuletzt verweisen auch die Beinamen altnordischer Gelehrter wie Sæmundr fróði Sigfússon oder Ari Þorgilsson inn fróði auf einen bestimmten, überdurchschnittlichen intellektuellen Status, wenn auch dort nicht in mythologischem Kontext, sondern im Rahmen mittelalterlicher Gelehrsamkeit. Sviðr/svinnr wiederum ist ebenfalls mehrfach belegt, allerdings ohne dass hier ein vergleichbarer Bezug zu Wissensgesprächen erkennbar wird: In den Vafþrúðnismál erscheint es vor allem im Rahmen positiv-formelhafter Wendungen. In den Hávamál steht es dreimal negiert als ósviðr/ósvinnr: in Str. 21,4 und 23,1, wobei die dort Bezeichneten in den „Sittenregeln“ als schlechtes Beispiel fungieren, sowie in Str. 122,7, wo vom (allgemeinen) Verbalkontakt mit einem solchen Menschen abgeraten wird. Die mehrfachen Negativexempel lassen darauf schließen, dass im Gegenzug sviðr/svinnr in den Hávamál ebenfalls einen erstrebenswerten bzw. Idealzustand denotiert. Entsprechend erscheint das Adjektiv zweimal in positiver Form: in Str. 103,3 als Ideal und in Str. 161,2 als Qualität eines Ziels für (Liebes-)Zauber. Darüber hinaus findet das Adjektiv sich in den Sigrdrífomál in Str. 13,3 als geð­ svinnari, also vielleicht sogar etwas pleonastisch angehaucht. Die Qualität wird hier als Motivation für Kenntnis und Gebrauch von hugrúnar genannt (das Kompositum enthält mit dem Geistesbezug ein ähnliches semantisches Element wie fróðgeðiaðr in den Vafþrúðnismál) sowie negiert (ósviðr) als schlechtes Beispiel (Str. 24,4). Auch die Fáfnismál führen den Begriff, allerdings einzig negativ: im Vogelrat, Reginn zu verschonen sei ósviðr (Str. 37,1), sowie in einer in ihrer Aussage unklaren und möglicherweise verderbten Halbstrophe (Str. 11,3), wo ósvinns apa, was ähnlich in den Hávamál (Str. 122,7) sowie zusätzlich den Grímnismál (Str. 34,3) auftritt, eine herabsetzende Bezeichnung im Sinne von etwa „Dummkopf“ darstellt113 und im Sigurdlied wohl als Schmähung des Helden zu verstehen ist.114

112 S. diesbezüglich, insbesondere zu den Unterschieden zwischen den beiden Werken, auch Lorenz 1984, S. 84 f. 113 EK 5, S. 426. 114 „Zwar herrscht Einigkeit darüber, daß die herabsetzende Bezeichnung ‚unkluger Affe‘ hier auf Sigurd (und seinesgleichen = törichte Personen) zu beziehen ist, doch betrachten mehrere Forscher den überlieferten Wortlaut als fehlerhaft“ (EK 5, S. 428 f.). Wobei der Eddakommentar die Konstruktion, welche diese Ansicht bedingt, hier als Zeugma deutet, was die Probleme ebenfalls löst. Terminologisch außerdem noch interessant ist, dass ein ófróðr in all diesen Texten überhaupt nicht auftritt und auch sonst in der Liederedda deutlich seltener ist (nur zweimal belegt, und dazu ausschließlich in den Heldenliedern: in Atlaqviða und Brot af Sigurðarqviðo, vgl. Kellogg 1988, S. 345) als ósviðr/ ó­svinnr, welches ausschließlich in Wissensdichtungskontexten erscheint. Ósnotr wiederum ist einzig – dafür aber insgesamt siebenmal – in den Hávamál belegt; der stark überwiegende Teil erscheint



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Auch in diesen Beispielen wird mithin nicht ausreichend erkennbar, ob eine vollkommene Deckungsgleichheit mit fróðr besteht, weshalb die weitere Erörterung sich auf den Gebrauch in den Vafþrúðnismál konzentrieren soll. Auffällig ist im Rahmen der Textübersicht somit vor allem die Nähe von fróðr zu Wissensdialogen mit einem gewissen kompetitiven Aspekt. Dabei sollte andererseits auch nicht vergessen werden, dass das Adjektiv in zahlreichen weiteren Werken gänzlich ohne diesen Kontext erscheint. Um nun zurück zu den Vafþrúðnismál zu kommen, nennt Odin, nachdem er die Rolle des Fragenden übernommen hat, fróðr in den formelhaften Fragen dreimal als Qualifikation des Riesen, die Bezeichnung wechselt allerdings auch mit svinnr: Dreimal tritt fróðan auf (Str. 26,2, 28,2, und 34,2), viermal svinnan (Str. 24,2, 30,2, 32,2 und 36,2). Geht man davon aus, dass auch Str. 32 sich auf Ursprünge bezieht (nämlich, wie der mythische Urriese ohne Frau Kinder hervorbringen konnte), sind sämtliche svinnan-Fragen ätiologisch motiviert. Man könnte die Strophe auch auf den Prozess beziehen, und damit auf eine eher mytho-biologische Basis. Etwas komplizierter sieht es bei den fróðan-Formeln aus: Str. 26 ist ebenfalls eine typische Ursprungsfrage, zumindest thematisch, mit der Frage nach den Ältesten der Asen und Riesen, in der Urzeit angesiedelt, wenn sich Odin auch nicht nach der Herkunft selbst erkundigt (Vafþrúðnir gibt dennoch darüber Auskunft). Str. 34 nimmt eine Sonderposition ein, da die überlieferte Version in der Eingangsformel nicht den Anforderungen des Stabreims entspricht  – fróðan alliteriert weder mit segðu, noch mit átta.115 Wie Neckel/Kuhn und S/G verzeichnen, steht in den Handschriften zwar tatsächlich fróðan, dies werde allerdings „meist“ alliterationshalber zu svinnan emendiert.116 In den beiden weiteren Strophen, in denen fróðan erscheint (Str. 26 und Str. 28), beginnen jeweils die Numeralia mit f;117 bei Zahlwörtern mit vokalischem Anlaut erscheint ansonsten ef þitt œði dugir (Str. 20,2 und 22,2), das den Anforderungen ebenfalls Genüge tut.118 Die zwei anderen Strophen, in denen die Ordinalzahl ansonsten nicht alliteriert, Str. 24 (þriðia) und Str. 36 (níunda), enthalten ebenfalls svinnan und zwar sowohl im Codex Regius als auch im Fragment119 – wohl,

dabei im „Alten Sittengedicht“ (Kellogg 1988, S. 353); auch das Positivum findet sich dort am häufigsten verzeichnet. Damit gibt es hier also ein kleines Reservoir an (Un-)Klugheitsbegriffen, aus denen sich der Autor der Vafþrúðnismál offensichtlich nicht bediente. 115 Vgl. Salberger 1955 mit einer ausführlicheren Diskussion des Problems. 116 Neckel/Kuhn, S. 51; S/G 1, S. 62: „abgekürzt in R. a. þ. f. und haken, a. þ. f. k. A.“. S/G verweisen hier auch auf Str. 30,1, wo im Codex Regius „s.“ zur Abkürzung von svinnan steht, im Fragment aber „f.“ für fróðan, was hier gleichfalls nicht alliterierte (S/G 1, S. 61). S. weiterhin Salberger 1955 und Machan 2008, S. 89 zu Parallelen. 117 Salberger 1955, S. 113. 118 Die unvollständige Str. 40 enthält die Klugheitsformel nicht; hier alliteriert ýtar, ein Element der konkreten inhaltlichen Frage. 119 Neckel/Kuhn, S. 51.

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da die Alliteration von segðu mit svinnan vom Zahlwort unabhängig und damit jederzeit verfügbar war. Auch aus dieser Perspektive besäße fróðan in Str. 34 eine Art Sonderposition und damit scheint die Emendation begründet. Als Ursache für die irreguläre Handschriftenversion schlägt Salberger mit Lindblad die Ähnlichkeit von kontinentalem f, welches er in der Vorlage annimmt (im Codex Regius sowie im Fragment steht insulares ꝼ120) und ʃ vor,121 da die Eingangsformel nur abgekürzt, mittels punktierter Anfangsbuchstaben, ausgeführt ist, was die Verwechselung begünstigt, und ein solcher Fehler auch nicht ganz ohne Beispiel wäre.122 Ganz abgesehen davon deutet der Wechsel (die Verwechselung?) der Termini zwischen Codex Regius und Fragment in Str. 30 an, dass – wenigstens für die Schreiber – wohl kein großer Unterschied zwischen fróðr und svinnr vorgelegen haben kann, der einen solchen Austausch durch semantische Unvereinbarkeit verhindert hätte. Inhaltlich erprobt Odin in Str. 34 den individuellen Wissenshintergrund seines Gegenspielers. Aus dieser Perspektive wäre die Frage also persönlich motiviert und fokussiert, ihr Zweck das Erkunden des Ausmaßes der Expertise Vafþrúðnirs. Thema sind aber auch hier wieder die ältesten Dinge, nämlich die frühesten, derer der Riese sich erinnert, was ebenfalls in die Urzeit zurückreicht, sodass ein Anknüpfungspunkt an andere Urzeitfragen besteht.123 Interessanterweise wird Str. 34 außerdem mit der Bekräftigung, dem Lob oder der Schmeichelei þú ert alsviðr, iotunn (Str. 34,6) abgeschlossen. Hier findet sich mit diesem Wechsel der Adjektive möglicherweise124 eine ähnliche Paarung wie in Str. 30, wo eine svinnan-Frage mit inn fróði iotunn abgeschlossen wird (Str. 30,6). Die dortige

120 Salberger 1955, S. 113 und S. 117; Wimmer/Jónsson 1891, S. 15; Jónsson 1896b, S. 5. 121 Salberger 1955, S. 118; eine genauere Darstellung der Gestaltung von f nach Wimmer/Jónsson (1891, S. XXXIIIf.) in Salberger 1955, S. 119. 122 „Åtminstone i ett säkert fall har Cod. Reg. förväxlat f och ʃ “, dabei allerdings in die gegensätz­ liche Richtung: af wurde aʃ geschrieben; auch weitere, unklarere Fälle werden genannt (Salberger 1955, S. 118). Insbesondere eine Verwechselung im Fragment A, Vafþrúðnismál Str. 30, wo, wie in Str. 34 fróðan statt dem alliterativ logischeren svinnan geschrieben steht (Salberger 1955, S. 119; Jónsson 1896b, S. 5), ist ein starkes Argument für die These: Hier kann nur s alliterieren, da sowohl das Verb der Formel als auch die Ordinalzahl (sétta) mit diesem Buchstaben beginnen. Nicht einmal die – ohnehin zweifelhafte (Salberger 1955, Str. 116 f.) – These zu Str. 34, dass hier vokalische Alliteration mit allz vorliegt, vermag hier zu greifen. Eine absichtliche Änderung scheint damit zumindest dort kaum möglich. 123 McKinnell sortiert die Strophe wiederum unter die thematische Kategorie „four [questions, KRMT] about giants“, thematisiert also den persönlichen Bezug nicht (McKinnell 1994, S. 93), während Ruggerini (1994, S. 141) einteilt: „events and characters from the distant past, or […] the origin of natural elements; […] the present and […] the future“. Dabei sind die angeführten Inhalte (im Gegensatz zu den Zeiten) allerdings ziemlich umfassend gewählt, sodass sich hier nur wenig überhaupt nicht unterbringen ließe; daher lässt sich das Ganze auch als rein zeitliche Einteilung begreifen. 124 Allerdings nur, wenn es sich bei svinnan dort nicht, wie erwähnt, um einen Schreibfehler handelt.



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Aussage in der dritten Person lässt sich zwar problemlos auf Aurgelmir beziehen, der in jener Strophe Gegenstand ist, entspricht andererseits im Ausdruck aber auch exakt dem in Str. 20,6, in der die Beschreibung als Anrede Vafþrúðnirs gelesen wird,125 sodass etwas unklar bleibt, ob hier möglicherweise eine Wiederholung vorliegt. Vom Auftreten in Str. 35, in der die inn fróði iotunn-Passage ebenfalls erscheint, unterscheidet sie sich deutlich, da durch das zusätzliche Personalpronomen sá der Bezug auf den Satzgegenstand unmissverständlich wird,126 weshalb eine Gleichsetzung nicht gerechtfertigt sein dürfte. Die ähnliche Bekräftigung inn alsvinni iotunn in Str. 42,6 schließt andererseits zwar keine fróðan-Frage ab, enthält aber, wie Str. 34, ein persönliches Moment, bei dem überdies auf die Wahrheit der Kenntnisse des Riesen abgehoben wird. Es lässt sich hier vermuten, dass die lobende Bekräftigung alsviðr gewissermaßen als Kompensation der direkt auf den Gegner gerichteten Fragestellung dient, die diffiziler ist als die anderen – etwa weil sie den Sprecher gefährdet, zu stark in den persönlichen Bereich eindringt, oder aber sich (vielleicht gerade deshalb) außerhalb der regulären Wettstreitfragen bewegt. Aus dieser Perspektive wäre sie dann als Schmeichelei zu deuten.127 Angesichts der Unsicherheit um Str. 34, deren Attributkombinationen und des doch recht engen thematischen Feldes, in dem sich auch die anderen fróðan- und svinnan-Frageformeln bewegen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die zwei Begriffe in den Vafþrúðnismál synonym gebraucht werden. Eine spezifische, auf ein bestimmtes Feld bezogene Verwendung lässt sich bei keinem der beiden zufriedenstellend nachweisen. Selbst wenn man die ähnliche Formel aus den Fáfnismál hinzunimmt, ergibt dies nur zwei weitere Beispiele (Fáfnismál Str. 12 und 14), dabei eine nach Art und Ursprung (bestimmter Nornen, Str. 12) und eine Namensfrage, die sich auf ein eschatologisches Ereignis bezieht. Dass svinnr in jenem Werk überhaupt nicht in der Formel vorkommt, dürfte allerdings eher dem Namen „Fáfnir“ geschuldet sein, durch den die Alliteration auf f fast zur Selbstverständlichkeit wird. Alsviðr/alsvinnr dient unter diesen Umständen in den Vafþrúðnismál – der einzige Text der Liederedda, in dem dieser Begriff überhaupt auftritt128 – als Steigerung beider Termini (der von svinnr bereits morphologisch, der von fróðr aufgrund von Odins Eingangsfrage und der bereits erwähnten Kombination in Str. 34).129 Diese erhöhte Qua-

125 S. etwa Krause 2011, S. 68 oder Machan 2008, S. 88, der außerdem vermerkt: „The definite article often precedes a vocative“ (Machan 2008, S. 83). 126 […] ec fyrst um man, / er sá inn fróði iotunn […] (Str. 35,4 f.). 127 S. dazu auch Ruggerini 1994, S. 175: „The last of these four questions is partly an attempt by Óðinn to flatter his opponent by acknowledging the breadth of his mythological knowledge […]“. In der in Kürze folgenden Diskussion der Fragesequenz Odins wird noch einmal genauer darauf eingegangen werden. 128 Vgl. Kellogg 1988, S. 17. 129 Ejders Feststellung: „Alsviðr bör vel fattas som ‚mycket vis‘ och är altså tämligen synonymt með fróðr“ (Ejder 1960, S. 11), trägt dieser Korrespondenz keine Rechnung und ist auch angesichts Odins

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lifikation wird sogar einmal vom Erzähler für den Riesen verwendet (Str. 5,3), sodass sie selbst von externer Autorität bestätigt ist. Ebenso bezeichnet auch Odin gleich in der ersten Strophe Vafþrúðnir gegenüber Frigg als alsvinnr (Str. 1,6); das Attribut ist also schon vor dem direkten Aufeinandertreffen der beiden Kontrahenten etabliert. Gerade der Gebrauch durch den Erzähler kann als Indiz dafür gesehen werden, dass der Begriff nicht als ultimativ „allweise“ im Sinne der Perfektion, sondern eher als „äußerst weise“, also menschliches Maß weit übersteigend, aber zumindest in den esoterischsten Dingen nicht unfehlbar, verstanden werden muss.130 Wenn eine absolute Bezeichnung in diesem Umfeld überhaupt existiert, äußert sie der unterlegene Riese in seiner letzten Strophe mit vísastr vera. Damit lassen sich folgende Schlüsse ziehen: In den Vafþrúðnismál treten fróðr und sviðr/svinnr in größtenteils vergleichbarer Verwendung auf und denotieren ein höheres intellektuelles Niveau als „alltägliche“ Klugheit, das insbesondere zur Teilnahme an einem Wissenswettstreit ermächtigt (vgl. Vafþrúðnirs Einladung auf den Sitz). Beide Begriffe sind, wenn überhaupt, inhaltlich mit mythischem Urwissen konnotiert, unterscheiden sich aber nicht erkennbar im Detail und können daher als synonym betrachtet werden. Fróðr, sviðr/svinnr und auch alsviðr/alsvinnr treten im Bezug auf die Hauptfiguren131 nur in der ersten Phase des Wettstreits auf, also der nummerierten Fragesequenz. Mithin in dem Teil, in dem der so bezeichnete Riese keinerlei Schwierigkeiten bei der Antwort hat. Das ließe sich vielleicht auch als Hinweis darauf verstehen, dass die (mythische?) Vergangenheit ein wichtiger thematischer Aspekt solchermaßen bezeichneter Kenntnisse ist.

betonter Beschreibung mittels alsviðr in Str. 34 und später Str. 42 (ansonsten tritt der Begriff nur noch in der Rahmenerzählung sowie in eben der Herausforderung auf) nicht leicht nachvollziehbar. Weiterhin würde damit die Provokation des Gastes in ihrer Aussage effektiv neutralisiert – der Ase will schließlich wissen, ob Vafþrúðnir fróðr oder alsviðr ist. Handelte es sich bei den Begriffen um Synonyme, wäre die Unterscheidung mittels eða sinnlos. Sie ließe sich in diesem Fall vielleicht noch als variierende Formulierung deuten, der Art, ob Vafþrúðnir überhaupt (sehr) klug sei; wobei mir mit der Steigerung die wortgetreuere und unkompliziertere Variante vorzuliegen scheint. Überhaupt stellt sich die Frage, aus welchen Gründen fróðr vom Autor auf die Stufe „sehr weise“ gehoben wird, denn diese Übersetzung für alsviðr stimmt auch morphologisch mit dem altnordischen Begriff überein, während fróðr kein in irgendeiner Art steigerndes oder überhaupt näher definierendes Element aufweist. Ejder stellt zwar auch das eddische alsnotr in diese Reihe (Ejder 1960, S. 11), allerdings ist diese Form in den Vafþrúðnismál nicht belegt, sondern einzig der Komparativ snotrari, der von Vafþrúðnir als Bedingung für das Leben Odins im ersten Teil des Dialogs gestellt wird (Str. 7,6). Da der Riese Odin nach bestandener Probe als fróðr bezeichnet, während der Stand der Dinge zeigt, dass er sich zumindest an snotrari annähert, könnte man eher eine Korrespondenz von fróðr mit diesem Gradus postulieren, nicht aber mit alsnotr. 130 Auch Ejder nimmt, wie beschrieben, an, dass es sich hierbei um den Elativ handelt (Ejder 1960, S. 11). 131 Es gibt einen weiteren Beleg in Str. 48,6, aber hier erscheint fróðr nur im Kompositum fróðgeð­ iaðar und bezieht sich auf die erfragten meyiar.



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2.2.5 Strophenauswertung Unabhängig davon, ob Odin nun wenigstens dieser zweiten Einladung auf einen (nun prestigeträchtigeren) Sitz Folge leistet oder sie erneut ignoriert, wechseln nach Abschluss der „Eingangsbefragung“ die Rollen von Fragendem und Antwortendem (nach, im Vergleich mit Odins nun folgendem Fragenkatalog, bemerkenswert kurzer Prüfung132). Es ist von dort an der Gott, der das Wissen des Riesen erprobt und im ersten Teil vor allem nach ätiologischen Informationen und Details aus der mythischen Urzeit fragt. Dabei wird durch die Nummerierung zusätzlich eine gewisse Spannung aufgebaut und die Fragen unterscheiden sich neben ihrem Umfang auch durch Variantenreichtum von denen des Riesen. Inhaltlich bewegt Odin sich in ähnlichen Gefilden und auch in seinem Katalog finden sich die Kategorien Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Eschatologie. 2.2.5.1 Vierersequenz 1: Str. 20–27 Die ersten vier Fragen des Gottes sind kosmogonisch-ätiologisch (hvaðan) und auf Naturphänomene bezogen; dabei durchgängig paarig mittels eða ausgeführt: Erde und Himmel (Str. 20), Mond und Sonne (Str. 22), Tag und Nacht (Str. 24) sowie Winter und Sommer (Str. 26). Sie entsprechen damit auch zeitlich und thematisch denen des Riesen,133 der allerdings ausschließlich nach Einzelphänomenen gefragt hatte. Dieser Unterschied manifestiert sich am deutlichsten im Vergleich von Str. 22 mit Str. 11 und 13: Für die Frage nach Tag- und Nachtross benötigt Vafþrúðnir zwei Strophen, Odin fragt nach Tag und Nacht hingegen in einer. Dies ließe sich eventuell als größere Beherrschung des Themas durch den Asen deuten oder als Anzeichen, dass der Schwierigkeitsgrad sich nun, im eigentlichen Wettbewerb, erhöht hat. Angesichts dessen, dass Odin auch später noch zweimal solche Konstruktionen verwendet – in Str. 28 oder 34, wo die Paarung bei Weitem nicht mehr so selbstverständlich erscheint – scheint es sich aber eher um eine dem Charakter zugeschriebene individuelle Präferenz zu handeln.

132 Diese Differenz ist nicht unbeachtet geblieben und hat Fragen aufgeworfen. Ich möchte mich hier Machans Meinung anschließen, der im unterschiedlichen Umfang kein Problem sieht, denn „one of the dominant characteristics of his [i. e. Odin’s, KRMT] personality wherever he occurs in medieval Scandinavian literature is his obsession with acquiring information, and it would be out of place for Vafþrúðnir to be as desirous of information as Óðinn is“ (2008, S. 35) – dies gerade auch in Anbetracht dessen, dass der Gott den Riesen aufsucht und nicht umgekehrt, die Motivation also klar auf Seiten Odins liegt. Der Ansatz, Vafþrúðnirs Fragen als eine Art „Vorprüfung“ zu betrachten, passte gleichfalls gut zum unterschiedlichen Umfang, wobei hier natürlich die Gefahr des Zirkelschlusses besteht, da die Schlussfolgerungen bei beiden Punkten auf Annahmen beruhen und nicht direkt am Text festgemacht werden können. 133 „In the same way [as Vafþrúðnir, KRMT] Óðinn begins with four questions about the natural world“, McKinnell 1994, S. 93; Ruggerini 1994, S. 173: „4 questions about the origins of celestial elements“.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

Vafþrúðnirs Antworten übererfüllen die Anforderungen, wie es auch bei Odin der Fall war: In Str. 21 erwähnt er nicht nur die Schöpfung von Himmel und Erde, sondern auch die von Bergen und See,134 Str. 23 enthält neben dem Ursprung von Mond und Sonne auch ihre Bewegungen und deren Nutzung durch die Menschen; die Jahresberechnung wird gleichermaßen in Str. 25 angeführt und geht damit vom Ursprung von Tag und Nacht über zum Zweck. Einzig Str. 27 enthält keine weitergehenden Informationen, was aber dem Zustand der Strophe geschuldet sein dürfte, da sie nur in den drei Versen überliefert ist, welche die erste, unmittelbare Antwort enthalten, während die einst folgenden drei, in denen sonst die Zusatzinformationen untergebracht sind, fehlen. S/G sowie Neckel/Kuhn verweisen hier auf die Snorra Edda als Rekonstruktionsbasis;135 entsprechend dieser fände sich hier eine Bemerkung über die Abkunft Vind­ svalrs sowie die grimme Natur seines Geschlechts. Allerdings wurden die lyrischen Emendationen durch Bugge und Grundtvig von S/G infrage gestellt, „da die paraphrase der Gylfag sich offenbar weit von der poetischen vorlage entfernt“,136 sodass dort dann eher grobe inhaltliche Ansatzpunkte gegeben wären. Legt man Papierhandschriften zugrunde, fände sich hier laut Machan137 eine Ausweitung der Zeitspanne in die Zukunft und ein Verweis auf Ragnarök; wobei der Autor angesichts des Überlieferungszustands beider Handschriften anmerkt, diese Vervollständigung „may well be a late attempt to correct a text that was damaged very early in its transmission“,138 was deren Verlässlichkeit ebenfalls infrage stellt. Allen Ansätzen gemein ist aber, dass von einer nicht vollständig überlieferten Strophe und damit zusätzlichen Informationen des Riesen ausgegangen werden muss. 2.2.5.2 Vierersequenz 2: Str. 28–35 Gefolgt wird diese Vierersequenz von einer weiteren mit ebenfalls in der Urzeit angesiedelten Inhalten, die sich laut McKinnell spezifisch mit Riesen befasst. Dabei werden, im Gegensatz zu vorher, unterschiedliche Phänomene abgefragt: eine Person (ältester der Asen139 oder Riesen, Str. 28), der Ursprung ebendieser Person (Aurgelmir, Str. 30), ihre Fortpflanzungsmethode (da er keine Frau hatte, Str. 32) und ein

134 Inwieweit dies formelhaft ist, sei dahingestellt; es entspricht jedenfalls dem Muster von Frage und umfangreicherer Antwort, welches den Wissenswettstreit durchzieht. 135 Gylfaginning Kap. 19; S/G 1, S. 60 und Neckel/Kuhn S. 49. Das Manuskript des Codex Regius zeigt an dieser Stelle keine Auffälligkeit (GKS 2365 4to, 8r, Wimmer/Jónsson 1891, S. 15 und S. 110). Gleiches gilt für das Fragment 748 4to, 3r (Jónsson 1896b, S. 5). 136 S/G 3/1, S. 180. 137 Machan 2008, S. 86: ár of bæði þau / skulu ey fara / unz rjúfask regin. 138 Machan 2008, S. 86. 139 Bei ása steht die Möglichkeit eines Fehlers im Raum; in diesem Fall wäre stattdessen iotna/iǫtna anzusetzen, S. dazu S/G 3/2, S. 170 sowie Machan 2008, S. 86. Gleichermaßen zur Identität Ymirs mit Aurgelmir (Machan 2008, S. 86 f.).



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persönliches Charakteristikum Vafþrúðnirs, nämlich dessen ältestes Wissen (Str. 34). Während Str. 28–32 somit noch an die unpersönlich-urzeitliche Motivik anknüpfen, findet sich in der bereits erörterten Str. 34 die direkte Thematisierung des riesischen Gegners, welche vorherige Inhalte mit dem zuvor erwähnten, hier erstmalig auftretenden, persönlichen Moment verbindet. Odins Fragen in dieser Sequenz könnte man somit als onomastisch und „historisch“-mythologisch, ätiologisch, „mytho-biologisch“ und als Letztes persönlich-„historisch“, vermutlich evaluierend (Vafþrúðnirs Kenntnisse), beschreiben. Auch hier geht der Kontrahent mit seinen Antworten wieder häufig über die Frage hinaus, wobei das Muster „Grundinformation – Zusatzinformation“ zuweilen aufgebrochen wird. Dem Ältesten, Aurgelmir, fügt Vafþrúðnir Sohn und Enkel hinzu. Dabei wird in diesem Fall die zusätzliche Information vorangestellt, und der Inhalt quasi rückentwickelnd genealogisch zum ältesten Riesen hin gesteigert (enn Aurgel­ mir afi, Str. 29,6). Die Entstehung Aurgelmirs erweitert Odins Gegner zum Ursprung der Riesen und der Ursache für deren schreckliche Natur. Auch diese Strophe (Str. 31) ist nicht vollständig überliefert – es fehlen erneut die drei letzten Verse. Anhand der Gylfaginning (Kap. 5), welche die Zeilen zitiert,140 lassen sich jedoch die fehlenden Elemente rekonstruieren, die in dieser Form auch der in der ersten Vierersequenz etablierten Informationsfolge entsprechen.141 Str. 33 enthält praktisch keine erweiternden Inhalte. Stattdessen gibt Vafþrúðnir zwei Fortpflanzungsszenarios an, welche beide als Antworten auf Odins Frage, wie Aurgelmir ohne Frau Kinder zeugte, fungieren. Es wäre vielleicht möglich, die knappen Kinderbeschreibungen (Mädchen und Junge zusammen; sechsköpfiger

140  Ór Élivágum stukku eitrdropar ok óx unz ór varð iǫtunn, þar órar ættir kómu allar saman, því er þat æ allt til atalt. (Lorenz 1984, S. 120) 141 Neckel/Kuhn, S. 50; S/G 1, S. 61. Machan gibt unter Rückgriff auf Bugge darüber hinaus eine andere Vervollständigung – wieder aus deutlich jüngeren Papierhandschriften – an, welche kosmogonische Informationen enthielte, die aber gleichermaßen nicht erfragt worden waren: „en síum fleigði / ór suðheimi / hyrr gaf hrími fjör (‚it cast seas from the southern region, fire gave life to the frost‘). This variant seems to derive from Gylfaginning ch. 5)“ (Machan 2008, S. 88). Naheliegender scheint allerdings, wenn schon auf Basis der Gylfaginning emendiert wird (der zitierte Vers befindet sich ebenfalls im 5. Kap.), die Sequenz zu verwenden, welche auch dort unmittelbar an die Verse der Liederedda anschließt – sofern keine triftigen Gründe für ein Abweichen vorliegen, was hier nicht der Fall ist. Dies lässt die Vervollständigung auf Grundlage des dortigen Edda-Zitats sinnvoller wirken (selbst ohne dass man den Altersunterschied von Codex Regius und Papierabschriften weiter einbezieht). So vermerkt auch Machan: „there is no reason to doubt the authenticity of the lines“ (Machan 2008, S. 88).

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Sohn) als Zusatzinformationen einzustufen, da ja genau genommen nur nach der Methode gefragt wurde; im Ganzen ist dieser Anteil hier aber recht gering. Gleichermaßen weist die Antwort auf die letzte Strophe dieser Vierersequenz, Str. 34, wenig Beiwerk auf. Mit dem Verweis auf Bergelmir stellt sich Vafþrúðnir in Str. 35 in die Generation der Urriesen142 (da er dessen Geburt – oder eventuell Tod – bewusst miterlebte, musste er zu dieser Zeit bereits in einem dies ermöglichenden Alter gewesen sein), und damit auch in der Nähe von inn fróði iotunn Aurgelmir, was seine eigene Weisheit und Autorität unterstreicht und gleichzeitig die persönliche Antwort in den Urriesenkontext der bisherigen Inhalte der Fragen integriert. An Zusatzinformationen fände sich hier damit höchstens die Kontextualisierung im Rahmen der Erschaffung der Welt (Str. 35,1 f.), was aber durchaus Odins zeitlich markierter Frage nach dem Ältesten, Ersten entspricht. 2.2.5.3 Vierersequenz 3: Str. 36–43 Die folgende, letzte nummerierte Vierersequenz greift anfangs noch einmal alte Themen auf: den Ursprung eines Naturphänomens (Wind, Str. 36) sowie den einer bestimmten übermenschlichen Figur (Njǫrðr, Str. 38).143 Mit Str. 40 vollführt Odin dann einen Schritt in die Gegenwart, das Setting bleibt aber mythisch und berührt die Eschatologie (da die Einherier, die jetzt noch im Spiel in Odins Hof ihre Schlachten schlagen, zu Ragnarök ernsthaft ihre Kampfkraft gegen die Weltfeinde wenden werden).144 Gleichzeitig lässt sich hier im unmittelbaren Bezug auf Odin ein erster direkter Hinweis auf die Identität des unbekannten Gastes im Wettstreit selbst erkennen.145

142 Inhaltlich ist diese Strophe, vor allem wegen des Begriffs lúðr, „a notoriously difficult word“ (Machan 2008, S. 89), umstritten. Die Deutungsvarianten (s. Machan 2008, S. 89 f.) berühren diese Untersuchung allerdings nur in puncto Vafþrúðnirs Alter, genau genommen, ob der Riese jetzt aus der zweiten, dritten oder möglicherweise vierten Generation nach Ymir/Aurgelmir stammt, und sind somit hierfür von geringer Relevanz, denn in jedem Fall wäre er zur Generation der Urriesen zu zählen. Am treffendsten drückt es wohl McGillivray aus, der schreibt, die Aussage Vafþrúðnirs zeige, „that he was alive during the lifetime of Bergelmir“. Er geht dabei zwar von einer Bedeutung von lúðr als Wiege aus (McGillivray 2015, S. 150), aber auch ein berichtbares Miterleben der Bestattung erfordert ein bereits etwas entwickeltes Gedächtnis und Bewusstsein und damit eine vorausgehende, wenn auch nicht unbedingt lange Lebensspanne (McGillivray 2015, S. 151). 143 McGillivray notiert hier überdies die thematische Hinwendung zu den Göttern mit dem Wind als Überleitung, da Njǫrðr diesen ebenfalls kontrolliert (McGillivray 2015, S. 153 f.). 144 So auch McKinnell (1994, S. 93): „the last four questions […] do not as a whole parallel Vafþrúðnir’s last question, but three of them might be seen as repeating the sequence of section B, with one question each about nature (36), the gods (38) and (by implication) Ragnarǫk, since that is what the einherjar are training for“. Ruggerini (1994, S. 174 f.) nimmt eine ähnliche Position ein, betont aber zusätzlich die Ironie, welche aus der Situation heraus entsteht, dass Odin über seine eigenen Krieger spricht, ohne dass es seinem Gegner bewusst ist. 145 Ruggerini (1994, S. 173): „first question concerned with Óðinn himself“.



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Auch diese Strophe ist unvollständig und zusätzlich zeigen sich Differenzen zwischen dem Codex Regius und dem Fragment.146 Allerdings existieren erneut Papierhandschriften, die weitere Teile verzeichnen: hvat einheriar vinna Heriafǫðrs at, / unz riúfaz regin.147 Und auch aus der folgenden Antwort, die in den Vafþrúðnismál ebenfalls nicht in Gänze erhalten ist, lässt sich der weitere Inhalt der Frage grob erschließen. Im Gegensatz zu den Vafþrúðnismál findet die Erwiderung sich aber komplett in der Gylfaginning zitiert (Kap. 41), sodass eine valide Basis für Rekonstruktionsversuche gegeben ist. Der grobe Inhalt des Strophenpaars kann damit erschlossen werden: eine die Gegenwart referenzierende Frage mit Odins- und eschatologischem Bezug, der man auch ein kosmologisches oder (mytho-)geographisches Element (hvar) zuschreiben kann und die vom Riesen entsprechend beantwortet wird. Str. 42 wird von der Forschung meist eine zentrale Position zugewiesen. Deutlich hebt sie sich von den vorausgegangenen Fragen ab und ist inhaltlich noch am engsten mit Str. 34 verwandt: Odin thematisiert auch hier nichts Konkretes aus der mythischen Weltgeschichte, sondern einerseits kontextuell das allgemeine Schicksal der Götter,148 dessen Kenntnis er Vafþrúðnir bereits in Str. 38 attestiert hatte. Andererseits nennt er „das Wahrste“ (iþ sannasta, Str. 42,6) „von den Geheimnissen der Riesen und aller Götter“.149 Hier wird dezidiert auf esoterisches Wissen Bezug genommen und der Kontrahent als dessen Meister dargestellt. Dies dient dem Asen als nachgeschobene Begründung für die Frage, wie150 Vafþrúðnirs Wissen – gerade in diesem Kontext – zustande gekommen sei. Gegenstand ist hier somit erneut ein Prozess, und zwar der Wissenserwerb, oder aber ein Ursprung, nämlich die Quelle; in diesem Fall jedoch nicht im Rahmen der allgemeinen Mythologie, sondern als individuell-persönliches Charakteristikum des Riesen, der sich bis dato problemlos durch seine Antworten als Wissender legitimiert hat. Die letzte Zeile (Str. 42,7) fasst ebendies noch einmal zusammen und spricht Vafþrúðnir (den zuvor erörterten) alsviðr-Status zu, was hier eventuell, ebenso wie die drei vor-

146 Der Codex Regius zeigt hvar ýtar túnom í hǫggvaz hverian dag (Wimmer/Jónsson 1891, S. 16), das Fragment hingegen (an die Konventionen von Neckel/Kuhn angeglichen) allir einheriar Óðins túnom í hǫggvaz hverian dag (Jónsson 1896b, S. 5). Diesen Teil, dem vor allen Dingen auch das Fragepronomen abgeht, ordnen Neckel/Kuhn (S. 52) Str. 41,1–3 zu. Beide Varianten werden in den Handschriften gefolgt von val þeir kiósa etc. S. weiterhin Machan 2008, S. 93 f. auch zu Rekonstruktionsversuchen und Handschriftenlage sowie Gunnell 1995, S. 276 für eine Anmerkung zur Performativität. 147 Neckel/Kuhn, S. 52 sowie Machan 2008, S. 93 ff. 148 tíva rǫc (Str. 42,2); wobei dies zusätzlich eine Wiederaufnahme von Str. 38,2 darstellt, in der Njǫrðrs Herkunft erfragt wird. 149 Frá iotna rúnom / oc allra goða, Str. 42,4 f. Es kann als ziemlich sicher gelten, dass rúnom hier nicht als „Runen“ zu übersetzen ist: Auch sonst werden riesische Runen nicht erwähnt und die in den Vafþrúðnismál durch den Riesen vermittelten Informationen beziehen sich auf mythologisch-esoterisches Wissen, sind also durchaus als geheim anzusehen. 150 Zur Übersetzung von hví s. Machan 2008, S. 96.

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angehenden Zeilen, auch als demonstrativ-manipulative Bewunderung eingesetzt wird.151 Machan merkt an, dass an dieser Stelle mit der expliziten Wissensanerkennung ein ähnlicher „Qualifikations“-Abschnitt beendet wird, wie Vafþrúðnir mit fróðr ertu nú seinen Fragenkatalog abschloss,152 sodass auch eine strukturelle Begründung für diese Aussage gefunden werden kann (die allerdings nicht miteinbezieht, dass Vafþrúðnir bereits zuvor als alsviðr bezeichnet wurde und auch dort im Rahmen einer „persönlichen“ Frage, in Str. 34,6). Allerdings scheint mir die Deutung Ruggerinis und vor allem die McKinnells etwas fruchtbarer. McKinnell geht dabei noch weit über Ruggerini hinaus und sieht hier einen Wendepunkt gekommen. Ehe auf diesen und die Antworten des Riesen weiter eingegangen werden kann, sind noch die dem Wissensaustausch zugrunde liegenden Prinzipien zu betrachten. 2.2.5.4 Exkurs: Die Regeln des Wettstreits Ein entscheidender Faktor für die Interpretation ist die Frage, welchen Anforderungen ein Teilnehmer an solch einem Dialog, und im Kontext von Str. 42 dann vor allem der Fragende, unterliegt. Eine Frage, die aus zwei Elementen besteht: dem Vorwissen sowie dem „Einsatz“, der auch die Handlungen dieses Sprechers mit einem Risiko verknüpfen muss (denn sonst würden nicht beide Seiten „um das Haupt wetten“). Wissen. Was das Vorwissen betrifft, bieten sich auf den ersten Blick zwei Möglichkeiten: Entweder der Fragende muss das, was er erfragt, bereits selbst wissen oder er benötigt diese Kenntnisse nicht. Beide Varianten sind nicht ganz unproblematisch: Kennt der Prüfer die Informationen, nach denen er sich erkundigt, im Voraus, stellt sich in Bezug auf die Vafþrúðnismál vor allem die Frage, was Odin dann eigentlich zu seiner Reise motiviert, denn der Wissenserwerb an sich kann es nicht sein. Die Antwort gibt der Ase in diesem Fall vielleicht schon selbst im Prolog und nochmals gegenüber Vafþrúðnir, nämlich, die Tiefen von dessen Wissen auszuloten, wenn er auch nicht erklärt, zu welchem Zweck. Konkrete Inhalte wären als Antrieb in diesem Falle also eher sekundär. Die These, dass der Herausforderer die Antwort bereits kennen muss, hat dabei den angenehmen Nebeneffekt, dass auch die im Konflikt urteilende Instanz sofort offensichtlich ist; nämlich der Fragende selbst. (Es muss in diesem Aufeinandertreffen dann also auch eine Art „Grundvertrauen“ in die Ehrlichkeit des Urteils herrschen; also sichergestellt sein, dass der Fragende die Antworten nicht gezielt und fälschlich als nicht korrekt bezeichnet; hier noch insbesondere angesichts Odins Assoziation

151 Ähnlich Ruggerini: eine Mischung aus Schmeichelei und „a genuine desire to know the sources from which he has derived such wisdom“ (Ruggerini 1994, S. 175). 152 „Vafþrúðnir thus proves that he is wise enough for Óðinn to ask him questions about the end of time“ (Machan 2008, S. 42).



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mit Täuschung und Unzuverlässigkeit.) In einem solchen Szenario lassen sich die Klugheitsbekräftigungen Odins an den Riesen dann neben der Schmeichelei auch als eine Art explizite Rückmeldung des „Schiedsrichters“ deuten, der damit vielleicht auch auf die vielen Zusatzinformationen Vafþrúðnirs eingeht und dessen Wissen generell eine hohe Qualität attestiert. Die andere Möglichkeit ist, dass der Fragende die Antwort nicht selbst kennen muss. Diese Variante harmoniert perfekt mit der Annahme, dass Odins Motivation der Erwerb neuer Kenntnisse bzw. das Füllen eigener Wissenslücken ist. Auf der anderen Seite stellt sich dann die Frage nach der urteilenden Instanz umso stärker: Wenn der Fragende die Antwort gar nicht kennt, kann er auch nicht entscheiden, ob die erhaltene Information korrekt ist. Entweder herrscht hier ebenfalls das bereits angesprochene „Grundvertrauen“, nur in diesem Fall in die umgekehrte Richtung, in die Wahrhaftigkeit des Befragten. Jener hätte somit nur die Möglichkeit, entweder die richtige Antwort vorzubringen oder aber sein Nichtwissen offen einzugestehen (der Fall gutgläubigen Irrtums sei hier außen vor gelassen). Oder Korrektheit ist gar kein zentrales Kriterium, sondern den höchsten Stellenwert besitzt das überzeugende Vorbringen der wie auch immer gearteten Antwort. In diesem Fall ließe sich eine weitere Parallele zum mannjafnaðr erkennen, in dem, wie angeführt, grundsätzlich „Interpretationen, nicht Fakten“ den Ausschlag geben. Eine solche Grundlage liefe der Idee eines Wissenswettstreits allerdings fundamental zuwider, sodass hier Zweifel durchaus angebracht sind. Auch die Parallelen zum Rätselwettstreit der Hervarar saga, insbesondere in der letzten Frage sowie den darauf folgenden Reaktionen der Befragten, die beide gar nicht erst versuchen, durch Scheinantworten oder Überzeugungskraft der Niederlage zu entrinnen, deuten an, dass Korrektheit wohl doch das ausschlaggebende Kriterium sein muss. Einsatz. Wendet man sich nun dem Einsatz zu, vor allem, welche Anforderungen der Fragende im Gegensatz zum Geprüften erfüllen muss, erscheint als Erstes selbstverständlich die Frage an sich: Keine weiteren stellen zu können, signalisiert die Erschöpfung des eigenen Wissens- und Ideenfundus und führt zur Niederlage. Dass dies jedoch noch nicht alles ist, hätte durchaus einen Sinn (insbesondere, wenn das Vorabwissen der richtigen Antwort keine Rolle spielt, was jedoch, wie eben angeführt, unwahrscheinlich sein dürfte). Hier lässt sich nun der Bogen zur Rahmenerzählung spannen: McKinnell hat in einer sehr überzeugenden Interpretation Regeln für den Wissenswettstreit formuliert, die all diese Punkte miteinbeziehen. Nach ihm gelten folgende Grundsätze:153

153 McKinnell 1994, S. 97 und vor allem S. 100 f.; ebenso Holtsmark 1964, S. 102 (diese zur früheren Forschung mit ähnlichen Ergebnissen: Holtsmark 1964, S. 104).

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–– Der Fragende muss die Antworten bereits wissen. Dies ergehe aus der letzten Frage: Wäre nicht vorausgesetzt, dass der Fragende die Antwort bereits kennt, wäre Odin durch sie nicht zu identifizieren.154 –– Er verliert, wenn er keine Fragen mehr stellen kann.155 –– Und, vor allem, verliert er auch, wenn der Gegner ihn erkennt, denn dass der Herausforderer seine Identität verbirgt, ist in einem solchen Szenario essentieller Bestandteil – hier ebenso wie in der Gylfaginning und sogar im Rätselwettstreit der Hervarar saga.156 –– Der Befragte unterliegt im Gegenzug schlicht, wenn er nicht die richtige Antwort nennen kann. Besonders interessant ist dieser Ansatz durch das zusätzliche, implizit gegenläufige kompetitive Element: Mit jeder Frage gibt der Herausforderer etwas von seinem Wissen preis  – und enthüllt sich dadurch seinem Gegner ein Stückchen weiter.157 Das gilt insbesondere für hochspezielle Informationen, die nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorbehalten sind. Daraus folgt dann auch, dass, je mehr sich Odin den für ihn wichtigen, sehr spezifischen Inhalten nähert, umso größer die Gefahr für ihn wird.158 Eine solche Frage ist Str. 42: Nur wenige Wesen dürften überhaupt wissen, wo und wie der uralte Riese seine Kenntnisse erworben hat, wie auch McKinnell betont.159

154 McKinnell 1994, S. 101. 155 Einen Anhaltspunkt in dieser Richtung bieten vielleicht auch die Heiðreks gátur der Hervarar saga: Nachdem Gestumblindi/Odin viermal hintereinander seine Rätsel mit derselben Formel eingeleitet hat (Hvat er þat undra, / er ek úti sá / fyrir Dellings durum (Str. 48–51, jeweils 1–3), Tolkien 1960, S. 34 f.), bekundet der König ausdrücklich sein Missfallen an den „kleiner werdenden“ Fragen des Gegenübers und spricht dem Fortführen des Wettstreits den Sinn ab (nicht ohne das gestellte Rätsel direkt im Anschluss zu lösen): Smækkask nú gáturnar, Gestumblindi; hvat þarf lengr yfir þessu at sitja? (Tolkien 1960, S. 35  f.). Daraufhin ändert Gestumblindi sowohl Frageformel als auch Thema. Die folgenden Rätsel werden von Heiðrekr wieder gelobt. Es ist anhand dieser Belegstelle allerdings nicht auszumachen, ob der Einwurf des Königs aus dem Figurencharakter heraus motiviert ist (etwa zwecks Ablenkung bzw. Verärgerung des Gegners) oder auf die unausgesprochenen Regeln des Rätselstreits zurückgreift. 156 McKinnell 1994, S. 97, hier noch im Rahmen eines traditionellen Erzählmusters spezifisch auf Odin angewandt: „Óðinn asks the questions; he will win if he can ask a question that his opponent cannot answer. The opponent will win if Óðinn either runs out of questions or is unmasked“. Die Gylfaginning lässt sich allerdings selbst ohne Odins übliche Rolle in diese Reihe eingliedern, denn auch Gylfi stellt sich pseudonym als „Gangleri“ vor. (Wobei dieser Name wiederum ein Odinsheiti ist, s. Grímnismál Str. 46,2, sodass hier eventuell doch ein Anknüpfungspunkt an den von McKinnell ausgemachten Odinsplot besteht, auch wenn das komplette Muster nicht mehr durchgehalten wird – so stirbt am Ende niemand, sondern die Täuschung der Asen-Trias löst sich in Luft auf und Gylfi/ Gangleri bleibt allein zurück.) 157 McKinnell 1994, S. 101. 158 S. McKinnell 1994, S. 101 für Details bezüglich der einzelnen Fragen. 159 McKinnell 1994, S. 101.



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Als Motivation für die Reise hat McKinnell dabei zudem eine ganz andere ausgemacht als die bereits erwähnten, gegnerzentrierten Anlässe (direkte Prüfung oder aber Wissenserwerb vom Gegenüber). Seine These löst zusätzlich das Paradoxon eines drohenden Hauptesverlusts des Asen angesichts des Odin vorausbestimmten Todes bei Ragnarök: die Erprobung ebendieses Schicksals,160 was im gleichen Zuge dann praktisch ein Infragestellen der gesamten eschatologischen Ereignisse bedeutet. Die einzige Frage, deren Inhalt für Odin unter diesen Umständen wirklich von Interesse ist, wird damit die zweitletzte (Str. 52): die nach dem eigenen Tod.161 Und die esoterische Schlussfrage verliert ihre inhaltliche Relevanz. Wie auch immer sie zur Zeit der Entstehung kulturell konnotiert gewesen sein mag,162 in den Vafþrúðnis­ mál, und auch in der Hervarar saga, gerät sie vor allem zur textinternen wie handlungsfunktionalen Allzweckwaffe, die es dem Protagonisten (und damit dem Autor) ermöglicht – von Anfang an ermöglicht hatte –, den Wettstreit jederzeit siegreich zu beenden,163 wobei in den Vafþrúðnismál der Gewinn jedoch gleichzeitig die Niederlage des Gottes gegenüber dem Schicksal bedeutet. McKinnells Theorie wirkt nicht nur überaus schlüssig, sie erklärt auch noch weitere Details von Odins Fragesequenz (und verleiht der auf den ersten Blick vielleicht etwas drögen Reihe eine wachsende Spannung): Der Aufbau von der Vergangenheit bis hin zum Weltuntergang lässt sich so als ein vorsichtiges Vorarbeiten des Göttervaters hin zur wichtigsten, eigentlichen Frage deuten, ohne sich durch ein zu schnelles Ansprechen zu verraten. Auch die mehrmalige Selbsterwähnung Odins, erst assoziativ über seine Krieger, letztlich im Klarnamen, fügt sich in diese Deutung ein: Indem der Ase schon vor Str. 52 in unverfänglicherem Kontext und unmittelbar nach der Nennung eines anderen Gottes bei den Fragen ins Spiel gebracht wird, erregt seine Nennung in der späteren Strophe weniger Verdacht. Mit Str. 42 ist auch in diesem Sinne ein Wendepunkt erreicht: Vafþrúðnir hat seine Autoritäten preisgegeben bzw. bestätigt und sich damit als verlässliche Quelle ausgewiesen. Machans bereits erwähnte Feststellung, dass hier eine ähnliche Struktur zugrunde liegt wie bei Odins „Eingangsprüfung“ (Probe, qualifizierende Affirmation, nächster Schritt zum/im Wettstreit), fügt sich ebenfalls nahtlos in diese Lesart. Und selbst die unterschiedlichen Längen der Befragung lassen sich aus dem Text heraus damit schlüssig erklären: Dem Riesen erscheint Odin so quasi als ein (buchstäblich) dahergelaufener Wanderer, der wohl Arroganz, vielleicht auch eine gewisse Aggression, aber keine Gefahr oder größere Macht auszustrahlen scheint. Seine „Eignungs-

160 McKinnell 1994, S. 100 und S. 102 f. 161 McKinnell 1994, S. 103. 162 Eine Crux, die, gerade auch im Zusammenhang mit möglichen religionswissenschaftlichen Bedeutungen, den Rahmen dieser Arbeit weit überschreiten würde und der daher nicht weiter nachgegangen werden soll. 163 McKinnell 1994, S. 103.

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prüfung“ ist daher eher beiläufig und entsprechend kurz. Versagt der Gast, jetzt oder später, wird er ohnehin sterben. Was der Unbekannte mitzuteilen hat, ist für Vafþrúðnir abseits der Funktion im Wettstreit ebenfalls von wenig Interesse, eine weitere Bestätigung der Autorität des Gegenübers daher nicht notwendig. Die Fragestellung des Riesen gestaltet sich entsprechend reduziert. Odin hingegen sucht eine zentrale Information zu erlangen. Für ihn ist essentiell, dass sein Adressat und Auskunftgeber eine zutiefst verlässliche Quelle ist, deren Hintergrund sie auch dazu befähigt, korrekt zu antworten: Ausmaß und Ursprung des Wissens müssen seinen Ansprüchen genügen und die beiden irregulär wirkenden Strophen dienen ebendiesem Zweck der Rückversicherung. Dagegen wirkt Ruggerinis Vorschlag, dass es sich bei dieser Frage Odins um einen Regelbruch handeln könnte, in der Begründung nicht ganz so plausibel. Auch sie sieht hier den Versuch des Asen, die Tiefe von Vafþrúðnirs Wissen auszuloten, und eine Parallele zu Str. 34.164 Nach ihr liegt aber die Möglichkeit eines Regelbruchs darin, dass the way the question is asked allows us to take it that the god […] does not know what the reply will be, or is not sure of it. Both factors might plant a suspicion in the giant’s mind about what lies behind such an unusual question. Furthermore, if Óðinn had been caught out during the contest asking some question to which he did not know the answer, according to the rules he could have been declared the loser.165

Hier stellt sich die Frage, wer Odin zum Verlierer hätte erklären sollen. Die einzig weitere Figur ist der Riese, der, neben der Schwierigkeit, Nichtwissen zu beweisen, dazu noch verpflichtet ist, die Frage zu beantworten. In diesem Fall tritt also recht deutlich das Problem der fehlenden unabhängigen Schiedsinstanz zutage. Nicht zuletzt, nachdem, da Vafþrúðnir den Gott weder vor noch nach seiner Antwort des Regelbruchs zeiht, genauso gut davon ausgegangen werden kann, dass sich die Frage noch im Rahmen des Erlaubten befindet. Zugegebenermaßen ist dieser Bereich aber eine Grauzone, da sich in diesem reduzierten Kontext weder das Eine noch das Andere schlüssig beweisen lassen dürfte. Die etwas unkonventionellere Form der Strophe wiederum könnte auch mit der sensiblen Thematik erklärt werden, welche dann ablenkungshalber die mehrfache Betonung der Qualität der Kenntnisse erforderlich macht. Gerade weil es um die Quelle des Riesenwissens geht, das bis dato in der formelhaften Einleitung der Fragen stets affirmiert wurde, besitzt auch die Verlagerung des Interrogativadverbs in eine solche Formel hinein (hví þú tíva rǫc, Str. 42,2) eine gewisse Logik: Der direkten Frage wird quasi durch das Einbetten in Vertrautes und Bestätigendes viel von ihrer

164 Ruggerini 1994, S. 175. 165 Ruggerini 1994, S. 175.



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Schärfe genommen. Dies auch, weil ebenjene Formel in sehr ähnlicher Art bereits bei der Njǫrðr-Strophe verwendet worden war und damit etabliert ist. Zumindest explizit deutet eher weniger darauf hin, dass hier ein Regelbruch vorliegen sollte. Alles in allem scheint mir McKinnells These, dass Odin sehr wohl die (grundlegende) Antwort kennt, seine Strophe also aus ganz anderen Gründen höchst diffizil ist, runder zu sein und weniger Fragen offenzulassen als die Ruggerinis. Die von der Autorin ebenfalls vorgeschlagene Unsicherheit hingegen wirkt äußerst plausibel; insbesondere im Sinne einer Restunsicherheit, die so gering ist, dass die grundlegenden (formalen) Anforderungen an das Vorwissen für die Befragung erfüllt sind, die (persönlichen) Anforderungen Odins in seiner Rolle als Herausforderer des Schicksals an die Zuverlässigkeit des Riesen in eschatologischen Dingen aber noch einmal bestätigt werden müssen. Auf eben eine solche geringe, aber zentrale, Ungewissheit lässt sich dann auch bei der zweitletzten, der Schicksalsfrage Odins schließen: Wie McKinnell feststellt, sollte diese nicht „as trying to discover what Fate holds in store“ gelesen werden, „for if he [Odin, KRMT] did not know that already he would be unable to ask the questions“.166 Wäre aber im Gegenzug keinerlei Restunsicherheit gegeben, wäre das gesamte Abenteuer Odins sinnlos, da sich in diesem Fall das Schicksal überhaupt nicht – nicht einmal vom mächtigsten Asen  – auf die Probe stellen ließe.167 Des Gottes Hoffnung, die eigenen Kenntnisse mit der Antwort seines Gegners widerlegt zu sehen, ist hier die treibende Kraft und offenbart damit auch, dass bei aller Vielkundigkeit ebendieses letzte Minimum an Zweifel, wenn nicht sogar mehr, für den Fragenden im Wissenswettstreit zulässig sein muss. Die Möglichkeit, letztlich, dass es sich bei Str. 42 um einen persönlichen Einschub handelt, der gar nicht zum Wettstreit gehört, kann direkt verworfen werden, da bereits durch die Nummerierung klargestellt wird, dass die Strophe in direkter Beziehung zu den anderen steht und als eigenständig gültiges Element der Fragereihe intendiert ist. Im Ganzen erweist sich der Ansatz McKinnells also für den gesamten „Wissenswettstreit“-Topos als äußerst fruchtbar, da er die entstehenden Probleme überzeugend zu lösen vermag: Einsatz und Risiko beider Parteien, Urteilsinstanz, Pseudonymität, mythische Thematik. Auch ob Str. 42 (und eventuell auch Str. 34) eine zulässige Frage darstellt, ja, überhaupt der allgemeine Punkt „gültige Fragen im Wettstreit“, kann damit wie folgt beantwortet werden: Fragen, die sich zumindest im Grenzbereich bewegen (der Riese als urmythisches Wesen mit Kenntnissen aus tiefster Vorzeit einerseits und der Riese als Individuum, das diese einst erwarb, nun aber persönlich adressiert wird, andererseits), legen gleichzeitig ein solch großes Detailwissen des

166 McKinnell 1994, S. 102. 167 So auch McKinnell 1994, S. 102: „if Fate is certain and Óðinn knows it, there is no point in his journey“.

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Prüfenden offen, dass nur sehr wenige Wesen überhaupt damit vertraut sein können. Damit wird der Kreis der „Verdächtigen“ für die Entdeckung überschaubar. Oder anders gesagt: Nur wer Wissen auch über privateste Details von Individuen besitzt, kann auch entsprechende Fragen stellen. Und über dieses Wissen verfügen so wenige, dass die dadurch hochgradig steigende Gefahr, entdeckt zu werden, einen angemessenen Ausgleich für die eventuelle thematische Sonderstellung bietet, zumal gerade derartige „Rätsel“ für den Antwortenden äußerst einfach zu lösen sind.168 Die fast komplette Verlagerung des Risikos auf den Fragenden ist gerade in solch „zweifelhaften“ Strophen also sehr deutlich zu erkennen. Gleichzeitig muss es wirklich gute Gründe für den Herausforderer geben, eine derartige Frage überhaupt zu stellen, denn er kann dadurch eigentlich nur wenig gewinnen. In Odins Fall dient dies wohl der expliziten nochmaligen Absicherung der Kenntnisse durch ihren Besitzer selbst: einmal (Str. 34) durch die Verortung des Wissenden in frühester Urzeit und damit Bestätigung der entsprechenden Fundierung und Autorität; das andere Mal (Str. 42) durch den Wissenserwerb selbst. Beide Fragen lassen sich als Vorbereitung zur zweitletzten Frage deuten: Odin versichert sich, dass die Antwort, um derentwillen er überhaupt ausgezogen war, auch aus berufenem und befugtem Munde kommt. 2.2.5.5 Antworten Vafþrúðnirs und Vierersequenz 4: Str. 44–51 Um zur Sequenz selbst zurückzukommen, sind Odins Fragen also mit Ausnahme von Str. 42 konventionell und bereiten den allmählichen inhaltlichen Übergang Richtung Ragnarök vor. Im Gegenzug gleichen Vafþrúðnirs Antworten in dieser Reihe denen der vorherigen; und erneut geizt der Riese nicht mit zusätzlichen Inhalten. Bei der Antwort auf die ätiologische Windfrage (Str. 37) steht der Name wieder in der bereits bekannten „[Name] heitir“-Formel am Anfang; die Zusatzinformation wirkt dagegen vergleichsweise trivial, da sie die Entstehung des Windes nur etwas detaillierter erklärt. Im Gegensatz dazu erstreckt sich Vafþrúðnirs Wissen über den Vanen Njǫrðr (Str. 39) von dessen Entstehung und Vergeiselung  – und damit der eigentlichen Antwort – bis in die Eschatologie. Diese Replik sowie die folgende Frage leiten das Thema der letzten Sequenz ein; der Inhalt lässt sich als mythisch-historisch sowie eschatologisch beschreiben. Auf die Frage nach den Einheriern entgegnet der Riese erneut ausführlich (Str. 41) und nennt dabei seinen Gast unwissentlich erstmals mit dessen Klarnamen. Dabei vervollständigt er die eigentliche Antwort, Odins Hof, mit einer Beschreibung der Tätigkeit der Krieger, der Inhalt ist somit kosmologisch/ mythisch-geographisch. Und selbst die „persönliche“ Antwort in Str. 43, das Durchstreifen jeder der neun Welten bis hin zu Niflhel, wird von Zusatzinformationen

168 S. dazu auch Ruggerini 1994, S. 175: „he is asking for a piece of information which his adversary certainly knows, since it concerns himself personally“.



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begleitet, und zwar einer Erklärung dieses Ortes.169 Damit sind die Informationen hier persönlich und kosmologisch. Wie McKinnell betont, erweist sich Vafþrúðnir in der Darlegung seiner Quellen außerdem als dem Gott Odin gleichgestellt – sie beide erwarben sich ihr Wissen von den Toten. Aus ebendiesem Umstand erwächst steigende Spannung: „If the giant’s sources of information are equal to Óðinn’s own, the god has no automatic guarantee of victory“.170 Entsprechend tritt der Wettstreit im Anschluss in die entscheidende Phase ein, strukturell ersichtlich durch die neue Frageformel. Einer Phase, an deren Ende Odins Sieg stehen wird. In dieser neuen Formel entfallen nun die Ordinalzahlen und die vorherige, nach außen gerichtete, Affirmation der gegnerischen Fähigkeiten weicht der demonstrativen Selbstbestätigung: Fiolð ec fór, / fiolð ec freistaðac, / fiolð ec reynda regin – eine Formel, die von Odin bereits in der Rahmenerzählung im Dialog mit Frigg eingesetzt wurde und die durch diesen Rückschluss eine Annäherung an das Götterreich und damit seine wahre Identität oder gar deren nahende Offenbarung suggeriert. Dabei besteht die neue Sequenz, die zweitletzte im Wettstreit, einmal mehr aus vier Frage-Antwort-Kombinationen allgemein-mythischer Natur, ehe die beiden abschließenden Odinsfragen in Str. 52 und 54 den Wettstreit beenden. Außer der allerletzten Frage (Str. 54)  – sowie vielleicht auch Str. 48  – sind alle zeitlich im Kontext des zukünftigen Weltuntergangs angesiedelt und damit grundsätzlich eschatologisch: Wer von den Menschen nach der Zeit des Fimbulwinters lebt (Str. 44),171 auch onomastisch, wie die Sonne nach ihrer Vernichtung wieder entsteht (Str. 46), (neo-)kosmogonisch und in diesem Kontext eines Neubeginns auch (neo-)ätiologisch. Die notorisch unklare172 Str. 48 thematisiert „Mädchen, welche sich über die See bewegen, kluggesinnt ziehen“, wobei aus dieser wie der Antwortstrophe über die „Mädchen Mǫgþrasirs“ neben dem konkreten Inhalt auch die zeitliche Verortung nicht befriedigend erschlossen werden kann.173 Nach Machan legt zumindest heimi

169 Zur Kontroverse s. Machan 2008, S. 97 f. 170 Machan 2008, S. 100. 171 Machan 2008, S. 99 f.: die Namen Líf und Lífþrasir sind, ebenso wie Hoddmimir, nur hier und in der Gylfaginning, welche die Vafþrúðnismál zitiert, belegt. Dazu Lorenz 1984, S. 644 ff. Vgl. ggf. auch Mǫgþrasir (Str. 49,3); Machan 2008, S. 103. 172 McKinnell 1994, S. 91; Machan 2008, S. 102; S. S/G 3/1, S. 176 f., Ruggerini 1994, S. 184. Boers Darstellung überzeugt hier nicht wirklich: Während die Vorstellung eines Kontrasts zwischen den „glücksgöttinnen (hamingjur) der bewohner der erneuten welt“, welche ein „verklärtes gegenstück zu den þursa meyjar, welche Vsp 8 das unglück in die welt bringen“ (Boer 1922, S. 58) seien, ein interessanter Ansatz ist – der allerdings nicht konkret am Text erhärtet werden kann, für die aber zumindest die Vǫluspá einen gewissen Ankerpunkt bietet  –, gibt es für die Annahme „prophetischer extase“ (Boer 1922, S. 58) des Asen an dieser Stelle nicht den geringsten Beleg. 173 Machan 2008, S. 102 ff. gibt einen Forschungsüberblick; seine eigene Übersetzung erfuhr von Gade allerdings heftige Kritik (Gade 1991, S. 372). McKinnell stellt dazu fest: „the syntax is difficult in either interpretation and her [Gades, KRMT] translation produces a second half-stanza with no main

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nahe, dass es sich um die eine, neue Welt post Ragnarök handelt (und nicht die alten neun).174 2.2.5.6 Exkurs: Str. 48 Ruggerini175 notiert zur schwer verständlichen Str. 48 eine Ähnlichkeit mit einer Frageeinleitung in den Heiðreks gátur der Hervarar saga176 und Baldrs draumar Str. 12.177 In den Vafþrúðnismál enthalte die Strophe die einzige Frage der gesamten Reihe, welche die Form „Fragepronomen + [Form von ‚sein‘]“ verwendet178  – eine Kombination, die sich auch in den Heiðreks gátur finde und in ähnlicher Verwendung die Antwort „Wellen“, also Töchter Rans, ermögliche.179 Wenn man die Argumentation der Autorin aufnimmt, dass die Dialogpartner hier quasi in unterschiedlichen Gattungen kommunizieren, findet sich in dieser Strophe also auch ein gewisser formaler Bruch, eine Änderung des Typs, ähnlich wie bei den persönlichen Fragen. Es wäre jedoch das einzige Mal für einen derartigen Modus, und eine unmittelbare Motivation des Charakters für einen solchen Schritt wird aus dem Text nicht ersichtlich. So interessant dieser Ansatz ist, wirkt er zudem nicht völlig überzeugend, da die Autorin über mehrere ähnliche Belege jeweils nur stärkere Vermutungen äußern kann180 und vor allem zwei recht ähnliche Ausprägungen fundamental unterschiedlich interpretiert.181 Durch die Lesart Ruggerinis entfiele indes das

verb“ (McKinnell 1994, S. 91). Die Deutung von heimi kritisiert Gade allerdings nicht, und die Strophe wird von einem Großteil der (jüngeren) Forschung als eschatologisch angesehen. S/G (3/1, S. 177) erkannten hier im Gegensatz keine eschatologische Aussage, sondern stellten fest, dass die Str. 48 f. „den zusammenhang der von den letzten dingen handelnden vísur seltsam unterbrechen“. 174 Machan 2008, S. 104. 175 Ruggerini 1994, S. 184 f. 176 Nach Tolkien (1960, S. 40) Str. 63. 177 Dabei ist unklar, ob die Frage eher rätselartig – wie Ruggerini es für Baldrs draumar vermutet (Ruggerini 1994, S. 186 f.; mit Verweis und detaillierter EK 3, S. 455 f., der allerdings ebenso vermerkt, dass in den Rätseln der Hervarar saga „auch Vögel, Pflanzen, die Steine eines Brettspiels oder Kohlen als ‚Frauen‘ (brúðir, rygiar, meyiar) oder ‚Spielgefährtinnen‘ (leikur) umschrieben“ werden (EK 3, S. 456)) – oder auf reale Inhalte bezogen ist. 178 Ruggerini 1994, S. 187. 179 Ruggerini 1994, S. 184 f. 180 Gerade die Strophe aus Baldrs draumar ist nicht unumstritten und auch die Deutung „Wellen“ nicht durchgängig akzeptiert. Weiterhin unterbleibt eine textinterne Beantwortung der Frage, da die angesprochene vǫlva mit der Enttarnung Odins reagiert, was die Forschung bisher nur schwer mit der Frage in Verbindung bringen konnte (zu all diesen Punkten s. EK 3, S. 449 ff.; zu einer Diskussion der vorgeschlagenen Antworten im Fall einer Deutung als Rätsel, s. EK 3, S. 452 f. und zur Deutung als „Wellen“ s. EK 3, S. 454 f.). 181 Wenn Fáfnir auf Sigurds Frage (Fáfnismál Str. 12,4: hveriar ro þær nornir […]) nach „the specific nornir“ (Ruggerini 1994, S. 186) ernsthaft und im Weltkontext realitätsbezogen antwortet, ist dies für die Autorin ein Beweis dafür, dass es sich hier nicht um ein Rätsel handelt. Weiterhin zeige seine darauf folgende Frage, dass er in der Tat an den Nornen interessiert gewesen sei (Ruggerini 1994, S. 186 f.).



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Problem, dass Vafþrúðnirs Antwort mit der möglichen Rätsellösung „Wellen“ kaum in Übereinstimmung zu bringen ist,182 und eine solch irreführende Frage hat, gerade verbunden mit der janusköpfigen Gestalt Odins, in der Tat ihren Reiz. Besonders Sigurds Frage Hveriar ro þær nornir, er … in den Fáfnismál zeigt aber auch, – da jene sogar in Ruggerinis Deutung als seriös interpretiert wird –, dass die Kombination „Fragepronomen + [Form von ‚sein‘]“, selbst wenn sie in den Vafþrúðnis­ mál nur einmal auftritt, nicht nur im Rätselkontext, sondern durchaus auch in einem unspezifischeren Wissensdialog verwendet werden kann. McKinnells Vorschlag, dass es sich hier eventuell um beides handeln könnte,183 wirkt daher einleuchtender, wenn auch anhand des eben erwähnten, nicht rätselartigen, Belegs vielleicht gar kein zwingender Grund besteht, hier den Übergang von einer Kategorie in die andere anzunehmen. Somit lässt sich die Frage in Str. 48 nur im allgemeinen Sinne als mythologisch, vermutlich eschatologisch, beschreiben; aus Vafþrúðnirs Antwort ergeht dazu, dass die „Mädchen“ eine Art Schutzgeistfunktion innehaben dürften;184 alles andere bleibt obskur.

Wenn allerdings Vafþrúðnir auf Odins Frage (hveriar ro þær meyiar), welche Ruggerini für rätselartig und eine Art Intelligenztest hält, was sie am Gebrauch von „the more general meyiar“ (Ruggerini 1994, S. 186) festmacht, ähnlich ernst und realitätsbezogen antwortet, verkennt er für sie die Situation und antwortet nur auf die wörtliche Frage (Ruggerini 1994, S. 187). Ob ein solch fundamentaler Unterschied in der Ernsthaftigkeit sich so stark am „spezifischen“ Terminus „Nornen“ festmachen lässt, scheint mir etwas zweifelhaft, zumal diese Wesen in Ursprung und Funktion durchaus Varianz aufweisen, wie aus Fáfnirs Antwortstrophe (Fáfnismál Str. 13) sowie der Gylfaginning (Kap. 15, 16, 36) ergeht; s. dazu auch de Vries AR 1, S. 270 ff. Ganz allgemein folgen die Fragen in den Vafþrúðnismál überdies nicht immer einer unmittelbar linear-logischen Verbindung (man vergleiche etwa Str. 22 und 24, bei denen eine solche Verbindung besteht (Ursprung der Himmelskörper) mit Str. 36 und 38 (Ursprung des Windes und Grund für Njǫrðrs Anwesenheit bei den Asen)). Daher kann man eine Fortführung des Gedankengangs vergleichbar den Fáfnismál-Strophen nicht durchgängig erwarten, bzw. deren Fehlen sollte nicht unbedingt als Indikator für mangelnde Ernsthaftigkeit aufgefasst werden. Zuletzt werden im speziell mit Nornen befassten Kap. 15 der Gylfaginning die drei Nornen Urd, Skuld und Verðandi explizit als meyiar eingeführt: […] ok ór þeim sal koma .iii. meyiar, þær er svá heita: Urð, Verðandi, Skulld; þessar meyiar skapa mǫnnum alldr, þær kǫllum vær nornir (Lorenz 1984, S. 234). Eine gewisse begriffliche Nähe dürfte also aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier gegeben sein. 182 Der gegensätzlichen Auffassung ist Machan (2008, S. 102); er deutet die Antwort Vafþrúðnirs in einem solchen Kontext als „the inundation of the land by the sea in the final stages of the Ragnarǫk“. Dies wirft allerdings die Frage auf, wieso die Wesen – ob nun konkret oder metaphorisch – dann ausgerechnet als hamingjor beschrieben werden (ohne auf diesen ebenfalls nicht ganz unproblematischen Terminus weiter einzugehen). Ruggerini sieht in der Antwort den Fehler Vafþrúðnirs, welcher die Frage zu wörtlich nehme. Nachdem aber offenbar jene „wörtliche“ Antwort bereits ausreicht (und überdies, soweit sich das bei solch spärlichen Informationen feststellen lässt, keine internen Inkonsistenzen zeigt), lässt sich auch fragen, inwieweit eine mögliche Alternativebene dann überhaupt eine Rolle spielt. 183 McKinnell 1994, S. 91. 184 Machan 2008, S. 103 f.; S/G 3/1, S. 177.

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2.2.5.7 Abschluss der Sequenz Schließlich fragt Odin nach den (verbliebenen) waltenden Asen im Anschluss an den Weltuntergang, also erneut eine onomastische Prüfung. Die letzte Viererreihe ist damit abgeschlossen. Auch in dieser Sequenz hat der Riese keinerlei Schwierigkeiten bei der Erwiderung. In bewährtem Muster beantwortet er die Namensfrage mit Líf und Lífþrasir; darüber hinaus beschreibt er die Lebensbedingungen der beiden Figuren und sie selbst als Ursprung der kommenden Geschlechter.185 Somit kann man vielleicht von einer Art Übergang von der Eschatologie in die Ätiologie (der nächsten Welt) sprechen. Die Frage nach der postapokalyptischen Sonne wird von Vafþrúðnir in den präbzw. apokalyptischen Kontext gesetzt. Hier sind die ergänzenden Inhalte recht spärlich und fast nur Variation des Themas, dass die neue Sonne der alten gleicht. Aufgrund der Unklarheit von Str. 48 sowie der Erwiderung erweist sich die Analyse der Entgegnung als ähnlich unergiebig. Eine direkte Antwort auf die Frage scheint sich hier aber vor allem in Str. 49,4 f. zu finden (hveriar ero […] – hamingior […] ero). Die drei einleitenden, undurchschaubaren Verse erzählen eventuell eine Art mythologische, vielleicht eschatologische, Vorgeschichte (der Ankunft) dieser meyiar.186 Als gesicherte Zusatzinformation kann in jedem Fall die riesische Abstammung gelten. Die Frage nach den künftigen Asen beantwortet Vafþrúðnir schließlich mit der Erwähnung von Víðarr und Váli sowie Móði und Magni; das erste Sohnespaar (Odins) „bewohnt“ das Heim oder die Heiligtümer der Götter, während die Thorssöhne Mjöllnir „erben“ und, – wenn man von der Schreibung im Codex Regius ausgeht, – damit auch dessen Rolle im Kampf.187 Es ließe sich hier noch überlegen, ob die Frage des Asen bereits durch die Beschreibung der Söhne Odins beantwortet wird, oder auch Móði und Magni zu diesem ersten Teil gehören; was nicht unerheblich von der Übersetzung von ráða eignom in Str. 50,4 f. abhängt: Deutet man es als spezifische Herrscherfunktion, ist es möglich, hier zwischen Herrschaft/Inbesitznahme von Orten (von Heim oder Heiligtümern, in jedem Fall also einem – gegebenenfalls geistigen – Kern der Reiche) und allgemeiner Verteidigung bzw. Kampf zu unterscheiden. Machan spricht dann auch die Herrscherrolle nur Víðarr und Váli zu.188 Spätestens, wenn ráða als allgemeineres „verfügen über“ übersetzt wird, fällt darunter aber auch das Eigen-

185 Etwaige biblische Anklänge sind für diese Untersuchung nicht maßgeblich, s. dazu ggf. Machan 2008, S. 100. 186 S. auch McKinnells Darstellung einiger Übersetzungsvarianten und Probleme (McKinnell 1994, S. 91). 187 Zur Manuskriptvariante oc vinna (Codex Regius) bzw. Vingnis s. Machan 2008, S. 105 f. Mit letzterer Schreibweise würde nicht die Funktion in der Schlacht, sondern noch einmal Thor anhand eines seiner Heiti erwähnt. In diesem Fall wäre praktisch keine Zusatzinformation enthalten. 188 Machan 2008, S. 105.



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tum Mjöllnirs, dessen Besitzübergang den Kern der zweiten Halbstrophe ausmacht. Da die kämpferische Funktion von Móði und Magni in jedem Fall eine essentielle ist (wie es auch die ihres Vaters war), lässt sich zumindest annehmen, dass der Stellenwert der beiden Brüderpaare sich nicht allzu weit unterscheidet. Wenn hier mit der Halbstrophe über Thors Nachkommen Zusatzinhalte vorliegen sollten, bewegen sie sich auf einem ähnlichen Niveau wie die „Hauptinformation“. 2.2.5.8 Odins letzte Fragen Damit bleiben zwei letzte Fragen übrig: Die Odins Tod betreffende Str. 52 sowie die Abschlussfrage. Beide stellen, wie Ruggerini betont, den Asen ins Zentrum und bewegen sich gleichzeitig zurück von der neuen Welt nach Ragnarök hin zu zuerst dem Untergang und dann dem Ereignis, welches als dessen Omen angesehen werden kann.189 Formal deutet nichts auf eine Sonderstellung der Strophen hin: Wie die vorigen werden sie mit der Fiolð ec fór-Formel eingeführt, auch die in beiden Odinsfragen gebrauchte Einleitung mittels hvat trat bereits früher auf (unpersönlich in der Frage nach den Überlebenden in Str. 44,3 und persönlich in der Frage nach Vafþrúðnirs ältesten Erinnerungen in Str. 34,4). Str. 52 fragt spezifisch nicht nach Odins Schicksal, sondern seinem Tod (aldrlagi, Str. 52,5); implizit gefordert wird hier also die Bestätigung, dass jener sich beim Weltuntergang ereignet. Die Frage ist damit ebenso eschatologisch wie persönlich orientiert und kann, wie bereits McKinnell und Ruggerini feststellten, als Schlüsselfrage für den gesamten Wettstreit angesehen werden.190 Neben solchen Aspekten zeigt sich an dieser Stelle auch das von McKinnell notierte, bereits erwähnte Paradoxon am deutlichsten: Indem der Riese bestätigt, dass Odin an Ragnarök zu Tode kommen wird, bestätigt er auch, dass der Ase sein Leben nicht im gegenwärtig ablaufenden Wissenskampf lassen muss. Ruggerini beschreibt dies als „last opportunity of making a fool of the giant: by throwing Óðinn’s death forward into the future, Vafþrúðnir removes the possibility of it from the present, that is, from the contest which is now in progress. Consequently, his adversary cannot now lose“.191 Ob Odin den Riesen sich in der Tat zum Narren machen lässt, scheint jedoch fraglich und vernachlässigt vor allem die Tragik der Frage192 zugunsten der Überlegenheitsdarstellung. Schließlich ist Vafþrúðnir nicht verantwortlich für oder in irgendeiner Art beteiligt an Odins Tod an Ragnarök, verschiebt also auch nichts; er bestätigt nur dessen Gewissheit. Mag der Riese sich damit selbst übertölpeln, gehorcht er in diesem Moment dennoch einzig den Regeln des Wett-

189 Ruggerini 1994, S. 177. 190 McKinnell 1994, S. 102 f.; Ruggerini 1994, S. 177: „the turning-point of the whole encounter“. 191 Ruggerini 1994, S. 177. 192 McKinnell 1994, S. 103.

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streits: Wahres Wissen verkünden – und damit letztlich für beide Parteien ein Todesurteil.193 Auch in der letzten „echten“ Frage des Dialogs überzeugt die Antwort des Gastgebers in Inhalt und Umfang: Nicht nur Odins Tod durch Fenrir wird von ihm genannt, sondern er berichtet zusätzlich im Detail über die Sohnesrache Víðarrs am Weltfeind. Hier hätte Vafþrúðnir überdies die letzte Gelegenheit gehabt, Odin zu benennen: Da er ihn nach der folgenden Frage erkennt und anspricht, aber die Lösung nicht vorbringen kann und damit seine Niederlage erklärt, hatte die Benennung zwangsläufig nach einer korrekten Antwort erfolgen müssen und nicht nach einer Frage (ansonsten hätte er mit der Enttarnung nach Str. 54 gewinnen können). Die allerletzte Frage in Str. 54 ist nun die bereits bekannte „Trickfrage“, bei der ebenfalls bemerkenswert ist, dass sie zu einem gewissen Grad gattungsübergreifend fungiert haben muss, da sie auch die Rätsel der Hervarar saga abschließt, also einen Wettstreit ähnlicher, aber nicht gleicher Art. Allerdings finden sich direkte Korrespondenzen auch nur in diesen wenigen Zeilen und es handelt sich um keine wortwörtliche Übereinstimmung.194 Zwar gibt es in der Situation Parallelen: Der verkleidete Odin stellt sich zu Gast bei König Heiðrekr einem Rätselspiel mit düsteren, wenn auch nicht explizit formulierten,195 Perspektiven für den Verlierer. Die restlichen Fragen im Dialog der beiden Teilnehmer unterscheiden sich aber inhaltlich wie stilistisch stark von den in den Vafþrúðnismál gestellten; weiterhin ist die Figur des Gastgebers hier deutlich weniger neutral bzw. ambivalent: Während Vafþrúðnir hauptsächlich über sein Wissen dargestellt wird und selbst seine anfängliche Drohung erst auf Odins aggres-

193 Wenn überhaupt, ließe sich in den durch Vafþrúðnirs Aussage versicherten Ereignissen eine Ausprägung von Beowulfs Sentenz Wyrd oft nereð / unfægne eorl, / þonne his ellen deah („Das Schicksal schützt oft den nicht-todgeweihten Fürsten, wenn dessen Mut taugt“, Beowulf, Z. 572 f.) erkennen: Odin ist in diesem Moment unfæge/ófeigr, da ihm der Tod zu einem späteren Zeitpunkt bestimmt ist, was durch Vafþrúðnir in Str. 53 ausdrücklich bestätigt wird; gleichzeitig beweist der Ase bei seinem Austausch mit dem Riesen, nicht zuletzt mit ebendieser Frage nach seinem Untergang, ellen. Aufgrund der Interdependenz der Todesdrohungen im Wettstreit bedeutet das außerdem, dass spätestens von diesem Moment an nicht mehr Odin, sondern der Riese fæge bzw. feigr ist (im Grunde bestand dieser Status sogar bereits von Anfang an, da Odins eschatologischer Tod eine Tatsache darstellt); genau dies wird von Vafþrúðnir dann auch in seiner letzten Aussage bekräftigt (Str. 55,4). 194 Hervarar saga: Hvat mælti Óðinn / í eyra Baldri, / áðr hann væri á bál hafðr? (Tolkien 1960, S. 44 (Str. 73)), Vafþrúðnismál: hvat mælti Óðinn, / áðr á bál stigi, / siálfr í eyra syni? (Str. 54, 4–6). Auch hier findet sich überdies wieder eine Konjunktivform, deren Grundlage nicht auf Anhieb zu deuten ist. Machan (2008, S. 107) zählt sie unter die „Probleme“, welche die Strophe im Vergleich mit der in der Hervarar saga verwendeten Form enthält (Machan 2008, S. 108). 195 „[…] the unstated implication seems to be that he will be released if he can ask a riddle which the King cannot aswer, but killed if he runs out of riddles first“ (McKinnell 1994, S. 95).



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sive Herausforderung hin erfolgt, ist König Heiðrekr explizit durch „böse“ Handlungen ausgezeichnet,196 bis hin zum Brudermord. Gleichzeitig wird der Herrscher in der Saga zwar auch genretypisch als entschlossener Kämpfer sowie als einflussreicher Mann mit vielen Freunden beschrieben, dies ist mit dem Riesen jedoch ebenso wenig vergleichbar, denn dessen (mytho-)soziales Umfeld sowie seine Vorgeschichte bleiben praktisch gänzlich im Dunkeln. Seiner Charakterisierung entsprechend reagiert Heiðrekr weiterhin vollkommen anders auf Odins Sieg, der in beiden Fällen durch denselben Trick zustande gekommen ist: Wo Vafþrúðnir seine Niederlage anerkennt und sich seinem Gegner und den Regeln beugt, fährt Heiðrekr auf und greift den Asen mit der Waffe an.197 Interessanterweise ist es erst diese Handlung, die ihm die Todesprophezeiung Odins einbringt198 – auch hierin liegt ein deutlicher Unterschied zur Edda; beim Rätselkampf stand nicht Leben gegen Leben wie im eddischen Gedicht, sondern wohl das Leben (Odins) gegen den Verzicht auf Rache bzw. Strafe (durch Heiðrekr). Es ist eventuell nachdenkenswert, ob der weniger hohe Einsatz mit dem niedrigschwelligen Inhalt des Sagawettstreits in Verbindung steht – auf der einen Seite die ältesten, wahrsten (Vafþrúðnismál Str. 42,6) und endgültigsten Dinge; auf der anderen mehr oder weniger triviale Rätsel.

196 Dies bereits von Jugend an, etwa: En svá mart gott sem hann [Angantýr, KRMT] gerði, þá gerði Heiðrekr engum manni færa þat illt var (Tolkien 1960, S. 21), oder: En er Hǫfundr varð þessa varr, bað hann Heiðrek burt ganga ok gera eigi fleira illt í þat sinn (Tolkien 1960, S. 21). Im Erwachsenenalter wird Heiðrekr dann etwa bezeichnet als kenndr er mǫrgum illum hlutum (Tolkien 1960, S. 28), aber auch als klug: gerisk hǫfðingi mikill ok spekingr at viti (Tolkien 1960, S. 30). 197 Ruggerini sieht gerade in jener Reaktion den Beweis für Odins foul play (Ruggerini 1994, S. 178), was mir allerdings diskussionswürdig scheint, da speziell diese Figur eines mächtigen Antagonisten nun eben nicht durch einen besonders guten Charakter ausgewiesen ist und auch kalt- bzw. heißblütiges Töten zu seinen Missetaten gehört. Es wäre hier also zu fragen, inwieweit Heiðrekrs Reaktion als seinem Charakter und inwieweit der Situation bzw. Odins – öffentlicher – Täuschung (und damit auch Bloßstellung) geschuldet zu deuten ist. 198 Fyrir þat, Heiðrekr konungr, er þú rétt til mín ok vildir drepa mik saklausan, skulu þér inir verstu þrælar at bana verða (Tolkien 1960, S. 44) – eine Prophezeiung, welche sich dann auch alsbald erfüllt. Dass hier das bisherige Motiv vom Schwert, welches nicht gezogen werden kann, ohne zu töten, ins Leere läuft, vermerkt überdies McKinnell (1994, S. 96) und fügt an: „But Heiðrekr is to suffer a memorable death later in the saga, and that is probably why he does not die here“. Er vermutet, dass das „traditionelle“ Ende näher an dem der Grímnismál liegt, in denen der böse König durch ein scheinbar zufälliges Missgeschick durch die eigene Waffe stirbt, und dass auch die Handlung der Vafþrúðnismál in einer derartigen Weise zu Ende gedacht werden solle. Einen gemeinsamen Ursprung der beiden Texte sieht er, zumal angesichts der motivischen Parallelen zu den Grímnismál, nicht, sondern postuliert eine „independent Odinic source, now lost“ (McKinnell 1994, S. 96). Demgegenüber bezeichnet Ruggerini (1994, S. 178) Odins Prophezeiung als erzählerische Notwendigkeit, „to compensate for the absence of the head-wager from this version of the story“. Auf das offensichtlich blinde Schwertmotiv an dieser Stelle geht sie dabei nicht ein.

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Da die Abschlussfrage in zwei solch unterschiedlichen Quellen auftritt, wäre darüber hinaus zu überlegen, ob es sich dabei nicht vielleicht um einen Topos handelt, in welchem Odins spezifische Kombination von Wissen, angewandter Klugheit, und gefährlicher Unberechenbarkeit literarische199 Ausformung gefunden hat. Ebendiesen Gedanken legt auch McKinnell bei seiner Theorie einer „probably […] extensive tradition of the wisdom or riddle contest in various parts of northern Europe“ zugrunde, welche auch in späteren, beispielsweise englischen und dänischen Werken, auftrete und sich „almost certainly“ sowohl in der Hervarar saga als auch in den Vafþrúðnismál manifestiert habe.200 Dabei entwickelt McKinnell die episodischen Bausteine eines solchen „traditional story pattern“ wie folgt:201 –– Odin sucht in Verkleidung die Halle eines bösen Königs oder Riesen für den Wettstreit auf. –– Odin stellt die Fragen und gewinnt, wenn sein Kontrahent nicht antworten kann; der Kontrahent gewinnt, wenn Odin keine Fragen mehr stellen kann oder demaskiert wird. –– Der Verlierer des Wettstreits wird sterben. –– Eventuell beginnt der Kontrahent zum Ende des Wettstreits hin, Verdacht bezüglich der Identität Odins zu schöpfen. –– Odin gewinnt durch die Frage nach dem Inhalt seines Flüsterns in Baldrs Ohr. –– Der Kontrahent reagiert jähzornig und stirbt, vermutlich durch Stolpern und Stürzen in sein eigenes Schwert.202 Die sonstigen Details, etwa Odins Motivation, aber auch formale Aspekte, seien variabel „and must therefore be taken to reflect the particular outlook of the Vm. poet“.203

199 „Literarisch“ im Sinne narrativer, doch nicht notwendigerweise schriftlicher Texte. 200 McKinnell 1994, S. 96 f. 201 McKinnell 1994, S. 97. 202 McKinnell 1994, S. 97. 203 McKinnell 1994, S. 98. Noch weiter geht Ruggerini, die auch die Hǫfuðlausn Egils unter das Szenario „Charakter muss eine Prüfung seines Wissens oder seiner dichterischen Fähigkeiten bestehen, um sein Leben zu retten“ zählt, allerdings ohne ausdrücklich eine nordeuropäische Tradition auszumachen. Dafür zieht sie auch die Parallele zum Märchenmotiv (Ruggerini 1994, S. 142 f.; für einen anderen Blick auf eine Verbindung zwischen Vafþrúðnismál und Hǫfuðlausn, s. Finlay 2011). Dieser Ansatz hat den Vorteil einer größeren Textmasse, die auch weitere Wissensdialoge einschließt. Andererseits stammen die Beispiele hier aus einem so breit gefächerten Bereich mit solch unterschiedlicher Gestaltung, dass McKinnells These mir im Ganzen konziser erscheint. Im Kontext der Hǫfuðlausn-Dichtung etwa tritt Egill, neben der Tatsache, dass hier kein Frage-Antwortspiel vorliegt, auch nicht pseudonym auf, sodass das bei McKinnell wesentliche Moment der Enttarnung damit entfällt. Auch Thor in den Alvíssmál, welche für Ruggerini gleichermaßen unter diese Rubrik fallen, stellt sich seinem Kontrahenten bereits vor Beginn des Wissensdialogs mit seiner echten Identität als Vingþórr und Sohn Odins vor, welchen er mit dem Heiti Síðgrani benennt (Alvíssmál Str. 6). Der Einsatz des Gottes ist hier überdies nicht das Leben, sondern – zumindest scheinbar – die versprochene Braut, die Fragen sind



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Diese Darstellung ist sehr interessant, weil sich in ihr Odins Funktion als Weisheitsfigur und Wissenssuchender, als Gast unter Menschen und Riesen sowie als im weitesten Sinne unzuverlässige Instanz vereinen.204 Wissens- und Rätselwettkampf werden in der These allerdings zusammengefasst, ohne dass darauf weiter eingegangen würde, obwohl durchaus Unterschiede auszumachen sind, sowohl was Inhalt als auch Ausgestaltung der Texte betrifft. Dass die Sagasequenz und das Eddalied dabei unabhängige Ausprägungen eines solchen Grundmusters darstellen, nimmt McKinnell gleichwohl an.205 Noch eine weitere Parallele gibt es zwischen dem Ende des Rätsel- und dem des Wissenswettstreits der Vafþrúðnismál: Beiden Abschlussstrophen geht eine Fragestrophe voraus, welche Odin thematisiert – im eddischen Text die Frage nach dem Untergang des Asen, in den Heiðreks gátur die nach Odin auf seinem Hengst Sleipnir. Auch hier lässt sich damit wieder eine Art Niveaugefälle beobachten: das (heilige? esoterische?) Wissen um Odins Tod und das, wenn auch übernatürliche, eher alltäglich-bildhafte Sitzen auf dem Pferd. Nur in der Hervarar saga lässt Odin andererseits schon bei der Baldr-Frage erkennen, dass er bereits weiß, dass damit der Wettstreit beendet sein wird,206 denn er leitet sie dort mit Segðu þat þá hinzt207 ein; was überdies das einzige Mal ist, dass er sich zwischen der unpersönlichen Þá mælti GestumblindiFormel und der folgenden Rätselstrophe äußert. Da außerdem die Baldr-Strophe nur die halbe Länge der anderen Rätsel aufweist, ist die Segðu þat-Einleitung auf eine verlorene (nicht rekonstruierbare) Versgrundlage zurückgeführt worden.208 Dazu passt auch, dass diese Phrase sich gut ins Schema formelhafter Wissensstrophen einfügt; man vergleiche vor allem die nummerierte Fragesequenz Odins in den Vafþrúðnismál: Segðu þat iþ [Ordinalzahl], / allz þic svinnan/fróðan qveða mit der Einleitung Segðu þat þá hinzt, ef þú ert hverjum konungi vitrari der Heiðreks gátur: Bei beiden findet sich das strukturierende Element und die Infragestellung der Klugheit des Gegners. Im Gegensatz zu etwa den ähnlichen Segðu þat-Formeln der Svipdagsmál, Fáfnismál

stereotyp und wenig inhaltsreich; der Eddakommentar bezeichnet sie gar als eine Art „Vokabeltest“ (EK 3, S. 278) sowie die gesamte Prüfung als „Freierprobe intellektueller Natur“ und zudem als in dieser Form in der norrönen Literatur ein Unikat (EK 3, S. 275). 204 Für Hultgård reicht ein solches Handlungsmuster sogar bis zurück ins Indoeuropäische (Hultgård 2009, S. 536 ff.). Die von ihm angeführten Quellen korrespondieren allerdings, wie er selbst anmerkt, nicht in allen Punkten mit den Vafþrúðnismál; in der Tat gibt es durchaus signifikante Unterschiede (etwa bei der für die altnordischen Texte und McKinnells Modell zentralen „Siegesfrage“), weshalb die Theorie an dieser Stelle nicht weiter aufgegriffen wird. 205 McKinnell 1994, S. 97. 206 Noch deutlicher Machan (2008, S. 108): „Óðinn intends to terminate the contest with this question, for he begins the stanza with „Segðu þat þá hinzt“ [‚Say this last of all‘]“. 207 Tolkien 1960, S. 44. 208 Tolkien 1960, S. 44.

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oder auch der Alvíssmál wird hier zudem die Aufreihung entweder offen ausgedrückt (Ordinalzahl) oder impliziert (hinzt). Inhaltlich geht es in beiden abschließenden Fragestrophen der Vafþrúðnismál auf den ersten Blick um mythisches sowie (in Str. 54 möglicherweise209) eschatologisches Wissen; tatsächlich ist die Frage aber rein funktionell. Odin weiß, dass sie für niemand anderen zu beantworten ist als ihn; er benötigt weder Fakten noch Bestätigung; sie ist, wie Ruggerini es formuliert, „this ‚lethal weapon‘“;210 man könnte auch sagen, im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument. In dieser wie auch der vorigen Fragestrophe nennt der Ase sich selbst außerdem mit Klarnamen; gerade in Str. 52 für McKinnell ein Zeichen für deren Dringlichkeit: He uses the basic name Óðinn, although something like a hundred and fifty others were available, besides many other poetic evasions; the question could not be put more baldly or with more urgency, at least in verse. And once it is answered, he ends the contest immediately.

Erkennbares Drängen also, welches für den Riesen auch deshalb als (lebens-)wichtiger Hinweis dienen hätte können.211 Im Anschluss daran lässt sich die Selbstbenennung in der finalen Frage nun folgendermaßen deuten: Tarnung ist nicht mehr nötig; mit Vafþrúðnirs Unfähigkeit, ihn an der letzten Strophe zu erkennen, ist Odin sich nun des Sieges gewiss; es geht von dort an nur mehr, und in jeder Beziehung, um das Ende.212 Damit gehört das letzte Wort dem Riesen und in Str. 55 erfolgt dann schließlich auch die Hinwendung Vafþrúðnirs direkt zu Odin. Nicht mehr die unpersönliche, rein wissensbezogene Antwort wird nun gegeben, sondern der Riese verlässt den neutralen Raum und adressiert den Göttervater direkt: þú […] Óðin […] þú. Ausdrücklich gesteht er die Niederlage ein, indem er das zwangsläufige Unwissen aller Menschen bzw. Wesen in dieser Frage feststellt (ey manni þat veit), was sich auch als subtile Anklage lesen lässt, und benennt die Konsequenz für sich selbst (feigom) sowie dessen Ursache und Kontext (mælta ec mína forna stafi). Mit einem resigniert klin-

209 Deutet man Baldrs Tod als Anzeichen für das Bevorstehen Ragnaröks. 210 Ruggerini 1994, S. 142. 211 McKinnell 1994, S. 103. 212 Eine überaus interessante Deutung dieses letzten Abschnitts bietet Sverdlov 2011: Für ihn ist die Formel der letzten Fragenreihe des Gottes nicht eine Performanz der eigenen Kenntnisse, sondern versteckter Zauber, mit dem Odin dem Riesen, vorbereitend auf die letzte Frage, die Sverdlov als illegitim einstuft, die Kraft nimmt, ähnlich Heiðrekr zu reagieren. Entsprechend würde der Ase hier nicht aus Dringlichkeit alle Vorsicht fahren lassen, sondern weil er sich seiner Sicherheit durch den Zauber gewiss ist. Auf die hiesige Untersuchung Vafþrúðnirs als þulr hat dieser Punkt indes keine großen Auswirkungen. (Für eine Interpretation, was mit diesem Ansatz Odins Gebrauch der Formel gegenüber Frigg bedeutet – oder bewirkt, s. McGillivray 2015, S. 99.)



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genden Résumé und der Bekräftigung von Odins intellektueller Hegemonie endet das Gedicht:213 Ey manni þat veit, hvat þú í árdaga sagðir í eyra syni; feigom munni mælta ec mína forna stafi oc um ragna rǫc. Nú ec viþ Óðin deildac mína orðspeki, þú ert æ vísastr vera. (Str. 55) In dieser Strophe findet, neben allem anderen, eine Verschiebung des Äußerungskontexts statt: von der formalen Informationsverbreitung hin zur persönlichen Anrede des Gegenübers (sowie Selbstreferenzierung) und endend mit einer emphatischen Anerkennung der enormen und dauerhaften (somit der Zeit enthobenen) Wissensüberlegenheit Odins: æ vísastr vera, also einer Ausweitung des Referenzrahmens. Der Aufbau der Strophe ist dabei interessant: Wieder findet sich die den Wettkampf hindurch etablierte Bezugnahme auf die Frage des Gegenübers mit Wiederaufnahme der Schlüsselwörter in den ersten Zeilen (mælti […] í eyra syni – sagðir í eyra syni), diesmal jedoch zu direkter Anrede gewandelt sowie mit Verneinung dieses Wissens und damit Geständnis der Niederlage. Es folgt, wie bereits erwähnt, das Bekräftigen des eigenen Versagens und  – mittels feigom  – dessen Folge, dann die Benennung der bisher vom Riesen abgedeckten Informationsfelder (forna stafi, Urzeitwissen, und [stafi] um ragna rǫc, eschatologisches Wissen), darauf die Zusammenfassung von Inhalt und Fähigkeit als orðspeki. Die Strophe mündet schließlich in eine Art KurzFazit und reicht damit bereits weit über den tatsächlichen Wettstreit hinaus: Sie endet mit der namentlichen Anrede, somit der abschließenden Ent-Deckung der Gegnergestalt, und einer letzten Anerkennung von Odins Wissensmacht, nun nicht länger im direkten, sondern im generalisierten Vergleich – finale Entgrenzung. Diese überlange Strophe kann man gleichzeitig als Abschluss des Erzählrahmens betrachten,214 nicht

213 Wie Gunnell (1995, S. 266; S. 280) betont, liegen die drastischen Konsequenzen damit außerhalb der literarischen Szenerie, was nahelegt, dass sie anderweitig – etwa, wie der Autor postuliert, schauspielerisch  – vermittelt wurden. Auch in den Grímnismál, in denen zwar kein direkt kompetitives, aber durchaus ein antagonistisches Element zentral und ein Prüfungsgedanke implizit ist, findet sich der Tod des Kontrahenten nicht im eigentlichen Gedicht, sondern in der Prosaausleitung nach Str. 54 (s. auch Ruggerini 1994, S. 179). Eine ähnliche Struktur ist weiterhin in den noch zu besprechenden Fáfnismál enthalten. 214 „The greater than normal length of st. 55 may be functional, allowing it to give finality to the end of the poem; but in other cases it is hard to distinguish between deliberate artifice and corruption in the transmission of the text“ (Ruggerini 1994, S. 174).

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zuletzt, da das Anfangssetting nicht mehr aufgenommen, Odins Rückreise zu Frigg nicht wieder erwähnt wird. Davon ausgehend, dass es sich bei Vafþrúðnirs Nichtwissen um die (negative) Hauptinformation handelt, lässt sich die Schlussstrophe letztlich auch noch als letzte Zusatzinformation des Riesen deuten, die auch mit diesem Teil den bisherigen Rahmen verlässt: Selbstreferenziell sind sowohl die zusammenfassende Kontextualisierung der Geschehnisse als auch die Strukturwiederaufnahme durch Zeitbezüge (Vergangenheit mittels í árdaga, Gegenwartsreferenz mittels nú, Zeitenthobenheitsbzw. Zukunftsreferenz mittels æ). Zuletzt wird das Wettkampfsetting aufgebrochen durch das Überführen der bisher für den Riesen nur im Wissensfundus aufgetretenen Odinsgestalt in die intratextuellreale Götterfigur, deren Bezugsrahmen sich dadurch, dass niemand, auch der Leser nicht, die Antwort auf die Frage Odins kennt, und auch nicht erhält, bis hinein in den extratextuellen Rezipientenkreis erstreckt. Somit lässt sich die Strophe letztlich auch als abschließender Beweis für Vafþrúðnirs buchstäblich riesiges Wissen auffassen, das zu besiegen es schon einer göttlichen Fangfrage bedurfte.

2.3 (Kon-)Texte des Thuls in den Vafþrúðnismál 2.3.1 Text(re-)produktion 2.3.1.1 Originalität Da der Bereich Text(re-)produktion hauptsächlich formale Aspekte beinhaltet, stellt sich in puncto Originalität nur die Frage nach einer vollständigen oder teilweisen wörtlichen Übernahme, nicht aber die Frage nach verbreiteten Inhalten per se. In diesem Rahmen kann man die Texte des Riesen größtenteils als Eigenschöpfung betrachten, auch wenn Vafþrúðnir in seinen Antworten nicht selten einige Elemente der Fragen Gagnráðrs aufnimmt und variiert (etwa Str. 42,4 ff. und Str. 43,1 f.) – etwas, was auch schon der Ase in der vorhergehenden Befragung getan hatte (so z. B. Str. 15,4–6 und Str. 16,1–3). Diese Art repetitiver Variation lässt sich eventuell als Bestandteil einer Frage- und Antwortformel betrachten oder  – vielleicht besser, da es nicht durchgängig auftritt  – als strukturell formelhaftes, aber nicht zwingendes Element in diesem Interaktionsmuster. Es fällt zusätzlich auf, dass Gagnráðr/Odin als Befragter immer mindestens zwei Zeilen wörtlich übernimmt, bei zwei der vier Antworten (Str. 16 und 18) sogar drei. Nur die diesen nachfolgenden Zeilen mit über den Namen hinausgehenden Informationen sind in einem solchen Fall seine eigene Schöpfung. Im Gegensatz dazu antwortet Vafþrúðnir auch bei onomastischen Fragen deutlich unabhängiger und wiederholt nur selten größere Passagen der Fragestrophe. Teilweise findet sich auch Eigenwiederholung, etwa bei der urzeitlichen Einleitung Ørófi vetra, / áðr væri iorð scǫpuð / þá var Bergelmir borinn, welche der Riese sowohl in Str. 29,1–3 als auch in Str. 35,1–3 verwendet.



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Eine wörtliche Übereinstimmung mit anderen eddischen Texten215 ist ebenfalls nur in geringem Maße zu erkennen; am deutlichsten noch in der starken Korrespondenz von Str. 21 mit Grímnismál Str. 40, in welcher der größte Unterschied darin besteht, dass die Formel „reifkalter Riese“ zugunsten der Entstehung des Baums aus Ymirs Haar entfällt:216 Vafþrúðnismál Str. 21: Ór Ymis holdi var iorð um scǫpuð, enn ór beinom biorg, himinn ór hausi ins hrímkalda iotuns, enn ór sveita siór.

Grímnismál Str. 40: Ór Ymis holdi var iorð um scǫpuð, enn ór sveita sær, biorg ór beinom, baðmr ór hári, enn ór hausi himinn.

Diese Strophe ist jedoch auch die einzige, die eine Parallele in einem solchen Umfang aufweist. Im Ganzen entsprechen Vafþrúðnirs Äußerungen daher dem Kriterium der Originalität: Es wird ein eigenständiger Text – wenn auch mit nicht selten bekannten Inhalten – hervorgebracht, der nur wenige Übereinstimmungen mit anderen Quellen besitzt. 2.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum) Auch in formalästhetischer Hinsicht zeigen sich keine ausdrücklichen Besonderheiten. Bei dem Gedicht handelt es sich um einen – mit einer Ausnahme217 – narrativszenischen Text in Dialogform, größtenteils mit Inquit-Formeln versehen (abgekürzt am Seitenrand („q“, „o. q.“, „v. q.“).218 Die Gesprächssituation variiert dabei von vergleichsweise zwanglos, in der Kommunikation mit Frigg, zu halbformell, in der ersten Begegnung mit Vafþrúðnir, und letztlich zu deutlich formalisiert im Wissenswettstreit.

215 Die Snorra Edda soll an dieser Stelle außen vor bleiben, da sie, welche die Vafþrúðnismál selbst zitiert (die Gylfaginning-Passage über den Ursprung Ymirs und der Reifriesen z. B. nimmt Str. 31 auf) kaum als deren Quelle gelten kann. 216 Wie Machan (2008, S. 83) vermerkt, lässt sich aus selbst einer solch starken Übereinstimmung nicht direkt eine Beeinflussung ableiten; einmal wegen der Transmissionsproblematiken der einzelnen Eddatexte und dann auch, weil keine „Ur-“Formen der verwendeten Mythen überliefert sind (s. dazu auch McKinnell 1994, der genau diese Crux zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht). 217 Str. 5; zu dieser Auffälligkeit der „only purely narrative ljóðaháttr strophe in existence“ und Fragen ihrer Einbettung in den Kontext, s. Gunnell 1995, S. 277. 218 Wimmer/Jónsson 1891, S. 14 ff. Zu Glossen und Inquit-Formeln s. auch Gunnell 1995, S. 207 ff. und v. a. S. 282 ff.

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Publikum und Sprecherorientierung Obwohl die Vafþrúðnismál gängigerweise als Wissensdichtung im Sinne von Wissensvermittlung für den Leser/Hörer eingestuft werden, enthalten sie keine direkte Ansprache oder sonstige Referenz in dieser Hinsicht. Eine erkennbare interne Partizipation von Charakteren abseits der unmittelbaren Kontrahenten findet, wie bereits erörtert, überhaupt nicht statt. Zwar kann man annehmen, dass eine Figur mit dem Status eines Hallenfürsten im Rahmen seines heimischen Settings nicht völlig allein ist (etwa weil sich Bedienstete oder Gefolgsleute in der Nähe des Herrschers befinden), aber davon bildet sich nichts im Text ab219 und auch die Handlungen des Riesen sind nicht darauf ausgerichtet. Das interne Publikum besteht ergo allein aus dem Asen bzw. dem Gastgeber, also jeweils dem direkten Interaktionspartner, und stellt damit keine unabhängige Instanz dar. Infolgedessen bleibt auch dem jeweiligen Adressaten eine etwaige Einstufung bzw. Bewertung überlassen, die sich in diesem Rahmen allerdings nicht bzw. nicht erkennbar auf formale oder „künstlerische“, sondern nur auf inhaltliche Aspekte erstreckt: Der Wettstreit wird nicht wegen mangelnder Beachtung bestimmter Kommunikations-, metrischer oder gar ästhetischer Prinzipien gewonnen oder verloren, sondern einzig, weil die Antwort auf eine Frage nicht gegeben werden kann. Noch in einem anderen Punkt findet sich der Publikumsaspekt wieder: Aufgrund der Tradierungsfunktion des Wissensdialogs, der, wie in diesem Fall, mit fast ausschließlich allgemeinen, unpersönlich-neutralen Informationen arbeitet, spielt auf einer höheren Ebene auch das externe Publikum eine gewisse Rolle und stellt quasi einen „unsichtbaren“ weiteren Adressaten dar. Die vermittelten Inhalte, die textintern nur zwischen Odin und Vafþrúðnir kursieren, werden durch die stark auf den Inhaltsaustausch konzentrierte Darstellung (keine Zwischenbemerkungen, keine Erläuterungen oder Kommentare, weder von den Beteiligten noch vom Erzähler) praktisch direkt an die Gedichtrezipienten weitergereicht. Hierdurch nimmt dieser Kreis eine vergleichsweise wichtigere Rolle ein als etwa in den Fáfnismál, wo der kurze Wissensdialog in eine stärker narrative Struktur eingebettet ist und die Handlung um Sigurd den Kern bildet. Wesentlich ist auf jeden Fall, dass diesem externen Publikum ausschließlich über die beiden Kontrahenten selbst und deren Antworten Wissen vermittelt wird. Der (externe) Publikumsaspekt geht in diesem Punkt also nahtlos über in den der Tradierung. Aus moderner Perspektive ließe sich hier auch von einer impliziten Durchbrechung der „Vierten Wand“ reden, indem der Rezipient sich plötzlich als Teil der Erzählwelt – nämlich als Teil des Referenzrahmens – wiederfindet; wobei dies erst in bzw. nach der letzten Frage-Antwort-Sequenz offenbar wird, die den Blick über das unmittelbare Umfeld hinaus richtet. In oralen Kulturen, in deren Performanzbegriff

219 Hierin unterscheidet sich das Gedicht deutlich vom zweiten Text mit einem Hallensetting, dem Beowulf.



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das Publikum eine essentielle Rolle spielt, dürfte eine solche Wand allerdings wenig bis kaum vorhanden sein (wenn man etwa an die dort inhärente Sensibilität des Vortragenden für Publikumsreaktionen denkt). Angesprochen wird das externe Publikum in den Vafþrúðnismál, wie erwähnt, nicht. Nur in der letzten Strophe lässt sich eine Art implizites Einbeziehen erkennen, das darauf beruht, dass auch diese Zuhörer die Antwort auf Odins Frage nicht kennen können: Ey manni þat veit gilt somit nicht nur im, sondern auch über den Text hinaus. Und wie Holtsmark220 feststellt, ist dadurch, dass der Inhalt von Odins Worten an Baldr von keinem anderen zu lösen ist, weiterhin sowohl textintern als auch -extern gesichert, dass Odin ae vísastr ist und bleibt, was der Intention des Autors für diese Frage entspricht: „Den er uløselig, og der er dens funksjon å være uløselig“.221 Stilistik Metrisch ist das Gedicht vergleichsweise regelmäßig, das Versmaß ist der im Götterliederbereich der Edda gängige ljóðaháttr,222 der meist in Vierzeilern ausgeführt ist. Abweichungen von diesem Muster kommen vor: Es gibt Fünfzeiler (Str. 38, Str. 42, Str. 43) und Zweizeiler (Str. 27, Str. 40)223 sowie einen Sechszeiler (Str. 55), der auch das Gedicht beschließt. An Stilmitteln findet sich eher wenig Auffälliges, dabei vor allem eine vergleichsweise geringe Menge Kenningar. Diese sind hauptsächlich weniger komplex, was in eddischer Dichtung der Normalfall ist, wie auch der hier vorliegende einfache, größtenteils parataktische Satzbau. Ruggerini erkennt stilistische Eleganz, etwa in Form alliterationsorientierter Variation in den Strophen 11–14 (Termini für „Pferd“), aber

220 Holtsmark 1964, S. 104 f. Sie sieht die Abschlussfrage somit vor allem als dichterisches Stilmittel und stellt sie nicht in – zugegebenermaßen durchaus spekulativen – Zusammenhang mit einstigen, eventuell sogar kultisch bedeutenden Mythen (vgl. auch Holtsmark 1964, S. 102: „vi ikke kan komme lengere enn til dikterens intensjon“). Andererseits erfolgt mit dieser Perspektive auch eine Reduktion, die, angesichts der sonstigen Inhalte des Dialogs überlegen lässt, inwieweit diese Frage nicht zumindest ein traditionelles Informationselement darstellte; also die dichterische Ver-, sicher auch Bearbeitung eines etablierten Topos, jedoch nicht notwendigerweise dessen Neuschöpfung. Ein wenig verweist sie auf diese Möglichkeit („På en tid da myten om Balders død ennå var levende fræði, kunne en falle på den idé å la ‚den uløselige gåten‘ være en siste trumf“, Holtsmark 1964, S. 103), weitet den Mythos aber nicht auf die Frage selbst aus. 221 Holtsmark 1964, S. 103. 222 Dass, wie Gunnell zusammenfasst, das Metrum zudem größere Freizügigkeit, z. B. in Länge und Alliteration, erlaubt als etwa das fornyrðislag und zudem auf eddische Dichtung beschränkt ist, häufig für direkte Rede verwendet wird, einen höheren Anteil an formelhaften Wendungen aufweist und in Texten, die sich seiner bedienen, überdies der Erzähler nicht so deutlich als eigene Person zwischen Inhalt und Rezipienten steht, lässt den Autor eine große Nähe zum Drama erkennen (Gunnell 1995, S. 193 f.). 223 An beiden Stellen zeigt die Handschrift keine erkennbare Lücke zwischen Frage und Antwort (Wimmer/Jónsson 1891, S. 15 f.).

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auch rhythmisch.224 In diesem Bereich seien die beiden Kontrahenten dabei „well matched“.225 Es kommt in Bezug auf die dichterische Ausführung zwar nicht zu einer expliziten Bewertung, aber das Anschließen Odins an die Variation zeigt ein Bewusstsein für derartige Feinheiten und die Fähigkeit, auf gleichem Niveau zu reagieren – was bei der Darstellung des Gottes der Dichtkunst auch die Regel sein sollte. Hier lässt sich ein implizites Anerkennen der gehobenen poetisch-rhetorischen Fähigkeiten Vafþrúðnirs durch Odin herauslesen, welches aber auf den Wissenswettstreit selbst keinen Einfluss hat, da es letztlich einzig Inhalte sind, die über Gewinn und Verlust entscheiden. 2.3.1.3 Performative Aspekte In diesem Punkt zeigen sich die Vafþrúðnismál recht ertragreich: Als Performanz im erweiterten Sinne lässt sich der gesamte Wissenswettstreit an sich begreifen: ein formalisierter, teils formelhafter, bestimmten Regeln gehorchender und der Alltagsrede enthobener Dialog mit demonstrativem Charakter; weiterhin einer, auf dessen Durchführung sich die Teilnehmer zuvor verständigen bzw. einigen müssen (Wetteinsatz, gegebenenfalls auch die „Vorprüfung“). Trotz des bereits erörterten Fehlens eines spezifischen separaten Publikums lässt sich unter diesen Bedingungen durchaus von einer Performanz sprechen, bei der vor allem das abgrenzende Element ins Auge fällt: Was und wie im Wettstreit geregelt verhandelt wird, ist vom zwangloseren Umfeld sichtlich getrennt. Im Detail können ferner die bereits besprochenen mannjafnaðr-Anklänge, dabei vor allem die Zusatzinformationen, die jeweils gegeben werden, als (Mikro-)Performanz des eigenen Wissens und der eigenen Überlegenheit gedeutet werden. Möglicherweise lassen sich sogar Odins Eingangsstrophe nach der Ankunft bei Vafþrúðnir performative Elemente zusprechen: Ansatzweise in der demonstrativen Begrüßung (Heill þú nú, Vafðrúðnir!), mit betonter Bezugnahme auf seine Position zu gerade dem Äußerungszeitpunkt (nú em ec […] kominn) sowie auf den Zweck seines Besuchs (á þic siálfan siá), und der Provokation, die er dabei aber auch in den Kontext eines persönlichen Erkenntnisinteresses stellt (hitt vil ec fyrst vita, ef […]). Noch stärker kann man ähnliche Aspekte in Vafþrúðnirs Schlussstrophe erkennen; dort besonders in den letzten zwei Zeilen: Das Résumé der vorangegangenen Handlung erscheint als betonter Abschluss des Wettstreits und im Anschluss erfolgt die fast prophezeiungshafte, zumindest aber proklamationsartige Verkündigung von Odins Status als ewig Weisester.

224 Ruggerini 1994, S. 170; s. auch McKinnell 1994, S. 70. 225 Ruggerini 1994, S. 170.



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2.3.1.4 Situationskontext Während die Szenerie an sich nicht beschrieben wird,226 weist die Kommunikationssituation im Ganzen gesehen sowohl überweltliche als auch weltliche Elemente auf: Einerseits wird die Halle Vafþrúðnirs in klassischer, man könnte sagen, säkularer, physischer Form dargestellt: Tür, Schwelle/Fußboden (gólf), Bank, (Hoch-)Sitz; andererseits handelt es sich bei beiden Charakteren um übernatürliches Personal und auch die Halle des Riesen dürfte zumindest traditionell in mythologisch-au­ ßerweltlichen Bereichen und nicht in der Menschenwelt zu verorten sein (wenn die exakte Lage auch nicht ersichtlich wird).227 Dies schlägt sich aber nicht weiter in der Handlung nieder: Der spatiale Aspekt sticht dort als einziger heraus und bleibt dabei ebenso aufs Weltliche beschränkt, das Voranschreiten Odins im Raum geht nicht mit übernatürlichen oder sonstigen ungewöhnlichen Auswirkungen einher. Auch einem spezifischen etablierten Zeremoniell wird dabei nicht gefolgt, sofern man den Wissenswettstreit nicht als Ganzes dahingehend deuten will.228 2.3.1.5 Rollen und Autorität Beiden Figuren ist im Text hohe Autorität beigegeben: Vafþrúðnir erhält diese bereits anfangs durch Odin und dessen Frau Frigg in deren Rahmendialog zugesprochen (við þann inn alsvinna iotun, Str. 1,6, engi iotun / ec hugða iafnramman / sem Vafðrúðni vera, Str. 2,4–6). Der Ase besitzt sie kraft seiner Natur als Gott und zusätzlich aufgrund der primären Stellung im altnordischen Pantheon. Darüber hinaus gelten beide Charaktere als Wissensexemplare. Man könnte also sagen, hier sprechen zwei hochgestellte Experten über Details ihres Fachgebiets: fornir stafir und ragna rǫc. Was in den Vafþrúðnismál ferner besonders auffällt, ist das Spiel mit dem Status: Die Autoritäten beider Figuren verändern sich den Text hindurch, teils sogar mehrfach. Bei Odin findet eine Bewegung von allumfassender Autorität (Odin und Frigg) hin zu scheinbar nicht existenter (Ankunft als unbekannter Gast) statt, welche dann den Abschnitten des Dialogs gemäß sukzessive erhöht wird (vom Flur über die Einladung in die Halle, dann die Einladung auf den Sitz), bis sich die volle Autorität des Gottes in Vafþrúðnirs Benennung für alle erkennbar offenbart. Odins Anspielungen im Dialog auf sein tatsächliches Wesen wirken dabei wie ein Aufblitzen(lassen) der göttlichen Autorität. Dass die anfängliche Machtkonstellation in der Halle durch das Doppelspiel des Asen fast die ganze Begegnung hindurch konterkariert wird, kann darüber hinaus

226 Jakobsson 2008, S. 264. 227 Jakobsson weist darauf hin, dass die Platzierung des Riesen in (s)einer Halle der etwa aus Romanzen oder Volkssagen bekannten Verbindung dieser Figuren mit der Peripherie oder Wildnis nicht entspricht. Auch lässt sich nicht erkennen, ob diese in Utgard läge (Jakobsson 2008, S. 267). 228 Allerdings lässt sich hier keine scharfe Grenze zwischen Formalisierung an sich und dezidiertem Zeremoniell ziehen. Ein erkennbar „feierliches“ Moment haftet dem Wettstreit jedoch nicht an.

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auch als Spiel mit dem (externen) Publikum gewertet werden: Während sich dies über die Natur des Gastes zu jedem Zeitpunkt im Klaren ist, erscheint Odin dem Riesen nicht als Gott, sondern als unbekannter, unwichtiger Wanderer Gagnráðr und besitzt dadurch keine für den Gastgeber erkennbare Autorität mehr. Die Handlungen beider Figuren erhalten dadurch nicht selten eine ironische Note. Im Gegensatz zu Odin hat Vafþrúðnir fast durchgängig dieselbe Macht und dasselbe Ansehen inne, welche durch die persönlichen Äußerungen im Dialog dann nochmals begründet und bestätigt werden. Fundament dafür sind mehrere Säulen: der Status des Hallenfürsten (gegenüber einem Gast), der des berühmten Weisen (gegenüber einem Wissenssucher), aber natürlich auch der eines uralten, mythischen, übermenschlichen Wesens an sich. Vafþrúðnir ist also in beiden Bereichen – weltlich wie mythisch – entsprechend markiert. Die übernatürliche Autorität des Riesen wird in der Haupterzählung zwar nicht ausdrücklich angesprochen (im Rahmen lässt sie sich möglicherweise mit rammr in Verbindung bringen), nichtsdestotrotz kann man davon ausgehen, dass Vafþrúðnir sie aufgrund seiner (ur-)riesischen Abstammung besitzt. Eine Rolle spielt dieser Bereich bei der Interaktion dann nicht aktiv, hat aber am Drohpotenzial, das den gesamten Wettstreit hindurch besteht, erheblichen Anteil. Diesen facettenreichen hohen Status verliert der Riese erst durch die Niederlage, bei der seine weltliche wie mythische Autorität schlagartig in sich zusammenfällt. Vafþrúðnirs Selbstbenennung als þulr wird indes vom Autoritätswandel sowohl Odins wie auch seiner selbst nicht tangiert, denn der Riese tätigt diese zu Hochzeiten seines Ansehens – und bei besonders großem (scheinbarem) Gefälle im Vergleich zu seinem Gast. Auch aus dieser Perspektive heraus ist davon auszugehen, dass der Begriff mit positiver Konnotation verwendet wird.

2.3.2 Informations(re-)produktion 2.3.2.1 Informationsarten Die Informationen, die Vafþrúðnir erfragt und selbst äußert, sind, wie bereits erwähnt, grundsätzlich mythologischer Art. Dabei werden unterschiedliche Themenfelder angerissen und Kategorien berührt, welche die mythologischen Elemente in verschiedene Kontexte setzen: geographische/kosmologische, ätiologische oder kosmogonische – sowohl bezüglich der alten wie auch der neuen Welt –, „biologische“ (Fortpflanzung des ersten Riesen) sowie eschatologische.229

229 Ruggerini (1994, S. 144) nennt dies „heiliges Wissen“ und erkennt ebendarin den Grund für die Form des Austauschs: Solches „can be revealed only in the rituals of the wisdom contest or of prophecy“. Leider bleibt sie einen Beleg dafür, insbesondere was die Anbindung an ein wisdom-contest„Ritual“ (ist der Wissenswettstreit tatsächlich ein Ritual?) anbelangt, schuldig. Gerade in Anbetracht



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Gewissermaßen aus dem Rahmen fallen dabei vor allem die „persönlichen“ Fragen und Antworten, wobei bemerkenswert ist, dass der Riese keinerlei derartige Fragen stellt, sondern einzig Odin. Vafþrúðnir beantwortet diese aber nicht nur pro­ blemlos, sondern festigt mit ihnen nochmals seine hohe Position: Mit der Eigenverortung in der Urzeit reiht er sich unter die weisesten Riesen ein (und erhält gleichzeitig für die meisten Ereignisse eine Art Zeitzeugenrolle). Und mit der Erklärung seines Wissenserwerbs zieht er, wie bereits angeklungen, in diesem Punkt mit Odin gleich. Somit wird in diesen persönlichen Fragen und Antworten zwar auch mythisches Wissen vermittelt (denn Vafþrúðnir ist selbst ein mythisches Wesen und die Wesen und Orte, mit denen er in jenen Strophen interagiert, sind ebenfalls so markiert); wichtiger ist jedoch deren andere Funktion: das erneute, auch rückwirkende, den gesamten Wissensdialog umfassende Legitimieren seiner Kompetenz. In gewissem Sinne kann man diese Äußerungen daher auch schon als Teil des Validierungsprozesses begreifen. Es wird hier nur nicht der individuelle Inhalt, sondern dessen grundsätzlicher Ursprung validiert: Vafþrúðnir tritt textinternem wie -externem Publikum als vertrauenswürdige Quelle entgegen. Zeitlich stechen bei den vermittelten Informationen, wie bereits angeklungen, zwei Phasen hervor: Urzeit und Ragnarök; die Gegenwart spielt demgegenüber eine geringe Rolle und in der Figur des Riesen ist nicht zu erkennen, dass er einer der Zeiten höhere Relevanz beimessen würde. Als zentral für Vafþrúðnirs Fragen wie Antworten erweist sich andererseits immer wieder eine onomastische Komponente. Im Gegensatz zu den eindimensionalen Fragen des Riesen an Odin, die sich ausschließlich auf die Benennung verschiedener Phänomene beschränken, verdeutlichen seine Antworten auch, dass sein Wissen keinesfalls so eng begrenzt ist, wie es aufgrund der Fragen erscheinen könnte. 2.3.2.2 Informationskontext Der Informationskontext, in dem sich das Gespräch entspinnt, entspricht größtenteils der Gattung: Durch den Rahmen des Wissenswettstreits sind dessen Dialogelemente als unpersönlich anzusehen (Odins Fragen nach Vafþrúðnir nehmen eine Sonderposition ein, lassen sich aber, wie angeklungen, als gültige Beiträge deuten; nicht zuletzt, weil der Riese als mythische Person und als Kombattant eine Doppelrolle einnimmt). Dementgegen ist das einführende Gespräch persönlicher gestaltet, enthält mit „Vorprüfung“ und Gastvorstellung auch schon einige formalisierte Anteile sowie mit Odins doppeldeutiger Sentenz eine gnomisch anmutende Passage.

des unklaren Entstehungsdatums des Texts und der daraus folgenden Unsicherheit über eine eventuell stattfindende oder gar bereits erfolgte Reduktion von sakralem hin zu rein literarisch-mythischem Gehalt scheint diese Darstellung nicht uneingeschränkt haltbar.

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In diesem Abschnitt stechen vor allem die Provokation Odins (Str. 6 und subtil in Str. 10) sowie der Jähzorn des Riesen (Str. 7) hervor, die den formalisierteren Bereichen vorausgehen. Auch die þulr-Benennung erfolgt noch in diesem informellen Abschnitt (Str. 9,6), allerdings wird schon mit freista auf den bevorstehenden Wettstreit Bezug genommen und die nächste Äußerung des Riesen ist bereits Teil dieser (Vor-)Prüfung; in gewisser Weise scheint die Strophe sich daher in einer Art Zwischenraum zu befinden. 2.3.2.3 Tradierung Dass in der Kategorie „Wissensgedicht“ eine Tradierung, die sich auf die textexternen Rezipienten erstreckt, grundsätzlich angelegt ist, wurde bereits vermerkt. Wichtiger für diese Untersuchung ist jedoch, ob auch intern eine Tradierung stattfindet oder intendiert ist. Die Vafþrúðnismál bieten hier allerdings ein weiteres Problem, nämlich die Frage, wer der Empfänger einer solchen Übermittlung sein könnte. Existierte ein Publikum jenseits der beiden Kombattanten, wäre dies leicht zu lösen; da das in diesem Werk jedoch nicht der Fall ist, wird die Frage, ob bzw. in welcher Form die Figuren als Tradenten wirken, interpretationsabhängig: Entsprechend den von McKinnell herausgearbeiteten Regeln ist im Wettstreit nur zulässig, nach dem zu fragen, was der Sprecher bereits weiß. Es findet somit hier keine Tradierung des Erfragten statt, sondern nur dessen Validierung (wenn die Antwort überhaupt gegeben werden kann). Unter diesen Bedingungen rückt zugleich die trügerische Unschärfe der Informationsvermittlung in den Vordergrund: Nämlich, dass auf den ersten Blick der Fragende (und damit der Leser/Hörer) unbekannte Informationen über die Welt erhält, während es tatsächlich aber der Antwortende (und erneut der Leser/Hörer) ist, der entsprechende Informationen über seinen Kontrahenten erfährt, nämlich, was jenem bereits alles bekannt ist.230 Man kann hier daher vielleicht erneut von einer Art mannjafnaðr-Metaebene sprechen: Nicht nur in der Antwort, auch in der Frage findet die Performanz des eigenen Wissens statt; boast und challenge gehen – auf den zweiten Blick – Hand in Hand. Eine Tradierung im konkreten Sinne liegt in diesem Zusammenhang daher nicht vor, was der Antwortende vom Fragenden erfährt, ist rein funktionell: Die Inhalte selbst werden vom Prüfenden nicht angegeben (sonst hätte die Frage auch keinen Sinn) und das Wissen darum, dass der Herausforderer die Antwort kennt, ist keine Information, die tradierenswert ist.231 Damit käme es in den Vafþrúðnismál also nur

230 McKinnell 1994, S. 100 f. 231 Ausgenommen eventuell Odins Schlussfrage, der man einen gewissen Erkennungswert zusprechen kann. Dieser erschließt sich aber auch so, rein aus der Logik der Frage im Kontext der Wettkampfregeln heraus, wie McKinnell gezeigt hat. Zusätzlich lässt sich annehmen, dass das hochaufgeladene Bild der esoterischen Verabschiedung des höchsten Gottes vom ermordeten Sohn als narrativer Mythos oder ikonisches Mythenbild einen höheren Tradierungswert besessen haben wird als die Tat-



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zu einer Tradierung, wenn der Fragende die Antwort in der Tat nicht vorher weiß. Dass ein solches Prinzip für den Wissenswettstreit unwahrscheinlich ist, wurde jedoch bereits festgestellt. In Kontext von McKinnells Regeln bietet sich dann wiederum noch eine weitere Deutungsvariante für die „Zusatzinformationen“, die der Befragte über die erwartete Antwort hinaus erbringt: Gesetzt, die Antwort ist beiden Beteiligten bekannt, könnte es sich dann bei den erweiterten Inhalten dennoch um Wissen handeln, das möglicherweise über das des Herausforderers hinausgeht, also erneut um eine Überlegenheitsperformanz, diesmal die des Befragten, und damit grob vergleichbar dem Gegen-boast im mannjafnaðr. Auf dieser Grundlage ließe sich ferner überlegen, ob nicht vielleicht sogar gerade diese Informationen die eigentlichen sind, die der Frager zu erfahren sucht, da er die unmittelbare Antwort schließlich bereits kennt. Betrachtet man die zusätzlichen Inhalte genauer, stellen sie in den meisten Fällen eher generische Informationen dar, etwa erweiternde Details zu einzelnen Mythemen wie genealogische Informationen (Bergelmir), die Bekräftigung der ebenso gegenwärtigen Gültigkeit ätiologischer Naturmythen (Tag- und Nachtrösser) oder auch Einzelheiten der Entstehungshintergründe zukünftiger Geschehnisse (die neue Sonne). Selbst die zentrale Frage nach Odins Tod in Str. 52 enthielte als zusätzliche Information entweder den genaueren Ablauf von Víðarrs Rache oder die Tatsache der Rache selbst. Letztere wäre zwar durchaus als wichtige Zusatzinformation zu begreifen; allerdings ist ebendiese Episode in mehreren Quellen bezeugt,232 sodass sich annehmen lässt, dass es sich dabei ebenfalls um einen eher traditionellen Inhalt handelt und damit Odin bereits entsprechende Kenntnisse zugeschrieben sind. Im Ganzen kann man daher hier von keiner bemerkenswerten (textinternen) Tradierung ausgehen. 2.3.2.4 Validierung Die Validierung von Informationen ist ein inhärenter Bestandteil des Wissenswettstreits  – sonst wäre eine Niederlage nur bei fehlenden, nicht aber falschen Informationen möglich, was dem Grundgedanken der Wissensprüfung, und ebenso dem der Tradierungsfunktion (extern wie ggf. intern), eklatant widerspräche. Die Einstufung erfolgt dabei implizit aus dem kompetitiven Dialogmechanismus heraus: Mit

sache, dass der Gott dies später im Wettstreit instrumentalisiert (Holtsmarks Annahme, dass es sich hierbei um die Erfindung des Dichters handele, war schon angesprochen worden; selbst in diesem Fall besitzt das Bild der unlösbaren Frage des Göttervaters aber einigen Wiedererkennungswert). 232 Nach Simek (1995, S. 454 f.) in Vǫluspá Str. 55, Grímnismál Str. 17 und Gylfaginning Kap. 50 (Kap. 51 bei Lorenz 1984, S. 595), wobei, wie Simek vermerkt (1995, S. 455), diskutiert wird, ob es sich dabei um eine Schöpfung im Umfeld der Eddadichtung handelt, da sie in der Skaldik nicht auftritt. Selbst dann jedoch zeigt das Auftreten in mehreren Gedichten, dass es sich bei der Racherolle um eine vergleichsweise verbreitete Funktion handelt.

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 Die Weisheit des Riesen – Vafþrúðnismál

einer anschließenden Frage, d. h. einer bestimmten Äußerungsform, wird praktisch inhaltsunabhängig die Gültigkeit (oder auch „Korrektheit“) der vorhergehenden Information bestätigt, wenn nicht ohnehin, wie in den Vafþrúðnismál der Fall, der Antwortende das eigene Scheitern bereits selbst explizit macht. Somit kann davon ausgegangen werden, dass, solange der Wissenswettstreit in seiner Form der Wechselrede andauert, sämtliche vermittelten Informationen die (textinternen) Anforderungen für die Beurteilung als gültig, hier in Form von „der Wahrheit entsprechend“, erfüllen. Als zusätzliches Kriterium bietet sich die Unterscheidung von privater und öffentlicher Validierung an – ein Punkt, der z. B. im Beowulf eine größere Rolle spielt. In den Vafþrúðnismál handelt es sich eindeutig um eine private Situation, in der Wettstreit wie Bewertung in einem abgeschlossenen, dialogischen Zwei-Personen-Setting stattfinden. Gleichwohl unterliegt auch dieser Teil durch die Rahmenbedingungen des Austauschs einer gewissen Formalisierung und Elaborierung, die sich ähnlich mit öffentlicher Rede in Verbindung bringen lassen. Auch die Zusatzinhalte, die nach dem direkt Erfragten vorgebracht werden, finden aus dieser Perspektive eine Erklärung: Während die direkte Antwort eine Art Grundwissen bezeugt bzw. einer Art Rätselmuster entspricht, illustriert die weitere, demonstrative Ausarbeitung zusätzliches Wissen, was wiederum „mitbeurteilt“ wird. Zuletzt findet sich in beiden Teilen des Dialogs – einmal am Ende der Befragung durch Vafþrúðnir (fróðr ertu nú), einmal vor der zentralen Sequenz Odins (þú ert alsviðr) – die anerkennende Bekräftigung der Fähigkeiten des Befragten, welche man somit auch als Validierung der Person selbst betrachten kann.

2.4 Zusammenfassung und Fazit Die als þulr benannte Figur hat in den Vafþrúðnismál also folgende Fähigkeiten bzw. Funktionen: das Aussprechen, Erfragen und Prüfen mythologischen Wissens, das Zuweisen von Status gegenüber einer Person, das inhaltliche Bewerten von Informationen bezüglich ihrer Gültigkeit – bis hin zur (Selbst-)Einschätzung von Gewinn und Verlust des gesamten Wettstreits – und, nicht zuletzt, das Erkennen des göttlichen Gegners anhand mythologischen Detailwissens. Als Informationsspezialist zeigt sich der Thul hier höchst kompetent und ebenso verlässlich, als übernatürliches Wesen mächtig und furchteinflößend; sein Zorn bringt ihm schließlich den Untergang. Was er an Wissen und Eloquenz besitzt, wird selbst von Odin anerkannt, und ihn zu besiegen bedarf es einer ganz besonderen Frage. Bei dieser Beschreibung sollte indes nicht vergessen werden, dass Vafþrúðnir nur ein einziges Mal mit diesem Begriff bezeichnet wird und die Figur selbstverständlich noch diverse andere Rollen und Funktionen innehat, die mit einigen oder vielen oben genannten Charakteristika und Funktionen verknüpft sind, so etwa die eines Hallenfürsten mit dem Zuweisen von Status und damit einhergehenden Einladungen.



Zusammenfassung und Fazit 

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Ebenso ist þulr ein Begriff, der, wenn man sich an der eddischen Dichtung als Ganzes orientiert, auch auf Odin angewendet wird, welcher sich in den Hávamál – zumindest nach der verbreiteten Interpretation – ebenso bezeichnet findet, genauer gesagt sogar als fimbulþulr233 (worauf im entsprechenden Kapitel noch ausführlich eingegangen werden wird). Auch hier stehen die vielen anderen Funktionen der Figur, nicht zuletzt die des Oberhaupts der Götter und Herrn Walhalls (und somit wiederum gewissermaßen vergleichbar dem weltlichen oder „riesischen“ Hallenfürsten), einer eindeutigen Abgrenzung von Fähigkeiten und Machtbereichen entgegen. Eingedenk dessen lässt sich abschließend feststellen: Der Thul Vafþrúðnir ist im nach ihm benannten Gedicht ein Wort- und Wissensspezialist, der sich mit den Höchsten messen kann; eine Figur, die sehr-, aber nicht allweise ist, beschlagen in mythologischer Kenntnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; ausgewiesen als Wanderer selbst durch die Niederwelten sowie als (leicht unterdurchschnittlicher) Gastgeber, kompetent als Wort- und Wissensstreiter und damit letztlich auch als hochgradig performativer Sprecher. Dass es indes der Unterliegende ist, der hier þulr genannt wird, muss kein Widerspruch zu all diesen Qualitäten sein. Nicht nur, weil diese Bezeichnung zu Anfang, in voller Sicherheit der eigenen Fähigkeiten verwendet wurde: Gegen Odin, den Vater und Letztvertrauten Baldrs, den Götterherrn und fimbulþulr, kann jeder andere nur verlieren.

233 Warum Odin in den Vafþrúðnismál hingegen nicht (fimbul-)þulr genannt wird, wird kaum zu klären sein. Allerdings tritt die Bezeichnung sowohl als Simplex wie auch als Kompositum bereits an sich nicht sonderlich häufig auf (gerade fimbulþulr ist auf einen einzigen Text beschränkt und dort, wie noch zu sehen sein wird, auf durchaus problematische Strophen), sodass es meines Erachtens wenig angebracht wäre, diesem „Fehlen“ größeres Gewicht beizumessen.

3 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál 3.1 Einführung Ein weiterer Beleg für den Begriff þulr findet sich in den eddischen (Jung-)Sigurdliedern, und zwar in bzw. unmittelbar nach der Erzählung vom Drachenkampf, welche in modernen Editionen als Fáfnismál bezeichnet wird – ein Titel, der zwar nicht auf dem Codex Regius selbst, aber auf späteren Papierhandschriften beruht.1 Im Codex Regius steht vor dem Fáfnismál genannten Textabschnitt die Bemerkung fra dꜹþa fafniS („vom Tode Fáfnirs“) geschrieben,2 sodass bereits dort offenbar vom Schreiber ein Einschnitt bzw. neuer Abschnitt angesetzt wurde. Diesem voraus geht eine kurze Prosapassage, die erzählt, dass Sigurd heim zu Hjálprek fährt, Reginn ihn daraufhin anstachelt, gegen Fáfnir zu kämpfen, die beiden sich zur Gnitaheide begeben, Sigurd eine Grube gräbt und, dort drin sitzend, Fáfnir mit dem Schwert ins Herz sticht, als dieser darüber kriecht. Dem sterbenden Ungeheuer entdeckt sich der Jüngling anschließend und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Held und Wurm. Während Neckel/Kuhn diesen gesamten Abschnitt als Anfang der Fáfnismál einstufen,3 ordnet der Eddakommentar die ersten beiden Sätze (Heimfahrt und Aufreizung Sigurds) dem Abschluss der vorausgehenden Reginsmál (auch diese Überschrift ist nicht original4) zu.5 In jenem Unterschied zeigt sich bereits ein Charakteristikum der Jungsigurdlieder, welches sich auch in der hiesigen Untersuchung niederschlägt: Da der gesamte Komplex Reginsmál  – Fáfnismál  – Sigrdrífomál im überlieferten Manuskript nicht, wie in modernen Editionen der Fall, in einzelne Werke unterteilt ist, sondern einen durchgehenden Text bildet ‒ wenn auch mit einigen „Zwischenüberschriften“6 ‒, wird in dieser Arbeit, wo es sich als sinnvoll erweist, auch auf die Reginsmál zurückgegriffen werden (eine Beschäftigung mit den Sigrdrí­ fomál ist hingegen aufgrund von geändertem Setting und Personal nicht notwendig). Die unterschiedliche Zuordnung der Prosapassage hat für diese Untersuchung zwar keine unmittelbaren Auswirkungen, es wird aber die gebräuchliche Unterteilung von Neckel/Kuhn zugrunde gelegt.

1 EK 5, S. 355. 2 EK 5, S. 353, GKS 2365 4to, 30r, Wimmer/Jónsson 1891, S. 59. 3 Neckel/Kuhn, S. 181. 4 EK 5, S. 223 f. 5 EK 5, S. 352. 6 GKS 2365 4to, 30r (Übergang Reginsmál  – Fáfnismál) und 31v (Übergang Fáfnismál  – Sigrdrífomál), s. Wimmer/Jónsson 1891, S. 59 bzw. S. 62 sowie Würth, RGA 28, S. 424. Näheres zur Frage von Texteinheit und -aufbau sowie zum Auftauchen der Überschriften in späteren Papierabschriften, s. EK 5, S. 224 ff., insb. ab S. 226 sowie S. 352 ff. Zu weiteren Gründen für und wider die Betrachtung der Jungsigurdlieder als einzelnen Text, z. B. Gunnell 1995, S. 256 sowie S. 259.

Einführung 

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Um sich nun dem Text selbst zuzuwenden, tritt der Begriff þulr in den Fáfnismál nicht in der Interaktion mit dem Drachen, sondern erst später, nach dessen Tod, in der sogenannten „Vogelweissagung“ auf (Str. 34,2): Vögel (igðor, Sg. igða) – vermutlich Meisen7 –, die in den Zweigen sitzen, unterhalten sich über die in der Nähe sitzenden Charaktere Sigurd und Reginn und darüber, wie der junge Überwinder Fáfnirs nun am besten verfahren solle. Im Rat der Vögel, den Ziehvater zu töten, wird Reginn dann als þulr bezeichnet: Hǫfði scemra

láti hann inn hára þul fara til heliar heðan! ǫllo gulli þá kná hann einn ráða, fiolð, því er und Fáfni lá. (Str. 34)

Der Kontext ist eindeutig: ein Schlag gegen Reginn ratsam, da dieser Verrat an seinem Schützling plane: Þar liggr Reginn, vill tæla mǫg, berr af reiði vill bǫlva smiðr

ræðr um við sic, þann er trúir hánom; rǫng orð saman, bróður hefna. (Str. 33)

Das Gold, über das Sigurd dann ganz alleine gebieten kann, spielt ebenfalls eine Rolle beim Spruch der Vögel, wobei anhand dieser Strophe nicht völlig klar wird, ob es gleichermaßen als initialer Motivator fungiert oder nur als nachgelagerter positiver Effekt. Auch bei diesem Beleg soll jedoch zunächst das allgemeine textliche Umfeld sowie der Handlungsverlauf in Augenschein genommen werden, wobei im Mittelpunkt steht, wie Reginn als Akteur gezeichnet wird.

7 Über die genaue Vogelart herrscht Uneinigkeit. Der Eddakommentar weist darauf hin, dass igða im Altnordischen einzig im Kontext dieser Szene der Sigurdsage belegt ist, in einigen modernen skandinavischen Sprachen jedoch „meist irgendeine Meisenart“ denotiert (EK 5, S. 467). C/V (S. 313) übersetzen „a kind of bird, the nuthatch“, LF/T (S. 136) „titmouse, tit, nuthatch, wagtail?“, und Baetke (S. 303) beschränkt sich auf: „Vogelart (Spechtmeise?)“.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

3.2 Close Reading Bezieht man sich beim Kontext fürs Erste nur auf den Bereich der Fáfnismál, fällt auf, dass Reginn überwiegend, insbesondere beim Drachenkampf, keine Rolle spielt, sondern erst nach dem Sieg seines Zöglings in Erscheinung tritt und sich dann auch gegenüber Sigurd äußert. Der Umfang seiner gesamten direkten Rede in diesem Text beträgt dabei den gängigen Editionen nach nur vier8 Strophen: Str. 23, Str. 25, Str. 27 und Str. 29. Hinzu kommt eine lediglich berichtete, zweckgebundene Äußerung ohne konkrete Erwähnung des Inhalts im zweiten Satz der Prosaeinleitung: Reginns Anstacheln Sigurds zum Drachenkampf, welche sich fast wortgleich auch in den Regins­ mál9 findet. In den Reginsmál hingegen haben die Äußerungen des Schmieds weitaus größeren Umfang und belaufen sich auf die anfängliche Erzählung vom ursprünglichen Gewinn des Drachenhorts durch die Asen und Hreiðmarrs Abkömmlinge ebenso wie auf die Annahme Sigurds als Ziehsohn (Str. 13 f.) und das Lob nach dessen vollführter Vaterrache, welches diesen Text beschließt (Str. 26). Aber nicht nur direkte Versrede enthalten die Reginsmál; hier findet sich in der Prosaeinleitung auch direkte (Prosa-) Rede der Figur in der Erzählung vom Gewinn des Goldes, welche anschließend in die Strophen der Götter und die ihres zwergischen Kontrahenten Andvari mündet, Strophen also, die textintern immer noch – zumindest teilweise – von Reginn erzählt werden, obwohl als Sprecher nur mehr die Götter und Andvari auftreten: Während die Verbindung zu Reginn als Sprecher bei der Prosaeinleitung in der direkten Rede noch durch Einsatz der ersten Person erkennbar wird (Þá tóco vér þá hǫndom oc lǫgdom […]), ist dies im weiteren Verlauf nicht mehr der Fall. Im Prosaabschnitt nach Str. 9 (Fáfnir oc Reginn krǫfðo Hreiðmar niðgialda eptir Otr, bróður sinn) sowie dem folgenden nach Str. 11 (Þá beiddiz Reginn at hafa fǫðurarf sinn; enn Fáfnir galt þar nei við. Þá leitaði Reginn ráða við Lyngheiði, systor sína, hvernig hann scyldi heimta fǫðurarf sinn. Hon qvað […]) erscheint Reginn zusammen mit seinem Bruder als Handelnder in der dritten Person, ohne Verbindung zum Rahmenerzähler. Der folgende Prosaabschnitt (nach Str. 12) nennt wieder Reginn als Vermittler der Informationen (Þessa hluti sagði Reginn Sigurði). Eine vollständige Änderung in der Art eines

8 Von diesen Strophen ist eine, Str. 29, per Inquit-Abbreviatur „R.“ am Rand gekennzeichnet (s. Wimmer/Jónsson, S. 61 und 159 und EK 5, S. 354), die drei anderen durch die Anrede des Gegenübers im Text (Str. 23,1; Str. 25,1 und Str. 27,1) und die erste zusätzlich durch die Namensnennung des Sprechers vor der Strophe – etwas, was, wie Gunnell (1995, S. 259) vermerkt, in den Fáfnismál nur beim Übergang Prosa zu Strophenform auftritt. (Str. 31 besitzt keinerlei Indikation hinsichtlich des Sprechenden. Auf ihre Zuordnung und deren Problematik wird später noch eingegangen werden.) Zu den Formen, in denen Sprecher in den eddischen Texten ausgewiesen werden, siehe Gunnell 1995, S. 206 ff., und zu Handschriften mit Sprecherkennzeichnungen in den Marginalien generell 1995, S. 282 ff.; zur allgemeinen Ausführung der Handschrift s. EK 5, S. 353 ff. 9 Dort in der Prosapassage nach Str. 14.



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auch sämtliche Figuren umfassenden dramatischen Szenenwechsels („Rückblende“) wäre hier ebenso denkbar wie die bereits kontextuell weit naheliegendere Variante, dass Reginn weiterhin als Erzähler zu gelten hat. Auch Haimerl sieht die gesamte Erzählung als „Monolog“ und „Regins Rückblick“ an.10 Demgegenüber stellt Ebel fest: „Auch die Prosa der Reginsmál zeigt immer dann, wenn von Reginn selbst die Rede ist – also nach den Strophen 9 und 11 –, dass es sich nicht um Bericht Reginns handelt, sondern um Darstellung durch einen Erzähler, der außerhalb des Geschehens steht“.11 Generell fällt bei dieser Passage und deren Anschluss an die folgenden Szenen neben der Inkongruenz des Erzählers auch eine zeitliche Unstimmigkeit auf; nämlich, dass Sigurd erst nach der Erzählung von Reginn als Ziehsohn angenommen wird (Prosa nach Str. 12 und die Annahme selbst in Str. 14). Da beide Punkte für die hiesige Untersuchung wenig relevant sind, sei hierzu auf den Eddakommentar (EK 5) verwiesen, insbesondere die Seiten 253 f. und 310 ff., die die Problematik detailliert behandeln. Stichhaltig wirkt in diesem Punkt Haimerls Erklärung, dass bereits zuvor eine Bekanntschaft zwischen den beiden Charakteren bestand, die Horterzählung aber noch am Hofe König Hjálpreks spielt, ohne dass zu diesem Zeitpunkt ein Ziehvater-Sohn-Verhältnis existiert, und nach Str. 12 ein Szenenwechsel hin zu Reginns Heim erfolgt, der dann in die Annahme Sigurds als Zögling mündet:12 Die Anfangsprosa spricht explizit von til stóðs Hiálprecs, zu welcher erst Sigurd und dann Reginn kommt, und leitet ohne Brüche in die Horterzählung über. Die nächste Ortsbezeichnung ist til húsa Regins (Prosa nach Str. 12), sodass es kein Anzeichen dafür gibt, dass zwischendurch ein Ortswechsel stattgefunden hat. Den Konflikt mit dem Satz der Anfangsprosa Reginn veitti Sigurði fóstr oc kenzlo ok elscaði hann mioc löst Haimerl dahingehend auf, dass er dieser Aussage einen Überschriftscharakter zuweist,13 was ebenfalls recht plausibel wirkt, zumal auch der folgende Satz Hann sagði Sigurði frá forellri síno oc þeim atburðom, at Óðinn oc Hœnir oc Loki hǫfðo komit til Andvarafors […] sich auf den anschließend folgenden Bericht bezieht, also ebenfalls die (nähere, textinterne) Zukunft thematisiert. Weitere indirekte Rede des Charakters ist in der Prosa nach Str. 14 enthalten: Die Erzählung von Fáfnir sowie – nur im weitesten Sinne indirekt, da einzig durch das Verb signalisiert – sein bereits erwähnter Versuch, Sigurd zum Drachenkampf zu veranlassen, der zum dortigen Zeitpunkt noch erfolglos bleibt. Zu diesen Äußerungsmomenten kommen Handlungen und Charakterisierungen der Figur, welche zwar nicht für die Aussagen per se, wohl aber für die Interpretation des situationellen Kontexts eine Rolle spielen.

10 Haimerl 1993, S. 84. 11 Ebel 1983, S. 27. 12 Haimerl 1993, S. 85 f. 13 Haimerl 1993, S. 83.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

3.2.1 Charakterisierung Reginns Zu Beginn der Reginsmál, noch in der Prosaeinleitung, wird der titelgebende Charakter eingeführt und dabei gleich recht facettenreich skizziert: Der dvergr of vǫxt ist hveriom manni hagari, vitr, grimmr oc fiolkunnigr – also auf diversen Gebieten in positiver Hinsicht ausgezeichnet (wobei grimmr eher zweideutig ist, vor allem außerhalb von Kampfkontexten14). Er wird im Folgenden sowohl zu Sigurds liebevollem Ziehvater wie auch seinem Lehrer, als der er diesem Unterweisung (kenzlo) angedeihen lässt und Wissen, etwa auch solches über seine (i. e. Reginns) Ahnen, vermittelt. Gerade Weisheit und Viel- bzw. Zauberkunde15 sind dabei Qualitäten, die geistigverbale Fähigkeiten akzentuieren. Motz, die Reginn unter den Zwergen aufführt,16 stellt den magischen Aspekt (den sie als besonders auf heidnischen Zauber rekurrierend auffasst17) zusammen mit der Rolle Reginns als Sigurds Mentor in der Jugend, seiner Führung des jungen Helden zum Drachenkampf und dessen daraus erwachsenden Weisheitsgewinn, in den Kontext von Initiationsriten früher Gesellschaften. Sie zieht den Schluss: „If the analogy is accepted, then Reginn would hold the role which is accorded to an elder or a priest“,18 um daraufhin den þulr mit einer solchen Rolle in Verbindung zu bringen, da sie die Funktion des Begriffs als „believed to designate the one who holds the office of chanter or reciter in religious ceremonies“ beschreibt.19 Hierzu sind einige Dinge einzuwenden: Zuerst einmal ist Reginn hier offenbar kein „echter“ Zwerg, sondern ein „Zwerg von/an Wuchs“, genau genommen bezieht sich der Begriff also ausschließlich auf die Größe und nicht seine Natur20 (hier befinden sich die Reginsmál quasi im Widerspruch zur Vǫluspá, wo Reginns Name in der Zwergenþula auftaucht21). Der Eddakommentar, der die Phrase präziser „Vergleich mit einem Zwerg“ nennt, sieht diese Beschreibung als durch die außergewöhnliche Schmiedekunst bedingt, die einerseits mit dem mythologischen Volk und andererseits mit dem Protagonisten assoziiert ist,22 was auch deshalb überzeugt, weil andere Aspekte Reginns ebenfalls mit zwergischen übereinstimmen ‒ allerdings hier erneut nicht ganz ohne Brüche. Im Vergleich mit dem Zwerg Andvari beispielsweise,

14 LF/T, S. 92. 15 fiolkunnigr (Neckel/Kuhn) bzw. fiǫlkunnigr (EK), wörtlich „vielkundig“, wird gängigerweise als „zauberkundig“ übersetzt (EK 5, S. 278) 16 Motz 1983, S. 95. 17 Motz 1983, S. 95. 18 Motz 1983, S. 96. 19 Motz 1983, S. 97 und leider ohne Quellenangabe oder weitere Begründung für diese Deutung. 20 Er wird im Laufe dieser Arbeit dennoch zuweilen als Zwerg bezeichnet werden, was aber auch hier nur auf seine äußere Gestalt verweist. 21 Vǫluspá Str. 12,7. In der Vǫlsunga saga wird die Gestalt Reginns nicht beschrieben. 22 EK 5, S. 278.



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der „als ‚typischer Zwerg‘“23 porträtiert wird, fehlen Reginn zentrale Stereotypen für eine solche Figur: Andvari „verfügt über Reichtum  … und wohnt im Gestein“.24 Beides ist bei Reginn nicht der Fall. Zwar ist auch er übernatürlich begabt (nämlich zauberkundig), die Macht, seine Gestalt zu wandeln, besitzt der Schmied allerdings – im Gegensatz zu seinem Bruder Ótr – nicht, was ihn gleichfalls von Andvari unterscheidet, dem diese Gabe zur Verfügung steht. Quinn weist ebenso darauf hin, dass Reginns außergewöhnliche Schmiedekunst als „dwarvish attribute“ zu sehen sei;25 wobei Andvari im Gegenzug diese Fähigkeit abgeht, sodass das Talent zumindest hier wohl eher ein hinreichendes denn ein notwendiges Attribut darstellen dürfte. Andere zwergische Charakteristika nennt Motz: „the dwarfs never wield the arms, made in their forge, in their own battles and render their gifts without questioning and, frequently, without receiving payment“.26 Dies trifft in Teilen auch auf die Jungsigurddichtung zu: Gram wird von Reginn für Sigurd geschmiedet. Zwar keine monetäre Bezahlung, aber durchaus eine Vergeltung für die Gabe findet hingegen statt, nämlich in Form des Kampfes gegen den verhassten Bruder und Vatermörder Reginns selbst. Dabei stellt der Kampf zudem die primäre Ursache für das Schmieden der Klinge dar, wie aus der vorausgehenden Prosa, in der Reginn Sigurd über Fáfnir unterrichtet, ersichtlich wird. Und wenn auch der Schmied die Waffe in dieser Schlacht (zwergen-)rollengemäß nicht selbst führt, so ist es doch sein Kampf, den Sigurd hier ficht, und keine unabhängige, die Figur nicht betreffende (oder gar in irgendeiner Form kultische) Heldenprobe ‒ etwas, was in vielerlei Hinsicht maßgeblich ist und in Kürze noch eingehender betrachtet werden soll. Andererseits führt Reginn die Nichtbeteiligung der Waffe in zwergischer Hand quasi noch einen Schritt weiter und entzieht sich, während das Schwert seinen Dienst tut, dem Konflikt in denkbar unheroischer Weise. Das von der Autorin beschriebene Muster wird hier also in mehrfacher Hinsicht durchbrochen. Darüber hinaus scheint Motz’ Beschreibung der Rolle Reginns im Kontext des Drachenkampfs als eine Art „initiation master who reveals to the young the secret knowledge of their tribe and leads them to their goal of manhood“27 auch ein wenig überinterpretiert; lässt sie doch komplett die durch und durch selbstsüchtige Motivation Reginns aus dem Spiel: Der Schmied wünscht nicht, dass Sigurd sein „goal of manhood“ erreicht, sondern ihn treibt das Verlangen nach Rache am Bruder sowie nach Hortgewinn, und all seine Unterweisung und Unterstützung dient im Endeffekt nur diesem einen Streben ‒ ganz zu schweigen davon, dass er entsprechend

23 Motz 1983, S. 290. 24 Motz 1983, S. 290. 25 Quinn 1992, S. 120. 26 Motz 1983, S. 91. 27 Motz 1983, S. 96.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

der Vogelweissagung spätestens nach erbrachtem Nutzen seines Zöglings gar nicht (mehr?) dessen Mannbarkeit zum Ziele hat, sondern dessen Tod. Und auch das vorausgehende Wortgefecht über die Beteiligung passt nicht recht in das von der Autorin aufgebrachte Muster, wie sich noch zeigen soll. Reginn handelt also nicht neutral oder im Sinne einer höheren Macht, wie es von einem Priester oder ähnlichen Figuren zu erwarten wäre, sondern alles, was er tut, dient einem einzigen, ganz eigenen und ausgesprochen weltlichen Ziel, das sich aus vollkommen persönlichen Motiven speist. Eine Äquivalenz dürfte daher kaum gegeben sein, auch wenn natürlich im Einzelnen diverse motivische Ähnlichkeiten vorhanden sind (wobei wiederum, im Rückgriff auf die Interpretation des Eddakommentars, zu überlegen wäre, welche dieser Ähnlichkeiten eher der gemeinsamen Basis „Schmied“ und den darauf beruhenden Assoziationen entspringen). Zurück zu den Eddaliedern, gesellt sich diesen individuellen Charakteristika der Jungsigurddichtung noch Reginns Verhältnis zu seinem Schützling bei, was hier nicht nur formell bzw. administrativ-neutral ausfällt (Ziehvaterschaft), sondern deutlich positiver beschrieben wird: elscaði hann mioc – ein Detail, das, wie Haimerl anmerkt, in der Vǫlsunga saga ins direkte Gegenteil verkehrt wird.28 Damit ist der eddische Reginn ein vergleichsweise „runder“ Charakter mit positiven und negativen Zügen, Leidenschaften und Widersprüchlichkeiten – soweit das im reduzierten Kontext eines derartigen Heldenlieds möglich ist.

3.2.2 Horterzählung Dieser einführend-beschreibende Teil lenkt in die erste Dialogpassage über: die Erzählung vom Gewinn des späteren Drachenhorts durch die Asen. Hier wird Reginn genealogisch verortet sowie sein Kontakt mit den Göttern beschrieben. Gleichzeitig erhellt der Schmied damit die Hintergrundgeschichte des Hortes, verweist auf den Fluch und demonstriert einige Kenntnisse mythologischen Weltgeschehens. Interessant ist auch, dass die Berichterstattung Reginns nicht mit der Wergeldverhandlung zwischen Göttern und Hreiðmarrssippe einsetzt, die den ersten tatsächlichen Kontakt des Schmieds mit den Asen darstellt, sondern mit der Vorgeschichte der Otterbegegnung und -tötung, bei der der Zwerg – an Wuchs – noch kein Zeuge gewesen war. Bei Anlegen strikter Maßstäbe würde dies entweder für umfassende Kenntnisse Reginns in hoher (Asen) und niederer (Zwerge) Mythologie oder aber für die These von mehreren Stimmen in diesem Textteil sprechen. Auch so ist dieser Abschnitt, von í þeim forsi an, eine der Passagen, deren Erzähler im Unklaren bleibt. Zentral für die Reminiszenz des Schmiedes ist selbstverständlich der Doppelverrat Fáfnirs: Vatermord und Hortraub, beides ursächlich begründet im Fluch; prägende

28 Haimerl 1993, S. 84.



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Untaten, denen der Bruder nichts Wirkungsvolles (oder überhaupt etwas) entgegensetzt. Lyngheiðrs Abraten von der bewaffneten Konfrontation lässt sich dabei mit Reginns späterem Fernhalten aus dem Fáfnirskampf in Verbindung bringen,29 gerade auch, weil direkt auf die Mahnung der Schwester hin vom Erzähler versetzt wird: Þessa hluti sagði Reginn Sigurði (Prosa nach Str. 12),30 was in gewisser Weise die Bedeutung dieser letzten Episode für Reginn unterstreicht. Weiterhin fällt auf, dass das Augenmerk des Protagonisten der Reginsmál in diesem Rückblick ausschließlich auf dem Gold liegt (Prosa nach Str. 9: Fáfnir oc Reginn krǫfðo Hreiðmar niðgialda eptir Otr, bróður sinn und Prosa nach Str. 11: Þá beiddiz Reginn at hafa fǫðurarf sinn; enn Fáfnir galt þar nei við. Þá leitaði Reginn ráða við Lyngheiði, systor sína, hvernig hann scyldi heimta fǫðurarf sinn). Hierin ähnelt er stark seinem Bruder Fáfnir (und unterliegt dabei vermutlich ebenfalls dem Fluch), wenn auch jener drastischere Mittel ergreift, um sein Verlangen zu stillen, und bei Reginn durch die Begriffswahl (niðgialda, fǫðurarf)31 ein rechtlich legitimer Anspruch impliziert ist. Reginn kümmert sich also nicht um die – in dieser Konstellation durchaus tragische – Rachepflicht, obwohl die Thematik vom sterbenden Hreiðmarr selbst aufgebracht (Str. 10,1–3 und Str. 11) und durch die Tochter Lyngheiðr abweisend beantwortet wird (Str. 10,4 ff.). Dass mit einem solchen Abschluss der Horterzählung von Reginn das spätere Eingreifen seines jungen Zuhörers Sigurd ursächlich und argumentativ vorbereitet wird, wirkt wahrscheinlich.

3.2.3 Verhältnis zu Sigurd und Versprechen der Ziehvaterschaft Die dem Bericht folgende Annahme des Knaben als Ziehsohn in Reginns Heim, welche zur Erzählung der gegenwärtigen Ereignisse überleitet, zeigt dann unzweideutige Sprecherfiguren, die in der weiteren Jungsigurddichtung nicht selten auch über Inquit-Formeln markiert sind. Reginns Rede in dieser Szene (Str. 13 f.) enthält vier

29 Es fällt bei der Szene allerdings auf, dass im Bruder-Schwester-Dialog weder Reginn noch Lyngheiðr von Vaterrache sprechen. Rache erwähnte der niedergestreckte Hreiðmarr (Str. 10); dieser jedoch rief seine beiden Töchter an und nicht Reginn. Und auch Lyngheiðr erwähnt die Vergeltung nur in ihrer Antwort an den sterbenden Vater, nicht aber im Gespräch mit dem Bruder. Haimerl sieht diese gesamte Konstellation in den (christlichen) Tugendvorstellungen des 13. Jahrhunderts begründet; hierbei wirkten die Götter und Männer als negative Exemplare, Lyngheiðr hingegen als positives, und dass mit ihren Worten die Erzählung abschließt, sei ein Hinweis für die didaktische Zielsetzung (Haimerl 1993, S. 84 f.). Zu weiteren Details der Todesszene Hreiðmarrs, insbesondere der Rolle der Töchter, s. EK 5, S. 303 f. und speziell zu Str. 12, S. 309 f. 30 Bei dieser Passage macht der Eddakommentar auf die Divergenz zum vorhergehenden Abschnitt aufmerksam, da es hier erneut scheint, als sei Reginn, von dem darin neutral in der dritten Person berichtet wird, nicht der Sprecher (EK 5, S. 303). 31 Dies ist auch bei der parallelen Stelle in der Vǫlsunga saga der Fall (Kap. 14), in welcher ebenfalls nur das Gold, nicht aber Rache eine Rolle spielt.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

distinkte Elemente: (Jung-)Heldenlob mit genealogischem Einschlag, daraus erwachsende persönliche Kampfeserwartung des Sprechers, explizite Annahme Sigurds als Zögling und schließlich die Prophezeiung großer Taten. Die Rede des Zwerges mutet als Ganzes deutlich formal, gar performativ an. Es finden sich weltliche Identitätsproklamation über den Vater (konr Sigmundar, Str. 13,2), Zusicherung der Ziehvater- oder Lehrerschaft (Ec mun fœða  / fólcdiarfan gram, Str. 14,1 f.), ein weiterer Verweis auf Sigurds Abstammung, dieser vermutlich sozial, eventuell sogar mythisierend (Yngva konr, Str. 14,3)32 sowie eine Vorausschau (siá mun ræsir / rícstr und sólo, Str. 14,5 f.), die sich die Sigurdlieder hindurch als wahr erweisen wird. Auf diese Weise sind gleich mehrere Bereiche performativen Sprechens abgedeckt. Auch in den folgenden Prosazeilen tritt Reginn in mehreren Rollen auf: als Lehrer, Handwerker und Verfertiger der späteren Siegeswaffe Gram (einschließlich typischer Schwertprobe, die die Außergewöhnlichkeit der Klinge beweist) sowie als expliziter Antreiber zum Kampf: Im Endeffekt wird hier die Fortführung seines Unterrichts hin zum eigentlichen Ziel skizziert.

3.2.4 Erstes eggja Auf Reginns Anstacheln hingegen lässt sich sein Ziehsohn hier – noch – nicht ein, sondern kontert mit einem Verweis auf die noch nicht vollzogene Vaterrache und die daraus erwachsende Drohung des Sozialprestigeverlusts im Falle anderer Prioritätensetzung: Im prägnanten Bild der lachenden Feinde betont der Jüngling die Pflicht zur Rache vor jeglichem Schatzgewinn (Str. 15). Damit verweigert Sigurd nicht trotzig, feige oder aus grundlegender Unlust den Wunsch Reginns, sondern kontert diesen

32 Die Verwendung des Namens Yngvi ist unklar, da dieser gängigerweise dem Gott Freyr eignet, die Völsungen aber eigentlich Abkömmlinge Odins sind. Belegt ist der Name allerdings auch als heiti für einen Fürsten an sich (EK 5, S. 313). Sigurd wird noch ein weiteres Mal im Kontext von Freyr erwähnt, und zwar in Sigurðarqviða in scamma Str. 24: er hon Freys vinar / flaut í dreyra (s. dazu EK 6, S. 362 f.), wobei mit dem „Blut des Freundes Freys“ das des erschlagenen Sigurd beschrieben ist. Auch Helgi Hundingsbani, welcher der gleichen Sippe entspringt, wird in einem Lied Yngvi beigesellt (EK 5, S. 313; Helgaqviða Hundingsbana I Str. 55,3: áttstafr Yngva). Aus diesem Grund besteht einerseits die Möglichkeit, dass Yngvi in der Tat einen Eigennamen darstellt, mit welchem dann, zumindest im Falle Helgis, ein – vermutlich norwegischer – Stammvater (EK 4, S. 366 f.) referenziert wird, was zur Darstellung Helgis als Abkömmling edelsten Geschlechts dient; etwas, das gleichermaßen auf Sigurd zutrifft. Die Alternative, dass Yngvi tatsächlich auf den Gott Freyr verweist, wirkt auf den ersten Blick unwahrscheinlicher, da keine bekannte Beziehung zwischen Sigurd und dem Vanen besteht. Hier hat die Forschung eine Verbindung mittels der Figur Helgis gezogen, davon ausgehend, dass der Helgi-Stoff der Völsungensage später angeschlossen wurde (EK 5, S. 229–231 sowie EK 6, S. 362 f.). Zuletzt ließe sich der Name noch als Bezug auf nicht eine konkrete, sondern prototypische Göttergestalt lesen, was dann auf die asische Abstammung der Völsungen oder generell deren Nähe zu den Göttern (EK 6, S. 363) verwiese.



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mit überzeugenden (sozialen) Argumenten. Das weist auf ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein hin oder zumindest auf ein Bewusstsein für die Auswirkungen mangelnder Pflichterfüllung, vor allem in einer auf Legitimation nach außen hin beruhenden shame culture.33 Bei Sigurds Argumentation in dieser Strophe wird somit der erhebliche soziale Druck sichtbar, welcher in solchen Dilemmata zum Tragen kommt: Die Pflicht der Verwandtenrache ist auch ein hochgradig auf externe Kontrollinstanzen gestützter gesellschaftlicher Zwang, der mit gutem und schlechtem Ruf operiert34 und beruht auf kulturellen Konventionen, welche nach Einführung des Christentums erst allmählich von denen einer dem Gewissen (und damit in letzter Instanz nur Gott) verpflichteten guilt culture abgelöst wurden.35 Von einem solchen Wertewandel ist in den Reginsmál und Fáfnismál ebenfalls noch nichts zu erkennen; dort geht es allein um die archaisch-heroischen „Währungen“ orðztírr und dómr  – Ruhm und (Nach-)Ruf: das Einzige, was, wie die Hávamál36 so eindrücklich formulieren, im Angesicht irdischer Vergänglichkeit Bestand hat. Angesichts der Tatsache, dass Sigurd als (literarisches) Produkt seiner Kultur deren Wertmodell verinnerlicht hat sowie es als exem­ plarischer Held auch selbst verkörpert und ausagiert, kann man trotz dieses nicht zu vernachlässigenden externen Einflusses daher wohl von intrinsischer Motivation der Figur zur Vaterrache sprechen. Somit finden sich hier gleich zwei Elemente, in denen der Held von Reginn abweicht – das Bewusstsein für soziale Erfordernisse sowie der Wille und Anspruch, diesen auch nachzukommen. Denn Reginn selbst bezieht sich mit keinem Wort auf die Rachepflicht, sodass es den Anschein hat, dass diese gesellschaftlich so zentrale Komponente für den Schmied keine Rolle spielt. Die Figur wirkt dadurch zwar individualistischer, jedoch auf eine Art, die im heroischen Kontext nicht unbedingt positiv zu sehen ist. Gerade in Gegenüberstellung zur vorhergehenden Erzählung Reginns tritt Sigurds vorbildhafte heldische Gesinnung also deutlich zutage;37 ein Kontrast, der dann in der späteren Konfrontation nach dem Sieg über Fáfnir eine der Grundlagen für die verbale Auseinandersetzung bildet.

33 Clark 1977, S. 285. 34 Zum literarischen Umgang mit diesem sehr sensiblen gesellschaftlichen Feld im Rahmen von Manipulationsmöglichkeiten mittels verbaler Taktiken sowie damit verbundenen Reaktionsmustern in Sagas, s. Amory 1991. 35 Clark 1977, S. 285. 36 Hávamál Str. 76 f. 37 Im Gegensatz zu Haimerl scheint mir hier kein Anzeichen für ein „ganz auf Fortitudo ausgerichtetes Heldentum“ (Haimerl 1993, S. 86) vorzuliegen; es ließe sich Sigurds Argumentation sogar gegensätzlich lesen, zeigt sie doch ein bereits im Jugendalter vorhandenes Bewusstsein für die Notwendigkeit, einen positiven Sozialstatus aufrechtzuerhalten: Verwandtschaftliche Rachepflichten über persönliche Bereicherung zu stellen, ist auch Ausdruck einer Gesinnung, welche jegliche Gier der Treue unterordnet, und wäre damit in diesem Kontext durchaus klug (sapiens) zu nennen. Wäre Sigurd in der Tat nur fortitudomotiviert, böte überdies der übermenschlich-mächtige, einzigartige Drache ein weitaus lohnenderes Ziel als ein paar menschliche Gegner, die es – abseits der Verbindung durch die Vaterrache – zu Dutzenden gibt.

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Dabei wird das Aufreizen, eggja,38 eine zielgerichtete Sprechhandlung, mit der der Adressat im Sinne des Sprechers zu bestimmten (Re-)Aktionen gebracht werden soll,39 nicht szenisch dargestellt, sondern bleibt auf den Ausdruck selbst reduziert, was deren Wirkmacht (beim zweiten Mal  – beide Versuche Reginns sind nahezu gleichlautend und derartig reduziert) allerdings nicht mindert. Vor allem handelt es sich hier zudem einmal mehr um eine dezidiert verbale Tätigkeit, die positiv wie auch negativ belegt sein kann. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Passage ist, dass eine solche Aufreizhandlung die Figur des Schmieds als schwachen bzw. „unmännlichen“ Mann zeichnen kann, da dieser die Tat (in rechtlicher Hinsicht die Rache für den Vatermord an Hreiðmarr) nicht selbst vollzieht, sondern andere dazu anstiftet und damit die Rolle des nicht Waffenfähigen einnimmt.40 Zu fragen wäre indes, ob Reginn  – wie es scheint – aus sich selbst heraus nicht aktiv werden will bzw. kann oder es nicht darf. Für Letzteres spräche Lyngheiðrs Verhalten. Im ersteren Fall fiele er eindeutig in die negative der beiden von Clover ausgemachten Kategorien eines nicht binären,

Ebenso wirken die lachenden Hundingssöhne (Str. 15,1 f.) für mich – einmal mehr anders als für Haimerl – nicht wie die Darstellung einzig persönlichen Ehrverlusts: Es lacht hier schließlich kein unbeteiligtes Publikum, sondern die direkt betroffene Gegenseite und gibt so der (für sie äußerst profitablen) törichten Habsucht eines solchen Verhaltens plastisch Ausdruck. 38 Prosa vor Reginsmál Str. 15: Eptir þat eggiaði Reginn Sigurð at vega Fáfni; nach dem Schmieden des Schwerts Gram; sehr ähnlich dann auch in den Fáfnismál (Prosaeinleitung): Heim fór Sigurðr til Hiálprecs. Þá eggiaði Reginn Sigurð til at vega Fáfni, und erst dort erfolgreich. Die Vǫlsunga Saga, oft als „Prosaparaphrase“ der eddischen Lieder bezeichnet (wie etwa bei Lange, RGA 32, S. 542), führt das Treiben Reginns weiter aus: Hier wird erzählt, wie Reginn mehrfach auf Sigurd dringt, Fáfnir zu töten (etwa vor dem Schmieden des Schwerts, vor der Vaterrache), bis dieser seinem Wunsch schließlich nachkommt (Kap. 15). 39 Die wörtliche Bedeutung, in etwa: „mit einer Schneide versehen“ (s. auch ae. ecgan, im modernen Englischen noch erhalten in edge und to egg s. o. on sowie verwandt mit dem deutschen „Egge“ (Holthausen 1934, S. 87)), impliziert bereits sowohl Zielrichtung wie auch Beeinflussung oder In­ strumentalisierung. Eine semantische Beziehung, die sich gleichermaßen in einem weiteren altnordischen Terminus für eine solch aggressiv-manipulative Sprechhandlung findet – hvǫt: „the verb hvetja means ‚to whet‘ in both the concrete and the abstract sense“ (Clover 1986, S. 143). S. auch Amory 1991, S. 77 ff. 40 Not affection but duty obliged a man to take action over a kin killing, and it was no less the duty of women to remember and remind. As Bjargey put it in Hávarðar saga: ‚It is manly for those unfit for vigorous deeds to be unsparing in their use of the tongue in saying those things that may avail.‘ In the feud situation, women’s (and old men’s) words are the equivalent of men’s deeds; it is as incumbent on a woman to urge vengeance as it is incumbent on a man to take it. (Clover 1986, S. 144 f.) Wobei dies in den Kontext von hvǫt gestellt ist, dem allerdings, wie angeführt, eggja semantisch wie auch in Handlung und intendiertem Effekt sehr nahe steht (dazu auch Clover, die das Verhältnis der beiden Verben als synonym bezeichnet: „tongue wielding (whetting, egging) is a conspicuously female activity“ (Clover 1993, S. 383)).



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sondern linearen Systems.41 Dass Reginn gegenüber Sigurd von einer eigenen Auseinandersetzung mit Fáfnir nur einmal spricht – rückblickend, in der Horterzählung, wo es nicht einmal zu einer direkten Konfrontation kam – und danach alles daran setzt, den Ziehsohn zum Instrument seiner Rache zu machen, kann durchaus als Indiz für fehlenden Willen, mangelnden Mut oder nicht ausreichende Macht der Figur, die Aufgabe selbst zu übernehmen, gewertet werden. Ein explizites Verbot oder sonstiges Hindernis jedweder Art führt Reginn nach der Horterzählung hingegen kein einziges Mal an und auch nach dem Kampf nutzt er Derartiges nicht zur Verteidigung; er erwähnt nicht einmal erneut Lyngheiðrs Worte. So gesehen, muss deren Wirkmacht daher entweder so groß sein, dass sie keiner weiteren Erwähnung bedürfen, oder aber ihr Einfluss auf das Verhalten des Charakters ist nur minimal und der Racheverzicht selbst anderweitig bedingt. Letzteres erscheint mir marginal plausibler, denn der Annahme einer Art von – zumindest absolutem – Verwandtenrachetabu stünde auch entgegen, dass Hreiðmarr sich von der Tochter explizit einen rächenden Enkel (oder wenigstens Urenkel durch Vermählung der Enkelin) wünscht (Str. 11,3 ff.). Auch in der Ausübung der Rachepflicht besteht also ein deutlicher Kontrast zur sozialethischen Motivation des nach dem persönlichen, unmittelbaren Konflikt strebenden Sigurd, wobei die zugrunde liegende Goldgier Reginn selbst dann noch nicht sonderlich vorteilhaft wirken lässt, wenn die Mahnung der Schwester hier als mildernder Umstand hineinspielt. An der geschuldeten, aber ausbleibenden Rache ändert dies faktisch jedoch nichts. Davon abgesehen ist der direkte Kampf Bruder gegen Bruder auch per se keine erwünschte, sondern eine äußerst negativ konnotierte Situation. (Siehe etwa die berühmte Strophe der Vǫluspá, wo eine solche Szene eines der Signale für Ragnarök darstellt).42 Andererseits ist jedoch auch bei der indirekten Begegnung Reginn noch als treibende Kraft so stark involviert, dass selbst im späteren Kampf Sigurds gegen Fáfnir noch durchaus von einem – mittelbaren – Konflikt der beiden Brüder gesprochen werden kann. Dies legt auch der Wurm nahe, der Reginn des Verrats und damit des Strippenziehens beschuldigt (Fáfnismál Str. 22,1). Dabei hatte der Jüngling

41 Ein System, welches lose – aber ganz und gar nicht unveränderlich – mit den beiden Geschlechtern verbunden ist und dessen Pole Macht und Ohnmacht darstellen, sowie das, was damit einhergeht: „strong and weak, powerful and powerless or disempowered, swordworthy and unswordworthy, honored and unhonored or dishonored, winners and losers“ (Clover 1993, S. 380). 42 Vǫluspá Str. 45. Auch allgemein ist in einer Fehdegesellschaft der Umgang mit Tötungen im eng­ sten Familienkreis ein überaus problematischer Bereich. Bezeugt ist das außerhalb des hohen Nordens auch anderweitig im germanischen Kulturkreis, wie etwa im Beowulf (Z. 2435–2443), wo Herebeald, Sohn König Hreðels, von seinem eigenen Bruder Hæðcyn unabsichtlich getötet wird und es aufgrund der Verwandtschaft nicht möglich ist, für dies feohleas gefeoht („nicht durch Wergeld auszugleichender Kampf (bzw. Totschlag)“, Z. 2441) adäquate Kompensation zu finden – der erschossene Bruder muss ein æðeling unwrecen (Z. 2443, „ein ungerächter Prinz“) bleiben, woran deren Vater schließlich zerbricht (Z. 2462–2471).

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auf die Frage Fáfnirs nach dem Motivator für die Tat (er fragt explizit hverr, Fáfnismál Str. 5,1) den Schmied gar nicht erwähnt und von einzig eigenem Antrieb gesprochen (Fáfnismál Str. 6,1 ff.). Das Verb (hvatti), das der Wurm in der Fragestrophe bemüht, impliziert überdies trotz der Nähe zur Kühnheit (hvatr) vor allem Einflussnahme43 und wirkt damit auch als abschließende Bekräftigung von Reginns Erfolg als Verbalmanipulator.

3.2.5 Vaterrachefahrt und Proklamation Auf Sigurds Vaterrachefahrt gegen die Hundingssöhne spielt Reginn dann eine kleinere, aber nichtsdestotrotz durchaus wichtige Rolle. Obwohl er hier ebenfalls nicht als Kämpfender sichtbar wird, tritt er zweimal aktiv auf und in beiden Fällen mit proklamationshaften Äußerungen: Das erste Mal antwortet er Hnikarr (Odin), der das sturmgepeitschte Schiff von einer Klippe aus anruft, um Auskunft über die Seefahrer zu erhalten und später Mitreise zu erbitten. Reginn übt in seiner Antwort die Funktion eines Herolds Sigurds aus; er nennt den Schiffsherrn und verlangt den Namen des Gegenübers. Dabei ist seine Antwort strukturell, stilistisch und motivisch an der Frage Hnikarrs orientiert. Sie nimmt sowohl die Kombination: Identifikationsverlangen  – Situationsbeschreibung/Reisemetaphorik auf (Hnikarr: Hverir ríða þar  / Rævils hestom […] vind um standaz (Str. 16); Reginn: Hér ero vér Sigurðr  / á sætriám […] hverr spyrr at því? (Str. 17)), wie beide Figuren auch vergleichbar elaborierte Bildsprache und Variation einsetzen, etwa bei Elementen wie den Schiffskenningar (Hnikarr: Rævils hestom (Str. 16,2), seglvigg (Str. 16,5), vágmarar (Str. 16,7); Reginn: sætriám (Str. 17,2), hlunn­ vigg (Str. 17,7)), der Motivkombination „Meeres-Ross“ – „hohe Wellen“ und Reginns Spiegelung des Versmusters „Frage – Situationsbeschreibung“.44 Ein Bewusstsein für strukturelle und inhaltliche Feinheiten sowie die Fähigkeit, dies auch in eigene Texte umzusetzen, lässt sich hier durchaus erkennen. Nach dieser Ansprache tritt der Schmied die gesamte Seereise und auch im Kampf gegen die Hundingssöhne bis zu dessen Ende nicht mehr in Erscheinung. Sein zweites Auftreten findet erst nach vollzogener Rache statt, als Reginn den Sieg seines Ziehsohns öffentlich verkündet:

43 LF/T, S. 128; vgl. hvǫt. 44 Auf die facettenreiche Stilistik nimmt auch der Eddakommentar Bezug, wenn er die Str. 16 und 17 zu denjenigen zählt, welche eine „sehr kunstvolle Gestaltung“ aufweisen (EK 5, S. 256).



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Eptir orrosto qvað Reginn: ‚Nú er blóðugr ǫrn bana Sigmundar ǫngr er fremri, hilmis arfi,

bitrom hiorvi á baki ristinn; sá er fold ryði, oc Hugin gladdi.‘ (Str. 26)

Diese Proklamation weist, wie noch zu sehen sein wird, starke Ähnlichkeiten mit Reginns Rede nach dem Sieg über Fáfnir auf.45 Dabei besteht die Verlautbarung – wie auch die spätere  – aus zwei Komponenten: der Siegesverkündung, die hier gleichzeitig die Erfüllung der Vaterrachepflicht bedeutet, und dem Preis. Der Sieg selbst wird metaphorisiert (als „blutiger Adler“/„Blutadler“46), die Darstellung bleibt aber im Ganzen vollkommen entpersonalisiert: Sigurd wird nicht namentlich erwähnt und auch der Schmied stellt sich nicht selbst als Sprecher dar; nicht einmal aufgrund seiner Beziehung zu dem Helden. Er nimmt hier quasi die Rolle eines reinen Transmissionsmediums ein. Dasselbe gilt auch für das folgende Lob des Siegreichen: ein unpersönlicher Vergleich (ǫngr er fremri), dessen Referenzobjekt sich nur situativ erschließt, nicht aber angesprochen wird – Preisender und Gepriesener bleiben namenlos. Mit dieser Strophe enden die Reginsmál.

45 Auch zur Siegesverkündung von Helgi Hundingsbani gibt es eine Parallele (EK 5, S. 350). 46 Zur Kritik dieses gemeinhin als nordische „rituelle Praktik“ gedeuteten Ausdrucks s. Frank 1984, die den Blutadler nach Untersuchung der Beleglage auf eine einzige missgedeutete Skaldenstrophe der Knútsdrápa zurückführt und damit die eigentliche Basis des Ausdrucks in der kriegerischen Metaphorik im Kontext der „beasts of battle“, erkennt (Frank 1984, S. 338). Das Bild als Ritual resultiere also aus einer Mischung aus Übersetzungsfehlern und der Tendenz, die heidnischen Vorfahren retrospektiv negativ (in diesem Fall durch äußerste Grausamkeit) zu zeichnen, welches sich im Laufe der Transmission verfestigte. Obendrein stellt sie fest, dass die Strophe in den Reginsmál gemeinhin als spätere Hinzufügung gilt und vermutlich auf außernordischem Material beruht (Frank 1984, S. 341; s. dazu auch EK 5, S. 348 ff.), wobei diese Szene auch, und deutlich detaillierter, im Nornagests þáttr enthalten ist (in Prosa und teils mit Str. 26 korrespondierenden Versen; hier ist es zudem explizit Reginn, der die Ritzung vornimmt); in der Vǫlsunga saga hingegen nicht (EK 5, S. 348). Gleich, ob real oder literarisch und ob auf den ursprünglichen Verfasser oder einen späteren Bearbeiter zurückgehend, hat das verwendete Bild aber immer dieselbe Bedeutung: die endgültige und vollkommene Überwindung des Feindes. Unabhängig davon konstatiert der Eddakommentar eine signifikante Häufigkeit des Blutadlers im Kontext der Vaterrache sowie damit einhergehende Ähnlichkeiten in der Beschreibung (was auf „einen literarischen Zusammenhang unter den entsprechenden Fabeln und Texten“ hindeute; EK 5, S. 349).

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3.2.6 Zweites eggja und Drachenkampf In den nun folgenden Fáfnismál erscheint Reginn bereits in der Prosaeinleitung, und zwar erneut in der Rolle des Aufreizers. Diesmal ist sein Antreiben erfolgreich, was im Text nicht expliziert wird, aber die anschließende Fahrt zur und Ereignisse auf der Gnitaheide belegen. In der Vorbereitung des Kampfes und der eigentlichen Konfrontation mit dem Wurm spielt der Schmied zunächst keine Rolle, was sich inhaltlich deutlich von der Vǫlsunga saga unterscheidet,47 in der Reginn mit Lügen und falschem Rat bereits während der Planung Sigurds Leben in Gefahr bringt, wenn nicht sogar den Untergang seines zum Werkzeug gewordenen Schützlings betreibt (Vǫlsunga saga Kap. 18). Indirekt taucht der Zwerg noch ein weiteres Mal auf, und zwar in der Warnung des sterbenden Drachen vor seinem Verrat (Str. 22,2 f.) – einem Vorwurf, der in der Vogelweissagung wiederholt wird und schließlich zu Reginns Verderben führt. Allerdings wirkt die Warnung Fáfnirs auf zwei verschiedenen Ebenen: Nicht nur als Prophezeiung (die in den eddischen Liedern faktisch nicht zur Erfüllung gelangt: Reginn kommt nicht dazu, Sigurd zu verraten, und dessen Tod bewirkt er  – verða at bana  – maximal äußerst mittelbar, nämlich, indem er Sigurd durch seine Goldgier ermöglicht, den Schatz in Besitz zu nehmen, was diesem letzten Endes zum Verhängnis wird), sondern viel eher als Bestreben Fáfnirs, den Ziehsohn Reginns gegen diesen einzustellen oder, wie Haimerl treffender schreibt, ihn, gleich Reginns Tat, gegen den Bruder aufzureizen, womit hier ebenfalls ein eggja stattfindet.48 Im Falle Fáfnirs glückt dies allerdings nicht; es bedarf erst der späteren Weisung der – in diesem Konflikt neutraleren  – Vögel, um Sigurd von der Wahrheit des Vorwurfs zu überzeugen. Dennoch wird in Str. 22 gewissermaßen der Boden für die späteren Ereignisse bereitet. Das nun folgende, zweite Heldenlob Reginns führt über in das Wortgefecht mit Sigurd. Diese gesamte Szene soll, da sie der Benennung des Schmieds als þulr unmittelbar vorausgeht, nun detaillierter betrachtet werden.

47 Da der Nornagests þáttr die gesamte Fáfnirsepisode in wenigen Sätzen abhandelt, ist hier kein sinnvoller Vergleich möglich. 48 Haimerl 1993, S. 93. Will man dies beiderseitige Aufhetzen des jungen Helden als eine andere Art von Wortwettstreit deuten, gebraucht oder erwirbt sich Reginn durch sein eggja Sigurd als Waffe, während Fáfnir, ohne sich ein solches Machtinstrument verschaffen zu können, dem Bruder unterliegt. Sei es, weil Reginn überzeugender war, sei es, weil sich Sigurd mittlerweile seine eigenen Gedanken macht, es gelingt Fáfnir nicht, ihn vom Verrat zu überzeugen und damit den Schmied praktisch zu entwaffnen. Ob hierin nun ein Grund für die Bezeichnung þulr zu finden ist, lässt sich nicht befriedigend erschließen. Festzustellen ist aber auf jeden Fall, dass Reginn der buchstäblich wort-mächtigere der beiden Brüder ist.



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3.2.7 Fürsten- und Siegeslob Reginn qvað: ‚Heill þú nú, Sigurðr!

nú hefir þú sigr vegit

oc Fáfni um farið; manna þeira,

er mold troða,

þic qveð ec óblauðastan alinn.‘ (Str. 23) Wie schon nach der Vaterracheszene ist auch diese Verkündung zweiteilig und besteht aus Siegproklamation und Preis. Im Gegensatz zur früheren Kundgabe Reginns enthält die Fáfnismál-Strophe dabei jeweils die expliziteren Versionen: Hier wird der Sieg nicht metaphorisiert, sondern wörtlich erwähnt. Vor allem aber findet sich nur in der Fáfnismál-Strophe der Sprecher und dessen Äußerung direkt genannt (þic qveð ec). Gerade hier scheint sich Reginn damit bewusst als (Sprech-)Akteur ins Spiel zu bringen – eine Handlung, die kontextuell gerechtfertigt wäre: Durch die Flucht und das vorherige Aufstacheln ist die Figur heroisch wie moralisch in der Bringschuld. Die Betonung der eigenen, positiv konnotierten Sprechhandlung könnte daher an dieser Stelle über einen kompensatorischen Aspekt verfügen: demonstrative Aktivität als Herold im Ausgleich für die vorherige Passivität als Krieger als Rechtfertigung der gefahrloseren Position. Das stünde außerdem im Einklang mit den Ereignissen der Vaterrachefahrt, in der das Verhalten des Schmieds überhaupt nicht thematisiert wird und welche vor allem auch für Reginn mit weitaus weniger Verpflichtungen einhergeht als der Drachenkampf: Die erste Fahrt fußt auf Sigurds intrinsischer Motivation, da sie einen sehr persönlichen Bezug hat. Zur Sprache bringt diese Obliegenheit der Jüngling selbst und wägt sie explizit gegen Fáfnir und dessen Hort ab, verpflichtet sich womöglich mit dieser Gegenüberstellung der beiden Heldenstücke sogar latent Reginn, da er dadurch eine gewisse Adäquanz herstellt. Der Schmied ist indes weder in die Vorgeschichte der Rache involviert, noch besteht irgendeine sonstige, auch nur unterschwellige, Schuldigkeit für sein Eingreifen  – ganz im Gegensatz zum Konflikt mit seinem Bruder. Entsprechend spielt bei der ersten Schlacht keine Rolle, ob Reginn sich in den Kampf einbringt oder nicht, und er betont auch nicht die Heroldsfunktion bei der Siegesverkündung über die Söhne Hundings. Darüber hinaus wird in der früheren Episode überhaupt nicht davon berichtet, dass Sigurds Ziehvater sich bei der Vaterrache deutlich abseits hält oder gar erst zurückkommt, als die Schlacht vorbei ist, sodass auch ganz allgemein kein mit dem Drachenkampf vergleichbares Konfliktpotenzial erkennbar ist.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

Haimerl nennt den Preis Reginns nach dem Kampf gegen Fáfnir „pathetische Lobesworte“,49 mit der Phrase vega sigr bedient die Figur sich dabei eines gebräuchlichen Ausdrucks in diesem Kontext.50 Zusammen mit der Grußformel51 hat die Strophe jedoch einen demonstrativen, und erhält spätestens durch den formelhaften Abschluss mit explizit gemachtem (qveð) Lob per Superlativ auch einen sehr offiziellen Charakter, der schon fast an den Siegespreis fürstlicher Skalden erinnert (auch wenn diese Art der Dichtkunst in der Edda keinerlei Rolle spielt).

3.2.8 Wortgefecht Aus ebenjener Preisstrophe heraus erwächst, vielleicht bereits mit der Antwort Sigurds, spätestens aber mit dem zweiten, vergifteten Lob Reginns, eine Spannung, die nur wenige Strophen später zu einem heftigen Wortwechsel führt. Dies Streitgespräch ist hochaufgeladen und variantenreich, dabei jedoch eher kurz: Es endet bereits mit Str. 31. Je nachdem, wie man Sigurds Äußerungen in Str. 24 deutet, ließe sich der Anfang in Str. 24 oder auch erst in Str. 25 ansetzen; in 24 etwa, wenn es sich dabei um eine bewusste provokative Abschwächung des Lobes Reginns handeln sollte oder auch einfach Konfliktpotenzial darin liegt, dass Sigurd vielleicht nicht wie von seinem Ziehvater erwartet reagiert (etwa dankbar oder auch nur erfreut), was diesen verärgert und zu einer veränderten Perspektive in Str. 25 führt. Die Abschwächung oder Relativierung liegt dabei in der Tatsache, dass das Attribut óblauðastr („unerschrockenster“) infrage gestellt (Str. 24,4), dadurch zusätzlich der Superlativ, der die Hauptkraft der Preisformel trägt, negiert wird und sich somit in gewisser Weise selbst der Stellenwert der Waffentat relativiert. Inwieweit dies hier als wegwerfende Geste eines Helden, für den derartige Stücke Alltagswerke sind, zu gelten hat und inwieweit als – gar ironischer – Angriff auf den Lobenden, bleibt indes offen, wenngleich vor allem die Unterscheidung, die der Drachentöter hier vornimmt, vielschichtig wirkt: Hat doch auch Reginn im gerade verstrichenen Kampf „die Klinge nicht in der Brust eines anderen gerötet“, was, ungeachtet der allgemein positiven Aussage margr er sá hvatr (Str. 24,5), in der Tat wie eine Anspielung auf dessen Passivität erscheint. Ähnlich deutet es auch Larrington52 sowie Haimerl: „[…] weist er Reginns Lob mit einem ironischen Lob auf Regin zurück: Als Rattäter am Bruder hat Regin seine

49 Haimerl 1993, S. 93. 50 Allein das ONP, welches nur die Prosasprache umfasst, z. B., verzeichnet bereits 29 Belege (Lemma 2 vega, letzter Zugriff 12.2.2016). 51 EK 5, S. 452. 52 „Sigurðr turns aside his praise, just as he turned aside Fáfnir’s threats and curses, with another gnome“; und sie erkennt in der Erwähnung der Klinge ebenfalls eine Anspielung auf den geflohenen Zwerg (Larrington 1993, S. 83 f.).



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Keckheit bewiesen, ohne das Schwert zu benutzen“.53 Die letztere Lesart, die den physischen Akt des Kampfes positiv in Kontrast zu Reginns Anstiften stellt, ist allerdings etwas diffizil: hvatr, auf das Haimerl mit „Keckheit“ Bezug nimmt, beinhaltet, wie bereits erörtert, nicht nur Kampfkühnheit, sondern auch Stärke und Männlichkeit und wird nicht selten – in den Fáfnismál gleich zweimal (Str. 6 und Str. 24) – mit blauðr kontrastiert,54 welches wiederum Bedeutungen aufweist wie „weich“ und „weiblich“55 bzw. „unmännlich“. Dieses Attribut lässt sich direkt in Kontakt mit dem Aufreizen (eggja) bringen, da es sich hier um eine vor allem weiblich besetzte, zumindest aber als schwächlich markierte Tätigkeit handelt, wie bereits angesprochen. Somit steht die Rattäterschaft Reginns, auf die Haimerl hier spezifisch Bezug nimmt, konnotativ im Gegensatz zur Heldentugend. Das ist aus ironischer Perspektive in sich stimmig (allerdings wäre die Ironie dann äußerst dick aufgetragen); angesichts des vorausgehenden Satzes (Str. 24,1–4), der einen entschieden gnomischen (und damit ernsthaften) Charakter besitzt, wirkt der plötzliche Übertritt in gleich mehrfache Ironie allerdings wie ein Bruch. Mir scheint es daher etwas plausibler, dass nur die ungerötete Klinge eine Anspielung auf den feigen Ziehvater darstellt, der zweite Satz sich aber nicht im Ganzen auf Reginn bezieht, sondern nach wie vor sentenzenhaft zu verstehen ist, zumal Generalisierungen wie die „margr er [Adjektiv]“Formel in diesem Bereich typisch sind.56 Quinn sieht in Sigurds Aussage den Versuch, sich, nach ähnlichen Ansätzen im vorhergehenden Gespräch mit Fáfnir, durch den Übertritt in die Gnomik intellektuell über seinen Gegner Reginn zu erheben,57 was stichhaltig wirkt, wenn auch unklar bleibt, inwieweit dieser Versuch als erfolgreich anzusehen ist.58 Reginns Antwort lässt zumindest keine Rückschlüsse darauf zu, ob das Bemühen wahrgenommen wurde. Unabhängig davon scheint mir Sigurd hier zwischen Gnomik – ein Echo des vorausgegangenen Diskurses mit Fáfnir? – und fast schon Rabulistik zu schwanken, da

53 Haimerl 1993, S. 93. 54 Clover 1993, S. 364. 55 C/V, S. 67. 56 Gleichartige Beispiele finden sich z. B. in den Hugsvinnsmál, etwa Str. 34,4, 47,4 oder 65,4. Die gesamte Struktur der dortigen Verse ist überdies mit der der Fáfnismál-Strophe vergleichbar: In den ersten drei Zeilen die allgemeine These, welche eine Warnung oder Verneinung in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten oder einen Vorgang enthält, dann die mittels der margr er-Formel eingeleitete Stützung dieser These anhand eines konkreter ausgeführten, erklärenden Gegenbeispiels. Strukturelle Ähnlichkeit weisen auch mehrere Hávamál-Strophen auf, etwa Str. 20, bei der in 20,4 opt die (nun eingeschränkt zeitlich generalisierende) Rolle des margr übernimmt, oder Str. 30, deren erklärendes Beispiel auch margr einsetzt, dies aber mit einem anderen Verb koppelt (þicciz, Str. 30,4). 57 Quinn 1992, S. 124. 58 Die Autorin interpretiert ihn in gewisser Weise als erfolgreich, denn sie stellt fest, dass Sigurd bereits hier Differenzierungsfähigkeit beweist, indem er die Tapferkeit vom Waffenspiel trennt (Quinn 1992, S. 124 f.); vermerkt aber ebenso Reginns Ignorieren dieser Strategie.

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sein formelhaft-sentenzenartiges59 (Þat er óvíst at vita, Str. 24,1) Zweifeln an Reginns Preisworten sich spezifisch auf den Unterschied zwischen Anlage und kriegerischem Ausagieren bezieht – nicht jeder, der kühn geboren ist, beweist dies auch im Kampf (Str. 24, 5–7). Dass der Stab hier überdies auf den Vokalen von [hverr] óblauðastr [er] alinn (Str. 24,4) liegt, wie es auch bei Reginns Aussage [þic qveð ec] óblauðastan alinn (Str. 23,6) der Fall war, ermöglicht darüber hinaus, durch spezifische Betonung oder Intonation der beiden Stäbe den Wortspielcharakter von Sigurds Antwort auch im Vortrag deutlicher sichtbar zu machen: Reginn: ó-blauðastan alinn (Betonung auf der Furchtlosigkeit als Heldenlob). Sigurd: óblauðastr er a-linn (Betonung auf der Differenz zwischen Geburtsqualitäten und späterem Verhalten mit folgender bildhafter Anspielung auf den Schmied). Innerhalb des Plots stellt das Wortgefecht dabei keine Performanz im wörtlichen Sinne dar – es handelt sich nicht direkt um eine wie auch immer geartete „Aufführung“, da spezifisches Publikum fehlt: Fáfnir ist bereits verschieden und die Vögel in den Zweigen spielen erst eine Rolle, nachdem Sigurd dessen Blut gekostet hat. Dennoch lassen sich performative Aspekte ausmachen, letztlich auch aufgrund der demonstrativen Charakteristik der Äußerungen, in deren Kontext ein am Gespräch Beteiligter immer auch Publikumsfunktion innehat. Am deutlichsten scheinen diese Elemente beim Zurschaustellen der eigenen Errungenschaften auf, und zuvor im Hervorheben der Schuld des jeweils anderen am Tod des Bruders Reginns; mithin einem Abschnitt, dem man wegen des nicht gerade impliziten, offensiven Vergleichscharakters der Äußerungen große Nähe zum mannjafnaðr attestieren kann.60 Dabei ist besonders Reginns Äußerung in Str. 25 interessant: Mit einer konventionellen Beschreibung (Glaðr ertu nú, Str. 25,1) schließt er an die vorige Preisformel an, nennt erneut den Sieg und beschreibt Sigurds augenblickliche Tätigkeit (þerrir Gram á grasi, Str. 25,3). Obwohl als realistische Beschreibung ausgeführt, wirkt dies auch zeichenhaft für das Überleben und damit die Überwindung Fáfnirs.61 Die dann folgenden drei Zeilen sind kunstvoll aufgebaut, fast schon ein Spiel mit der Schuldzuweisung: Als Erstes nennt Reginn seine Verwandtschaftsbeziehung zu Fáfnir (bróður minn / hefir þú beniaðan, Str. 25,4 f.); dieser und dem Tötungsakt wird durch die Alliteration (auf  b) weiteres Gewicht verliehen  – und dadurch der gesamten Anklage. Allerdings schwächt der Schmied sie gleich darauf durch Eingestehen der eigenen Beteiligung ab (oc veld ec þó siálfr sumo, Str. 25,6), die wiederum durch die Einschränkung sumo modifiziert wird – wenn auch strittig ist, in welche Richtung.

59 EK 5, S. 453: „fast wörtliche Entsprechung in Háv. 15 und 384 sowie Eiríksmál 73“. 60 Zwar erstreckt sich dieser Austausch auf nur wenige Zeilen, enthält aber den Männervergleich im Sinne eines demonstrativ-aggressiven Herausstellens der eigenen Taten oder Fähigkeit zulasten des Gegners, wie es für den mannjafnaðr typisch ist (Clover 1980, S. 444 f.). 61 Warum Larrington (1993, S. 84) hier „forced cheerfulness“ erkennt, erschließt sich nicht ganz, die recht konventionell beschreibenden Worte dieser Verse lassen meines Erachtens wenig Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Gemütsverfassung zu.



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3.2.9 Exkurs: Reginns Schuld Der Eddakommentar interpretiert diese Aussage als bekräftigend: „ist wohl eine Litotes für ‚und ich bin ganz daran schuld‘“.62 Dabei ist der beigefügte interne Verweis63 von eher geringem Beweiswert, da es sich bei dem referenzierten Paragraphen nur um eine Auflistung aller Fälle von Litotes im Text handelt, ohne dass diese irgendwie begründet werden. Auch Hollanders Untersuchung des Stilmittels im Altnordischen64 führt in keiner Kategorie sumo als Exempel für Litotes auf. Hingegen gibt er Beispiele für den Einsatz von nǫkkut, das vergleichbare Bedeutung besitzt. Zu diesem vermerkt er, dessen Auftreten sei „moderately frequent in prose and poetry (though absent in the Edda)“.65 In diesem Punkt besteht überdies ein Widerspruch zum Eddakommentar, der die Äußerung des siegreichen Helgi „þó kveð ek nøkkvi / nornir valda (HH II 263–4)“ als gleichartiges Konstrukt anführt66 und dabei direkt auf Hollander verweist, ohne jedoch auf dessen Aussage zum (Nicht-)Vorkommen in der Edda näher einzugehen. Nǫkkut fällt bei Hollander unter die Kategorie „C. Litotes effected without negation“,67 zu der gegebenenfalls auch das in den Fáfnismál gebrauchte sumo gehören müsste. Eine Begründung für die Deutung von speziell sumo als Litotes lässt sich jedoch auch hier nicht finden. Weiterhin bringt der Eddakommentar die Passage mit der S/G’schen Deutung in Verbindung, dass Reginn hier bewusst seinen Anteil am Tod Fáfnirs betone, um ein Teilanrecht auf Fáfnirs Schatz zu etablieren.68 Dies ist einleuchtend, allerdings gehen S/G dabei zusätzlich von einer anderen Strophenreihenfolge aus.69 Auf Basis der Strophennummern bei Neckel/Kuhn wäre die korrigierte Sequenz: Str. 25, Str. 28, Str. 29, Str. 30, Str. 31, [*Strophe mit der Wiederholung der Schuldzuweisung70], Str. 26 mit folgender Prosa, Str. 27 mit Prosa nach Str. 31. Und damit die thematische Folge: Beteiligung Reginns, Feigheitsvorwurf und Konter, gnomische Sequenz (Str. 31 bei Neckel/ Kuhn sehen S/G als „nur eine variante zu 2871 und sicher interpoliert“72), im Text „fehlende“ erneute Schuldzuweisung, gefolgt vom Vorwurf der Aufhetzung, und schließlich Auftrag des Schmieds, das Herz zu braten, dem der junge Held nachkommt. Ihre

62 EK 5, S. 455 f. 63 auf „§ 8g“, EK 5, S. 455. 64 Hollander 1938. 65 Hollander 1938, S. 19. 66 EK 5, S. 455 sowie EK 4, S. 712. 67 Hollander 1938, S. 16. 68 EK 5, S. 456 und S/G 3/2, S. 194 f. 69 S/G 3/2, S. 195. 70 S/G 1, S. 328 und S/G 3/2, S. 195. 71 Str. 30 bei Neckel/Kuhn. 72 S/G 3/2, S. 196.

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Emendation beruht hier auf der korrespondierenden Dialogstruktur der Vǫlsunga saga; indes eines Texts, der, trotz zahlreicher und teils wörtlicher Übereinstimmungen, an diversen Stellen von den eddischen Sigurdliedern signifikant abweicht. Als Beispiele wären etwa die Vorbereitung des Drachenkampfs (Grube(n) und Rat) zu nennen, das Schmieden von Sigurds Schwert Gram (was in der Saga weitaus detaillierter erzählt wird und dort zudem mehrere Anläufe benötigt) oder auch der Akteur, der dem toten Fáfnir das Herz aus dem Leib schneidet: Im eddischen Text ist es Reginn, in der Saga Sigurd (der Name des Schwerts – Riðill – bleibt hingegen gleich). Darüber hinaus taucht der Rachewunsch Hreiðmarrs in der Saga ebenso wenig auf wie die Antwort Lyngheiðrs und ihre Worte an Reginn; überhaupt fehlen die Schwestern des Schmieds dort gänzlich. Auch die (Selbst-)Anklage im Prosawerk unterscheidet sich von der parallelen Edda-Stelle: In der Saga ist sie gedoppelt und erscheint als zweite und vierte Äußerung Reginns, was S/G veranlasst, mit der bereits angeführten, im eddischen Text entfallenen Strophe zu rechnen (während Str. 31 dort interpoliert sei). Allerdings wird nicht darauf eingegangen, dass die Verteidigungsrede Sigurds (Þú því rétt […], Str. 26,1) in der Saga gar nicht enthalten ist, sondern die zweite Anklage nahtlos in das Herausschneiden des Herzens Fáfnirs übergeht, dieser Streitpunkt also entfällt. Zusätzlich stimmt jene spätere Bezichtigung im Prosawerk fast wörtlich mit der ersten überein und endet daher ebenfalls mit dem Schuldeingeständnis Reginns. Es erfolgt also keine Überleitung in eine Bruderbußeforderung, sondern die Äußerung ließe sich anhand der Beschreibung von Reginns Gemütszustand (mælti hann af miklum móði73) vielleicht auch als Ausdruck von Trauer, Zorn oder Verbitterung lesen.74 Gerade eingedenk dieser und vieler anderer Divergenzen zwischen den beiden Texten, in Plot- und Detailelementen sowie -strukturen, ist daher nicht recht nachvollziehbar, wieso hier eine solch invasive Rekonstruktion mit „entfallenen“ und „zusätzlichen“ Strophen angezeigt ist, während andere, grob ähnliche Abweichungen, etwa bei den Vogelstrophen, weitgehend unberührt gelassen werden: In der Vǫlsunga saga „fehlt“ z. B. Str. 37, während dort bereits früh – in der Äußerung des vierten Vogels, was in etwa Str. 35 der Fáfnismál entspricht  – eine Referenz zu Brynhild und dem Hindarfjall auftritt, wogegen im Heldenlied der Name der Walküre überhaupt nicht enthalten ist und der Hindarfjall erst in Str. 42 erwähnt wird. Gleichfalls spielt bei der korrigierenden Angleichung keine Rolle, dass Str. 24 und Str. 26 der Fáfnismál in der Vǫlsunga saga gar nicht erscheinen, obwohl gerade der (Gegen-)Angriff Sigurds in der Schuldfrage sowohl der Logik des Zwiegesprächs wie auch der des weiteren Plotverlaufs entspräche und auch das erste Abtun von Reginns Lob durch Sigurd die in der Saga größeren Differenzen zwischen den beiden Figuren gut illustrierte.

73 Ebel 1983, S. 87. 74 móðr: „wrath; […] moodiness, heart’s grief“, C/V, S. 435.



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Ebenjener Str. 26 gestehen dabei letztlich selbst S/G zu, dass sie „wie eine entgegnung auf 25 aussieht“.75 In Anbetracht dessen sowie der eben genannten Auffälligkeiten scheint auf einer solchen Basis die Rekonstruktion einer „Originalreihenfolge“ mindestens ebenso viele, wenn nicht mehr Probleme aufzuwerfen, wie bzw. als die Akzeptanz des überlieferten Texts. Eines Texts, ferner, dessen Manuskript im betroffenen Bereich keinerlei Auffälligkeiten zeigt, die auf eine solche Umstellung zumindest zum Zeitpunkt der dortigen Niederschrift schließen lassen würden. Daher schließe ich mich in puncto Textstruktur und -kohärenz u. a. Haimerl76 und vor allem Quinn77 an, die, wie es der Eddakommentar formuliert, „Interpolationen oder fehlerhafter Platzierung von Strophen“ eine Absage erteilen und stattdessen „die Fm. [in der im Codex Regius überlieferten Form, KRMT] als ein sinnvolles Ganzes“78 ansehen. Um nun noch einmal auf die Größe der Schuld zurückzukommen, findet sich in der Vǫlsunga saga bei Reginns diesbezüglicher Aussage die Formulierung varla […] saklauss79 („kaum […] schuldlos“, Kap. 19). Der Schmied bedient sich hier einer Konstruktion, die in der Tat als Litotes gedeutet werden kann. Auch Hollander listet varla bei den Beispielen für Litotes ohne Negation auf,80 merkt dabei allerdings an: „occurs somewhat infrequently in a litotic sense, in poetry, recognized only by Lex. Poet“,81 wobei diese Einordnung nicht das ganze Konstrukt der Saga umfasst: Zusätzlich tritt hier Negation im Suffix des Adjektivs -lauss auf, wodurch dieser Teil unter „B. Denied Positive“82 fiele. Eine Kategorie für eine derartige Kombination aus B und C führt Hollander nicht an – was sich aber eventuell auch als Indiz für Kunstfertigkeit lesen lässt. Wichtig scheint mir gleichwohl auch noch folgende Anmerkung des Autors (bezogen auf eben genannte Kategorie B): If denied, the result will, of course, be the exact reverse  – the denied positive will become a strong negative, the denied negative, a decided positive (as seen in the preceding category); with a certain number of cases, where, as shown, we may be in doubt about their exact force. It will, then, frequently be a matter of discretion to which category a certain litotic combination is to be assigned.83

Damit besitzt diese Konstruktion also relativ unklare Kraft, kann nicht als eindeutig positiv oder negativ eingestuft werden und zuletzt ist nicht einmal sicher, ob sie überhaupt litotisch verwendet wird.

75 S/G 3/2, S. 195. 76 Haimerl 1993, S. 93. 77 Quinn 1992, insb. S. 127 f. 78 EK 5, S. 364. 79 Ebel 1983, S. 87. 80 Hollander 1938, S. 28. 81 Hollander 1938, S. 28. 82 Hollander 1938, S. 9. 83 Hollander 1938, S. 10.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

Weitere Zweifel weckt die Tatsache, dass der Autor der Vǫlsunga saga gerade in Details sozialer Interaktion der Figuren durchaus von den eddischen Texten abweicht: Man vergleiche etwa Reginns an Sigurd gerichtete „Bitte“, das Herz Fáfnirs zu braten: Veit mér eina bœn, er þér er lítit fyrir84 (Kap. 19) mit den kurz angebundenen Anweisungen der Edda: ‚Sittu nú, Sigurðr, enn ec mun sofa ganga, oc halt Fáfnis hiarta við funa! eiscǫld ec vil etinn láta eptir þenna dreyra drycc.‘ (Str. 27) Sätze, die sogar als Befehl gedeutet wurden, „als ob Sigurd sein Dienstbote wäre“.85 Gleichermaßen wird Reginn in seiner Beziehung zum Ziehsohn durch das in der Saga nicht enthaltene elsca anders dargestellt als in der Edda. Unter diesen Bedingungen ist eine sichere Aussage über den Sinn der Formulierung schwierig, und die nicht eindeutig als Litotes erkennbare Konstruktion der späteren Saga spiegelt das Interpretationspotenzial des zugrunde liegenden Verstextes der Fáfnismál passend wider. Zu beachten ist ferner, dass der Reduktion Reginns auf den gierigen Neiding bei S/G ein „flaches“, nämlich gänzlich negatives Bild des Charakters zugrunde liegt, was dessen durchaus vorhandener Komplexität nicht gerecht wird: „der dichter versteht es, den argen feigling gut zu charakterisieren: er bringt das geständnis, die hauptschuld zu tragen, nicht über die lippen“.86 Der „arge feigling“ liebt schließlich, wie explizit beschrieben wird, andererseits Sigurd sehr, ist grimmr, was auf ein gewisses Aggressionspotenzial schließen lässt, und hat nicht zuletzt bereits zuvor seinen Zögling auf die Vaterrachefahrt begleitet – und hier, wie auch sonst, ohne erkennbar negative Charakterisierung. Eine solch eindimensionale Interpretation der Figur wie die von S/G wirkt daher schwer haltbar. Von der Strophenfolge einmal abgesehen ist deren Begründung für Reginns Aussage zur Beteiligung am Totschlag indes durchaus einleuchtend. Nur scheint mir hier eher eine Mixtur aus Schuld (in Form des Eingestehens des Offensichtlichen zum geringstmöglichen Grad), auch aus Feigheit, die aber nicht der absolut vorherrschende Charakterzug ist, und Vorteilssuchen (Beteiligung an der Tat heißt Beteiligung an der Beute) die Motivation zu sein. Sigurds Reaktion – setzt man die Strophenreihenfolge des Manuskripts an – gibt dann auch ein klares Zeugnis davon, wie der Drachentöter das „Schuldbekenntnis“

84 Ebel 1983, S. 88. 85 EK 5, S. 459. 86 S/G 3/2 1931, S. 194 f.



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Reginns auffasst: Ginge es in der Tat hauptsächlich oder auch nur erkennbar deutlich um das Recht auf einen Anteil am Gewinn, so hätte der Jüngling entweder die Beteiligung Reginns abstreiten müssen, um den Schatz für sich zu behalten, oder er sollte, dem Fürstenideal entsprechend, in seiner Reaktion eine gewisse Großzügigkeit an den Tag legen. Beides ist nicht der Fall; die Frage der Verteilung wird nicht einmal mittelbar berührt. Wie Sigurds Antwort zeigt, geht es eindeutig um das ursprüngliche Ins-WerkSetzen der Tötung, welches Sigurd mit Vehemenz von sich weist, was das negative Attribut des Aktes unterstreicht. Auch ohne die Frage nach dem Anteil am Hort gilt daher: Würde Reginn tatsächlich, wie der Eddakommentar anführt, mit einer Litotes die gesamte Verantwortung für den Totschlag an Fáfnir beanspruchen, hätte Sigurd keinen Grund für seine energisch-abwehrende Reaktion. Eine letzte Möglichkeit wäre noch, Sigurds Antwort in Str. 26 nicht negativ, sondern emphatisch zu lesen; dass also Reginns Beteiligung an der Tötung (im positiven Sinne, als Anteil an Heldentat und Schatz) in der Strophe bekräftigt wird. In diesem Fall begänne das Streitgespräch erst in Str. 28, nachdem Reginn Sigurd die Anweisung gegeben hat, das Herz zu braten. Eine Deutung in diese Richtung, die die Antwort recht neutral interpretiert, bietet Larrington: „Sigurðr acknowledges that he would have left the dragon alone, if Reginn had not challenged his courage“.87 Allerdings erscheint mir eine derartige Lesart, angesichts des Stropheninhalts und -aufbaus, etwas bemüht; insbesondere da der germanische Held dadurch ausgezeichnet ist, nicht erst „zum Jagen getragen“ werden zu müssen, Großtaten also ohne äußere Veranlassung zu vollbringen. (Im Sonderfall des kolbítr, als welcher Sigurd indes nicht bezeichnet werden kann, wie vor allem die dem Fáfnirskampf vorausgehende Rachefahrt illustriert, gilt dieses Charakteristikum, sobald er zu seinem kriegerischen Naturell gefunden hat.) Gerade das Infragestellen heroischer Attribute  – hier von Sigurds Kühnheit, welches in dessen Verteidigung zum Initialmoment für das Heldenstück wird – würde ihn somit als zögernden, zurückhaltenden, dadurch letztlich feigen Menschen markieren, nicht aber als exemplarischen Heroen, der sich aus eigenem Antrieb einer Gefahr stellt, was überdies im Widerspruch zu seinem gesamten Verhalten stünde: Seine einzige Ablehnung der Konfrontation war ausschließlich in der stärker verpflichtenden Vaterrache begründet. Auch in der Vǫlsunga saga ist frýja negativ konnotiert und bedeutet eine Herabsetzung des Adressaten (so in der Episode, in der Reginn beim ersten Versuch, Sigurd zum Drachenkampf aufzureizen, diesem den kühnen Charakter der Völsungensippe abspricht (Kap. 13), was Sigurd infolge als frýja88 bezeichnet; oder, wenn Guðrun gegenüber Brynhild, die den Drachentöter Sigurd höher schätzt als ihren

87 Larrington 1993, S. 84. 88 Ebel 1983, S. 80.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

Mann Gunnar (Guðruns Bruder), versetzt, Letzterem könne nicht der Mut bezweifelt (frýja89) werden, da Grani unter ihm eben nicht das Feuer passieren wollte (Kap. 30). Es ist daher nur schwerlich davon auszugehen, dass Sigurd in den Fáfnismál das frýja Reginns in positiver Hinsicht zur Sprache bringt. Zuallerletzt wäre auch zu fragen, wieso der junge Held, wenn er hier in der Tat Reginns Beteiligung am Sieg wohlwollend bekräftigen sollte, dann nur etwas später den Anteil, den jener durch das unzweifelhaft selbst gefertigte, hilfreiche bis maßgebliche Schwert daran besitzt, infrage stellt  – eine Diskrepanz, die sich in einem solchen Rahmen kaum logisch erklären lässt. Aus diesen Gründen scheint mir einleuchtender, dass Reginn sein vorausgehendes Schuldeingeständnis durch sumo sofort wieder relativiert, sodass von seiner Beteiligung letztendlich doch nur sehr wenig übrig bleibt. Um nun zum eigentlichen Geschehen zurückzukehren, ist es nicht verwunderlich, dass Sigurd seine Verteidigung gleich in medias res und mit direkter Anrede des Verantwortlichen beginnt: Þú því rétt, / er ec ríða scyldac (Str. 26,1 f.). Dabei erfährt der Anvers angesichts der geringen Silbenzahl eine gewisse emphatische Dehnung und der Rat selbst wird durch die Alliteration hervorgehoben. Diese auf einen Satz90 konzentrierte Verteidigung wird in Folge weiter ausgeführt, explizit ein alternatives Szenario aufgebaut: Ohne Reginns aufwieglerische Beteiligung würde Fáfnir immer noch leben, nema þú frýðir mér hvatz hugar (Str. 26,6). Auch hier ist der Aufbau bemerkenswert: eine Ringstruktur, deren Kern  – Fáfnir könnte noch leben  – von den an Versanfang und -ende erwähnten Umständen umschlossen wird, die zu dessen Tod führten: Reginns Rat und Reginns Aufstachelung durch das Bezweifeln des Muts seines Ziehsohns, kurz: Reginn ráðbani – mit ráða und frýja als einmal mehr dezidiert verbale Akte.

3.2.10 Herz und weiteres Wortgefecht Im nun folgenden Prosastück geht Reginn auf Sigurds Anklage überhaupt nicht ein, sondern begibt sich zu Fáfnirs Leiche, um dieser das Herz herauszuschneiden und anschließend Blut aus der Wunde zu trinken. Eine Tat, die angesichts der eben noch betonten Verwandtschaft zwischen dem Schmied und dem Erschlagenen möglicherweise etwas grotesk wirkt, zumal Reginn bis zu diesem Punkt nicht durch ähnliche Handlungen aufgefallen war. Legt man zugrunde, dass Fáfnirs (spätere) Form die

89 Ebel 1983, S. 104. 90 Neckel/Kuhn setzen hier zwar ein Semikolon, ein Punkt wäre aber ebenso möglich und findet sich auch in der Handschrift (GKS 2365 4°, 31r, Wimmer/Jónsson 1891, S. 61); allerdings besitzt ein solcher natürlich auch hier keine spezifische Interpunktionsqualität, sondern wird allgemein zur Trennung verwendet. Auf jeden Fall aber ist die entsprechende Sinneinheit an dieser Stelle abgeschlossen.



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eines Drachens ist, und reduziert ihn auf nur diese Gestalt, fügt sich die Szene motivisch in ein erzählerisches Muster ein, in welchem Menschen durch den Verzehr von Blut oder Herz mächtiger Feinde erheblich an Stärke und Mut gewinnen.91 Mithin ein Ziel, das angesichts von Reginns vorausgehendem Verhalten im Kampf durchaus sinnvoll erscheint. Allerdings nimmt der Zwerg auch in diesem Fall wieder eine Art Sonderrolle ein: Während sonst entweder der Sieger selbst Herz und Blut verzehrt (wie es später auch Sigurd tut) oder aber ein Stärkerer Derartiges einem Schwächeren reicht, um diesen zu kräftigen (Guthormr aus der Vǫlsunga saga (Kap. 32),92 Hǫttr93 aus der Hrólfs saga kraka (Kap. 35)), verschafft sich hier der Feige, Schwache beides selbst; überdies, ohne dass der Held sein Einverständnis geäußert hat. Reginn ist nicht Krieger, sondern Anstifter und Nutznießer, seine Vereinnahmung dieser machtvollen Siegeszeichen wirken damit nicht vollkommen legitim. Der Schmied steht also auch hier im Gegensatz zu Sigurd und dessen späterem beispielhaft heroischen Verhalten. Will man Reginns Trinken des Blutes Fáfnirs nach dessen Tod hingegen als entmenschlichende oder gar dämonisierende Tabuhandlung deuten,94 so wie dieser Akt z. B. im Beowulf zur Charakterisierung Grendels eingesetzt wird (Beowulf, Z. 742), zeigt ein Blick auf Sigurds Taten, dass dieser überaus positiv konnotierte Held kurz darauf dasselbe tut und neben dem Verzehr des Herzens Fáfnirs auch noch Reginns Blut trinkt, damit also sogar eine Art Handlungsverdoppelung – und beim Blut auch -spiegelung  – vollführt. Zwar besteht zwischen dem Völsungen und den beiden Hreiðmarrssöhnen kein blutsverwandtschaftliches Band, es handelt sich aber um menschliche (oder teilmenschliche) Überreste und Reginn war Sigurds Ziehvater. Nichtsdestotrotz schlägt sich hier beides nicht einmal in einer kurzen Anmerkung oder Erwähnung nieder. Somit wirkt wahrscheinlicher, dass im Eddalied mit dieser Tat generell die Aufnahme von Stärke, Aggressivität und Mut eines Feindes in sich selbst dargestellt wird, eine negative Charakterisierung aber nicht das Ziel ist. Ebenfalls hineinspielen könnte vor allem im Falle Sigurds, dass das Trinken von Blut im Kontext außergewöhnlicher Krieger nicht völlig abnorm ist, da es ein Charakteristikum für den Berserker darstellt,95 also einen Kämpfertypus, der wiederum mit Odin verbunden ist, ebendem Asen, der auch zu Sigurd in besonderer Beziehung steht. Zwischen Reginn und Odin gibt es zwar ebenfalls eine schwache Verbindung, diese ist aber eher tragischer Natur (Brudertod, Wergeld und Fluch), sodass ein solcher Aspekt beim Schmied kaum maßgeblich sein dürfte.

91 EK 5, S. 460. 92 S. auch EK 6, S. 960 ff. 93 EK 5, S. 460. 94 S. zur Rolle des Blutes etwa Ranke, RGA 3, S. 78 ff., wobei Reginns Handlung auch dort in den Kontext von Kraftübertragung gestellt wird. 95 Meier, RGA 15, S. 441.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

Abgesehen von der fragwürdigen Handlung selbst ist in Reginns aktivem Eingreifen aber noch ein anderer Kontext auszumachen: Als der Zwerg sich nach dem Trinken wieder äußert, nimmt er nicht auf das vorangegangene Wortgefecht Bezug, sondern weist Sigurd nur an, das Herz zu braten, während er selbst schlafen gehen wolle. Es findet damit seitens Reginn ein Rückgriff auf die alten Rollen von Meister und Lehrling statt, im Versuch, sie erneut zu etablieren und damit den zuvor erfolgten Autoritätsverlust rückgängig zu machen.96 Seine direkte Bezugnahme auf das Bluttrinken (dreyra drycc, Str. 27,6) sowie die geäußerte Absicht, das Herz zu essen, ist, und bemüht, dabei keine poetische Umschreibung, sondern bildet die makabere Wirklichkeit ab. Dabei könnte die partielle Achtlosigkeit des Zwergs gegenüber sozialen Regeln, welche bereits in der nicht verfolgten Vaterrache aufklang, ebenfalls einen Anteil haben: Auf die erste unberechtigte Aneignung von Feindeskraft erfolgt die Verkündung der zweiten. Darüber hinaus lässt sich Reginns schmucklose Formulierung auch dahingehend lesen, dass wenigstens der Schmied diesen Handlungen keine besondere Bedeutung oder gar Rechtfertigungsbedarf beimisst: Sei es der Tat selbst, sei es seines „Publikums“ wegen – ein Meister rechtfertigt sich nicht vor seinem Schüler. Gerade diese letzte Perspektive ermöglichte es daher auch, Bluttrinken und Herzentnahme nicht nur als das Streben nach persönlichem Gewinn, sondern zusätzlich als performative Geste der Autorität zu verstehen: Sigurd mag Fáfnir getötet haben, nichtsdestotrotz ist es dennoch Reginn, der mit dem Leib – der „Beute“ – verfährt, wie es ihm beliebt. Wie ein Alphawolf in einem Rudel hat er (noch) die Verfügungsgewalt inne, unabhängig davon, als wie kampfstark sein Zögling sich eben noch erwiesen hat. Auch aus dieser Perspektive wirkt es im Gegenzug nicht verwunderlich, dass Sigurd sich nicht so leicht abspeisen lässt, sondern erneut gegen Reginns unmittelbaren Autoritätsanspruch aufbegehrt, indem er nun dessen Verhalten beim Kampf thematisiert: Fiarri þú gect,

meðan ec á Fáfni rauþc minn inn hvassa hior; (Str. 28,1–3)

Nicht nur dass hier die Flucht Reginns betont an den Anfang gestellt ist, sondern mit dem Motiv der Klingenrötung greift Sigurd direkt seine vorige Entgegnung auf Reginns Lob óblauðastr wieder auf (margr er sá hvatr, / er hior né rýfr / annars brió­ stom í, Str. 24,5–7). Während Sigurd also nicht nur kühnen Sinnes ist, sondern dies

96 Quinn sieht hier nicht nur einen Versuch: „Reginn has re-established his position of dominance and gives orders to Sigurðr“ (1992, S. 125).



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auch exemplarisch im Sinne der heroischen Gesellschaft und Motivik in Taten umsetzt, ist Reginn nicht einmal im Geiste kühn, sondern entzieht sich aktiv der Gefahr. Damit befinden sich die beiden Widersacher nun auf einer Ebene, auf der die Qualitäten äußerst ungleich verteilt sind. Reginn geht auch gar nicht auf den Angriff ein (etwa durch Erklärung seines Verhaltens, was einen der möglichen Züge im mannjaf­ naðr darstellen würde), sondern direkt zum Gegenangriff über, in dem er seine eigene Expertise in den Mittelpunkt stellt. Strukturierung und Motivik greifen dabei beträchtlich auf die vorhergehenden Äußerungen seines Angreifers zurück: Auch der Schmied errichtet ein Alternativ­ szenario mit der Konstellation „lebender Fáfnir“ – „Beteiligung Reginns“; hier jedoch unter vollkommen umgekehrten Vorzeichen: Nicht länger ist es der soziale Kontext von Verwandtschaft und deren Banden und Obligationen (insbesondere die drohende Rache- oder Fehdepflicht), in dem die Ereignisse verhandelt werden, sondern, im Gegenteil, der rein physisch-heroische Kontext von Krieger und übermächtigem – und damit besonders prestigeträchtigem – Gegner. Mit dieser Sichtweise wird Reginns Verhalten im Kampf ebenso unmaßgeblich wie seine familiären Bindungen. Stattdessen tritt er als essentielle Figur im Hintergrund auf, welche das (erfolgreiche) Austragen des Konflikts durch die Bereitstellung der notwendigen Mittel überhaupt erst ermöglicht. In einem solch neuen Kontext besitzen seine Handlungen bei der eigentlichen Auseinandersetzung damit keine nennenswerte Bedeutung mehr: Reginns Beteiligung an der Tötung Fáfnirs besteht ebenso mittelbar wie unverzichtbar im Schwert. Dieser Wertigkeit verleiht der Sprecher auch poetischen Ausdruck: Die Klinge, zentrales Argument, Verteidigung und (Mit-)Ursache für den Sieg, erhält durch Variation weiteres Gewicht (Str. 29,4; Str. 29,6). Weit entfernt vom einfachen Einsatz von Synonymen nimmt der Schmied dabei Ausdrücke aus Sigurds voriger Attacke wieder auf: Aus minn inn hvassa hior (Str. 28,3) – bei Sigurd mit der Nichtbeteiligung Reginns kontrastiert  – wird þíns ins hvassa hiors,97 ein Nachsatz oder eher noch höhnisch klingendes Nachhaken, welches das Schwert, die „scharfe Klinge“, deren Rötung der Jüngling beispielhaft anführte, rekontextualisiert. Sigurd nutzte sie: ef þú sverðz né nytir (Str. 29,4), aber Reginn schuf sie, er ec siálfr gorða (Str. 29,5), und damit die grundlegende Voraussetzung für das Heldenstück. Einmal mehr dient bei dieser

97 Wie der Eddakommentar bemerkt, zudem eine bei der Bezeichnung des Schwertes Sigurds mehrfach verwendete syntaktische Konstruktion (EK 5, S. 399). In den oben erwähnten Äußerungen findet sich also in zwei der insgesamt vier Belege bewusste Wiederaufnahme und Variation. Bei den beiden anderen Belegen, in Str. 1,3 und Str. 6,3 im Dialog Sigurds mit Fáfnir, ist eine direkte Bezugnahme weniger zu erkennen, da mehrere Strophen zwischen den Vorkommen stehen sowie weder das verwendete Heiti noch dessen Attribut übereinstimmen.

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Umstrukturierung die Alliteration der Hervorhebung zentraler Aspekte, hier von Mittel und Schöpfer. Im selben Zuge wird auch noch ein anderes Motiv von Reginn umgedeutet: Das Liegen im Heidekraut, das Sigurd – vielleicht auch in Anspielung auf den dümmlichantriebslosen heimskr maðr oder den am Feuer liegenden kolbítr  – dem Drachenkampf entgegenhält (meðan þú í lyngvi látt, Str. 28,6), wird nun dem lebenden Fáfnir des Alternativszenarios zugeschrieben. Hier ist es also nicht mehr mit Feigheit, Trägheit oder gar Verstecken assoziiert, sondern mit ungestörtem Besitzanspruch und davon ausgehender Gefahr: Nicht nur der Feige, auch der Mächtige, Bedrohliche liegt im Heidekraut. Das schmähliche Gegenteil heroischen Verhaltens wird damit neutralisiert, wenn nicht sogar in den Kontext enormer Stärke gestellt (und damit letztlich zu, im positiven wie negativen Sinne, einer Grundvoraussetzung für den heldenhaften Akt).98 Nachdem Reginn sich in seiner Verteidigung, respektive seinem Angriff, thematisch bereits vom direkten Kampf entfernt hat, zieht Sigurd nun in dieser Hinsicht nach und geht einmal mehr ins Gnomische über. Wie bereits in Str. 24 kontrastiert er Waffe und (kühnen) Mann und wieder ist es der Mann, der den Ausschlag gibt, die Waffe vernachlässigbar. Kühnheit ohne Waffengebrauch (Str. 24) ist für den Drachentöter ebenso selbstverständlich wie der Sieg eines (geistig) starken Mannes mit einem minderwertigen Werkzeug (Str. 30). Damit wird nicht nur Reginns Argument infrage gestellt, sondern auch dessen Stellung im Rahmen der Drachentötung weiter geschwächt. In diesem Zuge ist im Wortgefecht ein Wandel der Positivstereotypen zu erkennen: die Konfrontation von homo pugnans mit homo faber hin zu homo fortis oder, wie Haimerl es in seiner Analyse der fortitudo-Entwicklung des Drachentöters nennt, hvatr maðr,99 welcher nicht durch Körperkraft, Waffenpracht oder Kampfgeschick, sondern deren geistige Voraussetzungen gekennzeichnet ist. Im Rahmen dieses Wandels lässt sich auch noch einmal daran denken, dass das Gegenstück zum typischen hvatr, blauðr, Figuren eignet, die nicht kampfestüchtig sind und sich in Konflikten maximal durch verbale Aufreizhandlungen hervortun, oder, viel eher noch, im Hintergrund halten (müssen) – Reginn erfüllt also selbst unter den neuen Umständen bereits durch sein vorheriges Handeln das Negativstereotyp. Haimerl notiert bei dieser Strophe weiterhin, dass Sigurd seine eigene Person als Gewährsmann nennt: þvíat hvatan mann / ec sé harliga vega / með slævo sverði sigr (Str. 30,4–6).100 In der Argumentation des Helden ist das ein Novum. Auch hier ließe sich, so der Autor, in seiner Formulierung eine Anspielung auf Reginns Verstecken im

98 Dabei ist diese Formel nicht auf Personen beschränkt – auch über das Gold Fáfnirs heißt es, dass es í lyngvi liggr (Fáfnismál Str. 21,3). EK 5 (S. 383) erkennt eben hierin ein Wortspiel des Dichters, gleichermaßen kann es als weiteres Beispiel für neutrale Verwendung gelten. 99 Haimerl 1993, S. 94. 100 Haimerl 1993, S. 94.



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Drachenkampf sehen:101 Da dieser nicht dabei war, hvars υreiðir scolo vega (Str. 30,3), kann er auch nicht kühne Männer mit stumpfen Schwertern hart den Sieg erkämpfen sehen – Sigurd schon, nämlich sich selbst (ungeachtet der anatomischen Schwierigkeiten, nimmt man die Aussage wörtlich). Haimerls These, dass der Jüngling bei dem beschriebenen Kampf seinen eigenen gegen den Drachen meine, ist gleichwohl in mehrerer Hinsicht problematisch: Einmal sieht der Autor die Verbindung in dem Ausdruck sigr vega, der aber, wie bereits angeführt, keinesfalls selten ist und daher kaum als sicherer Beweis gelten kann. Noch wichtiger, postuliert Haimerl, dass Sigurd gar nicht auf den eigentlichen physischen Kampf rekurriere, sondern auf das daran anschließende Wortgefecht.102 Das „stumpfe Schwert“ sei als „ohne Schwert“ zu lesen, der Sieg als „Redesieg“.103 Diese These des Selbstlobens ist interessant, basiert aber meines Erachtens auf zu vielen Umdeutungen, wo die wörtliche Lesart völlig ausreicht, und wirkt somit forciert. Setzt man nicht bereits diese Interpretation voraus, gibt es keinen Anlass, Sigurds Sentenz nicht ganz konkret zu verstehen: Ein Mann kann die schlechte Qualität seiner Waffe mit Kampfgeist, Mut und Kühnheit ausgleichen und damit den Sieg erringen (eine Aussage, die in einer kriegerischen Gesellschaft, in der Konflikte noch per individueller körperlicher Auseinandersetzung geregelt werden, mehr oder weniger eine Binsenweisheit sein dürfte und auch mehrfach anderweitig belegt ist104). Spätestens auf der Vaterrachefahrt, die in eine „große Schlacht“ (orrosto micla, Reginsmál Prosa vor Str. 26) mündete, wird zudem genügend Gelegenheit für den zukünftigen Drachentöter bestanden haben, „kühne Männer kämpfen“ zu sehen. Überdies hat Haimerls Gleichsetzung von „stumpfes Schwert“ mit „schwertlos“ zur Folge, dass die spielerischen Nuancen, in denen die Waffe mehrfach in den Streit eingebracht wird, außen vor bleiben: Ist die Klinge in Str. 28 noch ein in der Strophenmitte erwähntes Beiwerk, erscheint sie bei Reginn mit Nachdruck am Strophenende (Str. 29,6), nur um schließlich von Sigurd an derselben Position (Str. 30,6), aber in ihrer Bedeutung negiert, zum Allerwelts-„Schwert“ entpoetisiert, und mit ins Gegenteil verkehrter Qualität für nichtig erklärt zu werden. Dass auch die Schärfe der Klinge dabei durchaus von Wichtigkeit ist, zeigt sich in der Vorgeschichte, in der gleich zwei Schwertproben (die Wollflocke sowie das Spalten des Ambosses) das Zeugnis für ihre Qualität erbringen müssen.105 Auch darum ist der konkrete Gegensatz „scharfes

101 Haimerl 1993, S. 94. 102 Dies würde zumindest das logische Problem lösen, dass Sigurds Schwert im Drachenkampf ganz und gar nicht stumpf war, sondern vielmehr ein Musterbeispiel an Schärfe. 103 Haimerl 1993, S. 94. 104 EK 5, S. 463 f. 105 Man denke vielleicht auch an die Vǫlsunga saga, wo diese Tests noch mit dem Dreiermotiv (erst die dritte Waffe „taugt“) und dem Zusammenfügen einer alterprobten Heldenklinge kombiniert werden.

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Schwert – stumpfes Schwert“, der diese zentrale Qualität ausdrücklich demontiert, vielsagender als dessen Irrelevanz qua schlichtem Verschwinden.

3.2.11 Sprecherfragen In der folgenden Strophe findet sich nun eine gleich zweistufige Erweiterung der Perspektive. Als Erstes wird der Fokus (in Str. 31,1–3) fort von der Klinge hin zum Kampfspiel an sich gerichtet; die Waffe nicht mehr genannt. Im zweiten Teil (4–6) entfällt auch dieser Kontext; Aufgabe und Umfeld werden entgrenzt und selbst die kontrastierten Attribute sind nicht länger direkt kompetitiv-heroisch, sondern situationsentbunden: von der Dichotomie kühn/mutig – unkühn/feige (hvatr – óhvatr, Str. 31,1 f.)106 hin zu fröhlich – verzagt/unruhig/ängstlich/niedergeschlagen.107 Bei der Bestimmung der Figur, die jene Verse äußert, hilft in diesem Fall keine explizite Kennzeichnung. Im Manuskript selbst findet sich nur neben der vorausgehenden Str. 30 eine Sprechermarkierung für Sigurd („“), bei Str. 31 keine, und die nächste folgt erst in der Vogelszene.108 Die Markierungen sind dabei so weit am Rand angesiedelt, dass sie teilweise abgetrennt scheinen (etwa bei Reginns „R“ in Str. 29109), und bereits bei früheren Strophen ist der Sprecher(-wechsel) nicht durchgehend gekennzeichnet, woran aber auch der unregelmäßige Rand des Blattes einen Anteil haben kann. Allerdings weist die Seite gerade bei Str. 31 einen vergleichsweise breiten Saum auf (noch geringfügig breiter als bei Str. 30, wo das „“ nicht einmal ganz am äußersten Rand positioniert ist) und es sind dennoch keine Spuren einer Initiale ersichtlich, sodass wahrscheinlich wirkt, dass hier keine Markierung stattfand. Damit deutet viel darauf hin, dass Sigurd weiterhin spricht und damit Urheber auch von Str. 31 ist, und entsprechend wird sie gängigerweise auch ihm zugewiesen. So ordnen weder Neckel/Kuhn110 noch S/G111 sie Reginn zu und auch der Eddakom-

106 Zum Gebrauch von hvatr durch Sigurd und dem dort durchlaufenen Veränderungsprozess s. auch Haimerl, der die „Bedeutungsvertiefung“ (1993, S. 96) hin zum Attribut prototypischer fortitudo beschreibt (Haimerl 1993, S. 95 f.). 107 glúpna ist nicht sehr häufig belegt. Die Deutungen bewegen sich im Feld zwischen Angst und Hoffnungslosigkeit. Baetke (S. 202) gibt dafür an: „unruhig, ängstlich werden, den Mut, die Fassung verlieren“; C/V (S. 205): „the radical sense was prob. to become soft, but in usage to look downcast, let the countenance fall, as one about to cry“; Fritzner (1, S. 614): „overraskes af noget forfærdende, blive forstemt“. LF/T (S. 87) führen auf: „to lose heart or to be afraid“, EK 5 übersetzt glúpnandi mit „verzagt“ (S. 384) und das ONP bietet gar keine moderne Bedeutung. Überdies ist beim Partizip Präsens glúpnanda ein Prozess impliziert, was einen weiteren, wenn auch geringen, Unterschied zum statischen (ó-)hvǫtom – und auch zu glǫðom – darstellt. 108 GKS 2365 4to, 31r; Wimmer/Jónsson 1891, S. 61; EK 5, S. 354. 109 GKS 2365 4to, 31r; Wimmer/Jónsson 1891, S. 61. 110 Neckel/Kuhn, S. 186. 111 S/G 1, S. 327 f.



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mentar112 oder einzelne Studien wie beispielsweise die Quinns113 gehen nicht weiter auf die Sprecherfrage ein, was anhand der eventuellen Platzierung der Sprecherinitiale im Zusammenhang mit der Größe des Blattrandes begründet erscheint. S/G sieht die Strophe gar als unecht und reine Variation von Str. 30 an.114 In dieser Arbeit soll ebenfalls davon ausgegangen werden, dass Sigurd auch Str. 31 äußert. Eine gewisse Unsicherheit bleibt jedoch bestehen, da die Sprechermarkierungen in den Jung­ sigurdliedern nicht konsequent durchgehalten und teils beschädigt sind.115 Gunnell stellt fest, dass das Publikum an dieser Stelle eine Antwort Reginns erwarten würde (schließlich ging der Strophe längere Wechselrede voraus), setzt aber aufgrund der Parallelen zu Str. 30 dennoch eine Zusammengehörigkeit und daher Sigurd als Sprecher an.116 Doch auch er stellt zu den Sprechermarkierungen in den Marginalien fest: „the possibility cannot be ruled out that the scribe forgot to write Reginn’s name beside this strophe“.117 Und bereits Ussing schlug vor, diese Strophe Reginn zuzuordnen (was bei ihm allerdings mit einer Umstellung zusammenfiel);118 hier bestehen also durchaus einige Anknüpfungspunkte, die nun kurz ausgeführt werden sollen. Inhaltlich würde die Strophe durchaus zu beiden Charakteren passen: zu Sigurd, der damit sein eben genanntes Argument ausbaut und dadurch stärkt, sich außerdem als in Spruchweisheit bewandert ausweist. Aber auch zu Reginn, der mit dieser allgemeineren Gnome Sigurd einerseits zwar implizit den Sieg im Wortgefecht zugesteht, andererseits aber durch die sentenzenhafte Überleitung ins Alltägliche, unter Beibehaltung der Struktur, den Fokus von seiner eigenen Rolle im Kampf nimmt und damit eine gewisse Befriedung zustande bringt, ohne in der eigentlichen Angelegenheit weiteres Gesicht zu verlieren. Zu lesen wäre die generalisierende Aussage, dass der Kühne im Kampf erfolgreicher ist als der Unkühne, bei einem Sprecher Reginn als salomonische Beschwichtigung, in der Art von „natürlich ist Tapferkeit immer besser, ebenso wie Fröhlichkeit“, deren zweiter Teil so von der aggressiven Thematik und damit dem eigentlichen Streitpunkt fortschwenkt. Aus Reginns Perspektive eine durchaus beabsichtigte Wirkung, da in der heroischen Auseinandersetzung für den Schmied keine Aussicht auf Sieg oder auch nur Ebenbürtigkeit besteht. Inhaltlich würde die Strophe unter diesen Bedingungen mit ihrer gnomischen Form eine deutliche Erweiterung von Reginns Repertoire darstellen, denn Spruchweisheit war darin bisher kein maßgeblicher Bestandteil; seine Äußerung unterliegt

112 EK 5, S. 465. 113 Quinn 1992, S. 125. 114 S/G 1, S. 327 und 3/2, S. 196. 115 EK 5, S. 354. 116 Gunnell 1995, S. 263. Wobei ebendiese Parallelen S/G zu ihrer Annahme einer späteren Nachbildung führten. 117 Gunnell 1995, S. 264. 118 Ussing 1910, S. 75 ff.

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allerdings weiterhin einem individuellen Ziel (Objektivierung, Beschwichtigung). Spricht Sigurd die Strophe, ist sie weniger signifikant, denn dieser ist bereits im Fáfnirsgespräch mit gnomischen Äußerungen aufgefallen (etwa in Str. 6) und auch die vorausgehende Strophe, die ebenfalls deutlich sentenzenhaften Einschlag aufweist, stammt – diesmal durch die Initiale gesichert – von dem Völsungenspross. Im letzteren, gängigen Fall hat sich Reginns Rolle als Sprecher und Handelnder bereits mit dem Ende von Str. 29 erschöpft. Dass der Schmied danach gar nicht mehr aktiv, und passiv einzig als Opfer von Sigurds Schwert, auftritt, mutet angesichts seines bisherigen Stellenwerts etwas verwunderlich an, wäre im Rahmen einer dramatischen Darstellung der Fáfnismál aber durchaus schlüssig: Unter anderem Gunnell betonte, wie bereits vermerkt, dass zentrale Aspekte in diesem Gedicht nicht lyrisch-szenisch verbalisiert, sondern nur im Prosatext beschrieben werden,119 was eine dramatische Darstellung nahelege.120 In diesem Fall wären jene Aspekte somit der Abgang Reginns nach dem Wortgefecht (welchen er überdies bereits in Str. 27,2 angekündigt hatte) sowie sein Tod durch Sigurds Hand, der ansonsten, gerade angesichts des zentralen Streits zuvor, nur erstaunlich knapp erwähnt wird.121

119 Gunnell 1995, S. 266 f. 120 Gunnell 1995, S. 268. 121 Wobei sich dann vielleicht die Frage stellt, wieso es überhaupt einer Verbalisierung bedarf, wenn die szenische Aufführung doch obligatorisch ist. Hier ist denkbar, dass diese Abschnitte vor allem dem Tradierungsprozess geschuldet sind, indem zentrale, handlungstragende dramatische Szenen spätestens bei der Verschriftlichung, bei welcher das synchrone Element, das in diesem Fall als einziger Träger fungiert haben musste, komplett entfallen wäre, ersatzweise kurz ausformuliert wurden, um den Sinngehalt und damit die interne Text- bzw. Ploteinheit zu gewährleisten. Aus dieser Perspektive heraus wäre etwa die viel deutlichere Konstruktion von Kausalverbindungen in der Vǫlsunga saga ein weiterer Schritt auf einem solchen Weg vom (teil-)improvisierten Synchron-Szenisch-Dramatischen ins fixe Ansynchron-(Dramatisch-)Narrative. Eventuell gründen die Prosaeinschübe auch in der Absicht einer allgemeinen Gliederung, was sich durchaus mit dem Mündlichkeitsgedanken vereinen lässt (man denke an das „Handlungsskelett“ oraler Lyrik, welches vom Dichtersänger bei jeder Performanz mit Szenen, Motiven und Formeln seines poetischen Inventars ausgestaltet wird, wie die oral-poetry-Forschung, beginnend mit Parry/ Lord (Lord 1960), erbrachte), aber auch mit einer schriftlichen Überarbeitung, vielleicht sogar mit Vorlesen im Blick. Eine ähnliche Perspektive nimmt Ruggerini bezüglich der Prosaeinleitungen für einige eddische Götterlieder ein: […] it seems to me more logical to see them as a sign of the transition from the oral composition and recital of the poems to their fixing in written form. The editor seems to have tried to place within a frame those poems which lacked a clear narrative, scenic or temporal setting […]. His interventions therefore seem aimed at giving the minimum co-ordinates of time, space or mythological background necessary to place the setting in poems where the opening lines present the action as already in progress and where the reader or audience might otherwise have difficulty in finding their bearings quickly enough. (Ruggerini 1994, S. 148)



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3.2.12 Die Vogelstrophen Mit dem Ende von Str. 31 ist diese Episode abgeschlossen, es folgt die Prosaüberleitung, in der Sigurd die Vogelsprache zu verstehen lernt, sowie die Vogelstrophen, die ihn zu seinen weiteren Handlungen motivieren. Die Situation wirkt nach Abschluss des Wortgefechts etwas weniger aufgeladen,122 das Braten des Herzens – im Gehorsam gegenüber den Forderungen des Schmieds auch eine Rückkehr zu den alten Rollen – stellt dabei nicht zuletzt ein retardierendes Moment dar; eine kurze Zeit, in der die alte Ordnung wiederhergestellt scheint, ehe sie unter dem Rat der Vögel vollends zerbricht. Thematische Hauptbestandteile der Vogelstrophen – und emphatisch variiert – sind der (alleinige) Besitz des Goldes Fáfnirs sowie der zu erwartende Schaden, sollte Reginn weiterleben, und daraus resultierend schließlich  – beinahe schon unvermeidlich – der Tötungsrat. Dabei ist Klugheit das zentrale Argument und wird in vier der sieben Strophen thematisiert: spacr (Str. 32,5), horscr (Str. 35,1), erat svá horscr (Str. 36,1), und letztlich mioc er ósviðr (Str. 37,1). Ansonsten ist diese Diskussion unter einer unbekannten Anzahl123 an Vögeln beinahe schon konservativ gestaltet: Der einführenden Situationsbeschreibung124 Sigurds und dem ersten Rat, das Herz zu essen in Str. 32,7 f. folgt die gegenübergestellte Situationsbeschreibung Reginns, mit Offenbarung seiner Gedanken (Str. 33,3 ff.) und der daraus erwachsenden Bedrohung. Diese wird in unterschiedlicher Form dreimal in ebenjener Strophe angeführt: Direkt auf Akt und (zuhörendes) Objekt gerichtet: tæla mǫg (Str. 33,3), allgemein handlungsbeschreibend: berr […] rǫng orð saman (Str. 33,5 f.) sowie motivationsbezogen vill bǫlva smiðr bróður hefna (Str. 33,7 f.). Gerade in dieser letzten Beschreibung ist auch der Rückbezug auf das Streitgespräch offenbar und damit für Sigurd ein Hinweis, dass der Abgang Reginns kein Ende des Konflikts bedeutet, sondern vielmehr einen Anstieg der Gefahr, deren Dringlichkeit in der dreifachen Variation zum Ausdruck

122 Wobei dies auch davon abhängt, wem man die letzte Strophe zuspricht: Ist es Sigurd, handelt es sich eher um einen Waffenstillstand durch Schweigen, ist es Reginn, um eine gewisse Schlichtung. 123 Zwar finden sich im Manuskript einige Markierungen mit römischen Ziffern (GKS 2365 4to, 31r; Wimmer/Jónsson 1891, S. 61), dies aber nicht bei jeder einzelnen Äußerung, sodass unklar bleibt, ob einige Vögel mehrfach das Wort ergreifen oder jede Strophe einem eigenen Vogel zugewiesen ist. Laut Gunnell wären es von den Sprecherkennzeichnungen her „up to seven birds“; gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass dies nicht mit der Tradition der Bilddarstellungen übereinstimmt, „which seem to show only two birds talking to Sigurðr“ (Gunnell 1995, S. 260). S. auch EK 5, S. 354 sowie S. 469 f. 124 Quinn attestiert Konstrukten wie „‚Þar sitr X‘ or ‚Þar liggr Y‘“ eine große Nähe zum typischen Eingang einer Prophezeiung (Quinn 1992, S. 126), merkt aber auch an, dass sich die weitere Strophe dadurch unterscheidet, dass der Vogel in den Fáfnismál eine eigene Einschätzung anfügt. Überdies ist die Situation auch im Ganzen eine andere: Im Gegensatz zu den Prophezeiungen handelt es sich hier nicht um ein „Gesicht“, also einen Blick ins zeitlich, gegebenenfalls auch weltlich Übernatürliche, sondern um die Beschreibung der ganz konkreten optischen Wahrnehmung der sich in Sichtweite befindenden Vögel.

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kommt. Die beiden Strophen haben somit mehr oder weniger die Funktion einer Exposition; konkrete interpersonelle Handlungsanweisungen werden nicht gegeben, nur die indirekte Empfehlung des Herzverzehrs. In Str. 34 erscheint das erste Mal der Rat, Reginn, inn hára þul (Str. 34,2), zu töten, wobei die Aussicht, dass Sigurd dann als einziger über das gesamte Gold gebiete, noch als zusätzliche Motivation angeführt wird (wohlgemerkt, als zusätzliche, denn der drohende Verrat Reginns wurde ja bereits zuvor, und betont, geäußert). Nicht sehr nachvollziehbar ist hier Krageruds Lesart, der die Umschreibungen für Fáfnir und Reginn als Klischees bezeichnet, die auf den Feinden der Götter basierten: „Epitetene er klisjeer, men klisjeer som er preget til karakteristikk av guddommens fiender. Demoniseringen har sitt motstykke i apoteosering av helten“.125 Der „alte Thul“ ließe sich vielleicht als Klischee – oder eher Formel – bezeichnen, da, wie bereits erwähnt, mehrere Belege mit der Kombination hárr/gamall + þulr existieren. Das einzige Mal, dass diese Konstellation eventuell einen „Götterfeind“ referenziert, wäre indes die von Kragerud126 angegebene Vafþrúðnismál-Stelle (in der der Riese zudem gamall (þulr) geheißen wird, nicht hárr wie in den Fáfnismál) und auch dies ist durchaus fraglich: Schließlich ist gerade der Riese Vafþrúðnir, im Gegensatz zu anderen Riesen oder gar Weltfeinden wie dem Fenriswolf, nicht per se als Widersacher der Asen gezeichnet, sondern vor allen Dingen als Instanz großer Weisheit; die konkrete Feindschaft erwächst dort vielmehr situativ aus Odins aggressiver Herausforderung und dann aus dem Kontext des Wettstreits. Reginn selbst kann noch weniger als Götterfeind angesehen werden: Anfangs ist er von den Göttern Geschädigter (Otrs Tod), dann von seinem Bruder um Vater und Erbteil Gebrachter und bei der zweiten direkten Begegnung mit den Göttern in Form von Hnikarr/Odin auf der Vaterrachefahrt neutraler Herold. Eine – direkte oder indirekte – Konfrontation findet also nicht statt; Reginn ist einzig Sigurds Feind – und auch das offenbar (vgl. das anfänglich beschreibende elscaði) nicht durchgängig, sondern erst kurz vor seinem Ableben. Zuletzt hat die Hávamál-Parallele einen im Rahmen des gnomischen Duktus in der Endaussage positiven Charakter, mahnt sie doch, három þul nicht zu verlachen. (Auf die mit der Strophe verbundenen Fragen und Probleme, die in einem der folgenden Kapitel Thema sind, wird noch näher einzugehen sein.) Müllenhoffs und Gerings bereits erwähnter Ansatz, bei der Bezeichnung in den Fáfnismál eine pejorative Bedeutung anzusetzen („alter schwätzer“127) wirkt hingegen nicht unplausibel. Sie wäre dann vor allem dahingehend zu lesen, dass sowohl die Figur des Schmieds wie auch dessen Äußerungen von den Vögeln gezielt negativ

125 Kragerud 1981, S. 26. 126 Kragerud 1981, S. 26. 127 Müllenhoff 1908, S. 289; Gering (S/G 2, S. 1229), mit Widerspruch durch den Kommentar (S/G 3/1, S. 139).



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gefärbt werden und sich somit im moralischen Einklang mit dem vorangehenden Verratskontext und dem direkt folgenden Tötungsrat befinden. Demgegenüber steht indes die Tatsache, dass die Parallelstrophe 38 mit der Variation des Terminus (Str. 38,2) nicht die exklusiv negative Riesenbezeichnung þurs bemüht, sondern das neutralere iotunn.128 Da der Strophenkontext durchaus vergleichbar ist (Verrat in Str. 37, Tötungsrat direkt vor der Bezeichnung, Str. 381 f.) ist eine eindeutig pejorative Zeichnung wohl zumindest nicht zwingend gegeben. Nichtsdestotrotz findet sich im hiesigen Beleg noch am ehesten Grund für einen herabsetzenden Gebrauch – bei dem einmal mehr das Sprechen den Mittelpunkt bildet. De Vries betont bei dieser Passage vor allem den Wechsel von den vorigen forn­ yrðislag-Strophen der Meisen hin zum ljóðaháttr, was möglicherweise darauf hindeute, dass dies nicht die Originalposition der Strophe gewesen sei.129 Auch er stellt hier die Frage nach dem þulr-Begriff und weiß sie nicht recht zu beantworten, außer anzumerken: „Unægteligt vilde det bedre passe i et Kvad, hvor en eller anden þulr havde indladt sig paa en Samtale med f. E. Odin, hvoraf den tragiske Følge var, at han besejredes og derfor mistede Livet“.130 Es ist sicherlich verlockend, den þulr nur in diesem Bereich eines solchen Wissenswettstreits zu verorten; die Belege jenseits der Vafþrúðnismál zeigen aber, dass dies nicht der einzige Kontext gewesen sein kann. Auch der Riese, den de Vries dabei vorsichtig mit dem þulr in Verbindung bringt, tritt in dieser Form einzig in diesem eddischen Wissensgedicht auf. (Der fimbulþulr der Hávamál dürfte, schon angesichts seiner Involvierung in die göttliche Runenschöpfung, kein Riese, insbesondere noch in der Funktion eines Götterantagonisten sein, und auch Starkaðr hat, wie der Göttervater, zwar riesische Vorfahren – und entsprechende Größe –, wird aber zu den Menschen gezählt, wie Odin zu den Asen.) Eine einleuchtendere Deutung bietet hier, auch hinsichtlich des Wiederauftretens dieses Versmaßes in Str. 38, Quinn, indem sie eine Verbindung zu bestimmten Diskurstypen postuliert: Das fornyrðislag liest sie als Marker für den unpersönlichen Modus, der nicht selten mit einem Verb der Wahrnehmung kombiniert ist und in eine allgemeine Meinungsäußerung mündet, während der ljóðaháttr, neben der Gnomik (in Str. 37), den imperativen Modus kennzeichne, in dem der Jüngling recht deutlich, aber in Str. 34 immer noch in der dritten Person, also ohne direkte Ansprache, angewiesen wird, das Nötige zu tun.131 Gerade angesichts der klaren Verbindung zwischen Str. 34 und 38, in der Sigurd schließlich in der zweiten Person angesprochen wird (Str. 38,4), wirkt eine solche Lesart plausibler als de Vries’ These, zumal die Strophenfolge in der überlieferten Form nicht nur einen eindeutigen Sinn ergibt, sondern auch perfekt durchkomponiert

128 Simek 1995, S. 338. 129 de Vries 1934, S. 18. 130 de Vries 1934, S. 18. 131 Quinn 1992, S. 126 f.

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erscheint: Mit Str. 34 wird bis zur Parallelstrophe 38 eine Art Ringstruktur aufgebaut, in der Enthauptungsrat und Goldbesitz die Strophen 35–37 umfassen, welche sich, wie gleich noch zu sehen sein wird, durch Bedrohungsargument und Klugheitsmotiv auszeichnen. Das Motiv wirkt hierbei durch gleiche Versposition (immer in der ersten Halbzeile) sowie Variation verbindend: Auf positiv (horscr, Str. 35,1), folgt wörtlich wiederholt aber negiert (erat svá horscr, Str. 36,1) und schließlich eine Variation des negierten Ausdrucks (ósviðr, Str. 37,1). In Str. 35 unterstützt ein anderer Vogel den Tötungsrat durch die abstrahierende Wiederaufnahme der vorigen Empfehlung (Horscr þœtti mér, / ef hafa kynni / ástráð mikit  / yðvar systra, Str. 35,1–4), konkretisiert dann wieder mittels Metapher und bekräftigt dies mit einer Gnome132 (Str. 35,7 f.). Damit bewegt sich die Diskussion, in der der eigentliche Adressat der Ratschläge nur ein einziges Mal, nämlich in der letzten Strophe, angesprochen werden wird, noch weiter ins Indirekte. Und das bleibt in gewissem Sinne auch so, denn in Str. 36 wird dann ebenso an Sigurd vorbei, aber nun auch noch ex negativo argumentiert, was überdies wieder an mannjafnaðr-Spielzüge und Festmahl-beot erinnert: das Herausfordern des Kontrahenten durch Bezweifeln seiner Fähigkeiten, was vor allem in der Hochstimmung der Gelagesituation, um Schückings schöne Formulierung zu benutzen, im heldischen „inneren Sichaufrecken“133 mündet  – hier also darin, das eben Infragegestellte zu beweisen. Dabei operiert der Vogel in den Fáfnismál allerdings nicht mit direktem, explizitem Anzweifeln, sondern, wie Reginn und Sigurd im Wortgefecht zuvor, mit Alternativszenarien. Das angeführte Verwandtschaftsverhältnis impliziert, ebenso wie bei Reginns Anschuldigungen gegenüber Sigurd, zugleich die Rachepflicht. Dennoch ist die Bedrohung bisher noch individuell; das ändert sich in Str. 37, wo Reginn fiánda inn fólcscá (Str. 37,3) genannt wird; das Adjektiv ein hapax legomenon zwar, aber, wie auch immer es genau zu übersetzen ist,134 über die Gesamtbezeich-

132 þar er mér úlfs vón, / er ec eyro séc („dort erwarte ich einen/den Wolf, wo ich (dessen) Ohr sehe“), also der Stellenwert kleiner Anzeichen zur Vorbereitung auf große Gefahr. Hier bezieht sich dies auf Reginns Verratsüberlegungen – wobei das „Wolfsohr“ für Sigurd auf eine Mischung aus dem vorangegangenen Streit, insbesondere dem Verwandtschaftsargument Reginns, und natürlich die Vogelstrophen selbst verweist, die dies noch einmal ausdrücklich erwähnen. Quinn bezeichnet diese Phrase als „aphorism“ (Quinn 1992, S. 127); der Eddakommentar führt weitere Belege im Altnordischen aber auch Lateinischen und Spanischen auf: EK 5, S. 473. 133 Schücking 1934, S. 6. 134 Fritzner (1, S. 452): „menneskeødelæggende“, Baetke führt es gar nicht auf, C/V (S. 167) nur in einer Liste mit anderen Komposita: „a valiant man is called […] fólk-bráðr, […] -skár“, LF/T (S. 64): „warrior-crushing, i. e. -annihilating (?  – Fm. 37)“, LP (S. 146): „krigersk, egl. ‚som farer frem med krigshær‘ (= herskár), fjandi enn f-i, om Fáfnir, Fáfn 37“, EK 5 (S. 474): „wörtlich: ‚die Kriegerschar zertretend, fólk ‚Kriegerschar‘“. Auch weil Jónssons und C/Vs abweichende Deutung fragen lässt, wieso der Schmied, welcher sich eben noch eines ganz offensichtlichen Mangels an Kampfesmut schuldig gemacht hat, nun als



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nung negativ konnotiert und durch fólc- auf ein Kollektiv bezogen. Die der erneuten Situationsbeschreibung folgenden Äußerungen sind angesichts des Kontexts eindringliche Warnungen an Sigurd. Vor allem die letzte: kannat hann við slíco at siá (Str. 37,6), negiert alle Möglichkeiten der Verteidigung, sodass die fast wörtliche Wiederaufnahme des Enthauptungsrats in der letzten Vogelstrophe der Tötung etwas unausweichlich Zwingendes verleiht.135 Das Bedrohungsmotiv in Str. 35–37 wird über die drei Strophen hinweg somit auch immer stärker präzisiert und gesteigert: vom sprichwörtlichen Wolf, dessen Gefährlichkeit noch größtenteils versteckt ist, zum Gegnerbruder mit der Gefahr der Rachetat bis letztlich zur namentlichen Erwähnung als fólcscár. Dass die Vögel Reginn in dieser letzten Strophe überdies nicht mehr als hára þul, sondern hrímkalda iotun bezeichnen (Str. 38,2), als „reifkalten Riesen“ also, scheint mir zudem auf eine weitere Distanzierung des Gegners Reginn von der Person Reginn hinzudeuten. Metrisch wäre beispielsweise auch ein erneutes inn hára þul statt des verwendeten þann inn hrímkalda iotun möglich. Da auch in dieser Langzeile die Alliteration auf h liegt, ist die Nutzung des Begriffs iotunn überdies an keinerlei phonetischen Zwang gekoppelt und erscheint somit als gezielte Wahl. Konkret aufgefasst dürfte eigentlich kaum ein Terminus unpassender für die Beschreibung des dvergr of vǫxt Reginn sein als „Riese“. Auch Reginns bisherige Rollen sind deutlich näher am þulr, im Sinne einer, wie auch immer, speziell konnotierten Sprecher- oder Wissendenfigur, als an einer solchen Gestalt  – wobei Riesen gleichermaßen mit Weisheit assoziiert sein können, wie beispielsweise aus den Vafþrúðnismál ersichtlich ist. Quinn sieht sogar beide Bezeichnungen, þulr und iotunn, als thematisch-inhaltlich bedingt: „identifying him too with the category of beings who constitute the ‚other‘ for gods and men, the possessors of knowledge that is coveted by them“.136 Neben dieser interessanten Darstellung137 wäre auch noch der

kriegerisch oder gar kühn, tapfer bzw. reckenhaft („valiant“) bezeichnet werden sollte (eine ironische Titulierung wirkt in Anbetracht der unironischen sonstigen Vogelstrophen recht unwahrscheinlich), scheint diese Übersetzung weniger begründet. Aber selbst bei einer solchen Lesart behält die Beschreibung Reginns in dieser Strophe durch das attribuierte Nomen fiánda negative Bedeutung. 135 Ebenfalls nachvollziehbar ist Quinns Interpretation, die hier „a mild rebuke of Sigurðr’s intellectual ability to use the ráð that they provide“ sieht (Quinn 1992, S. 127), was die Dringlichkeit der von Reginn ausgehenden Gefahr für – den noch abwartenden – Sigurd auch noch einmal unterstreichen würde. 136 Quinn 1992, S. 121. 137 Allerdings ließe sich vielleicht fragen, inwieweit der þulr gerade für Götter ein derartiges Anderes darzustellen vermag, nachdem höchstwahrscheinlich Odin selbst der fimbulþulr ist und auch Starkaðr zu den Göttern nicht unbedingt in einem solchen autoritativen Wissensverhältnis steht. Eigentlich ließe dies sich damit nur vom þulr Vafþrúðnir behaupten. Im Bereich rein zwischenmenschlicher Aktion wirkt eine solche Trennung durch Spezialisierung und dadurch entstehendes Machtgefälle deshalb begründeter. Darüber hinaus weist Quinn darauf hin, dass inn aldni iotunn in der Edda, also die Bezeichnung Fáfnirs in Str. 29, „the typical source in eddic poems of otherworldly knowledge“ sei

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unmittelbare Kontext zu betrachten – immerhin ist es das erste Mal, dass Reginn mit diesen beiden Begriffen bezeichnet wird: Gerade iotunn steht in den Vogelstrophen in einem Umfeld, in dem sämtliche Bande zwischen Reginn und Sigurd (wenn nicht gar dem menschlichem Umfeld überhaupt) verbal zerrissen werden. Es findet dabei eine Mythisierung statt und im gleichen Zuge die Entrückung Reginns aus dem Reich der Menschen in das Reich der übernatürlichen Wesen: das Reich seines Bruders Fáfnir – dieser zwar, da ohne humanoide Form und aus einer menschlichen Sippe, wohl kein Riese im traditionellen Sinne,138 aber ein (riesiger) Drache, überdies bereits als iotunn bezeichnet (durch Reginn139) und angesichts seines Aggressions- und Gefahrenpotenzials wie deren Auswirkungen auf die Menschen der Umgebung ebenfalls fólcscár zu nennen. Für diese Perspektive einer Reginn aus dem menschlichen Kontext entfernenden Angleichung an Fáfnir spricht auch die dritte Halbzeile: oc af baugom búa (Str. 38,3). Die Trennung von Ringen, also Reichtum und Attributen heroischer Macht, deutet auf die kurz zuvor erfolgte Trennung von Drache und dessen Hort durch Sigurds Sieg – wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit den Ringen hier auch konkret Fáfnirs Schatz gemeint ist und nicht etwa ein symbolischer Schatz des symbolischen Riesen (bzw. des ins Riesenreich positionierten Reginn). Auch dann ist durch das Trennungsmotiv die Nähe zum Drachen und dessen Tod gegeben, denn beide Brüder büßen durch Sigurds Ein- bzw. Angreifen auch ganz konkret ihren Anteil am verfluchten Gold ein. Mit solch einer Umdeutung der Person ins Übermenschlich-Mythische verlieren zugleich alle zwischenmenschlichen Bande und Verpflichtungen, wie die des Ziehsohns gegenüber dem Ziehvater oder des Schülers gegenüber dem Lehrer, jegliche Bedeutung: Das Gegenüber ist nicht mehr die vertraute Person Reginn, sondern der größte Gefahr darstellende Antagonist, dessen Vernichtung auch materiellen und sozialen Gewinn verheißt. Strukturell haben sich die Vogelstrophen somit immer weiter von den vorhergehenden Ereignissen entfernt – war Reginn kurz nach dem Wortwettstreit noch ein þulr, so ist er jetzt stummer (und Verrat planender) Statist, entmenschlichte Figur, Bedrohung. Schließlich fällt noch auf, dass erst in der letzten Vogelstrophe – und dort auch erst im zweiten Teil, der Herrschaft über den Schatz (Str. 38,4) – Sigurd direkt angesprochen wird: þá mundu fíár […].140 Dies ist in der gesamten Weissagung das einzige

(Quinn 1992, S. 119 f.). Bei Reginns Riesenbezeichnung spielt interessanterweise das Alter keine Rolle, die Reifkälte lässt vielmehr Assoziationen einer grundlegenden Andersartigkeit zu, wohingegen die riesische Altersreferenz eine gewisse Überzeitlichkeit konnotieren könnte. 138 Wobei die Relevanz einer solchen Differenzierung nicht sicher ist, da z. B. auch Hræsvelgr in der Gylfaginning als iǫtunn […]. Hann hefir arnarham, also Riese mit/in Adlergestalt, bezeichnet wird (Gylfaginning Kap. 18, Lorenz 1984, S. 279 (dort mit einem Verweis auf Vafþrúðnismál Str. 37, wo dieses ebenso der Fall ist)). 139 Fáfnismál Str. 29. 140 Fettdruck von mir [KRMT].



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Mal. Auch Str. 34, die in Str. 38 teils wörtlich wieder aufgegriffen wird, bediente sich noch ausschließlich der dritten Person: ǫllo gulli / þá kná hann einn ráða (Str. 34,4 f.). Das hat zur Folge, dass die letzte Strophe nicht nur als abschließende Zusammenfassung der Vogelweissagung wirkt, sondern jene außerdem von der allgemeinen Beschreibung und Weissagung über die indirekte Handlungsanweisung in die direktkonkrete Prophezeiung und damit Aufforderung überführt: ein zielgerichteter, eindrücklicher Abschluss. Erst auf diese reagiert dann auch Sigurd141 und nimmt in seiner Antwortstrophe, die dem Totschlag an seinem zum Feinde gewordenen Ziehvater vorausgeht, gleich auf mehrere in der Weissagung etablierte Motive Bezug, was ihr den Charakter einer Zusammenfassung verleiht: Die tödliche Bedrohung durch Reginns Verrat (Str. 33,3 und 6 f.), welcher nicht ausgewichen werden kann (Str. 37,6), die Brüder, die gemeinsam sterben sollen (Str. 36,5–8) sowie die Helfahrt (Str. 34,3), Letztere gar als wörtliche Übernahme. Bemerkenswert ist dabei zudem, dass der Schatz, der in der Vogelweissagung eine wichtige Rolle spielte, hier überhaupt nicht zur Sprache kommt. Auch dem weiteren Rat der Vögel beugt sich Sigurd nach vollbrachter Tat, isst Fáfnirs Herz und, wie Reginn zuvor, trinkt das Blut seines Feindes; er jedoch das beider Widersacher. Analog zur vorherigen Interpretation kann man auch hier, alle weiteren Untertöne beiseite gelassen, eine Doppelperformanz des endgültigen Sieges erkennen, die absolute Gewalt über die zwei toten Körper, die gleichzeitig auch eine Negation jeglicher früheren sozialen Bande signalisiert.

3.3 (Kon-)Texte des Thuls in Regins- und Fáfnismál 3.3.1 Text(re-)produktion 3.3.1.1 Originalität Die vier Strophen, die Reginn in den Fáfnismál spricht, sind Eigenschöpfungen der Figur sowie situations-, ereignis- und personenbezogen: Verkündung des Siegs, Nennung der verwandtschaftlichen Bande des Toten, Anweisung an Sigurd, das Herz

141 Diese Strophe ist im Manuskript ohne Sprechermarkierung am Rand, aber am Pronomen mitt (Str. 39,3) ersichtlich Sigurd zugeordnet. Diese rein intratextuell-implizite Form der Sprechermarkierung fällt unter die von Gunnell als „context markers“ bezeichnete Praxis (1995, S. 237. Gunnell bezieht sich dabei auf Lowes linguistische Untersuchung von Sprechermarkierungen anhand des Auðunar þáttr vestfirzka, welche context marking wie folgt definiert: „the statements of the characters are unmarked, but the context indicates to the reader immediately who they are“, Lowe 1972, S. 343). Interessant ist weiterhin die Formulierung banorð bera, welche – wenn sie auch auf juristisch motivierte Praktiken zurückgeht (öffentliche Erklärung eines Totschlags (EK 5, S. 477 f.)), einmal mehr den Schmied mit dem semantischen Feld des Sprechens in Verbindung bringt; nimmt man den juristischen Ursprung hinzu, sogar dem formalisierten, performativen Sprechen.

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zu braten, Betonung der Wichtigkeit des von ihm (Reginn) geschmiedeten Schwerts. Es finden sich in diesem Text weder gnomische Passagen142 noch solche mit überliefertem oder zu überlieferndem Wissen, wodurch bei jeder Äußerung Originalität gegeben ist. Weniger eindeutig gestaltet es sich in den Äußerungen der Reginsmál. Auf der Vaterrachefahrt tritt Reginn in der Rolle eines Herolds für Sigurd auf. Seine Strophen (Str. 17, Str. 26) sind hier ebenfalls situations-, personen- und ereignisbezogen und vermitteln kein allgemeines, traditionelles Wissen. Nimmt man die Prosastellen hinzu, werden von Reginn auch bereits existentes Wissen bzw. allgemeinere Informationen wiedergegeben – in welcher Form genau, ist meist, gerade bei der indirekten Rede, nicht zu erkennen. Vor allem die erstmalige Hortgewinnung in ihrer Mischung aus Prosa und Vers bildet, nach anfänglicher Koppelung an den Erzählrahmen (Otr hét bróðir várr), eine eigene, in sich geschlossene Handlung,143 und auch die Informationen über Fáfnir (Prosa nach Str. 14) sind allgemeinerer, nicht direkt situationsbezogener Art: […] sagði hann Sigurði, at Fáfnir lá á Gnitaheiði oc var í orms líki; han átti ægishiálm, er ǫll qviqvindi hrœdduz við. Insbesondere bei der direkten Rede ist also Originalität gegeben, während bei der Fáfnirsbeschreibung bekannte Inhalte transportiert werden. Ob dies nun in eigenschöpferischer Manier geschieht oder nicht, lässt sich aufgrund der Form nicht ersehen, liegt aber nahe, da es sich auch um die persönliche Vorgeschichte des Charakters handelt. Allerdings liegt der Schwerpunkt ohnehin nicht auf einer wie auch immer gearteten „künstlerisch-kreativen“ Leistung, sondern auf der Transmission, deren Zweck die Interessenerweckung und dadurch Kampfesertüchtigung Sigurds ist. 3.3.1.2 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum) Innerhalb der einzelnen Äußerungen des Schmieds fallen besonders folgende ins Auge, da es sich um in gewissem Maße formalisierte Situationen handelt: Reginn als Sprecher Sigurds auf Vaterrachefahrt sowie Reginn als Kontrahent im mannjafnaðr nach dem Drachenkampf. Die restlichen Äußerungen des Ziehvaters sind eher (Erzählung über den Hortgewinn) bis eindeutig (Aufforderung, Fáfnirs Herz zu braten) frei und auch Situation und Textart lassen keine formalisierten Bestandteile erkennen. Überdies stellt das Gespräch mit Hnikarr in Reginsmál Str. 16 f. die einzige Szene dar, in der ein anderer Ansprechpartner als Sigurd explizit präsent ist, welcher gleichzeitig auch als Publikum fungiert. Bei der Vaterrache ist zwar ebenfalls von weiteren Anwesenden auszugehen (da Sigurd nicht allein auf die Fahrt ging und die folgende Schlacht als orrosto micla bezeichnet wird (Prosa nach Reginsmál Str. 25)); direkt

142 Ausgehend davon, dass Str. 31 nicht von Reginn gesprochen wird. 143 Wie bereits erwähnt, ist nicht völlig klar, ob insbesondere die Strophen noch Reginn zugeschrieben werden müssen oder es sich hier um einen kompletten Szenen- und Personalwechsel handelt. Kontextuell betrachtet ist allerdings ziemlich eindeutig, dass Reginn der Erzähler ist.



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erwähnt wird dies aber nicht. Ein kammerspielhaftes Element bleibt daher in den Szenen meistens gewahrt. Noch viel deutlicher als etwa in den Vafþrúðnismál mit ihren ausführlichen Darstellungen allgemein-traditionellen Wissens ist der Austausch hier also von rein textinhärent-unmittelbarer Relevanz und keine darüber hinausgehende Sprecherorientierung erkennbar. Das Publikum besteht auch infolgedessen einzig aus dem direkten Adressaten im Text sowie eventuell in Hörweite stehenden, komplett passiven Figuren (beispielsweise Sigurds Mannen bei der Vaterrache). Etwaige „künstlerische“ Ansprüche werden dabei weder in Reginsmál noch Fáfnismál vom Sprecher formuliert, wenn auch gerade Reginns Äußerungen in der Begegnung mit Hnikarr poetische Ausschmückung zeigen – stilistische Feinheiten in Kenningsprache, Variation und Strukturierung –, die auf bewusste Formung schließen lassen. Darüber hinaus ist das Metrum in beiden Texten nicht durchgehend einheitlich, sondern changiert zwischen ljóðaháttr und fornyrðislag; am deutlichsten wohl im Vergleich des Dialogs von Hnikarr mit Reginn mit dem folgenden Zwiegespräch zwischen Hnikarr und Sigurd.144 Im Überblick ist allerdings nicht zu erkennen, dass Versmaßwechsel spezifisch mit Reginn in Verbindung stehen.145 Entsprechend der eher niedrigen Priorität ästhetischer Charakteristika findet auch keine darauf bezogene Bewertung statt; in der Tat bleibt dieser gesamte Komplex

144 Der Dialog Reginn  – Hnikarr, Str. 16–18, steht im fornyrðislag, die folgende Unterhaltung zwischen Sigurd und Hnikarr hingegen größtenteils (außer Str. 23) im ljóðaháttr. Quinns Erklärung dieses Wechsels mit einem sich ändernden Szenario und Zweck des jeweiligen Austauschs (Quinn 1992, S. 109 ff.) weist bereits auf die zu differenzierenden Sprecherrollen und Themenfelder hin; Übergänge, die sich auch auf die Frage der jeweiligen Autorität auswirken. Ihr Fazit, dass nämlich die metrischen Wechsel der Fáfnismál (und anderer eddischer Texte) nicht etwa aus Willkür oder gar Kontamination oder Korruption resultieren, ebenso wenig einzig Resultat von fest mit bestimmten poetischen Stilen verbundenen Textarten sind, sondern in Verbindung mit viel feineren Modifikationen auf Detailebene innerhalb eingrenzbarer Diskurseinheiten stehen und damit auch als semantische Marker fungieren (Quinn 1992, S. 127 f.), ist nicht nur überzeugend, sondern zeigt zusätzlich, wie fruchtbar die detaillierte Untersuchung von Aspekten wie situativ determinierten Rollen, thematischen Schwankungen, reziproken Autoritätsverhältnissen und anderen Interaktionsparametern gerade auch unter strukturellen Gesichtspunkten sein kann. Zu anderen Interpretationen des Metrumwechsels sowie der gesamten Problematik der Texteinheit und -segmentierung s. weiterhin EK 5, S. 226 ff. 145 In der retrospektiven Horterzählung, die größtenteils im ljóðaháttr steht, erfolgt ein Wechsel ins fornyrðislag mit der Verfluchung Andvaris (Str. 5) und dem Rachewunsch Hreiðmarrs gegenüber Lyng­ heiðr (Str. 11). Reginn spricht den Rest der Reginsmál, d. h. in jeglicher direkten Rede, durchgehend im fornyrðislag (Str. 13 f., Str. 17, Str. 26). In den Fáfnismál, die vor allem durch das 23 Strophen lange Wissensgespräch zwischen Sigurd und Fáfnir geprägt sind, herrscht ljóðaháttr vor, dessen sich Reginn in seinen Äußerungen ebenfalls bedient (Str. 23, Str. 25, Str. 27, Str. 29; auch die theoretisch Reginn zuschreibbare Str. 31 steht in diesem Metrum). Zum Wechsel kommt es erst in den Strophen der Vögel (ab Str. 32), und damit zu einem Zeitpunkt, als der Schmied bereits nicht mehr als Sprechender wirkt.

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in Reginns Texten außen vor  – nicht ganz verwunderlich, ist doch die Figur durch viele Fähigkeiten ausgezeichnet, Dichtung gehört gleichwohl nicht dazu; Reginns charakteristische íþrótt im Text ist vielmehr die Schmiedekunst. 3.3.1.3 Performative Aspekte In der Annahme Sigurds als Ziehsohn in Str. 14 der Reginsmál finden sich zwei Aussagen, die man als Affirmation oder auch Wunsch einstufen kann: Ec mun fœða

fólcdiarfan gram; (Str. 14,1),

welches sich auch als Zusage oder Versprechen lesen lässt, sowie siá mun ræsir þrymr um ǫll lǫnd

rícstr und sólo, ørlǫgsímo. (Str. 14,5 ff.)

Beiden Äußerungen kann ein performativer Aspekt zugesprochen werden, der ersten die erwähnte Bekräftigung und der zweiten Prophezeiungscharakter. Einem festen formalen Rahmen im Sinne expliziter performativer Sprechakte wird dabei zwar nicht gefolgt, die weitere Handlung sowie die Entwicklung Sigurds verlaufen aber gemäß den Worten. Darüber hinaus lassen sich die auch beiden Siegesverkündungen durch Reginn als performativ ansehen . Zwei spätere, ebenfalls in gewisser Verbindung stehende Äußerungen, die  – zumindest teilweise  – in den Bereich performativ wirksamer Sprache eingeordnet werden können, spielen sich vor und nach dem Drachenkampf ab; nämlich das Aufreizen Sigurds zum Kampf, welches Reginn erfolgreich betreibt, sowie das Streitgespräch zwischen Ziehvater und Ziehsohn, das dem Sieg folgt und dem, nicht zuletzt aufgrund der unterliegenden mannjafnaðr-artigen Strukturen, ein gewisser performativer Charakter eignet. 3.3.1.4 Situationskontext Die Beschreibung Reginns als þulr findet in einer größtenteils weltlichen Situation (innerhalb eines heroic-age-Settings) statt; zugegebenermaßen einer mit übernatürlichem Personal. Auch der Schatz bricht mit der Ottertötung durch die Asen quasi von außen aus der mythischen Welt in die Hreiðmarrssippe hinein, und wenn Reginn auch anfangs als zauberkundig beschrieben ist, tritt er in den Jungsigurdliedern doch nicht als solches aktiv in Erscheinung. Gleichermaßen wird die Gnitaheide im Text nicht außerhalb der säkularen Welt verortet und es bedarf keiner gesonderten oder außergewöhnlichen Anstrengung, sie zu erreichen: Ziehvater und Ziehsohn fóro up á



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Gnitaheiði (Prosaeinleitung Fáfnismál) und selbst Fáfnir wird nicht durch Magie oder göttlichen Beistand besiegt, sondern durch Planung, Taktik und Mut – und die richtige Waffe (auch wenn sich der Held und sein Schmied darüber nicht ganz einig werden). Mundan ist ebenfalls der der Betitelung Reginns vorausgegangene Disput. Weder kultische noch religiöse Elemente finden sich hier und entsprechend ist auch der Autoritätsgehalt der Äußerungen, der kein anderes Gefälle erkennen lässt als das von Ziehvater und Ziehsohn. Dabei eines, das sich bald ins Gegenteil, nämlich das von Kämpfer und Fortgelaufenem, verkehrt und damit in die Darstellung zweier Kontrahenten in einem Wortwechsel, den man aufgrund von Inhalt und Aufbau als (Kurz-) mannjafnaðr bezeichnen kann. 3.3.1.5 Rollen und Autorität Überlegenswert wäre hier vor allem, ob die Verkündung von Sigurds Sieg über den Drachen Reginn temporär eine Art „offizielle“ Sprecher- oder Heroldsrolle verleiht oder der Charakter sich eine solche durch den Akt gar gezielt aneignet, etwa, um seine Abwesenheit beim eigentlichen Kampf zu überspielen oder kompensieren. Eine solche Funktion würde zudem mit seiner ähnlichen Rolle bei Sigurds Vaterrachefahrt korrespondieren, insbesondere mit der, im Gegensatz, unpersönlichen Verkündung des Sieges an ihrem Ende. Andere „offizielle“ Rollen sind nicht erkennbar. Reginn äußert sich damit größtenteils als privates Individuum. Auch unter diesen Umständen besitzt der Schmied jedoch im Allgemeinen durchaus Autorität gegenüber Sigurd; dies gilt vor allem dann, wenn auch die Grundcharakterisierung der Figur in den Reginsmál, insbesondere der Einleitung, miteinbezogen wird, in der Reginn als Ziehvater und Lehrer mit entsprechendem Wissensvorsprung auftritt. Ein Blick auf Handlungen und Rollen Reginns zeigt dann auch eine durchaus vielschichtige Persönlichkeit: Der unmittelbare Kontext der Bezeichnung Reginns als þulr ist, wie erwähnt, der Vorwurf eines geplanten Verrats.146 Interessant ist dabei vor allem, dass hier gleich mehrfach auf das semantische Feld verbaler und kognitiver Tätigkeiten zurückgegriffen wird: Reginn ræðr om við sic und berr […] rǫng orð saman (Str. 33,2 und 5 f.). Auch tæla (Str. 33,3, „betrügen, überlisten, verführen“147 bzw.

146 Genau besehen bleibt es in diesem Text in der Tat beim Vorwurf – den überdies bereits Fáfnir in seinen letzten Worten äußerte (Fáfnismál Str. 22), denn Sigurd handelt dem Rat der Vögel gemäß, ohne Reginn eine Möglichkeit der Reaktion, Verteidigung oder auch nur Erklärung zu geben. Wirft man einen Blick auf die Textparallelen, ist festzustellen, dass die hier nur angedeutete Verratsabsicht Reginns dennoch ernst zu nehmen sein muss, da, wie Gunnell zum Nornagests þáttr feststellt: „Norna-Gestr totally ignores the details of Fáfnismál after his performance of parts of Reginsmál, contenting himself by saying simply that ‚Sigurðr then killed Fáfnir and Reginn because he (Reginn) wanted to betray him“ (Gunnell 1995, S. 259). 147 Baetke, S. 670.

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„deceive, delude“148) bewegt sich in diesem Feld, wenn es sich auch nicht ausschließlich darauf konzentriert (deutlicher ist die Verbindung im korrespondierenden altenglischen Begriff tælan, auch wenn hier, wie grundsätzlich, selbstverständlich nicht von einer vollständigen Übertragbarkeit ausgegangen werden kann: „to blame, rebuke, reprove, reproach, censure, accuse […] to speak evil of, blaspheme, revile, slander, calumniate, backbite […] to treat with contempt, to scorn, despise, insult, mock, deride, jeer at“,149 „tadeln, schelten; anklagen, verleumden; verspotten, -höhnen“150). Gleichermaßen wird auch im vorausgegangenen Streitgespräch zwischen Ziehsohn und Ziehvater der verbale Aspekt betont; das vergiftete Siegeslob (þic qveð ec, Str. 23,6) mit der kaum verhohlenen Anklage des Verwandtenmords kontert Sigurd mit dem Verweis auf Reginns – sehr wörtliche (rétt, Str. 26,1; frýðir, Str. 26,6) – Anstiftung. Beides spielt sich im Kontext einer siegesbedingten Erschütterung der bis zu diesem Zeitpunkt etablierten Rollen und Autoritäten von Lehrer und Schüler ab. In Reginns Hinwendung zum und Handlungen am toten Drachenleib kann man den Versuch sehen, dies durch Ausweichen auf die nonverbale Ebene zu überbrücken (was jedoch nicht bedeutet, dass diesen stummen Szenen weniger Gewicht beizumessen wäre151). Nicht zuletzt seine Anweisung an Sigurd, ihm Fáfnirs Herz zu braten, während er selbst schlafe, fußt dabei noch auf den alten Machtverhältnissen, die gleich darauf in der Fortsetzung des Streits wieder infrage gestellt werden. Hier nun hat sich das Thema verändert – es ist nicht länger der negative Aspekt beim Tode Fáfnirs, also die Schuld, die zur Debatte steht, sondern der positive, nämlich, wem der Ruhm gebührt, dem Waffenschmied oder dem Kämpfer. Dabei

148 LF/T, S. 267. 149 B/T, S. 969. 150 Holthausen, S. 341. 151 Gunnell stellt auch die Schilderungen (und Nicht-Schilderungen) der Fáfnismál in seinen bereits andernorts gestreiften Kontext der praktischen Performativität. Insbesondere die Prosaeinschübe erweisen sich als bemerkenswert: It is interesting to note that […] the most important actions of Fáfnismál (the killing of Fáfnir and Reginn, and the collecting of the treasure which forms a satisfactory conclusion to the poem) occur outside of the framework of the spoken text, which, nonetheless, depends on these actions having occurred, or taking place in the near future. At the same time, the direct speech of the poem […] includes a number of interesting implications of gesture, and physical movement or position, many of which would seem almost unneccessary for the course of the action. […] With regard to the action of the poem, it might be noted that Fáfnismál is the only poem at present under consideration in which the prose interpolations provide information about actions that are not directly implied by the extant words of the poem. (Gunnell 1995, S. 266) Auch das Herausschneiden des Herzens findet sich nur als Prosabeschreibung und nicht als Rede. Dass es von ebenfalls großer Bedeutung ist, zeigt sich nicht nur in Reginns Anweisung an Sigurd, sondern vor allem in den darauf folgenden Ereignissen (das Braten des Herzens als Kausalnexus für Sigurds schließliche Reaktion auf den Meisenrat).



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reagiert Sigurd auch mit gnomischen Passagen (etwa Str. 30) auf Reginns Vorwürfe und behält so im Endeffekt das letzte Wort. Dennoch fügt er sich anschließend der Anweisung seines Ziehvaters und brät das Herz, und die Kausalkette, die letztlich zum Tode Reginns führt, scheint eher durch einen Zufall initiiert: Verbrennen der Finger, welches zum Ablecken des Blutes, Verstehen der Vogelsprache und Reaktion auf deren Warnung führt. Das Erschlagen des Ziehvaters stellt dann allerdings wieder eine bewusste Entscheidung dar. Durch die vollkommen passive Position seines Gegners/Opfers nach dem Streit tritt Sigurds entschiedene Handlung dabei deutlich hervor. Damit ist Reginn im Laufe beider Texte in folgenden Rollen aufgetreten: Ziehvater, in Traditionen und Geschichte bewanderter Weiser, Lehrer, Zauberkundiger (qua Beschreibung), formaler, öffentlicher Sprecher (mehrfach), Meisterhandwerker, Kontrahent im mannjafnaðr, Aufwiegler, Feigling, Manipulator sowie Verräter (genauer gesagt, des Verrats Bezichtigter). Außerdem als Brudermörder by proxy – und zuletzt als Opfer; gar als eines, das im Schlaf erschlagen wird.152 Seine Autorität ist in den meisten Fällen hoch, aber auch situativ definiert: mal die des handwerklichen Experten, mal die des Ziehvaters, des Lehrers, des Herolds – und nicht immer stammt sie aus eigener Qualifikation; dies ist gerade auf der Vaterrachefahrt gegeben, wo Reginn von und für Sigurd spricht. Dabei ist sein Wissen ebenso vielfältig wie beträchtlich und seine Worte in verschiedener Hinsicht wirksam.

152 Gerade das letztere Detail lässt sich zudem als foreshadowing eines der bekannten Tode Sigurds lesen (auch wenn sich die nordische Tradition nicht völlig über die Todesart einig ist, wie die Prosapassage Frá ðauða Sigurðar im Anschluss an Brot af Sigurðarqviðo belegt). Ebenfalls bemerkenswert ist dabei die ikonographische Verbindung von Sigurds Tod mit dem Fáfnirs, da, wie der Eddakommentar notiert, das Bild einer „im Herzen stehenden Klinge“ bei beiden Szenen bemüht wird (EK 5, S. 399; im Fall des Todes Sigurds handelt es sich um Str. 21 der Sigurðarqviða in scamma: Dælt var at eggia / óbilgiarnan, / stóð til hiarta / hiorr Sigurði.). Einen Bezug zum Fluch des Goldes lässt überdies der gleichartige Tod Hreiðmarrs ersehen: In allen Fällen kommen die Opfer durch einen sozial Nahestehenden (Sohn, Ziehsohn, Schwager) zu Tode, was zumindest im Fall der Blutsverwandtschaft ein besonders verfemtes Verbrechen darstellt (EK 5, S. 304). Der Eddakommentar weist außerdem darauf hin, dass im Gegensatz zu dieser Schandtat das reine Erschlagen im Schlaf nicht in jedem nordischen Rechtsgebiet gleich negativ beurteilt wurde, sondern nur im Westgötalag als besonders schwer galt (EK 5, S. 304). Auch Atlis Untergang entspricht dem beschriebenen Todesmuster: er stirbt, je nach Tradition, durch die Hand des Sohnes seines Schwagers Hǫgni (Atlamál Str. 85–87) oder durch die Guðrúns, seiner Frau (Atlaqviða Str. 41 und die Prosapassage Dauði Atla nach dem Oddrúnargrátr). Reginns Passivität bei der Ermordung reiht ihn also rein durch seine Natur weniger in eine allgemeine, eventuell als schwach oder gar ragr konnotierte Opferrolle ein als eher – wenn überhaupt – unter Persönlichkeiten, die wach, also bei vollen Kräften, kaum zu besiegen waren. Damit ließe sie sich sogar als letztes Zeichen besonderer Stärke lesen; bei Reginn, der als zauberkundig bezeichnet wird und seine Autorität verbal verteidigt, vor dem physischen Kampf jedoch zumindest bei Fáfnir zurückschreckte, handelte es sich dann aber wohl eher um geistige Macht.

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Im Auftreten Reginns zeigt sich durchgängig eine starke Gewichtung von Wissen und Rede, bis hin zu deren Einsatz im Konflikt: Den offenen Waffenstreit scheut der Zwerg, den verbalen Kampf ficht er mit Sigurd aus  – wenn auch, so man nach der Vogelweissagung geht, nur bis zu einem gewissen Punkt: Sein letzter Zug im Kampf von Geist und Wort ist jedoch nicht sprachgewaltiges Aufbegehren, sondern das stille Planen von Verrat. Der nahezu Besiegte – schweigt.

3.3.2 Informations(re-)produktion 3.3.2.1 Informationsarten Etwas weniger vielfältig als die Rollen erweist sich demgegenüber die Art der Informationen, die der Schmied vermittelt: Neben mythologischen Inhalten, dabei vor allem der Geschichte des Goldes (der man auch ein ätiologisches Moment zusprechen kann), welche gleichzeitig individualhistorisches Wissen tradiert, handelt es sich hauptsächlich um persönliche Äußerungen. Selbst die Horterzählung könnte in diesen Bereich eingeordnet werden, sowohl wegen der Beteiligung Reginns als auch aufgrund des Zwecks dieses Berichts, der am Anfang von Sigurds Instrumentalisierung zur Hortgewinnung (und der Rache am Bruder) steht. Religiös im konkreten Sinne oder gar kultisch stellt sich keine seiner Aussagen dar und die (säkular-)geographischen Anteile – sofern beschrieben – belaufen sich auf Details zum Drachenhort, enthalten also auch hier wieder das, im weiteren Sinne, persönliche Moment. Hingegen lässt sich in mehreren Äußerungen heroisches Ethos ausmachen – was in einem eddischen Heldenlied allerdings kaum überrascht. Dessen Darstellung fällt dann aber interessanterweise unterschiedlich aus: Bei Reginns Versuchen, Sigurd zum Drachenkampf aufzustacheln, auf der Vaterrachefahrt und unmittelbar nach dem Sieg über Fáfnir ist der traditionelle, schlachtenkühne, tatkräftige Krieger noch das Ideal. Eine derartige Darstellung umfasst folglich auch die Szenen, in denen der Schmied eine Art Heroldsfunktion innehat, also offiziell spricht (auf dem Schiff, nach der Schlacht gegen die Hundingssöhne und nach dem Sieg über Fáfnir). Im Laufe des späteren Streitgesprächs wird ebendies Ideal dann jedoch weniger affirmiert als vielmehr von Reginn zugunsten des nicht-kämpfenden Handwerkers und Hintermanns reinterpretiert (wobei aber auch Sigurd Männern, die nicht kämpfen, Positives abgewinnen kann, wie in der bereits besprochenen FáfnismálStrophe 24). Die Darstellung, und damit das vertretene Ethos, ist also von der persönlichen Situation der Figur abhängig und wird entsprechend gewertet. 3.3.2.2 Informationskontext Auffällig an Reginns Äußerungen ist mehrfach ein förmlich wirkender Charakter (insbesondere bei den Verkündungen: bei der Aufnahme als Ziehsohn, dem Austausch auf See sowie nach dem Siegespreis Sigurds). Dass seine Rede dennoch meist in irgendeiner Form persönlichen Beweggründen entspringt, wurde bereits festgehal-



(Kon-)Texte des Thuls in Regins- und Fáfnismál 

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ten, ebenso wie das öffentliche bzw. öffentlichkeitswirksame Wesen der Proklamationen. Konkreten offiziellen, gar mit einem Amt einhergehenden Pflichten unterliegt Reginn dabei jedoch, soweit erkennbar, nicht. Der Charakter äußert sich weiterhin in ganz unterschiedlichen Kontexten: nichtkompetitiv, wie in der Horterzählung und den Proklamationen, ebenso wie kompetitiv im Streit um die Drachentötung. Der dortige mannjafnaðr ist dabei rein vergleichend und nicht etwa auch kombativ – es werden keine Beleidigungen oder Drohungen ausgestoßen, sondern einzig um die korrekte Interpretation des Fáfnirskampfs gestritten. Eventuell lässt sich letztlich auch dem zweifachen eggja Reginns eine implizit kompetitive Komponente zusprechen, indem diese Aktivität als Wettkampf der Überzeugungskraft oder Eloquenz des einen gegen den Scharfsinn, die Absichten und die Überzeugungen des anderen gedeutet wird: also eine andere Art des geistigen Wettstreits. Schwerer wiegt aber in jedem Fall das egoistische Moment. 3.3.2.3 Tradierung Aufgrund der subjektiven Motivation tritt Reginn mit seinen Inhalten nicht als neutrale Transmissionsinstanz auf, sondern vor allem als Vertreter seiner selbst, mit eigenen Zielen und Beweggründen. Er ist Tradent, aber nicht um der Tradierung willen: Wo er Wissen vermittelt, geschieht es unter der Prämisse des Nutzens für eigene Zwecke. Sigurd erfährt vom Drachengold ebenso wie von Fáfnirs Aufenthaltsort, um diesen später zu konfrontieren. Exemplarisch formuliert der Schmied dies selbst in Reginsmál Str. 13,7 f.: oc er mér fangs vón / at frecom úlfi (wobei sich in die deutsche Übersetzung „ich erwarte mir Kampf“ die Doppeldeutigkeit des Verlangens hineinlesen lässt: „mir“ einerseits auf das Verb bezogen reflexiv, was im Deutschen allerdings recht tautologisch daherkommt, andererseits als indirektes Objekt: „für mich, zu meinem Nutzen“). Diese persönliche Motivation ist das zentrale Element der Äußerungen Reginns. Ein solches Charakteristikum nun direkt mit etwa den Vafþrúðnismál zu vergleichen, ohne einen Gedanken auf die unterschiedlichen Textgattungen zu verwenden, verbietet sich von selbst: Das handlungszentrierte Heldenlied hat einen anderen Schwerpunkt als das auf Informationen ausgerichtete Wissensgedicht. Dennoch fehlt in den Regins- und Fáfnismál die vorherrschende Art Informationen der Vafþrúðnis­ mál (neutrale, allgemeine, überzeitliche/-örtliche weltbeschreibende) fast vollständig.153 Es sticht daher hervor, dass der Schmied dennoch als þulr bezeichnet wird und das auch noch, wenn man nur den unmittelbaren Kontext betrachtet, nach seinen persönlichsten Äußerungen: einem individuellen Angriff und einer gewissen (wenn

153 Die (einseitig fragenden) Wissensstrophen, die in den Reginsmál und Fáfnismál enthalten sind und näher bei den Vafþrúðnismál liegen, spielen sich zwischen Sigurd und einem anderen Gegenüber ab (Hnikarr, Fáfnir). Sie sollen hier nicht weiter verfolgt werden.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

auch nicht radikalen) Umwertung kulturell wünschenswerten Verhaltens zu eigenen Gunsten. Diese Worte  – und hier gibt es dann doch ein Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Eddaliedern – werden allerdings in einem zumindest teilweise formalisierten Rahmen getätigt: dem des Streitgesprächs. 3.3.2.4 Validierung Da Reginns Äußerungen weniger faktenbasiert als persönlich sind, kommt ihrer (objektiven) Gültigkeit nur eine untergeordnete Rolle zu. Dennoch lassen sich mehrere Validierungsformen im weiteren Sinne ausmachen: Die Erzählungen über die Ahnen können durch die Begegnung mit Fáfnir teilweise verifiziert werden. Im Gegensatz dazu kann das Aufreizen des Ziehsohns durch den Schmied weniger inhaltlich validiert werden als funktionell. Sigurd spricht Reginns Argumenten anhand eige­ ner Wertmaßstäbe einen der Verwandtenrachepflicht ebenbürtigen Stellenwert ab, sodass die anfänglichen Aufreizversuche als gescheiterte (invalidierte) Äußerungen angesehen werden müssen. Reginns letzter Versuch hingegen ist gelungen, denn der gewünschte Effekt wird erzielt. Dass das Inhaltliche kaum eine Rolle spielt, lässt sich auch daran ersehen, dass die Darstellung auf das reine Verb eggja beschränkt bleibt. Anders sieht es in den öffentlicheren Sprachauftritten aus: Bei den zwei Proklamationen nach den Siegen des Völsungen findet man eine öffentliche Validierung en scene  – Teilnehmer und Ergebnis werden durch ebendie Situation selbst bestätigt; so klar, dass sogar auf eine explizite Referenzierung Sigurds verzichtet werden kann. Die hyperbolischen Zusätze, in denen Reginn den Sieger mit Superlativen preist, können dabei als gerade in diesem Kontext topisch angesehen werden und bedürfen somit keiner weiteren Verifikation. Dasselbe gilt für die Begegnung mit Hnikarr auf der Vaterrachefahrt, bei welcher der Zwerg nur das Offensichtliche – die Seefahrt bei schwerem Wetter – beschreibt und den Namen Sigurds nennt. Im Streitgespräch mit dem Ziehsohn nach der Tötung Fáfnirs findet sich letztlich, wie in vergleichbaren Dialogarten (etwa in den Vafþrúðnismál), eine implizite Validierung aus dem Wettstreitmechanismus heraus: Drei Reaktionen wären nach Clover theoretisch auf das jeweils Gesagte möglich: Abstreiten, Umdeuten und Ausweichen, von denen die letzten beiden eine implizite Verifikation beinhalten, während die erste im mannjafnaðr nie zum Tragen kommt,154 da der Kern dort verhandelter Konflikte die Darstellung von Tatsachen, nicht aber eine objektive „Wahrheit“ ist. Interessanterweise lässt sich in Sigurds Antwort in Str. 24 auf Reginns Preis sogar eine Art Falsifikationsversuch ausmachen, je nachdem, welches Gewicht man seinem Kontern des Lobes óblauðastr alinn (Str. 24,4) beimisst: ironisches, wortklauberisches (also

154 Clover 1980, S. 452 ff.; besonders S. 458: „the ‚preliminary incident‘ itself is never disputed; even by the offended partner“.



Zusammenfassung und Fazit 

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nicht wirklich ernstgemeintes) Geplänkel oder gezielte Attacke, in der die vorherige Aussage über die Furchtlosigkeit aggressiv bestritten wird. Einen weitaus direkteren Angriff auf die Gültigkeit von Reginns Äußerungen  – insbesondere die unausgesprochene, aber deutliche Schuldzuweisung  – stellt hingegen Str. 26 dar. Indem Sigurd in dieser Strophe explizit und mehrfach auf Reginns Aufreizen rekurriert, stellt er dessen angeblich geringen Anteil (veld ec þó siálfr sumo, Str. 25,6) sehr eindeutig infrage und weist ihn zurück. Der Mechanismus ist hier weniger ein Umdeuten einer vorherigen Darstellung als deren unmittelbare Zurückweisung mithilfe eines Alternativszenarios, welches Intention und Auswirkungen der Handlungen des Angreifers Reginn illustriert. Da dieser Diskussionsstrang nach Sigurds Antwort durch die Prosabeschreibung, wie Reginn sich das Herz Fáfnirs verschafft, abbricht und das Streitgespräch anschließend einen anderen Aspekt ins Zentrum stellt, ist nicht zu ersehen, welchen weiteren Effekt Sigurds Anfechtung der Validität dieser Aussagen hat – bzw. ob überhaupt einer erzielt wird. Allerdings lässt sich Reginns wortloses Abwenden durchaus im Sinne der Logik des mannjafnaðr als Gültigkeitsbestätigung der gegnerischen Darstellung lesen.155 Der Rest des Wortgefechts bedient sich dann wieder der Umdeutung und Refokussierung und damit der impliziten Validierung, wie sie in einem solchen Szenario zu erwarten ist.

3.4 Zusammenfassung und Fazit Damit zeichnet sich der þulr Reginn in den Jungsigurdliedern der Edda vor allem durch zwei Dinge aus: durch diverse, auch exponierte, Äußerungen, darunter vor allem solche in formalisiertem wie performativem Kontext, sowie durch persönliche Motivation. Sein Wissen, obwohl unerlässlich für das Ausüben der Ziehvaterschaft und die Ausbildung Sigurds, spielt im zeitlichen Umfeld des Drachenkampfs hingegen keine so merklich große Rolle (mehr); je nach Interpretation übertrifft Sigurd nach der Fáfnirstötung seinen einstigen Lehrer sogar zuweilen an Witz. Der Tod Reginns von Sigurds Hand, der Schmied gemäß den Meisen arglistig auf Verrat sinnend, doch nicht umsichtig genug, sich gegen einen möglichen Angriff seines Schützlings zu wappnen, kann als finale Bestätigung einer solchen Zeichnung gelesen werden. Reginns persönliche Motivation wirkt sich auch auf die Inhalte aus: Vermittelt wird, was dem Zwerg nützlich ist, es erfolgt also eine individuelle Auswahl; von weiteren Informationen ist hingegen wenig zu erfahren. Darüber hinaus lässt sich kein allgemeines Tradierungsinteresse bei der Figur erkennen, ebenso wie Reginn zwar

155 Mit einer ähnlichen Reaktion endet das flyting zwischen Unferð und Beowulf im gleichnamigen Epos, auf welches im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen werden wird.

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 Wider den Helden – Regins- und Fáfnismál

zu besonderen Situationen das Wort ergreift (Siege, Reise), sich dies aber gleichwohl eher als individuelle Handlung darstellt denn als eine, die festen formalen Pflichten geschuldet wäre. Trotz der Zauberkundigkeit des Schmieds, wie sie zu Beginn des Heldenlebens Sigurds geschildert wird, spielt diese Kunst in seinen Worten und Handlungen keine erkennbar maßgebliche Rolle; vor allem ergeht sich der Charakter weder in entschieden magischer noch kultischer Lehre, Praxis oder Tradition. Sein gesamtes Agieren findet in einem überwiegend weltlichen Szenario statt; vereinzelte Kontakte mit dem Numinosen sind zeitlich sowohl in narrativer als auch in textstruktureller Hinsicht von der Bezeichnung þulr abgekoppelt. Damit erscheint der Thul Reginn in den Sigurdliedern als reflektierter, autonomer, und überaus weltlich-individualistisch orientierter Sprachspezialist, dessen Selbstsucht ihn schließlich in ein Verderben führt, das er auch mit aller Wortgewalt nicht mehr verhindern kann.

4 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf Ein kurzer Überblick über den Begriff þyle im Altenglischen ist an dieser Stelle angebracht. Die bereits in der Einleitung angeklungene etymologische Problematik findet sich unter anderem bei Libermann beschrieben, der eine eindeutige Deutung in Abrede stellt. Im Gegenzug plädiert er allerdings auch dafür, den bisherigen, oft widersprüchlichen und vor allem immer unzureichenden Deutungen eine Absage zu erteilen.1 Seine Darstellung wirkt ausgesprochen schlüssig und die Einwände gegen die bisherigen Thesen valide. Aus diesem Grund möchte ich mich auch bei dem altenglischen Terminus nur auf eine Darstellung der Beleglage beschränken.

4.1 Überblick: Der Thul in der altenglischen Literatur 4.1.1 Widsið Der angelsächsische Terminus þyle ist vergleichsweise selten bezeugt – seltener noch als þulr im Altnordischen. In erzählender Literatur tritt er als Simplex nur in zwei Werken auf: im Widsið sowie im Beowulf. Die Belegstelle des Widsið lautet: Þeodric weold Froncum, Breoca Brondingum,

Þyle Rondingum, Billing Wernum.

(Z. 24 f.2) Gerade dieses Werk wäre von hohem Interesse, da es sich beim Widsið um den Bericht eines fiktiven Scops handelt, sich hier also ein interessantes Spannungsfeld zwischen Dichtersänger und þyle eröffnen könnte. Leider wird der Begriff in diesem Falle aber nicht als Funktions- oder Personenbezeichnung eingesetzt, sondern stellt wohl einen Eigennamen3 dar, der im Rahmen eines Herrscherkataloges erscheint, dessen Einzel-

1  A good etymology should not only contain a clever idea; it must make the other etymologies redundant. I am unable to offer a convincing etymology of þulr […], but I find it useful to clear away heaps of respectable-looking rubbish. If we, however reluctantly, agree that the existing etymologies of Edda and þulr/þyle are wrong, we will stop referring to them, as we have stopped referring to Horne Tooke and Noah Webster’s 1828 dictionary. (Liberman 1996, S. 77) 2 Zitiert nach Malone 1962, S. 23. 3 Eine alternative Deutung diese Namens beschreibt Donovan: „commonly taken as an eponym representing a Norwegian king“ (Donovan 2009, S. 79), wobei sie sich auf Malones Widsið-Edition be-

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

elemente sich größtenteils aus jeweils zwei Teilen zusammensetzen: Herrschername und Volksname.4 Damit könnte man den Beleg zwar sogar als Bestandteil einer þula bezeichnen (wobei dieser Begriff nur im Altnordischen existiert5), weitere Rückschlüsse lässt aber auch dieses Detail nicht zu. Die Namen der im Katalog genannten Fürsten erstrecken sich von Caesar über Attila bis hin zu Offa, auch der in Beowulf auftretende Breca ist hier, als Herrscher der Brondinge, zu finden; nicht alle lassen sich jedoch historisch verifizieren. Aufgrund des vollständig fehlenden narrativen Kontexts sowie der Verwendung als reinem Namen als Listenelement muss für diese Untersuchung somit leider die Feststellung genügen, dass ein solcher Beleg für den Begriff þyle existiert. Eine weitergehende

zieht (Malone selbst sieht þyle hier als „eponym of the Þilir, a well-known Norwegian tribe, the inhabitants of the region now called Telemark“ und vermutet bei Rondingum in diesem Zuge einen Verweis auf eine Randlage („border district“), die sich auch im Begriff Telemark niederschlage (Malone 1962, S. 205 sowie „[T]he name means ‚borderers‘“, S. 192)). Hughes (1977, S. 385) hält hingegen beide Möglichkeiten für gegeben; Fulk/Bjork/Niles (2008, S. 151) deuten den Begriff wiederum ausschließlich als Eigennamen und auch Malone verweist auf den Männernamen Þuli(r) im Altnordischen (Malone 1962, S. 205). Nachdem sich jener allem Anschein nach auch bei einigen Runeninschriften findet, wie im anfänglichen Überblick erwähnt, liegt hier vielleicht eine Korrespondenz ganz anderer Art von þulr und þyle vor, nämlich die eines – funktionslosen – Namens. In beiden Varianten, also auch bei einer Lesung als Eponym, fehlte allerdings weiterhin der Kontext, sodass eine solche Perspektive für die weitere Deutung ebenso unfruchtbar bleibt wie deren Alternative. Donovans Theorie, dass sich þyle im Widsið auf Unferð beziehe, erscheint dabei recht forciert: Dass Widsið und Beowulf teils dasselbe Personal aufweisen (neben Breca auch „Hrothgar, Hrothulf, Ongentheow, Geats, Danes, and Wulfings within forty lines of þyle“ (Donovan 2009, S. 79)), liegt bei der kulturellen und historischen Verortung der Inhalte nahe; zumal es sich dabei v. a. um „Bekanntheiten“, i. e. Herrscherfiguren, und Völker, handelt. Daraus auf eine Korrespondenz zu schließen, wirkt angesichts der minimalen Belege überhaupt für den Terminus in der altenglischen Dichtung nicht sehr plausibel und erfordert einiges an interpretatorischem Aufwand, wie sich zeigt. So etwa die Lesung von Rondingum (dem Volk, über welches (der) þyle im Widsið herrschte) als Begriff für die Scyldinge, auf Basis des Heiti rond für den Schild, wie sie etwa auch Chambers vertrat (Chambers 1912, S. 196). Selbst mit einem solchen Ansatz jedoch bleibt offen, wieso gerade Unferð über dies Volk herrschen sollte – von einer derartigen Position oder Aufgabe des Charakters ist nichts bekannt, gleichfalls nicht von einer säkularen Herrscherfunktion eines þyle überhaupt. Auch Donovan bleibt diese Erklärung schuldig und verweist stattdessen auf „a story about Hunferth of the Scyldings (or Rondings) that is no longer extant, but which circulated widely enough to need no description and to be included in the scop’s repertoire“, um allerdings zu Recht zu schließen, dass „a conclusive definition impossible“ sei (Donovan 2009, S. 79). 4 Häufig, aber nicht ganz regelmäßig, finden sich zudem weold („herrschte über“) als Verb eines aus vier Einzelelementen bestehenden Komplexes sowie ond als Verbindung der Elemente in den beiden Halbzeilen. 5 Heusler, der Widsið als Kataloggedicht bezeichnet, notiert Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede zur „kunstloseren þula […] wie Þorgrímsþula und Kálfsvísa“ (Heusler/Ranisch 1903, S. LXXXIX), sieht aber im Ganzen eine deutliche Ähnlichkeit. Brady zählt Widsið direkt zu den þulur: „The earliest extant þular [sic] are in Widsith […]“ (Brady 1982, S. 222).



Überblick: Der Thul in der altenglischen Literatur 

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Interpretation im Rahmen der in dieser Arbeit verwendeten Kriterien ist unter den gegebenen Bedingungen hingegen nicht möglich. Erheblich fruchtbarer, in der Tat eine der interessantesten Fundstellen überhaupt, ist die im Beowulf, wo þyle, dort zweifach belegt, eine äußerst vielschichtige Figur bezeichnet, die auch der heutigen Forschung noch manches Rätsel aufgibt. Zunächst sollen jedoch noch die restlichen Belege angerissen werden.

4.1.2 Belege in nicht-narrativen Texten Der Begriff þyle findet sich ebenfalls in der anglo-lateinischen Literatur: in der angelsächsisch-lateinischen Interlinearversion des Liber Scintillarum, einer Sammlung von Sprüchen der Kirchenväter und aus der Bibel, sowie in den altenglischen Glossen. Dabei tritt þyle im Liber Scintillarum im Kap. XXXII auf, welches mit be lareawum oþþe be gelæredum. oþþe reccendrum oþþe be gymendum. / De Doctoribus siue Rectoribus6 betitelt ist:7 gelæred Doctus

þyle fela orátor plúres

spæca mid feawum sermones paucis

wordum uerbis

geopenað aperit;7

Auch in den von Wright herausgegebenen Glossen stellt der Terminus die Übersetzung für orator dar.8 Des Weiteren findet sich in den angelsächsischen Glossen zu Aldhelms De Laudi­ bus Virginitatis das Kompositum þelcræft, wörtlich „þyle-Handwerk/-Fertigkeit“, als Übersetzung für „rethorica (locutio)“.9 Damit bezeichnet es hier, wie beim vorausgehenden Nomen Agentis also sprach-/wortbezogene Fertigkeiten im Rahmen der Latinitas und angesichts des Textumfeldes vor allem auch der artes liberales.10

6 Rhodes 1889, S. 116. 7 Rhodes 1889, S. 119. Pooles (Poole, RGA 30, S. 545) Schlussfolgerung: „A þyle, then, must speak frequently but also succinctly“, ist etwas problematisch, denn was hier über den þyle gesagt zu werden scheint, ist genau genommen nur die übersetzte Aussage über den lateinischen orator, dem der altenglische þyle zum Verfassungszeitpunkt begrifflich am nächsten zu stehen scheint. Selbst bei der Gelehrsamkeit handelt es sich um ein zusätzliches Attribut (doctus/gelæred), das im Begriff selbst somit offenbar nicht angelegt ist. 8 „Oratores, þylæs“ (Wright 1873, S. 63). 9 Bouterwek 1853, S. 479 sowie Goossens 1974, S. 345. Bei der Schreibweise þel- handelt es sich um eine Variante zum westsächsischen „Standard“ (Goossens 1974, S. 345, führt þylcræft explizit als spätwestsächsische Normversion an). 10 Der „rethorica“ [sic] geht im Text „grammatica“ voraus und gefolgt wird sie von „dialectica, flitcræft. arithmetica, rimcræft. musica (disciplina). geometrica, eorðgemet. astronomia, tungelcræft. astrologia, tungelgescead. mechanica, orðancscype“ (Bouterwek 1853, S. 479). Lokalisiert ist dieser Begriffskomplex auf Folio 29 A; Zeile 10, „am rande“ zugeordnet (Bouterwek 1853, S. 479).

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

Eine weitere Belegstelle nennt Rosier, wobei seine Deutung in manchen Punkten diskussionswürdig ist:11 In der Cura Pastoralis Gregors des Großen wird (hi)striones mit fæþelas glossiert,12 was Rosier mit Meritt als „fæ þelas (= þylas). ‚wicked jesters‘“ liest,13 eine Deutung „Mime, Hofnarr“ somit naheliege, da die lateinischen Begriffe

Ins Auge fällt in dieser Passage noch die Übersetzung von dialectica mit flitcræft. Jene suggeriert zwar auf den ersten Blick einen deutlich stärker aggressiv-kompetitiven Anteil (die begriffliche Nähe zum flyting ist unverkennbar), allerdings besitzt das altenglische Verb flitan, das auf derselben Wurzel, flit-, basiert, eine Bedeutungsbreite, welche auch die verbale Auseinandersetzung umfasst, die sich im Lateinischen in der disputatio, einem Zentralaspekt der dialectica findet: „To strive, contend, dispute, rebel“ (B/T, S. 293). Nicht ausschließen lässt sich hierbei zudem, dass die semantische Situierung und deren offensivere Konnotationen im Altenglischen auch daraus resultieren, dass, wie Knappe beschreibt, im christlichen Mittelalter die Dialektik eine Aufwertung erfuhr, „dem ganz praktischen Zweck der Auseinandersetzung mit den Glaubensgegnern“ diente und „bei Augustinus als die Hauptwaffe des Christen angesehen“ wurde (Knappe 1996, S. 81). Auch in dieser Konstellation von verbalen Fähigkeiten und direkter, interpersoneller Auseinandersetzung finden sich somit Anklänge an literarische Darstellungen des Thuls. 11 Rosier 1962, S. 2. Rosier zieht ebenfalls die altnordischen Texte zur Stützung einer herabsetzenden oder anderweitig negativ konnotierten Interpretation heran, vor allem Hávamál Str. 134 (bei ihm Str. 133). Dies Argument erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als nicht stichhaltig, wie sich in der später folgenden Diskussion der Belege in diesem Werk zeigen wird. Rosier bezieht in seiner Interpretation das Adjektiv három (bei ihm hǫrom) nicht in die Betrachtung mit ein, obwohl gerade jene Eigenschaft im erklärenden Folgesatz wieder in Variation aufgegriffen wird und zum Zentrum der Aussage („oft ist gut, was Alte sagen“) avanciert. Weiterhin nutzt er Fáfnismál Str. 34 (Rosier 1962, S. 3), dabei bleibt allerdings unbedacht, ob eine eventuell negative Bedeutung nicht möglicherweise eher der Charakterisierung der Figur geschuldet ist und von dort auf den Begriff þulr übergeht, also kein Primärmerkmal des Terminus darstellt (s. dazu auch Bjork 1980, S. 138). Bei beiden altnordischen Belegen hält somit die Theorie einer per se negativen Konnotation nicht stand. Interessant ist indes ein anderer Punkt: Sollte histrio in der Tat auf ein generelles Charakteristikum eines Thuls abzielen, nämlich einen mimisch-/dramatisch-fiktionalen Aspekt, könnte die Begriffsverwendung durch die Vögel im eddischen Gedicht auch darauf verweisen, dass Reginns Zuneigung zu Sigurd nicht länger Faktum, sondern nur mehr Fiktion ist; zu diesem Zeitpunkt der Schmied Sigurd den Freund also vorspielt. Die von ihm ausgehende Gefahr und der drohende Verrat wird in den Strophen zumindest deutlich heraufbeschworen. Allerdings legen manch andere Belege, etwa der der Vafþrúðnismál (mit einem sehr direkten, unmittelbaren Austausch), einen solchen Kontext nicht nahe, bei wieder anderen ist es äußerst fraglich oder erfordert einiges an Spekulationsbereitschaft (so etwa beim fimbulþulr, der in den jeweiligen Kontexten nicht mit fiktionalem, sondern mythischem Beiklang erscheint und bei dem auch keine Vortäuschung irgendeiner Art impliziert ist; selbst wenn Letzteres sich durchaus mit der übergeordneten Götterfigur Odin vereinen ließe – man denke dabei etwa an seine vielen Auftritte unter Pseudonym). 12 Mit der Fußnote „fiþeleras ? Cp. truð, which renders both liticen and histrio“ (Napier 1900, S. 204). Die Problematik eines solchen Brückenschlags legt Bjork dar, wie im Folgenden beschrieben wird. 13 Rosier 1962, S. 2; fæ markiert dabei ein juristisches, emotionales/kulturelles oder moralisches, kein rein qualitatives Negativum. Damit wäre die Übersetzung „böse“, nicht aber „schlechte“ im Sinne von „inkompetente“ oder „minderwertige“ þelas. Andere Bedeutungen wären, gemäß B/T, „guilty, criminal, proscribed, outlawed, inimical, hostile“ (B/T, S. 269).



Überblick: Der Thul in der altenglischen Literatur 

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scurra, histrio (und auch weitere, meist mit negativer Konnotation) laut Rosier nahezu synonym verwendet wurden.14 Bei diesen Aussagen ist jedoch zu betonen, dass, im Gegensatz zu Rosiers Darstellung, erst durch das präfigierte Adjektiv die negative Zeichnung von þyle erfolgt.15 Zudem stellt, wie Bjork in seinem Essay ausführlich beschreibt, ein Bedeutungstransfer durch mehrere Sprachen, wie Rosier ihn vornimmt, ein Problem dar, da ein Begriff in jeder Sprache ein spezifisches, individuelles semantisches Feld inklusive einer in den Sprachen ebenfalls niemals deckungsgleichen Unschärfe besitzt („anisomorphism of languages“16). Auch den Kardinalfehler Rosiers in der Lesart von Meritts Darstellung benennt Bjork in diesem Aufsatz klar: die Gleichsetzung des Kompositums mit dem Simplex.17 Zusätzlich zu diesen Belegstellen findet sich ebenfalls in den von Wright herausgegebenen Glossen der Begriff hofðelum als Übersetzung von descurris.18 B/T vermerken hierzu: „If a gloss in Wrt. Voc. ii. 25, 31 – descurris hofðelum – may be read de scurris of ðelum (= ðylum) or hofðylum, perhaps his function was something like that of the later court jester, and the style of his attack on Beowulf hardly contradicts the supposition“.19 Eine Aussage, welcher Ogilvy und Baker allerdings nicht zustimmen: „Unfortunately, we have no very exact definition for scurra in the early Middle Ages. Sometimes it meant a mocker, sometimes a buffoon or other entertainer, such

Poole (2010, S. 241) notiert eine zweite Deutungsmöglichkeit als „fah (‚painted, varicoloured‘)“, ohne sie weiterzuverfolgen. Klaeber (S. 327) übersetzt diese Variante des Adjektivs als „variegated, decorated, shining“ und B/T (S. 269) offerieren „coloured“, was beides ebenfalls wenig Konkreteres erschließen lässt, aber auf jeden Fall nicht den negativen Beiklang der Alternative enthält. Vielleicht ließe sich aber mittels der Übersetzungen „decorated“ und „painted“ (ohne dass Varianz, reine Farbigkeit oder ein spezieller Glanz impliziert ist, wie in den anderen Übersetzungen) der Bogen zur Kostümierung oder Bemalung von Schauspielern schlagen. Was dann eventuell darauf hindeuten könnte, dass der „nicht-dekorierte“ þyle keinen unmittelbaren Bezug zum Schauspiel aufwies, vielleicht sogar nur als allgemeiner exponierter Sprecher ausgewiesen war, und es für den his­ trio der Verkleidung oder Schminke bedurfte. Diese Annahme scheint recht attraktiv, zumal sie sich dann stärker auf einer Linie mit den anderen Vorkommen befindet, die kein unmittelbares Werturteil fällen. Sie ist aber auch recht spekulativ und müsste gegebenenfalls noch weiter untersucht werden. Gegenargumente für einen solchen Ansatz bietet Merritt (1954, S. 148). Einmal mit der – allerdings ebenfalls über mehrere Stationen hinweg gezogenen – Verbindung von fah als Negativum zu einem althochdeutschen Korrespondenzbegriff. Und darüber hinaus mit dem Verweis auf die altenglische Version der Cura Pastoralis, in der histriones mit yfle gliimen übersetzt wird, also eine ähnliche Konstruktion vorliegt wie bei der negativen Bedeutung von fah (Merritt 1954, S. 148; B/T, S. 481 zu gleoman/gliiman/glíman etc.: „glee-man, musician, minstrel, jester, player, buffoon; musicus, cantor, joculator, histrio, scurra, mimus, pantomimus“). 14 Rosier 1962, S. 2. 15 Poole 2010, S. 241. 16 Bjork 1980, S. 136. 17 Bjork 1980, S. 134 ff. 18 Wright 1873, S. 25. 19 B/T, S. 1084.

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

as a scop or gleeman“20 – ein humoristisches Element ist also nicht zwingend vorhanden.21 Hollowell wiederum liest das Morphem hof- als Substantiv („farm(stead), garden, court“) und rückt es unter Bezugnahme auf Belege spätaltenglischer Glossen sowie des nordgermanischen Vokabulars im Rahmen einer abfälligen Beschreibung in die Nähe heidnischer Tempel.22 Es handelt sich bei der kultischen Konnotation von ae. hof allerdings, wie Hollowell selbst anmerkt (und den Beweiswert gerade dieses Kompositums auch für eher gering hält), um Einzelfälle.23 Die absolut überwiegende Zahl der Textbelege für hof als Nomen bewegt sich im semantischen Bereich der nicht mit spezifischer Funktion versehenen Behausung.24 Damit ist es wahrscheinlicher, dass der þyle, wenn hof als Substantiv und nicht als Präposition25 gelesen wird, hier mit einem allgemeinen Gebäude (Haus, Hof oder Halle) verbunden ist, als dass eine religiöse Funktion impliziert wäre. Ungeachtet dieses speziellen Deutungsproblems existieren damit im Ganzen aber zumindest zwei Stellen, an denen þyle – gedeutet als histrio, scurra – einen starken „dramatischen“ Performanzaspekt beinhaltet.26 Ein Aspekt, welcher wiederum zulasten der allgemeinen Relevanz, mithin der Weltwirksamkeit der Äußerungen eines so Bezeichneten geht, denn bei einer solchen Figur liegen jene in einem eng abgeschlossenen Rahmen: dem der mimischen oder humoristischen Darbietung.27

20 Ogilvy/Baker 1984, S. 50. 21 Die Autoren arbeiten dabei zwar mit einer ziemlich frühen Datierung des Beowulf („eighth-century masterpiece“, Ogilvy/Baker 1984, S. 165), in jedem Fall ist es aber ein wichtiger Hinweis, der etwa auch bei Libermans berechtigtem Einwand: „There is no shaking off the evidence of the gloss scurra“ (Liberman 1996, S. 73) bedacht werden sollte. 22 Hollowell 1976, S. 251. 23 Hollowell 1976, S. 251. 24 S. dazu auch B/T, S. 548: „A house, hall, dwelling, building; ædes, domus“. 25 Für eine präpositionale Lesart spräche andererseits die Äquivalenz von lateinischem und altenglischem Präfix dieser Glosse. Ettmüllers Wörterbuch gibt als Entsprechung für ae. of- auch lat. de- an: „a, de, ex“ (Ettmüller 1851, S. 38), und auch bei B/T (S. 728) finden sich Beispiele, in denen de durch of wiedergegeben wird. Poole (2010, S. 241) erklärt das h in diesem Zuge als „mere graph“. Gegen eine solche Deutung als Präposition spräche zwar, dass of- überwiegend Verben präfigiert (s. dazu auch den Überblick in B/T, S. 729) sowie Adjektive, und auch semantisch die gängigen Konnotationen wie Intensivierung, konkrete oder metaphorische Abwärtsbewegung, Erreichen/Ersuchen (B/T, S. 729) eher schwer mit dem Substantiv in Einklang zu bringen sind. Andererseits findet sich auch im lateinischen Text mit descurris die Zusammenschreibung der beiden Worte, welche vielleicht als Indiz dienen kann. 26 Ähnlich, aber unmittelbarer auf den lateinischen Korrespondenzbegriff bezogen, Poole (2010, S. 241): „the þyle must have had something ‚histrionic‘ about him“. Er postuliert darüber hinaus eine mögliche Multifunktionalität (Poole 2010, S. 242), die sich allerdings auch gegensätzlich, nämlich als allgemeine performative Sprecherfunktion, ohne fest spezifizierte (mehrfache) Funktionsbereiche deuten ließe. 27 Von einer Interpretation im Sinne von scop oder gleoman, also einer musikalischen Tätigkeit, wird hier abgesehen, da kein einziger Beleg für þyle auch nur diesbezügliche Indizien enthält. Auf die

Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf 

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Im Gegensatz dazu hat der orator genannte offizielle Sprecher oder Herold eine anders gelagerte performative Kraft: eine Kraft mit durchaus großem Effekt auf Welt und Publikum und als Ausgleich geringerer Relevanz der formalen bzw. dramatischen Ausführung seiner Performanz, woraus weitaus stärkeres soziales Gewicht resultiert.28 Auch im Altenglischen liegt also eine Bedeutungsunschärfe des Begriffs vor, was sich u. a. auch darin niederschlägt, dass B/T offenbar die Notwendigkeit sahen, neben dem üblichen Verweis auf Korrespondenzen in anderen Sprachen29 zusätzlich im Supplement zum Anglo-Saxon Dictionary noch einmal gesondert die Hávamál zu referenzieren (und zwar ausgerechnet die enigmatische Str. 111).30

4.2 Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf Der einzige Beleg von þyle als offensichtliche Funktions- oder Rollenbezeichnung in einem narrativen Text findet sich somit im angelsächsischen Beowulf. Über dessen Bedeutung für die Altanglistik zu schreiben, hieße, Eulen nach Athen  – oder vielleicht eher, Monster nach Heorot  – zu tragen. Das Werk, welches meist als Epos, von Tolkien in seiner bahnbrechenden Vorlesung indes als „heroic-elegiac poem“31 bezeichnet wurde, ist mit seinem sprachlichen, stilistischen, inhaltlichen und durch die digressions selbst strukturellen Reichtum einer der Marksteine der altenglischen Literatur; trotzdem „Engländer“ dort keinerlei Rolle spielen, sondern Handlung und Figuren im nordeuropäischen Raum des heroic age verortet sind. Wie die meisten Belegtexte für den in dieser Arbeit untersuchten Begriff ist auch der Beowulf notorisch schwer zu datieren. Die Zeitspanne für diesbezügliche Versuche erstreckt sich von der Zeit Beda Venerabilis’ bzw. dem 7./8. Jahrhundert bis hin zur allmählichen Annäherung an die normannische Eroberung, also die Zeit kurz nach der Jahrtausendwende. Liuzza stellt in seinem Essay zur Datierung fest: „A sample of some

Frage, ob Unferð im Beowulf eventuell als Hofnarr dargestellt wird, soll zudem in Kürze noch näher eingegangen werden. An dieser Stelle sei allerdings schon einmal angemerkt, dass eine solche Lesart zumindest zweifelhaft ist. 28 Einen wichtigen Punkt spricht Hollowell noch im Rahmen des Eintrags im Liber Scintillarum an: Wenn þyle hier als Übersetzung für einen Sprecher gebraucht wird, der mit Predigten (sermones) in Verbindung steht, also einen Priester oder anderweitig klerikal zu verortenden Charakter, deutet das auf eine Begriffsneutralität hin, welche – wenigstens zum Zeitpunkt der Niederschrift – keinen Zweifel an der religiös-moralischen Eignung der Bezeichnung für den Einsatz im christlichen Kontext lassen durfte (Hollowell 1976, S. 252). Zumindest für diese Zeit und diesen Kulturraum kann einer Interpretation von þyle als „Kultredner“ also eine klare Absage erteilt werden. 29 Hier nur das Altisländische: „[Icel. þulr; cf. þylja to say, chant]“ (B/T, S. 1084). 30 B/T Supplement, S. 731. 31 Tolkien 1936, S. 34.

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works on Beowulf published since 1980 suggests that many scholars avoid the problem of assigning a date to the poem, or present their opinions as a matter of faith rather than evidence“.32 Eine solche Haltung mag man mit einigem Recht als nur bedingt hilfreich ansehen; Renoirs Geständnis: „I readily confess that I should be at a loss to tell when, where, by whom, and under what circumstances this greatest of all earlyGermanic epics was composed“, schließe ich mich gleichwohl an. Etwas euphemistischer formuliert, soll das von Robinson angesprochene Gebot für Datierungsthesen, „minds must remain open“, auch der folgenden Betrachtung ein Grundsatz sein. Dabei scheint mir zwar – auch hier mit Robinson – eine frühere Datierung tendenziell etwas wahrscheinlicher,33 ebenso besteht aber weiterhin Zweifel über deren Letztgültigkeit.34

4.2.1 Close Reading Im Beowulf wird eine Figur am Hofe des König Hroðgars als þyle (bzw. ðyle) bezeichnet, Unferð. Der erste – und wichtigste – Auftritt dieses Charakters erfolgt kurz nach dem Eintritt Beowulfs in die Halle der Dänen, Heorot. Der gautische Held hat eben, nach einer vorhergehenden ersten Vorstellung gegenüber der dänischen Strandwache bei der Ankunft und einer zweiten gegenüber dem königlichen Herold,35 den Dänenherrscher begrüßt und seine Identität sowie den Grund seiner Reise dargelegt, als Unferð das Wort ergreift. Da sich die Einlassungen des þyle in einem deutlich einzugrenzenden Rahmen abspielen, scheint es sinnvoll, die Passage bereits ab Beowulfs eigener Vorstellung in der Halle bis hin zur Auflösung des flyting zu betrachten. 4.2.1.1 Beowulfs Eintritt und Wortwechsel mit Hroðgar Der Held grüßt Hroðgar und identifiziert sich als Higelaces mæg ond magoðegn (Z. 407 f.), der in seiner Jugend bereits viele Großtaten vollbracht (Z. 408 f.) hat.36 Dadurch sind direkt die freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Verbindun-

32 Liuzza 2000, S. 281; dort auch ein Überblick über sein sample. 33 Der Autor listet einige durchaus überzeugende Gründe auf, die eine späte Datierung eher unwahrscheinlich wirken lassen, so etwa die noch existente Alliteration von palatalem und velarem g, fehlender nordischer Einfluss bei Eigennamen und die mangelnde Übereinstimmung der Episoden im Beowulf mit erhaltener altnordischer Dichtung (Robinson 1985, S. 6 f.). Gleichermaßen stellt er aber auch fest: „But these arguments are not probative“, und fordert die erwähnte geistige Offenheit (Robinson 1985, S. 7). 34 Ein Überblick über Manuskript, Hände, Transkriptionen und Datierungsversuche findet sich in Orchard 2003, S. 11 ff. 35 Der Krieger, der später als Wulfgar identifiziert wird, bezeichnet sich selbst als Hroðgares ar ond ombiht, Z. 335 f. 36 Klaeber notiert hier zusätzlich klassische Korrespondenzen: „This proud self-introduction is in line with the best epic usage: Æneid i 378 f.; Odyssey ix 19 f. Finnsb. 25“ (Klaeber, S. 142).

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gen zu den Dänen etabliert: Hroðgar kannte Beowulf als Knabe sowie dessen Vater (Z. 372 ff.).37 Gleichzeitig macht Beowulf dadurch auch einen gewissen Statusanspruch aufgrund von Abkunft und Gefolgschaft geltend. Interessanterweise ist es dann jedoch gerade eine dieser als Legitimation vorgebrachten mærða […] on geogoþe („Jugendheldentaten“), welche bald darauf von Unferð zum Angriff genutzt werden wird. Die anschließend vom Protagonisten berichtete Vorgeschichte seiner Reise stellt gleichzeitig auch eine Retrospektive für das interne und externe Publikum dar.38 Hier führt der Gaute unabhängige Autoritäten an: „meine Leute, die besten, kluge Männer“ (Z. 415 f.),39 welche nicht nur mit ursächlich für die Fahrt sind, sondern ihm zu dieser rieten, „da sie meine Stärke kannten“ (Z. 418). Beowulfs Heldenreise ist also zu einem gewissen Grad extern motiviert; mehr noch, werden hier die Klügsten und Besten der Gauten als unmittelbare Zeugen für Beowulfs heroische Qualitäten und Taten angeführt, welche er zusätzlich direkt mit Beispielen untermauert. Darunter befindet sich auch der Sieg über niceras („Wasserungeheuer“, Z. 421 f.) und damit erneut ein Element, welches im folgenden flyting wieder erscheinen wird. Die externe Motivation des Helden ist hier zudem nicht negativ zu sehen, da sie offensichtlich nicht Widerwillen oder Feigheit geschuldet ist: Was die „besten Männer“ taten, war nicht eggja/ecgan als aggressives Bezweifeln heroischer Attribute,40 sondern læran („lehren“, „vermitteln“, „raten“). Die Reise erfolgt damit nicht als Beweis(-versuch) infrage stehender, sondern als Konsequenz sowie demonstrativer Ausbau bereits evidenter41 Qualitäten und auch infolge einer Art Rationalisierung der Notlage Hroðgars. Es findet sich hier also eine ganz andere Konstellation als

37 Ecgþeow kannte der König, da er diesem, wie später (Z. 457 ff.) noch von ihm angeführt wird, in früheren Jahren wichtigen Beistand geleistet hatte. 38 Genauer gesagt, eine der Retrospektiven, denn bereits im Gespräch mit der Strandwache hat Beo­ wulf seine Absichten, wenn auch kürzer, bekundet. 39 Klaeber deutet diese direkt als die königlichen Berater (Klaeber, S. 136). Sowohl der Erzähler in Z. 202 als auch Beowulf in Z. 416 benutzen die Phrase, was die Darstellung noch prägnanter macht. 40 Zwar heißt es in der Erzählerbeschreibung zu Beginn über den Vorgang auch: hwetton hige(r)ofne (Z. 204), ein eventueller durch hwetton aufkommender Zweifel am Mut des durch snotere ­ceorlas aufgereizten Beowulf wird aber durch das sofort folgende higerofne, welches dem Helden ebendiesen attestiert, wieder entkräftet: Zusammengesetzt aus hige und rof bedeutet, nach Klaeber (S. 356 und S. 388), der Terminus wörtlich „tapfer/berühmt/stark an Geist/Herz/Seele“. Die Parallelen zu Sigurds Betonung des für ihn äußerst positiv konnotierten hugr im Streitgespräch mit Reginn sind augenfällig. Daher wäre hwettan, obwohl auch Synonym zu ecgan (welches im Beowulf nicht belegt ist), hier wohl eher als „anfeuern“, „drängen“ zu lesen. Klaeber übersetzt es dann auch als „urge, incite“ (Klaeber, S. 362) und stimmt somit mit dieser Darstellung des Gauten überein. 41 Hierbei wird davon ausgegangen, dass Beowulf wahrheitsgetreu über die Umstände seiner Reise berichtet und die Anmerkung des Erzählers nach den Siegen Beowulfs, er sei in der Jugend als sleac („antriebslos“) und unfrom („schwächlich/passiv“, Z. 2187 f.) angesehen worden, sich auf eine frühere Zeit bezieht. Etwas später wird dieser Punkt noch einmal aufgegriffen werden.

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etwa in den Aufreizanschuldigungen der eddischen Sigurdlieder, mithin eine deutlich größere Souveränität des Protagonisten. Dementsprechend lässt sich die rationale Entscheidung zur Heldentat aus der Perspektive des Herrscherideals nach Kaske42 – obwohl Beowulf zu diesem Zeitpunkt noch „nur“ Gefolgsmann ist – auch als Beleg bereits vorhandener sapientia betrachten, während die bereits zuvor in Siegen bewiesene und allgemein akzeptierte fortitudo ihre (notwendige) Voraussetzung ist. Einer anderen Darstellung folgt Gwara, dessen ausführliche, detailreiche Untersuchung des heroischen Ideals im Beowulf eine deutlich kritischere Perspektive einnimmt und später noch eingehend besprochen werden wird: Der Held sucht hier Hroðgar mit dem Ziel auf, Ruhm zu gewinnen. Dabei betont Gwara, dass derartige reisende Krieger nicht dieselben strikten sozialen Bindungen besitzen wie die einheimischen, welche direkten Familien- und Stammesbeziehungen unterliegen. Dieser Umstand ermögliche dem fremden Krieger einerseits die gewaltigere Tat, berge aber auch ein großes Risiko: Indem der beschränkende soziale Faktor entfällt, erhält der Krieger weitaus größere Handlungsfreiheit, zum großen Sieg wie zur schrecklichen Niederlage  – oder gar Schandtat.43 Da jedoch der Wunsch, Ruhm zu gewinnen, in einer heroischen Kultur nicht schlechthin einen pejorativen Charakterzug darstellt, und zudem, wie Gwara selbst beschreibt, Herrscher durchaus von solchen reisenden Helden profitierten, kann selbst eine derartige, auf die ruhmvolle Heldentat gerichtete Motivation Beowulfs nicht per se negativ bewertet werden. Zusätzlich beweist, dass Beowulf zur Reise von weisen Männern (mit-)veranlasst werden musste, dass Ruhmgewinn allein keine alles überlagernde Triebkraft sein konnte. Auch in anderer Hinsicht wurde die Darstellung der Vorgeschichte der Reise umsichtig gewählt: Indem Beowulf Autoritäten seines Volkes ins Spiel bringt, erhält der Besuch des Freundessohns Hroðgars eine wesentlich größere Tragweite: Hier hilft nicht mehr einzig das Individuum,44 sondern der vorausgehende Rat zur Hilfe hebt diese in die Sphäre „nationaler“ Politik: Nicht allein Beowulf hilft dem König, sondern „die Gauten“ helfen „den Dänen“, woraus weitaus umfassendere Bande erwachsen als aus rein persönlicher Unterstützung. Nachdem der Held nun diese Zeugnisse seiner Fähigkeiten vorgebracht hat, kommt er zu seinem eigentlichen Anliegen, nämlich, die Halle Heorot allein, das

42 Kaske 1958, S. 423–456. 43 Gwara 2008, S. 76. Genau dies Spannungsfeld zwischen dem vorbildlichen Helden aus der Fremde und dem „gefallenen“ Helden als Negativexemplum macht Gwara als eines der Zentralmotive des Beowulf aus. Ihm zufolge dienen vor allem auch die vielen digressions dem Zweck, die binären Pole zu illustrieren – etwa Sigemund als vorbildhafter allein agierender Held im Gegensatz zu Heremod, der sich an keinerlei Konventionen gebunden fühlt (Gwara 2008, S. 59 ff.). 44 Welches damit auch eine familiäre Schuld begleichen kann, nämlich Hroðgars Einsatz für Beo­ wulfs Vater Ecgþeow in der von jenem verursachten Fehde (Z. 459 ff.), der in Kürze nochmals aufgegriffen werden wird. Dabei muss unklar bleiben, ob Beowulf bereits bei seiner Ankunft von dieser Verpflichtung wusste oder erst durch Hroðgars Bericht davon erfährt.

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heißt, nur zusammen mit seiner Gefolgschaft, zu „reinigen“.45 Dies steht einerseits in direkter Verbindung mit seinem folgenden beot, dem öffentlichen, verpflichtenden Quasi-Gelöbnis zur Tat, welches aus einer emphatischen Beschwörung des eigenen Mutes und der eigenen Kraft heraus geleistet und hier in der Forcierung der individuellen Konfrontation noch gesteigert wird. Andererseits verlangt dies Ansinnen Hroðgar auch weitreichende Zugeständnisse ab: Das Überlassen der Halle, des sozialen Nexus von Reich und Herrschaft, an einen – zugegebenermaßen eindrucksvollen, wie bereits Strandwache und Herold bemerkten46 – Kriegertrupp eines anderen Volkes, stellt eine ebenso gewagte wie symbolbeladene Geste dar. Auch in anderer Hinsicht ist die Symbolik eines solchen Akts beträchtlich, war doch der Letzte, der in Heorot allein walten konnte, wie es ihm gefiel, Grendel – eine weitere Gegenüberstellung von Held und Unhold, hier auf der soziopolitischen Ebene. Hroðgar riskiert an diesem Punkt also nicht nur für den Fall von Beowulfs Niederlage den Herrschersitz und alles damit Verbundene an Besitz wie Funktion, sondern bereits mit der Zustimmung sein Ansehen: Die Übergabe ist der endgültige Ausweis der Machtlosigkeit im Angesicht des Feindes. Dies erfolgt außerdem zu einer Zeit, da er noch unsicher sein muss, zu welcher Art Mann der Sohn Ecgþeows geworden ist, den er nur cnihtwesende („als Knaben“) kannte.47 Oder wie Church es formuliert: „Beowulf’s obscurity to the Danes goes far beyond name, race, and lineage. It embraces his abilities and intentions which must be scrutinized in order to reach a decision about granting his request“.48 Hinzu kommt, dass Beowulf seinen Einsatz bereits vor der Entscheidung Hroðgars weiter erhöht, manifest in seiner Ankündigung, auf Waffen verzichten zu wollen.49 Auch dies demonstriert traditionell heldisches Selbstvertrauen und steigert das zu erwartende Prestige im Siegesfall. Aber gleichermaßen wächst aus der dänischen Perspektive hier das Risiko. Für den König ist das noble Angebot damit gerade zu diesem Zeitpunkt überaus ambivalent. Der Rest von Beowulfs Rede vermittelt seinen Glauben in ein Schicksal, welches Gott unterstellt ist,50 und grimmigen heroischen Humor im farbigen Ausmalen seines

45 fælsian, Z. 432 – die Begriffswahl markiert Kontamination, eine fast schon pathologisch zu nennende Störung der natürlichen Ordnung, und deutet damit auch auf die sozialen und geistigen Implikationen der Grendelangriffe hin. Diese Bezeichnung nimmt der Erzähler nach Beowulfs Sieg wieder auf: gefælsod, Z. 825. 46 Z. 244 ff., besonders Z. 247 ff. über Beowulf sowie Z. 336 ff. 47 Z. 372. S. hierzu auch Church 2000, S. 66, wo das Ungewissheitsmoment unter rhetorischen Gesichtspunkten als analytische Technik („confirmation/refutation“) betrachtet wird. 48 Church 2000, S. 66 f. 49 Das Gelübde wird getätigt, bevor er erkennen kann, dass Klingen dem Widersacher ohnehin nichts anhaben. S. dazu Klaeber, S. 143, zu Z. 435 ff. 50 Die Diskussion religiöser Elemente, so interessant und vielgestaltig, wie sie ist, soll in dieser Arbeit außen vor bleiben. Ich gehe, wie der Großteil der jüngeren Forschung von einem christlichen Autor sowie christlichen Elementen aus, welche kein Superstratum, sondern intendierter und damit essentieller Bestandteil des Ursprungswerkes sind (s. dazu den Überblick in Orchard 2003, S. 130 ff.).

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eigenen Todes. Augenfällig dabei ist die Ikonographie, welche auf ein zentrales Element der Hallenfreuden (seledreamas) zurückgreift: das Gelage, hier auf das Verschlingen reduziert und ins Groteske verzerrt mit einmal mehr Grendel als negativer Folie eines idealen Hallenfürsten. Abschließend gibt der Gaute Anweisungen, wie im Falle des Todes mit seinem Brustpanzer zu verfahren sei, dessen hoher Wert durch gleich zwei Attribute51 bezeugt wird: Erbstück (laf) Hreðels und Wielands Werk (Z. 454 f.). Die Erwähnung dieses Kleinods erfolgt dabei nicht ohne Grund: Während die erste Bezeichnung neben einer Aufwertung durch die generationenübergreifende Bedeutung auch genealogische Funktion hat, sorgt die zweite gleichzeitig für eine Rückbindung des Helden an die mythische Vorzeit; die Rüstung wird damit auch zum sichtbaren Indiz für Beowulfs behauptete Qualitäten – Wielands Schmiedekunst besitzt nicht jeder, noch erhält er sie als Erbstück. Mit einer letzten, topisch-fatalistischen Versicherung der Unkontrollierbarkeit des Schicksals endet Beowulfs Ansprache. Hroðgars Antwort lässt nun, im Ganzen gesehen, die Klugheit des alten Königs ebenso erkennen wie sein Bewusstsein für die Pflicht gegenüber seinen Männern – und deren Pflicht ihm gegenüber –, Gottesfurcht sowie politische Erfahrung in Kombination mit einem nicht zu unterschätzenden Sinn für Subtilität. Dies zeigt sich bereits in den ersten Worten, in denen sich weder expliziter Dank52 noch eine augenblick­liche Antwort auf Beowulfs Ansinnen findet: For gewyrhtum […] ond for arstafum53 habe Beowulf die Dänen aufgesucht – gewyrhtum („vergangene Taten“) bezieht sich dabei nicht etwa auf Beowulf selbst, sondern auf das Verhältnis seines Vaters Ecgþeow zu Hroðgar, wie der König in direkter Folge, und vergleichsweise breit, beschreibt. Diese Ausführlichkeit hat ihren Grund: Dass die von Beowulfs Vater durch einen Totschlag verursachte Fehde mit den Wylfingen, vor welcher er zu den Dänen fliehen musste,

Vor allem der „germanische“ Schicksalsbegriff im altenglischen Text ist, wie Weber (1969, S. 82 ff. und Zusammenfassung S. 155 ff.) zeigte, traditionell christlich fundiert, sieht wyrd als Agenten Gottes und steht damit im Einklang mit Beowulfs Darstellung als ein an einen allgewaltigen Schöpfergott Glaubender – was ihn, wie auch Gwara mit Griffith feststellt (Gwara 2009, S. 68), zum „edlen Heiden“ auf Basis einer noch nicht mit dem Christentum in Kontakt gekommenen Gesellschaft stilisiert (eine hier eher implizite, konventionelle Anwendung der Idee einer „natürlichen Religion“, wie sie sich ähnlich auch in anderen, auch altnordischen Texten, wie z. B. im Snorra-Edda-Prolog findet; dort allerdings sehr explizit). 51 Neben hrægla selest („dem besten der Kleider“, Z. 454). 52 Wohl aber ein einnehmender Empfang als „mein Freund“ (Z. 457). 53 „Aufgrund vergangener Taten und aus Freundlichkeit/Hilfsbereitschaft“ (Z. 454 f.). Wie Klaeber sehr einleuchtend argumentiert, ist das erste for hier also kausal, nicht final zu lesen (Klaeber, S. 145). Auch die Angaben zu gewyrht in B/T (S. 473), wie überhaupt bereits das Nomen selbst als substantiviertes Partizip, legen dies nahe: Alle Belege konnotieren bereits vollbrachte Taten. Selbst wenn man sich dieser Deutung nicht anschließen sollte, for gewyrhtum also als „mit dem Ziel (bevorstehender) Taten“ übersetzte, bliebe Hroðgars folgende Erzählung der Ecgþeow-Fehde-Episode mit ihren politischen und sozialen Folgen davon unberührt.

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von Hroðgar selbst schließlich durch Tributzahlung beigelegt wurde, resultierte in Verpflichtungen Ecgþeows diesem gegenüber, welche auch formal bezeugt wurden: he me aþas swor (Z. 472).54 Gleichzeitig findet sich hier die Erklärung und Bestätigung des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Gauten und Dänen. Ohne Beowulf direkt anzugreifen oder explizit zu korrigieren, stellt Hroðgar also zuallererst die Machtverhältnisse klar. Mag der Held auch als potenzieller Retter, und nach seiner Darstellung aus eigenem/„gautischen“ Antrieb kommen, ist er aus dänischer Sicht bereits in der Pflicht stehend, der Pflicht für das dem Vater gewährte Asyl, die Beilegung der Fehde und für den gezahlten Tribut; der Status des Ankömmlings erfährt hier somit eine schmerzhafte Korrektur.55 Sollte diese Einlassung einen Seitenhieb enthalten haben, wird sie jedoch gleich darauf entschärft, als der König von der Schuld hin zu einem anderen Thema lenkt. Sein emotionaler Zustand angesichts der Angriffe Grendels zeichnet ihn dabei nicht nur als fürsorglichen, gewissenhaften Herrscher, sondern umreißt auch noch einmal die gesamten Dimensionen des Verlustes, den seine Ohnmacht mit sich bringt: Grendel habe ihm hynðo (Z. 475) zugefügt. Dieser Terminus besitzt eine Bedeutungsspanne, welche einen Schaden in mehreren Sphären bezeichnen kann und von Demütigung und Schande (individuell, sozial) über Verletzung (physisch, psychisch) bis hin zu Verlust (allgemein, ökonomisch, politisch, militärisch) reicht.56 Der altenglische Begriff mit seiner semantischen Breite erfasst allerdings besser als alle Übersetzungen die Auswirkungen der Taten des Unholds: persönliche Demütigung, soziale Verletzung und Entmachtung57 sowie militärisch-strategischer Schaden. Wie Beowulf bekräftigt auch Hroðgar seinen Glauben an die Macht Gottes,58 um anschließend zu einer weiteren, persönlicheren Beschreibung überzugehen, hier einer Retrospektive: Der dänische König kontrastiert in der Darstellung seine Gefolgsleute und deren beotas, welche – und dies ist nicht unwichtig – beore druncne (Z. 480)

54 Welcher Art die geschworenen Eide genau sind, bleibt offen. 55 Hume (1975, S. 12) sieht hier eine implizite Pflicht am Werk: „Hrothgar wishes to interpret Beowulf’s arrival as a gesture of thanks, not pity“. Sei es Dank oder Verpflichtung – in jedem Fall mindert die Interpretation des Dänenkönigs zusätzlich ein wenig den Gesichtsverlust, den ein Herrscher in einer heroischen Kultur durch die Mitleidsmotivation eines fremden Kriegers erleiden muss. 56 B/T, S. 582. Die Verfasser des Lexikons entscheiden sich bezüglich dieser Passage für „harm“, was sowohl wörtlich wie auch im übertragenen Sinne gelesen werden kann. 57 Krieger und Halle als pars pro toto des Regenten; man denke auch an die in der Artusliteratur durch Erscheinen des Antagonisten am Hof gestörte Ordnung, die durch die Queste wiederhergestellt werden muss. Im Beowulf findet die Erlösung allerdings nicht als Aventiure(n) in der Außenwelt, sondern direkt als Tat am Hofe statt. 58 Die Aussage God eaþe mæg / þone dolsceadan / dæda getwæfan (Z. 478 f.), also „Gott mag leicht diesen wahnsinnigen Zerstörer der Taten berauben“, ist dabei nicht als Anklage an einen untätigen Gott zu lesen, sondern vielmehr als die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Schicksalsveränderung – edwenden, wenn dies dessen Wille sei (wobei ein hortativer Anteil des mæg wahrscheinlich ist). Gott als Allwalter und Herr über das Schicksal wird nicht angezweifelt, seine Macht ist absolut.

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erfolgten, also unter Alkoholeinfluss, mit der schrecklichen Realität des darauf folgenden Tages nach dem Beutezug des Unholds. Der vorherige Abend, bestimmt von Frohsinn, Bier und stolzen Worten, wird kontrastiert mit dem fahlen Morgen, Entsetzen, Blut und Schweigen. Alkoholgenuss vor dem beot allein ist zwar nicht grundsätzlich negativ zu sehen, hat doch bereits Schücking aufgezeigt, dass Gelage, Rausch und heroisches Gelübde kaum trennbar verbunden sind.59 Dass selbst dabei noch ein gewisses Maß gehalten werden muss, war jedoch, schon aufgrund des sonst drohenden Kontrollverlusts, unumgänglich:60 Der Grat ist schmal, der lauernde Abgrund (physischer oder sozialer Tod) tief. Gerade im Beowulf wird, wie Rosier feststellt, druncen zudem ausschließlich in negativen Kontexten verwendet,61 sodass das Attribut hier bereits durchaus von Interesse ist. Im folgenden flyting wird dann auch exakt diese Phrase, beore druncen, zusammen mit anderen Elementen von Hroðgars Beschreibung wieder auftreten; dann vorgebracht von Beowulf in noch viel stärker abqualifizierendem Kontext in seiner Antwort auf den dänischen Angreifer. Hroðgar zeichnet hier folglich ein recht unschmeichelhaftes und sehr blutiges Bild seiner duguð, die wieder und wieder62 daran scheitert, ihre beotas zu erfüllen. Ein Teil der Schmach des machtlosen Königs wird also weitergegeben.63 Diese trostlose Darstellung beendet die Beschreibungen Hroðgars; und mit der Einladung an Beowulf zum Gelage schließt auch seine Ansprache. Der Gaute ist damit akzeptiert. Gerade in des Königs Rede ist jedoch mindestens ebenso wichtig, was nicht gesagt wurde: Es gab keinerlei Reaktion auf Beowulfs Bitte, die Halle allein verteidigen zu dürfen, weder Entscheidung noch Kommentar.64 Noch ist der Gaute Gast. Nichts anderes. Nicht einmal auf den von Beowulf erhofften und geäußerten Kampf gegen Grendel ist der Herrscher eingegangen und selbst der Gastpokal wird erst später über-

59 Schücking 1934, S. 5 f. 60 Man denke hierbei etwa an die christlichen Warnungen vor dem Rausch (s. etwa Gwara 2008, S. 109 ff.), bis hin zum „Reiher der Vergessenheit“ der Hávamál (Str. 13,1–3). Irvings (1989, S. 40 f.) Darstellung, welcher auf das Trinken bezogene Formulierungen der verzweifelten Situation der Dänen zuschreibt und ihre Kampfuntauglichkeit wie auch Sorglosigkeit gegenüber dem Kampf dem Alkohol anlastet, halte ich dennoch für etwas zu modern, eben weil Trinken per se, v. a. im Kontext des feast, quasi eine Normalsituation darstellt. 61 Rosier 1962, S. 5. 62 ful oft (Z. 480). 63 Wobei diese Schande keinesfalls vergleichbar ist mit der von Beowulfs späterer Gefolgschaft, welche sich dem Kampf gegen den Drachen willentlich entzieht. Im Gegensatz zu den treulosen Gauten, die selbst Wiglafs flammende Rede nicht in die Schlacht treiben konnte, bleiben die dänischen Krieger, ihrem Vorhaben treu, in der Halle und scheitern nur im Kampf selbst. 64 Ähnliche Betrachtungen, allerdings als Basis einer rhetorischen Analyse, auch bei Church 2000, S. 63 ff.

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reicht. In seiner Antwort erweist sich Hroðgar somit als Meister der Diplomatie und der Taktik: Beowulf ist nun willkommen geheißen und in der Pflicht stehend. Ohne Zugeständnisse. Und in jeder anderen Hinsicht noch ungeprüft. Und aus dieser Konstellation heraus kommt es nun zur Konfrontation zwischen dem hero from afar und Unferð, dem þyle Hroðgars. 4.2.1.2 Unferð Die einzelnen Charakteristika der Figur sollen nachfolgend in den entsprechenden Szenen diskutiert werden. Anschaulich dargestellt findet sich die Grundproblematik Unferðs immer noch in Clarkes bereits 1936 aufgestellter Liste:65 1. Why is he ungracious to Beowulf on his arrival when all the rest of the warriors are courteous? 2. Why is this ignored by his fellows and by Hrothgar? 3. Why is he so much respected when he is said to have killed his own kindred? 4. Why does Beowulf accuse him personally of having failed against Grendel? 5. Why does he lend Beowulf his victory weapon Hrunting to use against Grendel’s mother? 6. Why is it unsuccessful?

Wobei für die Zwecke dieser Untersuchung Punkt 6. eine eher geringe Rolle einnimmt, dafür aber andere Fragen ins Spiel kommen, wie etwa die seiner Gesprächspartner und sprachlichen Aktivitäten. Eine Betrachtung der Figur Unferð kommt nicht ohne eine zumindest kurze Erwähnung der onomastischen Problematik aus. Die starke Ambiguität des Charakters führte in der Forschung auf der Suche nach weiteren Rückschlüssen auf dessen Konzeption schon früh zur Frage nach einer möglichen Signifikanz des Namens. Jener wurde im Zuge dessen lange Zeit als „sprechend“, als Signal für Personifizierung interpretiert, auch hier war jedoch keine endgültige Lesart zu erreichen. Allerdings hielt sich lange Zeit die scheinbar naheliegende Deutung als „Unfrieden“ bzw. „Friedensstörer“ („mar-peace“66) oder gar allegorisch als „Discordia“67 – Interpretationen, welche gerade in Anbetracht der Rolle, die die Figur im flyting innehat, stimmig wirken. Das Un-Präfix wurde von der Forschung hauptsächlich als Negativum gelesen, doch auch andere Auslegungen existieren, so verweist etwa Bloomfield auf intensivierendes un- und zusätzlich auf an. húnn („Bär“);68 auch Roberts69 greift diese Lesart wieder

65 Clarke 1936, S. 62. 66 Klaeber 1950, S. 148, auf Basis der Emendation zu Unfrið. 67 Bloomfield 1968. Bloomfields Betrachtungen gründen allerdings auf einem mit 700 AD sehr frühen angenommenen Entstehungsdatum des Beowulf (Bloomfield 1968, S. 73). 68 Bloomfield 1968, S. 69. 69 Roberts 1980, S. 289–292.

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auf. Beide Varianten fanden aber keine der negativen Deutung vergleichbare Verbreitung.70 Der zweite Teil, ferð, wiederum wird gewöhnlich als Variante von frið („Frieden“) per Metathese71 aufgefasst. Robinson72 sowie Roberts73 setzen -ferhð („soul, spirit, mind; […] life“74) statt -frið an. Allerdings notiert Pope,75 dass -ferð als gängiger Bestandteil germanischer Namen regelmäßig mit -frið korrespondiere, nicht mit -ferhð. Eine zusätzliche Hürde stellt beim Namen Unferð dar, dass dieser in den gesamten vier Belegen im Epos durchgängig als Hunferð, also mit anlautendem H, geschrieben wird. Dennoch alliteriert der Name im Text überwiegend mit Vokalen,76 sodass der Großteil der Forschung eine entsprechende Emendation zu „Unferð“ als gerechtfertigt ansah. Die dadurch erzielte Korrespondenz mit dem Vaternamen Ecglaf, welcher

70 Un- als intensivierendes „sehr“ zu lesen, diskutiert auch Boenig (1992), kommt aber zu einem ganz anderen Schluss. Nämlich, dass im Präfix eine Unschärfe bzw. Bivalenz bestehe, in der Spuren („traces“) beider Bedeutungen – der negativen und der intensivierenden – ihre Gültigkeit haben. So agiere Unferð sowohl als Friedensstifter (Schwertgabe) wie auch -störer (Boenig 1992, S. 280; andere Auslegungen von ferð diskutiert er nicht). Ein weiteres Beispiel für diese Ambiguität sei das Schwert Naegling, dessen Schneide mit ungleaw („un-stumpf“, Z. 2564) beschrieben wird: War es in den früheren Kämpfen immer scharf, wird es dennoch gegen den Drachen nicht schneiden (Boenig 1992, S. 279). Diese Unschärfe sei entweder autorintendiert oder aber führe zu einer Bedeutungsaufhebung, „leaving us with an absence, not a presence of meaning“ (Boenig 1992, S. 280). Die Perspektive einer solchen Autorintention ist reizvoll, dennoch wirkt die historische Deutung der Verwendung des Namens Unferð, die in Kürze dargestellt werden soll, für mich überzeugender. Nicht zuletzt scheint fraglich, wie viel derartiger Bedeutungsnuancen, die auf neben dem Namen nur drei möglichen anderen Belegen für solch doppeldeutiges un- im gesamten Text beruhen, bei einer rein auditiven Rezeption wahrgenommen werden können  – oder ob andererseits solche Feinheiten nicht doch eher zu den von Irving (1989, S. 2) zitierten Fällen gehören, die sich erst dem literarisierten, akribischen Leser erschließen. Der Sinn der „absence of meaning“-These Boenigs, die gleichsam unser Unwissen über den Beowulf-Dichter illustrieren soll („an author whose sex we do not know and whose mind recedes from us after perhaps a millenium [sic], through likely scribal interference, and under the shadow of anonymity surely has no ‚intensions‘ we can safely discern. Her/his ideas also comprise a silent trace, Grendellike, hauting our interpretations“ (Boenig 1992, S. 280)), insbesondere deren Nutzen für die literaturwissenschaftliche Diskussion, erschließt sich mir nicht gänzlich. Auch der Autor legt sich explizit nicht fest, welche der beiden Theorien er für die plausiblere hält. 71 Bloomfield 1968, S. 69. 72 Robinson 1993, S. 222. 73 Roberts 1980, S. 291. 74 B/T, S. 282. 75 Pope 1986, S. 184. 76 „[…] in three of its four appearances in the poem, the name Hunferð appears in a primary alliterative position in a line dominated by the alliteration of vowels“ (Vaughan 1976. S. 35). Roberts (1980, S. 291) notiert weiterhin, dass H im Beowulf nicht generell mit Vokalen alliteriert und Robinson (1993, S. 221) nimmt als Ursache eine keltische Schreibgewohnheit an, bei der ein dem u vorgestelltes h dessen vokalische Qualität markiert.

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ebenfalls vokalisch anlautet,77 war ein weiteres Argument für diese Maßnahme. Im modernen Diskurs wie in Übersetzungen hält sich die solchermaßen emendierte Form denn auch bis heute. Ob die phonetische Angleichung jedoch Gültigkeit für eine auf ihrem Resultat basierende Namensausdeutung besitzt – oder eher noch: eine größere Gültigkeit als die in der Handschrift überlieferte Form, ist eine andere Frage. Mittlerweile wurde und wird die Lesart als „Unfrieden“ vielfach in Zweifel gezogen. So argumentiert etwa Vaughan überzeugend, dass die emendierte Form nicht als Grundlage für die semantische Interpretation dienen sollte und stützt seine Aussage auf mehrere zentrale Punkte: Eine Divergenz zwischen Graphem und Phonem sei etwa nicht notwendigerweise auf einen „Fehler“ des Schreibers zurückzuführen, der eine Zusammenführung erfordert; vielmehr hält Vaughan eine Koexistenz beider Varianten durchaus für möglich.78 Wichtiger noch, es existieren diverse Belege  – u. a. in den angelsächsischen Chroniken  – für historische, einheimische Träger des Namens Hunferð79 (auch hier im ganz überwiegenden Fall mit anlautendem H geschrieben), während dies für Unferð nicht der Fall ist.80 Kiernan wiederum stellt zusätzlich fest, beim ersten Auftreten des Namens Hunferð im Beowulf-Manuskript: „the scribe went to special trouble drawing a large, unusually ornate, capital H for it“.81 Von einer versehentlichen Schreibung des Namens mit H kann also kaum ausgegangen werden. Auch gegen die allegorische Deutung wendet sich Vaughan, indem er zu Recht darauf hinweist, dass für derartige Personifikationen Ambiguität

77 S. etwa Liberman 1996, S. 77. Dass eine solche Korrespondenz nicht bei allen Charakteren zwingend notwendig war, lässt sich allerdings bereits an den Namen des epischen Hauptcharakters und seines Vaters erkennen. Im dänischen Stammbaum herrscht eine solche Übereinstimmung im Text indes vor. 78  A trained scribe would treat the orthographic form of a known name with a certain amount of care. His discipline would make him conservative to the extent that he would prefer the accep­ ted written form of the name to any attempted representation of the actual spoken sound. The spoken form of the name Hunferð, then, could have been of foremost concern to the Beowulfpoet, who would alliterate it with vowels and pay little attention to its written form since it was somewhat irrelevant to the sound of the first syllable of the name, and hence to the alliteration. In contrast with this practice, however, the scribe, or his exemplar, would have fixed clearly in his mind the written form of the name. Since the practice of writing is visually oriented and the criteria for correctness are defined in relatively fixed visual forms and not in variable sounds, the scribe would have largely ignored the actual spoken sounds. Because of the fundamentally visual nature of scribal activity one would expect a scribe to be especially careful in treating the initial letters of a word, where a mistake would be most visible. The shape of the form would be changed more radically than if a mistake were made in the middle or the end of a word. Hence, greater care would be exerted to avoid such an obvious mistake. (Vaughan 1977, S. 37 ff.) 79 U. a. ein Bischof von Winchester, Mitte des 8. Jahrhunderts (Vaughan 1977, S. 42). 80 Zwei Ausnahmen macht Vaughan aus, von denen eine allerdings wohl auf einen Fehler des Schreibers zurückgeht (Vaughan 1977, S. 42 f.). 81 Kiernan 2000, S. 203.

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ebenso unzulässig wäre wie eine Veränderung in Verhalten oder Charakter. All dies findet sich jedoch bei der Figur des þyle, wie noch gezeigt werden soll. Nachdem der Name also historisch in der im Beowulf-Manuskript gegebenen Schreibweise belegt ist und die Schreibung das H einmal sogar betont, muss gefragt werden, was als naheliegender einzuschätzen wäre: die Verwendung eines gebräuchlichen Namens ohne spezifische symbolisch-allegorische Aussagekraft,82 welcher ohnehin nur in bestimmten Interpretationen mit dem Charakter der Figur korrespondieren würde, oder die gezielte Schöpfung eines neuen Namens mit einer solchen Kraft, welcher dabei noch zufällig mit einem bereits existenten übereinstimmt und überdies versehentlich oder absichtlich mit einem, zumindest auf den ersten Blick, nicht zum Präfix passenden anlautenden Konsonanten geschrieben wird.83 Die erste Variante und damit Vaughans Darstellung wirkt mir nach Occams Rasiermesser plausibler, auch wenn ein „sprechender Name“ durchaus interessante Theorien ermöglicht (neben der negativen auch etwa die Lesart von un- als „sehr, im Übermaß“,84 welche dem Charakter Unferð heroische Tugenden wie Großmut oder Kühnheit – oder gar Frieden – verleiht85 und damit auch für eine positive(re) Ausdeutung der Figur verwendbar ist). Bei Weitem nicht jeder Name im Beowulf ist ein sprechender, auch wenn solche im Text durchaus existieren (etwa Hygd). Unferðs Namen zähle ich jedoch aus den oben genannten Gründen zu den historisch gängigen, nichtsprechenden, und werde aus diesem Grunde in der weiteren Erörterung nicht mehr darauf eingehen. 4.2.1.3 Das flyting Vielleicht mit das Interessanteste an den Äußerungen des königlichen Gefolgsmanns ist, dass Unferð, entgegen seiner durchgängigen Charakterisierung in dieser Untersuchung, in der einleitenden Beschreibung seines längsten und wichtigsten Auftritts im Beowulf gar nicht als þyle bezeichnet wird – dies erfolgt erst deutlich später. In den Zeilen 499–505 hingegen findet sich eine Lokalisierung, eine Metaphorisierung oder Zusammenfassung der folgenden Verbalattacke als onband beadurune (Z. 501) und eine vergleichsweise ausführliche Darstellung seiner Motivation. Nämlich, dass er nicht ertragen konnte, dass irgendein Mann sich mehr um Heldentaten auf der Mittelerde kümmern sollte als er selbst.86 Beowulfs Ankunft stellt mit dieser Haltung

82 Dazu Bloomfield 1968, S. 69: „Germanic names do not, at least in historic times, have to mean anything“. 83 Neben Robinson erklärt auch Bloomfield dies mit Schreibgewohnheiten zur Kennzeichnung von vokalischem U, er nicht mit keltischen, sondern lateinischen. Weiterhin schlägt er eine Angleichung des ungewohnten Namens an bekannte Konventionen vor (Bloomfield 1968, S. 69). 84 Die überdies auch im Beowulf auftritt, etwa Z. 2564 (Boenig 1992, S. 279). 85 Roberts 1980, S. 290 f. 86 Robinson (1993, S. 221) sieht in der Beschreibung keine situative Motivation, sondern „a charac-

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ganz offensichtlich keinen Grund zur Freude dar und so ist ihm die Reise des Gauten ein „Ärgernis“.87 Allein anhand dieser Beschreibung scheint der folgende Angriff also ausschließlich auf persönlicher Motivation zu beruhen. Dazu enthält die Passage noch eine Crux, und zwar die Frage nach der Grundform und damit Übersetzung des Verbs gehedde (Z. 505), was die genaue Natur der Rivalität etwas verundeutlicht.88 Unferðs beadurune dürfte hier indes kaum konkret als „Rune“, sondern viel eher entweder metaphorisch oder in der alternativen Bedeutung von run, „(secret) consultation, council“,89 zu lesen sein. Dies nicht zuletzt, da die „Kampfrune“ überblickshaft vom Erzähler und nicht etwa konkret von der Figur ins Spiel gebracht wird und so zwar eventuell (sehr) geringe Rückschlüsse auf eine frühere Verbindung von þyle und Runen zuließe, dies aber im Text weder irgendwie thematisiert ist, noch in dieser Form anderweitig verlässlich zu erhärten wäre.90 Plausibler scheint daher die Interpretation als zur Redewendung erstarrtes Bild, wie unter anderem auch Clover,91

terization of the speaker“. Die Begründung lässt allerdings Fragen offen – zwar tritt Unferð in der Tat in Folge als Feigling auf, allerdings bezieht sich dies genau genommen nur auf die Konfrontation mit dem Unhold Grendel. Somit kann nicht als sichergestellt gelten, dass es sich bei Unferð generell um eine feige Persönlichkeit handelt; die Erklärung, dass der þyle, gerade weil er im Fall Grendel heroisch versagt, eifersüchtig darüber wacht, dass kein anderer ihn hier übertrifft, passt vielleicht etwas besser ins Bild, vor allem auch, nachdem Unferð zumindest durch sein Schwert, aber auch durch spätere, positivere Anmerkungen, nicht so negativ gezeichnet ist, wie es zu diesem Zeitpunkt den Anschein hat. Eine konkrete Verbindung der Eifersucht Unferðs mit Weisheitsdichtung zieht darüber hinaus Gwara 2000, S. 109 ff. 87 æfþunc (Z. 502) ist in dieser Form nur zweimal belegt – hier und im altenglischen Liber Scintilla­ rum (Klaeber, S. 150); dazu noch wenige Male als æfþanc, æfþonc v. a. in religiösen Texten (Klaeber, S. 295; B/T, S. 11); Holthausen (1934, S. 9) übersetzt æf- als „ab-“ auch – aber nicht nur – in negativer Konnotation. 88 Gängigerweise emendiert zu gehede, wie auch bei Klaeber (S. 20, S. 354), wird es infolgedessen gehegan zugeordnet und meist übersetzt als „perform, achieve“, also „vollbringen“ oder „erreichen“. Wie Pope (1986) aber darlegt, ist eine solche Bedeutung aufgrund der Beleglage ziemlich fraglich und würde einen Sonderfall darstellen. Er führt das Verb daher, wie schon vor ihm Robinson, auf gehedan (vgl. ne. „heed“, also „‚care for‘, ‚be concerned about‘“ (Pope 1986, 178) – „achten auf“, „sich sorgen um“) zurück. Pope deutet die Aussage dann allerdings nicht als Ausdruck eines Desinteresses Unferðs an Ruhmestaten, wie Robinson es tut, sondern im Gegenteil als Wunsch, selbst in der Motivation die Vormachtstellung zu behalten (Pope 1986, S. 180 f.). Eine Interpretation, der ich mich anschließen möchte. Auch in diesem Fall ist der Streitpunkt für die hiesige Untersuchung jedoch von eher geringer Bedeutung: Beide Auslegungen bilden, die traditionelle wie die von Pope, das Wetteifern um den Erhalt einer heroischen Spitzenposition ab: „The emphasis merely shifts from actual performamce of glorious deeds to a concern for such performance“ (Pope 1986, S. 181). 89 Klaeber, S. 389. 90 Die – wenigen – Belege, in denen ein þulr mit Runen in Verbindung steht, und vor allem auch deren genaue Natur, werden im nächsten Kapitel zu den Hávamál eingehender betrachtet. Als „Entfessler“ von Runen tritt die Figur aber auch dort nicht in Erscheinung. 91 „battle metaphor […] best regarded as a frozen epithet“ (Clover 1980, S. 460).

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Jackson92 und Brady93 feststellen, quasi ähnlich dem deutschen „das Kriegsbeil ausgraben“, oder alternativ eine Deutung als „Kampf-Rat“, also einer Verbindung von Sprache bzw. Wissen und Aggression. Kabell übersetzt dahingehend „er entfesselte die Streitrede“94 und gerade angesichts des folgenden Wortgefechts wirkt diese Lesart sinnig. Zwar stünde sie wegen des ursprünglich verstohlenen, heimlichen Charakters von run (s. dazu beispielsweise auch Æscheres Beschreibung als runwita, Z. 1325) in gewissem Kontrast zur folgenden öffentlichen Performanz im Text. Allerdings findet sich in anderen Komposita mit run- ebenfalls eine Deutung als „Rat“.95 Funktional wäre, wie Donovan anmerkt, darüber hinaus auch eine Interpretation dieser Passage als Markierung für performative Rede möglich.96 Als Letztes eröffnet auch noch B/Ts eigene Übersetzung dieses Ausdrucks interessante Perspektiven: eine Interpretation, welche zwar ebenfalls auf einer nicht schriftbezogenen Bedeutung von run basiert, dabei jedoch das Geheimnis in den Mittelpunkt rückt, nämlich die Übersetzung als „war-secret“,97 welches Unferð enthüllt. Aus dieser Position heraus ließen sich gleich zwei Deutungen ansetzen: einerseits als „Geheimnis, welches im Konflikt Vorteile verschafft“ sowie andererseits als „Geheimnis, welches überhaupt erst zu einem Streit führt“. In der ersten Deutung wäre direkt der Bezug zum Wissensvorsprung des þyle gegeben, den dieser hier für politisch-di­ plomatische Zwecke fruchtbar macht – oder gar zu diesem Zweck erworben hat, wie Libermann meint98 –, während die zweite auf den kombativen Charakter der im Folgenden initiierten Performanz abhebt und gleichzeitig das von Unferð Vorgebrachte als sozialen Konfliktbereich markiert.99 Im Ganzen werden durch diese Einleitung die folgenden Aussagen somit als performativ-provokativ konnotiert und implizieren

92 „probably figurative“ (Jackson 2000, S. 188). 93 „an ancient traditional fomula now (in the poet’s day) meaning no more than ‚he initiated a flyting‘“ (Brady 1980, S. 222). 94 Kabell 1979, S. 31. 95 B/T listen mehrere weitere Zusammensetzungen mit dem Element run auf (B/T, S. 804), darunter zeigt sich nur eine, bei der der Begriff mit größerer Wahrscheinlichkeit als „Rune“ im Sinne von „Zauberzeichen“, „Zauber“ oder „Magie“ interpretiert werden kann (heterun, wörtlich „Hass-run“; B/T, S. 535; dort übersetzt als: „A charm causing hate or evil“). Die Stelle (Rätsel 33 aus dem Exeter Book, Z. 7) ist allerdings recht uneindeutig. Auch hier wäre die Lesart „(Hass, Feindschaft oder Böses verursachendes, bringendes oder aus solchem entstandenes) Geheimnis“ oder ähnlich konnotierter „Rat“ aufgrund der mehrdeutigen Bildsprache und vielleicht auch des direkt anschließenden Verbs sægde („sagte“, Z. 8) nicht völlig unmöglich – Bedeutungen, welche ausnahmslos für die restlichen Belege hygerun (B/T, S. 580), inwitrun (B/T, S. 597), leoþurun (B/T, S. 635), searorun (B/T, S. 853) und wælrun (B/T, S. 1154) anzusetzen sind. 96 Donovan 2009, S. 84. 97 B/T, S. 70. 98 „A þyle must have had a ‚dossier‘ on all heroes and princes. He was as well informed as any Widsith, but, unlike the singer of tales, he needed the knowledge of comparatively recent events, rather than historical parallels, and in this respect he was closer to the skalds“ (Libermann 1996, S. 76). 99 Zur Ambiguität solcher semantisch „offenen“ Komposita, s. Robinson 1985, S. 14 ff.

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allem Anschein nach auch einen deutlichen Wissensvorsprung gegenüber zumindest einem Teil der Anwesenden. Aber zurück zur Position: Unferð sitzt zu Füßen Hroðgars; eine exponierte Platzierung, welche anzeigen kann, dass der dort Befindliche eine gehobene Stellung wie etwa ein offizielles Amt innehat, wie z. B. Jackson darlegt.100 Eine solche Interpretation ist jedoch auch angezweifelt worden,101 wie überhaupt die Meinungen über die Position und deren Bedeutung differieren.102 Das betrifft gleichermaßen eine eventuelle Verbindung mit dem „Thul-Stuhl“ der Hávamál, den Jackson ausführlich in ihre Überlegungen miteinbezieht, die jedoch nicht gänzlich überzeugen können.103

100 Jackson 2000, S. 187. 101 Vgl. Eliason (1963, S. 269): Da der einzige andere Beleg im altenglischen Gedicht The Fortunes of Men (auch The Fates of Men) keine entsprechenden Hinweise auf eine hevorgehobene Position enthalte, werden, so der Autor, die beiden Texte quasi zirkelschlussartig verwendet, um sich jeweils gegenseitig in dieser Darstellung zu stützen. 102 So weist etwa Donovan (2009, S. 78) darauf hin, dass auch die Vorläufer des Hofnarren (als den sie Unferð erachtet) eine thronnahe Position innehatten. Enright (1998, S. 304) hingegen hält sich weniger bei der genauen Position bzw. Haltung auf, sondern merkt vielmehr an, dass sich der þyle an diesem Ort zwischen Fürst und duguð befindet, also auch spatial genau die Mittlerposition einnimmt, die er laut der Interpretation des Autors als quasi-offizieller Sprecher des comitatus innehat. Ähnlich liest sich die  – ansonsten erheblich pessimistischere  – Deutung von Magennis (1995, S. 16): „This brother-killer has an honoured place in the hall, sitting at the feet of Hrothgar (1165–6)“. 103 Jacksons Argumentationslinie, die den Bogen von diesem Stuhl über Hnikarrs Sitzen zu Sigurds Knien im Nornagests þáttr hin zu Unferð als Position des Thuls schlägt (Jackson 2000, S. 184 ff.), operiert hier mit einer odinischen Verbindung, wobei diese für mein Dafürhalten etwas zu gewunden ist und damit zu viele Interpolationen benötigt, als dass sie größere Beweiskraft entfalten könnte: Hnikarr ist Odin und Odin ist (höchstwahrscheinlich) der fimbulþulr, wodurch Nornagests þáttr, Há­ vamál und þulr in seiner Gestalt zusammengeführt werden. Der Ase wird aber weder im Nornagests þáttr noch in den eddischen Sigurdliedern derart bezeichnet und auch nicht in der Vǫlsunga saga, sondern ausschließlich in den Hávamál. Die Sigurdlieder nennen vielmehr einzig Reginn þulr, wie bereits diskutiert, ohne dass – wie Jackson selbst anmerkt (Jackson 2008, S. 186) – dessen anfängliche Lehrfunktion mit dieser Bezeichnung in erkennbarer Verbindung steht. In den Hávamál, und damit überhaupt, findet sich der Terminus fimbulþulr dagegen, wie im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu besprechen sein wird, insgesamt nur zweimal (in einem teilwiederholten Vers durchaus problematischer Natur). Das heißt, es liegen insgesamt nicht so viele Belege für die Bezeichnung vor, als dass ohne Weiteres ein verbreitetes Stereotyp anzunehmen wäre, das bei der Rezeption von Odinsauftritten problemlos vorausgesetzt werden könnte. Überdies tritt gerade der fimbulþulr der Hávamál nicht in Verbindung mit oral tradiertem Wissen auf; ebendas ist aber die Funktion, die Jackson als Verbindung zwischen Hnikarr, Sitz und þulr-Rolle postuliert (Jackson 2008, S. 186 f.). Darüber hinaus ist auch die Sitzposition nicht durchgängig vergleichbar (mal spezielle Sitzgelegenheit an mythischem Ort, mal nur der Platz, kein Sitzmöbel, in weltlicher Fürstennähe) und, wie Eliason (s. oben) anführte, die ihr zugeschriebene Bedeutung möglicherweise zweifelhaft; gemäß Donovan und Enright ließe die Stelle sich zudem auch anderen Professionen zuzuordnen. Vergleichbar wirken somit, wenn überhaupt, Unferðs und Hnikarrs Sitzen zu den Füßen einer Herrscherfigur. Sie gehen dabei unterschiedlichen verbalen Handlungen nach. Und von ihnen wird nur einer explizit und im selben Text als Thul bezeichnet.

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Ich schließe mich in der Lesart deshalb Enrights vorsichtigerem Ansatz104 dahingehend an, dass der Platz Unferðs nahe beim König als signifikanter Statusindikator zu deuten ist, ein spezielles offizielles Amt aber nicht notwendigerweise damit einhergehen muss, sodass eine etwaige Mittlerfunktion sowie die Platzierung selbst auch temporär sein kann. Ebendiese Phrase aus Z. 501, æt fotum sæt frean Scyldinga, findet sich dann auch in der späteren Erstbezeichnung Unferðs als þyle.105 Somit kann diese Passage in Z. 501 durchaus als implizite Beschreibung der Rolle, auf jeden Fall aber als Hinweis auf den Status Unferðs am königlichen Hof verstanden werden. Unferðs Angriff Der þyle beginnt mit einer Frage, von der sehr schnell klar wird, dass sie rhetorisch gemeint ist, indem er den Gast fragt, ob er „jener Beowulf“ sei, welcher die dann folgend beschriebenen Abenteuer unternommen habe: einen Versuch jugendlicher Großtaten, der, so Unferð, vernichtend endete und den jungen Heldenaspiranten als dümmlichen, rationalen Argumenten weder von Freunden noch Anderen zugänglichen und obendrein auch noch schwächlich-erfolglosen Prahlhans deklassiert. Demnach eine Episode, die in den Augen des Angreifers für die Konfrontation Beowulfs mit Grendel nichts Gutes erhoffen lässt, selbst wenn, wie er versetzt, der Gaute in seinen anderen Kämpfen immer erfolgreich war.106 In seiner Ansprache bedient sich der Angreifer zudem einer Sprache „full of the taunting terms of hot heroic competitiveness“, wie Irving es nennt und schlussfolgert: „All this language is couched to stir the quick anger of any proud and touchy rival“107 – was auch ausgesprochen erfolgreich ist.108 Als zusätzliche Stichelei wird der Mut Beowulfs zum bevorstehenden Konflikt noch einmal durch die Wahl von Verb und Konjunktion – kein temporales, sondern ein konditionales „wenn“ – angezweifelt:

104 Enright 1998, S. 304. 105 Swylce þær Unferþ þyle / æt fotum sæt frean Scyldinga (Z. 1165 f.). 106 dohte (Z. 526) von dugan, wörtlich „taugen“, „sich bewähren“, im Sinne erfüllter Erwartungen gerade auch im heroischen Kontext einer Gefolgschaftsschar (duguð). Zur Zweideutigkeit dieses wie auch des gleichartigen Zugeständnisses Beowulfs in seiner Antwort s. Ogilvy/Baker 1984, S. 49: „whether these admissions show fair-mindedness or are the satirist’s device of admitting an opponent’s virtues only to make his faults look darker is a matter of opinion“, sowie die spätere Diskussion in dieser Arbeit. 107 Irving 1989, S. 41. 108 Auch Eliason (1963, S. 267) spricht von „a speech […] that is cunningly and bitingly insulting. […] a masterpiece of invective, demonstrating in both substance and style a practiced skill in the art of ridicule and casting aspersions of a kind any man might resent and an epic hero would have to“.

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Ðonne wene ic to þe

nihtlongne fyrst

[…]

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wyrsan geþingea, gif þu Grendles dearst nean bidan.

(Z. 525–52)109 Es seien also noch schlechtere Ergebnisse zu erwarten, falls Beowulf es (überhaupt/ wirklich) wagt, eine ganze Nacht lang nahe Grendel zu verweilen. Dazu findet sich in dem Angriff ein sorgfältig auf Effekt bedachter Aufbau: Die harmlos scheinende rhetorische Frage, welche gleichzeitig noch einmal traditionell auf die Identität rekurriert,110 leitet über in eine Doppelzuschreibung: Stolz (for wlence, Z. 508) und Dummdreistigkeit bzw. dümmliche Prahlerei (for dolgilpe,111 Z. 509) werden dem Gauten als Motivation unterstellt. Dabei ist wlenco als Terminus im Beowulf ebenso wie das Adjektiv wlonc (vor allem Letzteres) keineswegs durchgängig negativ besetzt, sondern erscheint auch in der Bedeutung „Stolz“ bzw. „stolz“, konnotiert mit Würde, Status und Mut.112 Belege jenseits des Epos lassen für das Nomen zudem Deutungen wie „Ansehen“ oder „Reichtum“ zu, welche sich in der heroischen Kultur allerdings mehr oder weniger bedingen.113 Den Ausdruck rein auf Basis religiöser Schriften und damit negativ zu deuten, wäre daher unangebracht. Auch der Herold Hroðgars,

109 Fettdruck von mir [KRMT]. 110 Clover 1980, S. 460. 111 Dol- lässt sich mit „dumm“ oder „töricht“ übersetzen. B/T (S. 206) lesen es in diesem Zusammenhang als „foolish“, in anderen bieten sie noch „heretical“ und „erring“ als mögliche Übersetzung – vor allem in religiösen Kontexten – an. Auf zweierlei Arten kann gilp übertragen werden, die allerdings beide keine positive Interpretation des hier verwendeten Kompositums erlauben: als „Prahlerei“, also generell negativ konnotiert, aber auch als Synonym zu beot und damit in seiner Grundbedeutung eher neutral (B/T listen folgende Deutungen für das Simplex an sich auf, welches häufig belegt ist: „Glory, ostentation, pride, boasting, arrogance, vain-glory, haughtiness“, B/T, S. 476), wobei bereits die Überzahl negativer Begriffe die vorherrschende Bedeutung illustriert. Deutet man es als „boast(ing)“ bzw. beot, erhält das Substantiv seinen negativen Charakter durch, neben dem Determinans dol-, vor allem auch den Ausgang der Unternehmung – als ein Gelübde, welches nicht eingehalten wurde, offensichtlich nicht eingehalten werden konnte; was sowohl auf Kraft wie auch auf Geist negative Rückschlüsse erlaubt. Eine Übersetzung als „glory“ lassen sowohl Bestimmungswort wie auch Kontext kaum zu: In einer heroischen Gesellschaft wäre „törichter Ruhm“ praktisch ein Oxymoron. Impliziert in dieser Anschuldigung Unferðs ist damit also offensichtlich Selbstüberschätzung oder mangelnde Selbstkontrolle. 112 Klaeber, S. 427: „pride, high spirit, daring“ bzw. „proud, high-spirited, bold“. Allerdings unterscheiden auch B/T (S. 1259) explizit zwischen „pride, high spirit“ und, „in an unfavourable sense“: „pride, arrogance, haughtiness, insolence“. 113 „distinction of various kinds, splendour, pomp, dignity, magnificence, wealth, greatness“ (B/T, S. 1259).

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der selbst als wlonc hæleð bezeichnet wird (Z. 331),114 nimmt an, dass die Gauten for wlence den dänischen König aufsuchen und nicht, weil es ihnen schlecht gehe oder sie gar verbannt seien (Z. 338 f.); die Gegenüberstellung von positiver und negativer Motivation ist hier offensichtlich. Indes tritt mit dem letzten der drei Belege für wlenco im Beowulf ein weniger eindeutig positives Beispiel auf: Im Erzählerkommentar zu den Schätzen, welche Beowulf nach vollbrachter Heldentat erhält, heißt es in einem foreshadowing über Hygelac: […] syþðan he for wlenco fæhðe to Frysum.

hyne wyrd fornam wean ahsode

(Z. 1205–7) Also: „das Schicksal raffte ihn (Hygelac) hinweg, als er for wlenco das Unglück suchte/ heraufbeschwor: eine Fehde den Friesen gegenüber“. Hier ist „aus Stolz“ eine sehr plausible Übersetzung für den Terminus, allerdings lässt sich dieser Stolz kaum als einzig positive Qualität ausmachen, vielmehr scheint hier wenigstens Zweideutigkeit, vielleicht gar erzählerisches Missfallen mitzuschwingen, welches durch die folgende Tragödie bestätigt wird und damit den gesamten Vorgang ins Negative stellt.115 Eine derartige Struktur ähnelt somit deutlich der in Unferðs Attacke, in welcher ein an und für sich ohne Weiteres auch positiv zu deutender Begriff durch Kontext wie Konsequenzen eine negative Interpretation erfahren muss. Weiterhin entspricht der Steigerung der beiden von Unferð verwendeten Ausdrücke auch die zugeordnete Handlung: For wlence erkundeten sie/wagten sie sich in die See (wada cunnedon, Z. 508), aber for dolgilpe riskierten sie ihre Leben im tiefen Wasser (on deop wæter aldrum neþdon, Z. 509 f.). Mag die Unternehmung also anfangs noch – verzeihlicher? – Übermut gewesen sein, wird spätestens der Übertritt ins tiefe Wasser zum Ausweis geistloser Wichtigtuerei.116

114 Wobei die Beschreibung hier doch unterschiedlich gedeutet wird. Im Gegensatz zu Klaeber übersetzt z. B. Chickering hier „haughty noble“ und gleich darauf die angenommenen Beweggründe des gautischen Trupps als „in pride“ (Chickering 1989, S. 69) – die Ambiguität des Begriffs bildet sich also auch in den Übersetzungen ab. 115 Dies auch ungeachtet der Tatsache, dass die Vorstellung „Hochmut kommt vor dem Fall“/„pride before the fall“ im christlichen Mittelalter verbreitet war, man denke nur an die aus der Antike übernommene Vorstellung des Rads der Fortuna. 116 Clark billigt hingegen beiden Ausdrücken keine negative Komponente zu. Selbst dolgilp assoziiert er rein mit Kühnheit („daring deed“), da Wiglaf später über Beowulfs heroische Taten sagen wird, dass jener mehr dollicra dæða vollbrachte als irgendein anderer Mann (Clark 1990, S. 63). Für den Autor liegt der Angriff Unferðs daher rein in Beowulfs scheinbarer Unfähigkeit, sein beot zu erfüllen

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Unferðs Angriff spinnt über diese Einzelheiten hinaus ein Netz an Korrespondenzen, welche den Gauten in schlechterem Licht dastehen lassen: Die Bezeichnung des Abenteuers als sorhfullne sið (Z. 512, „leidvolle Reise“) etwa, von welcher Beowulf sich durch keinerlei Argumente abbringen lässt, gemahnt an Hroðgars kurz zuvor getätigte Äußerung sorh is me to secganne (Z. 473, „es schmerzt mich, zu sagen“), mit der er die erfolglosen Bemühungen seiner Krieger gegen Grendel einleitet; und in der Tat endet auch Beowulfs Unternehmung in der Darstellung des þyle mit Versagen.117

und der daraus erwachsenden Aussicht auf den Ausgang des Grendelkampfs. Diese Perspektive ist nicht unbegründet, mir scheint aber, dass sie die zweideutigeren Stellen, etwa das bereits erwähnte for wlenco bei Hygelacs Tod, außer Acht lässt. Gleiches gilt für die vielfach belegte negative Bedeutung der Wurzel dol-, s. B/T, S. 206 f., welche, mit dem dt. „toll“ verwandt, bei dem Ausdruck dolgilp an das deutsche, ebenfalls ambivalente „tollkühn“ denken lässt, gleichsam eine gewisse Geistlosigkeit bzw. Exzess impliziert. Es lässt sich dabei nicht in Abrede stellen, dass die altenglischen Begriffe mit dieser Wurzel hauptsächlich in religiösen Texten zu finden sind. Auch Frank, die diesen Punkt um einen komparatistischen Aspekt erweitert, sieht hier quasi zwei verschiedene Lexika am Werk: „‚dollic‘, which in Beowulf and Old Norse verse seems to mean ‚bold, ready to risk‘, deteriorates to ‚foolish‘ in homiletic contexts“ (Frank 1986, S. 153). Ein weiterer Beleg im Beowulf bleibt in Clarks Argumentation allerdings unerwähnt: Als dol­ sceaða bezeichnet Hroðgar Grendel (Z. 479) und es ist kaum anzunehmen, dass der Herrscher seiner Nemesis hier heroische Kühnheit unterstellen will. Klaeber übersetzt den Begriff als „mad ravager, desparate foe“ (S. 316), greift also auch den irrationalen, exzessiven Aspekt wieder auf. Dazu zieht Orchard in Zweifel, ob Wiglafs dollicra dæda wirklich so eindeutig positiv zu lesen sind, wie Clark – und auch Robinson – es tun, vielmehr sei hier auch Kritik zu finden (Orchard 2003, S. 262). Seine Übersetzung „audacious (or ‚foolish‘) deeds“ (Orchard 2003, S. 262) zeigt den Grenzbereich des Adjektivs prägnant auf. Angesichts dieser Sachlage halte ich es für problematisch, ohne weitere Belege im Text praktisch einen Sonderfall zu postulieren und lege für meine Untersuchung die verbreitete negative Bedeutung zugrunde. Interessant ist hierbei auch Gwaras erwähnte Untersuchung über die heroische Ambiguität als eines der zentralen Themen im Beowulf (Gwara 2008) – eine Ambiguität, welche sich auch in solchen Begriffen zu manifestieren scheint. In Anlehnung an Franks Erörterung der Ambiguität der Verwendung von mere und sund (Frank 1986) durch den Beowulf-Dichter und Unferð wäre es letztlich auch plausibel, dass Unferð hier bewusst auf die Konnotationsvielfalt zurückgreift, um die Zweischneidigkeit des gefährlich großzügigen Angebots des fremden Kriegers abzubilden. 117 Gwara merkt überdies an, dass dieser Ausdruck im Beowulf ausnahmslos für wahrscheinlich tödlich endende Unterfangen verwendet wird (Gwara 2008, S. 114) – in diesem Fall bezieht sich dies natürlich auf Unferðs Interpretation des Abenteuers und nicht die des Helden. Man muss dem Autor in dieser allgemeinen Interpretation nicht unbedingt folgen: Es gibt insgesamt nur vier Belege für die Kombination (einer davon nicht mit dem Substantiv sið, sondern dem Verb siðian, wobei sich sorhfull dann auf den Akteur, also Grendels Mutter, bezieht, Z. 2119), davon erfolgen gleich zwei im Kontext des Rachezugs der Mutter Grendels (Z. 1278 und Z. 2119). Bei der späteren handelt es sich um eine Wiederaufnahme der Beschreibung durch Beowulf in seiner Erzählung vor Hygelac. Hier wird überdies im Kontext der Erwähnung noch nicht klar, für wen das Unterfangen tödlich ist, womit die Bestimmung relativ allgemein bleibt und auch einfach einen schweren Konflikt implizieren kann. Gerade in Beowulfs Bericht ließe sich überdies auch eine ganz andere Deutung finden: Da dieser Äußerung die Erwähnung des Todes Grendels folgt, könnte sich „unternahm/reiste voll Leid“ (siðode

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Da die beiden abenteuerlustigen Jünglinge dabei auch noch niemandes Rat zugänglich gewesen sein sollen, bildet dies obendrein noch einen gewissen Gegensatz zu Beowulfs anfänglicher Erklärung, ihm sei von weisen Männern dazu geraten worden, Hroðgar aufzusuchen, und zieht dadurch zumindest in Zweifel, wie sehr der Gast letztendlich wirklich willens ist, den Argumenten Anderer Gehör zu schenken. Die Kunstfertigkeit der folgenden Passage, die Beschreibung des Meereswettkampfs118 in der winterkalten, aufgewühlten See mit ihren Meereskenningar und Variationen, wurde bereits von Klaeber betont.119 Unferð fasst hier überblickshaft sieben Tage voll größter Anstrengungen in beeindruckenden Bildern zusammen, um umso abrupter lapidar zu schließen: he þe æt sunde oferflat,  / hæfðe mare mægen (Z. 517 f.). Diese Feststellung, dass Beowulf von Breca im Meer besiegt wurde, da der andere mehr Kraft besaß, ist keineswegs trivial, denn das, woran es dem Verlierer mangelte, mægen, ist auch die zentrale Qualität für den Grendelkampf. Wieder lässt sich hier an zuvor von anderer Seite Geäußertes anschließen: Beowulf selbst verwendete den Begriff zweimal. Das erste Mal als ihm eigenen Wert, der die weisen Männer zum Rat zur Heldenfahrt bewog: Sie kannten mægenes cræft (Z. 418), also Stärke, Umfang oder Fertigkeiten seiner Kraft. Das zweite Mal bezeichnet er damit die erloschene Kampf-, Leibes- oder Lebenskraft des Trupps im Fall einer Niederlage gegen die herrschende Bedrohung Heorots: Grendel werde, so er über Beowulf siege, ebenso furchtlos von den gautischen Männern essen wollen, von mægen Hreðmanna (Z. 445), also der Kraft der Gauten, wie er es oft zuvor mit den Dänen getan habe. Die erste Referenz, also Beowulfs „angeblich“ große Kraft stellt der þyle mit seinem eingeschobenen Fazit infrage und rückt Beowulf damit näher an die zweite Darstellung und damit die namenlose Menge der gautischen Männer, welche das Mahl für den siegreichen Unhold abgeben werden. Unferðs restlicher Bericht des Meeresabenteuers konzentriert sich nun ganz auf den Gewinner. Plastisch wird dargestellt, wie Breca schließlich das Meer verließ und in sein Heimatland zurückkehrte, kombiniert mit einer geradezu panegyrischen Beschreibung, die sich ausschließlich auf Brecas Reichtum, Macht und Beliebtheit

sorhfull) auch auf die Motivation beziehen, also die Trauer um den Sohn. Bei den beiden anderen Fällen handelt es sich um die Beschreibung der Wasserungeheuer bei der Grendelwohnstatt (Z. 1429), welche den Menschen Leid verursachen – auch dies lässt keine direkte Verbindung zum Tod erkennen, wohl aber zu Zwangs- bzw. Notlagen und Gefahr – und eben um Unferðs Beschreibung. Was Unferðs Gebrauch angeht, ist er sicherlich herabsetzend gemeint und Gwaras Vorschlag „a venture that brings sorrow“ (Gwara 2008, S. 114) scheint schlüssig. Ebenfalls möglich wäre vielleicht eine ironisch-aggressive Deutung als „Trauerspiel“/„sorry affair“ bzw. allgemein untertrei­bende Funktion. 118 Mit der Frage, ob es sich bei dem Abenteuer um, so die gängige Interpretation, Schwimmen, oder Rudern handelt, beschäftige ich mich in dieser Arbeit aus Relevanzgründen nicht, halte die bereits erwähnte, gezielte Doppeldeutigkeit, wie Frank (1986) sie beschreibt, aber für überzeugend. 119 Klaeber, S. 150.

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bezieht, um zu schlussfolgern, dass der Gegner, „Beanstans Sohn sein gesamtes beot Dir gegenüber wahrhaftig einlöste“.120 Und da diese Einlösung auf der Niederlage Beowulfs beruhte, welche durch die Lobeshymne auf Breca umso schärfer heraussticht, scheint die Funktion als böses Omen für zukünftige beotas und deren Erfüllungsversuche durch den Gauten geradezu zwingend. Syntaktisch klug ist auch der Einschub über Beowulfs Siege (Z. 526 f.) positioniert, suggeriert dieser doch eine gewisse Ausgewogenheit der Beurteilung, welche jedoch bei genauerer Betrachtung Simulation bleibt: Dadurch, dass dem Zugeständnis die böse Erwartung direkt vorausgeht, der Sprecher sich in keinerlei positiven Details ergeht und unmittelbar darauf seine Zweifel an Beowulfs Mut, Kraft und daher dem glücklichen Ausgang des geplanten Unternehmens äußert, wird der Einschub effektiv neutralisiert. Strukturell offenbart Unferðs Rede auch in weiterer Hinsicht Kunstfertigkeit. Dreifach wechseln retardierende Momente mit Steigerungen und sorgen im Bericht für ein ständiges Ritardando und Accelerando, welches die Aufmerksamkeit der Zuhörer in Beschlag nimmt und dessen Schlusssatz wie ein Paukenschlag wirkt: Die Beschreibung des Unterfangens leitet über in die Anschuldigung, die Spannung des Wettkampfs in den lakonisch-antiklimaktischen Sieg des Gegners, schließlich führt der Breca-Preis zur Prophezeiung der Niederlage als letztem, vernichtendem Höheoder besser Tiefpunkt. Die positiven Charakterzüge bestritten, vergangene Heldentaten negiert und die Fähigkeit zu zukünftigen bezweifelt, steht Beowulf folglich inhaltlich und formal unter gewaltigem Druck, eine solch vielschichtige rhetorische Falle, wie sie Unferð ihm stellte, wieder zu verlassen. Beowulfs Verteidigung Dass der Gaute diese Aufgabe mit Bravour erfüllt, kommt zu diesem Zeitpunkt möglicherweise beinahe überraschend. Gerade wenn man sich die Heldenjugend anderer germanischer Figuren, wie etwa die Sigurds, vor Augen ruft, welcher Weisheit und Eloquenz erst erringen muss, steht Beowulfs Rede umso eindrucksvoller da. Denn an solchen Attributen mangelt es dem Gast nicht: Wie sich schnell zeigt, ist der Sohn Ecgþeows Unferð in jeglicher Hinsicht mehr als gewachsen und stellt bereits in seinem ersten Satz ansehnliche heroische Aggressivität zur Schau, ohne sich lange mit Höflichkeiten aufzuhalten: Zwar nennt er Unferð „mein Freund“ (Z. 530), diese Anrede kann jedoch angesichts von Kontext und auch von Beowulfs folgenden Äußerungen nur schwerlich anders als ironisch, aggressiv oder zumindest gönnerhaft interpretiert werden.121 Gleich drei Punkte spricht der Gaute in dieser ersten Antwort an: die Aus-

120 Beot eal wið þe / sunu Beanstanes / soðe gelæste (Z. 523 f.). 121 Anderer Auffassung ist Clark (1990, S. 63): „Beowulf begins cordially“, was angesichts des weiteren Verlaufs seiner Rede nicht völlig nachvollziehbar ist. Im Rahmen der positiven Interpretationen von Beowulfs Eröffnung wirkte es noch deutlich plausibler, dass Beowulf mit diesem Begriff auf gegen-

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führlichkeit der Darstellung (worn fela, Z. 530), wenn nicht gar Geschwätzigkeit,122 den – angeblichen – Zustand des Sprechers (beore druncen, Z. 531123) sowie die Einseitigkeit (ymb Brecan spræce,  / sægdest from his siðe, Z. 531 f.). Damit ist einer der Grundvorwürfe bereits erfolgt und der der Unzuverlässigkeit retourniert: Unferð  – betrunken und damit ebenso unfähig Maß zu halten wie ausschweifend in der Rede: unglaubwürdig.124 Ein solcher Satz stellt aber nur die Eröffnung dar und in seinen folgenden Äußerungen widerlegt der Held systematisch jeden der Angriffe des þyle: Nachdem vor allem Brecas Perspektive durch Unferð dargestellt worden ist, spricht nun Beowulf aus seiner Sicht, betont die Wahrheit seiner Worte (Soð ic talige, Z. 532125) und seine unvergleichliche Kraft bei der Unternehmung (ic merestrengo  / maran ahte […] ðonne ænig oþer man, Z. 533 f.). Das allein stellt selbstverständlich noch kein valides Argument dar, erweist sich aber bald als Zusammenfassung jener Ereignisse, welche Beowulf nun in noch weitaus größerer Breite als sein Angreifer beschreibt, wobei er wiederum jeden einzelnen Angriffspunkt des Dänen aufnimmt und entkräftet.

seitige Verpflichtungen anspielen könnte, wie sie Gwara für den Freundschaftsbegriff im Kontext des comitatus annimmt (Gwara 2008, S. 111 f.), dem der Protagonist sich hier durch sein Vorhaben annähert, auch wenn der Autor selbst eine sarkastische Lesart vorzieht (Gwara 2008, S. 111). In jedem Fall scheint mir eine rein ernsthaft-freundschaftliche Aussage dennoch zweifelhaft, da die erste Anklage Beowulfs (Trunkenheit) noch im selben Satz und direkt auf das „herzliche“ Ansprechen des Gegners folgt. 122 Noch kritischer sieht es Gwara (2008, S. 110): „an excessive amount“. 123 Dass, wie Orchard (2003, S. 250) anmerkt, der Terminus nicht unbedingt effektive Trunkenheit beschreibt („need not imply […] that Unferð was drunk“), ist aus zwei Gründen weniger maßgeblich für diese Untersuchung: Zum einen, weil der Erzähler später in seiner Beschreibung von Unferðs Worten noch einmal darauf zu sprechen kommt, was auf jeden Fall eine narrative Relevanz des Zustands nahelegt. Und zum anderen, weil es nicht das erste Mal in diesem Werk ist, dass das Zusammenspiel von Alkohol, beot und Erfüllung eine katastrophale oder zumindest tragische Komponente besitzt – man denke an Hroðgars Erzählung über Grendels verheerendes Wüten unter den dänischen Kriegern, die sich in gleichermaßen alkoholisiertem Zustand befanden. Die Bestätigung durch den Autor notiert auch Gwara (2008, S. 109), welcher Robinsons Deutung, dass hier schlicht auf Biergenuss im Rahmen des Gelages Bezug genommen werde, unter Bezugnahme auf Weisheitsdichtung zurückweist. 124 Silber merkt außerdem noch an, dass Beowulf sich in seiner Eröffnung derselben konventionellen aufmerksamkeitsheischenden Formel Hwæt bedient, wie es der Beowulf-Dichter selbst tut; er beweise auch dadurch „his command of oratory in devices that go beyond a simple response“ (Silber 2002, S. 479). Zu einer Kritik der Deutung von Hwaet als reiner Interjektion, s. weiterhin Walkden (2013). Auch aus dieser Perspektive behielten derartige „Hwæt-Sätze“, welche durch das Interrogativpronomen sowie die Wortstellung als Exklamativsätze definiert sind (Walkden 2013, S. 485), jedoch eine gewisse Sonderstellung durch Gebrauch und spezielle emphatische Wirkung bei, was die Grundaussage von Silbers Interpretation zumindest in diesem Punkt stützt: Beowulf bedient sich ungeachtet der grammatikalischen Details derselben rhetorischen Konstruktion wie sein Gegner. 125 Wobei man aus talige sogar eine gewisse Bescheidenheit herauslesen könnte, sagt Beowulf doch genau genommen nicht: „ich spreche die Wahrheit“, sondern: „ich halte es für Wahrheit“, es bleibt also im Bereich des Subjektiven. Auch Klaebers (1905, S. 261) Lesart: „‚I stand up for that opinion of mine …,‘ or ‚I claim it to be a fact‘“, betont, wenn auch nachdrücklicher, das subjektive Element.

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Entsprechend den Konventionen des flyting nach Clover126 besteht die Strategie des Angegriffenen nicht im Abstreiten, sondern vielmehr im Umdeuten der Vorwürfe, häufig in Kombination mit einem teilweisen Eingeständnis einzelner Aspekte.127 So auch hier: Beowulf bestreitet weder das Abenteuer noch den Stolz; seine Verteidigung dem gegenüber formiert sich in seiner Charakterisierung cnihtwesende (Z. 535) sowie wæron begen þa git / on geogoðfeore (Z. 536 f.) – es handelt sich also um eine Jugendsünde.128 Hierbei lässt sich seine Doppelung außerdem direkt auf die zweiteilige, sich steigernde Anklage Unferðs beziehen (Stolz und törichte Prahlerei); dem entspräche auch, dass, korrespondiert die Reihenfolge der Verteidigungen mit der der Vorwürfe, die ambivalentere Beschuldigung for wlence mit nur einem Wort, die stärkere und eindeutigere for dolgilpe aber mit der längeren Erklärung beantwortet wird. In jedem Fall jedoch hat die Variation der Beschreibung Betonungswirkung. Auch andere Punkte stellt der Gaute penibel richtig: Zwar riskierten die zwei Beteiligten ihr Leben, jedoch nicht in einem Wettkampf Mann gegen Mann (oder Knabe gegen Knabe), sondern in einer gemeinsamen Unternehmung, bei welcher die Elemente den Gegner darstellten, also ein in gewissem Grade durchaus soziales heroisches Unterfangen, in dessen Laufe Beowulf noch weitere positive Qualitäten beweisen sollte. Eine erste, und zentrale, beschreibt Clark – die unmittelbare Einlösung eines beot: „That „gebeotedon“ followed by „ond þæt geæfndon swa“ (538; ‚the two of us vowed and performed it exactly‘) returns the painful word to Unferð“.129 Diese Aussage lässt sich auch im Kontext von Beowulfs auf die Verteidigung folgendem Angriff lesen, in dem er den þyle des Maulheldentums bezichtigt. Unterschwellig ist hier somit bereits der Vergleichsmechanismus des mannjafnaðr in Kraft.

126 Clover 1980, S. 447 ff. 127 Clover 1980, S. 452. 128 Gwara (2008, S. 115), der diese Umstände „youthful bravado“ nennt, nimmt an, dass auch die Erwähnung der Schutzwirkung der Rüstung sowie die Formulierung „it was granted“ im Sinne der Bescheidenheit zu deuten sind. Dabei ist anzumerken, dass Beowulf den Ausgang von Kämpfen nicht nur hier Gottes Wirken zurechnet, s. auch seine vorherigen Einlassungen über den Ausgang des zukünftigen Grendelkampfs gegenüber Hroðgar (Z. 440 f.). Interessanterweise fehlen diese Gottesreferenzen übrigens völlig in Beowulfs Bericht an Hygelac später (Z. 2000 ff.). Hier tritt einzig der Gaute selbst als Akteur, Kämpfer und glorioser Sieger in Erscheinung. Es wäre also durchaus denkbar, dass die demonstrativ bescheidene Gottesfurcht zumindest auch Teil einer diplomatischen Strategie des Kriegers in der Fremde ist, während in den vertrauten, sozial sicheren heimatlichen Gefilden die lof-trächtige Selbstinszenierung gefahrlos zur Durchführung gebracht werden kann. Dies stünde wiederum in gewisser Übereinkunft mit Gwaras These der prekären Liminalität des Gastkämpfers (dazu später mehr), welcher dem fremden, gastgebenden Volk Segen, aber auch Fluch zu werden vermag und derer sich Beowulf offenbar sehr bewusst ist. Im zweiten Teil des Werks, seinem großen Rückblick vor dem Drachenkampf, nimmt der alte Beowulf das Motiv des nicht in seiner Entscheidung liegenden Schlachtenausgangs noch einmal auf (Z. 2491). 129 Clark 1990, S. 63 f.

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Das Eingeständnis des Helden bezieht sich also auf die ursprüngliche Charakterisierung des Abenteuers durch Unferð  – der Schwur war stolz und mag töricht gewesen sein, da, so die Umdeutung, er in jugendlichem Übermut oder Leichtsinn geschah, folglich in einem Alter, welches eine längst vergangene (wæron […] þa git) Episode darstellt. Zudem wurde er eingehalten. Scharf korrigiert wird nun allerdings der Ereignisverlauf: Nicht der kompetitive, sondern der kriegerische Aspekt war gemäß Beowulf zentral, die Bedrohung ubiquitär – kondensiert in der Symbolik der blanken Waffe in der Hand zur Verteidigung gegen hronfixas130 –, exemplarisch die Loyalität der beiden Gefährten. Beowulf zeichnet hier anschaulich das Bild zweier jugendlicher Helden. In einem wichtigen Detail markiert der Gaute jedoch bereits an dieser Stelle fast schon subtil seine Vormachtstellung: Während Breca nicht von Beowulf fleatan meahte („fortzuschwimmen131 vermochte“, Z. 542), wolde („wollte“, Z. 543) der Gaute seinen Freund nicht verlassen. Das Verb meahte weist hier also früh auf einen Mangel an mægen seitens Brecas hin, Beowulfs mangelnder Willen, den Freund im Stich zu lassen, deutet hingegen an, dass er es wohl gekonnt hätte.132 Dies ist der erste Angriff auf Unferðs öffentliches Bezweifeln von Beowulfs Stärke. Die Trennung der beiden Knaben erfolgt alsdann nicht willentlich, sondern durch Naturgewalten, in einer Darstellung, welche Unferðs Bild der eisigen See an Prägnanz bei Weitem übertrifft: wado weallende (Z. 546), wedera cealdost (Z. 546), nipende niht (Z. 547), norþanwind heaðogrim ondhwearf (Z. 547 f.), hreo wæron yþa (Z. 548). Brandende, kochende Wogen, das kälteste Wetter, hereinbrechende Nacht, kampfscharfer Nordwind im Gesicht und grausame Wellen: Es ist eine winterliche Form der Hölle, derer es bedarf, um die beiden Gefährten zu trennen.133 Zu diesen elementaren und damit übermenschlichen Gefahren gesellen sich gleich darauf noch Angriffe durch merefixas (Z. 549),134 derer sich Beowulf mit der Waffe erwehren muss. Eine Szene, in

130 Walfische, die durch die von ihnen ausgehende Bedrohung die See (vgl. auch die Meereskenning hronrad, „Walstraße“) einmal mehr als Ort der Gefahr markieren und damit vielleicht sogar bereits in Richtung des späteren Kampfs gegen Grendels Mutter weisen. 131 Auch: „fortzutreiben“ (vgl. ne. „float“). Wie erwähnt, zeigen die Beschreibungen der Bewegung im Wasser auffällige Ambiguität. Für die Grundaussage des Kräfteverhältnisses in dieser Szene ist dies jedoch nicht von Bedeutung. 132 Dazu auch Silber 2002, S. 477: „This both answers Unferð’s charge that Breca defeated Beowulf and counters it with a statement of solicitous regard for his friend on Beowulf’s part“. 133 Church (2000, S. 74 f.) weist hierbei noch auf Beowulfs Nutzung des Superlativs in der Wetterbeschreibung hin, welcher seine eigene Außergewöhnlichkeit weiter herausstreicht. Zusätzlich lässt sich in dieser Beschreibung auch eine Bestätigung und Begründung dafür finden, warum Breca das Ufer, wie Unferð dem Gauten vorwarf, zuerst erreichte – für den þyle Zeichen dessen Sieges, im Kontext von Beowulfs Darstellung aber schon beinahe eines der Schwäche: getrennt und an Land geworfen durch die Kraft der Elemente, zu deren Spielball der Freund, der weniger Starke, schließlich wird. 134 Wörtlich „Meerfische“; friedliche, ungefährliche Arten dürften hier allerdings kaum gemeint sein, wie spätestens die bald folgende Bezeichnung (fah) feondscaða (Z. 554) zeigt – wörtlich: „(übel gesinnter) feindseliger Krieger/Feind“; Klaeber gibt für fah „hostile“ an (S. 327) und für feondscaða

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deren Darstellung er auch erneut und vergleichsweise ausführlich auf seine Rüstung zu sprechen kommt, welche ihm gute Dienste leistet und darin die Vortrefflichkeit des Kämpfers widerspiegelt, der von diesem Erbstück angemessenen Gebrauch macht. Analog zu Unferðs Argumentationsstrategie findet sich damit auch hier ein Rückgriff auf ein früher erwähntes Element, in Beowulfs Fall allerdings bekräftigend; der Verweis auf das prestigeträchtige Erbstück dient als weitere Verifikation seines Status ebenso wie in seinem Lob als Illustration der konkreten Gefahr. Auch der Gaute beherrscht dabei die Agogik seiner Rede: Der eher retardierenden Beschreibung folgt in schnellem Szenenwechsel ein blitzartiger Angriff durch den feondscaða, welcher nach der im Vergleich noch eher knapp und unaufgeregt verlaufenden Trennung von Breca die zweite Zuspitzung darstellt. In diesem Passus finden sich gehäuft Motive und Formeln, welche im weiteren Handlungsverlauf erneut erscheinen werden und damit nicht nur die Kohärenz erhöhen, sondern vor allem auch als foreshadowing gleich mehrerer Episoden des ersten Beowulf-Teils fungieren: Beowulf wird zum Meeresgrund gerissen, wie später auch im Kampf gegen Grendels Mutter (Z. 1506), der Gegner hat ihn grim on grape („hart im Griff“, Z. 555), wie der Gaute später Grendel packen wird135 – was dem Unhold schließlich zum Tode gereicht, aber auch wie Grendels Mutter den Helden umschlingen und erfolglos zu vernichten versuchen wird;136 Beowulfs Sieg, indem er den Feind mit dem Schwert tötet, resultiert daraus, dass ihm die entsprechende Gelegenheit gyfeþe wearð („gegeben wurde“, Z. 555) und nimmt damit Bezug auf die Rolle von Gott und Schicksal als Richter über Sieg und Niederlage, wie es zuvor schon er selbst und auch Hroðgar geäußert hatten und wie es auch in den folgenden zentralen Kämpfen der Fall ist.137 Selbst die oben erwähnte Beschreibung der Rüstung des Protagonisten lässt sich unter diese Verweise einordnen, wird doch vom Motiv einer gegen den Griff des Feindes gute Dienste leistenden Brünne ebenso hier wie im Kampf mit Grendels Mutter (Z. 1501 ff. sowie Z. 1547 ff.) Gebrauch gemacht. Mit diesen Bezügen setzt Beowulf überdies auch in struktureller Hinsicht Unferðs Argumentation etwas entgegen: Wo der þyle mit seinen Verweisen auf Vergangenes und entsprechenden Umdeutungen Beowulf zu delegitimieren versucht, manifestiert sich in dessen Darstellung des Seeabenteuers bereits der künftige Sieg.

„dire foe“ (S. 328). Die böse Gesinnung wird also stark betont; überdies kann feond, wie ne. „fiend“, auch den Teufel bezeichnen (B/T, S. 277). 135 him fæste wiðfeng (Z. 760) sowie on grames grapum (Z. 765). 136 grimman grapum (Z. 1542). 137 Zum Sieg über Grendel sagt der Erzähler: Beowulfe wearð / guðhreð gyfeþe (Z. 819  f.). Zum Kampf über Grendels Mutter: ond halig God / geweold wigsigor; / witig Drihten, / rodera Rædend / hit on ryht gesced / yðelice, / syðþan he eft astod (Z. 1553 ff., „und der heilige Gott / waltete über/bestimmte den Sieg im Kampf  / der weise Herr  / Herrscher der Himmel  / entschied es zurecht  / mühelos,  / als er [Beowulf, KRMT] sich wieder erhob“). Im Anschluss findet der Held das siegbringende ealdsweord eotenisc („das uralte Schwert riesischen Ursprungs“), mit dem er die Widersacherin richtet.

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Diese eindrucksvolle Szenenfolge eines Kampfes Einer gegen Einen fungiert im Anschluss gleichsam als Schablone für die nun folgende Sequenz, in der Beowulf von einer Vielzahl weiterer Feinde angegriffen wird und diese ebenso mit der Klinge besiegt wie den ersten. Weder ist die Situation hier jedoch so ausführlich beschrieben wie zuvor, noch beschwört sie denselben Eindruck der Gefahr herauf. Vielmehr setzt der Gaute sie als ausdrucksstarke Demonstration seiner Kraft ein, welche überdies einmal mehr frühere Elemente referenziert: Das Bankett der Feinde mit Menschenfleisch als Mahl, zuvor im Gespräch mit Hroðgar noch als mögliche grimme Zukunft beschrieben, wird hier von Beowulf abgewendet: Næs hie ðære fylle / gefean hæfdon / […] symbel ymbsæton138 (Z. 562 ff.) – erneut also die Vorausdeutung des Sieges.139 Wie bei Breca in Unferðs Erzählung endet weiterhin auch das Meeresabenteuer des Gauten mit dem lichten Morgen (und dem stereotypen hero on the beach140); allerdings mit einer Beschreibung, die in ihrer farbigen Herausarbeitung von Details wie Licht, Gottesbezug und Landschaftselementen gleichzeitig eine Elaborierung des Szenenbildes gegenüber der eher überblickshaften Endsequenz des þyle darstellt. Seine erschlagenen Feinde geben hier ein unzweifelhaftes Zeugnis der Stärke Beowulfs sowie der beendeten Gefahr. Dabei erhält der Sieg über die Wasserungeheuer durch die Beschreibung der nun größeren Sicherheit für Seefahrer noch eine weitere, soziale Dimension und wird damit von der individuellen Tat hin zum Dienst an der Gemeinschaft transformiert. Schließlich, die Besiegten zu seinen Füßen, erkennt der Held seine Umgebung; das Abenteuer ist am Ende angelangt und damit Zeit für den Sprecher und Protagonisten, auf das Geschehen zurückzublicken: Im gnomischen Spruch (Z. 572 f.), der als unpersönlich-neutrale Aussage die essentielle Stellung des Muts in Situationen der Gefahr betont und dessen Verwendung gleichzeitig die eigene Tapferkeit noch einmal (recht unsubtil) hervorhebt, kulminiert die Beschreibung der Reise.141 Dies wird unmittelbar gefolgt von Beowulfs Siegesbilanz, die, selbst ohne nochmals bekräftigte Einzigartigkeit, die Ereignisse gleich mehrere Stufen über Brecas (angeblichen) Sieg im (angeblichen) Wettstreit erhebt: kein Wettbewerb Mann gegen Mann, sondern gegen die Elemente, gefolgt vom Kampf im winterkalten Meer gegen eine Vielzahl von Gegnern, schließlich der Sieg. Der letzte Satz dieser Erzählsequenz dient als Ausleitung und enthält eine Lokalisation (on Finna land, Z. 580), welche noch einmal auf das Sich-selbst-Erproben gegen die elementare Kraft der See als den ursprünglichen Zweck des Abenteuers zurückkommt

138 „Sie hatten keineswegs Freude an dem Fest, saßen nicht rund zum Gelage“. 139 Ähnlich auch Silver 2002, S. 479: „direct contrast to Hroðgar’s description“, „reversing this grim picture“ (Silver 2000, S. 480). 140 S. Silver 2002, S. 479 f.: „This is a type scene, one done with great elegance and with allusions as well to other battles to come“. 141 Im gesamten Beowulf macht Silber nur 22 Gnomen aus, die hier vorgebrachte zählt sie unter Rückgriff auf Bartlett als eine „among four perfect gnomes“ (Silber 2002, S. 479), was als weiteres Zeichen für die die rhetorischen Qualitäten Beowulfs gelten kann.

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und dabei auch in dieser Hinsicht nachhaltig das Ausmaß der Jugendtaten illustriert. Damit schließt die Passage über das anfangs so verrufene Unterfangen. Und Unferðs Darstellung wurde nach allen Regeln der Kunst entkräftet. All dies macht jedoch nur den einen Teil des flyting aus: Die erfolgreiche Verteidigung überführt Beowulf nun nahtlos in die Offensive, wobei er sich im Folgenden als mit Worten ebenso mächtig wie mit dem Schwert erweisen wird. Bereits die Eröffnung ist eine klassische Umkehrung – die eigenen Heldentaten aus der Verteidigungsphase werden als Angriff eingesetzt, indem die eben beschworenen Qualitäten beim Gegner explizit infrage gestellt oder diesem direkt abgesprochen werden: No ic wiht fram þe secgan hyrde,

swylcra searoniða billa brogan. (Z. 581–3)142

Die typische Vergleichsstruktur, welche sich auch im altnordischen mannjafnaðr findet, ist hierbei also Beowulfs Eröffnungszug. In Folge weitet er diese Abqualifizierung auch kurzzeitig auf Breca aus – aber mit einem nicht unerheblichen Zusatz: Breca næfre git ne gehwæþer incer, dæd gefremede […]

æt heaðolace, swa deorlice fagum sweordum (Z. 583–5)143

Das git lässt also die Möglichkeit einer vergleichbaren Heldentat Brecas in der Zukunft durchaus zu, was sich, gerade im Kontext der folgenden Anwürfe, als Zugeständnis an die Freundschaft mit dem Bronding lesen lässt. Ob dieser Rücksichtnahme nun Weisheit, Gerechtigkeit oder „nur“ das gute Verhältnis mit Breca zugrunde liegt, bleibt ungelöst; sie lässt sich, wenn überhaupt, aber nicht anders als positiv deuten. Beowulfs Attacke

Brudermord(?). Anschließend greift der Gaute jedoch sofort wieder Unferð und kurz

darauf die gesamte Schar der Dänen an. Bemerkenswert auch sein dortiger Einschub:

142 „In keiner Weise hörte ich von Dir von solch klugen/geschickten Kämpfen, Schrecken der Klinge, sagen“. 143 „Breca hat noch niemals im Kampfspiel, noch irgendeiner von euch beiden, eine solch tapfere Tat vollbracht, mit leuchtendem Schwert […]“; Fettdruck von mir [KRMT].

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no ic þæs fela gylpe („ich rühme mich dessen nicht viel“, Z. 586), welcher Bescheidenheit ausdrückt, gleichzeitig aber auch als nachgestellte praeteritio fungiert – immerhin war Beowulfs gesamte Darstellung bis zu diesem Punkt ein einziger gylp seines Abenteuers. Dies lässt sich einmal mehr als Anspielung auf Unferðs Anklagepunkt for dolgilpe144 deuten: Die Heldentaten sind eben keine bodenlose Prahlerei, sondern durchaus rühmenswert – und der Gaute „verzichtet“ sogar darauf (wenn auch nicht so ganz). Nach dem Einwurf geht Beowulf dann zum gezielten Angriff auf seinen Kontrahenten über. Die erste Anschuldigung ist auch gleichzeitig die schwerste – es handelt sich offenbar um Sippen-, ja, Brudermord. Der Gaute betont die Nähe nochmals durch die Variation des Verhältnisses: ðu þinum broðrum  / to banan wurde,  / heafodmæ­ gum („du wurdest Deinen Brüdern zum Töter, den engsten145 Verwandten“, Z. 587 f.), und formuliert damit eines der schwersten Verbrechen, welche in der germanischen Kultur begangen werden konnten.146 Es wirkt daher einigermaßen verwunderlich, dass dies im weiteren Handlungsverlauf kein großes Echo mehr findet. Allerdings ist auch hier die Aussage nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat, und einige Deutungsansätze sollen im Folgenden aufgezeigt werden. Betrachtet man die Passage im Licht intratextueller Parallelen, fällt eine gewisse Ähnlichkeit zur Hreðel-Episode auf (Z. 2435–2443), welche die Problematik bestimmter intrafamiliärer Tötungen beschreibt. Die Vergleichbarkeit ist aber aus gleich zwei Gründen fraglich und auch Klaeber schließt sich einer derartigen Interpretation explizit nicht an:147 Einerseits stehen bei Hreðel vor allem die familien- und seelenzerstörenden Auswirkungen einer solchen Tat im Zentrum, während dieser Punkt bei Unferð keinerlei Erwähnung findet. Tatsächlich wird der Rezipient, und ebenso das textinterne Publikum, zu keinem Zeitpunkt über die näheren Umstände, eventuell weitere Beteiligte und Betroffene von Unferðs Handlung unterrichtet. Andererseits ist der in der Hreðel-Episode beschriebene Tod Herebealds durch Hæðcyn eindeutig ein tragisches Versehen: miste mercelses / on his mæg ofscet ([der Bogenschütze] „verfehlte das Ziel und erschoss seinen Verwandten“, Z. 2439).148 Zwar kann, wie gleich erörtert werden soll, nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass Unferð tatsächlich mit mörderischer Absicht seine Brüder getötet hatte; ein ähnlich tragischer und vor allem plot-essentieller Fehler wie bei Herebealds Tod sollte sich aber vielleicht doch, insbesondere angesichts des flyting-Kontexts, auf die eine oder andere Art in

144 Bei gylp und gilp handelt es sich um Schreibvarianten. 145 Wörtlich „Haupt-“. 146 Feldman 1979, S. 8: „the ultimate taboo“. 147 „That Unferð remained unmolested in spite of the murder, because there can be no ‚feud‘ within one and the same family (cp. 2441 ff.), is scarcely believable“ (Klaeber, S. 149). 148 Die bekannten Parallelen zum Tod Baldrs in der nordischen Mythologie sollen hier nicht ausgeführt werden, da sie für diese Untersuchung unmaßgeblich sind.

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den Äußerungen wiederfinden und sei es auch nur in Form einer Verteidigungsrede Unferðs, so wie Beowulf die Meeresepisode richtigstellt. Ebenso fällt die Abwesenheit des Akteursfehler-Motivs aus struktureller Per­ spektive ins Auge: Gerade in Anbetracht der Tendenzen zu Repetition und Variation von Texten ultimativ mündlichen Ursprungs sollte erwartet werden können, dass bei Szenen und Motiven, welche aus den gleichen zentralen Plotelementen bestehen  – und bei der Hreðel-Episode ist der tragische Faktor hierunter zu rechnen  –, jene auch ansatzweise in beiden Vorkommen auftreten. Und zuletzt deutet gleichfalls ein anderer Erzählerkommentar zu Unferðs Tat, nämlich seine Gnaden- oder auch Ehrlosigkeit beim Schwertspiel gegenüber seinen Verwandten,149 wohl einen etwas weniger neutralen150 Charakter dieser Szene an. All dies zusammengenommen ist es daher unwahrscheinlich, dass bei Unferðs Handeln dieselbe narrative Struktur zugrunde liegt wie bei Herebealds Tod. Eine andere Deutungsmöglichkeit für die Rolle des þyle beim Tod der Brüder wäre die, dass der Vorwurf selbst gar nicht wahrheitsgetreu ist, sondern einzig eine auf höchstmögliche Schlagkraft ausgerichtete Beleidigung des Gauten, welche dem verbalaggressiven Kontext geschuldet ist. Diese Interpretation hat einiges für sich, bedarf allerdings der Differenzierung: Es muss unterschieden werden zwischen „nicht wahrheitsgetreu“ im Sinne einer eindeutigen Lüge und im Sinne der Übertreibung. Eine reine Lüge dürfte kaum wahrscheinlich sein. Nicht nur, dass flyting-Strategien, wie Clover,151 aber auch Parks feststellt,152 sich auf Fakten, auf reale Ereignisse beziehen, diese aber im Lichte bestimmter Aspekte verhandeln bzw. (um-)interpretieren.153 Gerade eingedenk des friedlichen Ausgangs der Konfrontation erweist sich vor allem Feldmans Beobachtung als essentiell: Die, sogar öffentliche, Anschuldigung

149 þeah þe he his magum nære / arfæst at ecga gelacum (Z. 1167 f.). 150 arfæst, wörtlich „ehr-fest“ (und hier durch nære verneint), übersetzen B/T als: „Honourable, honest, upright, virtuous, good, pious, dutiful, gracious, kind, merciful“ (B/T, S. 49). Die drei letzten Begriffe erlauben zumindest auch eine neutrale(re) Deutung der Verneinung, während alle anderen eine dezidiert negative Interpretation nach sich ziehen. Der altenglische Begriff tritt nur einmal im Beowulf auf und Klaeber gibt in seiner Edition ausschließlich die letzten beiden Übersetzungen an (Klaeber, S. 300). Als Erklärung verweist er dabei auf einen Aufsatz (Klaeber 1905), in dem er diese Passage als Beispiel für eine Litotes einstuft und ebenjene bei den Übertragungen postuliert (Klaeber 1905, S. 249: „arfæst is not ‚honorable,‘ ‚upright,‘ (Socin, Wyatt, and others) or ‚promptus ad iuvandum‘ (Grein), but ‚kind‘, ‚merciful‘“), ohne dafür jedoch eine genauere Begründung zu geben. Daher ist zwar denkbar, dass hier eine Litotes vorliegt, mir scheint es aber nicht unproblematisch, ihr allein auf einer solchen Basis gegenüber der wörtlichen Bedeutung den Vorzug zu geben, zumal sich der Erzähler hier auch nicht zum ersten Mal negativ über Unferð äußern würde – man denke nur an dessen Eifersucht, die er bereits bei der Einführung der Figur beschreibt (Z. 503–5). 151 Clover 1980, S. 459. 152 Parks 1986b, S. 446. 153 Clover 1980, S. 458.

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des Brudermordes ist sozialethisch hochgradig aufgeladen – „a false accusation of such dimensions would have drawn blood on Unferð’s part, not silence“.154 Hierbei lässt sich dann etwa an Sinfjǫtlis Konversation mit Guðmundr denken, deren flyting mit sogar einem zweifachen Brudermordvorwurf dem Kampf vorausgeht.155 Denkbar hingegen ist ein Ansatz im Sinne der anderen Interpretation, also der Übertreibung oder Unterschlagung wichtiger Details: Die „Schuld“ Unferðs am Brudertod muss in dieser Lesart nicht notwendigerweise Planung oder auch nur Intention voraussetzen. Zudem bedeutet sie nicht den gezielten Hieb, sondern könnte etwa auch in einer Untätigkeit des þyle gelegen haben, also quasi fehlender Unterstützung,156 welche unter anderem auf Unwillen oder mangelndes Vermögen unterschiedlichen Ursprungs zurückgeführt werden könnte und damit dann beispielsweise den Feigheitsvorwurf Beowulfs stützen würde. Aus diesem Blickwinkel wird Unferð also mittelbar zum „Töter“ bzw. Täter, was der Gegner im flyting selbstverständlich den Konventionen zufolge negativstmöglich auslegt.

154 Feldman 1979, S. 8. 155 Helgaqviða Hundingsbana I Str. 36,7 f., Str. 41,7 f. Und das sogar, ohne dass hier von einer Lüge gesprochen werden kann. Reginns Anstiftung zur Tötung Fáfnirs, andererseits, muss nicht weiter in diesem Kontext erörtert werden, da sich die Figur selbst der Beteiligung bezichtigt. Interessanterweise führt auch Gwara eben die Helgaqviða Hundingsbana I-Episode an; allerdings zum Beweis des Gegenteils, nämlich dass es sich bei den verhandelten Aussagen nur um Halbwahrheiten handele (Gwara 2008, S. 127 f.). Sowohl die Edda-Stelle als auch Gwaras Theorie wird im Folgenden noch eingehender erörtert werden. Weiterhin interessant ist zu den beiden Szenen auch eine Bemerkung Parks’ über deren soziale Verarbeitung: I would argue that a verbal contest that incorporates the possibility that the contestants will kill each other afterwards is a significantly different activity from a verbal contest that does not; and even though both might have gone under the label of ‚flyting,‘ this distinction must have been at least functionally recognized by the societies in which such activities flourished. (Parks 1986b, S. 444) Diese eher rezeptionsorientierte, und einleuchtende, Perspektive steht in gewissem Kontrast zu Clovers Aussage, dass das flyting nicht in Gewalt mündet; ein Punkt, der ebenfalls später noch einmal aufgegriffen werden soll. Gemeinsam ist beiden Ansätzen indes die zugrunde gelegte Differenzierung. 156 Gwara (2008, S. 127 f.) hält Ähnliches für plausibel, wobei ich seiner Ansicht: „Certainly, the best parallel to this alleged ‚murder‘ comes from Beowulf itself where Hæðcyn accidentally ‚murdered‘ his brother Herebeald“ (Gwara 2008, S. 128), aus den kurz zuvor erläuterten Gründen nicht zustimmen würde. Er bezeichnet den gesamten Ausdruck als „simile“ (Gwara 2008, S. 128), was passend ist, allerdings auch offenlässt, inwieweit es sich tatsächlich und für beide Seiten erkennbar um eine bloße Umschreibung handelt – welche somit weniger ernst zu nehmen wäre –, oder aber, ob Beowulf nicht eher bewusst die negative Seite des Vorfalls betont und dahingehend überzeichnet, was wiederum sowohl im Einklang mit Clover als auch mit Gwaras eigener Theorie stehen würde. Auf die Ambiguität des Begriffs bana, welche im Folgenden besprochen wird, geht der Autor gar nicht ein. Gerade hierin liegt meiner Meinung nach jedoch ein wichtiges Detail für die Deutung.

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Ebendiese dritte Interpretation, eine wie auch immer geartete Beteiligung am Brudertod, die scheinbar zum Mord verzerrt wird, dünkt mir, zusammen mit der im Anschluss folgenden, am plausibelsten. Der Ausdruck to banan weorðan, welchen Beowulf gegen Unferð ins Feld führt, findet sich zudem ähnlich auch in den eddischen Sigurdliedern, als in den Fáfnismál der Wurm seinen Überwinder Sigurd warnt, dass diesem das (fluchbeladene) Gold, die Ringe verða […] at bana („zum Töter werden“).157 Auch hier ist keine aktive oder gar vorsätzliche Rolle des Referenzobjekts impliziert, sondern nur die (mittelbare, hier sogar unbelebte) Beteiligung; eine solch halbmetaphorische Lesart ließe sich also aus dieser Perspektive begründen. Zugegebenermaßen besteht allerdings auch hier wieder das Problem der Übertragbarkeit zwischen zwei Sprachen, wobei in diesem Fall immerhin andere Indizien existieren, welche gewisse Korrespondenzen nahelegen: Zwar tritt das altenglische bana überwiegend in der Bedeutung „killer, murderer, manslayer“158 auf; gerade im Beowulf finden sich allerdings gleich zwei Vorkommen, in denen das nicht der Fall ist, die in Richtung der obigen Interpretation weisen und welche B/T wie folgt beschreiben: „Used of a weapon with which death is caused“.159 In beiden Fällen ist mit bana/bona ein Schwert referenziert: Ne wæs ecg bona160 („die Schneide war nicht der Töter“) und Heardrede hildemeceas to bonan wurdon161 („Heardred wurden Kampfschwerter zum Töter“). Gerade der zweite Beleg weist zusätzlich die exakt gleiche Struktur auf wie die Beschuldigung gegenüber Unferð: jemandem to banan weorðan. Klaeber übersetzt diesen Ausdruck schlicht mit „kill“.162 Auch das moderne Englische kennt heute noch den Ausdruck „to be (oder: become) somebody’s bane“ im Sinne von „Verhängnis“, „Todesursache“ oder „Untergang“.163 Somit dürfte eine gewisse Parallele beim Gebrauch gegeben und damit ein Heranziehen der altnordischen Quelle nicht völlig unmöglich sein. Der faktische Kern der Anschuldigung wäre in diesem Fall also, dass Unferð und seine Brüder sich in einer Situation befanden, die in deren Tod mündete, welchen Unferð eventuell – durch Handeln oder auch Nichthandeln – noch hätte abwenden können, was aber nicht geschah. Kabell fasst diese Interpretation wie folgt zusammen:

157 Fáfnismál Str. 9,6. 158 B/T, S. 67 – man beachte hierbei erneut die Unschärfe zwischen dem tabuisierten, justiziablen „murder(er)“ und dem faktisch-pragmatischeren „kill(er)“, welcher aber selbstverständlich ebenso eine Fehde nach sich ziehen kann. Letzterer Terminus wird vor allem als Bezeichnung für den Sieger in einem offenen Kampf verwendet, so etwa für den Drachen bei Beowulfs Tod (Z. 2824); aber auch Hygelac wird innerhalb einer positiven Darstellung nach seinem Sieg über Ongenþeow als dessen bona bezeichnet (Z. 1968). Ein neutraler Gebrauch ist damit also bereits im Beowulf belegt. 159 B/T Supplement, S. 62. 160 B/T Supplement, S. 62. 161 B/T Supplement, S. 62. 162 Klaeber, S. 301. 163 „[…] 2. something that causes death or destruction. […] 4. Archaic. ruin or distress“ (Collins, S 120).

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Die Grundlage des Ganzen, der Vers 587, ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine überspitzte Formulierung, die den Gegner mundtot macht, weil sie sich auf Dinge bezieht, die er wohl nicht erörtert hören möchte, die ihm aber in Wirklichkeit vielleicht nicht ganz ehrenlos dastehen lassen würden. Es ist z. B. gut möglich, dass er seinen Brüdern zu spät zu Hilfe gekommen ist, oder dass seine Brüder gefallen sind, weil sie ihm zu Hilfe kamen.164

Kabells Beschreibung des besiegten Kontrahenten illustriert dabei treffend die Korres­pondenz zwischen physischem und oralem Kampf: Auf der einen Seite verliert der Unterlegene im Waffengang das Leben, auf der anderen endet das Verbalgefecht, in dem „Wörter als Munition“ (Clover) verwendet werden, mit dem „Mund-Tod“. Ebenfalls in diese Kategorie der vorsätzlich faktenreduzierten Darstellung fällt die Strategie, welche Guðmundr im bereits erwähnten flyting mit Sinfjǫtli in der Hel­ gaqviða Hundingsbana I verfolgt: Auch dem Völsungen wird der Brudermord vorgeworfen und in der Tat hatte er eine solche Tat begangen. Dass es sich hierbei aber um Halbbrüder handelte, welche der Beschuldigte nie zuvor gesehen hatte und die von den Völsungen der verfeindeten und verhassten Gattensippe Siggeirs zugerechnet wurden; ferner, dass dies aus Gründen der innerfamiliären Treue und Rachepflicht geschah,165 kommt alles nicht zur Sprache.166 Dabei muss es in der zeitgenössischen Betrachtungsweise durchaus mildernden Einfluss gehabt haben, denn Sinfjǫtlis Bild in der Überlieferung ist das eines zwar sehr hartgesottenen, grimmigen Helden, nicht aber das eines Schurken.

164 Kabell 1979, S. 40. 165 Zudem auch auf direkte Veranlassung der rächenden Mutter Signý, die nach erfolgter Rache in den Tod geht, da ihr nun angesichts dessen, was sie dafür getan habe, keine Möglichkeit zu leben bliebe. Sie nimmt also die Schuld auf sich (Vǫlsunga saga Kap. 8, Ebel 1983, S. 71). 166 Auch Gwara (2008, S. 128) macht eine solche Betrachtung: „But while Sinfjötli’s killings are indeed ‚true facts,‘ they are ameliorated, if not sanctioned, in the context of the most celebrated retaliation in Germanic legend“. Seine Behauptung Guðmundr’s remark, ‚þú hefir…brœðr þínom / at bana orðit‘ accuses Sinfjötli of murdering his (Sinfjötli’s) ‚brothers.‘ In fact, Sinfjötli killed his half-brothers, who are also his nephews (via their incestuous relationship with Signy), and sons of his mortal enemy, Siggeir. […] By these terms, Guðmundr’s accusation obviously capitalizes on a notable ambiguity in the Volsung revenge. (Gwara 2008, S. 128) lässt sich überdies als Paradebeispiel für Clovers „flytings argue interpretations, not facts“ ansehen: Das Faktum des Mordes an den Brüdern wird einerseits in den Kontext von geschworener Feindschaft, früheren Verbrechen und daraus resultierender verwandtschaftlicher Rachepflicht gestellt und dadurch, wenn nicht positiv, so mindestens als lässlich gezeichnet. Andererseits wirft die selektive Konzentration auf die Blutsbande von Täter und Opfern mit der Konnotation der darauf basierenden Tabus das denkbar schlechteste Licht auf den Vorfall. Man könnte vielleicht auch sagen: Die absoluten Kernfakten bilden die Story, die Interpretationen konstruieren auf dieser Basis den Plot.

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Eine solche Möglichkeit der Deutung bestünde also ebenfalls, und auch bei dieser Parallele findet sich einmal mehr die Formulierung verða at bana (Helgaqviða Hundingsbana I Str. 36,8). Der geringstmögliche Kern der Ereignisse müsste somit sein, dass Unferðs Brüder zu Tode kamen und der þyle auf irgendeine Art damit in Verbindung steht – oder gestellt werden kann. Verifizieren lässt sich allerdings auch diese Darstellung nicht. Verfluchung und Ausweitung der Angriffe. Den bereits für sich genommen äußerst schweren Vorwurf steigert der Gaute nun abermals, indem er sowohl Anklage als auch Gerichtsbarkeit durch eine Prophezeiung entweder in unmittelbare soziale oder gar in außerweltlich-überzeitliche Sphären hebt: þæs þu in helle scealt / werhðo dreogan („dafür sollst Du in der Hölle Strafe/Verdammnis erleiden“, Z. 588 f.). Über die endgültige Form der Aussage sind die Meinungen dabei gespalten. Im Gegensatz zur lange gängigen Lesart helle schlug Robinson, durchaus plausibel, eine Emendation zu healle vor. Dabei verwies er darauf, dass die Form helle selbst auf nur einem Beleg beruht, welcher zudem nicht aus dem Originalmanuskript, sondern aus Thorkelins Kopien stammt167 und jener bereits bei seiner eigenen Abschrift auf Pro­ bleme gestoßen war.168 Die beiden Abschriften weisen überdies keine große zeitliche Distanz zueinander, wohl aber eine erhebliche zum Manuskript auf.169 Dazu kommt als letzter Faktor die dem Kopisten Thorkelins anfangs noch unvertraute insulare

167 In Cotton Vitellius A. xv findet sich nur noch „a final -e, which is now covered by the leaf binding“ (Robinson 2000, S. 89; zur paläographischen Problematik der rekonstruktiven Neubindung des Beowulf-Manuskripts nach dem Feuer von 1731 s. Kiernan 2000, S. 206). „Modern editors have inserted the word helle solely on the authority of the Thorkelin transcripts, and these too merit scrutiny“ (Robinson 2000, S. 89). Die gebotene Skepsis lässt sich dadurch begründen, dass nach Robinson offenbar auch der isländische Gelehrte sich damals über die genaue Form des Wortes im Unklaren gewesen sei und erst nachträglich in seine eigene Abschrift (Thorkelin B) helle allem Anschein nach auf Basis der früheren Auftragsabschrift (Thorkelin A) eingefügt habe. Anlass für diese Annahme ist, wie der Autor unter Berufung auf Zupitzas Faksimile anmerkt, dass Tinte und Schriftbild in B bei diesem Wort Unterschiede aufweisen: „we find that the word helle has been inserted ‚on an original blank in another ink‘“ (Robinson 2000, S. 89). 168 „The testimony of Thorkelin’s copyist is not to be treated lightly, of course, and yet this is a peculiarly delicate case. Except for the covered -e, there is no sign of a word helle in the manuscript today, and when Thorkelin examined the manuscript there was not enough there for him to make anything out“ (Robinson 2000, S. 89). 169 Robinson selbst setzte 1974 noch mit Malones Early English Manuscripts in Facsimile „a few months or weeks only“ als Zeitspanne zwischen den beiden Kopien an, verweist aber in der Revision von 2000 auf Kiernans abweichende Schlussfolgerungen (Robinson 2000, S. 89, S. 95). Jener geht für Thorkelin A von frühestens Ende 1786, eher aber Juni 1787 aus (Kiernan 1986, S. 29 f.), während er bei Thorkelin B einen Zeitpunkt in den Jahren 1789–1791, am ehesten im Sommer/Herbst 1789 oder nach April 1790, für wahrscheinlich hält (Kiernan 1986, S. 33). Auch mit einer solchen Datierung liegen die beiden Kopien aber, insbesondere im Vergleich zu Manuskriptalter und damit Transmissionsperiode, noch relativ nahe beieinander.

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Schrift, die zu anderen Fehlern führt als die Abschrift durch einen damit vertrauten Schreiber.170 Eine solche Emendation hat große Auswirkungen auf die Satzaussage wie den Effekt:171 Gemäß Thorkelins Kopie als helle („Hölle“) gelesen, ist das Verbrechen des þyle nicht nur eines, das irdische, sondern auch nachweltliche Strafe nach sich zieht; Unferð mithin ein Täter wider göttliches wie säkulares Recht. Beowulfs Strategie ist bei einer solchen Deutung durchaus interessant, denn er reiht in diesem Fall nicht, wie es im flyting häufig ist, irdischen an irdischen Vorwurf (etwa Feigheit, „weibische“ Natur, Versagen, (passive) Homosexualität, Geiz und Schwäche), sondern weitet vielmehr den Referenzrahmen und damit die Justiziabilität größtmöglich aus, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Dies musste vor allem auch textextern im christlichen Kontext von Autor wie Rezipienten172 eine stärkere Durchschlagskraft besitzen als rein weltliche Sünden.173 Für Letztere mochte unter

170 „One of the chronic errors in A’s transcription is the adding or omitting of letters in a diphthong […] „he writes halle for healle in line 89 […]. He sometimes miswrites the ea diphthong as e, as in bedwa for beadwa (709) and begas for beagas (3105)“ (Robinson 2000, S. 89). 171 Eine alternative Deutung von helle im Sinne des mythologischen nordischen Raums Hel ist dabei im Rahmen der jüngeren, nicht künstlich archaisierenden Forschung kaum begründbar. Den wichtigsten Grund dafür vermerkt Irving: „such specifically pagan places and concepts are no visible part of the poem elsewhere“ (Irving 1989, S. 77). 172 Diese der heidnisch-heroischen Welt des Beowulf moralisch in vielen Punkten entgegengesetzte Kultur wirft unweigerlich die Frage auf, ob die Darstellung der Gesellschaft wie des Protagonisten nicht vielleicht überhaupt negativ zu deuten ist. Hume tritt solch einem Ansatz jedoch überzeugend entgegen: The worlds of harp and hall, of gold-giving, of love between lord and retainer, are too feelingly and attractively rendered to provoke sweeping condemnation. Flawed these joys may be, and insecure, but nonetheless they are real, and within the context of the poem, they are all that stands between man and the outer darkness. (Hume 1975, S. 22) Selbst wenn eine solche negative Interpretation plausibel wäre, würde sie zudem am moralischen Verhältnis von þyle und Beowulf nichts ändern – die Achse würde nur um einen Wert X ins Negative verschoben: Ist Unferð im dänischen Kontext ähnlich positiv zu deuten wie Beowulf, wird er, wie auch sein Kontrahent, unter christlichen Gesichtspunkten negativ erscheinen, wodurch die Gleichstellung erhalten bleibt. Ist Unferð hingegen bereits plotintern dubios bis negativ gezeichnet und damit Beowulf moralisch unterlegen, verschlechtert sich sein Bild dann noch weiter, während es für den Gauten nur die erste Herabsetzung bedeutet; das Verhältnis bzw. in diesem Fall das ethische Gefälle zwischen ihm und dem Helden überdauert also auch hier. 173 Eine Gegenposition nimmt Clover ein (1980, S. 463 f.), welche derartige Drohungen, gerade auch mit Verweis auf altnordische flyting-Ausprägungen, als konventionell bezeichnet. Zu dieser Feststellung passt besonders gut eine weltlichen Lesart von he(a)lle. Bei einem religiösen Gebrauch wäre hingegen überlegenswert, inwieweit dieser in einem Werk plausibel ist, das von einem auffällig religiös-moralischen Moment durchzogen wird, zu welchem eine rein stereotype  – und damit letztlich inhaltsleere  – Verwendung eines solchen Fluches einen gewissen Widerspruch darstel-

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bestimmten Umständen noch die Möglichkeit zur Sühne und damit eine hoffnungsvollere Aussicht auf die Nachwelt bestehen. Eine solchermaßen erweiterte Perspektive steht außerdem im Einklang mit dem hohen Stellenwert, den Gott auch sonst in diesem Werk – und in Beowulfs (und Hroðgars) Ausführungen – einnimmt. Gegen eine derartige Deutung spräche vor allem, dass Beowulf sich hier, als Protagonist natürlicher Religion, eher ungewohnt deutlich „christlich“ äußern würde.174 Irving begründet eine solche Lesart zwar mit „ähnlicher Sprache“ in der Beschreibung des alten heidnischen Fluchs des Drachenschatzes,175 geht aber nicht darauf ein, dass es dort der christliche Erzähler ist, welcher die Aussage tätigt, und nicht der vorchristliche Protagonist. Plausibler gestaltet sich daher Klaebers Anmerkung, welcher für die These der christlichen Hölle auf die Übereinstimmung eines Teils der Formulierung mit Cynewulfs Elene hinweist: Hier tritt ebenfalls werhðo dreogan auf.176 Überdies geschieht dies in einem ähnlichen Kontext – dem einer schändlichen Untat: der Beteiligung der Juden am Tode Christi.177 Andererseits handelt es sich bei diesem Passus Cynewulfs um einen buchstäblich fundamental religiösen Abschnitt, bei welchem in Anbetracht des referenzierten Todes eines göttlichen Religionsstifters dessen Übertragbarkeit auf die Tötung namen- und gestaltloser Brüder durch eine heroische Nebenfigur in einem gleichermaßen heroischen Werk durchaus infrage gestellt werden kann. Zumal, wie Feldman anmerkt, die klassische christlich-frühmittelalterliche Ikonographie der Hölle dem Beowulf gänzlich abgeht.178 Ein gewisser Zweifel gegenüber der Manuskriptlesart

len würde. Für eine tatsächlich religiöse Verdammung, andererseits, zeigt der Angriff eigentlich zu wenig sozialen Widerhall im Text. Nach der Vergleichbarkeit von altnordischer und altenglischer Kultur in diesem Punkt (literarischer Umgang mit religiösen Elementen) wäre hier ebenfalls noch zu fragen. 174 Diese Interpretation wird etwa von Hardy (1969, S. 55–69) abgelehnt und ihr das Modell eines dezidiert christlichen Helden Beowulf (mit Unferð als heidnischem Antagonisten) gegenübergestellt. Allerdings ist die Argumentation nicht durchgängig überzeugend. So etwa, was die Zurückweisung der gängigen Naturreligionstheorie betrifft, bei welcher unter anderem strikt christliche Bedeutungen aus der Elene Cynewulfs direkt auf Beowulf übertragen werden (soðfaest, Hardy 1969, S. 56), ohne die Frage von Kontext und thematischer Kompatibilität auch nur zu streifen. Auch sieht sie Unferð als Antagonisten zu Hroðgar („is already working against his king by opposing the Geatish deliverer“, Hardy 1969, S. 61), was dann allerdings die Frage aufwirft, wieso dies konfliktträchtige Verhalten im Text komplett unkommentiert bleibt – eine Frage, die sich durch die gängigere Interpretation, dass der þyle hier im Auftrag des Königs handelt, problemlos beantworten lässt. 175 Irving 1989 S. 42. 176 Klaeber, S. 151. 177 Green (2001, S. 101) nennt diese Korrespondenz „true but almost superfluous“, ohne dafür weitere Gründe anzugeben. In Anbetracht des höchst unterschiedlichen Stellenwerts der getöteten Figuren sowie der Tatsache, dass es keine erkennbaren Korrespondenzen zwischen ihnen gibt, ist die Bemerkung dennoch nicht unberechtigt. 178 Feldman 1987, S. 172. Sie zieht daraus jedoch einen anderen Schluss, nämlich dass es sich im Beowulf um die pagane Form hel handeln dürfte (Feldman 1987, S. 173), welche sie überdies mit dem

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bleibt also bestehen, auch wenn jene Beowulfs Anklage eine unerwartete Schlagkraft verleihen würde. Vergleichsweise schwächer wird diese Brisanz mit der Emendation zu healle („Halle“): Bei einer solchen Deutung ist nicht die überzeitliche, sondern die weltliche Umgebung referenziert. Dies geschieht entweder allgemein, als zentraler soziokultureller Raum, oder aber in direktem Bezug auf die zeitlich wie örtlich unmittelbare Umgebung, beide Male jedoch mit denselben Prinzipien und Gesetzen. Die Tatanschuldigung per se bleibt ebenfalls gleich. Anders als bei helle sind jedoch die negativen Folgen hier weder geistig noch jenseitig, sondern ausgesprochen säkular – soziale Exklusion. In diesem Fall kann man in der Aussage zusätzlich auch eine Exhortation sehen: Beowulf wendet sich trotz der direkt an seinen Gegner gerichteten Ansprache nicht minder auch an das restliche „Publikum“ in Heorot, an Fürst und Gefolge, und evoziert dabei zusätzlich subtil soziale Konventionen und Erwartungen. Clark nennt die Anklage Beowulfs in diesem Kontext einen ‚Sprechakt‘.179 Mit der „Verdammnis in der Halle“ läge nach Feldman in diesem Fall eine Art retrospektiver Verweis auf die einstigen Folgen von Unferðs Verbrechen vor – das Exil, welches der þyle nun in der Halle Hroðgars verbringe und dort weiterhin an die alte

Homophon hél („calumny“, „false charge“) in Verbindung bringt (Feldman 1987, S. 163). Ihre Theorie, in deren Zentrum das Verhältnis von Grendel zu hel(le) steht, ist interessant, aber in der Herleitung auch etwas problematisch. Dies nicht nur, weil die Autorin für diese Darstellung keine Quelle angibt und die – wenigen – Belege für hél bei B/T sich größtenteils in Gesetzestexten befinden (B/T Supplement, S. 529). Sondern auch, weil Feldman die Grundlagen für diese These der heidnisch-nordischen Mythologie aus Jakob Grimms Deutsche Mythologie von 1878 (Feldman 1987, S. 173) sowie einer mittlerweile überholten Ausgabe der Liederedda bezieht, weiterhin ihre Beobachtungen über manche Aspekte teilweise Fehler aufweisen. Über die mythologischen Flüsse heißt es da etwa (Feldman 1987, S. 164; hier wird auch Bellows’ „Poetic Edda“-Übersetzung von 1936 als Quelle benannt): „[…] as Bellows has noted in the Grimnis­ vol saga [sic] (28) of the Poetic Edda, oaths were similarly sworn by the River Slith in hel“. Bellows schreibt dies aber über den Fluss „Leipt“/Leiptr, bei Slith notiert er nur eine mögliche Namensdeckung mit Str. 36 der Vǫluspá (Bellows 1936, S. 95). Feldman baut über diese Betrachtung in Folge eine Korrespondenz zwischen klassisch-antiker und germanischer Mythologie auf, die teils etwas spekulativ daherkommt, beruht sie doch (vorausgesetzt, „Slith“ ist nur ein Schreibfehler und Leiptr war gemeint) auf der von Bellows notierten Übereinstimmung des Namens mit einem Passus der Helgaqviða Hundingsbana II Str. 29 (in moderneren Ausgaben und auch im EK Str. 31; für eine genauere Erörterung der Deutung von Leiptr als „Blitz“ oder Flussname, s. EK 4, S. 749 f.), wo von gemeinsamen Schwüren Helgis und Dagrs am „leuchtenden Wasser des Leiptr“ die Rede ist. Dass Schwüre zwischen beiden Figuren gewechselt wurden, wird jedoch zuvor im Text der Helgaqviða Hundingsbana II (Prosa nach Str. 24) im Kontext des Schlachtfeldszenarios beim Frekastein beschrieben. Von Hel ist dort nicht die Rede und auch sonst lässt wenig auf eine solche Verortung schließen. 179 Er thematisiert aber nicht weiter das exhortative Potenzial, sondern beschränkt sich auf den Sprecher selbst: „[…] makes Beowulf's words a 'speech act' since the hero's statement itself reproaches Unferth and in the hall“ (Clark 1990, S. 62).

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Schmach erinnert wird.180 Hierin ähnelt die These der Gwaras,181 welcher ebenfalls von einem Exilantenstatus ausgeht. In beiden Fällen entbehrt die Argumentation nicht der Logik und fügt sich auch strukturell ein: Beowulfs anschließendes Loben von Unferðs Verstand liefert aus dieser Perspektive gleichsam die Begründung für die Duldung des þyle in Heorot.182 Eine Bestätigung für das Exil bleibt der altenglische Text gleichwohl schuldig. In jedem Fall gilt jedoch Irvings Beobachtung: „the charge is given special moral emphasis by the prediction of damnation for the crime“183 – und zwar für beide Deutungen von he(a)lle. Es ändert sich nur der zugrunde liegende moralische Rahmen und damit die Stärke des Effekts, nicht jedoch Funktion und Stoßrichtung. Auch in der Rede des Gauten folgt auf die massivste Attacke ein Zugeständnis – hier an Unferðs geistige Fähigkeiten –,184 welches wiederum eine Parallele zu Unferðs positiver Aussage über Beowulfs Kämpferqualitäten darstellt, mit der dieser seine Angriffe abgeschlossen hatte. Selbst die syntaktische Grundkonstruktion stimmt überein: Beide Angreifer verwenden die Phrase „þeah … [Form von dugan]“, was für bewusste Gestaltung spricht, wobei gerade bei Beowulfs Antwort auch ein ironisches Wiederaufgreifen naheliegen dürfte. Das Lob des Helden besitzt unter den

180 Feldman 1987, S. 170. 181 Gwara 2008, S. 75. 182 Feldman 1987, S. 170. 183 Irving 1989, S. 42. Der Autor selbst geht von einer Übersetzung als „Hölle“ aus und sieht in der Formulierung die Absicht des Beowulf-Dichters, „to echo the terms of savage anathema his Christian audience would know best“. 184 þeah þin wit duge, Z. 589; wobei wit weniger die gesamte geistige Verfassung oder gar Seele als vielmehr das reine Bewusstsein oder die intellektuelle Fähigkeit denotiert (s. B/T, S. 1243); gerade eine Eigenschaft wie Mut wird also nicht davon erfasst – hierfür wäre hige/hyge (vgl. erneut auch das altnordische hugr, gerade im Kontext der Regins- und Fáfnismál) oder mod ein passenderer Terminus (s. B/T, S. 579). Robinsons (2000, S. 90) Darstellung, dass Beowulf hier auf Unferðs „deficient wit, hige, and sefa“ verweise, betrachtet, möglicherweise irrtümlich, alle drei auf einen ähnlichen Bereich verweisenden Ausdrücke als Variation derselben Grundvorstellung, ohne jedoch den syntaktischen und strukturellen Aufbau der Passage sowie ganz direkt Beowulfs argumentative Strategie miteinzubeziehen: Unferðs wit „taugt (etwas)“, wird also positiv beurteilt. Dem entgegengestellt werden hingegen unmittelbar die für die momentane Notlage maßgeblicheren hige und sefa, welche, so Beowulfs Angriff, nicht Unferðs eigener Darstellung oder auch Überzeugung entsprechen. – Womit der Gaute dem þyle also neben mangelndem Kampfgeist auch Charakterschwäche bzw. Feigheit und Maulheldentum attestiert – „obwohl dein Geist fähig ist“. Wenn man in der Tat alle drei Ausdrücke nur generell auf den Geist beziehen will, ließe sich hier vielleicht die Differenz zwischen grundsätzlich vorhandenen und angewandten Fähigkeiten ansetzen (Unferð hat das Potenzial für heroische Größe, nutzt es aber nicht (mehr?)); mir scheint aber schon kontextuell naheliegender, dass hier mit wit und hige/sefa unterschiedliche geistige bzw. seelische Bereiche gegenübergestellt und bewertet werden. Irving (1989, S. 40) stellt die These in den Raum, dass mit diesem Lob eventuell auch eine Anspielung auf (einen besonders ausgeklügelten) Verrat im Kontext der Brudertode gemacht wird, verfolgt diese aber nicht weiter.

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zugrunde liegenden Umständen dabei weitaus geringere Relevanz als Unferðs frühere Erwähnung von Beowulfs militärischen Erfolgen: Gegen Grendel bedarf es vielleicht eines Mannes mit wit, dieser wird aber ohne mægen (und Mut) keinen Sieg erringen. Unferðs zentrale Qualität ist damit in dieser Situation kaum mehr als zweitklassig. Nicht zu vernachlässigen bleibt allerdings, dass das Zugeständnis eine der Eigenschaften adressiert, welche mit den möglichen Gebieten der späteren Funktionsbezeichnung Unferðs in unmittelbarer Verbindung steht: Für den kompetenten Umgang mit Worten wie mit Wissen ist wit ebenso unerlässlich wie für den erfolgreichen Krieger mægen. Damit könnte das einzig Positive, das der Held dem dänischen Kontrahenten an diesem Punkt zuerkennt, durchaus als Charakteristikum eines þyle bezeichnet werden. Eine solche Einstufung wirft im Gegenzug aber die Frage auf, ob die geäußerte Anerkennung durch diese Tatsache nicht sogar noch weiter entwertet wird, da hierbei dann quasi auf eine Binsenweisheit zurückgegriffen wird – vergleichbar dem Loben der Größe eines Riesen. Weiter ins Detail gehend lässt sich noch konstatieren, dass Beowulf im Zugeständnis als gesamter Mann „im Kampf taugte“, beim þyle jedoch nur der „Witz taugt“, der Gaute also umfassend positiv charakterisiert wird, während beim Dänen ein separater Aspekt im Mittelpunkt steht, der im dortigen kämpferischen Kontext, wie erwähnt, eine untergeordnete Rolle spielt. Ein wenig erinnert diese rein intellektuelle Vortrefflichkeit an die Situation des dänischen Königs Hroðgar, der ebenfalls nicht (mehr) im Kampf brillieren kann. Allerdings mit zwei markanten Unterschieden: Der Herrscher ist hochbetagt, hat die militärisch aktive Phase schlichtweg hinter sich, sodass ihm nur noch der Geist bleibt. Als König verfügt er zudem über seine duguð, welche er vielleicht nicht mehr selbst in den Kampf führt, die aber als sein verlängerter Arm fungiert und in der sich damit nicht nur symbolisch seine Kampfkraft äußert.185 Zuletzt handelt es sich bei Hroðgars Zustand um einen des Verlustes, während bei Unferð an diesem Punkt unklar ist, ob der þyle überhaupt jemals vergleichbaren Mut besessen hatte. Mit der Konzession an seinen Gegner beendet der Held den allgemeineren Teil seiner Offensive und geht nun, wie auch vorher sein Widersacher nach dessen Lob, zum Konflikt zwischen Grendel und den Dänen über. Im Gegensatz zum þyle liegt Beowulfs Schwerpunkt hierbei allerdings nicht auf der Erwartung zukünftiger, sondern auf der Aussage vergangener Konflikte; auch hier erwartungsgemäß zuungunsten Unferðs.

185 Dass diese Perspektive auch eine gegensätzliche Deutung eröffnet, ist mir bewusst. In der Tat war die Frage, ob Hroðgars Schwäche – oder eher noch seine fortgesetzte Herrschaft, obwohl er die kriegerischen Funktionen offensichtlich nicht mehr ausfüllen konnte – einer der v. a. in der frühen Forschung intensiv geführten Diskurse, nicht selten im Kontext eines eventuellen Sakralkönigtums. Jedoch befindet sich diese Frage und ihre Antwort auch für sich genommen außerhalb des Rahmens dieser Arbeit: Sollte Hroðgar in der Tat durch die alleinig verbliebene geistige Macht negativ gezeichnet werden, stellte diese Tatsache auch auf Unferð bezogen eine (bzw. eine weitere) Abqualifizierung dar, die in Anbetracht des Kontexts nicht groß ins Gewicht fällt.

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Dieser neue Abschnitt wird von einer abermaligen topischen Betonung der Wahrheit seiner Worte begleitet, welche die direkte Anrede des Kontrahenten einleitet: Secge ic þe to soðe, / sunu Ecglafes (Z. 590). Damit eröffnet sie die eigentliche Attacke, und nunmehr wird der þyle der Selbstüberschätzung und des Großmäuligkeit bezichtigt: gif þin hige wære / sefa swa searogrim / swa þu self talast186 („wenn Dein hige (so) wäre, der Geist so kampfgrimmig, wie Du selbst behauptest“, Z. 593 f.) – dann hätte Grendel niemals so unter den Dänen heeren können. Diese Aussage enthält, genauer betrachtet, eine gleich dreifache Anklage: Die ersten beiden Punkte sind offensichtlich: Maulheldentum und die Mitschuld an Grendels Morden in Heorot durch Unterlassung. Die dritte ist etwas versteckter, birgt aber nicht unerheblichen sozialen Sprengstoff: Beowulf bezeichnet Grendels Taten in der Halle der Dänen als hynðo on Heorote (Z. 593) und nimmt damit wörtlich eine Phrase auf, welche bereits Hroðgar verwendet hatte (Z. 475), wobei hynðo, wie schon zuvor erwähnt, verschiedene Dimensionen der Schmach denotiert, welche dem König in toto zugefügt werden. Dabei wird der somit zweifach Geschädigte durch den Gauten nochmals ostentativ in seinen Funktionen als Betroffener und Zentralobjekt der Loyalitätspflicht, als „Dein(em) Herrscher“ (ealdre þinum, Z. 592) gezeichnet. Auch dies ist also Unferðs Schuld, der seinen Worten nicht die nötigen und gebotenen Taten folgen lässt: Verletzung der Treuepflicht. Das von Unferð gebrauchte dolgilp böte sich gleichfalls als Erklärung an; hier quasi in umgekehrter Form: dummes Prahlen, also leere beotas, ohne auch nur den Versuch der Taten, welche die Gefolgschaftstreue in diesem Kontext verlangt. Letztlich ließe sich sogar mittelbar noch eine weitere Anklageschicht ausmachen, denn hynðo on Heorote war es auch, das einem (fremden) Mann zu berichten Hroðgar, wie der König klagte, weiteres Leid bereitete (Z. 473). Leid, an dem der þyle durch seine Untätigkeit somit ebenfalls Anteil hat. Damit hat Unferð in Beowulfs Darstellung auf ganzer Linie heroisch versagt: Ihm fehlen Mut, Stärke, die Aufrichtigkeit und Loyalität, seinen Worten Taten folgen zu lassen (selbst wenn dies wie bei anderen Gefolgsleuten Hroðgars zum Tode führen sollte) und damit Pflichtgefühl sowie die Fähigkeit, Schaden um jeden Preis von Fürst und Halle abzuwenden, darüber hinaus die grundsätzliche soziale Intelligenz – im heroischen Weltbild die Ehrenhaftigkeit –, welche einen Menschen vom Sippenmord abhält. Selbst dies scheint dem Gauten jedoch noch nicht zu genügen: Seine abschließenden Worte lesen sich geradezu wie ein finales Crescendo dänischen Versagens. Nicht länger ist es nur der þyle, den Beowulf hier kritisiert, sondern in der Ausweitung der Vorwürfe steht nun die gesamte Gefolgschaft unter verbalem Beschuss (Z. 595–601):

186 talast, wörtlich „(dich) rechnest/zählst“, wobei Klaeber hier nicht nur eine übersteigerte Selbsteinschätzung, sondern sogar („claim, maintain“, Klaeber, S. 407) eine Behauptung, also öffentliche Handlung, ansetzt. Vgl. hier aber auch die Anmerkung zu Beowulfs Soð ic talige zuvor.

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die Dänen, deren Feindschaft man nicht fürchten muss. Die „Sieg-Scyldinge“ – selten wirkte ein alliteratives Präfix so ironisch wie hier –, die dem Unhold erzwungenen Tribut mit Leib und Leben bezahlen und von denen er keinen verschont. Die Dänen, sonst so stolze Krieger des Königs, in der Darstellung des Gauten nun einzig als Gegenstand von Grendels Verfügungsgewalt: ein Ding, welches man „tragen, töten und zerteilen“187 kann – kurz: Grendels „Lust“.188 Nach solch einer Objektifizierung hat Beowulfs Fazit über das Volk, dem zu helfen er eigentlich gekommen ist, und dessen Nemesis secce ne weneþ / to Gar-Denum,189 die Funktion einer letzten Veranschaulichung ebenso wie die einer düsteren Prophezeiung. Irving beschreibt Unferð in diesem Kontext treffend als „a symbol of national rather than merely private inadequacy“: Der þyle steht stellvertretend für Ambition und Versagen, für Groll und eifersüchtiges Wachen über die eigene Reputation. Prinzipien, welchen aufgrund der Schwäche gegenüber dieser Heimsuchung doch immer wieder nur Niederlagen beschieden sind.190 Sehr interessant ist aus einer solchen Perspektive auch Gwaras Beschreibung der innerdänischen Dynamiken, welche sich aus Hroðgars Klage über die Erfolglosigkeit seiner Männer gegenüber Beowulf, den Reaktionen auf diese und gemischten Gefühlen gegenüber Beowulf seitens der warband ergeben und in den Austausch beider Parteien mit dem unerwarteten Gast hineinspielen. Unferð agiert hier für den Autor als Sprecher ebendieser duguð und bringt ihre Vorbehalte gegenüber dem Neuankömmling, Rivalen und scheinbaren Prahlhans plastisch zum Ausdruck. Deren fortgesetzte Niederlagen gegen Grendel resultierten Gwara zufolge jedoch auch aus einem Fehler Hroðgars, welcher die Kampfstärke (und den Mut) seiner Kriegerschar nicht adäquat eingeschätzt hätte. Zudem trügen seine Klagen über die Niederlage seiner Krieger einen Beiklang von Verärgerung und sorgten damit für Spannungen.191 Mit diesem Ansatz wird die Ausweitung der Kampfzone auf die duguð und schließlich die Dänen allgemein nachvollziehbar, da diese eben auch mittelbar an dem scheinbar individuell orientierten Konflikt beteiligt sind. Gleichzeitig bleiben Beowulfs Angriffe aber weiterhin durch den formalen Rahmen des flyting beschränkt und damit ohne weitere Konsequenzen nach dessen Abschluss. Beide bis dahin beschworenen Szenarien – brutale Vergangenheit und schreckliche Zukunft  – bilden nun gemeinsam den Ausgangspunkt für das furiose Finale des Helden: Das Doppel aus beot und Siegesverheißung steht einerseits in der Tradition des mannjafnaðr – Personalpronomen und Volksname verweisen zurück auf

187 wegan, swefan, snedan (Z. 599 f.); das letzte Verb ein hapax legomenon, dessen Bedeutungen sich um „schneiden“, v. a. im Kontext der Essenszubereitung und -aufnahme, bewegen (Klaeber, S. 400, s. auch snæd und snædan in B/T, S. 891). 188 lust, Z. 599. 189 „Kampf erwartet er nicht von den Speer-Dänen“, Z. 600 f. 190 Irving 1989, S. 40. 191 Gwara 2008, S. 132 f.

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die beiden Konfliktfelder des flyting. Hierbei erfüllt es die entsprechende Aufgabe als positives Gegenstück zu Unferðs äußerst negativem Bild. Andererseits reicht die Kombination auch weiter zu Beowulfs und Hroðgars früheren Äußerungen zurück: Dem bereits bekannten Bild des blutigen Morgens ist, mehrfach variiert, das glänzende Sonnenlicht gegenübergestellt, welches am nächsten Tag auf die Menschen scheinen wird (Z. 604 ff.). Damit fungiert es ikonographisch als Symbol der Hoffnung, ist aber ebenso ein Anklang an den Ausgang des Abenteuers von Beowulf und Breca, in welchem der Siegesmoment, gleich in wessen Darstellung, immer vom Sonnenaufgang begleitet war, der damit nicht nur die Niederlage der natürlichen Finsternis signalisierte, sondern auch den menschlichen Triumph. Eine letzte Spitze ließe sich vielleicht in der Formulierung Gæþ eft se þe mot / to medo modig (Z. 603 f.) erkennen – das „mutige zum Met Gehen“ wirkt etwas inkongruent zur eigentlichen Aktivität und erinnert an den „Metbank-Helden“-Vorwurf, der auch in Beowulfs Anschuldigungen an den þyle angeklungen war. Andererseits lässt sich das Adjektiv modig auch außerhalb des reinen fortitudo-Kontexts deuten, etwa als „stolz“, „wohl-“ oder „hochgemut“, was durchaus in dessen Bedeutungsreichtum fällt.192 Angesichts von Beowulfs Eloquenz, der Strukturierung und dem semantischen Reichtum der Rede ist dabei nicht undenkbar, dass genau dies letzte Spiel mit der Bedeutungsunsicherheit auch als Intention der Figur angelegt ist. In jedem Fall stellt ein solcher Abschluss mit seinen weit zurückreichenden Bezügen, in denen inhärente Konflikte wie auch Fragen gleichzeitig referenziert und gelöst werden, für die gesamte Kommunikation des Gauten in der dänischen Halle ein geziemendes Finale dar. Reaktion und Ausklang Eines der wichtigsten Indizien für die Funktion und Einstufung des flyting im Rahmen der Situation am Hof Hroðgars ist die Reaktion von Gefolge und König der Dänen: Dass nicht nur Hroðgar, sondern auch seine Männer die Worte des Gauten mit Freude quittieren, markiert das flyting als formalisierte, wenn nicht gar ritualisierte, dem Alltagsleben enthobene Situation, deren Konventionen außerhalb des somit streng abgegrenzten Rahmens keine Gültigkeit besitzen.193 All die Beleidigungen und Anschuldigungen

192 B/T bieten als Optionen u. a. „high spirited“ sowie „proud“ und „hearty“ (S. 694). Auch ein Einfluss alliterativer Anforderungen (hier der Anlaut m) ist denkbar. Diese Erklärung trägt aber immer die Gefahr in sich, dass produktionsmechanische, rhythmisch-phonetische Funktionen informationelle semantische Faktoren überlagern, weshalb sie, gerade in einem so konnotationsreichen Feld wie dem flyting, cum grano salis zu betrachten ist. 193 Orchard 2003, S. 214. Die erfreute bzw. „fehlende“ erzürnte Reaktion stellt v. a. für die frühere Forschung eine Crux da, welche z. B. Woolfs Kommentar bündelt: But nothing is said of the attitude taken by the Danes towards the outcome of the debate, even though the visitor from across the sea spoke words that reflected on their courage. One wonders

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haben im Folgenden daher keinerlei Nachhall, werden nicht einmal von den Figuren thematisiert:194 Eben noch als unheldische Versager geschmäht, hört man nun das Gelächter der Recken (hæleþa hleahtor, Z. 611), auch der alte König äußert ganz explizit sein Vertrauen in Beowulfs versprochene Hilfe. Und Unferð, der vielfach Geschmähte, dessen Gegner nun bejubelt wird, spricht kein Wort – äußert nicht einmal ein Eingeständnis der Niederlage. Er ist, wenn man so will, in jenem Moment ein „stummer þyle“, und verhält sich damit den gängigerweise angenommenen Konnotationen der Bezeichnung unangemessen. Diese Paarung einer sprachlosen Sprecherrolle, welche im Beowulf noch häufiger und implizit auch in weiteren hier untersuchten Texten auftritt, wird explizit ebenfalls in einem völlig anderen Werk verwendet, dem Víkarsbálkr. In beiden Szenarien, in denen diese ausdrücklich wortlose Beschreibung auftritt, handelt es sich um ein Bild des Versagens.195 Überhaupt gehen fast196 alle anderen Darstellungen eines stillen oder stummen Thuls mit Niederlagen einher: Starkaðrs Fall kam mit dem Opfer Víkars, die Stummheit thematisiert der alte Skalde dann selbst in seinem Gedicht, Reginn überlässt Sigurd das letzte Wort im Streitgespräch, legt sich nieder – und wird erschlagen, Vafþrúðnir vermag auf die abschließende Frage Odins keine Antwort mehr zu geben, sondern nur seine Unterlegenheit einzugestehen, die in seinen Tod münden wird, und Unferð verliert nach Beowulfs furiosem Gegenangriff alle Sprache. Es gibt somit außerhalb der Götterwelt keinen Thul, bei dem Wortlosigkeit nicht auch gleichzeitig Ohnmacht bedeutet. Angesichts einer solchen Häufung dieses Topos liegt es nahe, dass ein derartiger Gegensatz nicht ganz ohne Absicht des jeweiligen Autors entstand, was wiederum gewisse Rückschlüsse auf die Bedeutung des Terminus im entsprechenden Text zulässt und den oral-produktiven Aspekt als eine der wichtigen Begriffskonnotationen markieren würde. Erst jetzt, nach der Niederlage des þyle und Beowulfs allgemein anerkanntem Erfolg im Wortgefecht, erhält der Gaute in Heorot den Gastpokal von Wealhþeow und wird zum mit allen Formalitäten aufgenommenen Gast, was er einmal mehr mit seinem beot beantwortet, Grendel zu erschlagen oder bei dem Versuch umzukommen

what they thought. Was theirs a defeatist frame of mind gradually developed these past twelve years as a result of the havoc wrought by the monster and their inability to put a stop to it? Were they aware of Beowulf’s superiority to all living men and therefore reluctant to take offense? Were they secretly pleased to see Unferth, the sharp-witted courtier, bested in the field where he had hitherto excelled? The poet, however, is silent on these matters, and so conjecture about them is useless (Woolf 1949, S. 148 f.). 194 Wie noch zu sehen sein wird, kommt der Erzähler hingegen durchaus noch darauf zurück. 195 Libermans (1996, S. 75) Feststellung, dass der „stumme þulr“ eine Beleidigung darstellte, welche als „der Besiegte“ gedeutet werden sollte, möchte ich mich in Bezug auf den Beowulf anschließen. Hollowell verweist ebenfalls auf die Ähnlichkeit der Figur mit der Formulierung im Víkarsbálkr und sieht im Erzählerkommentar zu Beowulfs Sieg Ironie im Spiel (Hollowell 1976, S. 257). Auf den Punkt bringt den Effekt schließlich Clover mit ihrer Bemerkung „Being silenced is of course of a particularly appropriate form of defeat in a battle of words“ (Clover 1983, S. 465). 196 Die Ausnahme – der fimbulþulr der Hávamál – wird im nächsten Kapitel erörtert werden.

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(Z. 632–638). All diese Prozesse müssen also durchlaufen werden, damit der König schließlich, am Ende des Gelages, Beowulf den anfänglich getätigten Wunsch erfüllt und ihm die Halle für den Kampf überlässt. Dies nicht, ohne auf die Einzigartigkeit einer solchen Handlung hinzuweisen: „Niemals zuvor, seit ich Hand und Schild zu heben vermochte, vertraute ich irgendeinem Manne die mächtige Halle der Dänen an, außer Dir nun hier“197 (Z. 655–657). Und mit Aufforderung an den Gauten, nun mægenellen (Z. 659)198 zu zeigen, sowie einer Aussicht auf Belohnung im Falle des Sieges verlässt er die Halle und macht die Bühne frei für die bevorstehende Begegnung mit Grendel. Unferðs Auftritt ist damit bis auf Weiteres beendet. Im folgenden Kampf spielt er keinerlei Rolle und auch nach dem Sieg Beowulfs tritt er nicht gleich in Erscheinung. Überhaupt war das flyting seine zentrale Darbietung und das in einem sehr konkreten Sinn: Bei der Verbalkonfrontation handelte es sich um eine Performanz par excellence – ein Aspekt, der etwas später genauer untersucht werden soll. Vorher jedoch sind noch die weiteren Auftritte des þyle zu betrachten; allerdings handelt es sich bei diesen teils um kaum mehr als Erwähnungen. Nichtsdestotrotz geben einige davon Hinweise, in welchem Licht das flyting zu sehen ist, und damit auch auf die Rolle des Sprechers und Initiators. Erst weit nach dem Kampf ist Unferð wieder anzutreffen. Und diesmal bleibt der vorher so wortreiche Angreifer von Anfang an stumm – ein Umstand, den auch der Erzähler betont: Nach Beowulfs Beschreibung des Grendelkampfs, angesichts des ausgerissenen Armes des Monsters, der für alle sichtbar den Sieg des Gauten verkündet, „war der Mann, Sohn Ecglafs, da stiller/ziemlich still an stolzen Worten über Kampfeswerk“ (Z. 980–981).199 Spätestens dieser plastische Siegesbeweis Beowulfs ist es dann auch, der noch einmal in erweiterter Form den endgültigen Abschluss des flyting markiert: Beowulf hat sein beot eingelöst, und Unferðs Schweigen dokumentiert hier, wie auch nach Beowulfs letztem Angriff im Wortstreit, seine Niederlage.200

197 Næfre ic ænegum men / ær alyfde, siþðan ic hond ond rond / hebban mihte, ðryþærn Dena / buton þe nu ða. 198 Kraft und Mut hier noch einmal betont als Essentialkomponenten des nun offiziellen königlichen champions. 199 Đa wæs swigra secg, / sunu Ecglafes, on gylpspræce / guðgeweorca. Unklar bleibt, ob gylpspræce, wörtlich „prahlendes/stolzes/hochmütiges Sprechen“, allgemein herabsetzend gebraucht wird oder eher als Terminus technicus für beotas, vielleicht auch nur für die offensiven Behauptungen des flyting, fungiert. Chickering z. B. übersetzt dahingehend: „Unferth, Ecglafs son, / was then more silent, / had no more taunts / about valor in combat“ (Chickering 1989, S. 105). 200 S. dazu auch Irving 1989, S. 43.

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Unferð und Hrunting Überhaupt sind, wie Rosier201 angemerkt hat, Unferðs Äußerungen auf diese einzige, anfängliche Konfrontation mit Beowulf begrenzt. Trotzdem er noch weitere Auftritte hat und eine der zentralen Figuren des ersten Teils ist, bleibt er in der weiteren Handlung quasi passiv. Vor allem äußert er sich weder „privat“ noch in erkennbar öffentlicher Rolle.202 Ganz deutlich wird dies auch in der Szene, in der Wealhþeow nach dem Vortrag des Liedes von Finn und Hengest erneut mit dem Pokal vortritt. Der kurzen Anmerkung, dass der Frieden zwischen Oheim (Hroðgar) und dessen Schwestersohn (Hroþulf) gyt (Z. 1164,203 „noch“) anhielt, jeder der beiden dem anderen treu war, folgt ein Verweis auf Unferð, welcher hier erneut als zu den Füßen des Herrn der Scyldinge sitzend abgebildet, und vor allem nun erstmalig als þyle bezeichnet wird:

æt fotum sæt frean Scyldinga; þæt he hæfde mod micel, arfæst æt ecga gelacum.

Swylce þær Unferþ þyle gehwylc hiora his fehrþe treowde, þeah þe he his magum nære

(Z. 1165–1168)204 Nun kann mod, wie bereits angesprochen, „Tapferkeit“ ausdrücken, aber auch Geist, Herz, Seele, Stolz oder „hohen Mut“ bzw. gute Laune.205 Es ist damit eindeutig positiv konnotiert. Im Gegenzug ist arfæst ebenso ein dezidiert positiver Begriff,206 zeichnet

201 „In each of these instances, except the first, Unferth stands or sits mutely and is the object of comment by either the poet or Beowulf, never by a member of the Danish court. Besides the two principals, Beowulf and Hrothgar, no other figure in the first part appears so frequently or receives so much attention from the poet as Unferth; not even Wealhtheow […]“ (Rosier 1962, S. 3 f.). 202 Überdies wird er auch nicht von anderen Figuren angesprochen: Im Anschluss an das flyting agiert der Charakter nur mehr als Statist. 203 Auf die Theorie, dass hier Unferðs künftiger Verrat angedeutet werde, wird in Kürze noch eingegangen. 204 „Ebenso saß dort Unferð, der þyle, zu Füßen dem Herrn der Schildinge; ein jeder von ihnen vertraute seinem Geist/Herzen, dass er großen mod besaß, obwohl/wenn auch er seinen Verwandten gegenüber nicht gnädig/ehrenhaft beim Spiel der Klingen war“. Robinson (1993, S. 222) vermutet in diesen Zeilen überdies ein Wortspiel („there seems to be word-play on the element ferth in his name“). Allein die Korrespondenz von Begriff und – möglichem – Namenselement scheint mir aber als Beleg nicht vollkommen ausreichend, da der Terminus im Beowulf insgesamt siebenmal als Simplex auftritt, zuzüglich einiger Kompositumskonstruktionen (Klaeber, S. 329), und nach dieser Logik quasi jedes Vorkommen als Wortspiel gedeutet werden könnte. Vielmehr scheint der Begriff im Beowulf vergleichsweise gängig gewesen zu sein – bezeichnet er doch auch ein recht standardisiertes menschliches Charakteristikum. 205 B/T, S. 693. 206 B/T, S. 49.

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den Dänen allerdings durch die vorangehende Verneinung (nære) negativ,207 und es liegt nahe, dass hierbei auf dasselbe Ereignis Bezug genommen wird, wie es Beowulf im flyting mit der Anschuldigung der Brudertötung tat.208 Interessant ist hier noch Irvings Perspektive, der aufgrund des Satzbaus davon ausgeht, dass der Vorwurf hier „eher neutral und beiläufig“ erwähnt wird, also keine besondere Bedeutung besitzt, da das größte Gewicht auf dem Hauptsatz liegt, welcher Unferð positiv charakterisiert.209 Syntaktisch ist das durchaus logisch, andererseits aber inhaltlich kaum möglich, zu erkennen, ob die Unterordnung und Aussage nicht ironisch aufzufassen sind. Für Ironie würde sprechen, dass die Schwere des Anwurfs (gerade hinsichtlich der Tragik anderer Freundes- und Verwandtentode, welche im Epos erwähnt werden) eine nonchalante Erwähnung des Erzählers eher unwahrscheinlich wirken lässt; zumal dieser auch sonst nicht unkritisch gegenüber Unferð auftritt. Für Irvings Interpretation spräche hingegen zumindest die Unschärfe der Anschuldigung, wie bereits erörtert, welche es wahrscheinlich macht, dass der gesamte Vorfall zwar wohl tragisch, aber eben eventuell doch nicht mit bösem Willen, Vorsatz oder sonstigen tabuisierten Konnotationen in Verbindung steht (das war allerdings auch bei Hreðels Sohn Hæðcyn der Fall, dessen Tod dennoch ganz anders dargestellt wurde). Der gesamte Kontext, in dem diese Beschreibung steht, ist weiterhin ebenfalls einer von Verwandtenkonflikten. Dies betrifft sowohl den bereits zitierten „noch andauernden Frieden“ zwischen Hroðgar und Hroþulf wie auch Wealhþeows kurz darauf folgende Bitte an den König, nicht zugunsten Beowulfs seine eigenen Kinder zu übervorteilen (Z. 1177–1180). Auch die Beschreibung der Machtverhältnisse zwischen Onkel, Neffen und den königlichen Söhnen Hreðric und Hroðmund (Z. 1180–1187), um deren Schutzes willen die Königin sich letztlich gar mit eigenen Geschenken an den Gauten wendet, um sich erfolgreich dessen persönliche Unter-

207 Inklusive Litotes (Klaeber, S. 177). 208 Donovan bestreitet dies, wobei die Argumentation nicht völlig tragfähig scheint: „the passage notes only Hunferth’s lack of honor in swordplay with kin, which could refer to any number of actions less serious than fratricide“ (Donovan 2009, S. 89). Von der bereits diskutierten Problematik der Art (und damit des moralischen Impetus) der Brudertötung abgesehen, stellte sich in diesem Fall dann als Erstes die Frage, wieso ein solcher Vorfall unter derartigen Umständen hier überhaupt mitgeteilt werden muss. Da keine weitere Erwähnung getätigt wird, handelte es sich dann um ein blindes Motiv. Auch wäre in diesem nicht länger hoch aufgeladenen Kontext (Donovan zitiert hier Irvings Beschreibung des Erzählerduktus als, wie es scheine, „tone of tolerant acceptance“ (Donovan 2009, S. 89)) weit weniger nachvollziehbar, wieso an dieser Stelle dann überhaupt Kritik von Nöten wäre; sofern nicht – und hier lässt sich der Bogen zurück zur gängigeren Interpretation schlagen – der Vorfall, auf den sich bezogen wird, doch so gravierend ist, dass er einer – wenn auch abschwächenden – Erwähnung bedarf. 209 Irving 1989, S. 42.

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

stützung zu sichern (Z. 1192 ff., insb. Z. 1215–1227), kann zu dieser Kategorie gerechnet werden.210 Hrunting  – das Schwert, welches Unferð Beowulf erst für den Kampf gegen Grendels Mutter übergibt und später (wohl211) wieder von ihm zurückerhält, ist das verbindende Element aller weiteren Erscheinungen des þyle, welche wiederum keinerlei direkte Rede der Figur zeigen. Die Einführung der Waffe erfolgt in einer längeren Passage und auch hier wird Unferð nicht nur vorteilhaft charakterisiert. Als Erstes findet sich in einer Kombination von Retrospektive und Vorausdeutung die Schwertbeschreibung „in der Not“ geliehen (Z. 1456) vom þyle Hroðgars, und trotz der vom Erzähler gelobten Qualität als „einzig(artig) unter den alten Schätzen“ (Z. 1458) wie auch bis dahin unfehlbar im Kampf wird die Klinge dem Gauten dennoch „nicht das geringste an mægen-Hilfe“212 sein. Von dieser Beschreibung geht der Erzähler zurück zum Besitzer der Waffe und macht einmal mehr eine Aussage, die den þyle kritisch zeichnet und den vorherigen Konflikt in einem separaten, fast schon privaten Bereich verortet:

210 Klaeber (S. 177) führt die beiden gängigen Interpretationen auf, ohne sich auf eine Variante festzulegen: „Is Unferð’s presence mentioned here because he was regarded as Wealhtheow’s antagonist who incited Hroðulf to treachery […]? Or did the poet merely wish to complete the picture of the scene in the hall?“ Der These, dass diese Beschreibung subtil die Mittäterschaft Unferðs am späteren Verrat Hroþulfs andeutet, welche unter anderem von Rosier (1962, S. 5) vertreten wird, erteilt Irving allerdings eine überzeugende Absage: The only faint evidence the poem itself offers is that Unferth is mentioned after Hrothgar and Hrothulf. In the scene that follows, Wealhtheow is certainly anxious about some threat involving her sons and Hrothulf. She pleads with Hrothulf to protect her children. But if she were also suspicious of Unferth she would probably say so, since that is the normal way in which things are brought to the audience’s attention in the oral tradition. (Irving 1989, S. 43) (Bei „pleads with Hrothulf“ handelt es sich indes wohl um eine Verwechselung, denn Wealhþeow redet mit Beowulf, nicht mit dem späteren Verräter. Sollte hier dennoch Hroþulf von Irving gemeint sein, wäre aus dieser Perspektive noch zu fragen, wieso die Königin die Gefahr nicht gegenüber dem Gauten zum Ausdruck bringt, denn im Rahmen der Beziehungslogik des Textes wäre eine solche Ansprache begründet. Vor allem deswegen, weil die Königin Beowulf nur kurz darauf um tätiges Wohlwollen gegenüber ihren Söhne bittet und sich damit zumindest implizit gegen den König stellt, bei dem sie befürchtet, dass er Beowulf den eigenen Kindern vorziehen könnte (Z. 1226 f.), sich damit dem Fremden gegenüber also ebenfalls auf Interna bezieht.) 211 Die Ambiguität der Passage wird später noch einmal angesprochen. 212 mægenfultuma (Z. 1455). Der Erzählerkommentar über die bisherigen Qualitäten der Waffe ist wichtig, denn er stellt einen Gegenbeweis für die Theorie dar, dass Unferð Hrunting Beowulf übergibt, obwohl oder gar weil er weiß, dass die Waffe gegen Grendels Mutter nutzlos sein wird, wie Ogilvy/Baker (1984, S. 165) im Bezug auf Rosiers (1962, S. 6 f.) Interpretation feststellen. Und Libermann notiert dazu: „names were not bestowed on swords to bring out their uselessness“ (1996, S. 74).

Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf 

Huru ne gemunde eafoþes cræftig, wine druncen, selran sweordfrecan; under yða gewin drihtscype dreogan; ellenmærðum.

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mago Ecglafes þæt he ær gespræc þa he þæs wæpnes onlah selfa ne dorste aldre geneþan, þær he dome forleas,

(Z. 1465–1471)213 Dabei kann ne gemunde sowohl (unfreiwilliges) Vergessen als auch (das offenere, da unklar ob bewusste oder unabsichtliche) Nicht-an-etwas-Denken implizieren. Ersteres bezeichnet Clarke, der Unferðs Haltung als Vergessen deutet, als „unconvincing“.214 Ich würde hingegen beide Übersetzungen aus der Textlogik heraus für plausibel halten  – das Ignorieren der früheren Handlungen wäre ein Indiz dafür, dass sich Unferð seiner vorherigen Niederlage noch bewusst ist, diese aber entweder, ohne sie nochmals zu erwähnen, durch die Gabe kompensieren will, oder ihr – etwa aufgrund des sozialen Rahmens, in dem sie zustande kam – keine Bedeutung mehr zumisst. Demgegenüber lässt sich das Vergessen mit dem erneuten Attribut druncen verbinden und veranschaulicht in diesem Fall nochmals plastisch das Ausmaß der damaligen Alkoholisierung, also quasi fast bis zur buchstäblichen Bewusstlosigkeit. Die zugrunde liegende Handlungsmechanik gemahnt hier in gewisser Weise noch einmal an die glücklosen Krieger Hroðgars, bei denen die Inkongruenz zwischen Rauschworten (beotas) und anschließender Handlung (vergeblicher Kampf gegen Grendel) allerdings ungleich blutiger endete. Weniger nachvollziehbar ist Kabells Ansicht, dass es sich bei der Erklärung um eine „harmonisierende Reflexion“ handele, „dass der tatkräftige Sohn Ecglafs sicherlich seine früher in betrunkenem Zustand gemachten Äusserungen vergessen hatte“:215 Etwas seinem „sicherlich“ Vergleichbares, und damit der eigentliche Reflexions- bzw. Harmonisierungsmarker, wenn man von Kabells These ausgeht, ist im altenglischen Text nicht zu finden; die Formulierung im Epos wirkt fast schon sachorientiert. Auch ist unklar, wie eine „Harmonisierung“ in dieser Form ins Bild passt: nicht durch eine faktische Aussage, sondern einen mehr oder weniger gemutmaßten Grund (implizite Abschwächung der Feststellung mittels „sicherlich“), nachdem der Erzähler ansonsten erkennbar auktorial auftritt und die hier vorliegende indirekte Aussage damit einen gewissen Bruch darstellen

213 „Wahrlich gedachte/erinnerte sich der Verwandte Ecglafs, fähig/stark an Kraft, nicht dessen, was er zuvor, vom Weine trunken, gesprochen hatte, als er die Waffe dem besseren Schwertkämpfer lieh; selbst wagte er nicht, das Leben zu riskieren unter der Schlacht der Wellen, Mut zu beweisen; dort verlor er an Ruf, Heldentatenruhm“. 214 Clarke 1936, S. 62. 215 Kabell 1979, S. 32.

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würde.216 In jedem Fall scheinen bei diesem Passus die anfangs genannten beiden Deutungen angebrachter, da sich bereits auf Figurenebene durchaus logische Erklärungen für das Verhalten finden lassen. Auch Irvings Theorie, dass sich die „früher gesprochenen Worte“ auf einen sonst ungenannten, früheren beot Unferðs beziehen, in dem dieser schwor, Heorot zu verteidigen, was zu seinem späteren Ehrverlust führte,217 wirkt eher verkomplizierend. Zwar kann der Darstellung eine innere Logik nicht abgesprochen werden und sie sucht ebenfalls eine Begründung direkt in der Handlung, die Situation ist aber auch so schon konsistent: Wine druncen lässt sich als Anspielung auf das flyting lesen und damit der erste Teil der Szene als Erläuterung der recht unvermittelt erscheinenden Waffengabe. Dass Unferð Ehre verliert, erklärt der Erzähler bereits selbst mit dem mangelnden Wagemut des þyle, welcher in der Gabe seine konkrete Ausprägung gefunden hat.218 Trotz dieser eher negativen Tendenz in der Zeichnung Unferðs muss man in der positiven Bezeichnung eafoþes cræftig, auch angesichts der momentanen Szene, außerdem nicht unbedingt erzählerische Ironie sehen. Wie Irving darlegt, ist wahrscheinlich, dass hier auf ein Standard-Epithet zurückgegriffen wird, welches einen „permanenten Zustand“ – hier der stereotype Krieger, der notwendigerweise Stärke besitzt – abbildet, wie es etwa auch in homerischer Dichtung geschieht, wo selbst fliehende Heroen noch als „gottgleich“ bezeichnet werden.219 Da die Beschreibung zudem auf die Kraft abzielt, wirkt Ironie noch weitaus weniger wahrscheinlich, als wenn Mut thematisiert worden wäre: Stärke schließt Feigheit nicht aus. Das Schwert des þyle, dessen Exzellenz unbestritten ist, wird also situativ und einmalig die Erwartungen nicht erfüllen,220 was die Qualitäten der Waffe jedoch langfristig nicht mindert, wie Beowulf mit seinem Lob bei der Rückgabe beweist.221

216 Später deutet Kabell diese Passage noch als Indiz dafür, dass Unferð generell vom Autor des Beowulf als unbegreiflich aufgefasst wurde: „Es sieht aus, als ob der Dichter oder ein Bearbeiter mit einem ihm nicht vertrauten Element gekämpft hat […]. Die Reflexion […] wirkt als eine Ausrede dem Unverständlichen gegenüber“ (Kabell 1979, S. 35). Zugrunde liegt diesem Ansatz die These des þyle als archaischem Bestandteil, den der Autor nicht mehr recht einzuordnen vermochte. Auch bei dieser Erklärung besteht weiterhin die Differenz zur sonstigen narrativen Gestaltung durch den Autor. 217 Irving 1989, S. 39. 218 Ein Ansatzpunkt für Irvings Lesart wäre aber vielleicht, dass Unferð hier wine und nicht beore druncen genannt wird, und dies, sofern es nicht als übergreifende Formulierung für Alkoholkonsum schlechthin fungiert, auf eine anderen Trinkszene verweisen könnte. Wein findet als Getränk für Hroðgars Gefolge in Z. 1162 erstmalig Erwähnung, also weit nach dem flyting. Inwieweit andererseits metrische Gegebenheiten konkreten Einfluss auf die Begriffswahl haben – bei der Beschreibung Unferðs als wine druncen liegt die Alliteration auf w – bleibt ebenfalls offen. Ich würde die gängige Erklärung, dass hier auf Beowulfs Anwurf im flyting Bezug genommen wird, vorziehen. 219 Irving 1989, S. 14. 220 ða wæs forma sið / deorum madme, / þæt his dom alæg (Z. 1527 f., „Da war es das erste Mal für den wertvollen Schatz, dass sein (guter) Ruf versagte“). 221 „Nicht vermochte ich im Kampf mit Hrunting irgendetwas zu bewirken, obwohl diese Waffe taugt“ (Ne meahte ic æt hilde / mid Hruntinge / wiht gewyrcan, / þeah þæt wæpen duge, Z. 1659 f.) – die Klinge wird hier also unmittelbar rehabilitiert.

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Im Kontrast dazu verliert Unferð in dieser Szene dauerhaft (und explizit) an Ruhm, da seine Feigheit in einem öffentlichen Akt zutage tritt, genauer gesagt, in zweien, einem Akt und einem Nicht-Akt: Obwohl man die Übergabe Hruntings als freundschaftliche Geste und entsprechend dem Code der Freigebigkeit erklären kann, ist diese Tat gleichzeitig mit dem sicheren Rückzug aus dem Kampfhandlungsgeschehen verbunden; die im dortigen Szenario wichtigeren Qualitäten Mut und Kampffähigkeit sind somit etwas, das der þyle nicht zu beweisen vermag. Damit stützt er Beowulfs Vorwürfe noch einmal  – und dies dezidiert außerhalb des flyting-Umfelds. Das ist auch deshalb von Interesse, weil im Wortgefecht selbst nichts über einen Ehrverlust der Figur zu finden ist, trotz weitaus schwererer Anschuldigungen seines Gegners. Darüber hinaus bestätigt der Erzähler in dieser Passage auch noch einmal autoritativ die Trunkenheitsvorwürfe des Gauten gegenüber Unferð im Wortgefecht. Die Konkurrenz, die in dieser Szene aufgebaut ist, beschränkt sich hingegen ausschließlich auf den kämpferischen Bereich  – angesichts der bevorstehenden Ereignisse eine nachvollziehbare Reduktion: Beowulf wird nicht dargestellt als der Ehrenhaftere, der Klügere, der Gewinner des flyting. Er ist schlicht selra sweordfreca („der bessere Schwertkämpfer“, Z. 1468) – was die anderen Attribute natürlich nicht ausschließt. Besonders augenfällig ist angesichts der Übergabe außerdem gerade hier das Schweigen des þyle – ist doch die Übereignung wertvoller Gegenstände normalerweise durchaus mit öffentlicher, wenn nicht gar formaler Rede verbunden: brucan … (wel) („sich an … (gut) erfreuen“/„… (wohl) gebrauchen“) tritt in einem solchen Kontext als Phrase häufiger auf. So etwa bei Hroðgars ersten Zuwendungen nach dem Grendelkampf (Z. 1045) wie auch bei Wealhþeows Geschenken an den Gauten (Z. 1216), bei Hroðgars zweiter Würdigung nach dem Sieg über Grendels Mutter (Z. 2162), aber auch beim „Vererben“ des Besitzes des sterbenden Beowulf an Wiglaf (Z. 2812). Im Fall von Hrunting hingegen erfolgt die Übereignung vollkommen wortlos.222

Die Qualitätsformulierung þeah … duge korrespondiert hier überdies direkt mit den beiden bereits erwähnten „Zugeständnisformeln“ der Angreifer Unferð und Beowulf im flyting. Es ginge aber meines Erachtens zu weit, darin einen bewussten Rückgriff zu sehen, quasi als eine letzte Spitze Beowulfs (in dieser Ausdeutung wäre die Beschreibung ein ironisches Lob, was sich auf Qualitäten bezieht, die – wie auch die Unferðs selbst – sich im Kampf gegen die Angreifer als nutzlos erwiesen): Angesichts der Tatsache, dass die Waffe bis dahin nur Preis erfahren hat, mit einem eigenen Namen ausgezeichnet ist und Unferð überdies kaum wissen konnte, dass sie gegen Grendels Mutter nichts ausrichten würde, ist ein Lob ohne Hintergedanken erheblich wahrscheinlicher. Jenes veranschaulicht zudem wieder die Großzügigkeit des Helden als Träger einer der zentralen Qualitäten des heroischen Ideals. Wenn die Formel im Beowulf ironisch gebraucht wird, dann dürfte dies nur innerhalb des flyting geschehen, welches zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits lange und vollständig abgeschlossen ist. 222 Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Unferð zu dieser großzügigen Gabe auch durch die – im wörtlichen Sinne stille – Hoffnung motiviert wird, dass ein Stück vom Ruhm des siegreichen Helden auf den Geber herabfallen möge (Ogilvy/Baker 1984, S. 166).

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Auch der Gaute selbst kommt auf den þyle zu sprechen (gleichwohl er ihn nie so benennt – dies tut übrigens auch Hroðgar nicht, die Bezeichnung bleibt dem Erzähler vorbehalten223). Bei seinem Abschied von Hroðgar vor dem Kampf gegen Grendels Mutter gibt er unter anderem Anweisungen, wie mit seinem eigenen Schwert zu verfahren sei – dieses solle an Unferð gehen. Den Empfänger bezeichnet der Gaute hier als widcuðne man („weithin bekannten Mann“, Z. 1489). Seine eigenen Absichten bei dieser Handlung formuliert er als: ic me mid Hruntinge  / dom gewyrce,  / oþðe mec deað nimeð („ich erwirke mir mit Hrunting (guten) Ruf, oder der Tod nimmt mich“, Z. 1490 f.); impliziert ist also ein Kompensations- bzw. Austauschvorgang sowie die freundschaftliche Geste. Hill erkennt in dieser Szene und insbesondere in der Erwähnung Unferðs durch Beowulf das endgültige closing of the breach between the two of them, a closing that has two movements – via Hrunting to Beowulf and then back again to Unferð. Hrunting is the peace-making medium here – as it were the loan of peace between the two, unequally inspired and unequally brave warriors.224

Ausgehend vom Initialkonflikt des flyting bedarf es also zwei weiterer Szenen bis zur kompletten Lösung der anfangs aufgebauten Spannungen, um den endgültigen Frieden zwischen den beiden ehemaligen Kontrahenten wiederherzustellen: das Ausstellen von Grendels Arm als unwiderlegbare Bestätigung von Beowulfs flytingAussagen (sowohl gegen den wenig mutigen Unferð als auch über seine eigene Tapferkeit und Stärke) sowie die Waffengabe plus deren Würdigung durch den Gauten einschließlich einer des Gebers. Auch das beweist noch einmal den hohen Stellenwert dieser anfänglichen Konfrontation für den ersten Teil des Werks. Von Interesse ist an dieser Stelle zuletzt noch das Lob, welches der Held dem Angesprochenen zollt: widcuþ, also „weitbekannt“. Genau betrachtet, handelt es sich dabei um einen Zustand, zu dem nicht unmaßgeblich auch das externe Umfeld beiträgt, und ein Resultat, bei welchem nichts über spezifische, der Bekanntheit zugrunde liegende Eigenschaften ausgesagt wird. Damit ist des Adjektiv ein selbst im stereotypenreichen heroischen Epos recht generisches Lob. Dies zumal, da, sollte Unferð in der Tat eine offizielle, exponierte Position am Hof des Königs bekleiden, eine gewisse Bekanntheit damit mehr oder weniger zwangsläufig einhergehen dürfte.225 Eingedenk Irvings sehr berechtigter Mahnung vor der übereifrigen Suche

223 Hierin unterscheidet sich der Gebrauch des Begriffs vom Altnordischen, wo in den Vafþrúð­ nismál und in den Fáfnismál Figuren den Begriff verwenden  – Riese und Vögel; in den Hávamál wiederum ist es der Erzähler, der als Handelnder seine Reden an Loddfáfnir richtet und von fim­ bulþulr und þulr spricht sowie in einer Strophe (Str. 111) wohl als þulr selbst; eine Bestätigung der Übereinstimmung von Sprechendem und dem Besitzer des „þulr-Stuhls“ bietet der Text dort jedoch nicht. 224 Hill 2008, S. 52. 225 Es gibt nicht sehr viele andere Belege für dieses Adjektiv im Beowulf: Ebenfalls als widcuþ be-

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nach „modernen, schriftlichen“226 Charakteristika wie Metaebenen, Ambiguität und verborgener Ironie in einem derartigen Werk,227 soll hier nicht versucht werden, das Lob Beowulfs in ironische oder gar negative Richtung umzudeuten – alles spricht für eine positive Aussage. Auf spezifisch persönliche, dem þyle inhärente Qualitäten zielt es aber eindeutig nicht ab. Die Rückgabe des Schwertes bei Beowulfs Abreise von Heorot gestaltet sich erneut von Unferðs Seite her still, während der Gaute, wenn auch nur in indirekter Rede, das Wort führt. Es sei hier angemerkt, dass die Akteure an dieser Stelle aus grammatikalischen Gründen228 etwas unklar bleiben und entweder Beowulf das Schwert an Unferð zurückgibt oder aber Unferð Beowulf die zuvor als Leihgabe gereichte Klinge

zeichnet wird Wulfgar, Hroðgars Herold (Z. 390), allerdings zusätzlich mit dem Epithet hæleð, einem Wort mit Bedeutungsspektrum von Mann bis Held (Klaeber, S. 350) – bei dieser Passage handelt es sich überdies um eine Emendation (Klaeber, S. 15) –, sowie Hroðgar in Verbindung mit seiner Kriegsführung in der Jugend (widcuþes wig, Z. 1042), welcher es „niemals an Ehre mangelte“ (næfre on ore læg, Z. 1041). In Verbindung mit weiteren Figuren tritt es nicht auf. Außerdem jedoch findet sich ein allgemeinerer Gebrauch des Adjektivs, bezogen auf Objekte und Fakten: als „(wurde) (weithin/wohl-) bekannt“ in Z. 1255  f. (Þæt gesyne wearþ  / widcuþ werum) über das Weiterleben Grendels nach der Schlacht im Kontext der Einleitung des Angriffs von Grendels Mutter und in Z. 1991 im Ausdruck „(weithin) bekanntes Leid“ (widcuðne wean) als Beschreibung der Angriffe Grendels auf Heorot in Hygelacs Rede nach der Heimkehr Beowulfs. Bei den Charakteren ist die Natur der Bekanntheit also nicht genau zu erschließen und die Bezeichnung Wulfgars in dieser Form zudem nicht gesichert, während das Adjektiv bei den Fakten neutral ist. Damit bleibt widcuþ ein eher unpräziser Begriff, der jedoch im heroischen Kontext positiv zu deuten ist. Irving hat sicher recht, wenn er sich weigert, den Ausdruck im Rahmen des Angebotes Beowulfs anders als lobend zu lesen: „The remark is courteous and complimentary, a perfect match to the gracious gesture“ (1989, S. 45). 226 Der Begriff „schriftlich“ wird hier nicht hinsichtlich der früheren Definition, also Medialität verwendet, sondern als Bezeichnung für die Konzeption, also einen im Sinne der Verschriftlichung (Oesterreicher 1993) verfassten Text. Dass die Grundannahme Irvings – dass ein „mündliche“ Texte rezipierendes Publikum höhere Komplexität nicht verarbeiten kann  – strittig ist, ist mir bewusst; nicht zuletzt, weil der moderne, einer Schriftkultur entstammende Mensch das Gedächtnis eines einer primären, mündlichen Kultur entstammenden Hörers kaum in Gänze erfassen können wird. Dennoch gibt es Aspekte, die sich (v. a. bei umfassenden Werken) wohl erst bei schriftbasierter Rezeption in ganzer Deutlichkeit zeigen werden, so etwa kleinere Textkorrespondenzen über sehr große Abstände hinweg. 227 Irving 1989, S. 13 ff. 228 Auf wen sich se hearda („der Harte/Kühne“, Z. 1807) bezieht – Beowulf oder Unferð –, ist unklar, und sunu (Ecglafes) („Sohn“ (Ecglafs), Z. 1808) kann als Nominativ, als Dativ (eigentlich suna (Klaeber, S. 192 f.), aber auch andernorts im Beowulf derartig bezeugt (Klaeber, S. 403)) oder Akkusativ gelesen werden. Klaeber etwa setzt hier einen unmarkierten Subjektwechsel inmitten des Satzes an (Klaeber, S. 192 f.), sodass erst Unferð Beowulf das Schwert Hrunting (endgültig) zum Geschenk macht und Beowulf (bzw. „er“) anschließend mit Waffenpreis antwortet. Diese Interpretation beruht hauptsächlich auf der Akzeptanz des Substantivs (Gen. Sg.) leanes (Z. 1809), „der Belohnung, der Vergeltung“ („reward, requital […] gift, present given in appreciation of services rendered‘“, (Klaeber, S. 366)), als korrekt, während andere Forschung das Nomen zu lænes („der Leihgabe“) emendiert (Klaeber, S. 192 f.), was mit dessen vergleichsweise häufigem Vorkommen

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dem Gauten endgültig zum Geschenk macht. Auch wenn Geber und Empfänger in dieser Sequenz auf den Gegenstand der hiesigen Untersuchung nur wenig Einfluss haben, schließe ich mich Rosiers Interpretation an, der nach genauerer Betrachtung der verwendeten Terminologie im gesamten Epos sowie der vollständigen Handlung des ersten Teils und der narrativen Figurenführung zu dem Schluss kommt, dass eine Rückgabe der Waffe an Unferð stattfindet.229 Dem Dank für die Leihgabe folgt Lob, das sich auf die Waffe allein beschränkt, ohne Ansprache des Gebers oder Bezug auf ihn. Beowulfs Großmut und diplomatisches Geschick zeigen sich überdies darin, dass er auch hier mit keinem Wort die Klinge kritisiert,230 obschon sie ihn im Kampf im Stich gelassen hatte (was allerdings in den besonderen Fähigkeiten seiner Gegnerin gründete). Somit trübt beim Abschied kein Tadel das gute Verhältnis zwischen Dänen und Gauten231 – ganz anders als im Gastvorstellungsszenario zu Beginn. Direkt angeschlossen an die Rückgabe ist ein Erzählerkommentar zu Beowulf: þæt wæs modig secg (Z. 1812). Der mutige, „hochgemute“ Mann wird hier also herausgestellt, was mittelbar einmal mehr auf Kosten des þyle geht, welcher darunter verblasst.232 Dies ist allerdings ohnehin der Fall, da die Figur unterdessen bereits handlungsbedingt stark an Bedeutung für den Plot verloren hat. Das Lob des Erzählers dürfte sich hierbei ohnehin vor allem auf Beowulfs Rede beziehen, dabei gerade auch darauf, dass der Held auf Kritik an der unzureichenden Waffe verzichtet – ein Beispiel für heldische Großmut ebenso wie für diplomatisches Geschick. Hroðgars Lob zum Abschied stellt zudem nicht nur die physisch-heroischen, sondern auch die geistigen Qualitäten des Protagonisten heraus; der Klugheitsaspekt erscheint dabei besonders betont (snotorlicor, frod, wis):

in altenglischen Prosatexten (Rosier 1962, S. 6) begründet wird – wenn nicht gar ohnehin eine Bedeutungsüberschneidung beider Termini (Rosier 1962, S. 6) existierte. 229 Rosier 1962, S. 6. 230 Z. 1811 f.: nales wordum log / meces ecge. Hills Erklärung, „after all, it did not break“ (Hill 2008, S. 57), ist hier vielleicht etwas zu vereinfachend. Der Erzähler sagt ausdrücklich, dass ebendiese Schneide/Klinge – ecg – die essentiellen Anforderungen nicht erfüllte: ac seo ecg geswac / ðeodne æt þearfe („aber die Klinge versagte dem Fürsten in der Not“, Z. 1524 f.). Ganz abgesehen davon: Welchen Nutzen hätte ein Schwert, das zwar nicht bricht, aber auch nicht verwunden kann (bzw. Nutzen, den ein größerer Stein oder dicker Stock nicht ebenso hätte)? 231 Auch hier möchte ich mich, entsprechend Irvings bereits erwähnter Darstellung, gegen eine ironische Lesart wenden. Beowulfs Abschiedsrede hat offiziellen Charakter und damit vor allem auch den Zweck, die freundschaftlichen Bande zwischen den Stämmen zu stärken, sodass ein Wiederaufgreifen eventueller früherer Rivalitäten und Konflikte gerade zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv wäre. 232 Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass sich diese Aussage auf Unferð bezieht, da auch grammatikalisch kein Hinweis auf das Referenzobjekt vorhanden ist. Allerdings schließt die Passage direkt an Beowulfs letzte Handlung bei der Rückgabe an und auch angesichts der Charakterisierung der beiden Figuren scheint mir die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Adressatenwechsel hin zum Dänen vorliegt, sehr gering.

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on swa geongum feore Þu eart mægenes strang, wis wordcwida.

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ne hyrde ic snotorlicor guman þingian. ond on mode frod,

(Z. 1842–1845)233 Die „Empfehlung“ des Dänenoberhaupts für die Nachfolge in der Gautenherrschaft, sollte dem derzeitigen Throninhaber etwas zustoßen (Z. 1845 ff.), weist bereits darauf hin, dass die Darstellung hier allmählich vom rein heroischen in das sapientiaIdeal234 des Königs übergeht, der Beowulf im zweiten Teil des Epos sein wird. (Dabei konnte der Weisheitsaspekt bei den vorausgehenden Kämpfen zwangsläufig nicht so deutlich dargestellt werden wie das Gegenstück fortitudo, wurde aber im Anschluss an die Siege immer wieder angesprochen.235) Auch ein struktureller Grund lässt sich somit den ausführlichen Lobesworten zugrunde legen: Vorbereitung und foreshado­ wing der zukünftigen Rolle des Protagonisten im zweiten Teil. Ebenso scheint in der Betonung der Klugheit, und gleichermaßen der Eloquenz, ein retrospektives Moment auf, indem das für den Gauten siegreiche flyting, das ebendiese Qualitäten erforderte, noch ein weiteres Mal ins Gedächtnis gerufen wird. Somit dient dieser Passus darüber hinaus formaler Kohärenz; auch wenn, wie Hill darlegt, Hroðgars überschwängliches Lob wohl der Freude über das unerwartete und überaus taktvoll formulierte Unterstützungsangebot gegenüber dem Dänenkönig (und zusätzlich Hreðric) geschuldet sein wird236 – der Diplomatie eines zukünftigen Herrschers. Hroðgars Versprechen, dass nun „Streitigkeiten ruhen, böse Feindschaften, die sie [Dänen und Gauten] zuvor erlitten“,237 lässt zudem erahnen, dass die nun guten Beziehungen zwischen Dänen und Gauten nicht durchgängig positiv gewesen sein müssen.238 Eventuell spielte auch dies noch eine Rolle beim unfreundlichen Empfang Beowulfs durch Unferð.

233 „Ich hörte nicht klüger, in so jungem Leben, einen Mann (öffentlich) sprechen. Du bist an maegen stark und im Geiste klug, weise an Rede“. Zum Verb s. Klaeber, S. 413: þingian hat üblicherweise die Bedeutung „schlichten, beilegen“ („compound, settle“); der Gebrauch von þingian mit der hiesigen Bedeutung („speak, make an address“) ist ein hapax legomenon, wobei sich auf Basis der Grundbedeutung vielleicht auch eine Konnotation diplomatischen Sprechens (quasi das Schlichten als, in erweitertem Sinne, das Vermitteln zwischen zwei Parteien) ansetzen ließe. Holthausen nennt außerdem noch „bitten, verlangen, eintreten für; sich vertragen, beschließen, planen; anreden“ (Holthausen 1934, S. 366). 234 Kaske (1958, S. 428), der hier eine Steigerung in den diesbezüglichen Beschreibungen notiert. Zu Hroðgar als „model of kingly sapientia“ und einer Diskussion seiner Defizite, s. Kaske 1958, S. 431 ff. 235 Kaske 1958, S. 428. 236 Hill 2008, S. 57 f. 237 ond sacu restan, / inwitniþas, / þe hie ær drugon (Z. 1857 f.). 238 Dazu Hill 2008, S. 59: „presumably in some past well before Beowulf’s arrival, although that enmity may not have been between the two peoples, as Chickering argues“. Chickerings Kommentar zu dieser

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Andererseits ist zu bedenken, dass Hroðgar erwähnte, Beowulf als Kind gekannt zu haben. Die Meinung des Königs über diese Bekanntschaft ist bereits reichlich positiv, muss aber notgedrungen die Folgejahre auslassen. Wie bereits bei der Besprechung des flyting erwähnt, kann Hroðgar noch nicht wissen, was für ein Mann aus dem Kind Beowulf geworden ist, und die offensichtlich freie Hand, die er seinem þyle gegenüber dem Gast lässt, mag auch diesen beiden Unsicherheiten geschuldet sein: der über den Mann und der über die Beziehungen zwischen den beiden Völkern.

4.2.2 Exkurs: Jüngere Theorien über Unferð Einleitend sei angemerkt, dass sich im Beowulf ganz grundsätzlich eine der deutlich­ sten Konstellationen findet, die darauf hinweist, dass der þyle etwas Offizielles oder Institutionalisiertes gewesen sein könnte. Nur im altenglischen Epos tritt der Begriff mit Genitivattribut bzw. possessivus, im übertragenen Sinne auch partitivus, auf (Hroðgares).239 Eine absolute Sicherheit kann aber auch hier nicht bestehen, solange die genaue Bedeutung des Terminus im Dunkeln liegt.

Stelle ist: „The references by Beowulf and Hrothgar to ‚earlier strife‘ at 1828 and 1857–58 will have gently reminded us that the Danes may well need Beowulf’s help again, from monstrous human enemies“ (Chickering 1989, S. 347). Er übersetzt den Abschnitt im Ganzen wie folgt: „You have brought it to pass / that peace-bond, friendship, / shall tie our peoples / Geats and Spear-Danes, / in common kinship / and strife shall sleep, / malicious attacks / which they weathered before“ (Chickering 1989, S. 157, Z. 1854–1858). Die Konstruktion von gemeinsamem Frieden (sib gemæne, Z. 1857) mit dem durch ond verbundenen, direkt darauf folgenden „Ruhen“ (restan) von Streitigkeiten (sacu, inwitniþas – wobei gerade der zweite Begriff stark mit Feindseligkeit konnotiert ist) verliert allerdings viel von der kontrastierenden Kraft, wenn nicht auch die Akteure im zweiten Teil die gleichen sind: Frieden zwischen den Völkern kommt, da ær (zuvor) er-/ausgetragene Feindseligkeiten ruhen (dreogan kann sowohl als „ertragen“ als auch „austragen“ im Sinne von „involviert/aktiv beteiligt sein“ übersetzt werden, s. Klaeber, S. 317). Ganz abzulehnen ist Chickerings Deutung keinesfalls, da ein expliziteres „zwischen“ bei den Stammnamen und auch eine anderweitige Benennung der Beteiligten fehlt. Ebenso kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Erwähnung vergangener Streitigkeiten um einen formelhaften Zusatz im Kontext traditioneller Friedensbekundungen handelt. Aus der Perspektive überwundener Feindschaft ließe sich dabei allerdings sogar eine Übersetzung von þingian als „schlichten, beilegen“ rechtfertigen, wie Holthausen es anbietet. So wäre Beowulf nicht nur der kluge, eloquente Redner, sondern auch der Mann, der die Streitigkeiten zwischen den Stämmen endgültig zur Auflösung und damit den Frieden bringt. Vielleicht enthält ein derart gebrauchtes þingian zusätzlich eine Anspielung auf die temporäre flyting-Feindschaft zwischen Unferð und Beowulf, die spätestens mit der kurz zuvor erfolgten Schwertübergabe endgültig beendet wurde. Auch damit würde dem Gauten wieder ein politisch-diplomatisches Gespür attestiert, wie es einem künftigen König gut ansteht. 239 Z. 1456. Possessivus hier als Befehlsgewalt und Autoritätsverhältnis ausgelegt, partitivus hingegen als allgemeine Zugehörigkeit, wobei „Hroðgar“ dann auch als politischer Körper zu deuten wäre bzw. als pars pro toto für den gesamten Fürstenhof.

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Wie Clover anmerkt, ist eine temporäre, situative Benennung Unferðs, gerade nach dem flyting, als þyle durchaus nicht unmöglich.240 Weiterhin wäre zu überlegen, ob der Begriff in diesem Kontext nicht auch metaphorisch eingesetzt werden könnte, ähnlich einem Idiom wie „[Name]s Kettenhund/Sprachrohr“ und damit auf kein konkretes Amt verweist. Wenn auch einiges darauf hindeutet, erlauben die Belege im Beowulf somit keine vollkommene Sicherheit über die Existenz eines offiziellen Postens, wie auch Church feststellt: „Thus Hunferþ’s status as a þyle simply says that this character holds some sort of presumably official status at the court of Hroðgar as a speaker of some kind“.241 Drei neuere, umfassendere Deutungsansätze Unferðs verdienen in dieser Hinsicht eine genauere Betrachtung: die Untersuchungen Enrights, Gwaras und Donovans, die samt und sonders eine solche Rolle postulieren. Während dabei Enright und Gwara den þyle im Spannungsfeld zwischen König und comitatus verorten, greift Donovan die ältere (und vielfach kritisierte) Hofnarr-Theorie Eliasons wieder auf, legt bei ihrer Darstellung allerdings andere Schwerpunkte und setzt vor allem zeitlich auch deutlich früher an als die Studie ihres Vorgängers, was einige der älteren Probleme verhindert (dafür jedoch neue entstehen lässt). 4.2.2.1 Enright: Der Thul als Vermittler zwischen warband und König Enrights Ansatz basiert zu großen Teilen auf einem Vergleich mit keltischen Parallelen. Hier findet er in Sencha mac Ailella (der unter anderem im Ulster-Zyklus auftritt) Elemente, in denen er starke Korrespondenzen zu Unferðs Beschreibung erkennt: ein offizielles Sprecheramt, Kontrolle über die Männer der duguð, solange der König nicht eingreift, sowie eine Rolle als Mittler des Herrschers. Die frontale Position (im Beowulf zu Füßen Hroðgars) sei hierbei auch aus akustischen Gründen wichtig und zeige den Status des Sprechers an.242 Zwar schränkt er ein: „Strictly speaking, the combination of functions – orator, marshal, sergeant-at-arms – is neither necessary nor indispensable“, bekräftigt aber dann: „but it will normally be done this way since only poor tactics will change in the hall what is useful on the battlefield“,243 um schließlich mit folgender Beschreibung zu schließen: One speaker function flows from the other. The speaker must have a powerful voice to be heard over many, be a dominant warrior for the sake of respect and morale, and be an official delegate in order to be obeyed. He is a counselor because he is a highly experienced warrior who knows the members of the band more intimately than the king does. In loosely organized bands where

240 Clover 1980, S. 468. 241 Church 2000, S. 60. 242 Enright 1998, S. 304. 243 Enright 1998, S. 304.

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rivalry and authority often clash in various ways, he must also be eloquent for the sake of persuasion. An officer who needs to command often is rarely successful.244

Die Perspektive Enrights bietet viele wertvolle Einblicke in die Beziehung von König und offiziellem Sprecher. Dennoch scheint mir, dass er die Verbindungen zwischen angelsächsischer und keltischer (v. a. altirischer) Kultur bei dieser Figur überbetont. Im Beowulf sind zwar durchaus Bezüge vorhanden,245 es deutet aber eher wenig darauf hin, dass gerade bei Unferð ein solcher Einfluss vorliegt. Darüber hinaus beschreiben die keltischen Texte, welche Enright heranzieht, in mehreren Punkten abweichende Szenarien: die exzessive Gewalt, sogar zwischen Gruppen, welche taunts folgen kann und die durch den Sprecher verhindert bzw. eingedämmt wird,246 findet sich nicht einmal in Ansätzen im altenglischen Werk. Ebenso legt die Beschreibung Senchas, welche er zitiert,247 viel mehr Gewicht auf Kompetenz und Kontrollwirkung der Figur allgemein und den friedensstiftenden Aspekt im Besonderen, als bei Unferðs Beschreibung ersichtlich wird. Auch die Erziehung des Helden Cù Chulainn durch Sencha zum eloquenten Sprecher kann Enright nur als Grundlage für das Postulat sehen: „It is, then, the reality of this linguistic/poetic tutoring […] that one must envisage for Beowulf in order to explain his ability to respond to Unferð in the same convoluted language in which he is challenged“,248 ohne dies mit Belegen (für Beowulf oder Unferð) zu untermauern. In der Tat wäre eine solche Vorgeschichte gut denkbar, aber am Text ist sie – wie so viele andere plausible Annahmen – nicht beweisbar und kann daher keine Basis für eine eventuelle Vergleichbarkeit bilden. All diese  – für sich selbst genommen zugegebenermaßen kleinen  – Details deuten somit an, dass selbst ungeachtet der spezifischen poetischen Ausprägungen der beiden Kulturen die Übereinstimmungen in diesem Fall nicht so groß sind, wie vom Autor angenommen. Ein anderes Attribut, welches Enright diesem Amt zuschreibt, ist die öffentliche – und öffentlich wirksame  – Bewertung: „he must also be a taunter and praiser“.249 Diese Doppelfunktion findet sich in der Tat in der germanischen Kultur, indes lässt sie im altnordischen Umfeld eher an den Skalden denken, dem drápa und níð auch direkt

244 Enright 1998, S. 304 f. 245 S. dazu etwa den Überblick von Dumville 1981. Dabei merkt jener Autor allerdings selbst im Zusammenhang mit wealhstod („Übersetzer“) und scop („(mündlicher) Dichter-/Sänger“) an, dass die Natur der Bezeichnungen von „secular court-functionaries of Anglo-Saxon kings“ nicht geklärt ist, und verweist als möglichen Ansatz u. a. auf Hollowells Aufsatz zu Unferð (Dumville 1981, S. 114). 246 „When a contention arose among the Ulstermen, for example, a hundred ‚arose simultaneously and went to their weapons, until Sencha son of Ailill pacified them‘“ (Enright 1998, S. 305). 247 „‚the skillful speaker of the earth, and the peacemaker of the host of Ulster. The men of the world from the sunrising to the sunsetting he would pacify with his three white words‘“ (Enright 1998, S. 305). 248 Enright 1998, S. 308 f. 249 Enright 1998, S. 306.

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zugeschrieben werden, als an den þyle; und tatsächlich fällt auch Unferð zwar durch höhnische, nicht aber durch lobende Worte auf.250 Allerdings würde, spräche man dem þyle in der Tat eine solche Eigenschaft zu, ein Zusammenhang mit der Reginn­ figur der frühen Sigurdlieder bestehen, deren Aufreiz- und Lobesreden mit den Taten des Helden in enger Verbindung stehen. Weiterhin ist Enrights Grundannahme für die folgende Untersuchung: „the þyle, certainly, and the þulr, probably, are both warband figures“.251 Dies geht aus den Belegen allerdings nicht unbedingt hervor. Zwar besitzt Hroðgar eine warband (duguð), eine explizite Assoziierung oder Einbindung Unferðs in die Gruppe fällt im Text gleichwohl nicht ins Auge (ein Problem, welches auch Gwaras Studie betrifft). Noch deutlicher wird dies Detail im Altnordischen: Der einzige im weitesten Sinne „eddische“ Beleg, bei dem sich überhaupt mit einiger Plausibilität eine Verbindung von þulr und warband annehmen lässt, wäre der Víkarsbálkr Starkaðrs.252 Eventuell ließe sich zwar zusätzlich über Odin als Gott der Kriegeraristokratie noch die Brücke zum fimbulþulr der Hávamál schlagen;253 jener tritt dort jedoch in keinerlei kriegeri-

250 Wenn man vom Zugeständnis Beowulfs erfolgreicher Kämpfe absieht, welches bereits besprochen wurde. Dessen Funktion dürfte, wie erörtert, schon aufgrund des flyting-Kontexts nicht als authentischer Heldenpreis im Sinne der davon erwartbaren öffentlichen Wirkung (positive Beeinflussung des Publikums sowie des Gepriesenen, Statusaffirmation und -erhöhung) zu sehen sein, was auch bereits die Konjunktion ðeah (Z. 526, „wenn auch, obgleich“) andeutet, sondern der Einschub wird eher als Attrappe für eine scheinbar ausgewogene Darstellung dienen. 251 Enright 1998, S. 301. 252 „Eddisch“ dann im Sinne von Heuslers und Ranischs Eddica minora. 253 Diesen Weg, welcher hier aber nicht weiter besprochen werden soll, geht Enright selbst, im ersten Kapitel seiner Monographie Lady with a Mead Cup (1996, S. 1–37) sowie in Enright 1998, S. 329 f. (allerdings praktisch ohne Belege für die Grundannahme) . In der Assoziation von Unferð, þyle und Wodan/Odin bezieht sich Enright allerdings auch auf Baird (1970, S. 9), bei welchem in diesem Bereich teilweise ein Zirkelschluss vorliegt: Baird schreibt einerseits: „Moreover, and most significantly, Unferth is, like that other hara þul Reginn, a kin-killer. In short, Unferth seems to have been, somewhere back in the dark matrix whence the poem arose, a servitor of the one-eyed god, a divine favourite, a Woden’s man, a þyle“ (Baird 1970, S. 9), stellt aber andererseits in einer Fußnote fest: „The treacherous, delight-in-fratricidal-conflict side of Woden is not attested in the English tradition, but if the þulr-þyle-Woden relationship is as close as it appears to be, this in itself constitutes some measure of proof that these were possibly characteristics of the English Woden“ (Baird 1970, S. 12). Mit anderen Worten: Unferðs, des þyles, Affinität zu Woden basiert „most significantly“ auf dem Brudermord. Dafür, dass es überhaupt eine Verbindung des englischen Gottes zum Brudermord gibt, ist aber gerade „some measure of proof“, dass eben Unferð, der þyle, des Brudermordes bezichtigt wird. Zusätzlich wird hier eine Nähe von angelsächsischer und altnordischer Kultur zugrunde gelegt, die u. a. auf den zwei Tötungen seitens Reginns und Unferðs fußt und damit impliziert, dass dieser Akt Bestandteil des Thuls gewesen sei, ohne dass sich dies durch andere Indizien stichhaltig untermauern ließe. Denn auch wenn die Parallelen der Anklage in den beiden Fällen augenfällig sind, fehlt eine Vergleichbarkeit im Detail. Zudem gibt Clover zu Recht zu bedenken: „It should be remem-

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schem Zusammenhang auf und die Stellen werden gängigerweise eher als Beleg für runisch-magische Qualitäten gelesen. Zahlreicher sind hier in jedem Fall die Differenzen: Reginn ist kein Mitglied oder auch nur eine „Figur“ eines comitatus, gleichermaßen Vafþrúðnir, von dem nicht einmal kriegerische Aktivitäten bekannt sind. Der „alte þulr“ in den Loddfáfnismál wird nur im Verbaläußerungskontext genannt, ebenso der „þulr-Stuhl“ aus Hávamál Str. 111. Damit ist der überwiegende Kontext der eddischen Auftritte nicht mit der Kriegergruppe verbunden, was zusammen mit der Beleglage im Beowulf die These Enrights etwas problematisch macht. Zuletzt verrät noch die etymologische Übereinstimmung, wenn schon wenig über die tatsächliche Ausprägung des þyle im Altenglischen, zumindest, dass hier ein zu einem gewissen Grade gemeingermanischer Ursprung vorliegen wird, und daher mit etwas höherer Wahrscheinlichkeit eine größere Nähe zur skandinavischen als zur keltischen Kultur; auch wenn eine Beeinflussung selbstverständlich nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Eine so direkte Übertragung der keltischen warband-Figur auf den þyle scheint mir daher im Ganzen nicht vollständig begründet, auch wenn die Theorie durchaus attraktiv ist. Zuzustimmen ist allerdings vielen Detailbeobachtungen Enrights; so etwa, dass Beowulf Unferð als Individuum und nicht als Offiziellen oder gar Vertreter des Herrschers behandelt, weil es sich nicht gezieme, den König anzugehen, oder auch dass Unferð „loyally and laudably“ agiere und die Gabe Hruntings keinerlei sinistren Obertöne enthalte, ebenso wie Beowulfs freundliches Entgegennehmen des Schwertes echt, also weder diplomatischem Geschick geschuldet noch vorgetäuscht sei.254 Ob die Gabe in der Tat ein friedensstiftendes Geschenk des „rouser [who] is also the peacemaker“ ist,255 und damit immer noch offiziell motiviert, trotzdem sie persönlich scheint, wäre wiederum diskussionswürdiger. Gleiches gilt für die Begründung der ausnehmend kritischen Erzählerhaltung gegenüber Unferð mit der historischen Entwicklung der beiden Kulturen insbesondere im Bereich des Heidentums, welchem Enright das „Amt“ des þyle und „warband religiosity“ generell zuordnet,256 für die animistische Verbindung zwischen Schwert und Besitzer im Falle von Hrunting,257 für die meines Erachtens weit über die Maßen zentrale Rolle, welche er dem þyle für gleich beide Teile des Gedichts zumisst,258 und schließlich für seine Deutung der

bered that fratricide and parricide are frequently mentioned in Germanic tradition and that some of its greatest heroes are ‚not free from the stain‘“ (Clover 1980, S. 454). 254 Enright 1998, S. 310. 255 Enright 1998, S. 310. 256 Enright 1998, S. 311 ff.; die Aussage: „On both sides of the Irish Sea the church is required to confront the challenge of warband religiosity, because that institution, wherever it exists, is a principal carrier of an opposing worldview“, findet sich auf S. 314. 257 Enright 1998, S. 316. 258 Enright 1998, S. 324 f.

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Figur als besonders negativ gezeichneter Heide, welcher sogar für die anfängliche Götzenverehrung verantwortlich sei.259 In vielen Fällen scheint also das vom Autor Postulierte durchaus möglich, wird aber nicht durch Textbeweise gestützt. Irving bezeichnet dies Dilemma, was auch auf viele andere Interpretationsansätze zutrifft, präzise als: „The unprovable if not the untenable“.260 4.2.2.2 Donovan: Der Thul als frühmittelalterlicher fool Im Gegensatz zu Enright konzentriert sich Donovan in ihrer Untersuchung mehr auf die Aspekte Unferðs, welche mit dem von ihr beschriebenen Bild des Narren in Einklang stehen. Sie betont ferner die positive Signifikanz Hruntings261 und Unferðs hohen Stellenwert am Hof trotz des angeblichen Brudermords.262 Ihre Lesart ist allerdings teils etwas selektiv. So erklärt sie gleich zu Beginn, Unferð besitze „an acknowledged court title“.263 Für die Autorin steht also die Existenz einer offiziellen, höfischen Rolle, wenn nicht gar eines Amts þyle, a priori fest, was der Text jedoch nicht hergibt.264 Bei ihrem Postulat einer Hofnarrenrolle unterscheidet Donovan explizit zwischen „figures dressed in motley, wearing caps with bells, who are either silly creatures to be pitied because of mental deficiencies or savants like Lear’s fool, who conceal wisdom in the guise of nonsense“265 und „earlier precursors of the later court fool“, die Unferð in der Darstellung deutlich näher stünden: […] were highly regarded, held prestigious court positions; sat often at the king’s feet; used verbal wit to test, maintain, and correct the equilibrium of society; had nearly total freedom to say anything and behave in any manner, including what was often judged socially or politically inappropriate; and were sometimes associated with pagan religion.266

In der Tat lässt sich bei fast all diesen Elementen eine Parallele zu Unferð erkennen; die Charakterisierung wirkt aber, gerade anhand der späteren Erklärungen, eher ein wenig

259 Enright 1998, S. 329 f. und S. 331 f. 260 Irving 1989, S. 39. 261 Donovan 2009, S. 76. 262 Donovan 2009, S. 76. 263 Donovan 2009, S. 76; was sich auf þyle beziehen muss, da sein anderes Attribut, Ecglafes bearn, als reines Patronymikon kein offizieller Titel ist. 264 Etwas später konzediert sie zwar, dass aufgrund der Beleglage „a conclusive definition impossible“ sei, um gleich darauf jedoch zu argumentieren, der „customary seat in the hall and its similarity to regional analogues strongly urges that the profession of þyle be associated with the fool’s historical development“ (Donovan 2009, S. 79). Welcher Art die regionalen Analoga sind, wird dabei nicht weiter ausgeführt. 265 Donovan 2009, S. 77. 266 Donovan 2009, S. 78.

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wie ex post auf den þyle zugeschnitten, als dass sie als gemeines Kennzeichen von mit Unferð dezidiert vergleichbaren Figuren auftreten würde, wie noch dargestellt werden soll. Zuletzt fasst Donovan Unferðs Position in dieser Genese wie folgt zusammen: At some point in the development of these primitive, ceremonial, scapegoat figures into the motley-clad, entertaining mascots of later periods, a figure emerged, who is described as a court official of noble lineage, possibly a pagan priest but also frequently a poet, serving the court from a position near the king, whose duty was to verbally test the worthiness of strangers to the hall through a ritualized form of insults and boasts. The Beowulf poet’s presentation of Hunferth suggests he may be just such a figure.267

Was Donovan also im Endeffekt anstrebt, ist, die positive Lesart von Unferð und flyting (Gastprobe im Auftrag des Königs durch nicht-negative Figur) mit dem Postulat einer angelsächsischen Vorform des später stereotypen Hofnarren in Einklang zu bringen. Auch diese Autorin rückt in ihrer Untersuchung wichtige Elemente ins Licht, so etwa die Bedeutung der Position Unferðs, welche dem Dichter offenbar wichtig genug war, sie gleich an zwei Stellen zu erwähnen.268 Dass Donovan gleich darauf jenen Sitzplatz mit dem Amt verknüpft, ist hingegen nicht unproblematisch: Zwar merkt sie selbst an, dass dies bei der ersten Erwähnung des Charakters noch nicht geschieht („the second specifically links his office with its physical location in the court“269). Das bedeutet rein mathematisch gesehen aber auch, dass nur in 50% der Belege sowohl für þyle als auch für æt fotum sæt eine solche Verbindung gegeben ist, in den anderen 50% nicht, also zumindest absolut gesehen keine höhere Wahrscheinlichkeit für irgendeine der beiden Varianten besteht. Abgesehen davon hebt auch Donovan, wie schon v. a. Enright, auf die spatiale Position als Indikator für die Mittlerrolle des Charakters bzw. des fool ab, welche, wie sie beschreibt, mit größeren Freiheiten in der Äußerung einherging270 – ein Detail, was indes durchaus auch ohne die Existenz einer offiziellen Rolle Gültigkeit besitzen könnte; etwa als (gegebenenfalls nur temporärer) Ehrenplatz aufgrund militärischer Leistungen, persönlicher Achtung oder anderer positiver Züge oder Errungenschaften, welche eine solch engere Beziehung zum Fürsten als Herrscher oder auch Individuum begründeten. In der etymologischen Untersuchung des þyle-Begriffs bezieht sich die Autorin auf die bereits zu Anfang dieses Kapitels erwähnten Diskussionen, insbesondere Rosiers

267 Donovan 2009, S. 78. 268 Donovan 2009, S. 79. Die Möglichkeit, dass es sich hierbei um Repetition aufgrund mündlicher Komposition handelt, sei außen vor gelassen, da sich über diese Feststellung praktisch jegliche erhöhten Frequenzen durch einen Automatismus erklären ließen, ohne dass dieses etwas zum Inhaltlichen beitragen würde; zudem reichen nur zwei Belege insgesamt für eine solche Feststellung kaum aus. 269 Donovan 2009, S. 79. 270 Donovan 2009, S. 80.

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negative Theorie und Bjorks Erwiderung und Korrekturen. Dabei scheint sie allerdings trotz des wörtlichen Zitats271 von Bjork zum Anisomorphismus, welchem, so die bereits erwähnte Kritik, Rosier keine Rechnung trug, leider einem ähnlichen Fehler zu verfallen: Das semantische Netz wird hier ebenfalls zu weit ausgeworfen und lateinische Synonyme für lateinische Übersetzungen des altenglischen Begriffs geraten zum Indiz für die Nähe des þyle zum fool.272 Eine Darstellung, welche noch von einem Zitat Eliasons begleitet wird, dass þyle und gleoman semantisch äquivalent seien, da beide gleichermaßen als histrio und scurra übersetzt würden.273 Auch eine solche Aussage lässt sich allerdings in dieser Form nicht halten: Þyle tritt schließlich beispielsweise, wie erwähnt, auch als Übersetzung für orator auf. Damit kann nicht länger von einer 1:1-Korrespondenz aller Begrifflichkeiten gesprochen werden, sondern nur mehr von dem jeweiligen Terminus als Element einer Menge (der Menge aller Inhalte des Bedeutungsfeldes des jeweiligen Begriffs: þyle, gleoman, histrio oder scurra). Dies schließt die von der Autorin auf histrio, scurra und gleoman beschränkte Deckungsgleichheit aus.274 Donovans Folgerungen aus den altnordischen Belegen betonen dabei vor allem den Autoritäts- und Wissensaspekt, ehe die Darstellung etwas ins Spekulativere abgleitet: In Scandinavian tradition, both the þulr and skald enjoyed an official status characterized by unique autonomy, a special relationship with the lord, and the employment of words as a social corrective, all of which establish commonalities between these offices and those of þyle and court fool.275

Für die Behauptungen zum Status des þulr führt die Autorin dabei hauptsächlich anglistische Quellen an (Baird, Clarke, Enright and Hollowell), um noch Starkaðr als Exemplar für diese Darstellung zu nennen.276 Vafþrúðnir hingegen, oder auch Reginn, welche dem Bild nur wenig entsprechen, finden keine größere Beachtung.

271 Donovan 2009, S. 80. 272 Donovan 2009, S. 80. 273 Donovan 2009, S. 81. 274 Dies auch, weil die Korrespondenz bereits von Eliason sehr eingeschränkt dargestellt wurde: So listen bereits B/T (S. 481) für gleoman bzw. glíman/gliiman etc. zuzüglich zu histrio und scurra noch Glossierungen wie mimus, jocista, pantomimus, sophista und parasitus auf, was die Eindeutigkeit der Übereinstimmung merklich verringert. Gleichermaßen problematisch ist die Logik Eliasons im zweiten Zitat zu den Synonymen für þyle, welches Donovan in einer Fußnote anführt (Donovan 2009, S. 81): „‚if þyle = gleoman and gleoman = scop, þyle = scop‘ (Eliason 1963, S. 281)“. Hierbei wird erneut die jeweilige Bedeutungsbreite, insbesondere von gleoman bezüglich performativer Ausdrucksformen (vgl. die erwähnten Übersetzungsalternativen) und eine daraus resultierende nur anteilige Deckungsgleichheit außer Acht gelassen. Die Gleichung geht jedoch nur auf, wenn vollständige Deckungsgleichheit gegeben ist. Ein deutsches Beispiel für eine solche Argumentation wäre beispielsweise (mit zwecks Verdeutlichung umgedrehter zweiter Gleichsetzung): „ein Sänger ist ein Musiker und ein Flötist ist ein Musiker. Ergo ist ein Sänger ein Flötist“. 275 Donovan 2009, S. 81. 276 Donovan 2009, S. 81.

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Aufgrund des Besitzes des renommierten Hrunting sowie der Bezeichnung als secg und Unferðs Vaternamen Ecglaf schließt Donovan, dass Unferð mitnichten nur Sprecher oder gar feiger Störenfried, sondern Angehöriger der Kriegerkaste war,277 wobei beadu­ rune einmal mehr auf die Verbindung von þyle und secg verweise, wie es auch im Altirischen (filis) der Fall sei.278 Was die Autorin als altirische Charakteristika anführt, ähnelt dabei stark Enrights Argumentation, den sie auch zitiert – mit demselben Problem: Für Handlungen wie „leading troops into battle by reciting secret chants or by shouting a specific verbal act conjectured to be either laughter or curse“279 finden sich in der Literatur zu þyle wie þulr keine Belege, obgleich Donovan feststellt: „Wielding swords as well as words for the benefit of the court are not mutually exclusive abilities in the Irish or Scandinavian analogues“.280 An dieser Stelle wäre erneut von Interesse, worum genau es sich bei den „Scandinavian analogues“ handelt, jedoch werden diese nicht weiter ausgeführt. Angesichts der kargen Belegsituation für þulr läge allerdings nahe, dass hier einmal mehr þulr und Skalde zusammengefasst werden, da bei Letzterem in der Tat höfische Anbindung, Wortkunst und soziale Wirkmacht verzeichnet sind. Bei der Besprechung des flyting schließt sich Donovan Hills Darstellung an, dass Unferðs Äußerungen „highly competitive, albeit contentious counsel-speech“ seien; ein Aspekt welcher von heutigen Lesern häufig zugunsten einer eifersuchtsmotivierten Interpretation vernachlässigt werde.281 Das ist zwar durchaus treffend, jedoch sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei der Eifersucht keineswegs um eine moderne Deutung, sondern eine ausdrückliche Formulierung des Erzählers handelt – was Form, Wirkung und auch sozialer Funktion der Anklage freilich keinen Abbruch tut; beide Aspekte können parallel existieren. Die Eifersuchtsmotivation an sich reduziert die Autorin dabei auf zwei Arten in ihrem Gewicht: Einmal bestehe angesichts des heroischen Versagens der Dänen kein Grund für Eifersucht,282 weiterhin bietet sie eine alternative Übersetzung an, in welcher das dortige Pronomen he nicht auf Unferð, sondern auf Beowulf verweist, jener also eifersüchtig über seinen Ruhm wache und

277 Donovan 2009, S. 81 f. 278 Donovan 2009, S. 81. 279 Donovan 2009, S. 82. 280 Donovan 2009, S. 83. 281 Donovan 2009, S. 84. 282 Donovan 2009, S. 86. Wobei sie meines Erachtens zu großen Wert auf die größeren Umstände und zu wenig auf die Figur selbst legt: Wenn Unferð eifersüchtig über das eigene Ansehen als Vollbringer von Großtaten wacht (wie groß diese im Endeffekt auch immer sein mögen – auch wenn Hrunting signalisiert, dass sie nicht nur in seiner Fantasie bestanden haben dürften), wird er das auch tun, wenn er sich in der jüngeren Vergangenheit nicht unbedingt ausgezeichnet hat. Entsprechend Enrights Verweis auf das hochgradig kompetitive Umfeld des comitatus (Enright 1998, S. 306 und 1996, S. 19 f.) verbessert eine solche Haltung überdies im Idealfall die Kampfkraft des Verbandes, da sie im Endeffekt, wie der beot, zu immer größeren „Konkurrenz“-Heldentaten motiviert.

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ebendies der Grund für Unferðs Unbehagen sei. Da der þyle Beowulfs Versagen im Wettstreit mit Breca kenne, halte er es für Hybris, wenn der Gaute nun mit mærða […] on geogoðe („Ruhmestaten in der Jugend“, Z. 408 f.) vor Hroðgar prahle. Diese Interpretation ist grammatikalisch schlüssig, der unmarkierte Subjektwechsel inmitten eines Satzes im Beowulf, zumal bei einer solchen Aussage – der einzigen Information, welche hier über Unferðs Motivation oder Charakter zur Verfügung gestellt wird283 – wirkt indes vielleicht etwas weniger nachvollziehbar als die verbreitete Lesart eines durchgängig gleichen Subjekts. Von dieser Anfechtung aus stellt Donovan weitere Punkte infrage: Beowulfs Vorwürfe mögen dem flyting geschuldete Übertreibungen sein,284 darunter der der Trunkenheit, welchen sie – wie ich meine zu Recht – als im Vergleich zu den anderen Angriffen untergeordnet einstuft.285 Auch der Brudermordvorwurf müsse, so die Autorin, nicht der Wahrheit entsprechen. Diese Ansicht ist freilich problematisch, denn Donovan beruft sich dabei auf Parks286 und nennt den Austausch „flyting game“,287 etwas später dann „flyting play“,288 womit den Äußerungen praktisch vollständig der verbindliche Realitätsbezug abgesprochen wird. Parks selbst unterscheidet hingegen in seinen Studien strikt zwischen unterschiedlichen Typen verbaler Auseinandersetzungen („verbal contest genres“); ein gesamter Aufsatz, der die Gattungen direkt im Titel trägt („Flyting, Sounding, Debate“) ist einer solchen Untersuchung gewidmet.289 In jener Studie ist weiterhin bemerkenswert, dass Beowulf vom Verfasser eben nicht der spielerischeren Kategorie des sounding zugeordnet wird, sondern ausdrücklich als Beispiel für das „serious or ‚heroic‘ flyting“ dient.290 Entsprechend der Theorie, dass der Vorwurf eine Lüge sei, misst Donovan auch der Verdammung durch Beowulf wenig Bedeutung zu und erkennt in Hroðgars Haltung, die keine Kritik gegenüber Unferð verrät, ein entsprechendes Indiz. Den späteren Erzählerkommentar über das Gebaren des þyle gegenüber Verwandten im Schwertspiel betrachtet sie zwar als signifikanter, dennoch würde die hohe Position des Charakters

283 Dass hier überhaupt auf den Verdruss des þyle Bezug genommen wird, legt nahe, dass dieser für den Erzähler einige Wichtigkeit besaß. 284 Donovan 2009, S. 87. 285 Donovan 2009, S. 88. 286 „The accusation of fratricide in Beowulf’s response to the þyle may seem more incriminatory than beer-drinking, but as Ward Parks and others have shown, the nature of verbal dueling in early heroic literature does not require that [sic] such charges to be true“ (Donovan 2009, S. 88). Leider werden weder für Parks noch für „others“ nähere Quellen angegeben. 287 Donovan 2009, S. 88. 288 Donovan 2009, S. 89. 289 Parks 1986b. 290 Parks 1986b; die Definition des „heroic flyting“ S. 441, genaue Untersuchung S. 445 ff., in Bezug zu Beowulf S. 450 ff. Parks selbst merkt dabei an, dass durchaus noch weitere Genres existieren können und seine Untersuchung nicht erschöpfend ist (Parks 1986b, S. 455).

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dem schändlichen Verbrechen, so es denn wahr wäre, widersprechen.291 Aus diesem Grund bietet sie an, dass der Erzähler hier nicht auf den Brudermord, sondern auf andere Vorfälle rekurriere, die weniger bedeutungsschwer gewesen sein müssten.292 Auf Basis dieser Annahmen widerspricht Donovan der gängigen Lesart der Anrede min wine („mein Freund“) Unferðs durch Beowulf als ironischem Verweis auf „the þyle’s ignoble nature“ (auf eine nicht „unehrenhafte“, sondern konkret feindselige Natur geht sie nicht ein). Für die Autorin ist diese eher jovial oder aus einer früheren, nicht-feindlichen Beziehung begründet,293 zumal beide Kontrahenten Kenntnis der Vergangenheit des jeweils anderen hätten.294 Angesichts der Art des Wortgefechts wie auch der graduellen Steigerung der Angriffe in Beowulfs Antwort wirkt eine ernsthaft und rein freund(schaft)lich gemeinte Anrede hier für mich dennoch weniger wahrscheinlich: Beowulf hat gerade einen Angriff auf seine heroische Glaubwürdigkeit erlitten und Unferð überdies mit keinem Wort erkennen lassen, dass hier eine frühere, gar freundschaftliche Bezie-

291 „inexplicable contradictions“ (Donovan 2009, S. 89). 292 Donovan 2009, S. 89; was ein wenig gezwungen wirkt: Die Natur von Unferðs „ungnädigem“ bzw. „erbarmungs-“ oder gar „ehrlosem“ Verhalten wird schließlich nicht weiter ausgeführt und Beo­ wulfs Verdammung im flyting bietet sich inhaltlich als Referenz an. Ohne eine solche stünde der Satz mehr oder weniger bezugs-, und daher sinnlos im Raum oder aber wäre so mehrdeutig, dass, sollte der Dichter in der Tat Wert darauf gelegt haben, dass es sich hier um eine andere Handlung handelt als die vom Gauten vorgeworfene, zumindest aus moderner Perspektive eine Begriffsklärung angebracht wäre. 293 Instead, Beowulf’s reference to Hunferth as ‚min wine‘, a term he applies to no one else in the poem, somewhat softens his harsh earlier remarks and carries marks of at least joviality and probably familiarity. With these words, Beowulf may allude either to a past relationship with the þyle or to his awareness that Hunferth has offered him an opportunity to prove himself at the þyle’s expense. sowie […] it is also possible that Hunferth knew the hero before these events. In fact, Beowulf’s insistence on using the dual pronouns git and incer in lines 583–84 may imply that Breca and Hunferth also knew each other. (Donovan 2009, S. 90) Gerade die letztere Aussage wirkt verkomplizierend: „Ihr zwei“ und „von Euch beiden“ wäre schon durch den Kontext begründet – Unferð ist der direkte Gegner und Breca der von diesem zum negativen Vergleich herangezogene. Überdies deutet Donovan git als Personalpronomen (2. Person Nominativ Dual) statt als Adverb „noch“ (ne. „yet“), was rein von der Form her möglich ist, sich grammatikalisch aber nicht sonderlich gut einfügt: Mit Breca und ne gehwæþer incer existiert bereits ein Subjekt, das überdies im Singular steht, sodass das damit kongruierende Verb (gefremede, Z. 585) mit git in gewissem Konflikt stünde, da der Dual den Plural erfordert (ein Verb im Plural enthält der gesamte Satz nicht). Unklar ist hier zudem, auf wen sich Donovan mit „his harsh earlier remarks bezieht“, da Beowulf bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Unferð gesprochen hatte (eventuell auf den Erzähler? Auf Unferð?). 294 Donovan 2009, S. 89 f.

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hung zugrunde liegt. Denkbar wäre eventuell, dass die Anrede im Sinne einer Erinnerung an die Gastpflichten zur freundlichen Aufnahme erfolgt – was allerdings in einer Kultur, in der eine Gastprobe via flyting Usus ist, gleichermaßen recht unlogisch wäre. Alternativ müsste der Ausdruck ein stereotyper Teil dieses Empfangs sein und besäße somit ebenfalls keine Aussagekraft über das spezifische Verhältnis. Eine ironische Konnotation, die allerdings durchaus in einer jovialen Anrede mitschwingen könnte, scheint mir daher plausibler. Hilfreich ist hier aber der Verweis Donovans auf das Wissen beider Teilnehmender: Sie besitzen genaue Kenntnisse über ihre Gegner, Kenntnisse, welche sich in der flyting-„Währung“ fruchtbar machen lassen und die sie vermutlich auch dem (textinternen) Publikum voraushaben. Ein weiterer wichtiger Indikator für den spielerischen Charakter des Wortgefechts und damit die Natur von Unferð als fool ist für die Autorin das Gelächter der Insassen Heorots nach Beowulfs Antwort  – zumal es sich hier um das einzige Mal handele, dass ein solches Lachen beschrieben wird.295 Dabei ist der hier zugrunde liegende Gegensatz etwas einengend: „a positive response more akin to the reactions sought by court fools than an uncomfortable confrontation between antagonistic strangers“296 lässt außer Acht, dass auch eine andere Art der Konfrontation denkbar ist. Nämlich eine, in welcher die Antagonismen zumindest teilweise auch formalen Zwängen geschuldet sind (Gastbefragung) und die Streitigkeiten durch den Rahmen begrenzt werden. Überdies folgt das Gelächter der Krieger auf die Freude Hroðgars (on salum, Z. 607, wörtl.: „in Freuden“) und auch bei den Kämpfern wird von „gefälligen, erfreulichen“ (wynsume, Z. 612: „pleasant, agreeable; […] joyous“297) Worten gesprochen. Es stellt sich daher die Frage, ob das Lachen somit von Unferð in der Tat „gesucht“ wurde oder eher die erleichterte, hoffnungsfrohe Reaktion auf die für Heorot positive Antwort Beowulfs war. Dies lässt sich zwar einmal mehr nicht mit letzter Sicherheit beantworten, ich tendiere aber stark zur zweiten Deutung: Würde Unferð vor allem das Gelächter seiner Hallengefährten suchen und es sich in der Tat größtenteils um einen weniger ernsten Austausch handeln, stellt sich die Frage, wieso Unferðs Umgang mit Verwandten vom Erzähler wieder aufgenommen wird,298 sowie vor allem, wieso Beowulf sich überhaupt die Mühe macht, offensichtlich konkrete Fakten in seine Antwort und den folgenden Angriff einzubeziehen (wie etwa auch die Niederlage der Dänen gegen Grendel), wenn er doch einfach auf maximale komische Schlagkraft abzielen könnte. Gerade das humoristische Element arbeitet Donovan noch weiter aus dem Text heraus. So sei es möglich, dass Unferðs Trunkenheit gespielt sei, um Beowulf so

295 Donovan 2009, S. 92. 296 Donovan 2009, S. 92. 297 B/T, S. 1286. 298 Was Donovan allerdings, wie bereits erwähnt, bezweifelt.

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angehen zu können, dass es nicht bedrohlich erscheine: „Hunferth’s behavior here may represent a comedic game of serious import that is intended to amplify the status and credibility of both men“.299 Das klingt interessant, allerdings verweist der Erzähler selbst später ja explizit auf die Worte von Unferð, welche dieser wine druncen gesprochen hatte (Z. 1467), sodass es eher unwahrscheinlich dünkt, dass dieser Zustand nur gespielt war. Eine letzte wichtige Feststellung macht Donovan zum Stil der Äußerungen, nämlich, dass diese bereits vor Beginn der wörtlichen Rede durch maþelode (Z. 499) als formalisiert markiert sind: „implying a listening, nonparticipating public separate from the person to whom the speech is immediately directed […], formal, even performative function“.300 Dass es sich hierbei um eine spezielle Art Sprechakt handele, ist einleuchtend; dass dieser Unferð „by duty and right of his position“ zukomme,301 naheliegend, dennoch ein (traditioneller) Streitpunkt, welcher sich gut in Donovans Interpretation einfügt, für den der Text aber – einmal mehr – keine Beweise bietet. Was die sonstigen Auftritte des Charakters betrifft, zweifelt die Autorin – meines Erachtens zu Recht – an der sinistren Deutung v. a. früherer Untersuchungen: Weder sei die Schwertgabe ironisch oder gar hinterhältig,302 noch lasse der Name Rückschlüsse auf einen negativen Charakter zu. Beide Punkte wurden in dieser Arbeit bereits besprochen, sodass nicht mehr weiter darauf eingegangen werden soll.

299 Donovan 2009, S. 93. 300 Donovan (2009, S. 84), unterstützt durch die Feststellung, dass dieser Gebrauch für maþelode das gesamte Werk hindurch auftritt. 301 Donovan 2009, S. 84. 302 Wobei ihre Ansicht, dass Unferðs Ruhmverlust durch Hruntings Gabe positiv gelesen werden sollte, da der þyle hier guten Namen gegen die Sicherheit seines Volkes tausche (Donovan 2009, S. 94) mir etwas zu modern erscheint. Auch die These, diese Handlung „perhaps again suggests the similar willingness of the fool’s historical antecedents to subordinate himself for the needs of the court“ (Donovan 2009, S. 94), dürfte eher schwer haltbar sein: In einer heroischen Gesellschaft ist die soziale Währung dom bzw. lof  – ein guter Name, Preis und Ruhm. Und von Unferð hat man schon zuvor erfahren, dass er eifersüchtig über sein Ansehen wacht  – der Übertritt zur guilt culture, in der ein reines Gewissen vor Gott öffentliche Schande wett, eher noch irrelevant macht, hat bei den Dänen des Beowulf noch nicht stattgefunden. Dazu wurde das schmachvolle Pflichtversagen von þyle und dänischem comitatus im Konflikt mit Grendel bereits durch den Gauten als Vorwurf im flyting eingesetzt, was darauf hinweist, dass es sich hier um eine Art neuralgischen Punkt handelt, auf jeden Fall aber nochmals vor Augen führt, dass für Unferð das Ansehen eine sehr hohe Bedeutung besitzt – und sich daher im Streitgespräch trefflich instrumentalisieren lässt. Zuletzt preist der Dichter den þyle auch mit keinem Wort für seine Entscheidung, vielmehr stellt er lakonisch den Verlust an dom fest, was man daher durchaus genau so lesen kann, wie es geschrieben steht: Der Waffen(auf)gabe folgt die individuelle Statuseinbuße (von unbekannter Größenordnung), wie positiv auch immer die Folgen der Handlung letztendlich sind.

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Dass Unferðs Name hingegen Anklänge an die anderer Narrenfiguren tragen soll,303 wirkt zwar nicht unlogisch, es gibt andererseits aber keinen zwingenden Grund, den Namen nicht mit Fulk schlicht als einen historischen zu lesen, dessen mögliche Bedeutung für den Charakter nicht wichtig ist. Dazu kommt, dass die Bedeutungen der Komponenten, welche Donovan zitiert („a simple negative prefix, ‚base‘, ‚high‘, ‚giant‘, or someone from the tribe of the Huns. […] ‚peace‘, ‚spirit‘, ‚mind‘, ‚life‘, and ‚journey‘“304), größtenteils ziemlich generisch sind und damit zu fast jeder Figur im heroischen Kontext des Beowulf passen würden, welche einen größeren Auftritt hat, sowie auf Unferð als Akteur, ohne dass damit eine besondere Profession oder Rolle verknüpft wäre. Dass es im Beowulf aber durchaus sprechende Namen gibt und schon allein deshalb Donovan Robinsons Hinweis auf die „medieval preoccupations with name-meanings“ zu Recht anführt,305 bleibt davon unbenommen, weshalb ihre Deutung nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Im Ganzen würde ich Donovan daher zustimmen, dass es sich bei Unferð nicht um eine erkennbar negative Figur handelt, sowie darin, dass seine Handlungen im Rahmen der im Text dargestellten Gesellschaft logisch motiviert sind und sich auch nicht gegen selbige richten. Dies gilt sowohl für das flyting als auch die Schwertgabe. Nicht folgen kann ich ihr in der Darstellung Unferðs als „frühem Hofnarren“, denn dazu bleibt die Ausprägung einer solchen Figur in der angelsächsischen Kultur zu dunkel, sind die Parallelen zum Altirischen zu uneindeutig (zumal Unferð hier einmal mehr als einziger Vergleich aus dem Altenglischen dient, was fast zwangsweise zu Zirkelschlüssen führen muss) und scheinen mir die komischen Elemente auf zu vielen Annahmen zu basieren, die sich am Text nicht unbedingt beweisen lassen. Auf die von Donovan ausgemachten Figur-„Parallelen“ soll nun noch einmal genauer eingegangen werden, da diese für die Deutung des þyle generell interessant sind. Folgendes merkt die Autorin selbst an: „The main obstacle to a definitive identification of Hunferth as a court fool is the paucity of reliable historical documents for such figures in early periods“.306 Das Argument für eine solche Existenz hingegen ist etwas unbefriedigend: „Nonetheless, fools are recorded in English or Norman circles within a short time of the composition of the Beowulf manuscript“.307 Ganz abgesehen von der Unterscheidung zwischen (strukturell-inhaltlicher) Text- und (physischer) Manuskriptproduktion  – eine Problematik, die sich bereits mangels einer verlässlichen Datierung der Komposition kaum lösen lassen wird  – sind die Beispiele, welche Donovan im Anschluss anführt, entweder inhaltlich unzureichend oder entstammen

303 Donovan 2009, S. 95. 304 Donovan 2009, S. 95. 305 Donovan 2009, S. 95. 306 Donovan 2009, S. 96. 307 Donovan 2009, S. 96.

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einer anderen Kultur. In Anbetracht der (groben) Datierung des Beowulf-Manuskripts in den Bereich der Jahrtausendwende308 und der diese Zeit umrahmenden Konflikte um die Herrschaft in England ist dies zwar wenig verwunderlich, aber auch recht problematisch. Im Einzelnen: Über den joculator Nithard, welcher Edmund Ironside diente, vermerkt die Autorin: „we know nothing about his behavior in the court“, und verweist auf „associations“ zwischen lateinischem Terminus und þyle-Komposita.309 Beide Punkte sind diskussionswürdig: Ohne Belege, dass der joculator sich ähnlich verhielt wie Unferð – oder zumindest, wie überhaupt sich der so Bezeichnete verhielt –, sind Begriff wie Charakter kaum von Beweiswert. Die Terminologie wiederum zieht einmal mehr ein Kompositum heran, wo das Simplex angebracht wäre und konstruiert hier überdies translingual eine eigentlich nicht existente Beziehung: Þyle ist nirgendwo als jocula­ tor glossiert, nicht einmal als Kompositum. Vielmehr tritt der lateinische Begriff, wie bereits mehrfach angeklungen, als Synonym für die ebenfalls lateinischen scurra und histrio auf, welche als Übersetzungen für hofðelum und fæþelas verwendet werden.310 Das Problem eines solchen Konstrukts wurde bereits diskutiert. Das nächste Beispiel, Taillefer, der ioglere, unterliegt terminologisch derselben Problematik. Überdies entstammt die Figur der normannischen Kultur William the Conquerors, welche erst nach 1066 England beherrschte und damit kaum für die Gestaltung eines früheren angelsächsischen Textes maßgeblich sein kann. Donovan selbst weist zudem darauf hin, dass: „records of Taillefer’s role in the battle occur only in later texts“,311 was die Beweiskraft weiter mindert. Auch ein anderer fool, welchen die Autorin anführt, entspringt dieser normannischen Kultur, William the Conquerors Narr Golet,312 und wirft daher dieselben Fragen auf. Ein weiterer, Berdic, welcher auch als joculator regis bezeichnet wird, ist im Domesday Book von 1086 verzeichnet313 und damit zeitlich noch weiter vom Beowulf entfernt. Donovans Schlussfolgerung: „The evidence from from these historical fools indicates that figures similar to what has been proposed here for Hunferth were known to audiences in English and Norman courts at a time not far removed from the composition of the Beowulf manuscript“,314 ist daher zwar korrekt, übersieht aber zwei zentrale Punkte: Kein einziger Beleg, welcher über die bloße Erwähnung eines jocu­ lator hinausgeht, steht in Zusammenhang mit der angelsächsischen Kultur der Zeit

308 Üblicherweise auf Basis der Hände und in der genaueren Bestimmung sehr umstritten, s. Orchard 2003, S. 20. 309 Donovan 2009, S. 96. 310 Donovan 2009, S. 80. 311 Donovan 2009, S. 96. 312 Donovan 2009, S. 96. 313 Donovan 2009, S. 96. 314 Donovan 2009, S. 97.

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vor 1066. Zudem mögen die Belege in nicht großem zeitlichen Abstand zum BeowulfManuskript stehen, zwei Aspekte dieses Abstands sind aber durchaus von Interesse: Zum einen liegen sie fast ausnahmslos315 in der Zukunft; die Entwicklung von Unferð auf deren Basis ist also unwahrscheinlich; Vorläufer der normannischen Figuren hätten hier zwar einen Platz, nur ist über solche nichts bekannt. Zum anderen, und viel wichtigeren, jedoch, brachte, was in diesen wenigen(?) Jahren zwischen der Komposition des Beowulf und der Herrschaft der Normannen in England geschah, eine der größten gesellschaftlichen Umwälzungen, welche England jemals erfahren würde: die Vernichtung bzw. Unterdrückung der bisherigen Eliten (und damit der Zielgruppe der angelsächsischen Literatur überhaupt!) sowie deren Verdrängung durch die Oberschicht der Normannen; mit einer eigenen Kultur, Tradition, Institutionen, Literatur und Kontakthistorie sowie natürlich einer anderen Sprache. Eroberer, in deren Gesellschaft Jongleure und Possenreißer ganz offensichtlich traditionell stärker verankert waren. Diese Punkte mindern die Beweiskraft der iogleres und joculatores in meinen Augen ganz erheblich, woraus sich im Endeffekt ergibt, dass keine verlässlichen Beweise für die Existenz und Ausprägung einer genuin angelsächsischen Figur, wie von Donovan postuliert, zu finden sind. Selbst Nithard kann hier nicht als eindeutiger Hinweis dienen, denn neben der Unsicherheit über Natur und Funktion kann auch von seinem Namen aus nicht verlässlich auf angelsächsischen Ursprung geschlossen werden. Zu ihm vermerkt Southworth: […] a man called Nithard, who is described as joculator to King Edmund Ironside (c. 981–1016). After the death of his father Aethelred, and his coronation in London in the spring of 1016, and with Cnut and his invading forces already ensconced in Southampton and threatening to besiege London, Edmund set out to raise an army in his power-base in the south-west. It is possible that Nithard joned him then, or he may have been with him from an earlier, more settled time. The name is Frankish, but in the absence of any records of Nithard during Edmund’s tumultuous reign of less than a year – or, indeed, until many years later – we can only speculate as to his origins.316

Ein letztes, wenn auch nur eventuelles Problem der These im Allgemeinen dürfte noch die Bezeichnung an sich darstellen: Fool beschwört, trotz der anfänglichen Differenzierung durch die Verfasserin, gerade auch mangels eines verlässlichen Modells im frühen England für die „Vorform“, nolens volens immer etwas die Konnotation des Spaßmachers oder Possenreißers herauf, da eben erst diese Ausprägung gesichert ist. Im Abheben auf die komischen Elemente von Unferðs Performanz folgt Donovan diesem Bild dann auch zu einem gewissen Grade selbst. Ebendiese Punkte lassen sich jedoch mit am schwersten untermauern, während man andererseits Donovans Ver-

315 Außer Edmund Ironsides joculator Nithard. 316 Southworth 1998, S. 23.

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teidigung Unferðs gegen das Bild des bösen Antagonisten des Helden317 rückhaltlos zustimmen kann. Aufgrund all dieser offenen Fragen scheint mir Enrights in vielen Punkten sehr ähnliche Interpretation naheliegender, auch wenn ich im Endeffekt beide Ansätze, nämlich die einer festen Position mit dem Namen þyle, sei es nun in der warband oder als fool, für nicht ausreichend beweisbar halte. 4.2.2.3 Gwara: Thul und heroische Identität Gwara schließlich, dessen Werk eine Untersuchung der heroischen Identität im Beowulf vornimmt, arbeitet vorwiegend mit dem wrecca-Begriff.318 Gängigerweise als „Ausgestoßener, Exilant“ übersetzt, oft mit der Konnotation einer bedauernswerten Existenz,319 besteht auch eine etymologische Verwandtschaft zum deutschen „Recke“.320 Dies Spannungsfeld zwischen einsam-individualistischem Außenseiter und potentiellem Heroen ist eine der Grundlagen für Gwaras Untersuchung. Er zieht das alleinige Erklärungsmodell „heroischer Code“ für Beowulfs Verhalten dabei ebenso in Zweifel wie das der dem Text latent unterliegenden christlichen Werte (beides sei ein „indeterminate cultural paradigm“321) und sieht in ebenjenen beiden Erklärungsmodellen die zwei Pole, zwischen denen sich der Autor bewegt. Etwas, das gleichzeitig die beiden Arten des Publikums – textintern und textextern – und die daraus resultierenden Ambivalenzen abbilde.322 Aus dieser Perspektive ist Beowulf ein „peripatetic warrior or adventurer“,323 dessen Wunsch, sich zu beweisen, heroischen Status zu gewinnen, seine Reise innerhalb des Textes motiviert, während die altruistischere und damit gottgefälligere Seite der Reise eher das christliche Publikum adressiere.324 In jedem Fall stelle Beowulf in Dänemark einen Fremdkörper dar; derartige Gastkrieger, so Gwara, seien aber auch historisch verbreitet gewesen und es sei gerade von (buchstäblich) ruhmreichen Anführern eine große Anziehungskraft ausgegangen; was sich auch im Beowulf niederschlage, wo Hroðgar mehrere fremde Krieger in durchaus auch gehobenen Stel-

317 Donovan 2009, S. 97. 318 Gwara 2008, S. 13 ff. 319 B/T, S. 1273; aber auch dort wurde bereits die Bezeichnung „pilgrim“ aufgelistet; das Supplement nennt noch zwei generischere Übersetzungen, nämlich „Wanderer“ und „(Erd-)Bewohner“ („pere­ grinus, […] incola“, B/T Supplement, S. 750). 320 Holthausen 1934, S. 407. 321 Gwara 2008, S. 12. 322 Gwara 2008, S. 12. Am deutlichsten macht sich diese Dichotomie in der Bewertung von Beowulfs Motivation bemerkbar, also in der Frage, ob das Verlangen nach dom und lof positiv (heroisch) oder negativ (superbia) einzuschätzen ist. Vor allem auch, in welchem Licht Beowulfs Kampf mit dem Drachen im zweiten Teil erscheint, steht eng damit in Verbindung. 323 Gwara 2008, S. 14. 324 Gwara 2008, S. 14.

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lungen besitze, wie beispielsweise Wulfgar.325 Der þyle nun, dient als weiteres Beispiel für einen solchen Gastkrieger: Another foreign soldier, Hunferð, holds the office of þyle […], but Hunferð represents a different kind of adventurer with a more sinister reputation. Because Hunferð had a hand in the death of his brothers, he may belong to the social category of wreccan, a term translated variously as ‚exiles,‘ ‚outcasts,‘ or ‚adventurers.‘326

Die gemeinsamen Züge der Figuren, welche für Gwara Rückschlüsse auf den variablen Typus zulassen, beschreibt er wie folgt: Both Wulfgar and Hunferð have strength, courage, and zeal for glory. The difference between them lies in the way they express these heroic endowments in their behavior, either sensibly or rashly.327

Diese Charakterisierungen verbindet der Autor mit einer etymologischen Analyse des wrecca-Begriffs, welche leider die Quellen schuldig bleibt, sodass z. B. für die an sich schlüssig wirkende Aussage „wreccan are exiled for the same ruthless ambition that motivates other foreign fighters seeking glory abroad“328 keinerlei Belegstellen oder anderweitige Begründungen gegeben werden. Gerade im Kontext der altenglischen Elegien, in denen dieser Begriff ebenfalls auftritt (z. B. The Seafarer, Z. 15; The Wife’s Lament, Z. 10), finden sich Indizien für eine solche Darstellung aber zumindest nicht, und auch der metaphorischen Bedeutung, wie von B/T verzeichnet,329 fehlt eine derartige Komponente (Gwara geht später noch auf diese Belegstellen ein, ordnet sie aber nur anderen „kinds of wreccan“ zu, wobei er die Typen an der Art des Heimatverlusts festmacht.330 Diese Kategorisierung erschließt sich allerdings nur zum Teil logisch.331). Die Grundidee dieser Darstellung, die Ambiguität des heroischen Ehrgei-

325 Gwara 2008, S. 14 f. 326 Gwara 2008, S. 15. Die Bezeichnung „foreign soldier“ lässt sich allerdings nicht am Text belegen. Klaeber (S. 424) und Jack (1994, S. 229) beschreiben Unferðs Vater Ecglaf im Personenregister ebenfalls nur als „a Dane“ – wobei dies auch weiter gefasst sein kann und dann die gesamte Gefolgschaft, einheimische wie dazugestoßene Krieger, umfassen könnte. Davon abgesehen ist Gwaras Formulierung: „had a hand in the death of his brothers“, eine überaus treffsichere Beschreibung des faktischen Kerns der Fratrizidvorwürfe Beowulfs, ebenso wie der damit einhergehenden (und im flyting von dem Gauten bewusst eingesetzten) Unschärfe. 327 Gwara 2008, S. 16. 328 Gwara 2008, S. 16. 329 B/T, S. 1273. 330 Gwara 2008, S. 74 f. 331 Beim Exil der Sprecherin von The Wife’s Lament handele es sich etwa um „reasons unknown, perhaps erotic“ (Gwara 2008, S. 74), was – moderne Rezeptionsproblematik als Kategorieindex? – ein wenig aussagekräftiges Kriterium zu sein scheint. Plausibler wirken da noch die Beispiele für den Wanderer und Seafarer, wo der Herrscherverlust von einer Abwesenheit von Termini wie fæhð und

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zes, gemahnt entfernt an Klaus von Sees – nicht unumstrittene – Heldentheorie, nach der der germanische Held sich grundsätzlich signifikant außerhalb etablierter gesellschaftlicher Normen bewegt.332 Solchermaßen exilierte Kriegerfiguren könnten sich nun fremden Herrschern anschließen und vergrößerten deren Macht und dadurch Einflussbereich. In Wulfgars erster Einschätzung von Beowulfs Motivation für die Reise nach Heorot fänden sich, so Gwara, die beiden Extreme ausdrücklich genannt: ‚for wlenco  / nalles for wræcsiðum‘ (‚for reasons of glory, not at all because of exile,‘ 338). In my view, Wulfgar’s verdict first introduces a key anxiety that frames Beowulf’s ambition – that he could, in light of his pre-eminence and ambition, cross the behavioral threshold separating wreccan from other adventurers.333

fyren, also negativ konnotierter Taten, begleitet wird (auch wenn nirgendwo im Gedicht ausdrücklich formuliert ist, dass die Exilanten an ihrem Status völlig schuldlos sind. Bei beiden scheint allerdings der Tod des Herrn unabhängig von eigenen Handlungen eingetreten zu sein). Die Beispiele für den „less familiar type of wrecca […] warriors who, on account of violent action or betrayal, have been exiled from their homelands“ (Gwara 2008, S. 75) wiederum stammen ausschließlich aus Beowulf, obwohl die Kategorisierung selbst eher allgemeingültig formuliert ist. Letzterer Klasse wird schließlich im Folgenden auch Unferð zugeordnet, obwohl, wie Gwara selbst vermerkt, „Hunferð, Ecgþeow, and the sons of Ongenðeow are never called wreccan in Beowulf“ (Gwara 2008, S. 75). Ein wenig besteht hier also die Gefahr des Zirkelschlusses. In einer spätere Passage stellt Gwara zudem fest: „Old English texts consistently document the nature of wreccan as arrogant, contemptuous of their superiors, including kinsmen, and unnaturally violent – incapable of restraint, in other words“ (Gwara 2008, S. 79). Auch dies stimmt nicht ganz mit der zuvor angeführten Kategorisierung überein. Es stellt sich daher die Frage, wie sinnvoll es ist, wrecca derart spezifische autonome Kategorien zuzuordnen, oder ob es nicht doch ratsamer wäre, nur den Oberbegriff als, beispielsweise, „Status der Herren- und damit Heimatlosigkeit aufgrund des Verlustes sämtlicher sozialer Bindungen, insbesondere im Rahmen eines comitatus“ zu definieren, der erst vom jeweiligen Dichter seine spezifische Ausprägung erfahren hat, was Ursachen sowie moralische Beurteilung betrifft. Letzteres hielte ich für ratsamer, so lange keine spezifischen Studien zu diesen Kategorien vorliegen, welche sich vor allem auch der Frage widmen, wie viele Belege es für Figuren gibt, die sich aufgrund eigener (Schand-)Taten im Exil befinden, ohne wrecca genannt zu werden. 332 von See 1981, S. 166 ff., insb. S. 171. Problematisch ist diese Theorie unter anderem, weil ihr eine recht selektive Lesart zugrunde liegt, in der etwa im Punkt „Treue“ der Verrat herausgestellt, nicht aber die ihn motivierenden widerstreitenden Treuepflichten maßgeblich miteinbezogen werden. Auch das Textrepertoire ist bei dieser Darstellung etwas eingeschränkt  – die Atlaqviða bietet sicherlich genügend Beispiele für Exzess, Verrat und Brutalität; ihr wären aber durchaus Texte aus vorausgehenden Episoden des nordischen Nibelungenstoffes gegenüberzustellen gewesen, etwa die Helgi- oder auch frühen Sigurdlieder. 333 Gwara 2008, S. 17. Angesichts einer solchen Dichotomie ist es schon beinahe ironisch, dass auch der erste Begriff Wulfgars, nämlich wlenco, negative (v. a. aus „christlicher“ Perspektive) wie positive Konnotation haben kann. Allerdings gibt es, wie bereits angesprochen, wenig Anzeichen dafür, dass hier ein negativer Beiklang vorliegt. Der Grund dafür liegt in der Dreierkonstallation for wlenco … nal­ les for wræcsiðum … ac for higeþrymmum mit dem dezidiert positiven higeþrymmum („Stärke des hige“ („Geist“, „Herz“); vgl. B/T, S. 580; Klaeber, S. 356), das im Muster ABA mittels ac dem Begriff wræc­ siðum gegenübergestellt wird. Dadurch markiert es selbiges als negativ, welches wiederum durch nal­ les als Gegenteil zum folglich positiven wlenco fungiert.

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Eine viel wichtigere Rolle erhält in diesem Zusammenhang auch Beowulfs Vater Ecgþeow, welcher der wrecca-Beschreibung Gwaras voll entspricht (allerdings eben ohne als solcher bezeichnet zu werden): Als Verursacher einer Fehde floh er aus seiner Heimat zum fremden Herrscher Hroðgar, welcher diese schließlich für ihn beilegen konnte.334 Aus derartiger Perspektive heraus erscheint Hroðgars Unsicherheit über den ehedem bekannten Knaben in noch hellerem Licht: „does Beowulf, like his father, also have the potential for such violence?“335 Im Folgenden beginnt der Autor einen Vergleich Beowulfs mit unterschiedlichen wrecca-Figuren, darunter Sigemund als positiver, also gesellschaftsstützender, heroischer („exile-paragon“) sowie Heremod als negativer, gesellschaftszerstörender.336 In diesem Kontext tritt auch Unferð wieder auf, dem der Autor bestimmte Funktionen zuschreibt, welche allerdings erneut an Quellenmangel leiden. So gehörte Gwara zufolge zu den Aufgaben des þyle die Lehre der etiquette of wisdom, especially the kind of self-restraint or moderation so often advocated in Old English ‚wisdom literature‘. New research on the office of þyle enables us to theorize that intricate verbal features of Beowulf’s retort to Hunferð parody the language of native wisdom found in poems like Precepts and Vainglory.337

Die Literaturangaben für diese neue Forschung bleibt Gwara dabei leider ebenso schuldig338 wie jene für die Lehraufgaben des þyle und das, wo doch gerade augenfällig ist, dass der Begriff im Altenglischen bei Weitem keine so enge Verbindung zur Weisheitsdichtung besitzt wie im Altnordischen. Der „gelehrte þyle“ (gelæred þyle), welcher diesem Bild wohl noch am nächsten käme, findet sich nur als lateinisch-altenglische Glosse des doctus orator; ansonsten schwebt der Terminus fast schon frei im Raum. Trotz dieser Unsicherheiten trifft sich die Schlussfolgerung über Unferðs (Teil-) Motivation für das flyting dann wieder mit der vieler anderer Forscher – und auch mit Donovans Studie: der Glaube der Figur, dass Beowulfs beotas, Grendel zu besiegen, unbegründet seien; hier noch beschwert mit dem Vorwurf des Stolzes an den Helden: „he is a conceited boaster“.339 Eine wichtige Beobachtung des Autors verweist dabei

334 Gwara 2008, S. 17. 335 Gwara 2008, S. 17. 336 Gwara 2008, S. 59 ff. 337 Gwara 2008, S. 59 ff. 338 Eventuell sind hier die Studien von Silber und Church mit ihrem Fokus auf rhetorischen Strukturen und Elementen gemeint. Selbst wenn dies die zutreffenden Quellen wären, brächte dies aber keine Aussagen über die Lehre mit sich und würde nur eine gewisse Eloquenz bzw. rhetorische Kompetenz, vermutlich durch Schulung, implizieren, welche zudem nicht notwendigerweise mit dem þyle verknüpft sein müsste: Beowulf antwortet entsprechend und auf (mindestens) gleichem Niveau, ohne diese Bezeichnung zu tragen. 339 Gwara 2008, S. 60.

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implizit auf den abgeschlossenen Rahmen des Wortgefechts: „the evidence does not validate Hunferð’s opinion of Beowulf  – but neither is it invalidated“340  – Beowulf besiegt zwar Unferð, bzw. das flyting geht eindeutig zu seinen Gunsten aus, damit ist aber nicht notwendigerweise gesagt, dass sich alle Ereignisse beim Breca-Abenteuer auch exakt so zugetragen haben müssen, wie von dem Gauten dargestellt. Der Erzähler selbst bestätigt weder, noch entkräftet er eine der beiden Versionen ausdrücklich. Dieser Blickwinkel findet sich bereits bei Clover mit ihrer Betonung auf der Interpre­ tation der Ereignisse, welche zentraler Gegenstand eines flyting sind. Aus dieser Position heraus stellt Gwara dann auch Beowulfs in der gängigen Forschung angenommene „moralische Position“341 infrage und trennt sie dadurch obendrein etwas vom verbalen Kampf ab. Die Grundlage dafür bildet seine Einstufung der von Clover ausgemachten argumentativen thematischen Klassen als „dubious ‚moral‘ categories“.342 Dies ist nun ein Punkt, welcher es eher schwer macht, dem Autor zu folgen: Zwar ist die Beobachtung zutreffend, dass im heroischen flyting Handlung und Härte schlagende Argumente sind und das Gespräch als Errungenschaft entsprechend abgewertet wird; allerdings ist daran eigentlich wenig „zweifelhaft“, bzw. mir erscheint eine solche Bewertung eher moderner Perspektive geschuldet. Dies gilt insbesondere auch für den Zusatz „even when ‚action‘ might be barbaric or reckless“343 – welche Maßstäbe liegen hier für „barbarisch“ und „rücksichtslos/tollkühn“ an? Mittelalterliche, und wenn ja, christlich-homiletische oder „heroische“? Oder doch eher neuzeitliche? Diese Einstufung bildet, zusammen mit der Ansicht, Beowulfs Antwort gegenüber Unferð „viciously distorts the ‚facts‘ of Hunferð’s kin-killing“344 die Basis für ein später von Gwara vorgeschlagenes neues flyting-Modell. Zuvor stellt der Autor aber noch die Hauptcharakterzüge des wrecca wie auch des nicht-exilierten fremden Kriegerabenteurers dar: „ambition, aggression, and impaired loyalties“.345 Diese eingeschränkten Loyalitätspflichten bzw. Zugehörigkeitsgefühle, welche jene bedingen und die sowohl größeren Freiraum als auch größeres Potenzial für Untaten bergen, sind in der Tat beiden Typen von Wanderkriegern in einer stark stammesgesellschaftlich ausgerichteten Kultur gemein,346 und auch Gwaras These, dass Beowulf dieses Feld des „liminal status“347 auslote, erscheint plausibel:

340 Gwara 2008, S. 60. 341 Gwara 2008, S. 60. 342 Gwara 2008, S. 60. 343 Gwara 2008, S. 60. 344 Gwara 2008, S. 61. 345 Gwara 2008, S. 76. 346 Gwara 2008, S. 76. 347 Gwara 2008, S. 76.

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[…] the Beowulf poet examines Beowulf’s heroic motivation in just these terms. He describes an exile’s distinctive mentality and its reflexes in multiple social environments as a way of discovering the proper, ethical limits of heroic action. The intradiegetic comparison of Beowulf to wreccan and the men who resemble such exiles suggests that Beowulf may share their identity. Hence, the ‚hero‘ must be cautioned to suppress any possible venality in awareness of the potential for moral and political depravity.348

Denkt man etwa an Hroðgars „Predigt“ nach Beowulfs Sieg, wirkt diese Darstellung äußerst schlüssig. Allerdings fällt hier auch eine gewisse Unschärfe ins Auge: Da Unferð und Ecgþeow im Text gerade nicht als wreccan bezeichnet werden, wird in der These mit der Gruppe „wreccan and the men who resemble such exiles“ gearbeitet – was in gewissem Sinne der Kategorisierung wieder entgegenläuft. Die Unferð-Episode betrachtet Gwara dann auch aus entsprechendem Blickwinkel. Dabei widmet der Autor einmal mehr dem Namen einen etymologischen Überblick, bei dem er, ebenso wie Donovan, den Weg über Synonyme von Korrespondenzbegriffen für þyle, jenes „puzzling word with myriad translations“,349 nimmt (z. B. lat. scurra oder ae. gligman)350 und dadurch ein breiteres Bedeutungsspektrum erhält – eine Methode, welche, wie bereits zuvor erläutert, problematisch ist. Allerdings geht Gwara dabei akribischer vor351 und arbeitet zusätzlich mit konkreten Textpassagen auch für die Alternativbegriffe, nicht nur den reinen Glossierungen. Im Gegensatz zu Donovan unterscheidet er zudem zwischen Simplex und Kompositum.352 Gänzlich überzeugen kann die Darstellung aufgrund der hier ebenfalls mangelnden Trennschärfe zwischen den Sprachen gleichwohl nicht. Unverständlich bleibt weiterhin seine Beschreibung von Hollowells Studie als „now widely accepted view of Hunferð’s office“,353 zumal dort einmal mehr keinerlei Quellen oder zumindest Begründungen für diese Aussage angeführt werden. Zumindest eine Unterscheidung zwischen „zitiert“ und „akzeptiert“ wäre hier hilfreich. Gwaras Sicht auf die individuell-moralische Seite kann man dabei in der Grundtendenz zwar durchaus zustimmen, nämlich der Ablehnung der Unferð nicht selten unterstellten finsteren Motive in all seinem Umgang mit Beowulf. Allerdings liegt Hollowells Arbeit ein Bild des þyle als „heathen priest“354 zugrunde, welches stark auf Annahmen von Hardy und hierdurch auch der frühen skandinavistischen Forschung

348 Gwara 2008, S. 77. 349 Gwara 2008, S. 87. 350 Gwara 2008, S. 87 ff. 351 Er korrigiert dabei zusätzlich Fehler Rosiers, die ansonsten eher unerwähnt bleiben, etwa die Übersetzung von parasitus ridiculosus (Gwara 2008, S. 88). 352 Gwara 2008, S. 89. 353 Gwara 2008, S. 89. 354 Hollowell 1976, S. 242.

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

in der Untersuchung des þulr-Begriffs355 sowie selbstverständlich Vogt356 beruht, wie auch einigen durchaus hinterfragenswerten Annahmen,357 und sollte daher kritischer gesehen werden. Abgesehen vom cultural gap zwischen Skandinavien und England ganz allgemein ist ein zusätzliches Problem, dass schon beim skandinavischen Begriff bei Weitem keine Sicherheit über eine wie auch immer geartete Priesterschaft besteht, sowie natürlich, dass für die angelsächsische Kultur selbst zum Zeitpunkt der frühestmöglichen Datierung der Beowulf-Komposition im 8. Jahrhundert nicht mehr wirklich von einer Nähe zum heidnischen Klerus gesprochen werden kann (und überdies nicht ausreichend geklärt ist, in welcher Form so etwas überhaupt zuvor bestanden haben könnte, noch, welche Position ein þyle in dessen Reihen möglicherweise innehatte). Hollowell stellt dann auch selbst fest: „Evidence specifically connecting the Old English þyle with pagan worship is lacking“,358 was allerdings dazu führt, dass sie in Folge historische Beschreibungen heidnischer Priester und Praktiken mit dem Thul assoziiert, ohne dass sich eine solche Verbindung in den Quellen findet.359 Gwara folgt nun Hollowells Darstellung auch in der geistigen Natur des þyle und arbeitet das Bild, vor allem unter Bezug auf Jackson, weiter aus. Der – indes explizit als Spekulation bezeichneten – Annahme „that Hunferð served as an oracle of tra-

355 Hardy 1969, S. 63 f. 356 Hollowell 1976, S. 244. 357 Etwa „Evidence from Scandinavian literature points unmistakably to a connection of the þulr with pagan religion“ (Hollowell 1976, S. 243), sowie „That the þulr functioned in connection with sacrifice seems clear from the Gautrekssaga“ (Hollowell 1976, S. 244), oder auch die gesamte Beschreibung auf S. 247, in welcher die Charakterisierung eines þulr sehr stark aus den Hávamál und Vogts Untersuchung gespeist wird, wobei aber nicht zwischen Charakteristika des fimbulþulr und denen des Gottes Odin an sich differenziert oder überhaupt die Frage erhoben wird, welche Elemente wie zuzuordnen sind und welche im Diffusen bleiben: „He is familiar with reading, staining, and carving runes, and, as this implies, with incantation and magic; he deals in sacrifice and augury; thus, he can be considered an intermediary between gods (or, better, one god, Óðinn) and men […]“. Überdies interpretiert Hollowell die Eddatexte, auf die sie sich beruft, mit de Vries als „strongly heathen in content and tone“ (Hollowell 1976, S. 48), obwohl das bei Weitem nicht immer gesichert ist. Für die Vafþrúðnismál nennt etwa Machan auch zweifelhafte Elemente für eine „heidnische“ Verortung, so beispielsweise das Problem der Unterscheidung genuin früher Sprachstufen und bewusst eingesetzter Archaismen, und plädiert für linguistische, nicht aber inhaltliche Kriterien als Basis einer frühen Datierung (Machan 1988, S. 10 f.). Auch die geistige Landschaft, welcher Beowulf entsprang (Hollowell legt mit Whitelock ein frühes Datum zugrunde: die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts (Hollowell 1976, S. 251)), wird als ein Umfeld aufgefasst, „in which the old pagan belief was a far more vivid actuality than is often supposed. The þyle was a part of this pagan heritage“ (Hollowell 1976, S. 250). 358 Hollowell 1976, S. 248. 359 Hollowell 1976, S. 248. Überdies sind die Praktiken, auf die Hollowell sich beruft, zu nicht geringen Teilen der Interpretation von Vogt geschuldet und des Öfteren zweifelhaft.

Besiegter taunter, loyaler (?) king’s man – Unferð im Beowulf 

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ditional gnomic wisdom“360 (was zumindest durch eine gewisse Nähe des þulr zur Spruchdichtung etwas naheliegender wäre als eine diffuse religiös-kultische Funktion, auch wenn die Äußerungen des þyle im Beowulf eher einen bemerkenswerten Mangel an gnomischen Elementen zeigen) folgt dann jedoch die Hinwendung zu Enright und damit das Postulat einer besonderen Rolle im Rahmen des comitatus, aus welcher heraus sich der Angriff auf Beowulf logisch ergebe.361 Für Gwara liegt dabei der Schwerpunkt auf den „wisdom contexts that […] specifically denounce arrogance in terms descriptive of Beowulf’s behavior, which would threaten warband security by jeopardizing martial collaboration“.362 In der weiteren Erörterung legt der Autor allerdings nicht wenige dezidiert christlich orientierte Texte zugrunde,363 bei denen eine direkte Anwendbarkeit auf das Epos etwas fraglich scheint, wie sich auch die Ableitung eines Idioms für verborgene Absichten (dalum gedæled364) nicht ganz unproblematisch gestaltet, da die Übersetzungen der Textbeispiele (aus der Guðrúnarqviða II365 sowie dem Oddrúnargrátr366) einige Fragen offen lassen. Anschließend kehrt

360 Gwara 2008, S. 92. 361 Gwara 2008, S. 92. 362 Gwara 2008, S. 93. 363 U. a. The Wanderer, Vainglory, Wulfstans Predigten. 364 Gwara 2008, S. 96. 365 So übersetzt Gwara etwa aus der Guðrúnarqviða II Str. 6: „‚Lengi hvarfaðac, / lengi hugir deilduz …‘ For a long time Guðrún waited for Sigurðr to return, during which ordeal she ‚divided (concealed) her thought‘“ (Gwara 2008, S. 97), vernachlässigt hier aber das Mediopassiv (dessen (Plural-)Form auch einen Bezug auf die Sprecherin verhindert). Wie der Eddakommentar vermerkt, gibt es für diese Kombination (deilask hugr) nur zwei Belege. Während im Kommentar in einer Trauerstrophe die Bedeutung „[sein] Herz brach“ angesetzt wird, offeriert er für den Beleg in Guðrúnarqviða II als Übersetzung: „Hier scheint hugir deildoz (wörtlich etwa: ‚die Gedanken teilten sich‘) dem dt. Ausdruck ‚geteilter Meinung sein‘, d. h. ‚unschlüssig sein‘, zu entsprechen“ (EK 6, S. 642 f.). 366 Atlis berichtete Versicherung, Oddrún habe keine Schande mit Gunnar begangen, wird in Oddrúnargrátr Str. 24 kommentiert mit: Enn slícs scyli / synia aldri maðr fyr annan, / þar er munuð deilir. No one should speak with certainty, one man on behalf of another who divides (conceals) his passion. (Gwara 2008, S. 97) Dabei wird munuð, eine Kontraktion von mun-(h)ugð (C/V, S. 439; EK 6, S. 907) von Gwara als Akkusativ übersetzt, aber ebenso wäre Nominativ möglich. Vollkommen außen vor gelassen wird in seiner Übersetzung zudem das Adverb þar, das nicht mit dem Subjekt maðr kongruiert und welchem die direkt folgende Relativpartikel er viel eher zugeordnet werden könnte als maðr, zumal mit þar er ein typischer Anschluss für einen (lokalen) Attributsatz vorliegt (vgl. Nedoma 2006, S. 127). Passender wäre meiner Meinung nach daher die vom Eddakommentar vorgeschlagene Übertragung: „wörtlich: ‚dort, wo die Liebe teilt‘; gemeint ist: ‚dort, wo die Liebe Anteil hat/beteiligt ist‘“ (EK 6, S. 907). Es ließe sich im Sinne Gwaras vielleicht noch eine Übersetzung als „aber solches soll niemals man/ein Mann/Mensch einem anderen absprechen/von einem solchen freisprechen, dort wo [einge-

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Gwara zum Text zurück und auch er nimmt an, dass Unferð glaubt, Beowulf stelle sich besser dar, als er ist – und setze überdies andere zu einem solchen Zwecke herab.367 Diese Haltung bringe, so der Autor, den Gauten in Konflikt mit Unferð als Vertreter traditioneller Weisheitslehre, welche unter anderem vor überzogenem boast­ing sowie Arroganz warnt, was der Grund für die Herausforderung des þyle sei.368 Was die Echos von Unferðs Angriff in Beowulfs Rede angeht, erklärt auch Gwara diese als bewusste, ironische Gestaltung,369 sieht aber zusätzlich im Zugeständnis Beowulfs, Unferð habe einen „brauchbaren“ Geist (þeah þin wit duge), Anklänge an geistliche Literatur und darauf aufbauend hier vor allem die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse impliziert,370 welche den Weisen in der angelsächsischen Kultur ausmache.371 In diesen Kontext der Unterscheidung, des gescead, ließe sich auch die Trunkenheit stellen: „A state of moral blindness exists among drunks and children because they lack self-control“.372 Dies wirft ein interessantes Licht auf die Darstellung Beowulfs (und des Erzählers), die Unferð als übermäßigen Konsumenten von Alkohol zeichnen; ein Licht welches über den reinen Gelagekontext hinausreicht und dem þyle, sollte dieser in der Tat eine moralische Funktion besitzen, eine wichtige Fähigkeit temporär abspricht. Dabei ist die eben genannte Funktion, „can discern ‚evil‘, the symptoms of arrogance“,373 eine der zentralen Thesen Gwaras in Verbindung mit Unferð. Nachdem er diese Diskriminationsfähigkeit allerdings deutlich stärker auf spezifisch christliche Moral vermittelnden Texten aufbaut,374 bleibt nichtsdestotrotz etwas fraglich, inwiefern sie uneingeschränkt auf den þyle anwendbar ist.

fügt:] dieser Liebe/Lust teilt“ vertreten. Wobei deila in diesem Fall sowohl als „zer-/aufteilen“ (engl. „divide“, dann im Sinne getrennter Loyalitäten) als auch als „verteilen, mit jmd./etwas teilen“ (engl. „share“, im Sinne einer Beziehung) übersetzt werden könnte (s. dazu auch C/V, S. 98). Topisch ist beiden Übersetzungen, dieser und der des EK, die Liebe als unberechenbare Macht und irrationaler Faktor im Leben und Verhalten der Menschen, was sich problemlos in den Kontext einfügt. Mir scheint es daher im Ganzen recht wenig Grund zu geben, Gwaras Übersetzung von deila als „verhehlen/verbergen“ den wörtlicheren Varianten vorzuziehen. 367 Gwara 2008, S. 98. 368 Gwara 2008, S. 98. Wobei Unferð nirgendwo im Text als besonderer Vertreter heroischer Besonnenheit und Zurückhaltung auffällt; eher im Gegenteil: So weist ihn Beowulf ja zurecht, weil Unferð seine beotas nicht einlösen konnte und dadurch das Eingreifen des fremden Helden erst nötig wurde (Grendelkampf). Gwara führt allerdings ebendiese Aussage als Beispiel für Arroganz an (Gwara 2008, S. 98), was jedoch aus der Perspektive von Argument und Plotverlauf etwas unlogisch scheint, denn die Anschuldigung des Gauten erfolgt ja erst im Rahmen des flyting und dort im dritten Teil, nämlich Beowulfs Angriff, und kann so gesehen Unferðs vorausgehende Attacke nicht provoziert haben. 369 Gwara 2008, S. 98. 370 Gwara 2008, S. 98 f. 371 Gwara 2008, S. 99. 372 Gwara 2008, S. 104. 373 Gwara 2008, S. 106. 374 Etwa Vainglory, Ælfrics Nativity of Christ, eine Homilie aus dem Vercelli Book, die Rule of Chrode­ gang sowie die altenglische Übersetzung der Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum Bedas.

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Nicht nur Unferð beschäftigt sich jedoch mit der (scheinbaren) Arroganz seines Kontrahenten, Beowulf sieht diese ebenfalls beim þyle am Werk, so Gwara, und zwar beim Brudermord, welcher, wie die Arroganz, in die Hölle führe.375 Auch hier bezieht der Autor seine Grundlagen wieder aus deutlich expliziter christlich orientierter Literatur, als es Beowulf ist  – Vainglory und dortigen Bibelreferenzen  –, sodass deren jeweils direkte Übertragbarkeit, insbesondere aber die Schlüsse, welche Gwara zieht, nicht ganz unproblematisch wirken: Beowulf does not simply condemn Hunferð for murder (or cowardice), therefore, but for the arrogance that led him to commit murder. This reasoning explains the accusation that Hunferð ‚killed‘ his ‚heafoðmægum‘  – his ‚chief kinsmen‘ or older brothers  – a wrecca’s crime that Beowulf insinuates would be motivated by Hunferð’s jealousy.376

Hier wird mit Annahmen operiert, welche der Text nicht bietet – die Aussage, dass Arroganz Unferð zum Brudermord veranlasste, enthält gleich zwei davon: dass es sich (wie bereits diskutiert) wirklich um das Verbrechen „Mord“ handelte, sowie eine Motivation für diese Tat, die nirgends im Text auch nur ansatzweise erwähnt wird und welche Gwara aus Kain als erstem Brudermörder, Gottesfeind sowie der Höllenverdammnis und deren Verbindung mit oferhygd in Vainglory ableitet.377 All diese Kon­ struktionen lassen zumindest Fragen offen. Die gehed(d)e-Passage über die Eifersucht der Figur wiederum liest der Autor nicht nur als Ausdruck von Unferðs missgünstigem Wachen über (die eigenen) Helden­ taten, sondern auch als eine Art Kompetenzwettstreit auf zwei Ebenen: […] having reflected on honor more than anyone else, Hunferð thinks himself to be the better judge of Beowulf’s fitness to assail Grendel than Beowulf. Coming from someone responsible for teaching men how to achieve heroic deeds in moderation – as the ‚morale officer‘ Enright envisions – Hunferð’s sanctimony would befit the context of wisdom-as-moderation that motivates the digression as a whole. Hunferð thinks Beowulf is not ready to fight Grendel, but Beowulf assumes, and the narrator confirms, that Hunferð abuses his office to discredit Beowulf’s ambition.378

Die Rivalität befindet sich hier also auf der Ebene der Beurteilungsfähigkeit, quasi der heroischen Theorie, sowie der der heroischen Tugendpraxis, auf welcher der þyle dem „arroganten, sich übernehmenden“ Beowulf die nötige moderatio abspricht, was beides zu den Feldern gehört, welche Gwara dem „Amt“ eines þyle zuschreibt. Eine solche Deutung basiert auf einer Lesart von gehed(d)e als Form von gehedan, was

375 Gwara 2008, S. 107. 376 Gwara 2008, S. 107. 377 Gwara 2008, S. 106 f. 378 Gwara 2008, S. 109.

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der Autor nicht mit Pope als „sich sorgen/kümmern um“ übersetzt, sondern „sich gedanklich beschäftigen mit“ („give thought to“),379 gleichermaßen mærða nicht als „Ruhmes-“ oder „Heldentaten“, sondern „honors“ (Ehre, Ehrenangelegenheiten) liest – die gesamte Aussage verschiebt sich dadurch vom Konkreten ins Abstrakte, ja Philosophische.380 Auf dieser Grundlage der vom þyle propagierten Werte kehrt Gwara noch einmal zur Trunkenheit zurück und verbindet sie anhand eines Zitates aus The Fortunes of Men spezifisch mit der Unfähigkeit zur Mäßigung, vor allem in der Rede und im Gelagekontext der Halle.381 Hieran knüpfe auch Beowulf an, wenn er in seiner Verteidigung Unferð als Erstes die worn fela, die Unmenge, welche dieser über Breca gesprochen habe, zum Vorwurf macht: „For all his wisdom, Hroðgar’s þyle sounds much like a boastful drunkard and loudmouth himself!“382 Auch der æfþunca, welcher nach dem Beowulf-Erzähler Unferðs Angriff motiviert, sei damit zu verbinden, wie eine Passage aus Juliana beweise. Die zitierte Stelle spricht genau genommen nicht von der Entstehung von æfþunca durch Trunkenheit, sondern vielmehr von der Wiederaufnahme bereits existenter Spannungen.383 Eine grundlegende Verbindung besteht aber in der Tat – wenn auch zu fragen wäre, welche „alten“ Irritationen oder Vorbehalte Unferð gegenüber Beowulf haben kann, den er doch allem Anschein nach nie zuvor gesehen hat. Im Gegensatz zu Donovan sieht Gwara Beowulfs Anrede min wine gegenüber Unferð dabei durchaus als „quite sarcastically“ getätigt an. Weiterhin könne ein impliziter Verweis auf gegenseitige Verpflichtungen innerhalb einer warband enthalten sein, an deren Verletzung der Gaute, der den Dänen doch zu Hilfe geeilt ist, hier erinnert, nachdem bereits Hroðgar den Gast mit derselben Anrede in die Pflicht genommen habe.384 Das ist eine sehr interessante Perspektive und würde überdies einmal mehr ein Bewusstsein Beowulfs für subtile Anwendungen und Effekte sprachlicher Echos beweisen, welches sich in seiner folgenden Verteidigung, wie bereits

379 Gwara 2008, S. 108. 380 Gwara 2008, S. 108. 381 Gwara 2008, S. 109 f. 382 Gwara 2008, S. 110. 383  Sume ic larum geteah, to geflite fremede, / þæt hy færinga ealde æfþoncan / edniwedan, beore druncne […]. (Juliana 483b–486a, zitiert nach Gwara 2008, S. 111) „Einige zog/führte ich mit Rat/Suggestionen/Gerissenheit, brachte (ich) zum Streit/Wortgefecht, / dass sie plötzlich alte Streitigkeiten / erneuerten, trunken von Bier.“ Schlüsselbegriffe hier sind ealde („alte“), also bereits bestehende, und edniwedan („erneuer(te)n“). 384 Gwara 2008, S. 111 f.

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diskutiert, noch viel deutlicher manifestiert. (Der Einflussfaktor mündlicher Dichtung auf solche Elemente sei an dieser Stelle außen vor gelassen.) Beowulfs folgende Angriffe sieht Gwara eher als Ausweichen und Ablenkung vom Kontrast „wisdom against folly“ – ein Angriffspunkt Unferðs, so der Autor, welcher völlig gerechtfertigt erscheine.385 Auch im Weiteren zeigt sich Gwara deutlich kritischer gegenüber Beowulf als seinem Gegner: Although many have praised Beowulf for ‚winning‘ this dispute with Hunferð, the attack seems excessive, and excessively vicious. In fact, the flyting context so often invoked for the Hunferð interlude presupposes Beowulf's susceptibility for wlenco.386

Was die Interpretation des flyting betrifft, beruft sich Gwara dabei nicht mehr einzig auf Clover, sondern stellt deren Theorie vielmehr infrage, um ein neues Modell vorzuschlagen, welches – wie gleich weiter ausgeführt werden wird – aber durchaus seine eigenen Probleme mit sich bringt. Auch für diese Theorie zentral ist wieder die Janusköpfigkeit des heroischen Wanderkriegers. Im Gegensatz zu Clover hält der Autor dabei die „heroischen“ Tugenden, vor allem kriegerische Aktivität, welche sie noch als die Grundlage für Strategien der Herabsetzung und Selbst-Hervorhebung ansieht, für fragwürdig: It could be said that the flyting typically justifies violence. Even from a native perspective, then, the flyting ‚winner‘ is often the dogmatic troublemaker, the Odinic warrior capable of the greatest violence or most reckless deeds.387

Abgesehen davon, dass die tollkühnsten Taten nicht notwendigerweise auch die gewalttätigsten sein müssen, wirkt diese Aussage etwas einseitig: Immerhin verdammt das flyting durchaus auch Gewalt, nämlich, wenn diese sich gegen die Falschen richtet. Die Brudertötungsanschuldigung wäre hierfür ein Beispiel – ungeachtet der Ambiguität ist die zentrale Aussage hier eine eindeutige Ächtung von (tödlicher) physischer Aggression gegen Verwandte. In der Aussage, dass das flyting eine starke Tendenz zur Gleichsetzung von Ehre mit heroischer Aktivität besitzt: „‚dishonor‘, figured as cowardice, malingering, or infamy, versus honor, identified as action (fighting and wining, in other words)“,388 treffen Clover und Gwara dann allerdings wieder zusammen. Ein zusätzliches, zentrales Element von Gwaras Argumentation ist sein Zweifel, dass die Grundlage von Anschuldigungen im flyting zu interpretierende Fakten sind,

385 Gwara 2008, S. 113. 386 Gwara 2008, S. 116. 387 Gwara 2008, S. 117. 388 Gwara 2008, S. 117.

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

wie Clover es beschreibt. Er nennt diese vielmehr „half-truths“,389 welche nicht selten als „distortion of the ‚facts‘“390 dargestellt würden. Bei genauerer Betrachtung jedoch ist der Graben zwischen beidem nicht wirklich groß. Überspitzt ließe sich sagen, der Unterschied liegt vor allem in der angenommenen Größe des faktischen Kerns der Anschuldigungen: Clovers „Fakten“ gestehen diesem Element ein bedeutenderes Ausmaß zu, während Gwaras „Halbwahrheiten“ es weitestmöglich minimieren. Nicht selten lässt sich sogar mit jeder der beiden Theorien zur gleichen Interpretation der jeweiligen Episode kommen, was ebenfalls deren Nähe veranschaulicht. An einer Besprechung einiger Beispiele, auf die sich Gwara beruft, soll im Folgenden die Theorie sowie die geringen Unterschiede dargestellt werden. Im flyting zwischen König Eysteinn und seinem Bruder Sigurd Jórsalafari in der Magnússona saga, welches Gwara ebenfalls heranzieht,391 wird als Anschuldigung von Sigurd ins Feld geführt, dass die besseren Rechtskenntnisse Eysteinns, mit welchen dieser prahlte, nur vorgetäuscht seien, so der Autor: Sigurðr actually challenges ‚fact‘ when he argues against Eysteinn’s legal proficiency. Far from conceding the ‚fact‘ of Eysteinn’s competence, he argues a different kind of ‚interpretation,‘ that Eysteinn’s self-proclaimed skill is mere trickery, idle words and false promises made to sycophants.392

Er stellt dies in Gegenposition zu Clover, welche diese Kenntnisse als Fakten ansieht und Sigurds Angriff dahingehend interpretiert, dass der Bruder diese Kenntnis nur missbräuchlich einsetzt.393 Nach Gwara liegt hier also nicht nur mehr eine Interpretation, sondern eine komplette Falsifikation der faktischen Basis vor, was mit Clovers Theorie unvereinbar ist.394 Sieht man sich die Stelle im altnordischen Original an,395 sind die eindeutig relevanten, also rein auf Rechtskenntnisse bezogenen, Aussagen Eysteinns kann ek ok miklu betr til laga en þú („ich kenne mich auch viel besser mit/in den Gesetzen aus als du“) und Sigurds Antwort vera kann, at þú hafir numit fleiri lǫgprettu, því at ek átta þá annat at starfa („es kann sein, dass Du Dir mehr lǫgprettu angeeignet hast, weil ich da anderes zu erledigen hatte“). Gwara beruft sich weiterhin, um zu seiner Interpretation zu kommen, noch auf die jeweils folgenden Aussagen der Brüder, genau genommen besteht aber nur bei den oben zitierten Sätzen ein definitiver Bezug. Zentral für die Gesamtaussage über die juristische Qualifikation sind hier also die Elemente kann

389 Gwara 2008, S. 126. 390 Gwara 2008, S. 127. 391 Gwara 2008, S. 120 f. 392 Gwara 2008, S. 121 393 Gwara 2008, S. 120 f. 394 Gwara 2008, S. 121. 395 Magnússona saga (Heimskringla) Kap. 21 (Aðalbjarnarson 1951, S. 260 f.).

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ek […] til laga aus dem boast sowie lǫgprettu und því at ek átta þá annat at starfa der Erwiderung. Während das Selbstlob noch allgemeines Wissen, Verständnis und Kompetenz ausdrückt,396 schränkt die Antwort Sigurds bereits ein: lǫgprettu ist etwas zweischneidig, scheint aber in der Tat eher negative Konnotation zu besitzen: Baetke notiert für (lǫg)-prettar „= -krókar“, und für lǫgkrókar „Rechtskniffe, Winkelzüge im Rechtsverfahren“, wobei Letzteres wahrscheinlicher sein dürfte, denn andere Termini mit der Wurzel prett- implizieren Täuschung oder Betrug.397 Damit bezeichnet Sigurd Eysteinns Rechtskenntnisse zwar ziemlich sicher mit einem herabsetzenden Terminus, aber er spricht ihm das Wissen im Rechtsbereich selbst eigentlich nicht ab – aus moderner Perspektive gesprochen: Selbst ein Winkeladvokat benötigt eine juristische Ausbildung, um Gesetze auszunutzen, muss man sie kennen, und auch Gesetzeslücken, fragwürdige Strategien in der Auslegung und rechtliche Grauzonen sind  – wenn auch eventuell moralisch fragwürdiges  – Wissen til laga. „Interpretiert“, um mit Clover zu sprechen, wird also vielmehr die Natur dieser Rechtskenntnisse, wobei Sigurd sich meiner Meinung nach mit lǫgprettar einer bewusst sarkastischen Herabsetzung bedient.398 Weiterhin mindestens ebenso wichtig wirkt Sigurds nachgeführte Verteidigung „ich hatte da anderes zu erledigen“ wie eine Rechtfertigung, warum er sich nicht ebenfalls solche Kenntnisse verschaffte, womit das eben noch geschmähte Wissen spätestens jetzt als valider Parameter im Vergleichsspiel legitimiert wird (wäre es in der Tat gar kein Rechtswissen, würde die Abqualifizierung ausreichen; warum Sigurd nichts Ähnliches errang, stünde hingegen gar nicht zur Debatte, da es sich in diesem Fall nicht um eine erstrebenswerte Qualität handelte). Überdies baut Gwaras Interpretation auch darauf auf, dass er Sigurds Anschuldigungen, Eysteinns Aussagen hätten keinen Bestand, zu diesem thematischen Feld

396 S. dazu auch Baetke: „ek kann lítt til laga ich verstehe mich wenig auf die Gesetze“, S. 652. 397 prettr „Trick, Kniff, List; Ränke, Betrug“, prettóttr „ränkevoll, betrügerisch“, prett-vísi „Hinterlist, Betrug“, víss „ränkevoll, betrügerisch“, pretta „betrügen, übervorteilen“ (Baetke, S. 477). C/V (S. 405) offeriert zu lǫgprettr „a quibble in law“; zu prettr „a trick“ (C/V, S. 479) und darüber hinaus pretta „to cheat, deceive“, prettóttr „deceitful, tricky“, prett-vísi „craftiness“ sowie prett-víss „tricky, wily“ (C/V, S. 479); das Supplement notiert weiterhin prettiligr „crafty“ und prett-vísliga „craftily“ sowie das nicht übersetzte hapax legomenon *prettugr (C/V, S. 818), wobei für diese drei Lemmata jeweils nur ein Beleg festgehalten wird, während für fast alle (außer lǫgprettr selbst) aus dem eigentlichen Wörterbuch mindestens drei, für prettr selbst noch deutlich mehr, angeführt werden. Auch hier überwiegen also die negativen Bedeutungen. 398 Man denke hierbei etwa auch an Unferðs Darstellung von Beowulfs Meeresabenteuer, zu welchem Silber anmerkt, dass es sich bei der Beschreibung des þyle um ein gezieltes Bild der Inkompetenz handelt, „suggesting aimless thrashing rather than serious sport“ (Silber 1981, S. 474). In dieser Episode bleibt also ebenfalls der Kern – der Aufenthalt in und Kampf mit der See – erhalten, er wird aber bewusst abwertend geschildert.

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 Þyle on Engla lande – altenglische Belege, Beowulf

zählt.399 Sieht man sich jedoch den Originaltext an, scheint dieser Bereich eher einen neuen Komplex zu bilden:400 [Eysteinn] […] kann ek ok miklu betr til laga en þú, ok svá hvat401 sem vit skulum tala, em ek miklu slétt­ orðari. („[…] ich kenne mich auch viel besser mit/in den Gesetzen aus als du, und weiterhin bin ich, was wir (auch immer be-)reden sollen, viel wortgewandter.“) [Sigurd] Vera kann, at þú hafir numit fleiri lǫgprettu, því at ek átta þá annat at starfa. En engi frýr þér slétt­ mælis, en hitt mæla margir, at þú sér eigi allfastorðr, ok lítit mark sé, hverju þú heitr, mælir eptir þeim, er þá eru hjá, ok er þat ekki konungligt. („Es kann sein, dass Du Dir mehr Kenntnisse über Rechtswinkelzüge angeeignet hat, denn ich hatte da anderes zu erledigen, und niemand bezweifelt Dir die Wortgewandtheit, aber dies sagen viele, dass Du nicht von verlässlicher Rede seist, und wenig Bedeutung habe, was Du versprichst; du denen nach (dem Mund) redetest, welche da um (Dich) sind, und das ist nicht königlich.“)

Der zweite Teil von Eysteinns boast bezieht sich also auf seine themenunabhängige Redegewandtheit, folglich nicht nur im eben erwähnten Rechtsbereich, und enthält hierbei zusätzlich einen spezifischen Adressaten – seinen Bruder (svá hvat er vit skulum tala). Damit erscheint diese Aussage als neues Thema von der vorherigen abgetrennt: Juristische Qualifikation und allgemeine Eloquenz stehen unverbunden nebeneinander. Sigurds Antwort wird wiederum durch den angeschlossenen Satz en engi frýr þér sléttmælis, en hitt […], hierbei insbesondere durch die Wiederaufnahme des Motivs „slétt-[Rede]“, ebenfalls in diesen separaten Kontext der Beredsamkeit gestellt. Der Vorwurf der Unstetigkeit sowie, dass Eysteinn seinem jeweiligen Umfeld nach dem Mund rede, wird daraufhin erhoben, bildet aber ebenfalls ein neues Element: engi frýr þér […] wäre, nach Clover, Sigurds Verteidigung bzw. concession, während en hitt mæla margir, at þú sér […] den counterclaim bzw. Gegenangriff einleitet, welcher dann erst die zwei neuen Anschuldigungen beinhaltet. Inhaltlich lenkt Sigurd damit den

399 Gwara 2008, S. 121. 400 Magnússona saga (Heimskringla) Kap. 21 (Aðalbjarnarson 1951, S. 260), Hervorhebung von mir [KRMT]. 401 Dabei wird svá hier als „ebenfalls, weiterhin“ übersetzt (Baetke, S. 620), was, gerade aufgrund der engen Verbindung mit ok am wahrscheinlichsten dünkt. Ebenfalls möglich wäre das, seltenere, Auftreten als Ersatz für das Demonstrativpronomen sá (Baetke, S. 621; Fritzner 3, S. 605 (Nr. 7)), dann zusammen mit hvat übersetzt als „und solches/das, was wir beide (be-)sprechen …“ bzw. „und bei dem, über was wir beide sprechen  …“. Fritzner gibt noch die Variante „darauf/daraus“ („derpaa“, Fritzner 3, S. 606 (Nr. 9)) an, was sich aber vor allem auf den zeitlichen Kontext bezieht. Baetke führt zwar ein entsprechendes Beispiel auf, ordnet die Konstruktion jedoch, wie auch die erste hier aufgeführte Übersetzung, unter derselben Variante (Nr. 3), „in Aufzählungen“, ein. Damit scheint diese Möglichkeit nicht auf eine logische Verbindung, sondern nur eine (zeitliche) Abfolge zu verweisen, sodass eine Verwendung vergleichbar dem deutschen „folglich“ oder engl. „thus/therefore“ recht unwahrscheinlich wirkt.

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Fokus von der intellektuell-rhetorischen auf die sozialethische Ebene; auch dies entspricht wieder Clovers Ansatz der Interpretation von Fakten – ein Aspekt wird zugestanden, dafür ein anderer angezweifelt, ohne dass die Grundtatsache infrage gestellt wird. Auf diesen Gegenangriff antwortet Eysteinn überdies mit einer weiteren Aussage (sodass Sigurds Attacke auch nicht, wie es bei Gwara den Anschein haben kann, die abschließende Antwort ist): Sein Bestreben, jeder Partei gerecht zu werden, dient hierbei als Deflexion des Vorwurfs, er verhalte sich ekki konungligt, und wird gefolgt von der Anschuldigung, Sigurd verspreche hingegen allen nur Schlechtes und komme dem auch nach. (Sigurd verteidigt sich gegen diesen Angriff mit einer abweichenden Definition von königlichem Verhalten als Fahrt außer Landes und wirft dem Bruder weibisch-passives Zu-Hause-Bleiben vor, was hier nicht mehr von Belang ist, doch gängige Stereotypen für diese Art Streitgespräch bemüht.) Der Passus kann damit folgendermaßen aufgegliedert werden: Sequenz 1: geistige Kompetenzen – boast Eysteinns Eysteinn: Rechtskenntnisse (claim 1.1: positiv, selbstbezogen) und Beredsamkeit (claim 1.2: positiv, selbstbezogen). Sigurd: Winkelzüge (counterclaim: negativ, gegnerbezogen, zu 1.1) und Anerkennung der Beredsamkeit (defense/concession: neutral-positiv, gegnerbezogen, zu 1.2). Damit ist die Behandlung der in dieser Sequenz angeführten Themen abgeschlossen. Sequenz 2: sozialethische Wertigkeit (verbalen) Handelns – Attacke Sigurds Sigurd: Unzuverlässigkeit der Rede (claim 2.1: negativ, gegnerbezogen), Nach-demMund-Reden (claim 2.2: negativ, gegnerbezogen) und Unköniglichkeit (claim 2.3: negativ, gegnerbezogen). Eysteinn: Versuch, alle Parteien zufriedenzustellen (defense/concession: positiv, selbstbezogen zu 2.1 und 2.2) und schlechter Umgang mit Untertanen (counterclaim: negativ, gegnerbezogen, zu 2.3, gleichzeitig Überleitung zu Sequenz 3: Definition von „Königlichkeit“, welche anschließend noch einmal einer Reinterpretation unterzogen wird). Zuletzt: Selbst wenn man dieser Deutung als voneinander getrennte Sektionen nicht zustimmt, lässt sich sogar in Gwaras kritischer Interpretation ein gemeinsamer „wahrer“ Kern der beiden Aussagen ausmachen: die öffentliche Anerkennung der Rechtskenntnisse Eysteinns sowie die Meinung, dass jene größer seien als die Sigurds. In diesem Fall bezieht sich Eysteinn auf den positiven Teil, nämlich, dass er als ein Mann gilt, der juristisch bewandert ist – und bewanderter als sein Bruder –, und baut auf diesem Außenbild sein Eigenlob auf. (In seiner Verteidigung ist dann sämtliche Kritik daran seinem Bemühen um übergreifende Gerechtigkeit geschuldet, welche Unzufriedenheit einzelner Parteien hervorrufen kann – zudem ein Bemühen, welches Sigurd in keiner Weise teile.) Im Gegenzug nimmt der Bruder ebendieses öffentliche Ansehen zum Anlass, eine Abweichung von Bild und Realität zu thematisieren, was die moralische Quali-

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tät (ohne dass er dafür irgendein konkretes Beispiel gibt) wie Nutzung von Eysteinns Wissen anbelangt. Zusätzlich verteidigt er sich dafür, nicht vergleichbare Expertise zu besitzen. Es steht hier also das absolute Ausmaß der Kenntnisse gegen deren moralische Wertung und praktische Umsetzung. Das Wissen til laga an sich – in welcher Form es auch immer ausgeprägt sein mag – wird aber genau genommen auch hier nicht infrage gestellt. In einer solchen Deutung ist selbstverständlich der faktische Kern „öffentliche Meinung über …“ stärker eingegrenzt als bei der Tatsache allgemein großer Rechtskenntnisse, wie Clover die Passage auslegt. Dennoch ist auch Gwaras Darstellung mit Clover interpretierbar, ohne dass es zu Konflikten kommen muss. Ähnlich verhält es sich mit seiner Besprechung des Meeresabenteuers, in welcher er feststellt, es ginge um „the clarification of half-truths“ und nicht um „an ‚interpretation‘ of facts“.402 Dies gilt nur unter der Prämisse, dass einerseits Unferðs gesamte Aussagen eine Aufzählung von Tatsachen darstellen, und andererseits Beowulfs Antwort deren Korrektur vornehmen. Er selbst hatte jedoch bereits zuvor festgestellt, dass aus dem flyting gar nicht hervorgehe, welche der beiden Versionen denn nun die korrekte sei403 (wenn das überhaupt auf eine der beiden zutrifft). Setzt man auch hier den faktischen Kern geringer an, lässt sich Clover hingegen erneut problemlos halten. Die Tatsachen wären in diesem Fall: Es handelte sich um ein gemeinsames Abenteuer im Meer, bei dem „gerudert“ bzw. „gepaddelt“ wurde (mit den Armen oder mit Bootsriemen), dies besaß einen kompetitiven Aspekt (Beowulf gegen Breca oder die beiden Knaben gegen die See) und Breca erreichte nach sieben Tagen, getrennt von Beowulf, das Land, was anscheinend die Erfüllung seines boasts bedeutete, während von seinem Freund nichts Gleichartiges bekannt wurde. Die bewusste, ironische Ambiguität der Fortbewegung, die Darstellung als Wettbewerb, das Herausstellen der „fürstlichen“ Ankunft Brecas und die vielen kleinen, teils sarkastischen Details, wären in diesem Fall die Auslegungsleistung Unferðs, denen Beowulf seine eigene interpretierende Beschreibung entgegenstellt. Wer „die Wahrheit“ sagte, bleibt aber im Endeffekt offen. Abgesehen davon ist Beowulfs Antwort jedoch im Rahmen des flyting valide und erhält daher entsprechenden Beifall. Im letzten Beispiel, was hier besprochen werden soll, bedient sich Gwara nun in gewissem Maße genau dieses faktenreduzierenden Mechanismus um den þyle zu entschuldigen – bei Unferðs eventuellem Fratrizid: Vieles von dem, was Gwara hier anbringt, entspricht dem, was bereits zuvor in diesem Kapitel bei der Diskussion der Art der Brudertötung aufgeführt wurde. Zuzustimmen ist dem Autor in der kritischen Betrachtung des Verbrechens „Brudermord“ und seiner breiteren Auslegung der For-

402 Gwara 2008, S. 126. 403 Gwara 2008, S. 60.

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mulierung. Der bereits erwähnte Vergleich mit der Helgaqviða Hundingsbana I ist vielleicht nicht ganz ideal, denn Sinfjǫtli hatte seine (Halb-)Brüder unzweifelhaft und vorsätzlich ermordet, wenn auch unter besonderen Umständen. Bei Unferð kann man sich ebendieser Tat aber nicht vollends sicher sein. Weiterhin führt Gwara mehrere Untersuchungen und Theorien an, welche in unterschiedlichen Deutungen Unferðs (angebliches?) Verbrechen mehr oder minder entschuldigen; er hält es aber auch für möglich, dass die Vorwürfe zu einem gewissen Grad zutreffen.404 Seine Distanzierung von Clover besteht in diesem Fall darin, einerseits Beowulf eine Tugendhaftigkeit abzusprechen, welche dieser durch den Sieg im flyting beweisen soll sowie andererseits in der Ablehnung der These, die Niederlage Unferðs bedeute dessen „moralischen Bankrott“.405 Das scheint mir allerdings teilweise ein Missverständnis zu sein. Die Aussage Clovers, auf die Gwara sich wohl hauptsächlich bezieht (es wird keine Stelle angegeben), lautet: If the flyting refers to actual events or behavior, it constitutes a major and serious plot event in which the moral character of the participants is at stake.406

Das heißt meinem Verständnis nach, dass eine eventuell vorhandene Tugendhaftigkeit durch Anschuldigungen im flyting beschädigt, jedoch nicht ein Charakter dadurch erst als tugendhaft markiert werden kann. Die Bedingung, dass „tatsächliche“ Ereignisse oder Verhaltensweisen referenziert werden müssen, erweist sich überdies gerade bei Unferð als Crux – es fehlen einmal mehr die Verifikationsmöglichkeiten. Geht man allerdings davon aus, dass die Vorwürfe zumindest teilweise zutreffen, hat dies in der Tat einen negativen Effekt auf Unferðs Bild. Clover selbst sieht den Brudermordvorwurf durch zwei Punkte gestützt: durch den späteren Erzählerkommentar sowie, weil „such insults tend as a group to be true – true at least with respect to received tradition“.407 In Bezug auf die Erzähltradition lässt sich dabei einmal mehr der Bogen zur Hel­ gaqviða Hundingsbana I schlagen: Auch hier waren die Anwürfe wahr und wurden die Taten begangen; dennoch erscheint Sinfjǫtli in der Überlieferung sowie als Akteur im flyting nicht als negativer Charakter, sondern als Held. Hier trifft quasi die „received tradition“ des Brudermordes auf die „received tradition“ des heldischen Völsungen, wobei letztere sich durchgesetzt hat, ohne die andere dadurch völlig auszulöschen; man könnte vielleicht von einer moralischen Überbrückung sprechen. Der Erzählerkommentar, andererseits, stellt in der Tat einen Durchbruch des fly­ ting-Rahmens dar und lässt gewisse Rückschlüsse auf zumindest diesen Vorwurf zu, wenn auch weiterhin die Details im Dunklen bleiben. Auch Clover will sich dazu trotz

404 Gwara 2008, S. 128. 405 Gwara 2008, S. 128. 406 Clover 1980, S. 457. 407 Clover 1980, S. 463.

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ihrer Aussage zur Tendenz derartiger Vorwürfe nicht definitiv äußern: „the evidence of the flyting may authenticate two points of content: the Breca episode and Unferþ’s fratricide“.408 Damit wäre Unferð mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Beowulf in diesem Punkt moralisch unterlegen. Wie sicher und wie schwerwiegend eine solche Beschädigung sich gestaltet, ist jedoch eine andere Frage. Gerade diese durchaus vorhandene Unschärfe bei Clover wird in Gwaras Darstellung meiner Meinung nach nicht ausreichend abgebildet, zumal ebenfalls nicht zur Sprache kommt, dass das flyting mit der Fratrizidanschuldigung nicht endet, sondern Beowulf weiterhin sowohl Unferð (Maulheld-Vorwurf) als auch die Dänen kollektiv (Scheitern als Krieger und Gefolgsleute) angreift  – auch von der Warte des Gauten aus gibt es also noch mehr zu attackieren. Und bedeutete ein Sieg im flyting in der Tat den moralischen Bankrott der Angegriffenen, würden die Dänen, denen Beowulf ebenfalls zutreffende Vorwürfe macht, wohl kaum mit erfreutem Gelächter reagieren.409 Etwas verwirrend ist weiterhin Gwaras Aussage: „Beowulf’s accusation of cowardice would therefore reflect a distortion of the ‚facts‘ – a reading, however, that Clover discounts in concession to her premise that ‚flyting charges are … deadly accurate“,410 welche direkt auf seine Einstufung von to banan wurde als simile folgt. Wieso eine diesbezügliche Schuld – oder Schuldlosigkeit – etwas über den Mut des Beteiligten aussagen sollte, ist für mich nicht ganz ersichtlich. Vielmehr ließe sich, setzt man beispielsweise an, dass der Kern der Anwürfe die mittelbare Beteiligung am Tod der Brüder ist, etwa durch Nichteingreifen im Kampf, eine solche Grundlage problemlos mit Feigheit in Einklang bringen. Einen sehr ähnlichen Vorschlag, welchen Lawrence äußert, zitiert Gwara überdies selbst nur eine Seite später und kommentiert ihn mit: „This strikes me as the obvious solution but not the only one“.411 Eventuell verengt der Autor daher in seiner anfangs angeführten Aussage Clovers Oberbegriff vom „heroischen Versagen“ zu stark auf die Tapferkeit. Als Letztes scheint Gwaras Argument „the Beowulf poet excuses Hunferð by praising his fighting spirit and by referring to his ‚murders‘ in such conscientious terms“412 etwas bemüht: Als „fighting spirit“ übersetzt der Autor ferhþ(e), das Charakteristikum des þyle, welchem, so der Beowulf-Erzähler, ein jeder Däne vertraute (Z. 1166). Allerdings ist die Bedeutung, welche Gwara hier bemüht, etwas speziell. Klaeber offeriert „mind, spirit, heart“,413 und es dürfte wohl in der Tat ein generelleres Abstrak-

408 Clover 1980, S. 468, Kursivsetzung von mir [KRMT]. 409 Es wäre eventuell interessant, zu untersuchen, ob unter den von Clover formulierten Bedingungen vielleicht nur der „moralische Charakter“ des im ersten Zug Angegriffenen auf dem Spiel steht, wenn das flyting nur zwei Züge (je ein Zug pro Beteiligtem) umfasst, nicht aber der des Angreifers. Leider würde eine solche Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 410 Gwara 2008, S. 128. 411 Gwara 2008, S. 129. 412 Gwara 2008, S. 128. 413 Klaeber, S. 329.

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tum anzusetzen sein.414 Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass in Z. 1166 Unferðs Kampfgeist gemeint ist, andererseits spricht nichts gegen die gängige Übersetzung, also Vertrauen in den Mann aufgrund seiner (geistigen) Fähigkeiten oder seines Charakters. Wichtiger noch wird auch Heremod, eines der dezidierten Negativbeispiele im Epos, bei seinem Fall mittels dieses Terminus beschrieben: Hwæþere him on ferhþe greow / breosthord blodreow („Jedoch ihm im Geist/Herzen wuchs [wurde] / der Brusthort [Herz] blutdürstig“, Z. 1718 f.). Hier ergibt weder „fighting spirit“ als Übersetzung einen Sinn – vielmehr dürfte hier eine Variation aus dem semantischen Bereich des Herzens vorliegen, eventuell auch „Geist/Sinn“ als übergeordnete Instanz  –, noch lässt sich konstatieren, dass ferhð als Charakteristikum automatisch eine positive Konnotation, etwa der Tugendhaftigkeit, für das Referenzobjekt beinhaltet. Im Ganzen gibt es also nur wenige Fälle, wo sich die Übersetzung „Kampfgeist“ halten oder gar bevorzugen ließe, während die neutraleren Deutungen auf jeden Beleg sinnvoll anwendet werden können. Dass, zuletzt, unabhängig von der Terminologie, Kampfgeist und/oder Mut bei einer Figur den Schurkenstatus nicht ausschließen, ist ebenfalls an Heremods Negativexemplum ersichtlich. Gwaras Widerspruch gegenüber Clovers Interpretation speist sich also aus zwei Thesen: dass die Vorwürfe doch nicht immer wahrheitsgemäß seien, sowie, dass ein Sieg im flyting keine völlige moralische Niederlage des Gegners bedeute. Seine Erläuterungen beider Annahmen sind bei näherer Betrachtung nicht ganz unproblematisch. Gerade der erste Punkt scheint äußerst interpretationsabhängig, wie bereits erörtert, während der zweite vor allem auch von einer zu strikt gefassten Prämisse ausgeht: Ein moralischer Bankrott kann eigentlich am ehesten dann eintreten, wenn

414 Die anderen Belege für ferhð im Beowulf sind wie folgt: Grendel wird in der Konfrontation mit Beowulf forht on ferðe („ängstlich im Herzen/Geist“, Z. 754)  – „ängstlich im Kampfgeist“ wäre schon fast ein Oxymoron, aber als bewusst gebrauchtes Stilmittel, etwa zur Emphase, vielleicht noch in gewisser Weise zu erklären. Hroðgar will Beowulf freogan on ferhþe („lieben im Herzen/Geist“, Z. 948) – hier ergäbe „Kampfgeist“ keinerlei Sinn. Dasselbe gilt für die Variation dieses Ausdrucks im Abgesang auf den toten Beowulf swa hit gedefe bið, / þæt mon his winedryhten […] / ferhðum freoge („So, wie es sich ziemt/ So ziemt es sich, dass man seinen Gefolgsherrn und Freund […] liebe mit den Geistern/Herzen“, Z. 3174 f.). Weiterhin wird andgit („Verstand“) variiert als ferhðes foreþanc („Vorausdenken des Geistes“, Z. 1060). Beowulfs Gefolgsleute ziehen nach dessen Rückkehr von Grendel’s Mere ferhþum fægne („mit fröhlichen/glücklichen/jubilierenden Herzen/Gemütern“, Z. 1633) von dannen – auch hier ließe sich „Kampfgeist“ nicht ganz so gut an wie „Herz“ oder „Gemüt“; nicht zuletzt, weil ein Kampf gerade geendet hat, an dem seine Mannen nicht einmal teilgenommen haben. Schließlich Heremod (s. dazu oben im Anschluss). Weiterhin ist neben Bildungen wie collenferhð („bold of spirit, excited“, Klaeber, S. 313), die sich mit der „Kampfgeist“-Interpretation vereinen lassen, auch etwa in einem Kompositum wie sarig-ferhð (Klaeber, S. 390: „sad at heart“) das Element „traurig“ (sarig) weit weniger kompatibel mit Gwaras Deutung als mit „Geist“, „Herz“ oder „Gemüt“. Die Diskrepanz besteht also nicht nur auf Simplex-Ebene.

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ein flyting nur aus einem Zug bzw. Argument pro Teilnehmer besteht und mit dem moralisch kritischsten Anwurf endet. Die anderen Varianten lassen entweder die Verteidigung zu oder aber deuten durch einen weiteren Angriff an, dass noch etwas „Kritisierbares“ übrig und damit wohl eine Beschädigung, aber noch kein kompletter Untergang erfolgt ist. Auch die Reaktion des Umfelds sollte eine solche vollständige Vernichtung in gewissem Grade widerspiegeln. Ebendiesen Bankrott hatte jedoch auch Clover nie postuliert, sondern nur die Gefährdung im Kontext eines spezifischen Szenarios (tatsächliche Ereignisse oder Verhalten). Sehr gut manifestieren sich Unterschiede und Ähnlichkeiten beider Theorien auch in Gwaras Aussage: „The ‚interpretation‘ imputed to the flyting does not therefore derive from the absolute morality of an opponent’s deeds but from the humiliating indecency one contrives in exploiting their moral ambiguity“.415 Dies scheint auf den ersten Blick Clover zu widersprechen. Im Endeffekt gibt es aber wenig Unterschiede; insbesondere wenn man noch seine zweite Definition, „flyting as an exploitation of a circumstantial ambiguity“,416 miteinbezieht. Clovers „best possible version of the event“ und „worst possible version of the event“417 kommt ihm dann sehr nahe, Gwaras Theorie gewichtet nur das moralische Element äußerst stark, während die Clovers die Einstufung allgemeiner hält. In beiden Fällen handelt es sich aber um eine Interpretationsleistung der Kontrahenten, variabel sind dabei einerseits die „Größe“ einer Tatsache, also ihr unumstößlicher Grundgedanke (faktischer Kern), sowie die genaue Natur der Wertematrix, anhand der „bestmöglich“ und „schlechtestmöglich“ bemessen wird. Wendet man sich nun beispielsweise den Fáfnismál zu, lässt sich auch beobachten, wie im flyting bzw. mannjafnaðr zwischen Sigurd und Reginn zwei deutlich unterschiedliche Matrizes eingebracht werden, wenn Sigurd „kriegerisch“ mit seinem Kampferfolg argumentiert, Reginn diesem in Folge aber den „pragmatischen“ Stellenwert von Handwerk, Schöpfer und Werkstück entgegenstellt. Hier lässt sich deutlich schlechter von moralischer Ambiguität sprechen als bei auf beiden Seiten dezidiert heroischen Unternehmungen. Gwaras Theorie scheint mir daher eine interessante Präzisierung von Clovers Definition darzustellen, die aber gerade wegen der Zuspitzung auf eine spezifische Moralität (welche der Autor über seine Interpretationen der Beispiele bestimmt) auf viele, aber nicht unbedingt alle flyting-Vorkommen angewendet werden kann und deren Quellenmaterial in seiner Auslegung nicht immer unstrittig ist.418 Zuletzt ist

415 Gwara 2008, S. 122. 416 Gwara 2008, S. 126. 417 Clover 1980, S. 459. 418 Auch die Episode aus der Njáls saga (Gwara 2008, S. 121 f.) lässt sich anders deuten: Dass die Rache des Neffen am Mutterbruder ethisch ebenso hoch belastet ist wie dessen Mord am Vater, mag sein, ändert aber nichts am moralischen Dilemma, in welchem Snorri sich befindet. Der Konflikt von Rachepflicht und Verwandtschaftsbanden ist ein traditionelles Thema, welches immer wieder in der

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bezüglich Gwaras moralischer Ambiguität als zentralem Kern der Beschuldigungen in einem flyting noch zu fragen, ob diese nicht doch in vielen Fällen erst aus der Interpretation entsteht, ergo eine Folge ist (Clovers: „creating […] the best possible version“419) und nicht die Voraussetzung. Abgesehen davon bietet die Untersuchung auch viele andere wertvolle Feststellungen und Einblicke, etwa in die Anfangsunsicherheit der Dänen bezüglich Beowulfs Charakter oder bei der Darstellung der Doppel- oder gar Dreifachszenerie der verschiedenen kulturellen Umfelder und Wertesysteme der Figuren, des Erzählers und der Rezipienten. Sie scheint mir von den drei hier besprochenen die schlüssigste zu sein, lässt aber, gerade bei der Analyse Unferðs bzw. des þyle, diverse Fragen offen. Auch die Darstellung der Figur im Kontext der warband und deren durch Beowulfs Ankunft entstehenden oder erhellten Unsicherheiten und interpersonellen Dynamiken scheint durchaus sinnvoll (wenn auch erneut nicht belegbar).420 Im Gegensatz zu Enright konzentriert sich Gwara zudem nicht nur auf keltische Parallelen, sondern auch auf einen weiteren Kreis, so etwa altnordische oder lateinische Texte. Vor allem aber betont er die Abhängigkeit einer solchen Deutung von der zugrunde gelegten militärischen Struktur (besonders in der Unterscheidung zwischen vertikaler und horizontaler Hierarchie) wie auch die Schwierigkeit, Unferðs Schwertgabe unter Bedingungen wie von Enright beschrieben so zu interpretieren, dass das Gesicht des þyle gewahrt bleibt.421 Die These, Beowulfs Ankunft gefährde die Sicherheit der warband, welche sich nolens volens zu einer schmachvollen Abmachung mit Grendel gezwungen sah, indem die Halle nachts dem Unhold gehört, und Unferð kritisiere Beowulfs Vorstoß, weil in seinen Augen der Gaute seinen persönlichen Ruhm über dies zumindest tagsüber friedenssichernde Arrangement stelle,422 scheint vielleicht etwas überspitzt, aber nicht ganz unzutreffend. Der Kern dabei scheint mir allerdings nicht der Ruhm oder die absolute Aufrechterhaltung des damaligen Zustandes zu sein, sondern vielmehr die Gefahr von Beowulfs Versagen: Auch die boasts der dänischen Krieger, welche Hroðgar erwähnt und welche ausnahmslos in deren Tod endeten, deuten an, dass durchaus immer wieder Versuche unternommen wurden, sich des Feindes zu entle-

germanischen Literatur auftritt. Ein Blick auf Beowulf und die dortige Beschreibung, wie Hreðel durch eine ähnliche Situation zerstört wird – hier sogar ein zufälliges Unglück und kein Mord –, zeigt weiterhin, dass das Verhalten von Snorri nicht die Norm sein muss und andere Figuren mit diesem Dilemma ungleich sensibler umgehen. Im Fall der Njáls saga wird nun das offensive Potential dieses Konflikts durch Skarpheðinn in seiner Anschuldigung größtmöglich ausschöpft. Selbst wenn Snorri zumindest ebenso positiv gezeichnet ist wie Skarpheðinn, oder noch mehr, ändert dies nichts an der faktischen Zwangslage des Charakters. 419 Kursivsetzung von mir [KRMT]. 420 Gwara 2008, S. 129. 421 Gwara 2008, S. 129. 422 Gwara 2008, S. 130 f.

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digen. Der Wunsch nach Erlösung ist also vorhanden, nur erscheint der fremde Gast der Gefolgschaft zum Zeitpunkt der Ankunft wohl noch als (zu) unsicherer Kandidat. Sehr interessant ist schließlich auch Gwaras Interpretation von Hroðgars Einlassungen über die Fehde von Beowulfs Vater Ecgþeow, die sich nahtlos in die war­ band-These einfügt: „the king’s pretense creates a secular justification for Beowulf’s attack on Grendel, reason enough to break the current détente“.423 Dass trotz dieser diplomatischen „Vorarbeit“ immer noch die Befragung durch den þyle notwendig ist, lässt sich hier nur durch die eher horizontale Hierarchie erklären, welche Gwara, im Gegensatz zu Enright, annimmt, sowie natürlich durch die offizielle Rolle, die Unferð laut dem Autor innehat (und von der ich, wie bereits vermerkt, nach wie vor nicht überzeugt bin).

4.3 (Kon-)Texte des Thuls im Beowulf 4.3.1 Text(re-)produktion 4.3.1.1 Originalität Die Frage nach der Originalität der geäußerten Texte des þyle muss etwas differenzierter betrachtet werden. Ganz allgemein kann man hier grundsätzlich von einer Eigenschöpfung sprechen, denn Textparallelen – zumal wörtliche Übereinstimmungen – zu Unferðs Attacke sind nicht bekannt. Auch textintern bedingt die Eifersuchtsmotivation eine persönliche Äußerung des Dänen. Angesichts der stereotypenreichen Form des flyting wird indes auch auf bekannte Topoi, Bilder, Strukturen und Taktiken zurückgegriffen  – wie es angesichts des Rahmens jedoch kaum vermeidbar ist. Silbers Hinweis auf die Übereinstimmung der Angriffe mit klassisch-antiken Redestrategien424 arbeitet die rhetorischen Grundlagen heraus, wodurch erkennbar wird, dass es sich hier zwar sehr wohl um eigene Texte des þyle handelt, diese aber rhetorisch, formal und inhaltlich deutlich festeren Regeln unterworfen sind als eine rein persönliche Aussage; Regeln, welche aus der Text- bzw. Dialogform hervorgehen und in deren Anwendung einmal mehr Beowulf sich als gewandter erweist als sein Kontrahent.425 Dennoch muss Unferð hier auch formal Originalität zugestanden werden; verarbeitet er doch seine Informationen rhetorisch kompetent und gestaltet sie effektiv für seine Zwecke um: Aus den Ereignissen wird ein maximal offensiver,

423 Gwara 2008, S. 131. 424 Silber 1981, S. 481. Silbers Grundidee, dass das flyting sich eigentlich um rhetorische Kompetenzen dreht und die Bezüge zum physischen Kampf schon fast metaphorisch zu lesen sind, teile ich nicht. Clovers Ansatz erscheint mir deutlich naheliegender, auch wenn die Ähnlichkeit von Wort- und Waffenkampf unbestreitbar ist (diese betont Clover allerdings ebenfalls). 425 Silber 1981, S. 475 ff.



(Kon-)Texte des Thuls im Beowulf 

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vermutlich auch zumindest teilweise sarkastischer Text (etwa Silbers bereits erwähntes „aimless thrashing“), der den intendierten sozialen Druck auf den Helden erzeugt. 4.3.1.2 Formale und ästhetische Elemente Sprecherorientierung und Publikum; Wirkung Die Sprecherorientierung im flyting ist doppeldeutig: Ostentativ an den Dialogpartner und Kontrahenten gerichtete Fragen, Drohungen, Anschuldigungen und Entgegnungen beziehen immer auch das (weitere) Publikum mit ein.426 Im Rahmen der Funktion des Streitgesprächs als soziale Erprobung des unbekannten Kriegers (und handlungsfunktional als Charakterexposition und Vorbereitung des ersten zentralen Konflikts) besteht sozusagen ein hohes öffentliches Interesse an der Klärung der Verhältnisse vor näherer Interaktion. Sollte Unferð dabei weiterhin, wie Gwara und Enright postulieren, als direkter Vertreter – sei es Sprecher, Ältester oder „Offizier“ – der duguð agieren, ist er im Auftrag gleich mehrerer sozialer Gruppen tätig: der herrschenden (Hroðgar, Wealhþeow, deren Söhne), der militärischen (comitatus) sowie der gesamten anwesenden Dänen. Diese letzte Gemeinschaft ist allerdings in Anbetracht der gesellschaftlichen Verortung mittelalterlicher Literatur allgemein als Oberschichtenphänomen (den Klerus mit eingerechnet) sowie vor allem auch angesichts der Zielgruppen innerhalb des Plots – sowohl als textinterne Adressaten als auch in der literarischen Figurendarstellung – von nur geringer Bedeutung. Nachdem die Sprecherorientierung hin zum Kollektiv also auf den ersten Blick sekundär ist, wenden sich Unferðs Worte äußerlich allein an den direkten Opponenten. Dem scheinbaren Individualempfänger Beowulf steht somit aufgrund der „persönlichen Äußerung“ des þyle der scheinbare Individualsprecher Unferð gegenüber, der aber in Wirklichkeit auch wieder die Gruppe vertritt. Man könnte daher hier von einer Doppel-, wenn nicht gar Dreifachschichtung sprechen, entsprechend den Pu­blikumsgruppen: die Performanz Unferðs gegenüber Beowulf (Attacke) als Performanz beider für die dänischen Betrachter (Prüfung), das Ganze wiederum vom Erzähler (Exposition) aufbereitet für den Leser bzw. Hörer des Textes – wobei für die Figur Unferð natürlich nur die ersten beiden Adressaten von Belang sein können. Was bewirken nun die Äußerungen des þyle bei Kontrahent und Publikum? Was sie bei Beowulf hervorrufen, wurde eben beschrieben: Die Diffamierungen zwingen den Gauten, sich zu äußern, sein Wesen und seine Geschichte darzustellen und damit seine Eignung für die vor ihm liegende Aufgabe zu beweisen. Im Kontext der Szene können die Äußerungen Unferðs so gewissermaßen auch formal (Rhetorik, Ironie, Effekt) als absolut geglückt angesehen werden, auch wenn der Charakter am Ende unterliegt. Überhaupt ist das ein Punkt, in dem sich die hiesige Verbalkonfrontation

426 Donovan 2009, S. 84.

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von anderen in dieser Arbeit besprochenen deutlich unterscheidet: Unferðs Niederlage im Empfangsszenario ist essentiell für den Plot, nur sie bedeutet Hoffnung für die Dänen.427 Wäre der þyle mit seinen Angriffen erfolgreich, folgte daraus ein Desaster für Heorot – Beowulf hätte damit bereits im Wortstreit nicht den nötigen Kampfgeist bewiesen und wäre zudem auch als heroischer Versager in der Jugend entlarvt, ohne die daraus resultierenden bösen Omen entkräften zu können – keine gute Perspektive für den Kampf gegen Grendel und im Zusammenhang mit dem späteren Verlauf auch eine Konstellation, die sich im Rahmen eines altenglischen heroischen Texts nur schwer rechtfertigen ließe.428

427 Eine interessante Bemerkung macht Hollowell in diesem Zusammenhang: Das gesamte Intermezzo an sich sei (wie es in eventuellen früheren Textfassungen auch immer ausgesehen haben mag) nicht essentiell für die Handlung im Beowulf (Hollowell 1976, S. 262). Der Aussage liegt die Annahme zugrunde, „Hroðgar’s acceptance of Beowulf’s expected offer to help seems implicit in lines 384–9“ (Hollowell 1976, S. 263). Jene Verse berichten von Hroðgars Lob Beowulfs gegenüber seinem Herold Wulfgar, insbesondere der Aussage, dass er den Gauten für dessen Kühnheit (modþræce, Z. 385; wörtlich „Mut-/Gemüts-Stärke“) Schätze bieten werde, vor dem Einlass des Protagonisten in die Halle. Dieser Darstellung würde ich widersprechen: Im Gegenteil ist es signifikant, dass die ausdrückliche Zustimmung erst nach dem flyting fällt. Die Unterhaltung Hroðgars mit Wulfgar findet statt, noch ehe Beowulf überhaupt ein Wort mit dem König gewechselt hat und dieser damit weder den Ankömmling, noch dessen Bedingungen wirklich kennt. Damit ist das Wortgefecht notwendig. Dass Unferð dennoch gleichermaßen als Charakter für den Dichter interessant war, so wie es Hollowell vermutet (Hollowell 1976, S. 262), leuchtet ein; vor allem, wenn man bedenkt, dass auch die Motivation des þyle beschrieben wird und über eine rein funktionale bzw. offizielle Pflicht hinausgeht. 428 In einem solchen Werk ist noch wenig Platz für übergreifende Ironie, Brechungen des Hauptcharakters und andere, eher modernere, Erzählstrategien. Während das Stereotyp der verspäteten Heldenentwicklung durchaus schon im Mittelalter vorhanden war (man denke an den altnordischen kolbítr), wäre ein solches Motiv für diese Szene im Beowulf nur sehr bedingt vorstellbar. Zum einen ist Beowulfs Interesse an und Initiative zu heroischen Taten in der Jugend – im Gegensatz zum kolbítr – bereits deutlich ausgeprägt (und im negativst interpretierten Fall dann in der Breca-Episode noch nicht völlig erfolgreich); zum anderen unternimmt Beowulf seine Fahrt nach Heorot auch aus eigenem Antrieb, was auf, zumindest bereits zu diesem Zeitpunkt, eine wohlausgebildete heroische Gesinnung schließen lässt. Unterliegt er nun aber Unferð, schädigte dies das Bild des idealen Helden, zumal keine Szene zwischen dem flyting und dem Grendelkampf liegt, durch die eine etwaige Ertüchtigung zwischen diesen beiden Konflikten begründet wäre (anders als etwa die bereits angeführte Wandlung Hǫttrs in der Hrólfs saga kraka). Die retrospektive Passage gegen Ende des ersten Teils, in der erzählt wird, dass der Gaute in seiner Jugend als unfrom (Z. 2188; „inactive, feeble“, Klaeber, S. 416), gegolten hatte, kann schwerlich die Zeit bei oder nach dem Breca-Abenteuer referenzieren, da hier genau der Antrieb gezeigt wird, der dem „Unfrommen“ abgeht. Während man von dieser Passage allein also möglicherweise noch auf ein kolbítr-Motiv schließen könnte (auch wenn der Terminus genau genommen nur die Sichtweise von Beowulfs Umfeld, nicht aber dessen eigene Natur autoritativ wiedergibt), müsste die Wandlung in diesem Fall bereits vor der Meeresepisode und insbesondere vor Beowulfs Fahrt nach Dänemark gelegen haben: Der Held hatte wohl den Rat der „weisesten Männer“ zu der Reise; gleichwohl spricht er allein beim König vor und nichts deutet darauf hin, dass er dann noch eines externen Anstoßes bedarf. Hroðgar betont überdies bereits im Gespräch mit Wulfgar die militärische Exzellenz des Pro-



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Mit der Niederlage des þyle hingegen scheinen zumindest die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schlacht geschaffen und so ist es auch logisch, dass erst nach dem flyting der Gastpokal gereicht, dem Kampfansinnen stattgegeben und letztlich dem Gauten die Halle überlassen wird. Enright sieht die Bezwingung Unferðs daher auch als dessen Sieg: „Beowulf’s victory is not Unferð’s defeat. No matter what the result, Unferð ‚wins‘ because he has unmasked the qualities of the stranger and thus enabled his lord and the seniores of the retinue to form an initial impression“.429 Betrachtet man das flyting genauer, kann man zudem mehrere temporäre Ziele ausmachen: Während das übergeordnete (implizite) Ziel Unferðs ist, vom Gast besiegt zu werden – quasi das Initiativziel des flyting überhaupt –, gibt es auch mehrere Zwischenziele innerhalb dieses Rahmens. Das erste ist – so sagt es bereits der Erzähler – die eifersuchtsbedingte Äußerung des persönlichen Missfallens. Je nachdem, welche Rolle man dem þyle innerhalb der Hofgemeinschaft Heorots zubilligt, kann als zweites Ziel die öffentliche Verbalisierung der Zweifel und Unsicherheit einer Gruppe (die Insassen der Halle allgemein oder die duguð) durch deren Sprecher gelten430 – etwas, was Hroðgar als exemplarischer Gastgeber und insbesondere noch mit früheren guten Kontakten zur Sippe des Ankömmlings nur schlecht äußern könnte: Dem rufschädigenden Zweifel stünde die Etikette, zumal nach seiner bedingungslos wohlwollenden Begrüßung, entgegen. (Ein wenig gliche die Rollenverteilung von Fürst und þyle in dem Fall dem modernen „good cop – bad cop“-Stereotyp.) Unferð wird somit zu Hroðgars Sprachrohr, ohne es auch ganz explizit zu sein,431 wodurch beider Seiten Gesicht gewahrt bleibt und dennoch die gebotene Prüfung durchgeführt werden kann. Das

tagonisten, wenn er Berichte von Händlern erwähnt, dass Beowulf, berühmt/mutig in der Schlacht (heaþorof), die Kraft von dreißig Männern in seinem Griff habe (Z. 379–381). 429 Enright 1989, S. 310. Dieser Sieg ließe sich noch genauer dem Typ „Sieg durch Niederlage“ zuordnen, da es Unferð auf Dauer nur wenig nutzen würde, Helden zu demaskieren, wenn die gesellschaftliche Bedrohung selbst bestehen bleibt. Anders gesagt: Individuell siegt Unferð, sobald er das flyting bestritten hat und sich dabei der Gast offenbart. In Bezug zum Kollektiv siegt er aber erst gänzlich, wenn sich unter seinen Angriffen ein Held als würdiger künftiger Streiter für die Halle entpuppt und (durch verbale Aggression und Intellekt) bewährt hat – also ihn ausargumentiert. 430 Green nimmt diese Darstellung aus externer Perspektive wieder auf. Bemerkenswert dabei: Für ihn ergreift Unferð nicht das Wort, weil er þyle und damit institutionalisierte Stimme der duguð ist, sondern der Erzähler nutzt die Figur, „to spill the muted reservations in the coastguard and Wulfgar’s speeches into Unferð’s pronounced envy“ (Green 2001, S. 99). Durch diesen Blickwinkel ist eine Deutung ähnlich der Gwaras und Enrights sogar möglich, ohne dass der Terminus þyle überhaupt – für die dortige Handlung wie für ihre Interpretation – eine Rolle spielt, da sich die Kausalverbindung von Figur und Handlung aus der textinternen sozialen auf die externe kompositorische Ebene verlagert. 431 Es ist auch hier wieder verlockend, genau in dieser neutral-instrumentalen Funktion die Bedeutung des Begriffs þyle zu sehen – eine Bezugnahme auf den Einsatz als (zweckgebundenes) Medium. Dabei böte sich eine Parallele zum neuisländischen þulur, „announcer (on radio and TV)“ (Hólmarsson/Sanders/Tucker 2009, S. 556). Aber auch hier fehlt es wieder an Belegen, und selbstverständlich ist der Abstand zwischen diesen beiden Kulturen noch weitaus größer als bei der Verbindung von altnordischem und neuisländischem Terminus.

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dritte Ziel ist das unmittelbare Aufreizen des Gegners zu Antwort und Selbstbeweis und bereits der Struktur des flyting inhärent. Zuletzt – je nachdem, wie viel Priorität man Unferðs Eifersucht im Vergleich zur sozial notwendigen Gastprobe zumessen will, könnte noch die Erschütterung von Beowulfs Glaubwürdigkeit in den Augen der Dänen eines der  – dann hochindividuell motivierten – Zwischenziele sein. (Auch hier gilt wiederum die Beobachtung, dass Hroðgar dabei ohne Weiteres seinem missgünstigen þyle freie Hand darin lassen könnte, weil dessen Angriffe genau das Resultat zeitigen, das in dieser Situation gewünscht ist.) All diese genannten Ziele werden erreicht. Das einzige, das scheitert, ist der eigentliche Gewinn des flyting, was aber bestenfalls ein temporäres, vielmehr noch ein vorgebliches Ziel der Begegnung sein dürfte; auch wenn dieser Punkt mit der verletzten Eitelkeit des þyle nur schlecht harmoniert. In diesem Zusammenhang haben Unferðs Äußerungen also diverse Folgen. Hingegen sind weitergehende Effekte im Sinne von etwa magischer Wirkung nicht zu erkennen. Stilistik und Bewertung Unferðs Äußerung entspricht in ihrer stilistischen Ausführung dem Stellenwert seines Angriffs für die Handlung: Angesichts dessen mal feiner, mal dicker aufgetragener Ironie, bewusst irreleitenden Wortspiels, rhetorischer Raffinesse und eines auf maximale Stoßwirkung zielenden Aufbaus kann man hier schon fast von einem eigenen Kunstwerk sprechen. Jedoch geht gerade der Werkscharakter dem Redebeitrag des þyle vollkommen ab: Zwar ist seine Offensive als spezielle Äußerung erkennbar, aber hierin nicht auf autonome Gültigkeit und fortlaufende Dauer ausgerichtet, sondern als kurzweiliger Zug in einem größeren Spiel geplant und inszeniert – wenn auch die im Text angelegte Begründung in persönlicher Eifersucht ihren Anteil an Aufbau und Intensität haben mag. Die souveräne Beherrschung seiner Mittel gerät dem Dänen daher nicht zum Selbstzweck, sondern bleibt dem Ziel des Konflikts untergeordnet. Es handelt sich weiterhin um Funktionsrede, wenn auch von sehr elaborierter Art. Eine Bewertung findet in diesem Fall nicht ausdrücklich statt. Auch gibt es keinerlei Bezugnahme auf etwaige ästhetische oder anderweitig „künstlerische“ Kriterien. Formal erfolgt hier somit zwar ebenfalls keine Beurteilung, durch die Bezugnahme aufeinander  – genauer gesagt das Wiederaufnehmen von Elementen der Rede Unferðs durch Beowulf – zeigt sich jedoch, dass zumindest einige Aspekte in bestimmten Kontexten es wert sind, wiederholt zu werden. Das bedeutet, dass die stilistischen Vorgaben des þyle einen gewissen rhetorischen Standard setzen und damit implizit positiv klassifiziert werden. Auch wenn, wie Silber feststellt, der Gaute diese Elemente dann oft noch weiter elaboriert.432

432 Silber 1981, S. 475.



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4.3.1.3 Performative Aspekte Über die performative Natur von Unferðs einzigem Sprachauftritt gibt es keinen Zweifel. Selbst im weiteren Sinne ist das flyting als Aufführung zu verstehen; die dramatische Qualität tritt in dem aufgeladenen, kompetitiv-kombativen Wortwechsel vor Publikum deutlich zutage.433 Auch anderweitig, nämlich in der „Normalisierung“ der Verhältnisse nach dem Ende, zeigt sich die formal-implizite Abgrenzung dieses Dialogs von alltäglicher Interaktion. Ist auch nicht unbedingt davon auszugehen, dass hinterher sämtliche Feindschaft zwischen den Kontrahenten mit einem Schlag beigelegt ist, so zeigt sich im weiteren Handlungsverlauf doch deutlich die Einkehr der Normalität – von Unferðs Stille über die mangelnden Mut bezeugende, aber freiwillige Schwertübereignung mit Empfängerdank bis hin zur letztlichen Rückgabe und Waffenlob, bei welchem sich selbst der þyle-kritische Erzähler mit Einlassungen über Unferð zurückhält: Wenn das flyting über den eigentlichen Wortwechsel hinausgehende negative Auswirkungen hat, sind diese ebenso subtil wie nicht von Dauer.434 Auch bei der Schwertgabe liegt eine Performanz vor; allerdings – und dies gerade in Anbetracht der sonst mit dem þyle-Begriff assoziierten Handlungen bemerkenswert – eine ohne Worte. Beowulf hat zu diesem Zeitpunkt die Sprecherrolle gänzlich übernommen und Unferð ist in seiner Funktion als Verbalakteur so weit in den Hintergrund getreten, dass, was auch immer der Charakter eventuell bei der Übergabe vielleicht hätte sagen können, für den Erzähler so wenig von Interesse sein muss, dass es gar nicht und die Gabe nur in zusammenfassendem Rückblick berichtet wird. Wichtig ist vielmehr der Kontrast in der Kampfeslust der beiden Figuren, welcher Beowulf umso heldischer hervortreten lässt – was durch dessen „offizielle“ Rede noch einmal bestätigt wird – und rückwirkend dann auch die Feigheitsanschuldigung des Helden aus dem Wortwettstreit verifiziert. Somit verblasst Unferð, obschon er eine der zentraleren Figuren am Hofe Hroðgars ist, nach dem flyting immer mehr und wird allmählich zum Hintergrund, vor dem Beowulf seine Exemplarität weiterhin ausagieren kann: Während der Held ungebrochen immer wieder performative Elemente in seine Handlungen integriert und oft genug betont (man denke nur an die beotas im Zusammenhang mit den Kämpfen), weicht die Sprecher-Performanz des Dänen der schweigenden Performanz und endet schließlich im wortlosen Wieder-Empfang Hruntings.

433 S. dazu auch Ogilvy/Baker (1984, S. 51) über die Zuhörerschaft: „possibly […] they regarded the interchange as part of the afternoon’s entertainment“. Ihrer Einstufung als reine Unterhaltung würde ich nicht zustimmen, der Darbietungscharakter ist ohnehin auch beim ernsteren Zweck gegeben und schließt hierbei auch eine gewisse soziale Kontrolle ein. 434 Libermann (1996, S. 74) fasst den Abschluss des flyting und den folgenden Übergang ebenso knapp wie prägnant zusammen: „each actor played his part, and a new drama has started“.

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4.3.1.4 Situationskontext Die Situation ist, wie auch das Publikum, rein säkular angelegt: Aufeinandertreffen und anschließendes Wortgefecht ebenso wie die Szenen mit Hrunting finden in einer irdischen Halle bzw. in der Natur435 statt, und obwohl Gott eine prominente Rolle im Beowulf spielt und die Verdammung Unferðs durch den Helden religiös konnotiert sein mag, ist in beiden Punkten kein direkter Effekt zu erkennen. Übernatürlich-mythische Aspekte finden sich beim þyle, ebenso wie religionsbezogene, damit nicht. Das Publikum für seine Äußerungen ist – anders als in den meisten anderen in dieser Arbeit untersuchten Texten – zahlreich und sozial geschichtet, wobei nur die Kriegeraristokratie sowie die Herrscher eine maßgebliche Rolle spielen, nicht hingegen Gesinde und sonstige Anwesende. Und wenn auch Teile der Zuhörerschaft sich nicht direkt zu Wort melden (die duguð), wird deren freudige Reaktion auf den Ausgang des flyting, welche überdies eine Art Beurteilung der Darbietung ausdrückt, doch vom Erzähler beschrieben. In diesem Sinne ist das Publikum also auch aktiv an der Szene beteiligt. Abseits der Frage nach rituell-mythischen Elementen ist außerdem ein gewisses Zeremoniell mit dem Gastempfang gegeben, wobei es weiterhin interpretationsabhängig bleibt, ob das flyting per se darin einen aufgrund kultureller oder literarischer Konventionen erforderlichen Bestandteil darstellt oder individueller Zusatz des Dichters ist. Damit liegt in dieser Szene ein formalisierter Austausch innerhalb einer zeremoniellen Situation in einem deutlich säkularen Setting vor. Ähnliches lässt sich – dann allerdings ohne verbale Interaktion seitens des þyle – von den beiden Hrunting-Szenen sagen, wobei die Gabe und Rückgabe wohl weniger öffentlich festgeschriebenem Zeremoniell gehorchen als inoffiziellem, sozial etabliertem. Allerdings ist hier zusätzlich zu beachten, dass Unferð bei der Übergabe kaum in Ausübung eines etwaigen konkreten Amts als þyle agieren wird, sondern als – wenig kampflustiges  – Individuum, die Übereignung also eher eine Privathandlung darstellt.

435 Auch wenn die Gabe des Schwerts in der Nähe der Höhle von Grendels Mutter erfolgt und das Ambiente entsprechend unwirtlich ist, muss der Held doch noch die zentrale Barriere des Wassers überwinden, um vollkommen in ihre Sphäre einzutreten und sie bekämpfen zu können. Die Annäherung allein genügt dafür nicht, damit kann die Natur hier als säkular angesehen werden. So bezeichnet Hroðgar das Land im Reich Grendels auch als wulfhleoþu (Z. 1358, „Wolfshügel“ oder „Wolfshang“; hliþ s. B/T, S. 544) und betont die im negativen Sinne wundersame Bedrohung, die mit dem Wasser dort verbunden ist (niðwundor, Z. 1365). Außerhalb des Wassers liegt also die weltliche Gefahr, das Wasser selbst ist die Schwelle ins Un-Menschliche (vgl. hier auch den Angriff der Wasserungeheuer im flyting, die den Helden zum Meeresgrund hinabziehen, Z. 553 f.). Damit bedeutet auch Beowulfs Auftauchen nach dem Sieg die Wiederkehr in das Reich der Menschen.



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4.3.1.5 Rollen und Autorität Auch was die Rolle des þyle angeht, bleibt eine gewisse Unsicherheit. Gerade die bereits erwähnten Interpretationen von Gwara oder auch Enright bzw. Donovan haben einiges für sich: Unferð als Stimme der warband – eine solche Deutung löst viele, wenn auch nicht alle, Probleme dieser Szene. Im Gegensatz dazu steht vor allem die zuvor erwähnte wichtige Betrachtung Clovers, dass auch in altnordischen Texten Epitheta situationsbedingt vergeben wurden und aus diesem Blickwinkel durchaus möglich ist, dass Unferð nicht das flyting beginnt, weil er þyle ist, sondern dass er, nachdem er das flyting – wenn auch nicht als argumentativer Sieger  – beendet hat, quasi erst rückwirkend zum þyle ernannt wird. In diesem Fall besäße der Begriff zwar einen gewissen offiziellen, aber keinen institutionalisierten Charakter und entsprechende temporäre Autorität  – etwas, was sich wiederum mit der Darstellung in den Vafþrúðnismál und Reginsmál decken würde, in denen sich wohl der Begriff im Rahmen verbaler Auseinandersetzungen, nicht aber ein Hinweis auf formal verfestigte Positionen findet. Zumindest ein gewisser Status – ob nun aufgrund eines Amtes, herausragender Charakteristika wie Klugheit, Eloquenz, oder auch (einstigen) Heroismus  – dürfte bei seinem eifersüchtigen Angriff auf Beowulf aber in der Tat eine Rolle spielen, wie Libermann auf den Punkt bringt: „He may well have hated the young whippersnapper, and yet who would have allowed him to vent his anger in public?“436 Eine solche Interpretation erschiene zudem auch kongruent mit der Betitelung der Figur sowie der Tatsache, dass es im Text nun einmal keine explizite Verbindung von duguð und þyle gibt. Wahrscheinlicher dünkt dann schon die Rolle als Sprecher des Königs; nicht zuletzt, weil Unferð eben – wenn auch nachträglich – explizit als þyle Hroðgares (Z. 1456) bezeichnet wird. Auch die Sitzposition und damit örtliche Nähe zum Herrscher scheint ein Hinweis auf ein etwas spezielleres Verhältnis zu sein, ohne allerdings letzte Sicherheit geben zu können, da auch hier die Beleglage spärlich ist. Im Ganzen scheint mir daher Irvings feine Differenzierung in der Frage der Rolle den Punkt zu treffen: Das bereits erwähnte „unprovable if not […] untenable“437 beschreibt das Spannungsfeld für die Deutungen des Charakters auch hier treffend. Gemäß seinem Rat „we had better retreat to firmer ground, and not assume an official role for Unferð here“,438 scheint es daher angebracht, die Frage nach der genaueren Position von Unferð þyle weiterhin offenzulassen bzw. nur wie folgt zu beantworten:

436 Liberman 1996, S. 72. 437 Irving 1989, S. 39. 438 Irving 1989, S. 39.

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Zumindest im Rahmen des flyting genießt Unferð eine durch Hroðgars Stillschweigen sanktionierte, vergleichsweise gesteigerte Autorität; unabhängig davon, ob das Schweigen des Königs aus reiner – „privater“ – Duldung, „privater“/inoffizieller Beauftragung oder etwaigen offiziellen Amtspflichten resultiert. Und in diesem Rahmen agiert der þyle auch durchaus als Sprecher des Herrschers oder seiner Krieger. Ob temporär, inoffiziell oder institutionalisiert, bleibt allerdings nicht ersichtlich.

4.3.2 Informations(re-)produktion 4.3.2.1 Informationsarten Über die Arten der Informationen, die im Austausch zwischen Unferð und dem Pro­ tagonisten vermittelt werden, wurde schon in den vorangegangenen Abschnitten das Meiste gesagt: Ähnlich den Fáfnismál sind die Inhalte, welche der þyle in der Auseinandersetzung vermittelt, durchgehend säkular und heroisch und weisen keinerlei gnomische, mythische oder gar kultische Elemente auf; auch die Figur selbst kann in keinem Fall im mythisch/kultisch-religiösen Bereich verortet werden. Zwar künden die Informationen des flyting von übermenschlicher Stärke und Tapferkeit (bzw. dem Zweifel daran), bewegen sich aber in größtenteils geographisch lokalisierbaren Gebieten des Nordens, bewohnt von Menschen und bedroht von Tieren ebenso wie Ungeheuern (wobei die Grenze zwischen beidem durchaus fließend sein kann, wie sich etwa an der Gefährdung Beowulfs im Meer durch hronfixas ebenso wie feondscaþas erkennen lässt). Über allem unerreichbar wacht und richtet Gott, den der þyle nicht thematisiert, wie auch keine direkte Interaktion zwischen den Charakteren und dem Numinosen stattfindet. Göttliche und menschliche Sphäre bleiben getrennt, die göttliche für Menschen unerreichbar und für diese Figur offenbar auch nicht von Wichtigkeit. In jeglicher Hinsicht „nicht die Rede“ ist hier also von einem Ausbruch ins Übernatürliche oder gar Jenseitig-Mythologische. Betrachtet man Unferðs Äußerungen weiter, stellt sich außerdem heraus, dass deren Inhalte nicht einmal konkret als geographisch oder genealogisch bezeichnet werden können, höchstens zu einem geringen Grad als historisch, wobei sich selbst eine solche Deutung vor allem auf die für Dänen und Gauten unmittelbare Vergangenheit im Rahmen einer Nutzenerwartung bezieht. Dies lässt sich in Zusammenhang mit der  – auch  – persönlichen Motivation des Charakters bringen, beweist aber in erster Linie, wie schon in den anderen Texten, dass Unferð besser über die mehr oder weniger aktuellen bzw. aktuell wichtigen Ereignisse und das Weltgeschehen im Bilde ist als Hroðgars restlicher Hof; und vielleicht selbst als der König. Damit wäre das flyting, trotz des Ausgangs, ein weiterer Ausweis des großen Wissens eines als Thul bezeichneten Charakters, hier eben in ausgesprochen weltlichen, aber dafür nicht minder wichtigen, Zusammenhängen. Aus dieser Perspektive heraus mutet es dann auch nicht verwunderlich an, dass sich der þyle im Beowulf nicht gnomisch äußert: Anlass, Einfluss und Erfordernisse sind ausgesprochen konkret, situationsbezogen



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und säkular. (Allerdings gibt er seinem Kontrahenten die Gelegenheit zur Sentenz, oder motiviert ihn, im Sinne des Wettbewerbs auf formaler Ebene, eventuell sogar erst dazu.439) Gerade im Bezug auf die Inhalte der Reden des þyle und deren elementare Bedeutung im jeweiligen Auftritt wären hier außerdem noch die Prominenz der NichtInhalte zu betonen: Das erst betonte, dann unauffällige Schweigen der Figur spiegelt die verblassende Relevanz für Held und Plot wider. 4.3.2.2 Informationskontext Wie nun gestalten sich die Äußerungen Unferðs, wem dienen sie und was ist ihr Zweck? Hier lassen sich mehrere Faktoren ausmachen: Die persönliche Motivation der Figur wird bekanntlich vom Erzähler selbst noch vor deren erster Äußerung bekräftigt. An der Kompetitivität des Wortwechsels kann überdies kein Zweifel bestehen. Anfangs scheint das flyting gar vollständig kombativ orientiert und erhält erst durch Beowulfs Antwort den direkt vergleichenden Impetus, der den Wettstreitcharakter stärker ins Licht rückt, wobei dieser auch ohne ausdrückliche Verkündung des Gewinners eindeutig zugunsten Beowulfs ausfällt. Angesichts der Einbindung Unferðs in den königlichen Hof, dem liminalen Szenario des Gastempfangs und Hroðgars Reaktion auf den Wortwechsel ist hierbei überdies auch eine zumindest halboffizielle Rolle anzunehmen, sodass der þyle in seinem Auftritt sämtliche Äußerungskontexte integriert: den subjektiven, den kompetitiv-kombativen sowie den offiziellen. Einzig die Frage der Institutionalisierung bleibt ungelöst. 4.3.2.3 Tradierung So kompetitiv die Inhalte auch sein mögen, ist bei Unferðs Angriff gleichzeitig auch eine gewisse Tradierungsfunktion gegeben; hier allerdings nicht in einem generationenübergreifenden, also asynchronen, Sinne, sondern vielmehr im synchronen kulturell-geographischen: die Verbreitung des Wissens über einen fremden Krieger unter dem eigenen Volk. Zudem ist diese Tradierung eher temporär angelegt, d. h. für das flyting gültig, und überdies zweckgebunden, somit im Anschluss von nur geringer Relevanz. Weiteren Nutzen für die Informationen gäbe es dabei durchaus. So böte Beowulfs „korrigierte“ Version der Ereignisse ausreichend Motive für eine

439 Dies könnte entfernt an die Anfangsszene der Vafþrúðnismál erinnern, in der Odin, ebenfalls als Gegner eines Thuls, im anfänglichen Streit mit einer (sehr doppeldeutigen) Gnome reagiert, ebenso wie Sigurd im Streit vor dem Totschlag in den Fáfnismál eine Spruchweisheit bemüht. Eine exakte Parallele ist dies aber keinesfalls; es bleibt maximal die Frage, ob das Äußern gnomischer Strophen in derartigen Situationen als eine Art statusbezogener „Gleichziehversuch“ gelten kann. Für die Beantwortung werden zwei Vorkommen aber kaum ausreichen (zumal Unferð erst nach dem flyting als þyle benannt wird und auch Reginn erst etwas später von den Vögeln diese Bezeichnung erhält).

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Heldenjugend, etwa im Rahmen von Preisliedern nach dem Sieg über die Grendelsippe. Von einer solchen Verarbeitung wird allerdings nicht weiter berichtet, sodass sich die gesicherte Tradierungsfunktion auf die flyting-Szene beschränken muss. Im Rahmen der persönlichen Äußerung stellt sich ferner die schon in puncto „Autorität“ aufgetretene Frage, ob Unferð in seiner Attacke einem offiziellen Auftrag folgt oder aber Hroðgar ihm schlicht freie Hand lässt, da der Angriff seines missgünstigen þyle dem Herrscher und dessen eigenem Wissensdrang in die Hände spielt. Diesen Punkt möchte ich offenlassen. So deutet die explizit vom Erzähler festgehaltene Eifersuchtsmotivation auf ein zumindest teilweise persönliches Moment hin; dies schließt eine formale Pflicht aber weder aus noch ein. Gut möglich, dass sich hier Charakterzug und eventuelles Amt der Figur ergänzen. Damit tritt Unferð der þyle in allen hier untersuchten Informationskontexten und -funktionen auf: als persön­licher, als formaler sowie als (halb-)offizieller Sprecher, als Verbalaggressor und – in geringem Grade – als Tradent. 4.3.2.4 Validierung Wie bereits in der Frage einer etwaigen künstlerischen Bewertung angesprochen, findet durchaus eine Auswertung der Einlassungen Unferðs statt, und zwar  – im Unterschied zu den bisher betrachteten Texten – durchgängig und reichlich explizit. Informationen werden vom antwortenden Adressaten teils bestätigt (nach Clovers Parametern funktional die concession, nach Church die confirmation), teils widerlegt (nach Clover reinterpretation, nach Church refutation), wie es im flyting üblich ist. Wichtig ist hierbei allerdings, dass es sich um eine funktionale Evaluation handelt, die objektive, absolute Verifikation/Falsifikation hingegen ausbleibt. Der Prozess ist hier also auf die Gültigkeit der Informationen und Darstellung als schlagkräftiges und/oder überzeugendes Argument im flyting beschränkt, während nicht bestätigt werden kann, wessen Aussage den tatsächlichen Ereignissen nun wirklich näher kommt.440 Folglich könnte man hier auch statt von absoluter Verifikation/Falsifikation von einer situativen Plausibilitätsprüfung sprechen. Durch die Art des Austauschs ist die Validierung im Beowulf überdies auf die zwei „Spielzüge“ des flyting begrenzt, sodass der Gegner des Angreifers in diesem Konflikt automatisch auch das letzte Wort hat und damit letztendlich die Deutungshoheit. Erklären ließe sich das mit dem Zweck des Streits: den Angegriffenen dazu zu veranlassen, seine heroische Legitimation zu erbringen, was mit seiner Antwort vollzogen ist. Auch sind die Anschuldigungen Unferðs (gerade im Vergleich zum von Beowulf

440 S. dazu auch Gwaras bereits erwähnte Beobachtung zur Motivation Beowulfs, welche sich auch auf die Behauptungen im flyting beziehen lässt: „the evidence does not validate Hunferð’s opinion of Beowulf – but neither is it invalidated“ (Gwara 2008, S. 60).



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vorgebrachten Brudermord) nicht unbedingt so geartet, dass sie eine weitergehende Infragestellung oder tiefgreifendere Analyse erforderlich machen würden, nachdem der Held sich plausibel erklärt hat. Zu einem geringen Grade erinnert die Struktur damit an jene des Wissenswettstreits in den Vafþrúðnismál, wo ebenfalls keine durchgängig wechselseitige Befragung stattfindet, sondern sie en bloc von jeweils einem Sprecher durchgeführt wird. Allerdings erfolgt die Evaluierung in den Vafþrúðnismál fast durchgehend implizit durch Übergang zur nächsten Frage – mit Ausnahme des Eingeständnisses der Niederlage am Ende. Darüber hinaus ist die Evaluation im Beowulf einseitig kompetitiv: Unferð antwortet nicht mehr auf die Erwiderungen des Protagonisten; im Endeffekt sind es also nur die Informationen des þyle, die direkt überprüft werden. Damit unterscheidet sich das Szenario auch deutlich von der gegenseitigen und abwechselnden Bewertung Sigurds und Reginns in deren mannjafnaðr, wobei dort zusätzlich auch Rahmenparameter wie Wertigkeiten (Handwerker/Krieger) verhandelt werden, nicht nur die Darstellung von Ereignissen. Zwar lässt sich annehmen, dass die öffentliche Situation im altenglischen Epos eine weitere validierende Schicht mit sich bringt – die Argumente der Kombattanten müssen auch vor dem Publikum Heorots bestehen –, diese wird im Text aber nicht größer ausgeführt, sondern manifestiert sich nur im befreienden Lachen. Absolut überragend ist indes die Bedeutung der Validierung im Beowulf, und dies in mehrerlei Hinsicht. Einmal für die Charaktere: So steht die persönliche Ehre und Qualifikation des Protagonisten auf dem Spiel und damit sein heroisches Selbst. Für die Dänen bedeutet die Abwehr von Unferðs Anschuldigungen hingegen eine neue Hoffnung. Der þyle als Anstifter ist dabei praktisch am wenigsten von den Effekten der Validierung betroffen, wenn man den kollektiven Hoffnungsgewinn außer Acht lässt: Durch die Widerlegung seiner Aussagen erleidet er keinen sichtbaren Prestigeverlust, noch wird er in anderer Form sanktioniert. (Die persönliche Befindlichkeit der Figur angesichts früherer Eifersucht und Niederlage bleibt unerwähnt.) Ebenso wichtig ist der Ausgang der Konfrontation aber für den Plot: Das abgeschlossene flyting motiviert Beowulfs Akzeptanz als champion Heorots und damit erst die folgenden Ereignisse. Die weitere Funktion als Charakterexposition wurde bereits zuvor genannt, und als Letztes werden die Jugendtaten Beowulfs hier strukturell durch das vielfache foreshadowing gerade in der Erzählung des Gauten mit seinen späteren Kämpfen verknüpft, was die textinternen Bezüge verstärkt (und an die repetitiven und variierenden Effekte mündlicher Dichtung denken lässt) sowie zumindest auf dieser Ebene seine Darstellung gewissermaßen implizit rückwirkend stützt. Aufgrund von Letzterem ließe sich dann vielleicht doch noch eine Validierung von Beowulfs (und nicht nur Unferðs) Aussagen zumindest in Teilen annehmen, welche allerdings nicht mehr verbal, sondern durch plotinterne Aktion geschieht. Parks hat in seiner Untersuchung formalisierter verbaler Auseinandersetzungen überzeugend skizziert, wie eine solche Verbindung von Herausforderung, Streit und

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Kampf zu bestimmten Formen von Wortwettstreiten gehört,441 während Clovers Darstellung, dass bei Wort- und Waffenkampf grundsätzlich von zwei unterschiedlichen Szenen auszugehen ist, hier gerade aus der Retrospektive nicht mehr ganz so selbstverständlich erscheint. Dies auch eingedenk einer anderen berühmten flyting-Szene: der in der Battle of Maldon, in welcher dem Wortgefecht zwischen dem englischen Fürsten Byrhtnoth und dem Wikingeraggressor ebenfalls der Kampf folgt.442 Parks Darstellung erscheint mir hier etwas schlüssiger, was aber nur eine geringfügige Modifikation von Clovers Theorie mit sich bringen würde: Nämlich, dass einem flyting nicht notwendigerweise ein bewaffneter Konflikt folgen muss, dies aber der Fall sein kann und der Kampf dann gegebenenfalls eine indirekte Validierungsfunktion besitzt.443 Wichtig ist dabei auch, dass im physischen Konflikt nicht unbedingt dieselben Kontrahenten aufeinandertreffen wie im verbalen, zumindest aber einer beteiligt sein muss, damit die Verbindung gegeben ist, sowie, dass diese natürlich im vorangegangenen Wortgefecht thematisiert gewesen sein sollte. Dasselbe gilt für das zeitliche Verhältnis: Wohl kann ein gewisser Abstand zwischen beiden Begegnungen liegen, dieser sollte aber nicht zu lange betragen (im Falle von Beowulfs erstem Grendelkampf wäre es die Zeit zwischen Abendgelage und Nachtangriff, beim späteren Kampf gegen Grendels Mutter noch ein weiterer Tag).

4.4 Zusammenfassung und Fazit Damit läge beim þyle im Beowulf der erste dezidiert weltliche Beleg für diesen Begriff vor: Unferð spricht weder in Gestalt eines, noch mit einem Riesen, noch ist er ein Zwerg (nicht einmal ‚von Wuchs‘). Er wird nicht als zauberkundig dargestellt und auch nicht als mythologisch (fast) allwissend. Seine Situierung am dänischen Fürstenhof könnte säkularer kaum sein, und obgleich er mit fundiertem politischem und zeitgenössischkonkretem Wissen, wohlgesetzten Worten und einer ausgesprochenen Begabung für manipulative Sprache aufwarten kann, liegt deren beabsichtigte Wirkung einzig in der unmittelbaren Reaktion des fremden Dialogpartners. Unferðs aktive Sprech-Rolle ist dabei konkret, sozial, denkbar undiplomatisch angelegt und von kurzer Dauer; die Autorität eher flüchtig und mit Abschluss des flyting weiter abnehmend. Er wirkt

441 Parks 1986b, S. 451. 442 Ähnlich könnte man auch das flyting zwischen Sinfjǫtli und Guðmundr in der Helgaqviða Hun­ dingsbana I Str. 32–44 anführen, wobei die altenglische Korrespondenz auch aufgrund der kulturellen Nähe vorgezogen wurde, selbst wenn sowohl Sigmund als auch Sinfjǫtli im Beowulf erwähnt werden (als Sigemund und Fitela, z. B. in Z. 875 und Z. 879). 443 Im Rückgriff auf Amory könnte man selbst Gewaltakten, die nicht auf explizit dem flyting zuzurechnende Verbalkonflikte folgen, eine Art Validierungsfunktion zusprechen, und zwar die des – gegenwärtigen, einstigen oder gewünschten – sozialen Status einer oder mehrerer beteiligter Figuren (s. etwa Amory 1991, S. 59 f.).



Zusammenfassung und Fazit 

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erst und zuvorderst verbal als Kombattant, tritt dabei auch als Individuum auf und fungiert als (temporärer) Tradent, später nonverbal als Statist, Motivator und Folie für den Helden. Und während in den anderen behandelten Texten eine Niederlage im Wortwettstreit von der Figur tunlichst zu verhindern versucht wird, ist sie hier – wenn auch nicht explizit – im Sinne der Gemeinschaft, der der þyle angehört, essentielles Ziel und fundamental für Sicherheit, Rettung und Fortbestand seiner Kultur.444 Die Ausprägung dieser Bezeichnung im altenglischen Epos unterscheidet sich somit in vielerlei Hinsicht signifikant von der in den anderen untersuchten Texten.

444 Generell eine Niederlage im Wettstreit erleiden allerdings alle drei þulir, die sich darin ergehen: Vafþrúðnir in den Vafþrúðnismál, Reginn in den Fáfnismál und Unferð in Beowulf.

5 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál Eine Beschäftigung mit den Hávamál kommt nicht ohne die Frage nach Textkomposition und -struktur aus. Nicht nur das Fehlen einer vollkommen durchgängigen Stimme, welches der Aussage des Werktitels („Reden des Hohen“) gewissermaßen widerspricht,1 resultierte in vielerlei „Rekonstruktions“-Versuchen, von denen sich jedoch letztendlich keiner vollständig durchsetzen konnte.2 Auch inhaltlich sind diverse Brüche erkennbar, welche – zumindest auf den ersten Blick – die Annahme eines kompilierten Texts unterstützen. Dabei haben jedoch weder Umstellungen (wie bei Heusler3 oder Lindquist4) noch Streichungen „unauthentischer“ Strophen (etwa durch Müllenhoff5) ein dauerhaft haltbares Ergebnis erbracht und auch die Grundlagen derartiger Um- bzw. „Rück“-Bildungen sind meist strittig, was nicht zuletzt darauf zurückgeht, dass sich eine Datierung bisher als unmöglich erwiesen hat, auch wenn zumindest Teile des Werks auf die Zeit vor dem Jahrtausendwechsel zurückge-

1 Dazu Beyschlag: „Daß Odin spricht und belehrt, ist für Teil II evident. Daß aber er, und nur er, auch das Übrige von II und vor allem den gesamten Teil I vortrage, entzieht sich aufgrund dessen, wie das Denkmal strukturiert ist, überhaupt einer Beweisführung – wie letzten Endes allerdings auch einem Gegenbeweis“ (1974, S. 18). Evans weist zusätzlich darauf hin, dass, wo Teile aus den Hávamál in anderen Werken auftreten (Gylfaginning, Fóstbrœðra saga), der Name nicht erwähnt wird, ebenso wie „in any Old Norse document apart from CR itself“ (Evans 1986, S. 2). 2 Eine Übersicht vor allem der älteren Forschung u. a. in: von See 1972a, v. a. S. 7 ff., Evans 1986, S. 13 ff. sowie Harris 1985, S. 107 ff. Zu Widersprüchen, Lücken und Problemen bezüglich von Sees „Redaktor“-Theorie, auch anhand der Betrachtung von Schneiders „Uredda“, s. v. a. Beyschlag 1974, S. 1–19 sowie Evans 1986, S. 10 f. und 17 f.; weiterhin die darauf folgende Debatte der beiden Autoren, insbesondere von See 1989 und Evans 1989; zusätzlich die weiteren Rezensionen von Wilson 1974, de Boor 1973, et al. Zu Problemen bei der Behandlung von (möglichen) Parallelstellen der lateinischen Spruchdichtung im Lichte vor allem der mittelalterlichen deutschen Überlieferung wie auch allgemein dem Verhältnis Hávamál – Hugsvinnsmál – Disticha Catonis s. Köhne (1983), S. 380–417 sowie McKinnell 2007a, S. 76–91. In seiner  – vergleichsweise jungen  – Edition des Gedichts stellt auch Evans fest: „It is inconceivable that these 164 strophes were originally composed as one poem: […] a work so incoherent, so lacking in any evident thread of exposition, could not have been orally transmitted (over, in all probability, a fairly considerable stretch of time) without suffering a good deal of involuntary rearrangement and disruption“. Die vorliegende Form sei daher das Werk eines Kompilators, welcher allerdings aufgrund von Eigentümlichkeiten des erhaltenen Manuskript-Texts nicht mit dem Schreiber des Codex Regius identisch sei, sondern „two or three stages further back in the ms tradition“ angesiedelt werden müsse. Gleichwohl seien ausgedehnte Rekonstruktionen wenig sinnvoll: „too speculative to lead anywhere“ (Evans 1986, S. 7) – dies eine Meinung, welcher ich mich, wie bereits erwähnt, anschließen möchte. 3 Heusler 1917. 4 Lindquist 1956. 5 Müllenhoff 1908.



Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál 

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hen dürften.6 Es stehen sich hier zwei verschiedene Schulen mehr oder minder (un-) versöhnlich gegenüber: eine, die vor allem auf Basis von Archaismen, Norwegianismen und fehlendem christlich-hochmittelalterlichen Kolorit für eine frühe, zwangsläufig mündliche Schöpfung vor der Christianisierung Islands plädiert (und die z. B. von Evans vertreten wird). Und die andere, die, besonders anhand von Versparallelen in der europäischen Gnomik, von einer späteren, hochmittelalterlichen und damit eminent schriftlichen Entstehung ausgeht (so beispielsweise von See oder Köhne). Dabei ist es bislang keiner Seite gelungen, einen erschöpfenden Beweis zu führen, der die gegenteilige Annahme ausreichend hätte entkräften können. Der Schluss Larringtons behält daher auch weiterhin seine Gültigkeit: „At present, we have no conclusive proof of the date of the composition of Hávamál in its present form, or of the age of its constituent parts“.7 Wie Evans in seiner Edition der Hávamál feststellt, gibt es in Bezug auf die Ablehnung von Rekonstruktionen zwei verschiedene Positionen: „one may regard them as futile (i.e. it is hopeless to try to establish the original order […]) or one may regard them as supererogatory (i.e. the ms order is satisfactory as it stands)“.8 Der Autor bezieht sich dabei vor allem auf den ersten Teil des Werks, welcher in der Forschung gängigerweise „Altes Sittengedicht“9 genannt wird; die Aussage kann aber durchaus als für den gesamten Text gültig betrachtet werden. Bei den Hávamál im Rahmen dieser Arbeit lassen sich, wie ich meine, sogar gleich beide Gründe ansetzen: Die Suche nach Vorformen bzw. „dem Original“ dürfte kaum erfolgreich sein, wie die Widersprüchlichkeit der bereits erfolgten Rekonstruktionen auch für Evans beweist;10 zudem ergibt der Text auch in der vorliegenden Form durchaus einen gewissen Sinn – ungeachtet der diversen Cruces – und lässt sich damit als Zeugnis des Verständnisses zumindest des letztmalig signifikant in den Text eingreifenden Bearbeiters lesen sowie interpretieren11 (ob es sich bei dieser Person gleichzeitig um den Schreiber des Codex Regius handelt, sei dahingestellt und soll hier nicht weiter erörtert werden). Angesichts der Zielsetzung dieser Arbeit kommt noch hinzu, dass es sich bei den für die Untersuchung relevanten Belegstellen bis auf eine Ausnahme um Verse handelt, deren individuelle Platzierung grundsätzlich umstritten ist. Es geht hier also kaum, wie sonst häufig, um die Frage nach größeren Episoden oder thematischen

6 Sundqvist 2009, S. 650. 7 Larrington 1993, S. 17. 8 Evans 1989, S. 128. 9 Zum Sittengedicht als altnordische Textkategorie s. La Farge, RGA 25, S. 510 ff. 10 Evans 1989, S. 128 und S. 131. 11 Die Annahme, dass der überlieferte Text großteilig die Intention des Verfassers/Kompilators/Bearbeiters widerspiegelt und einen entsprechenden Sinn zu ergeben vermag, ist keine neue; unter anderem Schneider (1948, etwa S. 46 f.) und von See (1972a, S. 11) gingen bereits davon aus. Besonders farbig dargestellt hat diesen schöpferischen Typus de Boor (1973, S. 373).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Fäden, denn fast allen dieser Stellen ist gemein, dass die Strophen von den meisten Forschern als losgelöst oder nicht (mehr) zum jeweils vorherrschenden Thema gehörig betrachtet werden. Dies jedoch auch, ohne dass die Verse sich vollkommen eindeutig anderen Abschnitten zuordnen und entsprechend repositionieren ließen; ein Problem, was bis hin zu kompletten Streichungen und stropheninternen Aufspaltungen geführt hat12 (denen es allerdings ebenfalls an weiträumiger Akzeptanz mangelte). Auch eine „Rekonstruktion“ scheint mir daher kaum mit größerer Gewissheit etwas über den „richtigen“ Kontext dieser Verse aussagen zu können als der jetzige Zustand. Die Basis für diese Untersuchung bildet daher auch im hiesigen Fall der Text in der im Codex Regius vorliegenden Form – ungeachtet der Gesamtheit der damit einhergehenden kompositorischen Cruces; eben da zu ihm, um nochmals Evans zu zitieren, „no practical alternative“13 existiert. Auch von See betont, noch etwas radikaler, „daß es keine Hávamál außer den überlieferten gibt“.14 Dabei wird in dieser Arbeit dennoch auf die Erörterung berührende strittige Passagen und daraus erwachsende Probleme inhaltlicher wie struktureller Natur Bezug genommen. Eine darüber hinausgehende, umfassende Beschäftigung mit etwaigen Vorformen, Autoren oder im Transmissionsprozess auftretenden Veränderungen bzw. eventuellen Korruptionen ist gleichwohl weder Aufgabe noch Ziel dieser Untersuchung.

5.1 Einführung Insgesamt viermal tritt der Begriff þulr in den Hávamál auf, und zwar in den Strophen 80, 111, 134 und 142, hierbei zweimal in Form eines – desselben – Kompositums. Damit ist dies Werk gleichzeitig auch, von allen überlieferten Texten, das mit der höchsten Dichte an Belegen für den Terminus überhaupt. Aufgrund der Natur des Gedichts, insbesondere seiner strukturellen und inhaltlichen Fragmentierung,15 lässt sich in diesem Fall jedoch eine kollektive Analyse des Begriffs in Bezug auf eine durchgängig referenzierte Plotfigur kaum rechtfertigen (in diesem Punkt unterscheiden sich die Hávamál also von dem zweiten Text mit mehrfachen Vorkommen, Beowulf). Stattdessen wird im Folgenden jedes Auftreten einzeln erörtert. Da es sich bei der ersten (Str. 80) und letzten (Str. 142) Belegstelle allerdings um die nahezu wortgleiche Wie-

12 Etwa Müllenhoff 1908 oder Heusler 1917. 13 Evans 1986, S. 12. 14 von See 1975, S. 57. 15 Welche auch umgekehrt nicht als Bruch gedeutet werden kann, sondern als Effekt des von Larrington beschriebenen „agglutinativen“ Charakters (Larrington 1993, S. 2) von Wissensdichtung. Im Folgenden wird dennoch meist der Ausdruck „Fragmentierung“ verwendet, da der Fokus auf dem Eindruck des vorliegenden Texts für den modernen Rezipienten liegt und nicht auf dem Kompositionsprozess.

Einführung 

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derholung einer Zeile handelt – gleichwohl in unterschiedlichen Kontexten –, ist in diesem Fall natürlich dennoch ein zusätzlicher Vergleich angebracht, weshalb in der Besprechung von Str. 142 auf Str. 80 zurückgegriffen werden wird. Erschwert wird die Interpretation weiterhin durch die Natur der einzelnen Strophen: Gerade die Platzierung von Str. 80 und Str. 111 ist hochumstritten; Str. 134 wiederum enthält eine Crux ganz anderer Art durch eine mehrdeutige Bildsprache im zweiten Teil, welche – je nach Übersetzung – völlig andere Kontexte evoziert. Auch Str. 142 ist nicht gänzlich unproblematisch: Neben der eindeutigen Beziehung zu Str. 80 und daraus resultierenden strukturellen Fragen findet sich dort auch wieder das Problem der Sprecheridentität, deren Zuweisung zu durchaus unterschiedlichen Deutungen führen kann. Neben Inhalt und Struktur hat sich weiterhin die kulturelle Verortung des Gedichts als strittig erwiesen. Obwohl die bedingungslose „Germanisierung“ des gesamten Gedichts durch vor allem die frühe Forschung längst Geschichte ist, lässt sich der Text keineswegs sehr einfach religiös-historisch verorten, trotz heidnischer Termini und Referenzen.16 Dazu stehen sich unterschiedliche Perspektiven besonders hinsichtlich außernordischer Einflüsse wie dem der mittelalterlich-lateinischen Schultradition, besonders durch die Disticha Catonis und deren norröne Übertragung Hugsvinnsmál, gegenüber (etwa von See17 und Köhne,18 s. weiterhin

16 Wie etwa der brendr aus Str. 71,5, welchen Evans, der auch die bautarsteinar (Str. 72,4) als heidnischen Indikator betrachtet, mit Feuerbestattung in Verbindung bringt (Evans 1986, S. 13); wobei der Begriff an dieser Stelle genau genommen nicht unbedingt auf einen Bestattungsprozess verweisen muss, da der dort eingesetzte thematische Kontrast „Lebender – Toter“ auch in einer weniger spezifischen Verwendung, als „durch Feuer zu Tode gekommen“, gegeben ist. Sicher dürfte die Verbrennung hingegen bei kono, er brend er aus Str. 81,2 vorliegen. Als Problem von Evans’ Darstellung nennt von See indes: „[…] daß E. vor allem solche Wörter kommentiert, die den Anschein hoher Altertümlichkeit haben, und blind ist für Wörter und Formeln, die man […] eher dem literarischen Milieu des Hochmittelalters zuschreiben möchte“ (von See 1989, S. 146). 17 von See (1972b, S. 31 ff., 1989 und 1999), ebenso La Farge (RGA 28, S. 512) und Bauer (2009, S. 35), welche sich beide stark auf von See stützen. Sie vertreten eine fundamentale Beeinflussung des eddischen Texts durch die Hugsvinnsmál (wobei La Farge auch eine Beeinflussung der Hávamál durch eine frühere Prosaübersetzung der Disticha Catonis in den Raum stellt). 18 Köhne (1983, S. 383) wie auch Larrington (1993, S. 99 ff.) gehen von einer Beeinflussung der Hug­ svinnsmál durch die Hávamál aus. Auch Harris hält nur einen solchen Einfluss für vertretbar und macht dies an der Abweichung von Hugsvinnsmál Str. 73 von der lateinischen Vorlage bei gleichzeitig fast vollständiger Korrespondenz zu Hávamál Str. 6 fest: „So how could it have fetched up so far from its ‚source‘ if not attracted by the authority of its famous predecessor?“ (Harris 1985, S. 111). Andererseits vermerkt er aber auch: „Hugsvinnsmál is so frequently far from the Latin that it still seems just possible to interpret Hávamál as the borrower“. Ansonsten seien jedoch die Hinweise von Sees auf eine Beeinflussung der Hávamál durch die Hugsvinnsmál wenig überzeugend. McKinnell formuliert etwas weniger affirmativ, hält es aber, nach einer detaillierten Analyse der Differenzen, ebenfalls für „unwahrscheinlich“, dass ein Einfluss von Hugsvinnsmál auf Hávamál vorliege; hingegen sei „pro-

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Evans19); und auch die Frage nach dem Zusammenhang mit der mittelhochdeutschen Tradition, vor allem im Bereich der Spruchdichtung und Erziehung, ist in jüngerer Zeit aufgebracht und erörtert worden.20 Alles in allem kann die Theorie der vollständig autochthonen, germanisch-bäuerlichen Dichtung der frühen Forschung also nicht mehr so leicht aufrechterhalten werden, wobei die Frage nach der Lokalisation wie auch nach Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Literaturen und Kulturen sicherlich noch einiges an Forschung erlaubt. Methodisch muss aufgrund der von den bisherigen Texten abweichenden Natur der Hávamál die Diskussion und Auswertung der vier Belegstellen einem etwas anderen Ansatz folgen als bisher. In allen vier Fällen weicht daher bei diesem Werk das ausgiebige, eher narrativ orientierte Close Reading der detaillierten Betrachtung des äußeren und inneren jeweiligen Strophenkontexts, ehe die bereits etablierte Kriterienanalyse anschließt.

5.2 Der Thul in Hávamál-Strophe 80 er21 þú at rúnom spyrr, inom reginkunnom, þeim er gorðo ginregin oc fáði fimbulþulr, þá hefir hann bazt, ef hann þegir.

Þat er þá reynt,

bable that Hugsvinnsmál has borrowed from Hávamál or something like it“. Abgesehen davon sei die Fragwürdigkeit der These von Sees aber auch kein Beweis dafür, dass es sich bei irgendeinem Teil der Hávamál um einen frühen Text handele (McKinnell 2007a, S. 91). 19 Evans, der ebenfalls von einem Einfluss der Hávamál auf die Hugsvinnsmál ausgeht (Evans 1986, S. 17 f.), erteilt darüber hinaus sowohl lateinischen wie auch biblischen Bezügen generell größtenteils eine Absage (1986, S. 15 f.): Die Ähnlichkeiten seien häufig zu gering, die Parallelen zu weit hergeholt (etwas, was, wie sich noch zeigen wird, nicht in allen Fällen haltbar ist), als dass eine direkte Verbindung schlüssig wäre, oder aber es handele sich bei Korrespondenzen um so allgemeine Aussagen, dass sie sich in den unterschiedlichen Kulturen autonom entwickelt haben könnten; weiterhin deute auf eigenständige Schöpfung hin, dass sich die Unklarheit einiger Strophen bezüglich ihrer eigent­ lichen Aussage nur selten durch Hinzuziehung der „Paralleltexte“ beheben ließe: „This suggests […] that the great bulk of the poem is of native origin“ (Evans 1986, S. 16). Eine sehr berechtigte Frage stellt er außerdem angesichts der signifikant von den Hávamál abweichenden Inhalte der Hugsvinnsmál, was christliche wie kulturepochenabhängige Thematiken, so etwa die Erwähnung von Büchern, betrifft: „How can we explain the total absence of allusions of this kind in the Gnomic Poem, if von See is right in attributing it, in a significant degree, to this period [das Island des 13. Jahrhunderts, KRMT] and to the learned-clerical tradition?“ (Evans 1986, S. 17; ähnlich Evans 1989, S. 133). 20 Köhne 1983, insbesondere S. 389 ff. 21 „ef] er R.“, Neckel/Kuhn, S. 29.



Der Thul in Hávamál-Strophe 80 

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5.2.1 Kontext der Belegstrophe Zum ersten Mal ist þulr im letzten Drittel des ersten Teils der Hávamál bezeugt; einem Teil, in dem vor allem Alltagswissen aus der bäuerlichen, oder allgemeiner, nicht-heroischen Gesellschaft des alten Skandinavien vermittelt wird. Gerade hier liegt jedoch ein Problem darin, dass Str. 80 kaum mehr zum Inhalts- wie Motivkomplex des „Alten Sittengedichts“ gezählt werden kann. Unmittelbare inhaltliche Verbindungen zu den vorausgehenden oder folgenden Strophen erschließen sich ebenfalls nicht leicht, sodass diese Strophe von der Forschung nicht selten als separate, in sich geschlossene Einheit unklarer Provenienz betrachtet wird,22 deren Platzierung an dieser Stelle kaum erklärlich ist, wenn nicht gar eine Korruption des „Originals“ darstellt. Larrington sieht die Verbindung „provided by the syntax, which pretends that such wisdom as in 79 is also to be elicited from the runes […]. ‚Þú‘ – each member of the audience, later represented by Loddfáfnir, will, it is promised, have the social wisdom of the Gnomic Poem confirmed by what can be learned from the runes“.23 Dieser Ansatz ist interessant, allerdings vernachlässigt eine solche „syntaktische“ Deutung die Frage nach dem Anschluss sowie der Beziehung der letzten Zeile Þá hefir hann bazt, / er/ef hann þegir und löst auch nur wenig andere Probleme der Strophe: Die Autorin vermerkt selbst, dass auch in dieser Deutung die Person des hann der letzten Zeile im Unklaren bleibt: „‚hann‘ (he) is perhaps a general enquirer after wisdom, for ‚hann‘ is used most frequently in the Gnomic Poem in reference to a hypothetical foolish man ‚ósnotr maðr‘“.24 Gerade eine solch eindeutige Referenzfigur für das Personalpronomen fehlt Str. 80 jedoch. Es wirkt so nicht weniger schlüssig, dass sich hann auf das stropheninterne þú oder den Sprecher selbst bezieht (damit effektiv ein Übergang von der 1./2. zur 3. Person stattfindet; eventuell werden, wie Heusler25 beschreibt, auch beide Pronomina als unpersönliches „man“ gebraucht), vielleicht gar  – aufgrund der unterschiedlichen zeitlichen Settings allerdings weniger wahrscheinlich – auf den fimbulþulr. Inhaltlich wird weiterhin nicht klar, wieso die Runen die ausgesprochen weltlichen Weisheiten der vorangegangenen Strophen bezeugen sollten. Zwar betont Larrington,26 dass die Runen in den Sigrdrífomál (welche gewisse Parallelen zu den Hávamál aufweisen27) sich auch auf „ordinary human concerns as giving birth,

22 So etwa Schneider 1948, S. 47: „Eine Runenstrophe […], die ganz vereinzelt bleibt“ sowie „der Faden reißt gründlich ab, und es ist auf keine Weise einzusehen, wie sich Str. 80, das Kind einer anderen Welt, hierher verirrt hat; sie ist ein Vorklang zu 142“ (Schneider 1948, S. 60). Auch Evans bezeichnet den Abschnitt als „wholly out of context and somewhat obscure in itself“ (Evans 1986, S. 6). 23 Larrington 1993, S. 42. 24 Larrington 1993, S. 42. 25 Heusler 1917, S. 210. 26 Larrington 1993, S. 42. 27 S. dazu v. a. Jackson 1994, S. 42 ff.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

healing, and preventing law-suits“ beziehen; diese Art alltäglicher menschlicher Angelegenheiten spielt im vorangegangenen „Alten Sittengedicht“ aber praktisch keine Rolle; umso mehr dafür Gastfreundschaft, Klugheit, Freundschaft und allgemeine Umgangsformen. Und solche Elemente sozialer Interaktion werden von den Runen nicht gezielt berührt.28 In Summe scheint mir deshalb die herkömmliche Ansicht, dass hier kein deutlich erkennbarer inhaltlicher Zusammenhang mit den vorangehenden und folgenden Strophen besteht bzw. maximal Str. 80 eine aus Versatzstücken zusammengestellte strukturierende „Schlussformel“ darstellt (so z. B. von See29), plausibler zu sein, als dass hier mit der Runenstrophe gezielt und unmittelbar an die Themen des „Alten Sittengedichts“ angeschlossen würde.30 Formal ist Str. 80 zwischen Gnomen situiert, weist aber selbst im Vergleich nur geringen gnomischen Anteil auf. Gegebenenfalls ließe sich ihre letzte Zeile zwar dahingehend deuten; allerdings findet sich hier nur ein Rat, nicht jedoch der universelle Kontext oder Anspruch derartiger Dichtung,31 weshalb eine solche Interpretation ebenfalls zweifelhaft scheint. Es wird daher im Weiteren von keinem gnomischen Element in diesem Abschnitt ausgegangen. Geht man zum eigentlichen Inhalt der Strophe über, lässt sich ebenfalls gut erkennen, was Evans, Schneider und andere zu einem so kritischen Urteil über die Platzierung geführt haben muss: Die Frage nach Runen, ihr göttlicher Ursprung und

28 Larrington umgeht dies Problem in der späteren Besprechung von Str. 141, indem sie, in gewisser Weise etwas widersprüchlich zur früheren Aussage, feststellt: „The runes are enabling; not in those specific areas of human activity that we find in Sigrdrí­ fumál (childbirth, lawsuits, medicine), but in more generally conceived terms. Rune-wisdom complements the knowledge won from human experience (cf. 80), reinforcing the human skills of speech ‚orð‘ and action ‚verk‘ with divine inspiration“ (Larrington 1993, S. 61). Damit weicht die vorherige, recht präzise Parallelisierung von Bereichen nun einer ziemlich diffusen „Vervollständigung“, deren einziges Charakteristikum der göttliche Ursprung bzw. derartige Inspiration ist. Wort und Werk (ohne auf die Frage nach einem eventuellen klassischen Ursprung der Phrase weiter einzugehen) bilden indes zusammen mehr oder weniger den Gesamtbereich sozialer menschlicher Interaktion ab. Auf dieser Basis wird es daher praktisch unmöglich, dass die Runen jenen, und damit das im „Alten Sittengedicht“ Thematisierte, nicht betreffen können. Allerdings schwindet durch die Universalität auch die Aussagekraft eventueller Verknüpfungen. 29 von See 1972a, S. 53 f. 30 Müllenhoffs Deutung als Ironie erinnert zwar an seine ähnlich gelagerte Interpretation der Lodd­ fáfnismál, enthält aber wenig Begründungen, außer dass es sich bei Str. 80 um „eine schlussformel […] mit komisch ironischem pathos“ handele, welche eigentlich auf Str. 77 folgen sollte, um damit die Totenthematik abzuschließen, und am jetzigen Ort an der falschen Stelle stehe (Müllenhoff 1908, S. 259 sowie S. 271, wo festgestellt wird, dass die verse „bloſs einem parodischen zwecke dienen“; für eine gegensätzliche – und erheblich begründetere – Meinung s. z. B. von See 1972a, S. 50 f.). 31 Larrington 1993, S. 3.



Der Thul in Hávamál-Strophe 80 

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der vergleichsweise hohe Ton, der Begriff fimbulþulr und dessen direkte Hand im Entstehungsprozess – all dies setzt sich stilistisch wie thematisch erkennbar vom Umfeld ab. Auch metrisch ist Str. 80 nicht eindeutig zu definieren. Evans verweist auf die größere Freiheit des ljóðaháttr in Bezug auf Verslängen, weshalb Unregelmäßigkeit in diesem Bereich nicht ausnahmslos als Beweis für strukturelle Brüche oder Korruption zu werten seien,32 stellt allerdings spezifisch zu Str. 80 fest, sie sei (zusammen mit den Folgestrophen bis Str. 90) „especially irregular“ und stehe selbst „not in any recognizable metre at all“.33 Die bereits in der Einführung erwähnten Brüche bei der Sprecherfigur sind auch im Umfeld der Belege zu erkennen: Der Sprecher tritt in Str. 80, anders als etwa in den vorausgehenden Strophen 77 oder 78, nicht als ec in Erscheinung, stattdessen wird das Gegenüber jedoch als þú angesprochen, sodass eine teilweise Personalisierung vorhanden ist. Str. 79 hingegen weist, wie die folgenden Gnomen ab Str. 81, keinerlei Adressierung auf: Weder wird der Sprecher noch das Gegenüber referenziert, sodass die Belegstrophe auch in diesem Punkt eine Sonderposition einnimmt. Geht man davon aus, dass die Stimme des Sittengedichts praktisch durchgehend gleich bleibt, so wird auch Str. 80 von Odin gesprochen.34 In diesem Fall tut sich in Str. 80,5 allerdings ein interessanter Bruch auf: fimbulþulr, gängigerweise als Odinsheiti gedeutet,35 steht dort für sich, ohne jeglichen Hinweis auf den identischen Sprecher, als handele es sich um eine andere Person. Im Gegensatz dazu bezeichnet sich das lyrische Ich36 im Mythos vom Dichtermet, mit den Protagonisten Odin und Gunnlǫð (etwa in Str. 13 oder 14), durchaus mit ec.37 Auch im weiteren Kontext gibt es in diesem Punkt Unklarheiten: Gesetzt, Odin im Rúnatal sowie der Sprecher von Str. 80 und der dortige fimbulþulr bezögen sich alle auf ein und dieselbe Figur, steht Odins Runenerwerb am Baum in gewissem Kontrast zum primordialen fá des fim­ bulþulr (dies ließe sich aber zum Beispiel mit der Annahme, dass beim Selbstopfer

32 Evans 1986, S. 5. 33 Evans 1986, S. 4. 34 In Str. 13 ist die Rede vom Sprecher-ec, welches im Heim/Hof Gunnlǫðs mit den Fesseln des ómin­ nis hegri gefesselt ward – eine Metapher für Trunkenheit, und durch die Verbindung mit dem Namen Gunnlǫð wohl als Anspielung auf die Erringung des Dichtermets durch Odin zu sehen. 35 Simek 1995, S. 99. 36 Der Begriff wird hier im weiteren Sinne einer sich in der ersten Person äußernden Stimme in poetischen Texten allgemein verwendet. 37 Str. 13,4; auch Str. 14,1, wobei man nicht, wie Krause (2011, S. 42) und auch Simek (1995, S. 100) anregen, Fjalarr als Namen für Suttungr deuten muss, sondern die so bezeichnete Figur bei Snorri konkret als einer der beiden Zwerge benannt ist, welche den Met geben und an Suttungrs Hof angesiedelt sind (Schulz, RGA 30, S. 155). Auch Brix unterscheidet zwischen den Charakteren, allerdings ohne auf Snorri zu verweisen, rein aus der Bildfolge heraus („Man forudsætter, at begge versene henviser til Odins besøg hos Gunnlǫð. Dett er misforstaaelse. V. 14 handler om Odins umaadelighed hos den vise Fjalarr. Det kan ikke være Suttungr. Rusen kom først i bjerghallen, hos datteren“ (Brix 1958, S. 103)).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

ganz spezifische Runen erworben wurden, umgehen38). Hinzu kommt das Problem der Identität von Odin und ec in der Str. 142 fortführenden Folgestrophe. Im Rückblick auf Str. 80 lässt dies die Frage aufkommen, ob der Sprecher dort in der Tat Odin ist oder nicht doch ein Dritter, welcher sich in Str. 143 dann explizit als lyrisches Ich äußert. Auf diesen Punkt ist im weiteren Verlauf, insbesondere bei der Besprechung von Str. 142, noch näher einzugehen. Es sei aber hier bereits erwähnt, dass vor allem Str. 143 nahelegt, dass es sich beim Sprecher der Strophe in der Tat nicht um den Asen handelt, sondern eher um die unidentifizierbare Stimme, die unter anderem auch in Str. 111 auftritt und dort als ec erscheint (sofern in diesem Bereich kompositorische Einheit angesetzt wird). Somit wären in Str. 80 folgende Figuren von Belang: der Sprecher, der (textinterne) Rezipient þú sowie der fimbulþulr, wobei dieser und der Sprecher in der Person Odins deckungsgleich sein könnten und der Rezipient im Grunde nicht in Erscheinung tritt. Ebenfalls zum Personenkomplex, wenn auch nicht unbedingt zu den Sprechern, gehört der mit hann bezeichnete Unbekannte, welchem der Rat gilt und dessen Zuordnung umstritten ist – ist es das Gegenüber þú? Der nach Runen Gefragte (wer auch immer das sein mag)? Ist es der Sprecher und findet damit hier ein Übergang von der impliziten ersten zur expliziten dritten Person statt? Motivisch wird im Zusammenhang mit der Runenherstellung und ihrem betont göttlichen Ursprung in Str. 80 der Topos des ratsamen Schweigens wieder aufgenommen, welcher bereits in diversen früheren Strophen, etwa Str. 4, Str. 6, Str. 15 oder Str. 19 aufgetreten war und meist mit (Un-)Klugheit und/oder Sprechen in Verbindung gebracht wird. Vor allem besticht Str. 80,6 durch syntaktisch wie auch semantisch und metrisch39 große Nähe zu Str. 27, einer Strophe aus der Reihe der dortigen längeren „unkluger Mann“-Sequenz (Str. 21; 2340-27), die den Törichten als Negativbei-

38 Müllenhoff (1908, S. 271), der den Runenerwerb am Baum „in Ođins frühste jugend“ stellt, die ihn erst zu seinen weiteren Taten befähigt, sieht hierin hingegen die: „erzählung von der ersten erfindung der runen“ (Müllenhoff 1908, S. 270), nennt dafür aber keinen Grund. 39 von See 1975, S. 56: „[…] ungewöhnliche Stabreimstellung þat/þá … þegir, die eine Beziehung zwischen beiden Zeilen unbedingt sicherstellt“. 40 Ob man bereits Str. 21/23 oder erst Str. 24 als Anfang ansieht, hängt auch davon ab, inwieweit ósviðr (Str. 23) und ósnotr (Str. 24) an dieser Stelle als vollkommen synonym anzusehen sind. Schneider (1948, S. 52) etwa unterscheidet hier nicht: „Die Fülle der Synonyma für den Toren und Unbesonnenen ist bewundernswert“. In jedem Fall kann man hier jedoch eine Hinwendung zum neuen Motivkomplex „Mann mit unzureichendem Intellekt“ erkennen. Die beiden Begriffe scheinen hier in der Tat nur geringe Unterschiede aufzuweisen: Der ósviðr maðr kann seine Triebe nicht beherrschen (Hunger/Fresslust, Str. 21) und ihm fehlt die Fähigkeit, über den Sinn seines Tuns – dort: Nachdenkens – zu befinden (Str. 23); dem ósnotr maðr geht die Urteilskraft, Freund und Feind zu unterscheiden, ab (Str. 24, Str. 25) und er überschätzt sich selbst (Str. 26) bzw. kennt nicht seine Fehler; beide Bereiche betreffen also Selbstkontrolle und Reflexion. Die Authentizität des vesall maðr von Str. 22,1 hält von See überdies für zweifelhaft und plädiert für den Einsatz von ebenfalls ósnotr oder ósviðr, „da



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spiel anführt: þat er bazt, at hann þegi.41 Ebendieses Motiv des ósnotr maðr wurde auch in der Str. 80 vorausgehenden Str. 79 wieder aufgegriffen. Beyschlag sieht beides allerdings als „zwei nicht vergleichbare Situationen“42 an und Schneider, wie auch andere, stellt dazu die Frage nach der Natur von Str. 78 und 79, deren Position oder gar gleich gesamte Authentizität ebenfalls angezweifelt worden ist.43 Eine radikalere Position ergreift bei Str. 80 von See, welcher aufgrund der „zu zwei Dritteln […] fast wörtlichen Übereinstimmungen mit anderen Strophen […]: 96, 1, […] 142, 5/6, […] 27.3“ annimmt, „daß Str. 80 vom Redaktor selbst zusammengezimmert sei […] als Vorausweisung auf die letzten Teile des Gedichts […]“.44 Ihm folgt auch McKinnell, der diese Strophe einer spätesten, vereinenden Schicht der Textarbeit durch einen Editor, von Sees Redaktor hierin vergleichbar, zurechnet.45 Dies würde einerseits inhaltliche Unklarheiten zu einem gewissen Grad begründen (nicht aber auflösen), andererseits hat auch Beyschlags Frage, ob es sich beim ginregin-fimbulþulrVers nicht vielleicht um (mündlich) gängige Formeln „im Umkreis der Runenmagie“46 handele, ihre Berechtigung. Und zwar insofern, als die Überlegung eines allgemein formelhaften Gebrauchs von Teilen dieser Strophe sinnvoll scheint,47 es sich hier also bei Elementen der Verse, insbesondere der Strophenmitte, mög­licherweise um eine

vesall maðr keinen Stabreim ergibt“ (von See 1972a, S. 21). In diesem Fall erstreckte sich die Sequenz „ó-[Klugheitsattribut] maðr“ durchgehend von Str. 21 bis Str. 27. Eine weitere Beobachtung von Sees, dass die Strophen 24–27 „von der Hilflosigkeit und Unfähigkeit des törichten Mannes handeln, zu r e a g i e r e n“ (von See 1972a, S. 26), möchte ich aufgreifen: Gesetzt den Fall, ósviðr besitzt hier in der Tat eine geringfügig andere Bedeutung als ósnotr, ist in Str. 21–23 durch ósviðr/vesall die Reflexionsunfähigkeit des individuellen Menschen ausgedrückt, während der ósnotr maðr von Str. 24–27 in den Kontext eines Gegenübers und daraus erwachsender Defizite gestellt wird. Auch das zeigt gewisse Parallelen zu Str. 80, wo hann im impliziert dialogischen Kontext der Runenerfragung schweigen soll, was auch hier eine (eigene oder fremde) Reaktion auf die Frage des þú bedeutet. 41 Diese „Wortschatzparallele“ betont auch von See (1972a, S. 53), der sie in den größeren Kontext von Parallelen, „die 75 und 79 mit der Gruppe 24 ff. verbinden“, stellt. 42 Beyschlag 1974, S. 17. Wobei dies grundsätzlich sicherlich zutrifft, im Detail allerdings auch auf den Deutungsschwerpunkt ankommt: So findet sich in beiden Strophen die Figur in einem Umfeld wieder, in dem ein deutliches Wissens- bzw. Klugheitsgefälle existiert – der unkluge Mann zu Besuch bei Menschen, die ihn als solchen erkennen, sobald er den Mund aufmacht, auf der einen Seite und hann im Umfeld des Erwerbs von Runenwissen auf der anderen. In beiden Fällen wird also ein Austausch verhindert bzw. gilt dessen Unterbindung als ratsam, und es besteht ein gewisses geistiges Gefälle (in der Intelligenz bzw. im Wissen). Dem gegenüber steht andererseits die Erzmundanität von Str. 27 im Kontrast zum Mystisch-Erhabenen der Runenschöpfung. 43 Schneider 1948, S. 60 „[…] 78 und 79 […], die vorher nicht unterzubringen waren“. 44 von See 1975, S. 56. 45 McKinnell 2007a, S. 101 f. 46 Beyschlag 1974, S. 17. 47 Die Kritik von Sees, dass die Forderung nach Widerlegung des Postulats „mündlich“ gängigen Materials unerfüllbar ist (von See 1975, S. 56), ist allerdings begründet.

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Art kontext-, stichwort- oder motivabhängigen unbewussten Automatismus handeln könnte (ausgelöst durch die Runenthematik) als um ein gezieltes „Zusammenzimmern“ mehrerer Versatzstücke anderer Gedichtteile durch den jeweiligen Verfasser. Allerdings bleibt bei Beyschlags Ansatz der Grund für die Position der Strophe gerade an dieser Stelle des Gedichts noch stärker im Dunkeln als bei von See und McKinnell, bei deren Ansatz zumindest eine strukturierende Funktion gegeben ist; überdies moniert von See zu Recht einen Mangel an entsprechenden Belegen.48 Wirklich widersprüchlich wären beide Modelle aber ohnehin nicht: Dass es sich bei diesem Vers um einen gliedernden Einschub handelt, ist durchaus mit der Möglichkeit vereinbar, dass sich der Bearbeiter dabei auch aus gängigem Formelschatz bedient haben kann. Gefolgt wird Str. 80 von einer Reihe Handlungsempfehlungen für verschiedene Lebenslagen und Situationen (bis Str. 83). Str. 84 bildet eine formale wie inhaltliche Zwischenstufe – mit skyli + [Verb] als Echo der vorhergehenden Aussagen und dem Verb (mangi) trúa als Ausrichtung auf das neue Thema: Warnungen vor trügerischen Personen und Objekten  – beides im weiteren Sinne.49 Syntaktisch sind diese zwei Passagen in unterschiedlichen Mustern ausgeführt; die Handlungsempfehlungen geprägt durch „skal + [Verb]“-Formeln, die folgenden Warnungen erscheinen im Listenstil, ehe sich in Str. 88/89 die Beschreibung wieder verbreitert, in Str. 90 das neue Thema von Frauentrug und Liebesleid eingeführt und somit vom Sittengedicht zu Odins Liebesabenteuer übergeleitet wird. Damit steht Str. 80 zwischen zwei vergleichsweise fest gefügten und (zumindest in Anerkennung der gnomischen Orientierung auch in Str. 78 und 79) inhaltlich recht konsistenten Blöcken, von denen sie sich deutlich genug absetzt, dass Zweifel bezüglich ihrer Platzierung bzw. Fragen nach ihrer Funktion gerechtfertigt sind. Dies jedoch gleichzeitig, ohne dass sich – wie bereits angemerkt – für sie eine vollends zufriedenstellende Alternativposition finden ließe, auch wenn aufgrund des Inhalts eine Nähe zum Rúnatal naheliegend wirkt. Gerade im Kontext der Beziehungen zu diesem späteren Teil der Hávamál ergibt sich dann eine interessante Parallele, aber auch ein Konflikt, deutet man hann als

48 von See 1975, S. 56. 49 Es wäre eventuell möglich, Str. 80,6 dahingehend zu deuten, dass der Schweigerat nicht auf allgemeines, sondern auf zu frühes Sprechen („den Tag nicht vor dem Abend loben“) abhebt und damit einen Anschlusspunkt für die folgende Strophe bildet, die vor demselben warnt. Andererseits findet sich nichts im Text, was diese Einschränkung des Schweigens stützen würde, und überdies täte sich bei einer solchen Annahme noch ein stärkerer inhaltlicher Bruch in dieser Strophe auf als ohnehin schon der Fall: Es fehlte der inhaltliche Abschluss der einführenden Langzeile (Str. 80,1 f.), das Komplement zu er/ef þú at rúnom spyrr von Str. 80,2. Auch die Formulierung in der dritten Person maskulinum in Str. 80,6 unterscheidet sich von der personalpronominalosen Konstruktion der folgenden Zeilen. Im Ganzen scheint hier daher wenig Grund vorzuliegen, die letzte Zeile derartig getrennt zu betrachten.



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nach Runen gefragten und -kundigen Sprecher: Der Konflikt entsteht dadurch, dass das Rúnatal in diesem Fall den Schweigerat von Str. 80 im Grunde genommen konterkariert, denn von Runen wird dort ausführlich erzählt. Die Parallele – und gewissermaßen auch Lösung des Problems  – findet sich wiederum darin, dass, obwohl die Runen thematisiert werden, keinerlei Informationen über Gebrauch und Inhalt gegeben werden, sondern nur über Erwerb, Verbreitung und Ursprung. Hierin besteht eine Ähnlichkeit zum Ljóðatal, in welchem der Sprecher die Zauberlieder ebenfalls nur beschreibt, nicht aber inhaltlich tradiert. Selbst wenn man die Strophe vor allem als Gliederungselement ansieht, bleibt sie gleichwohl weiterhin mit ihrem Umfeld unverbunden und damit unklar, wieso sie genau an der überlieferten Stelle eingesetzt wurde und nicht z. B. im Umfeld von Str. 111, wo wenigstens im hohen Ton und mystischen Inhalt beider Passagen eine deutlich größere Nähe besteht (vom Rúnatal ganz zu schweigen). Dies soll nicht einer Repositionierung das Wort reden, sondern nur darauf hinweisen, dass auch mit dieser in vielem durchaus stimmigen Theorie nicht alle Probleme gelöst werden können. Im Ganzen bleibt also ein erhebliches Maß an Unsicherheiten und eine Umgebung, welche für die Deutung der Strophe kaum hilfreich ist.

5.2.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 80 5.2.2.1 Text(re-)produktion Der Aspekt der Text(re-)produktion lässt sich bei dieser Strophe aus zwei Perspektiven erörtern: einerseits der des vollständig für sich zu betrachtenden fimbulþulr, welcher in der Szene zwar erwähnt wird, aber keinerlei intratextuelle Bezüge aufweist – auch keine mit dem impliziten Rahmen (und damit der Figur des Sprechers). Und andererseits der Annahme, dass fimbulþulr als Odinsheiti in Verbindung mit einem Rahmensprecher Odin steht. Dass Odin jener fimbulþulr ist, wird in dieser Arbeit ebenfalls angenommen. In diese Richtung weist etwa auch ein ähnlicher Personenbegriff, der, gleichermaßen mit alten Runen und fimbul- kontextualisiert, ebenso als Odinsheiti gedeutet wird, nämlich fimbultýr, auf welchen in Kürze noch weiter eingegangen werden wird (obschon eine Argumentation einzig auf Basis dieser beiden Termini und deren gängiger Deutung natürlich einen Zirkelschluss darstellt).50 Auch dass sich keine andere Figur der nordischen Mythologie anzubieten scheint, welche gleich gut bzw. noch besser in diesen Zusammenhang gestellt werden könnte als der höchste

50 Die weitere Möglichkeit, dass nur eine der beiden Figuren – fimbulþulr oder Sprecher – Odin ist, bringt für die Fragestellung keinen gesteigerten Erkenntnisgewinn, da sich hier aufgrund der Unklarheit der Identität der anderen Figur ebenfalls keine Bezüge ausmachen lassen.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Gott, welcher überdies mit Magie und Sprache sowie Runen51 assoziiert ist, lässt die Verbindung plausibel erscheinen. Eine Restunsicherheit bleibt trotz allem bestehen. Wie auch immer man Rahmensprecher und Figur im Endeffekt deuten will, in beiden Fällen gilt: Der fimbulþulr selbst ist in dieser Szene nicht mit mündlichen Verbalhandlungen assoziiert, ebenso nicht mit geistigem Vorhalten und sprachlicher Anwendung (über-)großen Wissens, sondern mit dem  – in diesem Fall sogar eher physischen  – Schöpfungsprozess von Runen. Dabei wird, im Gegensatz zu anderen Vorkommen, auch anhand des Verbs ersichtlich, dass rúnar in der Tat als „Runen(schriftzeichen)“, hier obendrein in mythischem Kontext, zu übersetzen ist und nicht als das allgemeinere „Geheimnisse“. Geht man vom (schwachen) Verb fá aus, ist die Figur zudem konkret in dieser Situation nicht direkt in die Erst- bzw. UrSchöpfung der Runen durch die „hohen Mächte“ per se involviert, sondern in eine etwas spätere Phase: Er färbt (wohl auch: schreibt52) die zuvor von den ginregin geschaffenen53 Zeichen, ist also Sekundärschöpfer bzw. Anwender.54 Auch die Erzeugung von Runen ließe sich, abhängig von Inhalt, Szenario und Zweck, dabei durchaus als Verbalhandlung sehen,55 es ließe sich sogar, je nach Situation, ein performativer Aspekt ansetzen. Ausweislich Düwels Unterschied von Runenmeister und Runenritzer dürfte sich solches aber auf Fälle beschränken, in denen der Ritzer bzw. Meister ein und dieselbe Person sind (und es sich damit nicht um einen rein grafisch-mechanischen Reproduktionsakt handelt). Dies wird aus der Passage einerseits nicht völlig klar, andererseits fehlt es erheblich an Kontext, um diesen Aspekt genauer ausleuchten zu können. Im Ganzen erweist sich der erste Hávamál-Beleg somit als wenig ertragreich für diesen Bereich der Auswertung: Die Situation bleibt im Unscharfen des mythischen Anbeginns, die näheren Umstände ungewiss. Und was auch immer der fimbulþulr an Runentext fáði, es wird nicht genannt.

51 Düwel 2001, S. 47 f., wobei diese Verbindung zu einem Teil auf den entsprechenden Passagen der Hávamál und hier der Deutung des fimbulþulr ebenso wie des Opfers am „Windbaum“ als Odin beruht, aber auch andere Quellen zurate gezogen werden, etwa die Ynglinga saga (Düwel 2001, S. 204 f.). 52 „germ. *faihian ‚färben, malen‘ aus der Terminologie der Runentechnik […] ist mehrfach bis in die WZ hinein belegt und zeigt an, daß die Inschriften auf Steinen ursprünglich ausgemalt gewesen sind. Meist wird es mit dem Pl. ‚Runen‘ verbunden, seine Bedeutung umfaßt allgemein ‚schreiben‘, wie einige Goldbrakteaten […] nahelegen“ (Düwel 2001, S. 25). Auch Dillmann (RGA 25, S. 539) beschreibt, dass fá als „technisches Verb“ in schwedischen Runeninschriften des 11. Jahrhunderts sowohl das Ritzen als auch das Färben denotiert. 53 gorðo, Str. 80,4. 54 Düwel (2001, S. 12) weist auf eine ähnliche historische Trennung hin, nämlich dass es sich bei Runenmeister und Runenschreiber bzw. -ritzer durchaus um zwei unterschiedliche Personen handeln konnte. „Ein Runenschreiber mußte selbst nicht runenkundig sein. Man nimmt an, er arbeitete nach Vorlagen […]“. 55 Man denke etwa an Egils bereits erwähnte „Korrektur“ der falsch geritzten Runen beim Bauern Þorfinnr (Egils saga Kap. 74, Einarsson 2003, S. 136).



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Originalität Diese Tatsache wirkt sich auch auf andere Kriterien aus: So kann die Frage der Originalität kaum beantwortet werden, da selbst eine allgemeine Beschreibung des Inhalts der verfertigten Runen nicht existiert. Aufgrund der mythischen Ursituation kann man zwar annehmen, dass „Originalität“ hier, im ganz wörtlichen Sinne, schlicht daraus entsteht  – entstehen muss  –, dass keine Vorläufer existieren. Andererseits jedoch stellte sich selbst bei solch primärschöpferischer Runenschreibung die grundlegende Frage nach einem runischen Text und damit nach dem Stellenwert des Graphems im Lichte magisch-ritueller Zeichenhaftigkeit, bei welcher Einheit maximal in „Formelwörtern“56 (Düwel) ausgebildet ist. Dies steht im Kontrast zu Texten im literarischen Sinne, welche einen gewissen semantischen Zusammenhang aufweisen und daher interpretierbar sind.57 Genau genommen wäre nur im letzteren Fall das Kriterium (Text-)Originalität überhaupt anwendbar. Dieser Punkt muss also erneut offenbleiben. Zudem: Nicht auf dem konkreten textlichen Produkt des Runenfärbens/ -schreibens durch den fimbulþulr liegt in dieser Passage der Schwerpunkt, sondern auf dem Akt an sich, der die letzte Stufe der Runenbeschreibungs-Trias: Abkunft – Schöpfung – Umsetzung/Vollendung darstellt. Der fimbulþulr tritt dem Rezipienten hier somit als nonverbaler Schreiber, Ritzer und/oder Färber von Runen in mythisch-uralter Zeit entgegen. Man könnte das Bild dieser Strophe auch  – abgesehen von der oben erwähnten Frage nach der literarischen Ausprägung der Inschrift  – als urtümlichstes und gewaltigstes Beispiel der (stillen) Text(re-?)produktion an sich bezeichnen. Formalästhetik und performative Aspekte Auch für weitere Fragen erweist sich der Mangel an Wissen über zumindest näherungsweise den Inhalt des Gemalten als hinderlich: Weder lassen sich auf dieser Basis eine etwaige darauf gründende performative Funktion oder entsprechende Elemente ersehen, noch formalästhetische Aspekte ausmachen. Publikum wird ebenfalls nicht erwähnt, sodass auch dieser Punkt sowie die Frage nach der „Sprecher“- (hier dann „Maler-“) Orientierung entfallen muss. Demgemäß gibt es auch keinerlei Indizien hinsichtlich der Wirkung und Bewertung. Ganz abgesehen davon stellt das Schreiben oder Färben einen eher individuellen Akt dar, an dem Publikum, im Gegensatz zu öffentlichen akustischen Äußerungen, schwerlich direkt teilhaben kann, sieht man die Tätigkeit nicht auch als dezidiert öffentliche Performanz58 und Bestandteil ritueller Runenerzeugung. Dies, immerhin,

56 Düwel 2001, S. 15, s. auch seine Beschreibung des Problems in frühesten Inschriften, S. 11 f. 57 Ähnlich unterscheidet auch Düwel, welcher der Textinterpretation den Vorrang gibt (Düwel 2001, S. 16); wobei der Autor von real existenten Runen(-funden) ausgeht und von deutlich anderem Inte­ resse geleitet ist als der Sprecher in Hávamál Str. 80. 58 Hier im Sinne einer textexternen, also unabhängig vom Inhalt des Geritzten.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

dürfte im Kontext mythischer Zeichensetzung noch etwas wahrscheinlicher sein als beim Ritzen alltäglicher Botschaften. Die Strophe enthält allerdings einmal mehr keine dahingehenden Indizien. Situationskontext, Rollen und Autorität Fruchtbarster Bereich ist in diesem Fall daher eindeutig die Situation der Figur: Hier liegt die expliziteste, mythischste und auch mächtigste Rolle des þulr vor, sodass die Bezeichnung fimbulþulr (übersetzt als „großer“, „mächtiger“ oder auch „Ur-“ bzw. „Erz-þulr“59) mehr als angebracht ist. Seine Rolle in der primordialen Runenschöpfung verleiht ihm unbestreitbare Autorität, seine Nennung direkt nach den ginregin rückt ihn ins Reich des Übermächtig-Übermenschlichen, aus Zeit und Raum Entrückten – schon die Runen allein sind mit größter Macht konnotiert (reginkunnom60). In einem solchen Umfeld ist die Autorität der Figur immens und, sofern sich das im göttlichen Bereich derart beschreiben lässt, auch offiziell. Anders verhält es sich mit der Dauerhaftigkeit solcher Macht: Hier greift einmal mehr der Informationsmangel und man findet sich bei der immer wieder auftretenden Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang von Situation und Begriff: Ist  – oder wird – die Figur der fimbulþulr, weil sie Runen malt? Malt sie Runen, weil sie der fimbulþulr ist? Oder ist dies eine Bezeichnung, welche unabhängig vom Kontext auf anderer Grundlage gewählt wurde, etwa wegen allgemeiner  – odinischer(?)  – Charakteristika oder sogar unter dem Einfluss metrischer Erfordernisse? (Wobei dies nur für den ersten, nicht aber den zweiten Teil des Kompositums eine Rolle spielen kann.) Liberman hat auf diese Problematik eine klare Antwort: „It was not necessary to be a þulr to be called one“,61 was allerdings die Frage aufwirft, nach welchen Kriterien dann überhaupt eine solche Titulierung stattfand, welche von ihm aber nicht umfassend beantwortet wird (der Autor betont für solche Fälle vor allem den respekteinflößenden Charakter, welcher bei näherer Betrachtung aber nicht nur beim þulr allein zu finden ist, besonders, wenn es ohnehin bereits aufgrund ihrer Natur dergestalte Wesen wie Riesen oder Götter betrifft). Überdies bezieht Liberman sein þulrBild hauptsächlich von der Darstellung Unferðs, deren Elemente (spezieller Sitzplatz, Gast-Herausforderung, in deren Rahmen der þulr sich selbst zum Narren mache62) er zu größeren Teilen ins Altnordische übernimmt, sodass praktisch alles, was sich nicht in den von ihm abgesteckten Rahmen fügt, als entsprechende Ausnahme kategorisiert wird. Meiner Einschätzung nach lässt sich die Frage nach dem Zusammenhang

59 Der Bedeutungsgehalt von fimbul- wird im Folgenden noch genauer betrachtet werden. 60 McKinnell (2007a, S. 101) führt den Terminus auf (regin-)kunnr zurück und übersetzt: „known to the gods“. In beiden Fällen – Abkunft wie Wissen – ist also göttliches Umfeld impliziert. 61 Libermann 1996, S. 75. 62 Libermann 1996, S. 74 f.



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von Begriff und Situation nicht zufriedenstellend beantworten; vor allem, weil es aufgrund der Unschärfe des þulr-Begriffs sehr leicht zu definitorischen Zirkelschlüssen kommen kann – ein Problem, welchem, wie mir scheint, auch der Autor unterliegt. Die Frage nach dem Verhältnis von þulr und Runenschöpfung ist ferner auch einer der zentralen Angelpunkte für Vogts Theorie vom þulr als Runenmeister. Es scheint daher an dieser Stelle angebracht, noch einmal zu betonen, dass ausschließlich in den Hávamál die Figur des Thuls explizit und aktiv an der Runenproduktion beteiligt ist.63 Und, genau betrachtet, selbst dort nur in einer einzigen Formulierung, denn bei Str. 80 und Str. 142 handelt es sich um eine (Teil-)Wiederholung. Zwar tritt auch in Str. 111 der þulr im Zusammenhang mit Runen auf, allerdings ist hier, wie bald erörtert werden soll, weder die Bedeutung gesichert, noch hat die Figur aktiven Anteil an deren Existenz. Sie ist einzig passiver Rezipient, welcher davon reden hört, und damit bleiben die rúnar im flüchtigen akustischen Bereich; weder wird geritzt noch gefärbt, noch ist eine andere schöpferische Tätigkeit impliziert. Die Basis für eine solche Theorie wirkt damit sehr zweifelhaft, zumal sich auch aus den überlieferten Runeninschriften keine Rückschlüsse auf konkret den þulr als Runenmeister ziehen lassen – selbst beim Stein von Snoldelev werden nur Name und Terminus erwähnt, aber keine Verbindung zu den Zeichen hergestellt. Um sich der Frage bzw. Bezeichnung Odins als fimbulþulr zu nähern, kann es hilfreich sein, das Wort fimbul- genauer zu betrachten. Exkurs: fimbulEtymologisch ist der Terminus mit Begriffen wie „Haufen“, „Menge“ in Verbindung zu bringen,64 in der altnordischen Literatur allerdings nicht sehr oft belegt. Auch hier findet sich die ganz überwiegende Anzahl in eddischen Texten: Zu den zwei Belegen für fimbulþulr in den Hávamál gesellen sich weitere Komposita in diesem Werk, nämlich fimbullióð („mächtige Anrufung oder Zauberspruch“,65 Str. 140,1) und fimbul­ fambi („großer Tor“,66 Str. 103,7); weiterhin aus den Vafþrúðnismál der Begriff fimbul­ vetr („großer Winter“ bzw. „schrecklicher Winter“,67 Str. 44,6), welcher in der Gylfa­ ginning (Kap. 51) wieder aufgenommen wird, sowie fimbultýr aus der Vǫluspá („großer Gott“,68 Str. 60,7; gängigerweise als Odinsheiti aufgefasst69) und hier ebenfalls – wie

63 Unferðs beadurune würde ich, wie bereits im Beowulf-Kapitel dargelegt, nicht als konkrete Rune deuten, sondern höchstens als Metapher vergleichbar dem deutschen „Kriegsbeil“; eher noch über die Alternativbedeutung von run als „Geheimnis/Rat (i. S. v. ‚Äußerung‘), welches/r zu Streit führt“. 64 „[…] s. dazu etwa „asä. fimba ‚aufgeschichteter Haufen, bes. von Getreide‘“ (Udolph 1994, S. 174); de Vries 1962, S. 119 zum Lemma fífl. 65 LF/T, S. 59, Evans/Faulkes 1987, S. 9. 66 „great fool, nincompoop(? […])“, LF/T, S. 59; Evans/Faulkes 1987, S. 9. 67 LF/T, S. 59. 68 LF/T, S. 59. 69 Simek 1995, S. 99.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

fimbulþulr – im Kontext alter Runen.70 Dazu ist mehrfach der Flussname fimbulþul71 überliefert: in den Grímnismál (Str. 27,4), der Gylfaginning (Kap. 4 und Kap. 39) sowie der þula: á heiti (Þulur IV, V. 572). Ein letztes Kompositum,73 und das einzige, welches gewissermaßen nichteddisch genannt werden könnte,74 findet sich in der Runeninschrift von Alt-Ladoga (X RyNLT2004;5) und stellt zudem eine Crux dar: Wie Birkmann beschreibt,75 lässt sich das mit den Zeichen versehene Holzstück zwar recht verlässlich auf das 9./10. Jahrhundert datieren und ist größtenteils gut zu lesen – dies betrifft vor allem das Kompositum fimbulsinni, was auf dem Holz als fibulsini ausgeführt ist.76 Strittig ist hingegen die Deutung der Inschrift – der gesamte Text wird sehr unterschiedlich ausgelegt.77 Birkmann nennt hier einerseits Positionen von Høst und Krause, welche den Komplex fimbulsinni/fimbulsinn í plóga als „(in) die gewaltige Bahn der Pflüge“ lesen78 und die Phrase in den Kontext des Gefjon-Mythos (Høst)79 oder den einer Kenning für „Erde“ im Rahmen einer Strophe für einen toten Krieger (Krause)80 stellen. Völlig anders interpretiert hingegen Kiil den Ausdruck als „große Schar (der Beute)“ und stellt sie in den Rahmen eines Pfeilzaubers,81 also einer magischen Konnotation – eine Interpretation, welcher sich Birkmann mit leichten Einschränkungen anschließt.82 In einem jüngeren Paper schlägt Kusmenko, ebenfalls merklich von den bisherigen Lesarten abweichend, die Deutung von sinn(i) mit der Grundform sin (n.) als Pflanzenname carex vesicaria83 (Blasensegge) vor. Wie er darlegt, eine Pflanze, welche auch in nördlichen Kulturen Nutzpflanze gewesen war und hier als Heiti für „Faden“ gebraucht werde. Diese Deutung füge sich, so der Autor, zudem sehr gut in seine Theorie des Runenstäbchens als Spinnrocken ein. Eine Ansicht, zu welcher

70 […] oc minnaz þar / á megindóma / oc á Fimbultýs / fornar rúnar, Str. 60,5–8. 71 von LF/T nicht übersetzt. 72 Skjald B1, S. 667. 73 Noch ein weiterer Beleg existiert in der Runeninschrift N B56 M: „ra=þ| |þ=u fi f(e)mbul --“ gemäß Rundata, altnordisch ráð þú fé fimbul […]. Da hier jedoch direkt bei fimbul die Schrift abbricht, lässt sich nicht einmal erkennen, worauf der Ausdruck hier verweisen könnte (auch wenn Götterbezug angesichts des Wohlstandsbegriffs in Verbindung mit ráða nicht ganz unwahrscheinlich sein dürfte), weshalb er bei der weiteren Erörterung unbeachtet bleibt. 74 Das Versmaß immerhin wird von Krause als eddisch bezeichnet (RGA 1, S. 224). 75 Birkmann 1995, S. 319. 76 Birkmann 1995, S. 319. 77 Diese Aussage Krauses (RGA 1, S. 224) ist immer noch gültig. 78 Birkmann 1995, S. 320. 79 Birkmann 1995, S. 320. 80 Birkmann 1995, S. 321; auch Krause, RGA 1, S. 224 f. 81 Birkmann 1995, S. 322. 82 Birkmann 1995, S. 323. 83 Kusmenko 2010, S. 3 ff.



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ihn die für ein rúnakefli ungewöhnliche Form und Beschriftungsweise des Holzes führt.84 Damit wäre fimbulsin (oder fimbulsinni) nach Kusmenko zu lesen als „very long thread (or succession)“, im Rahmen eines Wunschs oder Zaubers.85 In allen diesen86 Interpretationen der Runeninschrift denotiert fimbul also eine Größen- bzw. Relevanzangabe, dabei entweder in mythologischem, magischem oder säkularem Kontext. Eine mythische Deutung im Sinne eines kosmogonischen oder ätiologischen Bezuges („Ur-“) ließe sich dabei nur für die Theorie vom Gefjon-Mythos ansetzen. Und im Falle der magischen Konnotation zielt die magische Kraft im Rahmen der Lesung von Kiil/Birkmann: „Die Pfeilspitze überlistet/lockt an als Fang vollständig eine große Schar (der Beute)“,87 genau genommen auf einen vergleichsweise mundanen Effekt ab (weltlicher Gewinn) und liegt weniger, oder nur teilweise, bei fimbulsinni. Stattdessen konzentriert sie sich vielmehr in der beschworenen Macht der Pfeilspitze. Vergleichbares gilt für die Deutung als großer/langer Faden bzw. lange Nachkommenreihe: Grund für die Magie ist die Hoffnung auf große Resultate, der Nexus von Ausmaß und Bedeutung erweist sich also auch bei dieser Lesart als das maßgebliche Element (wobei das Ausmaß sich überdies hier, wie auch in mehreren weiteren Fällen zusätzlich auf die zeitliche Dimension beziehen kann). Eine kurze Übersicht über die restlichen Belege offenbart Vergleichbares: Fimbullióð. Der Begriff fimbullióð ist zwar eindeutig magisch konnotiert, allerdings trifft dies nicht nur für das Kompositum, sondern bereits für das Simplex lióð zu, welches u. a. in den Hávamál mehrfach in dieser Bedeutung vorliegt.88 Der magische Gehalt muss also nicht notwendigerweise fimbul inhärent sein, während die Übersetzung als „großes/gewaltiges (Zauber-)Lied“ auch dessen außergewöhn­ lichem Ursprung89 gerecht wird. Ebenso kann hier mythische Konnotation angesetzt

84 Kusmenko 2010, S. 3. 85 Kusmenko 2010, S. 5. 86 Frühere Interpretationen, etwa die von Admoni und Silman, wie von Kusmenko (2010, S. 1) beschrieben, werden hier nicht weiter erörtert, da sie entweder bereits durch die obigen Darstellungen abgedeckt (etwa Grønviks Deutung als „große Schar (von Pflügen)“ von 2004, Kusmenko 2010, S. 2) oder aber nicht nur überholt sind, sondern ihnen gemäß auch kein fimbul in der Inschrift zu lesen ist (Admoni und Silman erkennen stattdessen fifl, Kusmenko 2010, S. 1; gleichermaßen Kusmenko in einer früheren Schrift, Kusmenko 2010, S. 2 f.). 87 Birkmann 1995, S. 323. 88 Dort in Str. 146, Str. 162, Str. 163. C/V nennen einen vergleichbaren Gebrauch in der Ynglinga saga: „it is used of charms or spells“ (C/V, S. 394). 89 Fimbullióð nío / nam ec af inom frægia syni / Bǫlþors, Bestlo fǫður (Hávamál Str. 140,1–3). Die Quelle ist also Odins Großvater mütterlicherseits, damit reichen diese Zauberlieder bis in die vorasische Zeit zurück. Simek (1995, S. 52) merkt zu dieser Figur an: „B.s Stellung in der Mythologie ist nicht ganz klar, da er sonst nicht als einer der Urriesen erwähnt wird, jedoch mit dem ersten Menschen Buri zeitlich auf einer Stufe steht“.

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werden  – Macht, Bedeutung, Größe und Ursprung, etwa im Sinne von „urzeitige/ erste/gewaltigste Zauberlieder“, welche späteren, geringeren lióð vorausgehen oder von andauernder (ewiger?) Bedeutung sind. McKinnell stellt fimbul- in einen riesischen Kontext, der einerseits Größe, andererseits auch mit den mythischen Wesen assoziierte Charakteristika denotieren kann.90 Eine solche Lesart trifft gerade bei diesem Kompositum vollkommen zu: Es sind in jeder Hinsicht buchstäblich „RiesenZauberlieder“ (auch wenn McKinnell davon ausgeht, dass hier vor allen Dingen der riesische Ursprung betont werden soll91). Fimbulþulr. Beim fimbulþulr wiederum ist Größe bzw. Bedeutsamkeit oder Macht das Naheliegendste, auch hier eventuell weiterhin Über- bzw. Urzeitlichkeit impliziert, wobei unklar bleibt, inwieweit dieser Aspekt im urzeitlichen (Mit-)Schöpfungsakt allein begründet ist. Magie per se lässt sich eher mittelbar annehmen; dabei ist in dieser spezifischen Konstellation überdies keine Differenzierung zwischen dem Einfluss der Runen, der Situation und der Person möglich. Wie bereits erwähnt, ist die Kombination von þulr und (aktivem) Runengebrauch zudem nicht die Regel. Das Wissen um mythische Dinge im Allgemeinen – wie es eben auch die Ur-Runen sind – hingegen findet sich ebenso in anderen Texten (etwa den Vafþrúðnismál). Letztlich ist ferner nicht auszuschließen, dass die Bezeichnung fimbulþulr hier überhaupt nicht auf den unmittelbaren Kontext abhebt oder dies zumindest nicht ausschließlich tut, sondern eher allgemeinen Charakterzügen und Fähigkeiten der Referenzfigur geschuldet ist. Und beim Vater der Dichtkunst, durch die Welten streifenden Wissenssucher, ewig Fragenden, erfahrenen Wortkrieger – und natürlich auch Magier, dessen performative Sprache in zahlreichen Texten ihren Niederschlag gefunden hat, finden sich diverse Anknüpfungspunkte für einen Begriff, welcher meist in ebensolchen Umfeldern sein Vorkommen findet. Fimbulvetr. Wendet man sich nun dem Winter zu, dürfte die Qualität fimbul zumindest bei Snorri auf die abnorme Länge rekurrieren, welche von diesem explizit genannt wird.92 Ström weist darauf hin, dass Snorris Darstellung von der der Vafþrúðnismál abweicht,93 was aber wenig Einfluss auf die hiesige Fragestellung hat: Zwar finden sich genauere Informationen über die zeitliche Dauer des Winters nur bei Snorri, allerdings ist ein Zusammenhang mit Ragnarök in beiden Quellen vorhanden, da der Winter als Vorbote des Untergangs fungiert.94 Es wäre daher theoretisch möglich,

90 McKinnell 2007b, S. 96. 91 McKinnell 2007b, S. 96. 92 […] vetr sá kemr er kallaðr er Fimbulvetr […]. Þeir vetr fara iii. saman ok ekki sumar milli. (Gylfagin­ ning Kap. 51, Lorenz 1984, S. 594). 93 KLNM 4, S. 262. 94 Die Unterschiede liegen daher vor allem darin, dass Líf und Lífðrasir/Leifþrasir in der Liederedda direkt mit dem Winter verbunden sind ([…] hvat lifir manna, / þá er inn mæra líðr / fimbulvetr með firom?, Vafþrúðnismál Str. 44,4–6), ohne dass der bevorstehende oder bereits verstrichene Untergang



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dass fimbulvetr in der Liederedda andere Bedeutung trägt; angesichts der buchstäblich über-natürlichen Größe der Ereignisse im Kontext von Ragnarök scheint es aber nur wenig stichhaltig, dass hier signifikante Unterschiede vorliegen sollten. Eine Interpretation von fimbul- als Bedeutsamkeit, Macht, Größe und damit Ausmaß, also „Schwere“ im allgemeinen Sinne, kann daher meines Erachtens nach auch hier begründet angenommen werden; ebenso wie ein gemäß Snorri konkreter Bezug auf zeitliche Dimensionen.95 Auch die mythische (in diesem Fall eschatologische) Konnotation ist offensichtlich. Eine spezifisch magische Komponente lässt sich hingegen bei diesem Kompositum nicht erkennen. Fimbulfambi. In all den bisherigen Belegen besteht nun immer noch die Möglichkeit, dass eine übermenschliche Kraft wenigstens mittelbar impliziert ist. Kaum denkbar wirkt dies hingegen beim hapax legomenon fimbulfambi.96 Dessen in den Hávamál zwischen der Episode von Billings mær und Gunnlǫð angesiedelte gnomische Belegstrophe 103 im Abschnitt über Odins Liebesabenteuer richtet sich in ihrer Lehrhaftigkeit an den Mann (gumi, Str. 103,1) in der Eigenschaft des  – ausgesprochen irdischen – Gastgebers. Was an dieser Strophe vor allem auffällt, ist einerseits, wie stark intellektuelle und verbale Kapazitäten thematisiert werden: minnigr und málugr (Str. 103,4) zu sein wird angeraten, um margfróðr (Str. 103,5) zu werden, der Sprecher rät dazu, oft von Gutem zu sprechen (opt scal góðs geta97, Str. 103,6), fim­ bulfambi (Str. 103,7) hingegen werde genannt, wer geringe Redefähigkeit besitzt (fát kann segia, Str. 103,8), was überdies ein Charakteristikum des ósnotr (Str. 103,9) sei.98 Andererseits ist der deutlich säkulare Kontext bemerkenswert: Weder das Personal noch Setting noch der Rat lassen irgendeine mythische, magische, oder sonstiger Art übernatürliche Konnotation erkennen; demzufolge kann man wohl davon ausgehen, dass auch die hier angelegten Maßstäbe menschlicher Natur sind.99

in diesem Kontext ausdrücklich angesprochen wird. Bei Snorri sind demgegenüber die beiden Personen explizit Überlebende des Untergangs der alten Welt und Stammeltern der kommenden Menschen der neuen (Morgentau als Speise und das Versteck holt Hoddmimis finden sich in beiden Texten). 95 Dies sogar verschiedener Art: einmal die von Snorri verarbeitete Dauer; das andere Mal die (relative) Über- bzw. Endzeitlichkeit der Eschatologie. 96 de Vries (1962, S. 111) sieht die Fortsetzung des Begriffs v. a. in mehreren neuskandinavischen Dialekten, aber auch Korrespondenzen in mittelenglischen und mittelniederdeutschen Termini. 97 Zu góðs s. Evans 1986, S. 120. 98 Damit tritt überdies das Motiv des ósnotr (maðr) wieder auf, welches sich schon in den früheren Belegen durch Mundanität – und natürlich Klugheitsbezug – auszeichnete. 99 Schneiders Fragen bezüglich Müllenhoffs Zuordnung der Strophe zum Odinsbeispiel, also dass sich hier der Ase selbst zu seinem erfolglosen Liebesabenteuer äußern würde (Schneider 1948, S. 65), sind zu Recht gestellt. Diese Zuordnung scheint auch mir zweifelhaft; nicht zuletzt, weil jeder Bezug auf eine Odinsepisode, ebenso wie die für die Beispiele charakteristische ec-Stimme, vollkommen fehlt. Auch das allgemeine Muster, etwa der Rat mittels scal und die Kombination von Rat und Negativexempel, entspricht viel stärker gnomischen Strophen als den Odinsepisoden.

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Desgleichen ist es kaum möglich, auf eine geistige Komponente in fimbul- allgemein zu schließen: Dafür sind die meisten anderen Belege (mit Ausnahme von vielleicht fimbulþulr und fimbultýr) für einen solchen Aspekt zu wenig geeignet – schon weil es sich hauptsächlich um unbelebte Objekte handelt. Die Lesart als Größen- bzw. Bedeutungsmarker stellt daher auch hier wieder die verlässlichste Interpretationsvariante dar. Ein gewisser zeitlicher Bezug ließe sich in diesem Fall ebenfalls finden, und zwar in Form der Lesart „andauernd“ bzw. „lebenslang“ und damit im übertragenen Sinne als „unbelehrbar, unwandelbar“. Also auch hier ein säkularer oder neutraler Beiklang, der die Überzeitlichkeit anderer Komposita mithin nicht berührt. Größe ebenso wie Dauer unterscheiden sich dabei jedoch kaum in ihrer dortigen Funktion: der Emphase. Sollte fimbul- außerdem in der Tat eine grundsätzliche mythische Konnotation besessen haben, dürfte diese hier zum entkernten Topos erstarrt sein, eine Übersetzung wie „Ur-“ oder „Erz-Dummkopf“ würde also keine Nähe zum Mythos, sondern ebenso nur (Über-)Größe oder Gewichtigkeit signalisieren, da nun einmal keine weiteren Anknüpfungspunkte vorhanden sind. Fimbultýr. Mit dem Odinsheiti fimbultýr ist dann wiederum das gegensätzliche Umfeld erreicht: Referenzfigur ist der höchste Gott,100 das Setting die gleich doppelt

100 Simek 1995, S. 99; auch hier besteht  – wie bei fimbulþulr  – theoretisch die Möglichkeit, dass der Begriff sich nicht auf Odin bezieht. Wie bereits beim anderen Terminus erwähnt, bietet sich aber eigentlich kaum eine alternative Figur an, die diese Bezeichnung merklich plausibler tragen könnte. Nerman (1970, S. 206) beschreibt das Auftreten wiederholter Týr-Runen in urnordischen Inschriften, welche, da sie auch graphisch herausstechen „med skäl benämnas Fimbultýr“, was auf ein besonderes Verhältnis von urnordischen Runen und dieser Gestalt hinweise (Nerman 1970, S. 207). Die Frage, auf welche Götterfigur die Bezeichnung sich nun aber genau beziehe (Týr oder Odin), sei für seine Untersuchung allerdings irrelevant (Nerman 1970, S. 206). Dieselbe Ansicht vertritt auch Heizmann, der in diesem Kontext außerdem auf den Brakteaten IK 98 verweist (Heizmann 1998, S. 529 ff.). Immerhin würde aus dieser Perspektive die Verbindung zwischen fimbultýr und Runen also auch durch archäologische Zeugnisse gestützt. Während für die Zuordnung von fimbultýr zu Týr vor allem der Name an sich spräche, deuten auf die Zuordnung zu Odin diverse weitere Komposita auf -týr hin, zumal derartige Formen für andere Götter bei Weitem nicht so häufig sind (Meisner (1921, S. 254) listet etwa für Thor eines: karms Týr, und für Aegir ebenfalls: herfangs hirði-Týr, Meisner 1921, S. 255). Falk (1924, S. 8; Lemma Fimbultýr) verweist in diesem Punkt auf die allgemeine „appellativische Bedeutung“ von -týr/-tívar als „Gott/ Götter“, welche, im Gegensatz zur spezifischen Götterfigur Týr, hier anzusetzen sei (s. zu dieser Bildung auch Meisner 1921, S. 245 und S. 252 f.). Andere Odinsnamen auf -týr sind z. B. (zitiert gemäß Simek 1995 und Falk 1924): Farmatýr (Grim­ nismál Str. 48, et al., s. Falk 1924, S. 7), Gautatýr (Hákonarmál Str. 1, s. Falk 1924, S. 11 f.), Hangatýr (Skáldskaparmál, Faulkes 1998, S. 5, s. Falk 1924, S. 15), Hroptatýr (Grímnismál Str. 54, Hávamál Str. 160, Húsdrápa Str. 7, Hákonarmál Str. 14, s. Falk 1924, S. 19), Sigtýr (Atlaqviða Str. 30, Gráfeldardrápa Str. 12, s. Falk 1924, S. 25) u. a. Zu letzterem Heiti vermerkt Simek (1995, S. 362): „Wesentlich häufiger als S. ist jedoch der Plural des Worts sigtívar, als Kenning für ‚Götter‘“, sodass hier auch noch ein Doppel-



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mythische Zeit mit der eschatologischen (post-kataklystischen) Rückschau auf die fornar rúnar (Vǫluspá Str. 60,8) Odins aus der alten Welt vor Ragnarök. Auch hier, wie bei den Runen des fimbulþulr, ist nicht erkennbar, in welchem Kontext und mit welchen Inhalten die rúnar verknüpft sind.101 Da die Sphäre der nordischen Götter bereits per se mythisch-magisch ist, wird zudem ebenfalls nicht ersichtlich, inwieweit fimbul- an dieser Stelle noch einen eventuellen (zusätzlichen) Einfluss in diese Richtung ausüben könnte. Allerdings wäre erneut die Bedeutung „groß, bedeutend, mächtig“ bereits vollauf ausreichend, um den Gott zu charakterisieren. Gleichermaßen ließe sich bei diesem Begriff, wie auch bei fimbulþulr, gegebenenfalls eine lange Dauer impliziert sehen, die auf der Bezugsperson Odins fußt, welchem als Gott ein Leben von der Schöpfungsphase bis Ragnarök eignet, somit quasi „weltalterlang“ und nahezu ewig. In beiden Fällen bezieht sich fimbul- dann aber nicht auf den zweiten Teil des Kompositums, sondern auf die damit referenzierte Figur. Fimbulþul. Der Flussname fimbulþul, zuletzt, erscheint gleich in mehreren Texten (wenn auch immer nur im Rahmen einer þula). Dennoch besteht über die Deutung keine komplette Einigkeit. Zwar wird üblicherweise davon ausgegangen, dass das zweite Element -þul von þulr oder þylja abgeleitet ist,102 aber schon die Frage, ob es sich um den Akteur oder das Actum/Objekt handelt, also z. B. den Sprecher oder eine bestimmte Lautäußerung, ist nur unbefriedigend zu beantworten. Im Fall eines Klangs bleibt wiederum offen, um welche Art Geräusch es sich dabei genau handeln könnte. Hier reichen die Interpretationen von „Murmeln“ über „Brausen“ bis zu „Dröhnen“, umspannen also praktisch den gesamten Dynamikbereich. Libermann etwa stellt sich zugunsten einer auf Macht, Unzuverlässigkeit oder Gefahr basierenden Interpretation103 (welche auf der Namenskorrespondenz zum Odinsheiti fußt) gegen eine Deutung, die hohe Lautstärke impliziert, „certainly not a ‚roaring river‘, for þylja meant ‚murmur, mumble‘“.104 Hierbei kann allerdings die Frage gestellt werden, inwieweit konkret die Stärke und nicht rein die Lautäußerung

beleg für die Trennung von Týr als Götterfigur und -týr/-tívar als Götternamenbestandteil gegeben ist (ähnlich und zur historischen Entwicklung Meisner 1921, S. 245). Im Ganzen scheinen mir die Hinweise für eine Assoziation von Odin mit fimbultýr daher gewichtiger als für eine mit Týr (oder einem anderen Gott), auch wenn diese mangels eindeutiger (Gegen-)Beweise nicht völlig ausgeschlossen werden kann. 101 Hier wäre selbst eine Übersetzung als „Geheimnisse“ möglich. Auch aus dieser Deutung (welche Lorenz für die – grob – korrespondierende Stelle in Gylfaginning Kap. 53 ansetzt (Lorenz 1984, S. 638) ergeben sich aber keine weiteren Erkenntnisse, zumal die Bezeichnung fimbultýr in Snorris Edda nicht auftritt und die rúnar dort den wiedererstandenen Asen zugeordnet sind (Lorenz 1984, S. 637). 102 S. dazu die Darstellung bei Hale 1983, S. 170 f. De Vries legt sich nicht auf eine der beiden Möglichkeiten fest, aber bringt die Bezeichnung zusätzlich mit ae. geðyll („Brise“) in Verbindung (1962, S. 626), wie auch Hale anmerkt (Hale 1983, S. 170 f.). 103 „especially mighty or dangerous, or treacherous river“ (Libermann 1996, S. 75). 104 Libermann 1996, S. 75.

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per se eine Rolle spielt; dazu auch, wie weit fimbul- auf der semantisch-akustischen Ebene die niederschwelligen Emissionen, welche vom Substantiv ausgedrückt werden, zu konterkarieren vermag. Für mich wirkte eine grundsätzliche Deutung der Form „gewaltig + [Lautäußerung]“ durchaus plausibel, weitere Feinheiten hinsichtlich der genauen Natur scheinen unter den gegebenen Umständen aber kaum erschließbar. Eine andere Möglichkeit wäre, dass gar nicht eine akustische Ausprägung, sondern direkt das Odinsheiti zugrunde liegt, der Fluss also in gewisser Weise mit diesem Gott  – dabei möglicherweise speziell in seiner Eigenschaft als fimbulþulr  – verbunden ist. Auch diese Variante nennt Libermann (eine Widmung an Odin)105 und ebenso sieht es, etwas zu apodiktisch für meinen Begriff, Falk.106 Einen ähnlichen denkbaren Bezug zeigt auch Brink auf, welcher aber weniger wahrscheinlich wirkt, als die Thesen der beiden anderen Autoren.107 Letztlich lässt sich keine der Theorien exklusiv beweisen, zumal die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Termini bei fehlendem weiteren Material die Gefahr des Zirkelschlusses in sich trägt: Heißt der Fluss nach Odin, weil er Odin in irgendeiner Form gewidmet ist, oder wegen der allgemeineren Lautäußerung, welche bei den beiden durch fimbul- Bezeichneten korrespondiert? Und in letzterem Falle, bezieht sich das Odinsheiti selbst auf spezifische Eigenschaften, welche mit seinem unmittelbaren literarischen Kontext, also der Runenfindung bzw. -produktion, verbunden sind, verweist es nur auf allgemeine Charakteristika des Gottes, oder aber bezieht es sich ebenfalls auf eine Lautäußerung, welche allgemeiner, aber als mit dem þulr assoziiert zu lesen wäre?108 Ist vielleicht sogar das Odinsheiti vom Fluss abgeleitet und der Begriff wäre folglich in diesem Kontext zu deuten?

105 Libermann 1996, S. 75. 106 Die Aussage, „Når en av de elver som omgir gudenes boliger, i Grimn. 27 og ramsene kalles Fim­ bulþul, er dette navn sikkert fremkalt av Odensnavnet, men nyansert i mening (jfr. þylja ‚mumle‘). Sml. Þund : Þundr“ (Falk 1924, S. 8), wirkt nachvollziehbar, steht allerdings etwas zu wenig beweisgestützt da, als dass sie uneingeschränkt verfochten werden könnte, zumal sein „Vergleichs“-Eintrag zu Þund(r) deutlich zurückhaltender formuliert ist: „Þund (Grimn. 21: þýtr Þund) er vel benevnt efter Odensnavnet, jfr. Fimbulþul. Men ellers har Þund været et hyppig elvenavn i Norge, jfr. de forskjellige Tunsjøer (hvorav den i Namdalen har gitt navn til lappernes sjøgud ‚Tonsie gud‘, se Lid, Norske Slakteskikkar, I, s. 188 f.)“ (Falk 1924, S. 31, Fettdruck von mir [KRMT]). 107 „Also a supernatural being or phenomenon could be connected to the river, so that a certain god or spirit was supposed to dwell in the water“ (Brink 2001, S. 90). Ein Fluss als Odins Aufenthaltsstatt scheint dabei zwar kaum denkbar, allerdings bestehen einige andere Verbindungen von Odin mit Flüssigkeit – der Urdquell als Götter-Richtstatt, der Mímirsquell als Weisheitsursprung des Asen und natürlich der Dichtermet –, wodurch eventuell eine etwas lockerere Verbindung möglich wäre. Konkrete Beweise dafür gibt es allerdings nicht, sodass Brinks Aussage auf Odin und fimbulþul eher weniger anwendbar sein dürfte. 108 Also etwa ein andauerndes, gleichmäßiges Geräusch, quasi als akustisches Gegenstück zur Listenform der þula und damit erneut auch eine bedingt zeitliche Konnotation. Im Rahmen eines solchen Beiklangs spielt dann möglicherweise die Überzeitlichkeit der Götterwelt-Flüsse ebenfalls eine Rolle. Bei beiden zeitlichen Deutungen lässt sich allerdings die Frage stellen, wieso nur ein einziger



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Eine letztgültige Aussage lässt sich meiner Meinung nach weder über die Bedeutung noch die Beziehung der beiden Begriffe tätigen. Das Element fimbul- allerdings auch im Flussnamen als „groß“ bzw. „bedeutend“ oder auch „gewaltig, mächtig“ zu übersetzen, scheint mir im Ganzen die am wenigsten problematische Variante; nicht zuletzt, da diese Bedeutung auch für sämtliche anderen Vorkommen tragfähig ist und im Fall von fimbulþul(r) sowohl auf einen wichtigen (immerhin viermal belegten und das Zentrum der Götterwelt umfließenden109) Fluss als auch den höchsten Gott zutrifft, während die ebenfalls häufig naheliegende zeitliche Konnotation nicht durchgängig tragfähig ist und in ihrer Ausdeutung zwischen Überzeitlichkeit und Dauer schwanken würde. Vergleich und Zusammenfassung. Im Ganzen gesehen tritt fimbul- also deutlich überwiegend in mythisch konnotiertem Umfeld auf und scheint vor allem abnorme oder menschliches Maß übersteigende Größe, Macht oder Bedeutsamkeit, zuweilen auch Dauer, auszudrücken. Magische Konnotation lässt sich in einigen Fällen ebenfalls annehmen (insbesondere bei fimbullióð, je nach Interpretation bei fimbulsinni und eventuell bei fimbulþulr im Kontext der Runenritzung; dort wäre sie allerdings, wie bereits erwähnt, eigentlich unnötig), aber nicht durchgängig aufrechterhalten. Dasselbe gilt, sogar etwas stärker, für mythische Beiklänge, welche sich bei Fluss- wie beiden Odinsnamen, gewaltigem Winter und Zauberliedern ansetzen lassen, ferner bei bestimmter Interpretation des Runenholzes. In all diesen Fällen wird Urzeitliches, Übermenschliches oder Endzeitliches referenziert, was entsprechendes Gewicht beinhaltet. Der Annahme einer grundsätzlichen derartigen Bedeutung steht im Gegenzug vor allem fimbulfambi entgegen, welches eine solche nicht nur nicht besitzen kann, sondern dazu noch im selben Text auftritt wie einige der fimbul-Komposita mit „mythischerem“ Beiklang, was nahelegt, dass zumindest beide Bedeutungen parallel existiert haben dürften.110 (Oder eben die Konnotation rein aus dem Kontext resultiert.) Bei einigen wenigen Vorkommen findet sich ferner auch ein auf den Verstand abzielender Nebensinn, der aber nicht nur selten  – und disputabel  – ist, sondern ohnehin nur bei Personen zum Tragen kommen kann.

jener dort genannten Flüsse mit fimbul- bezeichnet wird. Insbesondere gilt dies für den Ewigkeitsaspekt, der kaum nur einen einzelnen dort gelegenen Fluss betreffen wird, weshalb das þula-artige „Murmelgeräusch“ in diesem Umfeld dann doch wahrscheinlicher dünkt. 109 þær hverfa um hodd goða (Grímnismál Str. 27,8), zu hodd s. LF/T, S. 117. 110 Wie bereits erwähnt, soll die Frage nach Form, Umfang und daraus resultierend auch dem Alter etwaiger „Einzeltexte“ der Hávamál nicht weiter besprochen werden. Überdies gibt es keine eindeutige Meinung über das Alter dieser Strophe (s. dazu und zum Verhältnis zur vorhergehenden Billings mær-Episode, Evans 1986, S. 23 f.). Die Möglichkeit, dass es sich bei fimbulfambi als dezidiert weltlichem Terminus um eine spätere Entwicklung handelt, kann somit zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht stichhaltig bewiesen werden.

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McKinnells Interpretation von fimbul-, welche grundlegend eine Verbindung zu Riesen postuliert (die beim Parallelbegriff im Altenglischen zudem etwas stärker ausgeprägt scheint), und daher eine Deutung als „monstrous“ ansetzt,111 lässt sich ebenfalls auf die meisten Vorkommen anwenden. Allerdings sind gerade die altnordischen Belege fast vollständig so geartet, dass eine Bedeutung „Riesen-“ im Sinne einer Größen- bzw. Machtangabe zumindest ebenso schlüssig wirkt, wie eine Interpretation als mytho-ethnische Referenz: fimbulfambi als „monstrous fool“112 ebenso wie als „riesiger Narr“ („monströs“ wirkte in diesem Fall konnotativ als Pejoration, aber damit eigentlich auch nicht mehr mit direktem Riesenbezug), fimbulvetr als „Winter, nach dem die Riesen kommen“113 ebenso wie „riesiger (langer) Winter“, fimbullióð als „Zauberlied riesischen Ursprungs“114 ebenso wie als „gewaltiges Zauberlied“ – hier scheint Ersteres in Anbetracht der Quelle der Magie vielleicht sogar noch ein wenig begründeter,115 wobei andererseits Urheber sowie späterer Besitzer und Wirkmacht auch als miteinander in Verbindung stehend angesehen werden können (ist das lióð fimbul, weil es riesischen Ursprungs, weil es als Zauber äußerst stark, oder, weil es im Besitz Odins ist und damit auch von dessen Stärke zehrt?) Etwas anders gestaltet sich die Lage andererseits wohl mit fimbulþul als, in etwa, „mit Riesen assoziiertes Geräusch“ ebenso wie als „riesiges/gewaltiges Geräusch“.116 In diesem Fall wirkt der Riesenbezug etwas weniger passend: Gemäß Grímnismál Str. 27 umfließt der Fluss das Reich der Götter, zudem beziehen sich die bei den anderen Flüssen dieses ersten Strophenabschnitts117 referenzierten Charakteristika, soweit erkennbar, meist auf physische Qualitäten ohne übernatürliche oder gar direkt riesische Assoziationen: Geschwindigkeit bei Síð, Größe(?)118 bei Víð, Wildheit/ Geschwindigkeit bei Sœkin,119 Beschaffenheit/Geschwindigkeit/Wildheit bei Eikin,120 Temperatur bei Svǫl,121 Geschwindigkeit bei Fiorm122 und ebenso Rennandi.123

111 McKinnell 2007b, S. 96. 112 McKinnell 2007b, S. 96. 113 McKinnell 2007b, S. 96. 114 McKinnell 2007b, S. 96. 115 S. dazu auch McKinnell 2007b, S. 96. 116 McKinnell führt diesen Namen nicht auf. 117 Hale (1983, S. 173) setzt hier im Gegenzug zu Neckel/Kuhn mit Þyn oc Vin sogar den Beginn von Str. 28 an. In jedem Fall wird durch das vorangehende þær hverfa um hodd goða (Grimnismál Str. 27,8) die mit Síð oc Víð beginnende Liste unterbrochen. 118 Simek 1995, S. 454, dazu auch Hale 1983, S. 167 f., der ebenfalls Ausdehnung: „wide“ (Hale 1983, S. 168), bevorzugt und für Síð wie Víð überdies eine Reihe von Korrespondenzen aufführt. 119 Simek 1995, S. 381; Hale 1983, S. 168. 120 Simek 1995, S. 82; Hale 1983, S. 168 f. 121 Simek 1995, S. 393; Hale 1983, S. 169. 122 Simek 1995, S. 103; Hale 1983, S. 170. 123 Simek 1995, S. 336; Hale 1983, S. 171.



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Aus diesem Muster fallen Rín124 als realer Flussname sowie Gipul und Gǫpul, deren Bedeutung sich nicht völlig festmachen lassen,125 außerdem möglicherweise Gǫmul, sofern der Name nicht schlicht auf gamall zurückgeht126 und (hohes) Alter denotiert. Zu einem gewissen Grade unklar ist auch Gunnþró,127 wobei Hale hier ebenfalls Geschwindigkeit oder Wildheit vorschlägt.128 Die deutlichste Sonderstellung nimmt Geirvimul ein, da hier offenbar ein Bild vermittelt wird, welches, wie Simek vermerkt, „an die waffenführenden Flüsse der christlichen Visionsliteratur“ gemahnt, „die auch sonst im Norden in den Unterweltsflüssen in der Vsp 36 (Slíðr) und bei Saxo I,31 ihren Niederschlag fanden“.129 Die Flüsse sind also einerseits mit der Götter- andererseits wohl mit der Unterwelt assoziiert (gegebenenfalls mit christlichem Einfluss), aber nicht in irgendeiner Form mit dem Riesenreich; für die Übersetzung von fimbulþul als allgemeine „gewaltige Lautäußerung“ (welcher Art auch immer) scheint damit etwas mehr Grund vorzuliegen. Auch bei fimbulsinni gäbe es nur bei einer bestimmten Lesart überhaupt einen Ansatzpunkt für eine konkret „riesische“ Deutung, nämlich beim Gefjon-Mythos, da deren Söhne, die von ihr, in Ochsenform, zum Pflügen (buchstäblich) eingespannt werden, einen Riesen zum Vater hatten.130 Die große Beute oder lange Nachkommenreihe hingegen offerieren keinen Anknüpfungspunkt für eine derartige Lesart, denn es dürfte weder im Interesse der Schöpfer der Inschrift gewesen sein, eine Beuteschar „von Riesenart“ heraufzubeschwören noch solche Wesen als Nachkommen zu haben. Selbst beim Gefjon-Mythos bietet der gewaltige Umfang des erpflügten Landes einen ebenso plausiblen Grund für eine Deutung als Größenangabe, wie der mögliche Verweis auf den Vater es für die Lesart der Riesennatur tut.

124 „Rhein“ (Simek 1995, S. 341; Hale 1983, S. 171). 125 Für Gipul können beide nur Vermutungen äußern: „die Klaffende“, Simek 1995, S. 133 (ebenso für Gǫpul, Simek 1995, S. 133). Hale (1983, S. 171) gibt für diesen Namen keine direkte Übersetzung, verweist aber auf „a root *gip-. Cf. ON geipa ‚to talk, talk nonsense,‘ Norwegian dialect gip ‚mouth,‘ gipa ‚to cause to yawn‘“, sodass eventuell ein sehr grob ähnlicher Bezug besteht wie bei fimbulþul, nämlich auf verbale Äußerungen, vielleicht auch allgemeiner, Mundbewegungen. Gǫpul bietet nach Hale als Übersetzungsmöglichkeiten neben topographischen Konnotationen auch „‚the roaring one‘“ (Hale 1983, S. 172). Beide Varianten – topographische wie akustische – verwiesen hier somit wieder auf physische Charakteristika. Diese beiden Flüsse sind überdies die einzigen, welche nicht auch in den nafnaþulur der Skáldskaparmál erwähnt werden (Hale 1983, S. 167). 126 Simek 1995, S. 133; Hale (1983, S. 172) hält weiterhin einen metaphorischen Verweis auf eine jährliche Überflutung für möglich, in welchem Fall gǫmul mit „gemlingr m. ‚one-year-old sheep‘“ in Verbindung stünde. 127 Wörtlich wohl „Kampfrinne“, weniger wahrscheinlich „Kampfeslust“ (Simek 1995, S. 156) bzw. „Kampfestrotz“ oder „Kampfestrog“ (Hale 1983, S. 169 f.). 128 „I suggest Gunnþró could mean something like ‚the one which travels swiftly or wildly in its course‘“ (Hale 1983, S. 170). 129 Simek 1995, S. 129; zu den Komponenten s. auch Hale 1983, S. 172. 130 Gylfaginning Kap. 1 (Lorenz 1984, S. 61).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Was letztlich fimbulþulr wie auch fimbultýr betrifft, öffnet sich mit McKinnells Lesart eine interessante Perspektive, in der der þulr-Begriff letztlich kaum mehr eine Rolle spielt: Würde in der Tat fimbul- grundsätzlich auf Riesenartigkeit verweisen, stützte das vor allem den vermuteten Odinsbezug der Bezeichnungen, denn Odins Abstammung von Riesen ist in Mythen belegt, sodass etwa in der Gylfaginning (Kap. 6) die Mutter des Gottes „Best ‹ l › a […], dóttir Bǫlþorns iǫtuns“ genannt wird.131 Gleichzeitig verriete das Adjektiv dann jedoch weniger bis nichts über andere Charakteristika der damit beschriebenen þulr-Figur („der þulr riesischer Abkunft“), sodass einmal mehr nur ein Bezug zu Odin festgestellt werden kann und sich dadurch erneut die Frage eröffnet, auf welches der vielen Charakteristika des Gottes der Terminus sich beziehen könnte. Im Ganzen scheint mir die Deutung als Verweis auf mythische Riesen daher minimal weniger durchgängig anwendbar als ein Wert für Größe bzw. Macht. Und, sollte sie nichtsdestotrotz die korrektere sein, ändert sich beim fimbulþulr dennoch wenig: Der oberste Ase ist mit und ohne Riesennatur übernatürlich, mächtig und gewaltig. Einzig der þulr selbst würde hier nicht mehr so stark im Mittelpunkt stehen. Auch in diesem Zusammenhang fällt so einmal mehr das Auge auf die Gestalt, welche mit dem Attribut fimbul- sehr häufig auf die eine oder andere Art verbunden ist: Bei fast jedem Beleg ist es Odin, der die Begriffe entweder zumindest in einem der jeweiligen Belegtexte (fimbulvetr, fimbullióð, fimbulþul, fimbulfambi) äußert, oder aber – cum grano salis – durch sie bezeichnet wird (fimbulþulr, fimbultýr). Im Falle von fim­ bulþulr könnten sogar beide Faktoren möglich sein, je nachdem, wer als Sprecher der Strophe anzusetzen ist. Der einzige Fall, in dem dies nicht zutrifft, ist einmal mehr die Runeninschrift. Es scheint daher nicht unbegründet, dass etwaige magisch-mythische Konnotationen einzelner Belegstellen auch auf die Verbindung zu dieser Götterfigur und damit nicht den Begriff selbst zurückgeführt werden können. Damit wäre das am ehesten für alle Belege Zutreffende ein emphatisch-distinktiver Gehalt ohne notwendige weitere Konnotationen in eine erkennbare, durchgängige Richtung. Eine solche Auslegung von fimbul-, deren neutral-steigernde Funktion Evans Bezeichnung als „intensifier“132 gut abbildet, wird daher für den weiteren Teil der Arbeit zugrunde gelegt. Der fimbulþulr der Hávamál wäre somit zuerst einmal „nur“ ein bedeutsamer oder mächtiger, im Doppelsinne also „gewaltiger þulr“, der sich vom „Normal-þulr“ auffallend absetzt. Um nun zur Kriterienauswertung zurückzukehren, leidet auch die Untersuchung der Elemente der Informations(re-)produktion an dem fehlenden weiteren Kontext in Str. 80, wie dies überhaupt das größte Problem der Belege in den Hávamál darstellt. Einige Aspekte lassen sich dennoch genauer betrachten.

131 Lorenz 1984, S. 136; dazu auch McKinnell 2007b, S. 96 f. 132 Evans 1986, S. 120.



Der Thul in Hávamál-Strophe 80 

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5.2.2.2 Informations(re-)produktion Informationsarten Bei den in Str. 80 beschriebenen mit dem þulr verbundenen Informationen handelt es sich um Runen in einem mythisch-magischen Kontext, wie er sich ähnlich auch an anderen Stellen des Gedichts zeigt. Kultische Beiklänge scheinen zwar denkbar, allerdings deutet spezifisch in diesem Umfeld wenig konkret darauf hin oder lässt gar Rückschlüsse über weitere Einzelheiten oder gar Inhalte zu. Informationskontext Die Äußerung der Figur – hier ausschließlich im graphischen Bereich – erfolgt nichtkompetitiv sowie öffentlich bzw. im Rahmen von Rolle und Autorität wohl auch „offiziell“, wie bereits erörtert, aufgrund der primordialen Szenerie; auf jeden Fall aber nicht erkennbar persönlich – was auch der Situation wenig entspräche. Tradierung Was eine Tradierungsfunktion betrifft, liegt bei diesem Beleg praktisch ein Sonderfall vor: In der Tat findet hier eine Art Tradierung statt, allerdings zeigt sich diese gewissermaßen erst aus der Retrospektive: Es geht beim dortigen Runenschreiben schließlich weniger um die Weitervermittlung als überhaupt die Schöpfung und Umsetzung der Zeichen, auf welcher gleichzeitig aber auch all deren späteres Auftreten gründet. Insoweit eine ätiologische Handlung aus ihrer Semantik heraus eine Tradierung mit einschließt, könnte man hier also von einer solchen sprechen. Ansonsten, und vor allem bewusst, findet diese allerdings nicht statt. Insbesondere wirkt der fimbulþulr hier offensichtlich nicht als klassischer Tradent, also als lebendiges, zwischenzeitlich-flüchtiges, willentliches Medium mit der dreifachen Funktion von Erwerber, Bewahrer und Weiterreicher bereits existenten Wissens, sondern ist direkt und einzig ins Erstentstehen involviert.133 Auch beim Runenmalen selbst wird nicht erkennbar, dass dies zum Zwecke der Weitervermittlung geschieht. Validierung Trotz der Wortlosigkeit lohnt sich hier eine Untersuchung von Gültigkeit und Validierungsfunktionen der Handlung: Im Kontext der Ursituation ist die Validität bereits angelegt: Der fimbulþulr als exemplarisch Beteiligter kann nur  – ja, muss  – gültig handeln. Damit erfolgt eine Validierung hier genau genommen textextern bzw. auf

133 An dieser Stelle scheint es sinnvoll, zwischen Odin als fimbulþulr und seinem sonstigen Auftreten in mannigfacher Gestalt, durchaus auch mit Runengebrauch und -wissen einhergehend, zu unterscheiden: Odin kennt, nutzt und tradiert; der fimbulþulr hingegen „schreibt“ nur ein einziges Mal (und diese Szene wird zweimal erwähnt).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

einer anderen Ebene, nämlich entweder innerhalb der Rahmenerzählung, also dem Austausch zwischen dem Sprecher und þú, welche den fimbulþulr als Beteiligten an der Ursituation darstellt und damit die Authentizität seiner Handlungen bestätigt, oder aber vollkommen außerhalb jeglichen Plots allein durch die Textgattung „Mythos“. Man könnte die Validierung somit „metanarrativ“ oder „extern-verlagert“ nennen, obwohl sich die vorliegende Konstellation den in dieser Arbeit ansonsten angelegten Maßstäben tendenziell entzieht. Auch hier fehlen durch den momentaufnahmeartigen Charakter der Szene sowie die isoliert stehende Strophe zu viele Details, als dass sie sich mit den Kriterien für eine lineare Erzählung, welche den Umfang von einer Strophe deutlich überschreitet, zufriedenstellend auswerten ließe. Dass eine, wenn auch unkonventionelle, Validierung vorliegt, kann aber immerhin bejaht werden.

5.2.3 Fazit Im Ganzen findet sich daher in Str. 80 das Bild einer primordial-exemplarisch handelnden übernatürlichen, (aller Wahrscheinlichkeit nach) sehr hohen Götterfigur in mythischer Vorzeit, welche im Rahmen dieses Szenarios offiziell und autoritativ agiert, deren Runenwirken machtvolle ätiologische – und bereits qua Kontext magische – Funktion besitzt und deren Handlungen durch die Ursituation komplett validiert sind. Der Zusatz fimbul- als Ausdruck von Größe, Macht und Bedeutung scheint daher äußerst passend. Und dies alles, obwohl der þulr hier jenseits aller Worte auftritt.134

5.3 Der Thul in Hávamál-Strophe 111 Im Gegensatz zum vorangegangenen weist der zweite Beleg in den Hávamál eine etwas höhere Linearität auf, zeigt sich aber ebenfalls verschachtelt. Auch hier besteht außerdem eine beträchtliche Unschärfe und dieser Zustand wird kaum dadurch gelindert, dass einmal mehr die Sprecherfigur uneindeutig bleibt:

134 Da die Stummheit in den Hávamál in keiner Weise thematisiert wird und der þulr vorher auch nicht als Sprechender in Erscheinung getreten ist, lässt sie sich in diesem Fall nicht als Ausdruck der Niederlage deuten. Auch das Setting dürfte kaum einen Versager als Protagonisten erlauben. Praktisch alle anderen (narrativen) Darstellungen eines stillen oder stummen þulr gehen indes, wie zuvor beschrieben, mit Niederlagen einher.

Der Thul in Hávamál-Strophe 111 



Mál er at þylia

Urðar brunni at;

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þular stóli á,

sá ec oc þagðac, sá ec oc hugðac, hlýdda ec á manna mál; of rúnar heyrða ec dœma, né um ráðom þǫgðo, Háva hǫllo at, Háva hǫllo í; heyrða ec segia svá:

5.3.1 Kontext der Belegstrophe Bei Str. 111 handelt es sich um den inhaltlich wie strukturell problematischsten Beleg der Hávamál, oder, um Schneider zu zitieren, „erhebt sich mit Str. 111 eine wahre Mauer von Schwierigkeiten für den kritischen Beschauer des Liedes“.135 Der Bruch mit dem vorausgehenden Text in dieser enigmatischen Passage schlägt sich, wie Evans verzeichnet, selbst graphisch nieder: Im Manuskript wird sie durch eine große Kapitalinitiale markiert, ähnlich der Ausführung von Str. 138 (dabei ist die Initiale selbst allerdings kleiner als die von Str. 1), sodass kein Zweifel bleiben kann, dass an jener Stelle ein neuer Abschnitt beginnt.136 Eine solche Darstellung lässt also gewisse Rückschlüsse auf die (zumindest, so präzise der Autor, vom Schreiber/Redaktor137 intendierte) strukturelle Funktion zu.

135 Schneider 1948, S. 66. 136 Schneider 1948, S. 66 sowie „A new section seems to begin at 111; so at least the scribe thought, who provided it with an extra-large capital initial“ (Evans 1986, S. 6). McKinnell gibt zusätzlich zur Diskussion der unterschiedlichen Größen bei Jackson (1994, S. 35) eine persönlichen Anmerkung der Autorin wieder, die darauf hinweist, „that the capital beginning stanza 111 is smaller than the other two and suggests that it may not have been intended to be significant“, sieht ein Gegenargument dazu aber darin, dass, „as Richard North has pointed out (1991, 126), the size of the capital itself is less significant than that of the indentation left for it in the main text, and this is three lines deep, as the openings of stanzas 1 and 138“ (McKinnell 2007a, S. 75 f.). Was die zugrunde liegende Struktur betrifft, scheint hier also keine unterschiedliche Hierarchie vorzuliegen. 137 Evans 1986, S. 6. Allerdings soll die gesonderte Problematik einer Scheidung von Schreiber, (bearbeitendem) Kompilator/Redaktor und Verfasser in dieser Arbeit nicht detaillierter betrachtet werden. Der überlieferte Text wird hier als das Werk eines durchaus merklich in den Text eingreifenden, ordnenden und formenden Kompilators angesehen. Dabei ist der durch von See (und vor ihm Schneider) ins Spiel gebrachte Redaktorbegriff hilfreich, um die Eingriffe dieser Hand in den Textentstehungsprozess stärker ins Licht zu rücken. Jedoch, wie de Boor zu Recht feststellt (1973, S. 372 f.), bleibt die Person letztendlich im Diffusen, von See führt weder stilistische noch inhaltliche noch anderweitige Charakteristika dieser Instanz auf, anhand derer sich ihre Eingriffe im Text erkennen ließen; gleichfalls bleibt der Umfang der Interventionen ebenso ungewiss wie der genaue Grund, d. h. die zugrunde liegende, formende Idee für die Textbearbeitung, bei der sich weiterhin die verschiedenen Interpretationsansätze oft unversöhnlich gegenüberstehen. All jene Aspekte werden

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Beyschlag sieht hier „gewissermaßen“ einen „Drehpunkt“ am Werk,138 und es wird in der Forschung teilweise auch bezweifelt, dass die Strophe an dieser Stelle überhaupt originaler Bestandteil des uns überlieferten Hávamál-Komplexes war.139 Eine solche Annahme beruht dabei nicht nur auf der graphischen Differenzierung, sondern ebenso auf Inhalt, Ton und Metrik, die weder unmittelbar an die vorhergehende noch die folgende Strophe anzuknüpfen scheinen (wobei die Frage der inhaltlichen Logik teilweise Interpretationssache ist, wie in Kürze noch zu diskutieren sein wird). Auch von See bezeichnet Str. 111 als „mitten im Gedicht […] ein neuer Einsatz“ und betont, wie die meisten Studien, die eindeutige Verbindung mit Str. 164.140 Betrachtet man Str. 111 im Zusammenhang mit den vorausgehenden Versen, findet sich inhaltlich ein Übergang vom konkreten Odinsbeispiel im Rahmen der Liebesund Treuethematik hin zur performativen Verkündung an/von einem mystischen Ort, also mit einem sehr wahrscheinlichen Szenenwechsel und dezidierter Lokalisation. Nur „wahrscheinlich“ ist der Szenenwechsel, weil in Str. 110 der Sprecher nicht verortet ist und sich daher theoretisch bereits vom Urdquell aus äußern könnte. Nachdem allerdings in Str. 111 gleich mehrfach Positionsangaben verwendet werden, was als emphatisch gedeutet werden kann, scheint die Platzierung von großer Wichtigkeit zu sein. Unter diesen Umständen wäre es daher weniger nachvollziehbar, wenn der Ort, angesichts seiner Relevanz und Auswirkungen auch für bzw. auf den Wert des Vorgetragenen (Legitimation, Authentifikation, Autorität), zuvor überhaupt nicht erwähnt würde. Zuletzt findet sich im mál er at („Zeit ist es, (um) zu“) auch inhaltlich ein Bruch bzw. Wechsel impliziert.141 Hier könnte man zwar theoretisch ebenfalls nur einen Wandel in der Autorität bzw. der Gattung des Folgenden ansetzen (vom Exemplum oder gar nur der illustrativen Reminiszenz hin zum entschieden und unmittelbar Didaktischen); solches wirkt aber auch hier aus den eben angeführten Gründen weniger wahrscheinlich.142

mithin auch in dieser Arbeit nur dann thematisiert werden, wenn die Erörterung einer bestimmten Stelle es erforderlich macht. 138 Beyschlag 1974, S. 14. 139 „[…] it is far from certain that the sonorous 111 can really have been originally composed to introduce the rather commonplace maxims of Loddfáfnismál“ (Evans 1986, S. 8). Von den radikaleren Ansätzen, wie Lindquists (1956, S. 56 und S. 98 f.), welcher die Strophe in sich spaltet, und aus Str. 111,4–8 sowie 111,11 eine neue erzeugt, ganz zu schweigen. 140 von See 1972a, S. 4. 141 S. auch Müllenhoff (1908, S. 252) zu Formelparallelen in der Vǫluspá. 142 Vergleiche Vǫluspá Str. 14,1–4: Mál er, dverga / í Dvalins liði / lióna kindom / til Lofars telia (welches Schneider (1948, S. 75) für von den Hávamál beeinflusst hält): Hier geht es einzig um das Thema bzw. dessen Spezifizierung, entsprechend gibt es weder Ortsangabe des Sprechers noch Autoritätsposition.

Der Thul in Hávamál-Strophe 111 



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In diesem Zusammenhang tritt noch ein weiteres Problem der Strophe zutage: das der Satzgrenzen, wie es bereits Hollander143 und vor ihm Noreen144 beschrieb. So ist besonders die Abgrenzung des ersten Satzes interessant. Rein auf Basis von (Halb-)Versen und Grammatik stünde: Mál er at þylia sá ec oc þacðac […]

þular stóli á

Urðar brunni at [.]

gegen Mál er at þylia Urðar brunni at

þular stóli á [.] sá ec oc þacðac […]

Das heißt, ohne Kennzeichnung der Abschnitte bleibt syntaktisch-inhaltlich unklar, ob sich der þulr-Stuhl selbst am Urdquell befindet oder aber der Sprecher, der nun von diesem Sitz spricht, einst an der Quelle war und horchte, der Stuhl sich aber andernorts befindet. Die Interpunktion stellt dabei, wie bei mittelalterlichen Texten üblich, eine moderne Editionsleistung dar und ist im Manuskript in dieser Form nicht gegeben145 (folgt allerdings gewissen Prinzipien). Bei der Strukturierung spielt in diesem Fall hauptsächlich die Metrik eine Rolle: Setzt man die Regeln des ljóðaháttr an, wie Hollander ausführt, dabei vor allem die In-sich-Geschlossenheit des Helmings,146 schwindet die Mehrdeutigkeit zugunsten der ersten Option. Die gegensätzliche Variante, den Urdquell der zweiten Sinneinheit zuzuordnen, „constitutes a practically unique exception“.147 Eine Ausnahme, für die allerdings trotz ihrer Sonderstellung mit Müllenhoff ein Verfechter existierte. Dieser hielt zwar selbst fest, dass jene Variante der Gewohnheit zuwiderlaufe, begründet seine Position aber damit, dass man den Strophensprecher „vernünftiger weise nicht, wie bisher die herausgeber, an den Urđarbrunn versetzen und ihn vorher, gott weiſs wo, in der blauen luft seine weisheit auffangen lassen darf“.148 Vom Autor wird also offenbar keine

143 Hollander 1932, S. 283 f. 144 Noreen 1921, S. 24. 145 GKS 2365 4to, 6r, Wimmer/Jónsson 1891, S. 11. 146 Aufgrund der rhythmischen und syntaktischen Unabhängigkeit der Halbstrophe sei die Vollzeile inhaltlich dem ersten Helming zuzurechnen und könne also keine Bindung an den zweiten erfahren (Hollander 1932, S. 283). 147 Hollander 1932, S. 283; s. auch Noreen 1921, S. 24 f.: „strofen blir med hans indelning ett rent unicum“ (Noreen 1921, S. 25). 148 Müllenhoff 1908, S. 252. Seine Grundthese weicht auch allgemein merklich von den jüngeren Lesarten ab: Für den Autor, welcher den Komplex Str. 111–164 separat betrachtet, handelt es sich dabei um eine Art komische Spielmannsdichtung (Müllenhoff 1908, S. 253), wobei er den „gewerbsmäſsigen sänger oder sprecher“, welchen für ihn der þulr verkörperte („Die Loddfafnismal sind das einzige

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Verbindung zur in der Strophe erwähnten Halle als Wissensquell gezogen, was der Begründung einiges von ihrer Überzeugungskraft nimmt, denn mit dieser ist es nicht länger „in der blauen luft“, dass die Weisheiten ihren Ursprung haben. Eventuell ließe sich zwar noch überlegen, inwieweit, angesichts eines in Versmaß und Struktur so unregelmäßigen Texts in Kombination mit dem höchst variablen Metrum (vgl. z. B. die Strophenlänge und -struktur von Str. 112, Str. 114, Str. 117 und Str. 134), dessen Versbindungs- und -trennungsgrundlagen ebenfalls unterschiedlich interpretiert worden sind,149 solche Grundsätze absolut bindend sein müssen (S/G etwa sahen hier eine Ausnahme am Werk und rechneten Str. 111,3 der folgenden Langzeile zu, merkten dabei allerdings auch an, dass dies „selten vorkommt“150). Zwingende Gründe für das Abweichen von der metrischen Basis liegen freilich nicht vor. In jedem Fall verbleiben für die Deutung drei Konstanten, ungeachtet der Zuordnung: Der þulr-Stuhl als exponierte Position, was auch immer diese genau mit sich gebracht haben mag.

nordische gedicht, das sich unmittelbar als von einem þul verfasst und vorgetragen kund gibt“ (Müllenhoff 1908, S. 291)), zusätzlich mit Loddfáfnir identifiziert (Müllenhoff 1908, S. 172 und S. 252): […] wenn hier [beim Übergang von Str. 111 auf Str. 112, KRMT] nicht der schalk von einem spielmann durchblickt, so weiſs ich nicht wo. Loddfafnir ist ein flunkerer wie nur einer seines gleichen und macht daraus kein hehl: er bedient sich der fiction und erhabenen einkleidung nur, um seiner werten zuhörerschaft einen possen zu spielen. (Müllenhoff 1908, S. 267) Entsprechend tilgt der Autor einige Strophen dieses Teils der Hávamál, um sie mit der Theorie in Einklang zu bringen. (Über die „komische“ Lesart von Str. 112 wird noch zu sprechen sein.) Gegen diese Auslegung hat bereits Heusler (1917, S. 213 f.) treffenden Einspruch erhoben und Bugge nannte Müllenhoffs Umgang mit dem Gedicht zuvor gar „mishandle“ (Bugge 1881–89, S. 330). Den folgenden Rúnatal und Ljóðatal weist Müllenhoff dann einen anderen Stellenwert zu, wobei das Rúnatal „aus verschiedenen liedbruchstücken nur zur verbindung der weiter vorhergehenden Loddfafnismal mit dem Lioðatal zusammengestellt“ sei (Müllenhoff 1908, S. 251; außerdem Str. 270 ff.). Und im Kontext der von ihm erkannten Beziehungen zwischen Loddfáfnismál und Str. 111 kommt der Autor schließlich auch bezüglich Str. 164 zu der Folgerung: „‚Hâva‘ ist vor ‚hǫllu‘ entschieden zu streichen: man sieht jetzt dass es alle ungewisheit und zweideutigkeit allein verschuldet; die halle ist die in der der sprecher auf dem þularstôl vor einer zuhörerschaft sich befindet“ (Müllenhoff 1908, S. 269). Neben der Radikalität der Eingriffe liegt hier allerdings schon fast ein logischer Zirkel bei der Grundlage für einen solchen Eingriff vor: Háva „muss entfernt werden“, da es Uneindeutigkeiten verursacht, die aber weitaus geringer wären, wenn man sich auf andere Thesen als die von Loddfáfnir als Possenreißer in einer menschlichen Halle einlässt. Im Ganzen ist Müllenhoffs Interpretation daher recht kritisch zu betrachten. 149 Einen Überblick bietet Marold, RGA 18, S. 536 f. 150 S/G 3/1, S. 131 (aufgrund der abweichenden Nummerierung dort Str. 110). Im Kommentar zur dort erwähnten Str. 69 notieren sie gar, dies sei „sehr selten“ (S/G 3/1, S. 109), wobei in letzterer Strophe jedoch die syntaktische und inhaltliche Zugehörigkeit weitaus deutlicher hervortritt (anaphorische Parallelismen ab Str. 69,3) als bei Str. 111.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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Der Urdquell als Ort, welcher mit Sprache in Verbindung zu bringen ist  – entweder der vom Sprecher gesprochenen, oder der von ihm gehörten – und zwar mit eindrucksvoller, autoritativer, (ge-)wichtiger Sprache. Die Halle Hávis als Ursprung von Wissen: von rúnar und ráð. Stellt man Str. 111 nun in den Kontext der folgenden Verse, bildet die Strophe zwar die Überleitung zu den anschließenden Loddfáfnismál mit deren formelhafter Anrede und vielfältigen Ratschlägen; für sich gesehen deutet allerdings kaum etwas151 darauf hin, dass ihr gerade dieser Text folgen wird. In der Tat hat die Forschung nicht selten eine starke Divergenz zwischen dem „hohen Ton“ von Str. 111 und den darauf folgenden, teils reichlich banal wirkenden Ratschlägen für Loddfáfnir gesehen. Überaus deutlich kommt dies etwa in der direkt darauf folgenden Strophe 112 zum Tragen: Nach der Ankündigung, „an des Hohen Halle solches vernommen“ zu haben, wird vom nächtlichen Aufstehen abgeraten, sofern man nicht ausziehe, um zu kundschaften oder den Abort aufzusuchen,152 was zumindest für den modernen Leser einen schon beinahe bathetischen Effekt entwickeln kann153 – wenn es auch wenig ratsam sein dürfte, bedenkenlos neuzeitliche Maßstäbe anzulegen. Für Müllenhoff war dieser Kontrast Grundlage für die Ausdeutung als Posse.154

151 Jackson (1994, S. 39) sieht eine Verbindung in der Korrespondenz von Str. 111,8 um ráðom und dem rádomc der folgenden ersten Formelstrophe. Allerdings ist dies nicht das einzige Mal, dass Wörter aus dem Feld ráð- in den Hávamál auftreten – wie es im Kontext der Wissensdichtung und angesichts der Tatsache, dass ráð aufgrund seines breiten Bedeutungsfeldes praktisch den gesamten Bereich solcher Poesie zu umschreiben vermag, auch logisch erscheint. Gerade wenn man den Folgetext an ráðom festmacht, könnten nach Str. 111 beinahe schon jegliche Lehr- oder Ratsverse erwartet werden; angesichts des Strophentons und der Platzierung dabei sogar noch eher welche mythischer Provenienz, was mit der tatsächlichen Folgestrophe dann doch recht wenig gemein hat. Was zumindest die Frage aufwirft, wieso aus allen ráð-Strophen gerade Str. 112 folgt und nicht eine andere Loddfáfnismál-Passage, die wenigstens etwas größere Gemeinsamkeiten, in Inhalt oder Ton, mit Str. 111 bietet. 152 leita staðar (wörtlich „Platz/Ort/Stelle/Wohnstatt (auf)suchen“); staðr wird in diesem Kontext als „Abort“ übersetzt (s. z. B. C/V, S. 586: „privy“; vgl. auch das dort nachfolgend aufgeführte ganga at staðar, cacare), der Zweck des „Platzes“ wird also nicht erwähnt. 153 Auch de Vries (1934, S. 27) nennt Str. 112 „yderst triviel“, erwähnt aber ebenfalls, dass bereits Jónsson darauf aufmerksam machte, dass der Wert der Ratschläge im Auge des Betrachters liegt. Ebenso erkennt Klingenberg hier „triviale Spruchdichtung“ und „Lebensregeln an Loddfáfnir“ (1972, S. 133) und Sturtevant (1911, S. 53) nennt die Weisung „a picture of Old Norse social conditions true to the history of civilization“, um in in diesem Kontext auf Kap. 14 der Ynglinga saga zu verweisen, wo ein solcher nächtlicher Weg beschrieben wird. Dronke (2011, S. 45) macht zudem darauf aufmerksam, dass die implizite Gefahr nicht allein weltlicher Natur sein musste, sondern auch „danger from occult powers“ darstellen konnte. Ihre auf einen etwas späteren Themenwechsel bezogene Schlussfolgerung: „The bathos in this change of subject was probably not meant, or noticed, by the poem’s compiler […]“ kann somit auch auf diese Strophe angewandt werden. 154 Müllenhoff 1908, S. 267.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Auch ohne einen solchen Ansatz besteht aber in jedem Fall keine offensichtliche unmittelbare inhaltliche Verbindung – weder mystische noch göttliche Elemente wie etwa Urd, Yggdrasill oder Odin spielen in den folgenden Strophen eine Rolle; ein Bruch ist also durchaus vorhanden. Schneider bringt die Lage und gleichzeitig Problematik auf den Punkt, wenn er schreibt: „Dem CR [Codex Regius, KRMT] also ist Strophe 111 die Einleitung zu den ‚Loddfafnissprüchen‘“.155 Die Einstufung der Strophe als integrierende Editionsleistung durch McKinnell, auf die in Bälde weiter eingegangen werden soll, bietet hierfür indes eine schlüssige Erklärung. 5.3.1.1 Sprecheridentität und Verortung – ec und Odin in Háva hǫll Wendet man sich der Sprecheridentität zu, bleibt diese einmal mehr zu einem bestimmten Grad im Schatten: Während in Str. 105–108 das lyrische ec eindeutig als Odin zu identifizieren ist (als Protagonist der Erringung des Dichtermets) und in Str. 109 der Gott zumindest noch als impersoneller Erzähler auftreten könnte, wäre dies in Str. 110 schon etwas schwieriger aufrechtzuerhalten: Beim ec, welches nun erscheint, lässt sich insbesondere aufgrund der rhetorischen Frage hvat scal hans trygðom trúa? (Str. 110,3), welche meiner Ansicht nach als Kritik zu lesen ist156 und der durch die Beschreibung der beiden Betrogenen Gunnlǫð und Suttungr weitere Plastizität verliehen wird, eine Distanz zum Asen ausmachen, die es eher unwahrscheinlich wirken lässt, dass Odin immer noch der Sprecher dieser Strophe sein kann. Darüber hinaus tritt der Name des Asen in den Hávamál insgesamt zwar viermal auf. Davon erwähnt Odin ihn aber nur zweimal mit Sicherheit selbst als Sprecher, das eine Mal zudem ausschließlich in der wörtlich wiedergegebenen Rede von Billings mær (Str. 98), sodass er auch dort nicht der Urheber der eigentlichen Äußerung ist. Das zweite Vorkommen ist die Windbaumszene in Str. 138. Hier wird im folgenden Halbvers aber sofort die Übereinstimmung von Stimme und Genanntem deutlich gemacht und die Rede fällt explizit in die erste Person zurück: oc gefinn Óðni, / siálfr siálfom mér (Str. 138,5 f.). Bei den anderen zwei Belegen handelt es sich um Stellen, in denen

155 Schneider 1948, S. 68. 156 Das Verb trúa wird in den Hávamál ansonsten recht eindeutig eingesetzt: Positiv konnotiert sind Dinge bzw. Menschen, denen man trauen kann (so etwa in Str. 44 und der teils korrespondierenden Loddfáfnismál-Strophe 119; in Grenzen Str. 74 – hier führt das Vertrauen auf den Proviant zum positiven verða nótt feginn), und diese soll man gut behandeln. Solche, denen man nicht trauen kann oder soll, sind hingegen negativ konnotiert und fordern zu Argwohn, Täuschung und Betrug als Reaktion auf (z. B. Str. 45 und Str. 46; zudem die problematische Str. 84 und Str. 88, die keine Reaktion verlangen, aber das geratene Misstrauen weiter begründen, und Str. 89, in welcher der bróðurbani als einer der Gipfel des Negativen auftritt). Ein Rühmen mit Unzuverlässigkeit und sogar Eidbruch fiele daher deutlich aus dem Rahmen der ansonsten vertretenen Lebensregeln. Im Extremfall würde so quasi implizit dazu aufgerufen, entsprechend der zuvor vermittelten Devise „Gleiches mit Gleichem“, Odin zu hintergehen (sofern das in einem derartigen Verhältnis von Mensch und Gott möglich ist; und natürlich entsprechende Texteinheit vorausgesetzt).



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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unklar bleibt, wer spricht – einmal eben Str. 110 und dann Str. 143, wo sowohl Odin als auch das lyrische ec auftreten, zwischen denen ein Unterschied impliziert zu sein scheint (und die später, im Kontext des letzten Vorkommens des þulr, noch eingehend besprochen werden soll). Es gibt also keinen sicheren Beleg für eine namentliche Selbsterwähnung Odins in den Hávamál ohne einen Verweis auf die Identität mit dem Strophensprecher, der eine solche in Str. 110 stützen könnte. Die Forschung ist sich hier recht uneins. So sehen etwa Brix,157 Dronke,158 (mit einer gewissen Restunsicherheit) von See159 und Larrington160 hier eine fremde Stimme am Werk, während z. B. Haugen,161 Klingenberg162 oder Schneider163 den Asen sprechen hören und Evans sich nicht festlegt.164 Eventuell ein zusätzliches Argument für die Beibehaltung des Sprechers könnte zwar sein, dass auch in der Vǫluspá ein Wechsel von dritter und erster

157 Brix (1958, S. 104) erkennt im Ganzen ein zweischneidiges Verhältnis zu Odin, spricht die Strophe aber ebenfalls einer externen Stimme zu: „Skalden føjer hertil [anschließend an den Riesenbesuch in Str. 109, KRMT] sin dom. Han har narret faderen og misbrugt datteren. Forfatteren baade priser og fordømmer asernes øverste“. 158 Dronke sieht ein Tadeln Odins durch „the indignant voice of the jongleur“ (Dronke 2011, S. 44). 159 von See 1972a, S. 5: „Erkennbar ist auch, daß in diesen [gemeint sind Str. 96–110, KRMT] Strophen (abgesehen wohl von 110) Odin selbst spricht“. 160 Larrington 1993, S. 59: „The poet, speaking in his own voice, seems to deplore Óðinn’s behaviour […]. His sympathy with Gunnlǫð contrasts with Óðinn’s careless shrug in 105[…]“. 161 „Here Odin virtually condemns himself for his treatment of the woman he so shamefully used and then abandoned“ (Haugen 1983, S. 14), wobei der Sprecherwechsel von der ersten zur dritten Person bzw. die Frage der Stimme per se von ihm nicht ins Spiel gebracht wird und er generell davon ausgeht, dass Odin die gesamten Strophen äußert. 162 Klingenberg 1972, S. 119 f., ohne dies aber genauer auszuführen. 163 Schneider (1948, S. 66) geht hier noch weiter und deutet nicht nur die Stimme als Odin, sondern die Frage, wer dessen Schwüren zu trauen vermöge, als „Meineid […], dessen er sich […] rühmt“. Gleichzeitig stellt er diese Äußerung in Kontrast zu Odins früherer Übertölpelung beim Liebesabenteuer, und bezieht in diesem Kontext den Begriff fimbulfambi auf den Asen – etwas, was, wie bereits erläutert, aufgrund von Form wie Inhalt von Str. 103 eher zu bezweifeln ist. 164 Evans zeichnet die Position von Befürwortern eines durchgängigen Sprechers Odin, welche die Strophe mit den „‚Odinic ethics‘: self-seeking, cynical, tough-minded, untrusting, unscrupulous“ in Verbindung bringen (Evans 1986, S. 22). Allerdings lässt diese recht negativ dargestellte Lebenseinstellung die ebenfalls im „Alten Sittengedicht“ vertretenen Treue- und Ausgleichgebote außer Acht (s. etwa in Str. 42 – Gabe mit Gabe, Lachen mit Lachen und Betrug mit Lüge) sowie die Tatsache, dass die Behandlung Gunnlǫðs durch Odin von diesem explizit als ill iðgiold (Str. 105,4, „üble Gegengabe“) bezeichnet wird, was zumindest das „Sich-Rühmen“ etwas unwahrscheinlicher wirken lässt. Auch der Autor folgert daher: „the argument that the Gnomic Poem exhibits Odinic ethics surely exaggerates its unscrupulousness“ (Evans 1986, S. 22), ohne sich allerdings genau festzulegen, inwieweit Odin als Sprecher und Str. 110 vereinbar sind; abgesehen von der Anmerkung, das Liebesabenteuer „is narrated by Óðinn himself, though rather oddly it passes into the third person in the last two strophes“ (Evans 1986, S. 6). Bemerkenswert ist in Bezug auf eine durch Skrupellosigkeit gekennzeichnete „Odinsethik“ außerdem, dass das Gebot, Täuschung mit Täuschung zu beantworten, nicht nur in den „odinischen“ Hávamál zu finden ist, sondern auch in den klassischen Disticha Catonis und den christlichen Hugsvinnsmál (McKinnell 2007a, S. 81).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Person stattfindet (Vǫluspá Str. 44,5 f.). Andererseits besteht zwischen diesem Gedicht und den Hávamál keine so unmittelbare Verbindung, dass eine direkte Übertragbarkeit derartiger Details zwingend naheliegen würde, und auch die Form, i. e. Prophetie, unterscheidet sich von der retrospektiven Berichterstattung in der hiesigen Episode. Unabhängig von der konkreten Figurenidentität ist indes nicht auszuschließen, dass der Sprecher, welcher ein derartiges Fazit zieht, ebenso der der folgenden Strophe ist. Das nimmt beispielsweise, aus kompositionstechnischen Gründen, von See an.165 Sollte Odin in Str. 110 trotz allem noch der ec-Sprecher gewesen sein, dürfte dies dann in Str. 111 mit höchster Sicherheit nicht mehr zutreffen: Es gibt keinen wirklich plausiblen Grund, warum Odin bei, an, oder in seiner eigenen Halle horchen sollte, statt, wie gerade die Gebiete Runen, Magie und Weisheit nahelegen, Urheber oder zumindest Teilnehmender des dort Verkündeten zu sein.166 Ob das Horchen des Sprechers dabei ein dezidiert heimliches Lauschen167 oder doch nur ein neutrales Hören ist, lässt sich hingegen nicht endgültig festmachen. Letzteres wirkt aber etwas wahrscheinlicher: Nicht nur heyra, sondern ebenso hlýða lässt eine neutrale Übersetzung zu,168 wie auch aus Str. 164,8 ergeht, die sich mit demselben Verb an die Zuhörerschaft des Vortragenden wendet (und als Verweis auf den originären Akt der Rezeption bei der Halle gelten kann). Zugegebenermaßen erzeugt ein verstohlenes Horchen eine weitaus größere Spannung in der Strophe, und lässt im Kontext der folgenden Vermittlung göttlichen Wissens geradezu an klassische Kulturheroen wie Prometheus, aber auch Odins eigene Erringung des Dichtermets denken. Eben hier unterscheidet Hollander indes scharf zwischen menschlichen und übermenschlichen Protagonisten derart heimlichen Erwerbs und lehnt eine solche Annahme rigoros ab: In fact, the whole conception of a human being penetrating to the sacred precincts of the gods, for whatever purpose, is utterly foreign to notions on these matters prevailing in the North. The gods voluntarily and frequently communicate their wisdom to their favorites; but nowhere are we told that it is purloined from them against their wish. On the other hand, this lore is often appropriated, by stealth or by fraud, by the gods, Óthin being the chief perpetrator; so much so that wellnigh all his boasted magic skill and mystic lore seem derivative.169

Seine damit einhergehende These, es müsse sich bei dem þulr von Str. 111 folglich um Odin handeln, wirkt jedoch nicht allzu überzeugend, denn Hollanders Entkräftung

165 von See 1972a, S. 59. 166 So auch Heusler (1917, S. 215): „es geht nicht an, daß Odin seine Runenweisheit von den andern Walhallbewohnern gehört haben will […]“. 167 Dies vertritt z. B. de Boor (1973, S. 375). 168 „Hlyþa need of course not mean ‚to listen‘ in the sense of ‚eavesdropping,‘ but ‚to attend to,‘ ‚to mind,‘ ‚heed‘“ (Hollander 1932, S. 285). 169 Hollander 1932, S. 284.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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des Kritikpunktes, dass Odin nicht in seiner eigenen Halle sein (Runen-)Wissen von anderen Göttern „er-hören“ kann, welche an Macht und nicht selten auch genealogisch unter ihm stehen, besteht vor allem darin, dass Odin doch generell nicht zimperlich sei, wenn es um Wissenserwerb gehe.170 Dies adressiert allerdings nicht den eigentlichen Kern des Problems: Odin ist (aller Wahrscheinlichkeit nach) der fim­ bulþulr, der selbst an der urzeitlichen Schöpfung der Runen beteiligt war. Welcher deren  – und seine  – Macht dann im Rúnatal vollkommen autonom erwarb, und der auch im Pantheon am engsten mit Runenwissen assoziiert ist. Wie sollte er von Göttern, die weniger mächtig und meist auch jünger, wenn nicht gar seine Nachkommen sind, überdies in der Mythologie nicht einmal ansatzweise so stark mit den (hier) magischen Zeichen und angrenzenden Gebieten verbunden wie er, etwas über sein ureigenstes Feld erlernen? Werden die rúnar, abweichend von Hollanders Übersetzung, nicht konkret als Runen gedeutet, ergibt sich hier zwar ein um einiges größerer Spielraum: Unterschiedliche Götter haben unterschiedliche Bereiche in denen sie besonders beschlagen sind und daher Odin in ihren „Spezialgebieten“ in der Tat an Expertise voraus sein können. Das Gefälle an Macht, Alter und Abkunft bleibt aber weiterhin bestehen, ebenso wie Odin auch mythologisch am engsten mit den Gebieten Wissen, Weisheit und Magie in Kontakt steht. Da die folgenden Loddfáfnismál außerdem thematische und didaktisch-moralische Ähnlichkeiten zum „Alten Sittengedicht“ zeigen, dessen Sprecher wohl ebenfalls Odin ist (von Rúna- und Ljóðatal ganz zu schweigen), liegt nahe, dass es sich auch beim Urheber der den Loddfáfnirsratschlägen zugrunde liegenden Äußerungen Háva hǫllo í um Odin handelte. Der Ase kann unter diesen Umständen damit nicht gleichzeitig Sprecher und Horcher am selben Ort sein. Was hingegen durchaus möglich wäre, ist, dass es sich bereits bei dieser Horcherfigur um ein bestimmtes Gegenüber, nämlich den ab Str. 112 namentlich angesprochenen Loddfáfnir handelt, der im Folgenden darüber berichtet, was er in der Halle an Rat vernahm.171 Möglich ist es, doch, einmal mehr, nicht gewiss.172 Die einzig weitere Möglichkeit, Odin als Sprecher anzusehen, bestünde darin, davon auszugehen, dass Hávi hier gar kein Odinsheiti darstellt. Für eine solche Deutung spricht allerdings nichts; vielmehr Str. 109 sogar deutlich dagegen,173 sodass diese Annahme im Weiteren ad acta gelegt werden soll.

170 „And why, pray, should it be below Óthin’s dignity to learn from the gods of Valhǫll, seing that he is not squeamish from whom he obtains his lore?“ (Hollander 1932, S. 285) 171 Diese These vertraten unter anderem Bugge (1867, S. 56) und Müllenhoff (1908, S. 252). 172 La Farge, RGA 18, S. 541. 173 Schneider (1948, S. 68) wie auch McKinnell (2007a, S. 102) bieten an, im Háva hǫllo í aus Str. 109 direkt die Ursache für die Anfügung von Str. 111 zu sehen. Auch von See geht, trotz seiner kritischen Diskussion des Namens Hávi, davon aus, dass es sich dabei um eine Bezeichnung für Odin handelt, „die den Heidengott bereits in der Vorstellungsform des Christengottes, also als „Hohen“, sieht“ (von See 1989, S. 147).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Setzt man einen mit dem Versmaß korrelierenden Bruch nach dem Urdquell (Str. 111,3) an, wäre theoretisch außerdem noch möglich, dass es sich beim Sprecher der ersten Zeilen um den Asen handelt, während danach (sá ec oc þagðac […]) der ecSprecher das Wort ergreift. Allerdings gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Trennung hier angezeigt wäre, weshalb die Strophe als weiterhin durchgängig von einer Person, dem lyrischen ec, gesprochen, betrachtet wird. Der Hörer-Sprecher der Str. 111 ist also nicht Odin. Wer sich andererseits konkret in dieser Strophe äußert, wird dennoch nicht erkennbar: Die Stimme bleibt schattenhaft, kaum greifbar, einzig bekannt ist des Sprechers Position, þular stóli á – („auf dem Stuhl (oder: Sitz) des Thuls“). Man kann somit hier davon ausgehen, dass sich ein þulr äußert – oder zumindest jemand, der berechtigt ist, von dessen Stuhl zu sprechen.174 Denkbar ist indes durchaus, dass der (þulr-)Sprecher von Str. 111 bereits in Str. 110 das Wort führte. In diesem Fall erscheint der inhaltliche Wechsel, welcher sich im Mál er at þylia findet, als nachvollziehbarer, jedoch etwas abrupter, Übergang von der einen Thematik zur nächsten.175 Der Wandel fort von Odin hin zum rahmenerzählenden Horcher bei der „Halle des Hohen“ fände damit bereits in Str. 109–110 statt. In diesem Fall erfolgte der Wechsel der Szenerie in mehreren Schritten: Str. 108–109 zeigt den Übergang vom retrospektiven (Str. 104,2) Ich-Erzähler Odin auf die unpersönlichere Stimme, die vom Gang der Riesen zum Asenhof erzählt. In Str. 110 wird auch dies Szenario verlassen, nunmehr ohne festen Ort und Zeit stellt der Erzähler die Frage nach Odins Vertrauenswürdigkeit, um in Str. 111 gleich zwei neue Schauplätze zu nennen: den þulr-Sitz beim Urdquell sowie die Halle des Hohen, in jedem Fall also Bereiche der mythischen Geographie. Damit werden auch direkt zwei neue Erzählrahmen eingebracht: Der Rahmen des bei der Halle Horchenden ist eingebettet in den des vom þulr-Stuhl Sprechenden. Gleichzeitig ist der Erzähler in beiden Rahmen identisch, die Trennung erfolgt nur anhand des Tempus’ (Präsens, Präteritum). Inhalt dieser ineinander verschachtelten Strukturen sind die Strophen 112–163, denn erst in der letzten, Str. 164, wird der innere Rahmen wieder aufgelöst.

174 So auch Jackson (1994, S. 36): „A speaker who identifies himself as a þulr, or at least as someone who chants from the seat of the þulr“. Obwohl zwischen diesen beiden Möglichkeiten durchaus ein Unterschied besteht, scheint eine weitere Ausdifferenzierung wenig sinnvoll, da bereits über den þulr nicht genügend bekannt ist, um dafür die Grundlage zu bilden. Im Weiteren wird deshalb davon ausgegangen, dass jemand, der vom Stuhl eines Thuls spricht, zumindest für den Zeitpunkt der Äußerung auch die (potenzielle) Autorität und Funktion eines solchen innehat und somit ausreichende Deckungsgleichheit besteht. 175 Schneider (1948, S. 67) sieht hier eher eine auf sich selbst gerichtete, fast schon metatextuelle Anmerkung am Werk: „Der Sprecher oder Redaktor oder Dichter ruft sich selbst zur Ordnung: ‚Zeit ists, zu verkünden […]‘“. Auch Dronke erkennt in Str. 110 und 111 denselben Sprecher, „the intrusive figure of the jongleur“ (Dronke 2011, S. 44).



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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Die dortige wörtliche Wiederaufnahme der Verortung (Háva hǫllo í, Str. 164,2; aus Str. 111,10) führte auch zu der Frage, ob in der Tat das gesamte Gedicht den Namen Hávamál trägt oder nur der Bereich von Str. 111 bis 164; ebenso zu der, ob die Strophe – und/oder die Schlussstrophe – ursprünglich auch an ebendiesem Platz standen.176 Zudem findet sich dieselbe Phrase auch schon etwas früher im Text, nämlich in Str. 109,4; hier allerdings dezidiert als Reiseziel und nicht als (Rahmen-) Quellenangabe für verbreitetes Wissen, sodass der Bezug eher struktureller als inhaltlicher Natur zu sein scheint. McKinnell sieht, wie angeklungen, eben dieses erste Auftreten dennoch als maßgeblich für die späteren Erwähnungen an: „Háva hǫllo at | Háva hǫllo í […] seem to be elaborated from Háva hǫllo í (stanza 109/4)“,177 was im Rahmen einer editorischen Verklammerung der einzelnen Textteile erfolgt sei, zumal McKinnell Str. 111 im Ganzen als Zusammensetzung betrachtet. Dabei argumentiert er auf metrischer wie inhaltlicher Ebene und betont, dass das Aussondern der editorischen Zusätze in beiden Fällen Probleme löst.178 Auch Dronke bezeichnet die Strophe als „impressive blend of borrowed pieces“ mit dem Zweck der Überleitung „from Óðinn’s past world of personal achievement […] to his present world-task of guiding humanity“.179 Wie auch immer die Komposition der Strophen letzten Endes vonstattenging, für diese Untersuchung wesentlich ist in Str. 111 vor allem die Funktion der Verortung, welche in jedem Fall von der in Str. 109 abweicht: Die frühere Strophe zeigt Odin nach der erfolgreichen Heimfahrt von Suttungr und Gunnlǫð zurück im, und als, Zentrum seines Herrschaftsgebiets und damit im Vollbesitz aller Autorität. Ein wiedergekehrter göttlicher Kulturheros, der nun als Regent im eigenen Reich die Reifriesen empfängt und ein letztes Mal narrt. Der Großteil seines Abenteuers ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgestanden und der ráð, welcher hier abschließend erfragt bzw. gegeben wird, hat mit dem in den folgenden Loddfáfnismál (oder auch im „Alten Sittengedicht“) vermittelten Rat nichts zu tun, sondern wäre als konkrete, situative Auskunft zu lesen. In Str. 111 hingegen ist die Halle des Hohen zwar ebenfalls äußerst autoritativ konnotiert, es wird damit jedoch einleitend ein erst folgender ráð legitimiert, welcher so entsprechende Wirkmacht erfährt. Hinzu kommt ein weiteres Gebiet, das der rúnar, wobei deren Deutung, wie erwähnt, an dieser Stelle unklar bleibt, eventuell gar mit der Ambiguität gespielt wird: Sowohl die konkreten Runen als auch allgemeiner (tiefe) Geheimnisse, gerade auch im Sinne esoterischen Wissens wie das der im Wei-

176 So bietet beispielsweise de Vries an: „enten omflytte 164 til efter 137 og betragte den som Loddfáfnismáls Afslutning, eller sondre 111 fra dette Kvad og henregne den til ljóðatal“, um anschließend für die Umstellung von Str. 111 zu plädieren (de Vries 1934, S. 27 f.). Eine kurze Darstellung des Sachverhalts gibt weiterhin von See (1972a, S. 5). 177 McKinnell 2007a, S. 102. 178 McKinnell 2007a, S. 100 ff. 179 Dronke 2011, S. 58.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

teren beschriebenen Zaubersprüche, können referenziert sein, denn beides trifft auf die folgenden Textabschnitte, insbesondere Rúna- und Ljóðatal, vollstens zu. Ebenfalls nicht auszuschließen ist, dass sich um ráðom ganz spezifisch nur auf die rúnar bezieht, und damit hier konkret Runen und deren Deutung180 benannt werden.181 In diesem Fall wäre der þulr in Str. 111 eigens – und ausschließlich – mit Runenwissen verbunden, was, gerade auch in Anbetracht der beiden fimbulþulr-Passagen in Str. 80 und Str. 142, nicht unbegründet wäre. Andererseits würde dies aber auch die gesamten Loddfáfnismál inhaltlich mehr oder weniger ausschließen und damit dem Text zumindest in seiner überlieferten Form eher widersprechen. Alternativ bezieht sich ráðom daher hier einmal mehr auf allgemeinere Ratschläge, i. e. wichtige Kenntnisse, in Str. 111 gar direkt an mythischen Orten erworben. Und im Kontext von Struktur und Inhalt des überlieferten Textes, insbesondere der umfangreichen, eher säkularen, sentenzenhaften Inhalte der Loddfáfnismál, scheint mir dies auch die begründetere Annahme.182 Im Rahmen des Vermittlungsszenarios an sich (Sprecher, Stuhl, Inhalt) gibt es überdies keinerlei narrativen Fortschritt: die Situation bleibt statisch, fast schon ikonisch, die Motivation für die Verkündung und das Mál er at an gerade dieser Stelle unklar. Auch in diesem Punkt liegt ein Unterschied zur Einbettung von Str. 109, deren Inhalt und Position nicht nur aus der Erzähllogik begründet sind (der bedrängte Odin begibt sich in sein Reich, die Riesen gehen ihm nach bzw. zu dem Ort, wo sie Wissen über den Feind vermuten), sondern in der auch durch die Zeitangabe ins hindra dags (Str. 109,1) an die vorausgehende Szene angeschlossen wird. Als Letztes erfolgt die Begegnung mit dem (bzw. den) Insassen von Háva hǫll in Str. 111 einzig mittelbar: Der Sprecher hört nur zu; weder findet eine erkennbare Konfrontation noch ein Dialog zwischen den Parteien – wie in Str. 109 impliziert – statt. Von einem Machtgefälle zwischen Sprecher(n) und Rezipienten kann daher in dieser Szene wohl ausgegangen werden; oder anders gesagt, von einem merklich größeren als in Str. 109: Die Riesen sind einerseits mächtig genug für direkte Gegenüberstel-

180 Auf diese Ambiguität verweist auch Sturtevant, der sie und die daraus resultierende „falsche“ Auslegung des Wortes für die angebliche Fehlpositionierung durch einen „späteren Interpolierer“ verantwortlich macht: „believing ‚rǫ́ þum‘ to mean ‚advice‘ rather than ‚the interpretation of magic runes‘“ (Sturtevant 1911, S. 53). Auch Beck verlegt sich auf einzig diese Lesart und interpretiert das ec in dieser Strophe als Ausprägung „einer emphatischen Selbstnennung“ eines „Eingeweihten“ (des þulr), welcher sich hier auch als solcher präsentiere, wie es im Kontext der Runenverfertigung und -deutung üblich sei: „Die ek-Sprecher gehören einer höheren sozialen Schicht an. Sie betonen ihre Schriftmächtigkeit und Kunstfertigkeit“ (Beck, RGA 25, S. 10 f.). 181 In diesem Fall verlöre Jacksons These vom Verbindungsglied ráð- in Str. 111 und Str. 112 einiges von ihrer Kraft; stattdessen würde eine Annäherung von Str. 111 an das Rúnatal wahrscheinlicher. 182 S. dazu z. B. auch Jackson 1994, S. 38: „However, if we include Rúnatal as part of his speech, then his promise in strophe 111 is fulfilled: he will have recounted what he heard about runes and what he heard about counsel“.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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lung und Austausch, andererseits besitzen sie auch Güter von solcher Potenz, dass der Göttervater sich diese aneignen will (Dichtermet). Beides kann vom Lauscher bei der Halle nicht unbedingt gesagt werden – Rezeption und damit Erwerb finden, soweit erkennbar, im Stillen statt. Während strukturell und metrisch daher eine Übernahme der Formel von Str. 109 in 111 plausibel erscheint, dürften inhaltliche Gründe angesichts der kontextuellen Unterschiede weniger eine Rolle gespielt haben. Dies deckt sich erneut mit McKinnells Theorie des verklammernden Einschubs. Ähnlich der Frage des Umfangs und damit der Einheit der Hávamál ist auch die Frage nach einer Einheit von Loddfáfnismál, Rúnatal und Ljóðatal zu sehen und damit, ob sämtliche Strophen ab 111 dem gleichen Sprecher zugeschrieben werden können (sofern nicht ausdrücklich ein anderer auftritt). Wie anfangs dargelegt, wird in dieser Arbeit von einer grundsätzlichen Einheit – sei sie nun dem Autor oder einem späteren Redaktor zu verdanken – ausgegangen, wo dem nichts Merkliches entgegensteht (mit Str. 143 wird ein solcher Fall noch besprochen werden), wobei der Sprecher ab Str. 112 die Rolle Odins/Hávis einnimmt und seine eigene Gestalt dahinter zurücktritt. Unter solchen Umständen erscheint der þulr dann noch einmal in der letzten Strophe, also im Abschluss des Rahmens und hätte damit zwei Auftritte in diesem Teil der Hávamál,183 wenn auch nur einen mit ebendieser Bezeichnung. Wie gestaltet sich nun der Szenenaufbau? Der Doppelrahmen setzt gleich zwei mythische Orte ein: den Urdquell und Odins Halle. Dessen ungeachtet wendet sich der Sprecher allerdings nicht an ein erkennbares Gegenüber, sondern, hier ähnlich der Str. 110,184 an (textexternes) Publikum, wie es noch weitaus deutlicher in Str. 164, insbesondere 164,8, geschieht. Dass beide Orte das dann Folgende hochpotent aufladen, wurde bereits angemerkt, denn es wird damit nicht nur als mythisches, sondern sogar als Götterwissen markiert. Im inneren Rahmen fand nun also auditive Informationsrezeption statt, deren Inhalte die Basis für die Tradierung bilden, welche der äußere Rahmen ausdrücklich einleitet. In Folge besitzt der þulr distinktives Wissen, welches er von einer Position der Autorität – hier deutlich durch einen spezifisch benannten Sitz markiert – sich zu verbreiten anschickt.

183 Vor allem Str. 134, die im Anschluss an diesen Beleg erörtert werden wird, könnte wegen der Nennung eines weiteren þulr den Schluss nahelegen, dass hier die Stimme vom Urdquell über sich und die Seinen spricht, zumal der Ratschlag für diese nützlich ist. Bereits anhand der einleitenden Ratsformel ist jedoch ersichtlich, dass sich hier der durchgängige Sprecher der Loddfáfnismál äußert, also ausweislich der Einleitung in Str. 111 die Figur Háva hǫllo í und damit wohl Odin (durch den Mund des „Rahmen-þulr“, der hier aber gänzlich entindividualisiert ist). 184 Und eventuell auch in Str. 109, obwohl hier, wie bei der Frage der Sprecheridentität notiert, durchaus auch noch Odin in der dritten Person, quasi überblickshaft, berichten könnte.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Der Gegenstand des Gehörten bietet dabei erneut einen gewissen Spielraum. Nicht nur, dass manna mál konkret als „Menschenrede“ oder „Rede von Leuten“ (im Sinne menschenähnlicher Wesen, also auch Göttern) aufgefasst werden kann,185 was im Kontext der Halle Hávis wohl die begründetere Variante wäre.186 Auch manna (mál) selbst wurde bereits emendiert. Müllenhoff machte aus dem Begriff Hâva mâl,187 was einerseits eine größere Nähe zu Örtlichkeit und Werktitel verspricht, andererseits aber grammatikalische Probleme aufwirft: Wie Sturtevant betonte (unter Verweis auf Bugge),188 ist eine solche Emendation bereits grammatikalisch wenig begründet, da eine Inkongruenz zum Numerus des Verbs þǫgðo besteht. Angesichts des Settings, der Problematik Weisheit verbreitender Menschen in Odins Halle sowie der grammatikalischen Gegebenheiten dürfte damit eine Deutung als „Rede der Götter“ die schlüssigste Variante sein. 5.3.1.2 Urdquell und þular stóll Auch der andere namentlich bezeichnete Platz, der Urdquell (oder Urdbrunnen), besitzt große Signifikanz: Als reguläre Thingstätte oder Richtplatz der Götter189 stellt er eine zentrale mythische Örtlichkeit dar. Snorri nennt ihn in der Gylfaginning „sehr heilig“190 (in der Liederedda, wo der Urdquell zweimal erwähnt ist, findet sich eine solche Beschreibung nicht). Aufgrund der Funktion als Rat- und Richtplatz lässt sich hier eventuell eine zusätzliche Verbindung zu Klugheit und elaborierter Sprache ziehen;191 aber was die Funktion angeht, gilt leider auch: „Viel mehr, als daß der U. unter Yggdrasill liegt, erfahren wir auch aus den anderen [nicht-eddischen, KRMT] Quellen nicht“.192 Als allergrundsätzlichste Konnotationen können daher mit Sicherheit zumindest das Übernatürliche und Götternähe sowie damit verbundene Autorität vorausgesetzt werden; und wohl auch eine gewisse Alltagsenthobenheit. Schon im Namen der Quelle findet sich weiterhin eine Assoziation mit den Nornen begründet,

185 Hollander 1932, S. 285 f.; LF/T, S. 170. Heusler (1917, S. 215) deutet den Begriff wörtlich als „Menschen“ und bringt es mit „dem allgemeinen Verhalten des Spruchweisen“ in Verbindung, sodass mit Háva hǫllo at der (zweite) Übergang ins „fingierte“ Götterreich erfolgt (auch der Urdquell wäre nach ihm als metaphorisch zu deuten). 186 In diesem Kontext liest Hollander (1932, S. 286) ráðom nicht als Rat, sondern, ähnlich wie bei runischen Kontexten, als „some ‚interpretation‘ of whatever they speak about“. 187 Müllenhoff 1908, S. 253. 188 Sturtevant 1911, S. 53. 189 Sturtevant 1911, S. 54. 190 Gylfaginning Kap. 15 (Lorenz 1984, S. 233). 191 Gegebenenfalls auch Weissagung. Diese Verbindungen liegen insbesondere dann nahe, wenn, wie de Vries annimmt, Urdquell, Mímirsquell und Hvergelmir ein und dieselbe Stelle bezeichnen (de Vries AR 2, S. 380), aber auch die Vǫluspá nennt die Nornen, die vom Urdquell kommen, margs vitandi (Str. 20,2). 192 Simek 1995, S. 440.



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welcher vor allem bei der Darstellung in der Gylfaginning193 größerer Raum gegeben wird. Dieser Bezug erfährt in den Hávamál aber keine weitere Ausgestaltung: Nornen treten im gesamten Gedicht nicht auf. Sturtevants Annahme, der Quell „as such may be conceived as the ‚Hall of the High One (Hávahǫllu í) since Odin is the chief member of the assembly and its speaker upon this occasion“,194 würde zwar das Problem des Doppelorts lösen, wirkt aber wenig plausibel, da der Urdquell bereits für sich existiert, in derselben – übernatürlichen – Sphäre angesiedelt ist und Odin eine eigene Halle besitzt. Nachdem sich hier kein ausdrückliches Anzeichen dafür findet, dass in Str. 111 eine (thingartige) Versammlung vorliegt, noch, dass eine Übereinstimmung oder Metaphorisierung intendiert ist, gibt es nicht viel Grund, davon auszugehen, dass es sich bei der Háva hǫll nicht um die reguläre Halle des Göttervaters handelt und der Urdquell einen separaten Platz darstellt. Auch die durch das Metrum gezogenen Bedeutungsgrenzen unterstützen darüber hinaus eine Trennung zwischen Gebäude und Gewässer. In einem Strophenfragment Eilífr Goðrúnarsons195 wird Christus am Urdquell platziert, was jüngst Poole anführte, um Schlüsse über den Status des Thuls im Rahmen der Christianisierung zu ziehen: „[…] from which we can infer that Eilífr was operating with a baptised version of þulr-dom analogous to that seen in Rǫgnvaldr and Bjarni“.196 Die zwei Situationen sind allerdings nicht gänzlich vergleichbar: Über Christus, den ramr konungr […] Róms,197 heißt es nur, er sitze  – möglicherweise Setbergs  – südlich am Urdquell (Setbergs kveða sitja […] sunnr at Urðar brunni198). Die Bedeutung von setberg („a seat-formed or saddle-formed rock or crag“199) in diesem Kontext ist strittig, gleichermaßen dessen Zuordnung. Tendenziell wurde der Begriff meist eher als Kenningbestandteil denn als Objekt oder Lokalisierung des Königs angesehen;200 Poole selbst schlägt allerdings Letzteres vor und setzt als grammatikalische Parallele für sitja mit Ortsgenitiv mehrere Verse der Rigsþula an201 sowie inhaltlich für die Haltung (montem […] sedisset) und Schicksalsverbindung die Darstellung der Bergpredigt.202

193 Kap. 15 f. (Lorenz 1984, S. 233 f. und 255 f.). 194 Sturtevant 1911, S. 54. 195 Skjald B1, S. 144. 196 Poole 2010, S. 249. 197 Skjald B1, S. 144. 198 Skjald B1, S. 144. 199 C/V, S. 524. 200 S. Poole 2004, S. 124 ff. für eine ausführlichere Diskussion des Fragments und der Deutungsansätze. 201 Poole 2004, S. 127. 202 Poole 2004, S. 127 f. Wobei die Bergpredigt sich jedoch auf das Schicksal allgemeiner, durch be-

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In jedem Fall, und unabhängig von den Deutungsschwierigkeiten, ist in dem Bruchstück weder von einem (traditionellen?) stóll, noch einem þulr die Rede; nur eventuell von einem metaphorisierten Sitzplatz unbekannter Provenienz und Natur (was damit dann wieder ein wenig dem ähnelt, wie Christus bei der Bergpredigt auch nur montem sedisset). Das scheint mir darauf hinzuweisen, dass es vor allen Dingen der Ort ist, der hier im Zentrum steht, nicht aber die Funktion oder Rolle. Der Urdquell selbst ist, wie erwähnt, mit Weisheit, Schicksal und Gerichtsbarkeit verbunden und liegt ferner in der übernatürlichen Sphäre. All diese Aspekte lassen sich nahtlos auf die Christusfigur übertragen: als Sohn Gottes allwissend und allweise und spätestens am jüngsten Tag Richter über die Menschen und deren Schicksal.203 Man mag hier vielleicht an einen Prozess ähnlich der translatio imperii denken, in dem ein etablierter, mit Macht und Legitimation konnotierter Ort im Nachhinein als Ursprung einer Herrschergeneration konstruiert wird, um so Anspruch und Autorität zu stützen; politisch von Troja und Rom in den Norden, bei Eilífr dann eventuell geistlich von den mythischen Asen und Urd hin zum weißen Christ. Der Quell fungierte hier somit als Metaphorisierung und Bekräftigung der Allmacht des neuen Gottes.204 Im Gegenzug stellen sich mir þulr-Stuhl und Urdquell in den Hávamál eher als Mittel zur situativen Authentifizierung des der Strophe folgenden Texts dar  – erst im Kleinen, dann im Großen: þylia þular stóli á und þylia Urðar brunni at. Die Figur bleibt, im Gegensatz zu Eilífrs König Roms, offen und der þular stóll ein Element, welches nur in den Hávamál spezifisch eingebracht wird und daher wohl auch nicht durchgängig vorausgesetzt werden kann: Obwohl auch der þulr-Stuhl an sich in der Forschung hohe Beachtung gefunden hat, ist, wie Dronke feststellt, dies das einzige Mal, „the þulr is […] placed on a stóll ([…] unless he is Óðinn, 105/2)“.205 Sie erkennt in der gesamten Strophe dabei ein hauptsächlich archaisierendes Moment,206 was auch bedeutet, dass gerade bei ebendieser nicht selten als Anzeichen für eine kultische Verortung des þulr ange-

stimmte Züge oder Handlungen charakterisierter Menschengruppen bezieht, die im Nachleben Erhöhung erfahren werden. Das von den Nornen beherrschte Schicksal hingegen ist individuellerer, unmittelbarerer Natur. 203 Da sich die Welt nach der mittelalterlich-christlichen Lehre im sechsten und damit letzten Zeitalter vor dem Jüngsten Gericht befand, ließe sich die Präsenz Christi am Urdquell sogar ganz konkret als eine Art synkretistische Darstellung des göttlichen Wartens oder der Vorbereitung auf die baldige Richterfunktion lesen (oder eine Vermischung solcher literarischer Motive ohne besonderen Glaubensbezug). 204 Pooles Deutung in der Untersuchung des Fragments ist sehr ähnlich: „Perhaps these difficulties can be resoved if we postulate that the poet regarded Christ as the divinity who stood to supplant the Norns if the new religion were generally adopted. Traditionally the Norns determined human lives; now Christ (through his Divine Wisdom and Providence) will take over that role“ (Poole 2004, S. 127). 205 Dronke 2011, S. 58 f. 206 „a gleaning and an adapting of well-known old material in order to create an archaic atmo­ sphere, rather than insight into anything new to the record“ (Dronke 2011, S. 59).



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sehenen Passage nach ihrem tatsächlichen Indizienwert gefragt werden muss (eine gewisse Ähnlichkeit besteht hier somit zur Problematik der narrativen Bedeutung von Skaldenstrophen in Sagaprosa oder auch Sagas als historischer Quelle für die Landnahmezeit). Das von der Autorin erwähnte andere Mal, dass in den Hávamál ein Stuhl eine Rolle spielt – Odin erhielt von Gunnlǫð einen Zug vom Dichtermet gullnom stóli á (Str. 105,2) – zeigt dabei einen deutlich abweichenden Kontext: Urdquell und Thul treten nicht auf (Odin erscheint in der Gunnlǫð-Episode auch nicht als fim­ bulþulr), die Halle gehört einem gänzlich anderen Wesen weder göttlichen noch nornischen Ursprungs, und Verbalinteraktion findet in der Szene ebenfalls nicht statt. Aus diesem Grund scheint mir der Stuhl in der Gunnlǫð-Episode kaum mehr denn ein Zeichen für die überaus ehrenvolle, großzügige Behandlung Odins im Haus des reichen und mächtigen Vaters der Riesin darzustellen. Eine Behandlung, die der Ase, wie er anschließt, der Spenderin übel vergalt (Str. 105,4 f.). Ebendieser Kontrast wird dabei durch die Konnotation des „goldenen“ Stuhls noch gesteigert.207 Geht man vom Begriff stóll allein aus, scheint sich darüber hinaus mit dem zweiten spezifisch benannten Sitz in der Edda, dem „Richterstuhl“208 (rǫcstóll) der Asen in der Vǫluspá (Str. 6,2, Str. 9,2, Str. 23,2, Str. 25,2), eine Art weitere Parallele aufzutun: Beide Stühle sind – setzt man voraus, dass sich ein Richterstuhl auch am Richtplatz befindet  – am Urdquell gelagert; beide stehen mit exponierter, quasi­ offizieller Sprache in Verbindung, und die Bezeichnung stóll ist ebenfalls identisch. Dennoch hat der Stuhl des Thuls mit dem rǫcstóll wohl wenig gemein, denn bei dem Asensitz handelt es sich nicht um ein Einzelstück (rǫcstóla, Vǫluspá Str. 6,2 etc.). Hier ist also die Versammlung und der Austausch Mehrerer und Gleichrangiger impliziert, nicht aber die Proklamation eines Einzelnen, und damit besitzt der Stuhl eine merklich andere Funktion. 5.3.1.3 Exkurs: Der þulr-Stuhl und die Rímur Ein weiteres Vorkommen eines solchen expliziten þulr-Stuhls scheint indes in den Griplur (III Str. 15 bzw. Str. 16209) vorzuliegen, wo der Hügelunhold Þráinn dem Helden Hrómundr, welcher in dessen Grab eingedrungen ist, auf seine Herausforderung antwortet, er wolle sich von dessen Treiben (dem Einsammeln der im Grab vorhandenen Schätze) nicht stören lassen, i. e. angreifen, wenn jener „diesen þulr“, also ihn selbst,

207 Hierzu auch Dronke (2011, S. 39), die den Sitz als „golden throne“ übersetzt: „such fond munificence so cruelly repaid“. 208 Krause 2011, S. 12; LF/T, S. 219: „judgment or council seat“. 209 Jónssons spätere Sammlung (Rímnasafn) führt im dritten Teil der Griplur eine zusätzliche Anfangsstrophe auf, in der sich der Vortragende an das Publikum wendet. In der früheren Ausgabe (Rímnaflokkar) fehlt diese. Die Strophennummern werden im Folgenden daher bei Griplur III immer für beide Ausgaben angegeben, mit der älteren zuerst (beim zweiten Teil korrespondieren die Strophenzahlen).

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nur auf seinem Stuhl in Frieden lasse: ef þú létir þenna þul / þegja á stóli sínum.210 Hier tritt also ebenfalls die Kombination von þulr und Stuhl auf; auch das „Schweigen“ wirkt markant und gemahnt an andere Belege, sodass sich somit gleich zwei Aspekte finden lassen, die nicht selten als wichtige Elemente des þulr eingestuft werden. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass der Stuhl weniger mit dem þulr als vielmehr mit der Figur bzw. allgemein dem draugr assoziiert sein muss: Nicht nur erscheint die Sitzgelegenheit schon weit vor dem anderen Begriff (Griplur II Str. 51,1 sowie III Str. 10 bzw. 11), auch in der Sagaparallele Hrómundar saga Gripsso­ nar – die freilich auf den Rímur beruht211 – ist zwar noch von einem Stuhl die Rede, nicht jedoch von einem þulr; dieser wird dort vom Reflexivpronomen der in indirekter Rede gehaltenen Aussage ersetzt: ef hann léti sik kyrran sitja á stóli sínum.212 Die mit der Figur assoziierte Ruhe des þegja findet dort also eine Parallele im kyrran sitja, sodass es naheliegt, Ersteres, auch im Lichte des þreyja der Rímnasafn-Edition, weniger als „schweigen“ denn als „stillsitzen“ im Sinne von „ruhig sein/in Ruhe“ zu lesen. Für eine Übersetzung, welche þegja spezifisch als „nicht sprechen“ deutet und dies dann noch in etwa einen rituellen Kontext stellt, gibt es hingegen weniger Grund: Erstens war Þráinn die ganze Zeit zuvor in jeder Hinsicht reglos und der Held hatte ihn zunächst einmal aggressiv verbal anzugehen und damit zu „erwecken“. Zweitens muss der Untote selbst nach seiner Antwort und dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, erst noch weiter zur Auseinandersetzung provoziert werden. Drittens ist auch der Kampf, der sich entspinnt, in seiner Natur eminent physisch: Ein Ringkampf (glíma213), bei dem Worte und Wissen absolut nebensächlich sind, ja nicht einmal Waffen Gebrauch finden, sondern einzig körperliches Geschick und rohe Gewalt über den Ausgang bestimmen, und in dem erst spät, im Angesicht einer drohenden Niederlage der draugr übernatürliche Kräfte einsetzt. Ein Konflikt in dieser Form entspricht einem Mann, welcher zu Lebzeiten nicht nur Herrscher und magisch begabt, sondern auch ein Berserker214 gewesen war und eine mächtige Waffe215 – also ein Mittel für den physischen Kampf – besessen hatte.

210 Rímnaflokkar, S. 27. Wörtlich: „wenn du diesen þulr auf seinem Stuhle schweigen/ruhig sein lässt“. In Jónssons späterer Sammlung (Rímnasafn 1, S. 372) erscheint der Griplur-Vers als ef þú létir þenna þul  / þreyja á stóli sínum, wobei er dieses Verb im Rímur-Ordbog (S. 410) ähnlich þegja als „ruhig sein“, „Ruhe haben“ im Sinne von „verbleiben“ deutet. 211 Simek 2007, S. 196. 212 Hrómundar saga Gripssonar Kap. 4 (Ásmundarson 1886, S. 328). 213 Griplur III Str. 29,4 bzw. 30,4. 214 Griplur II Str. 39,2 sowie Hrómundar saga Gripssonar Kap. 3 (Ásmundarson 1886, S. 327): Þráinn, sem vann Valland, ok var þar konungr, berserkr mikill ok sterkr, fullr galdra, hann var settr í haug með sverði, herklæðum ok fé miklu. Hier wird also bereits von der sitzenden Haltung gesprochen. Dies erfolgt in den Griplur III in Str. 7,3 bzw. 8,3: hann var settr í hauginn lífs. 215 Griplur III Str. 9 bzw. 10 sowie die spätere Beschreibung ab III Str. 52 bzw. 53.



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Der magische Aspekt ist nichtsdestotrotz bei Þráinn ausgesprochen prominent: So wird der Unhold bereits zu Beginn des Abenteuers als zauberkundig beschrieben,216 was auch bei seinen Siegen eine Rolle spielte, und verwandelt sich dann im Kampf in einen Troll (tók […] at tryllast in der Saga217 und tryllaz in den Rímur (Griplur III Str. 34,4 bzw. 35,4)).218 In den Griplur wird zudem bereits zuvor von den „Nägeln“, d. h. Klauen, des Hügelunholds gesprochen, mit denen er Kämpfer zerreißt; gleichermaßen wird seine Zaubermacht referenziert.219 Die unmenschliche Natur der Figur ist also früh etabliert; ebenfalls die Art der Auseinandersetzung, nämlich eine körperliche (und nicht etwa eine mit verbalmagischen Komponenten, wie die Bezeichnung þulr vielleicht vermuten lassen würde). Þráinn selbst spricht dann zwar beim dem eigentlichen Kampf vorausgehenden Wortgefecht vom „Zauberkampf“ (galdraímu220), was dann aber im Anschluss stattfindet ist das in Saga und Rímur direkt so benannte glíma, also körperliches Kräftemessen, was schließlich in die Gestaltwandlung mündet. Damit erfolgt dieser Zauber spät, nämlich erst, nachdem Hrómundr den draugr das erste Mal niedergerungen hat. Und bemerkenswerterweise kommt der Unhold bei seiner Wandlung ebenfalls völlig ohne magische Worte und dezidiert performativen Auftritt aus (der Zauber „ereignet“ sich quasi plötzlich und wirkt dabei teilweise fast schon unpersönlich221), wohingegen die Figur des þulr, wie in dieser Arbeit ersichtlich wird, eine meist deutliche Nähe zu beiden dieser Bereiche aufweist. Noch viel weniger können „kultische“ Aspekte in der Szene ausgemacht werden, und der Kampf bleibt somit weiterhin  – trotz neuer Gestalt  – eine physische Auseinandersetzung.222 Nebenbei ist auch die Verbindung von þulr, wirkmächtiger Aktivität und Stuhl hier dem Auftreten in den Hávamál genau entgegengesetzt: Nicht auf dem Sitz findet die maßgebliche Tat statt, sondern Þráinn muss erst aufstehen und diesen verlassen, ehe er zu handeln vermag. Auch ganz abgesehen davon sind allgemein magische Fähigkeiten unter Hügelunholden, die einen Schatz bewachen, ein verbreitetes Phänomen223 und damit

216 Etwa in Griplur II Str. 50,3 (beide Ausgaben): þenna galdra stjóra (Rímnasafn I, S. 368); in der Saga z. B. vann alt með göldrum (Hrómundar saga Gripssonar Kap. 4, Ásmundarson 1886, S. 328). 217 Kap. 4 (Ásmundarson 1886, S. 329). 218 Letzteres kommt allerdings zumindest in der Saga nicht ganz unvorhergesehen, denn dort warnt Vóli vor Hrómundrs Besuch davor, den Hügel zu betreten, da der „Troll“ alle anwesenden 60 Männer umbringen werde (Engi mundi vilja gefa líf sitt við því; eru hér nú sex tigir manna, ok man tröll þetta öllum dauða veita (Hrómundar saga Gripssonar Kap. 4, Ásmundarson 1886, S. 328)). Und auch in den Rímur ist die Gefahr durch die finstere Gestalt noch abschreckend genug, dass nur der Protagonist die Konfrontation wagt. 219 fekk hann rekka neglum stángað/stangað (Griplur II Str. 41,3) und fyldr og tryldr er Þráinn af kyngi (Griplur II Str. 42,2). 220 Griplur III Str. 29,2 bzw. 30,2. 221 Þá varð hár af hræva daun / haugrinn upp að fyllast/fyllaz (Griplur III Str. 34,1 f. bzw. 35,1 f.). 222 Griplur III Str. 36 ff. bzw. 37 ff. 223 „These mound-dwellers are rarely aggressive outside of their own mound, which they defend

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nicht spezifisch auf eine als þulr bezeichnete Figur beschränkt. Hrómundr versetzt gegenüber Þráinn in seiner Reaktion auf den Zauber dann auch ekki ertú sem menskur maðr, / má þig fella eingi/engi,224 nimmt also auf dessen übernatürliche Zähigkeit im Kampf Bezug, die hier offenbar seiner Natur (ekki […] sem menskur maðr), nicht aber einer Rolle oder Funktion zugeschrieben wird. Nach Vogt wäre indes ebendiese Verbindung zwischen þulr und magischem Wirken einer der Beweise für die Funktion des Thuls als Zauberer.225 Gerade angesichts der weiteren Darstellung dieses Autors ist dann aber zu fragen, wieso nur Þráinn, also nur dieser eine draugr so bezeichnet wird (und das auch nur ein einziges Mal, während die Zauberkunst wie auch sein Berserkertum mehrfach erwähnt werden; gleiches gilt für die Bezeichnung blámaðr226). Nicht unerheblich ist dabei auch, dass es sich bei den Rímur um ausgesprochen späte Dichtung handelt und somit der Abstand zu einer etwaigen kultischen Betätigung, die eine solche Bezeichnung angestoßen haben könnte, noch größer ist, als etwa beim draugr der Grettis saga, die zumindest etwas früher datiert werden kann.227 Auch die Grettisrímur/Grettlur, die zur gleichen Zeit entstanden wie die Griplur,228 zeichnen, wie Vogt selbst feststellt, den dortigen draugr (mehrfach) als zauberkundig.229 Sie nennen ihn aber nirgends þulr, wie auch sonst – auch in keiner anderen Textgattung – ein weiteres gemeinsames Auftreten dieser beiden Begriffe überliefert ist.

with foul-smelling witchcraft. We mainly meet them in tales of grave robbery where the hero, courageous and fearless, tries to get riches from the ghost“ (Jakobsson 2011, S. 299). 224 Griplur III Str. 35,3 f. bzw. 36,3 f. 225 Vogt 1927, S. 72 f. 226 So zum Beispiel in Griplur II Str. 39,3; Str. 44,2; Str. 54,1. Eine Bezeichnung, die, wie das RímurOrdbog (S. 30) notiert, eigentlich schwarze Menschen denotiert, in den Griplur aber auch für den Berserker gebraucht wird. C/V stellt im Gegenzug fest, dass blámenn „in romances […] are mentioned as a kind of ‚berserkers‘“ (C/V, S. 67), sodass möglicherweise eine solche Verbindung zugrunde liegt, zumal der draugr auch mehrfach als dunkel beschrieben wird, etwa in Griplur II Str. 51: blár sem hel. 227 Simek 2007, S. 126 (Grettis saga „frühestens 1320–30 (wenn nicht noch deutlich später)“) sowie S. 130 (Griplur „um 1400“). Auch Vogts Begründung mittels eines möglicherweise aus der zugrunde liegenden, nicht überlieferten *Hrómundar saga übernommenen skaldischen Verses, welcher so eine ältere Basis schafft und damit einen Brückenschlag zum von ihm gleichfalls als Zauberer gedeuteten þulr Reginn aus den Fáfnismál ermöglicht (Vogt 1927, S. 74), vermag nicht zu überzeugen: Seine Argumentation beruht unter anderem auf einer Reihe verketteter spekulativer Thesen die häufig nicht weiter begründet werden („haugbúavísur“, aus Dróttkvættperspektive betrachtet und dann aufgrund von skothending als Indiz für hohes Alter und damit möglicherweise einem Ursprung in der verlorenen *Hromundar saga gedeutet, in Kombination mit der Reorganisation des  – zugegebenermaßen teils etwas disparat wirkenden – Plots im Bereich der Reaktion des draugr auf den aggressiven Eindringling (Vogt 1927, S. 73 f.)). Er beruft sich bei der Annahme von vísur überdies auf Kölbing (Vogt 1927, S. 73), welcher in seiner Untersuchung in der Tat Einflüsse feststellt, diese aber ebenfalls nicht groß untermauert und zudem auch weniger im direkten Umfeld dieser Passage erkennt (Kölbing 1876, insb. S. 159–173). 228 Simek 2007, S. 127. 229 Vogt 1927, S. 73.



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Þráinns weitere Worte nach dem Kampf sind ebenfalls nicht auf Magie, sondern auf seine kriegerischen Qualitäten und die seiner Waffe gerichtet.230 Eine in irgendeiner Form geistige oder gar rituell-kultische Charakterisierung erfolgt also auch hinterher trotz der Gestaltwandlung nicht.231 Natürlich ist absolut nicht auszuschließen, dass der Verfasser der Griplur den Begriff þulr als Synonym für „Zauberer“ benutzte  – dies liegt sogar vergleichsweise nahe, nachdem dort auch eine weitere magisch konnotierte Figur mit diesem Begriff belegt wird (dazu später mehr). Dass dieser Gebrauch aber auf traditionelle magische oder gar Kultfunktionen zurückging, dürfte angesichts von Alter (und damit zeitlichem Abstand zum ursprünglichen, historischen Wirken), Kontext wie auch fehlender Verbreitung einer solchen Kombination selbst bei inhaltlich ähnlichen Figuren sehr unwahrscheinlich sein. Zurück zur Frage des Stuhls und dessen Kontext, finden sich auch sonst draugar mit Sitzgelegenheiten assoziiert: So sitzt Kárr inn gamli in der Grettis saga auf einem Stuhl in seinem Grabhügel ([…] fann, at þar sat maðr á stóli, Kap. 18232), und der tote Aran in der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana steht von seinem Sitz dort (Aran sat á stóli í öllum herklæðum233) auf, um die von seinem Schwurbruder mit in den Hügel gebrachten Tiere zu verschlingen.234 In seiner Untersuchung der altnordischen Untoten vermerkt auch Jakobsson: „various mound-dwellers sit on a chair“,235 ja, selbst Vogt notiert: „Der draugr auf seinem Stuhl gehört der ältesten Schicht an“.236 Zusätzlich könnte außerdem in Þráinns Sitzgelegenheit hineinspielen, dass der Berserker vor seinem Tod eine Herrscherposition innehatte, sodass hier möglicherweise nicht nur ein Stuhl konnotiert ist, sondern (s)ein Thron237 bzw. die dadurch verkörperte Stellung. Im Ganzen gibt es also strukturell ebenso wie inhaltlich und motivisch deutlich mehr Gründe für das Vorhandensein des Stuhls unabhängig von der Bezeichnung als Thul,

230 Griplur III Str. 50 und 52 ff. bzw. 51 und 53 ff. 231 Hrómundr nennt ihn zwar galdra kallinn, also Zauberer (Griplur III Str. 51,2 bzw. 52,2), dies aber im Rahmen einer Frage nach dessen Siegen mit dem Schwert, welches der Held nun gewonnen hat. Es geht also auch hier nicht um ein spezifisches Verhalten und die magische Qualität von draugar wurde bereits erwähnt. Auch hier wären überdies sogar metrische Einwirkungen denkbar, denn galdra trägt in diesem Vers die Alliteration. Der Unhold selbst (von dem ja die Bezeichnung þulr stammt) enthält sich dabei jeder Anspielung auf die Zauberkraft. 232 Jónsson 1936, S. 58. 233 Ásmundarson 1889, S. 285. 234 Kap. 7, Ásmundarson 1889, S. 285: Enn hina fyrstu nótt reis Aran af stólinum, ok drap haukinn ok hundinn ok át hvórtveggja. Aðra nótt stóð Aran upp, ok drap hestinn ok sundraði, ok tók á tannagangi miklum, ok át hestinn, svá blóð fell um kjafta honum; bauð hann Ásmundi til matar með sér. 235 Jakobsson 2011, S. 296. 236 Vogt 1927, S. 74. 237 Entsprechend übersetzt Kershaw (1921, S. 66): „seated on a throne“.

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als dass es mit dem Terminus in direktem Zusammenhang stünde. Nicht zuletzt auch, weil der Begriff þulr in der korrespondierenden Saga überhaupt nicht erscheint. Was das Vorkommen des Terminus in den Griplur angeht, kann einerseits nicht ausgeschlossen werden, dass auch metrische Gesichtspunkte  – hier das vorausgehende dul (Griplur III Str. 15,1 bzw. 16,1) sowie der Endreim der Ríma – für die Wahl von þulr eine Rolle gespielt haben. Andererseits fügt sich das sich entspinnende Streitgespräch zwischen Hrómundr und Þráinn einigermaßen gut in das Muster des þulr im Kontext des flyting bzw. allgemeiner des Wortkampfs ein, welches bereits in anderer Form in den Fáfnismál, Vafþrúðnismál und im Beowulf zu finden war. Wobei hier eindeutig der Kampf das Ziel ist, also der Dialog nicht als Ersatz fungiert, (die gegenseitige Provokation dann auch den Kampf über weitergeführt wird) und der Antagonist sich anfangs als überaus widerwillig erweist.238 Dieses Motiv des aggressiven Verbalaustauschs erscheint sowohl in der Hrómundar saga Gripssonar als auch in den Griplur und böte damit, wenigstens auf dieser Basis, mehr Anknüpfungspunkte für eine solche Bezeichnung als der Stuhl. Um zu den Hávamál zurückzukehren, kann zum Kontext dieses Belegs festgestellt werden: Eine Figur in der (möglicherweise nur temporären) Rolle eines þulr verkündet, nun von dessen Sitz, welcher sich an einem der wichtigen und heiligen Plätze im Zentrum der mythischen Welt befindet, zu sprechen. Mit der Autorität von Ort, Position und Rolle will er verbreiten, was er bei und in Odins Halle von den Göttern sprechen hörte, über rúnar und ráð. Letzterer Begriff führt dabei direkt die folgenden Loddfáfnismál ein, während rúnar ebenso als Hinweis auf das spätere Rúnatal wie auch zusammenfassend für Rúna- und Ljóðatal gelesen werden kann. Der hohe Ton wird dabei in der Folgestrophe nicht mehr beibehalten und die vielen Elemente der Str. 111, welche Parallelen oder Vorläufer in anderen Teilen des Textes besitzen, lassen vermuten, dass die Strophe auf deren Basis und damit später komponiert wurde; zumal sie auch strukturell und inhaltlich in einer Brückenposition steht und als konkrete, explizite Überleitung fungiert. Wer der Sprecher der Strophe letztendlich ist  – externer Dichter, interne, separate Stimme oder gar der angesprochene Loddfáfnir der folgenden Verse, bleibt weiterhin unklar; allein um Odin selbst kann es sich dabei kaum handeln. Als einzige Sicherheit über die Figur bleibt somit, dass sie hier  – im Sprechen, aber nicht notwendigerweise bereits im Horchen bei Hávis Halle – als þulr auftritt, Wissen besitzt, und dies auch verkündet.

238 Auch Kölbing notiert bei der Abfolge der Ereignisse zu Hrómundr, er „reizt den riesen, sich diese plünderung nicht ruhig gefallen zu lassen“ (Kölbing 1876, S. 167). In diesem Fall hat man es also mit einem feindseligen eggja zu tun.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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5.3.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 111 5.3.2.1 Text(re-)produktion Originalität Bei der Frage nach der Originalität der Äußerungen des þulr kann man diesmal auf die figureigenen Angaben zurückgreifen: Sie kann nicht groß sein, denn er trägt hier, wie er ankündigt, nur vor, was er sagen hörte. Wenn in seine Worte eigene Schöpfung hineinspielt (was aufgrund der Einleitung nicht sehr wahrscheinlich ist), dürfte sie sich aufgrund dieser Motivation auf marginale, fast schon unwillkürliche Änderungen beim Versuch der korrekten Wiedergabe beschränken. Der þulr agiert hier also quasi als Medium oder prototypisches Kulturgedächtnis, wie es für weise Männer präfeudaler Gesellschaften nicht unüblich ist. Zentral für seinen Text ist der fremden Quellen entstammende Inhalt (nicht aber der sekundäre Schöpfungsprozess), der durch Ursprungsinstanz und die Umstände der Verkündung seinen Stellenwert erhält. Etwas anders verhält es sich mit dem Rahmen, also Str. 111, sowie – davon ausgehend, dass die letzte Strophe ebenfalls noch vom þulr gesprochen wird239 – Str. 164. Hier liegen individuelle und damit eigenschöpferische Äußerungen vor, die freilich in einen bestimmten funktionalen Kontext gestellt sind. Der weitaus überwiegende Teil der Texte des þulr besteht damit aus Reproduktion. Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung, Publikum) Stilistik. Str. 111 zeigt eine vor allem strukturell-metrisch aufwändige Gestaltung: Die auftaktartige Redeverkündung in Str. 111,1 greift der letzte Vers, Str. 111,11, wieder auf und führt sie als ausdrückliche Eröffnung fort: Was grundsätzlich zu rezitieren

239 Theoretisch möglich wäre zwar ebenfalls, dass die abschließende Strophe noch als Aussage Odins oder als nicht mehr mit irgendeiner Figur des Gedichts direkt verbundene Abschlussbemerkung des Redaktors zu gelten hat. Dabei ist der Ase als Urheber allerdings eher unwahrscheinlich, denn mit Háva hǫllo í besteht immerhin eine direkte Verbindung zu früheren Teilen des Werks (Str. 109 und Str. 111) und in den beiden anderen Strophen dürfte Odin, wie diskutiert, nicht der Sprecher sein. Inwieweit andererseits überhaupt die Notwendigkeit für einen separaten, direkten Autor-/Redaktorkommentar besteht, wenn bereits mit der kaum greifbaren Figur aus Str. 111 eine neutrale, ja körperlose Stimme existiert, die als Sprachrohr des Redaktors ebenso geeignet wäre, scheint mir durchaus zweifelhaft und – ohne Anzeichen für eine solche Konstruktion im Text – unnötig verkomplizierend. Angesichts dessen, dass der Sprecher in Str. 111 den þulr-Stuhl erklimmt, würde ich es für schlüssig halten, die strukturierenden bzw. auktorialen Kommentare des Texts ebendieser Figur zuzuschreiben und weiterhin davon auszugehen, dass sie in Str. 111 die Position eines þulr ausdrücklich einnimmt und diese bis zum Ende nicht mehr verlässt (dabei aber größtenteils reproduziert, also hinter die berichteten Inhalte zurücktritt). Das problematische ec der Str. 143 lässt sich unter solchen Umständen als ein kurzes Aufblitzen des Berichtenden (Menschen?) zwischen Odin und den anderen Runenritzern begreifen, was zumindest das andernfalls bestehende Problem der asischen Doppelerwähnung lösen würde (mehr dazu im entsprechenden Unterkapitel).

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oder vorzutragen war (þylia), soll nun konkret, nach Nennung von Thema und Ort, berichtet werden; beide Verse formen somit den Rahmen (bzw. die Ringstruktur) der Strophe. Dieser anfänglichen Vortragsproklamation folgen anschließend, bis zu einschließlich dem vorletzten Vers, fast ausnahmslos mehr oder weniger konsequent durchgeführte Parallelismen: Stuhl und Urdquell, die anaphorischen sá ec oc-Verse, deren Struktur vom folgenden hlýdda ec noch einmal teilweise aufgenommen wird. In ihrer Detailstruktur nur grob parallel laufen rúnar- und ráðom-Verse; bezieht man aber die Metrik, insbesondere das geringere Gewicht der schwach und unbetonten Silben mit ein, ist auch hier eine Korrespondenz (rúnar […] dœma – ráðom þǫgðo) mit zusätzlicher Litotes in Str. 111,8 erkennbar. Die zwei Háva hǫllo-Verse wirken schließlich wie eine Reprise der bisher eingesetzten Stilmittel: Anapher, Parallelismus und überdies der exakt syntaktisch gleiche Aufbau wie die anfänglichen Ortsbezeichnungen: Genitivattribut – Ort – Präposition. Da hier, im Gegensatz zu Stuhl und Quell, mit dem Verspaar nicht auch die Sinneinheit abgeschlossen ist,240 entwickeln die beiden Helminge mit ihrer Kombination aus Kürze und betonter Anfangs- und Endsilbe einen wuchtigen, fast schon stakkatoartigen Effekt und bereiten damit auch rhythmisch den Boden für die Kulmination der Strophe: die Über- und Ausleitung hin zur Verkündung der vernommene Götterrede. Inhaltlich lässt sich ebenfalls eine entsprechende Steigerung feststellen: vom Allgemeinen (þylia) ins Konkrete (rúnar, ráð, segia svá), vom Menschen allein im Mythischen zum Gott in dessen Reich, und letztlich zu übermenschlicher Weisheit. Entsprechend passend fügt sich der von Jackson angesetzte Übergang ins galdralag ein, welchen sie durch die Repetition in der Zeile Háva hǫllo at, / Háva hǫllo í erreicht sieht.241 Ins Auge fällt im weiteren Textverlauf vor allem sowohl die Formel der Loddfáfnis­ mál als auch die Listenzählung des Ljóðatal; beides ist jedoch bereits für Weisheitsdichtung per se nicht untypisch.242 Angesichts dessen, dass der þulr hier (ausweislich eigener Auskunft) berichtet und nicht selbst schöpferisch tätig ist, muss zudem davon ausgegangen werden, dass diese Stilmittel – wie auch weitere in den Texten befindliche – bereits in der Quelle vorhanden waren und von ihm nur reproduziert werden; zumal ohnehin nicht genügend Basismaterial existiert, um eventuelle Eigenschöpfungen von der reinen Wiedergabe zu trennen. Ähnlich elaboriert zeigt sich Str. 164 und bietet allgemeine Wiederholung (Háva, Str. 164,1 f.), einen Parallelismus mit Epipher und durch Negativierung (teil-)variiertem Adjektiv (Str. 164,3 f.), anaphorischen Parallelismus (Str. 164,5 f.) und einen Teilparallelismus dieser Struktur mit Verb statt Adjektiv in Kopfstellung in Str. 164,7. Der

240 „Paar“ bezieht sich hier vor allem auf den semantischen Gehalt im Sinne einer Lokalisation, da es sich beim ersten um Halb- und Vollzeile handelt, beim zweiten um zwei Halbzeilen. 241 Jackson 2000, S. 185. 242 Jackson 1998, S. 338.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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letzte Vers nimmt die heill-Passage wieder auf, weicht aber durch den geänderten Numerus von der etablierten sá er-Phrase ab. Er kann daher ebenfalls als – allerdings etwas gröberer – Parallelismus angesehen werden, der dem vorherigen Muster noch teilweise (Wortart, Wortfolge, Aussage), aber nicht mehr restlos entspricht. Gleichzeitig scheint in qveðin im ersten und hlýddo243 im letzten Vers dieser Strophe erneut, wie in Str. 111, ein inhaltlicher Rahmen auf, in dem diesmal das Gesprochene schließlich vom Gehörten vervollständigt wird. Somit tritt der þulr bei diesem Beleg durchaus auch als kreative Instanz (in der Belegstrophe selbst sowie der Ausleitung) in Erscheinung. Eine Bewertung seiner Schöpfung erfolgt allerdings nicht: Da das Publikum eine stumme Folie darstellt, dessen Reaktion nirgends erwähnt ist, und auch der Vortragende selbst sich nicht zur Qualität seiner Worte äußert,244 findet eine explizite Beurteilung durch beide Instanzen nicht statt. Inhaltlich lässt sich der doppelte Verweis auf Odins Halle in Str. 111 und 164 im Rahmen einer Bewertung eventuell auch als Zeichen für die bzw. Bekräftigung der Wichtigkeit und Macht der vermittelten Informationen durch den Sprecher selbst deuten, die damit vermutlich auch einen Einfluss auf die kunstvolle Gestaltung ausüben konnte. Ein stärkerer Werkscharakter lässt sich hier ebenfalls annehmen: Ungeachtet der vielen kompositorischen Cruces dienen Str. 111 und Str. 164 nicht nur strukturell als Markierungen für Anfang und Ende einer dadurch abgesetzten Textpassage, sondern werden sogar vom Sprecher selbst ausdrücklich so gestaltet. Erschwerend wirken hier allerdings zwei Faktoren: Einmal ist der Inhalt des gesamten Abschnitts gemessen am heyrða ec segia svá des þulr eigentlich, wie angeführt, nur eine Wiedergabe (die Ein- und Ausleitungsstrophen ausgenommen). Und andererseits lässt sich gerade das Problem der Positionierung von Str. 111, und damit die Frage nach dem damit referenzierten Textumfang, nicht völlig ignorieren – aber auch nicht befriedigend lösen. Nichtsdestotrotz kann, selbst wenn Str. 111 erst nachträglich zum Zwecke der Strukturierung in das Werk eingebracht wurde, nicht bestritten werden, dass die intratextuelle Strophenfunktion die eines eröffnenden Rahmenerzählers ist; wo auch immer sie ursprünglich gestanden haben mag. Der Zweck bleibt also gleich. Auf dieser Basis, und ausgehend vom überlieferten Text, lässt sich daher dem Text ein gewisser Werkscharakter nicht absprechen. Allerdings bleibt der eigentliche

243 Müllenhoff sieht dies Verb darüber hinaus – und durchaus plausibel –, insbesondere angesichts anderer Korrespondenzen mit früheren Textpassagen wie v. a. dem Wunsch nach Nutzen für den Hörer/Empfänger, der einen Teil der Ratsformel spiegelt (nióta mundo), ebenfalls als Anknüpfungspunkt zu Str. 111 (Müllenhoff 1908, S. 253). 244 Selbst wenn man sá er qvað, sá er kann oder sá er nam als Selbstreferenz deuten wollte, enthalten die Verse keine Wertung der Worte, sondern stellen nur den Bezug zum Inhalt der Lehrstrophen her.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

„künstlerische“ oder werkschöpferische Prozess auf zwei Strophen beschränkt. Zwei Strophen, deren stärker funktional bestimmter Aussage dazu aufgrund ihres Zwecks weniger Gewicht beizumessen ist als den restlichen, während der Gesamtinhalt  – und damit auch die abgrenzbaren Einheiten Loddfáfnismál, Rúnatal und Ljóðatal – größtenteils aus reiner Reproduktion besteht. In diesem Sinne handelte es sich beim Bereich von Str. 111 bis Str. 164 um ein konservierendes Werk, nicht aber um eines, dessen Grundgedanke der künstlerische Ausdruck ist. Sprecherorientierung und Publikum. Die Schlussstrophe 164 ist es dann auch, in der das Publikum des þulr zum ersten Mal deutlicher erkennbar wird. Zuvor ist es im Gedicht nicht beschrieben oder auch nur genannt. Aus diesem Grunde adressiert Str. 111 mittelbar entweder eine implizite, in der Nähe des Stuhles angesiedelte Zuhörerschaft, oder direkt die Rezipienten des Gedichts an sich; in beiden Fällen aber mehrere Personen, wie der Numerus in Str. 164,8 zeigt. Ob diese menschlicher oder anderer Natur sind, bleibt hingegen, ebenso wie beim Sprecher, eher unklar. Allerdings legt die säkulare, auf die Menschenwelt bezogene Natur der Ratschläge vor allem der Loddfáfnismál, vielleicht auch der Nutzen für die ýta sonom in Str. 164,3,245 nahe, dass es sich bei den Zuhörern tatsächlich hauptsächlich um Menschen handelt. Was dann wiederum auf eine Wendung an textexternes Publikum in Str. 111 hinzuweisen scheint, denn der Urdquell liegt nicht im menschlichen Reich. Anders ist dies zu interpretieren, deutet man Stuhl und Ort weniger inhaltlich denn als einleitende Formel für die Beschaffenheit der nun folgenden Äußerungen, also etwa als Indikator für eine bestimmte Art Informationen oder Text, in diesem Fall dann esoterisch-mythisch aufgeladene Weisheitsdichtung. Das „andere“ Publikum der Str. 111, welches Dronke als „great, clamorous gathering in the High One’s Hall“ bezeichnet,246 spielt für diese Auswertung indes keine Rolle, da der þulr in dieser Szene nicht aktiv als Textproduzent, sondern nur als Rezipient beteiligt ist. Performative Aspekte Angesichts des einleitenden Verses kann man bei diesem Beleg eindeutig vom Vorliegen einer Performanz ausgehen: Nicht nur das Mál er at, welches eine neue Situation einführt, sondern vor allem auch die Verbindung von þylia und þulr-Stuhl sowie entschiedene Verlagerung in übermenschliche Gefilde heben das Folgende über die Alltagsrede hinaus. Die an den Stuhl anschließende Passage führt, vom Quell über die sá ec oc …-Verse bis zum heyrða ec segia svá, stetig steigernd, hinein in die mythische Situation, von Runen und Weisheiten zur Halle Odins und letztlich der abschließen-

245 Wobei die im Folgevers geäußerte Nutzlosigkeit für die Söhne der Riesen dann auch als Indiz dafür gelesen werden könnte, dass auch solche Wesen unter der Zuhörerschaft sind. Es ist daher wohl sinnvoller, hier von einer allgemeinen Formel und keinem konkreten Situationsbezug auszugehen. 246 Dronke 2011, S. 44.



Der Thul in Hávamál-Strophe 111 

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den Einleitung der folgenden Verse. Dem Wissen wird somit die Bühne bereitet und dessen Schauplatz ausdrücklich vorgestellt. Kabell spricht hier gar explizit von einer Inszenierung.247 Gleichermaßen lässt sich Str. 164 im performativen Sinne als „Abmoderation“ begreifen  – als explizite Ausleitung aus dem bis dahin (re-)produzierten Text mit Zeit- (nú, Str. 164,1), Text-Orts- (Háva hǫllo í, Str. 164,2) und Handlungsbezug (eru […] qveðin, Str. 164,1) sowie einer indirekten Hinwendung zu diversen an Text und Rezeption Beteiligten: zu Sprecher (sá er qvað, Str. 164,5), Wissendem (sá er kann, Str. 164,6), Einzelerwerber (sá er nam, Str. 164,7) und schließlich dem Rezipientenkreis ebendieser Performanz (þeirs hlýddo, Str. 164,8). Hier findet also erneut ein Übergang von textinternen zu textexternen Aspekten statt, der damit als bewegungstechnisches Gegenstück zur einleitenden Str. 111 gelten kann. Situationskontext Die Situation des þulr zeigt sich bei diesem Beleg ziemlich eindeutig und in jeder Beziehung herausgestellt: Der mythische Ort der Verkündung und die Reden des Gottes in seiner höchsteigenen Halle lassen keine weltlichen Konnotationen aufkommen. Durch Mál er at und den Sitz, den Kontext, der für den gehobenen Ton zuständig ist, erhält das Folgende einen exponierten, formalisierten und vielleicht gar zeremoniellen Charakter und die Sprecherfigur gewinnt dadurch hochgradig an Autorität, die dann in der letzten Strophe und besonders den Segenswünschen248 noch einmal aufgegriffen und ausgeübt wird. Rolle und Autorität Ebendiese Autorität dürfte beim hiesigen Beleg – des Mál er at wegen – allerdings temporär oder zumindest temporär erhöht sein. Auch lässt sich ihr aufgrund des Stuhls ein gewisser offizieller, wenn auch nicht unbedingt institutionalisierter Charakter zusprechen. Dies gilt, gleich, ob der þulr nun grundsätzlich zeremoniell von (s)einem Stuhl aus sprach oder aber der Sitz hier – eventuell vergleichbar Dronkes „golden throne“ in der Gunnlǫð-Episode  – eine eher allgemeine, situative Ehrung konnotiert.249 Nachdem die Schlussstrophe denselben autoritativ-performativen Duktus bemüht, lässt sich auch am Ausklang nicht ersehen, ob sich der Status nach Abschluss der Verkündung wieder verringert. Die dort bis in die letzte Zeile durchgehaltenen Segenswünsche in Kombination mit dem Verweis auf Háva hǫllo í, das

247 Kabell 1979, S. 36. 248 LF/T, S. 106. 249 Also die Figur nicht erhöht wird, weil sie „vom þulr-Stuhl“ aus spricht, sondern der þulr (weiter?) erhöht wird, weil er hier von einem ihm spezifisch zugewiesenen („Ehren-“)Stuhl aus spricht – wobei anhand der Formulierung Ersteres doch etwas näherliegen dürfte.

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mythische Personal und der Wunsch, der Empfänger möge einen Nutzen davon haben – vielleicht zugleich mit einer impliziten Gebrauchsaufforderung –, gegenüber den Rezipienten legen dabei nahe, dass in dieser Strophe noch keine maßgebliche Veränderung des Status des Sprechers stattfindet. 5.3.2.2 Informations(re-)produktion Informationsarten An durch den Charakter reproduzierten Informationen finden sich bei diesem Beleg vor allem weltlich-gnomische in den Loddfáfnismál sowie mythische bzw. magische in Rúnatal und Ljóðatal. Gerade bei den beiden letzteren Stücken lässt sich außerdem eine kultische Funktion diskutieren. Im Rahmen dieser Besprechung haben gleichwohl auch diese Elemente als Teile reportierter Odinsrede zu gelten, sodass der þulr damit nicht in direkter, individueller Verbindung steht. Damit lassen sich die tatsächlich von dieser Figur vorgebrachten Informationsarten auf das mythische Zuhören in der Halle des Hohen reduzieren; alle im Anschluss vorgebrachten Informationen stammen hingegen vom Asen selbst. Die ausleitende Str. 164 bietet dann, mit dem erneuten Verweis auf Odins Halle sowie den heill-Formeln, nochmals all diese (Sub-)Konnotationen; möglicherweise bei den Formeln gar mit ritueller Komponente, die aber nicht weiter ausgeführt wird, sodass diese sich in jedem Fall auf die Implikation beschränkt. Mit dem Verweis auf die „Riesensöhne“ ergibt sich hier auch noch einmal ein direkter mythologischer Bezug, während die Menschensöhne und der Abschluss eher in die weltliche Richtung tendieren. Informationsvermittlung wie in den vorherigen Strophen stellt dies aber nicht mehr im eigentlichen Sinne dar. Exkurs: Das Hängeritual nach Adam von Bremen Die Diskussion um die Vermittlung religiös-kultischer Funktionen geht vor allem davon aus, dass im Rúnatal ein authentisches Ritual beschrieben wird, welches in der vorchristlichen Religion Skandinaviens praktiziert wurde, was aufgrund der Parallelen zu Adam von Bremens Schilderungen der Hängeopfer nicht ganz unwahrscheinlich wirkt.250 Allerdings weist Sundqvist darauf hin, dass bei den dort beschriebenen Opferungen im Gegensatz zum Rúnatal kein spezifischer Baum involviert ist, sondern ein heiliger Hain, und der einzige heilige Baum, der bei Adam genannt wird, mit Opfern nicht in Verbindung steht.251 Wichtiger noch betont Böldl darüber hinaus den fraglichen Quellenwert der Texte des mittelalterlichen Autors, nachdem eben­jener

250 Im folgenden Unterkapitel wird noch einmal auf die Frage eingegangen werden, da das Ritual auch für die Deutung von Str. 134 einen hohen Stellenwert besitzt. 251 Sundqvist 2009, S. 653. Für einen Überblick über die Forschungslage zu dieser Episode, welche hier nicht weiter besprochen werden soll, s. Sundqvist 2009, S. 650 ff.



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in der jüngeren Forschung aufgrund seiner politischen Interessen, teils fehlender Präsenz an den Orten der Berichterstattung und topisch-stereotyper Schilderungen mittlerweile bezweifelt wird.252 Dies führt Böldl bezüglich der Menschen­opfer­szene im heiligen Hain zur Schlussfolgerung: Es handelt sich bei Adams Behauptung also offensichtlich um ein kirchenpropagandistisches Element ohne Aussagewert für die Opferideologie der mittelschwedischen Stämme an der Schwelle zur Christianisierung. Vom Ensemble der Lebewesen, welche die Opfermaterie beim Uppsala-Kult bildeten, hatte Adam keine umfassenden Vorstellungen (er erwähnt ex omni animante nur Hunde und Pferde); diese Unbestimmtheit mag es ihm erleichtert haben, gleich seinem Vorgänger Thietmar auch Menschen dazuzurechnen.253

Dazu kämen, so der Autor, vermutlich auch bestimmte stereotype Vorstellungen des christlichen Autors über Menschen- und Tierwelt außerhalb der bekannten Reiche, i. e. deren Vermischung, welche sich in der mittelalterlichen Literatur auch in Ungeheuern und Wundervölkern niederschlage und sich „aus der Entgrenzung und wechselseitigen Durchdringung von Menschen und Natursphäre“254 ergebe. Sein Fazit ist daher: Das Motiv des kombinierten Menschen- und Tieropfers wäre demnach doppelt semantisiert: als antipagane Polemik zum einen, als Markierung des ontologischen Status des Heiden andererseits, dem mit der Einsicht in die Gottesebenbildlichkeit des Menschen auch die in die wesentliche Differenz zwischen sich selbst und dem Tierreich fehlt.255

Wenn es sich bei der Darstellung im Rúnatal also um ein auch historisch praktiziertes Opferritual handeln sollte, kann die Uppsala-Szene in jedem Fall nicht als geeignetes Beweismittel gelten. Dabei bestreitet Böldl keineswegs die Existenz von Menschenopfern bei germanischen bzw. skandinavischen Stämmen an sich, auch nicht in Bezug zu den Schriften Adams,256 sondern nur spezifisch diese Darstellung durch den mittelalterlichen Autor. Angesichts dieser Unsicherheit scheint es sinnvoller, andere historische Zeugnisse zur Stützung einer solchen These heranzuziehen, etwa den von Böldl ebenfalls erwähnten gotischen Bildstein Lärbro St Hammars I, dessen Szenario bisher zwar nicht vollständig erschlossen werden konnte, aber angesichts von Fundort und begleitender Symbolik mit einiger Wahrscheinlichkeit zumindest „als eine[r] rituell definierte[n] Tötungsszene“ angesehen werden kann.257 Eine etwas andere Lösung,

252 Böldl 2005, S. 198 ff. 253 Böldl 2005, S. 202. 254 Böldl 2005, S. 202. 255 Böldl 2005, S. 203. 256 Böldl 2005, S. 201. 257 Böldl 2005, S. 204 f. S. zur Darstellung auch das von Bonnetain erwähnte Textilfragment aus dem

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die die Idee des Opferrituals in Str. 138 bewahrt, aber die des letalen Menschen­opfers bestreitet, bietet wiederum z. B. van Hamel in Form einer nicht-tödlichen Odins­ weihe.258 Wie auch immer die Szene letztlich interpretiert werden muss, zusätzliche Voraussetzung für eine derartige Deutung als Ritual ist in jedem Fall, dass der þulr als unmittelbarer Sprecher dieser Strophen fungiert. In diesem Fall handelte es sich dann um den einzigen Beleg, in dem eine solche Verbindung von þulr und Kult bzw. Religion einigermaßen begründet erscheint. Zu erkennen ist aber auch, dass dafür einige nicht beweisbare Annahmen vorausgesetzt werden müssen. Hier bietet dann vor allem die Selbstbezeichnung des Sprechers in Str. 138,5 f.: oc gefinn Óðni, / siálfr siálfom mér, in Kombination mit der Tatsache, dass in Str. 138–141 nichts darauf hinweist, dass es sich dort nicht um Odin, sondern um einen ihn (rituell) verkörpernden Menschen handelt, wenig Grund, eine solche Theorie der der göttlichen Stimme vorzuziehen. Ansonsten lässt diese Szene auch ohne größere Schwierigkeiten die Deutung zu, dass kein Bezug zu einer konkreten Kulthandlung des þulr vorliegt, sondern weiterhin, wie schon in den Loddfáfnismál, nur (s)ein Bericht der Aussagen Odins in dessen Halle, was den þulr wiederum zum neutralen, nicht involvierten Medium macht und die Frage nach kultischer Beteiligung gar weiter nicht aufkommen lässt. Genau genommen erfordert der kultische Ansatz also einen Bruch in der Kontinuität eines (substanzlosen) Sprechers, der kaum einmal in Erscheinung tritt und von Str. 112 bis Str. 163 Odins Worte verkündet, zugunsten eines direkten, längeren und hochindividuellen Berichts des þulr. Zugegebenermaßen gäbe es für eine Abspaltung von Odin eine gewisse Parallele, vor allem in Str. 143, wo Odin und ec allem Anschein nach zwei unterschiedliche Figuren denotieren. Nicht nur der weitaus größere Umfang,259 sondern gerade die ausdrückliche Selbstreferenz in Str. 138 stellen aber ein gewichtiges Gegenargument zu dieser These dar, sodass es einleuchtender erscheint, Odin auch dort weiterhin als Sprecher anzunehmen. Damit greift hier also erneut die Dop-

Osebergfund, auf dem eine Szene mit im Baum aufgehängten Personen abgebildet ist (Bonnetain 2007, S. 15) sowie, cum grano salis, Flecks (1971a, S. 123 ff., insb. S. 126) Beschreibung und Diskussion rituellen Hängens (allerdings in invertierter Position, mit dem Kopf nach unten) sowie des Baumes (Fleck 1971b, S. 386 ff.). 258 van Hamel 1932–33, S. 263 f.; aber auch Böldl bringt eine solche Möglichkeit im Zusammenhang mit Opferbeschreibungen auf Gotland ins Spiel (Böldl 2005, S. 205). 259 Der ausdrückliche Selbstbezug in Str. 143 umfasst nur eine Zeile und scheint durch die vorangehenden Kombinationen von Volk und Ritzernamen ausgelöst, denen der Sprecher dann die eigene Person (für die Menschen?) beigesellt. Er unterscheidet sich damit stark von der strophenlangen Erzählung des Runenerwerbs. (In Str. 142, die möglicherweise ebenfalls nicht von Odin geäußert wird, wird keine Verbindung zum Sprecher-Ich hergestellt.) Gleiches gilt auch für die der Verkündung vorausgehende Str. 110: eine kurze Strophe mit einzeiliger Selbsterwähnung und zusätzlich kritischer Distanzierung vom Asen.



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pelstruktur: Der textinterne þulr wirkt als textinterner Tradent, der (ab Str. 112) das weitergibt, was in der Halle des Hohen gesagt wurde und damit die primäre Tradierung darstellt. Setzt man trotz allem eine solch kultische Handlung der Figur an, besteht noch die Möglichkeit, dass Heimlichkeit beim ursprünglichen Erwerb der Kenntnisse mit hineinspielt (abhängig von der Interpretation von hlýða). Es wäre dann allerdings das erste Mal, dass der þulr so stark über die Rezeption und nicht die Produktion von Texten jeglicher Natur gezeichnet würde. Auch stünde diese Verstohlenheit mit den anderen Darstellungen in Konflikt (immer vorausgesetzt, dieser Status weist eine enge Verbindung zu den Handlungen der Figur im jeweiligen Passus auf), in denen der þulr praktisch ausschließlich öffentlich agiert und meistens auch verbal in Erscheinung tritt. Informationskontext Die Äußerungen des þulr lassen sich in ihrem Charakter kaum persönlich nennen, wenn man heyrða ec segia svá nicht ausdrücklich als auf den rein individuellen Bereich begrenzte Erfahrung interpretiert  – allerdings etwas, dem Umfeld und Stil stark widersprechen. Noch sind sie in irgendeiner Form kompetitiv; nicht zuletzt, weil dafür auch ein Gegenüber fehlt. Vielmehr handelt es sich hier um eine dem Alltagsleben enthobene Äußerung, die explizit der Verbreitung (Mál er at þylia […] heyrða ec segia svá260) dient. Auch die letzte Strophe kann nicht anders als unpersönlich-offiziell angesehen werden; mehr noch sogar als Str. 111: Nicht einmal das Sprecher-ec scheint im Abschluss noch einmal auf; und neben der direkten Verbindung zu den verkündeten Worten zeigen sich auch die heill, sá er-Verse formelhaft sowie erneut auf den Text bezogen. Sie lassen die Stimme dahinter somit gänzlich verschwinden – ein Individuum ist nicht erkennbar. Tradierung Funktional agiert der þulr in diesem Fall eindeutig, und auch nach eigenem Verlauten, als Tradent. Nicht nur die einleitende Strophe, sondern auch Str. 164, in welcher Nutznießer aufgeführt, Wünsche für Sprecher und Wissende (Eingeweihte?) gesprochen und der Wunsch geäußert wird, dass die Informationen eine Hilfe für den Erwerber bringen mögen (nióti, sá er nam261), fügen sich in diesen Kontext ein. Somit erhält die Äußerung einen stark formalisierten und ebenso offiziellen Beiklang. Genau genommen wirkt der þulr in seiner Wiedergabe sogar „nur“ als Sekundärtradent, denn was

260 Fettdruck von mir [KRMT]. 261 Die Ähnlichkeit zur Ratsformel der Loddfáfnismál, die man als weiteres Bindeglied ansehen kann, notierte, wie erwähnt, bereits Müllenhoff (1908, S. 253).

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die Figur verbreitet, ist die Reproduktion der Äußerungen eines anderen, primären Vermittlers (der „belauschte“ Sprecher in der Halle). Validierung Bei diesem Beleg findet eine Validierung der Rede der Figur nicht per se statt. Allerdings sind die Inhalte durch den Urheber (Odin, eventuell auch einer der anderen Götter) und den Ort bereits höchstinstanzlich authentifiziert sowie mittels des Stuhls und dessen Platzes auch im Mund seines „Stellvertreters“ legitimiert. Es handelt sich daher um eine Proklamation, an deren Wahrhaftigkeit im dortigen Kontext kein Zweifel besteht. Folglich kann man hier von einer doppelten, nämlich sowohl einer situativen, durch den Ort, als auch einer Vorabvalidierung über Quelle und Textart (Götterwort) sprechen. Str. 164 lässt sich ebenfalls in einen solchen Kontext stellen; hier liegt quasi eine implizite retrospektive Validierung durch den Sprecher vor, welcher sich selbst dabei interessanterweise durch die Passivsetzung völlig aus dem Spiel lässt und einzig auf den Text abhebt:262 Mit der Bekräftigung Nú ero Háva mál qveðin, / Háva hǫllo í werden noch einmal unangreifbare Quelle und Ort affirmiert und die innewohnende Macht des reproduzierten Textes im Anschluss weiterentwickelt (wesensabhängige Nützlichkeit); auch die ausleitenden Segenswünsche gegenüber den diversen Beteiligten bekräftigen implizit nochmals den Stellenwert der vorausgegangenen Strophen und zehren damit sozusagen von der Macht der göttlichen Lehren.

5.3.3 Fazit Trotz seiner partiellen Schattenhaftigkeit tritt der þulr in Str. 111 daher in mehreren Punkten klar hervor: als Initiator und Gestalter öffentlicher, formalisierter Sprache, als bewusster, und bewusst performativer Tradent, als zu einem gewissen Grad und in begrenztem Umfeld (Rahmen) kreative Instanz sowie als – vielleicht nur temporärer  – Inhaber und Ausübender hoher Autorität mit einem entsprechenden Insigne, dem Stuhl. Die von ihm vermittelten Inhalte sind unterschiedlicher Natur, aber stets mit Odin verbunden: Lehre, Bericht, geheimes Wissen. Und obwohl keine direkte, ausdrückliche Validierung seiner Äußerungen erfolgt und sein Auftreten von keinerlei Kompetitivität begleitet ist, ist die Gültigkeit seiner Inhalte bereits durch die Quelle bestätigt. Auch der Ort, von dem aus der þulr agiert, verspricht Wahrhaftigkeit, ohne dass er selbst sich aktiv um deren Ausweis bemühen müsste.

262 Aus diesem Grunde wäre ein Begriff wie „Selbstvalidierung“ nicht ganz zutreffend, da ebendieses „Selbst“ in Str. 164 keine Rolle spielt.

Der Thul in Hávamál-Strophe 134 



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Zu einem großen Teil entspricht die Figur daher hier dem Bild eines menschlichen Mediums, das seine Individualität nur in die begleitenden Elemente, nicht aber in die tradierten Texte einbringt, was gleichzeitig einen wichtigen Faktor für deren Verlässlichkeit darstellt. Diese Rolle des Mediums nimmt der þulr in Str. 111 expressis verbis an und behält sie bis hin in die letzte Strophe bei. Das Individuum verblasst so bis zur Unsichtbarkeit hinter der Botschaft und ihrer Transmission.263

5.4 Der Thul in Hávamál-Strophe 134 Ráðomc þér, Loddfáfnir, enn þú ráð nemir, nióta mundo, ef þú nemr, þér muno góð, ef þú getr: at három þul hlæðu aldregi! opt er gott, þat er gamlir qveða; opt ór scǫrpom belg scilin orð koma, þeim er hangir með hám oc scollir með scrám oc váfir með vilmǫgom.

5.4.1 Kontext der Belegstrophe Diese Strophe ist Bestandteil der Loddfáfnismál, also der Reden des lyrischen IchSprechers an ein Gegenüber namens Loddfáfnir, welche sich von Str. 112 bis Str. 137 erstrecken. Strukturell handelt es sich bei Str. 134 um die am wenigsten umstrittene der vier Hávamál-Belegstrophen264 – es gibt keine Hinweise darauf, dass sie in ihrem Umfeld einen Fremdkörper darstellt, wie es etwa bei Str. 80 den Anschein hat; auch thematisch und stilistisch ist sie ausreichend kongruent mit Vorgänger- und Folgestrophen, um einen solchen Eindruck nicht aufkommen zu lassen. Metrisch allerdings zeigt die Strophe Abweichungen: Mit 12 Zeilen kann sie, gemessen an den anderen Strophen dieses Hávamál-Teils, als hypertroph gelten,265 und beim Inhalt besteht ebenfalls einiger Diskussionsbedarf.

263 Damit wäre dieser Beleg auch derjenige aus den Hávamál, der der Bedeutung der neuisländischen Form þulur am nächsten kommt. 264 Zum Aufbau, einer eventuellen Kombination bereits vorliegender Wissensstrophen mit der Ratsformel – was bereits de Vries für wahrscheinlich hielt (de Vries AL I, S. 52 und 1934, S. 24 f.) –, Irregularitäten und diesbezüglichen Ansätze, s. Evans 1986, S. 25 ff. 265 Nur die Abschlussstrophe 137 ist mit 15 Zeilen noch länger; die häufigste Strophenlänge in den Loddfáfnismál beträgt 7 Zeilen, etwas weniger, aber immer noch oft vertreten sind Strophen mit 6 und 10 Zeilen. Dazu je eine mit 8, 9, 12 (Str. 134) und 15. Eine Analyse der Loddfáfnismál-Strophen auf

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Stilistisch setzen sich die Loddfáfnismál vor allem durch die in nahezu266 jeder Strophe wiederkehrende formelhafte Einleitung267 mit ihrem zentralen Element ráðab, welche gleichzeitig diesen Textteil als Wissensdichtung kennzeichnet. Einen weiteren Gegensatz zum „Alten Sittengedicht“, dem eine solch stereotype Einleitung fehlt, bildet die Tatsache, dass das Gegenüber durchgängig mittels þú und im Imperativ268 angesprochen wird – von See nennt dies den „eindringlich mahnende[n] Ton“269 – und dadurch eine höhere Kraft entwickelt als der unverbindlicher-allgemeiner gehaltene erste Hávamál-Teil. Über den namensgebenden Charakter der Loddfáfnismál ist ebenso wenig bekannt, wie über die genaue Bedeutung seines Namens:270 Lindquist271 bringt ihn mit dt. „Laffe“ in Verbindung; andere Deutungen gehen von einer an den Wurmnamen der eddischen Sigurdlieder angelehnten Kreation aus, von einer Tricksterbezeichnung,272 von sexueller Konnotation und von noch anderen Ursprüngen.273 Auch hier hat sich jedoch keine Theorie durchgesetzt (ebenso wenig wie die darauf beruhenden Deutungen des Werks). In Anbetracht der diversen unterschiedlichen Inhalte, Thematiken und Ratschläge, welche sich in den Loddfáfnismál vereinen und die teils merklich vom Inhalt der Str. 134 differieren, wirkt es naheliegend, dass die (eventuelle) Bedeutung des Namens für eine bestimmte Strophe und damit den Gegenstand spezifisch der hiesigen Untersuchung keinen unmittelbar zentralen Stellenwert besitzt, weshalb diese Frage im Weiteren beiseite gestellt werden soll.274 Ob wiederum das ec der Ratsformel und das der Str. 111 (also der Sprecher vom þulr-Stuhl) deckungsgleich sind, ist ebenfalls nicht völlig zu klären und hängt nicht

Basis des ljóðaháttr findet sich bei de Vries (1934, S. 24 f.), der anmerkt, dass nur ein kleiner Teil der Strophen diesem Versmaß gänzlich entspricht. 266 Ausnahmen bilden Str. 123, Str. 124, Str. 133 und Str. 136. In den meisten Fällen lassen sich diese Strophen als direkt anschließende Fortsetzungen des vorausgegangenen Verses bzw. Gedankens begreifen. S. dazu auch Evans 1986, S. 25, welcher noch darauf hinweist, dass im Codex Regius zwei dieser Kurzstrophen nicht einmal als eindeutig abgetrennte Verse markiert sind. 267 Ráðomc þér, Loddfáfnir, / enn þú ráð nemir, nióta mundo, ef þú nemr, þér muno góð, ef þú getr: 268 Evans 1986, S. 25. 269 von See 1972a, S. 60. 270 „Who this Loddfáfnir can be is unknown to us: he is mentioned nowhere outside the poem“ (Evans 1986, S. 7). 271 Lindquist 1956, S. 32. 272 Sturtevant 1949, S. 488 f. 273 S. dazu und zu weiteren Interpretationen Evans 1986, S. 125 sowie La Farge, RGA 18, S. 541 ff. 274 Ähnlich auch de Vries (1934, S. 24), der den fehlenden Zusammenhang zwischen Formelstrophen und eigentlichen Lehrstrophen im Kontext der (dadurch konterkarierten) mnemotechnischen Funktion anführt: „[…] er de som mnemoteknisk Hjælpemiddel værdiløse, fordi Strofens Halvdel er uden nogensomhelst formel Sammenhæng med de første Indledningslinjer og saaledes let kan forveksles med en anden“.



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zuletzt davon ab, ob Str. 111 als genuiner und am jetzigen Ort korrekt platzierter Bestandteil des Texts anzusehen ist. Da in diesem Fall die Stimme der Str. 111 aus den bei deren Besprechung genannten Gründen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Odin sein wird und die Passage überdies Teil des äußeren Rahmens für die folgenden Weisungen ist, dürfte eine Identität von Rahmensprecher und Rats-ec eher unwahrscheinlich sein. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass das lyrische Ich ab Str. 112 praktisch durchgängig275 dieselbe Figur referenziert (und damit spätestens im Rúnatal als Odin zu erkennen wäre), wogegen wenig spricht. Weitere Details bleiben bei beiden Charakteren im Dunkeln. Inhaltlich ähneln die Loddfáfnismál, trotz der erwähnten Unterschiede, am ehesten dem „Alten Sittengedicht“. Auch hier sind die vermittelten Informationen größtenteils mundan (und konfligieren für moderne Leser nicht selten erheblich mit dem gehobenen, entrückten Ton aus Str. 111). Weiterhin finden sich parallele Themen, etwa allgemeine Wachsamkeit, Vorsicht bei Frauenbeziehungen, Verhalten auf Reisen, Gewinn und Pflege von Freundschaften oder Umgang mit übel bzw. feindlich gesinnten Menschen; andererseits aber auch deutliche Unterschiede, so beim Stellenwert von Zauber und Magie.276 Auch Klugheit in Gebaren und Rede wird in den Loddfáfnismál mehrfach thematisiert, so beispielsweise in Str. 122 oder Str. 125. Ein hoher oder mystisch-magischer Ton wie in den folgenden Abschnitten Rúnatal und Ljóðatal hingegen ist nicht erkennbar.277

275 D. h. zumindest bis einschließlich des Opferberichts. 276 Evans (1986, S. 27) weist darauf hin, dass das „Alte Sittengedicht“ sich mehr mit dem Gast beschäftigt, die Loddfáfnismál hingegen die Pflichten des Gastgebers betonen. Auch seien die „Frauenregeln“ nur dann Thema des ersten Hávamál-Teils, wenn man die Strophen nach Str. 77 dazuzähle. Zauber und Magie treten dazu ausschließlich in den Loddfáfnismál auf („completely absent from the Gnomic Poem“). 277 Larrington erkennt hier dennoch eine „constant perception of the supernatural as an invisible dimension parallel with human activity, an awareness of the unseen world which is absent from the Gnomic Poem“ (Larrington 1993, S. 51). Ein übernatürliches Element ist sicherlich in den Strophen, welche sich mit Zauber beschäftigen, vorhanden; der Großteil der Loddfáfnismál fällt gleichwohl nicht darunter. Die Autorin weitet hier offenbar den Einfluss der (wenigen) „Zauberstrophen“ auf das Umfeld aus: „The hint of the supernatural [in Str. 112, KRMT] is made more explicit in the next verses“, wobei der „hint“ darin bestehe, dass die Gefahr beim nächtlichen Hinausgehen in Str. 112 nicht von Menschen drohe, sondern von „strange, other-world forces [that] make the darkness their home“ (Larrington 1993, S. 51) – eine Deutung, die plausibel erscheint, deren exkludierender Charakter am Text allerdings nicht festzumachen ist. Die Str. 112–114 folgenden Strophen sind dann großteilig thematisch so weltlich (nächste Strophe mit eindeutig magischem Bezug ist Str. 129; die frühere, eventuell durch Aberglauben motivierte Str. 126 löst Larrington selbst als Idiom auf (Larrington 1993, S. 56)), dass sogar die Autorin bei ihren Deutungen längere Zeit nicht mehr auf eine übernatürliche Komponente zurückkommt (Larrington 1993, S. 52 ff.). Eine solche als durchgängiges Charakteristikum anzusehen, scheint mir daher nicht ausreichend begründet zu sein, auch wenn Larrington Str. 129 als Zeichen der „increasing prominence“ dieses Elements bezeichnet (Larrington 1993, S. 56).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Die Vielzahl an Lesarten für den gesamten Textabschnitt ist nicht unwesentlich der Unklarheit über die Gestalt Loddfáfnir geschuldet. Von seriöser Wissenslehre über Spottgedicht oder þulr-Rat mit schwankartig-possenhaften Elementen278 bis hin zu einem Initiationsritus für einen jungen Herrscher279 reichen die Interpretationsansätze für dieses Teilstück; entsprechend tendieren die Deutungen ebenfalls zur Breite, statt auf ein bestimmtes Bild zusammenzulaufen. Die „neutral-ernsthafte“ Lesart als Wissensgedicht  – außerhalb eines spezifisch situationsbezogenen soziokulturellen Kontexts wie es etwa eine Prinzen- oder Königsweihe wäre – scheint mir im Ganzen noch die wenigsten Zusatzkonstrukte zu benötigen, sodass sie hier im Folgenden die Basis bilden soll.280 Selbstverständlich schließt eine solche Lesart nicht aus, dass humoristische, rituelle, sexuelle und andere Elemente an manchen Stellen im Text enthalten sind; sie treten aber in meinen Augen nicht als durchgängig tragender Ton hervor. Wie problematisch es sein kann, diesen überhaupt festzulegen, lässt sich an der zu erörternden Belegstrophe selbst gut illustrieren. Str. 134 geht eine der formellosen, sechszeiligen „Kurzstrophen“ voraus, welche ohne größere Schwierigkeiten als Fortsetzung ihres eigenen Vorgängers Str. 132 gelesen werden kann, wie es u. a. auch Evans281 (zumindest was die ersten drei Zeilen von Str. 133 angeht) tut. Thematisch lässt sich von dieser „Doppelstrophe“ aus bereits der Bogen zu einem der Hauptelemente von Str. 134 schlagen, nämlich der Warnung vor (ungerechtfertigtem) Hohn und Spott gegenüber einem Menschen. Letzterer ist in Str. 132 als Gast bzw. Fahrender (gangandi) ausgeführt, und Loddfáfnir wird davon abgeraten, sich ihm gegenüber abfällig zu verhalten. In Str. 133 findet sich der InnenAußen-Gegensatz jener Konstellation dann ebenso wieder wie die Unbekanntheitsthematik, welche allerdings beide in Str. 132 nur implizit enthalten sind (der Fahrende ist dem zukünftigen Gastgeber noch ein Unbekannter, und der Reisende kommt von außen, während der Gastgeber zwangsläufig das „Innen“ vertritt). Das Fazit von Str. 133, dass kein Mensch nur Schlechtes in sich trage, also immer auch etwa Gutes oder Wertvolles aufweise, wird dann in Str. 134 am „grauen Thul“ exemplarisch ausgearbeitet; die Warnung vor ungerechtfertigtem Spott bleibt durchgängig bestehen.282

278 Müllenhoff 1908, S. 267. 279 Jackson 1994, S. 33–57. 280 Die Frage, ob die gnomischen Verse ursprünglich unabhängig von der Einleitungsformel existiert haben – eine Theorie, die nicht selten vertreten wird (s. z. B. von See 1972a, S. 60; Evans 1986, S. 26 f.) und auch durchaus schlüssig anmutet – , ist hier praktisch irrelevant, da Str. 134 auch ohne die Formel seine zentrale Aussage und den Kontext des þulr beibehält. 281 Evans 1986, S. 25 f. 282 Heusler, welcher die Strophenfolge 132–136 nicht in der überlieferten Form akzeptiert (Heusler 1917, S. 219 f.), sieht die Beziehung ähnlich, nämlich, dass es sich in den Strophen um die „Behandlung des bedürftigen Fremden, im besonderen des alten Spruchweisen“ handele (Heusler 1917, S. 219). Dass der þulr in irgendeiner Form bedürftig oder fremd ist, geht aus Str. 134 aber genau genommen nicht hervor.

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Eine noch wichtigere Verbindung zwischen den beiden Komplexen besteht überdies im explizit untersagten Gelächter, welches in Str. 132 als Substantiv (hlátr), in Str. 134 als Verb (hlæja) auftritt und in beiden Fällen mit dem verabsolutierenden aldregi kombiniert ist. Die entsprechenden beiden Halbzeilen (Str. 132,5 f. und Str. 134,5 f.) sind auch strukturell sehr ähnlich: Nicht nur stehen sie innerhalb ihrer Strophen an derselben Position, sondern rhythmisch stimmen die beiden sechsten Zeilen vollständig überein (Str. 132,5 ist hingegen zwei – unbetonte – Silben länger als Str. 134,5). Vor allem aber sind die Zeilen auch fast komplett gleich aufgebaut (in Klammern gesetzte Zeichen stehen für nur in Str. 132 auftretende Silben): at

  ()

 ()

/



-þú aldregi

wobei in beiden Fällen das letzte  einen einsilbigen Verbstamm denotiert. Eine Parallele fällt hier also durchaus ins Auge. Demgemäß besteht die Verbindung zwischen Str. 134 und den beiden Vorgängerstrophen auf mehreren Ebenen. Str. 135 führt dann die Gastthematik weiter, empfiehlt  – nein, befiehlt  – Gastfreundschaft und Großzügigkeit, gute Behandlung. Gewissermaßen parallel zu Str. 132 f. tritt auch hier die Kombination „Formelstrophe – (formellose) Kurzstrophe“ auf und gleichermaßen führt Str. 136 den Gedanken von Str. 135 fort: offene Tür und Freigebigkeit, gefolgt von negativen Konsequenzen, sofern man diesen Anweisungen nicht nachkommt. Ebenfalls nutzen beide Strophenkombinationen in der Formulierung Kontraste: Die Formelstrophe (Str. 132, 135) negiert, setzt ein explizites Verbot mittels ne, während die folgende Kurzstrophe (Str. 133, 136) neutral-positiv Grund und Konsequenzen darlegt. Interessanterweise findet sich genau diese Kombination von anfänglichem Verbotsimperativ und der folgenden objektiveren Illustration auch innerhalb der langen Str. 134, wobei sich bei 134,7 eine innere Grenze ziehen lässt; das Muster umrahmt die Belegstrophe also nicht nur, sondern durchzieht Str. 132 bis 136 vollständig – und korrespondiert darin auch gut mit den thematischen Parallelen. Wie von See notiert, treten im „Alten Sittengedicht“ zudem einige Strophen auf, welche „einen in der ersten Hälfte formulierten Lehrsatz durch eine ‚oft‘ gemachte Erfahrung legitimieren“.283 Auch das ist ein Muster, welches sich in den Loddfáfnismál wiederfindet: hier sowohl in Str. 132 f. als auch in Str. 134 (in Str. 135 f. allerdings nicht). Man kann somit im Ganzen von einer ziemlich engen Beziehung der fünf Verse sprechen. Um nun zu Str. 134 selbst zu kommen, ist es sinnvoll, die eigentliche Lehrstrophe von der Formel getrennt zu untersuchen, denn wie zuvor angemerkt, besteht kein erkennbar spezieller – insbesondere im Vergleich zu anderen Strophen der Loddfáf­ nismál – Zusammenhang zwischen Formel und Str. 134, der eine Gesamtbetrachtung bedingen würde. Einerseits gibt es also die Ratsformel mit den beiden Personen Spre-

283 von See 1972a, S. 59 f.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

cher-ec und Loddfáfnir, in welcher der Nutzen des nun folgenden Rats beschworen wird. Andererseits den eigentlichen lehrhaften Inhalt. Hier besteht der Imperativ in der Weisung, „den grauen þulr niemals auszulachen“ (Str. 134,5), was damit begründet wird, dass „oft gut ist, was Alte sagen“ (Str. 134,6 f.). Die Kombination der beiden Zeilen ist wichtig, weil die Versaussage nicht selten so interpretiert wird, dass der Fokus auf dem þulr liegt, wie noch besprochen werden wird; es sich hier also quasi um das soziale standing dieser Figur oder Rolle handelt, mitunter auch verbunden mit Theorien über einen historischen Niedergang des „þulr-tums“, etwa bei Vogt.284 Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Kernaussage allerdings als gar nicht so stark auf diese spezifische Figur ausgerichtet: Str. 134,6 f., welche die erklärende Verteidigung enthält, greift weder den Terminus, noch die Person in irgendeiner Art wieder auf und kommt im Ganzen ausgesprochen allgemein daher. Es heißt nicht Opt er gott, þat er gamlir þulir qveða,285 sondern gamlir allein wird hier verteidigt. Der Konnex zur vorhergehenden Zeile besteht also allein im Adjektiv: gamall („alt“) als Variation von hárr („grau“) – mit dem Lebensalter als zentralem Punkt handelt es sich bei dieser Strophe um eine Verteidigung generisch alter Menschen. Evans286 merkt an, dass ebendiese Phrase Opt er gott … heute noch als norwegische Redewendung gebraucht wird und verweist auch auf Heuslers287 Darstellung, dass es sich hier um ein Sprichwort handelte. Ähnliches findet sich zudem bei S/G, wobei die dort aufgeführte Parallele in der Gullþóris saga und einer Hamðismál-Strophe gleichermaßen die Elemente „ór belg + [Adjektiv der Qualität] + ráð + [Form von koma]“ enthält, zumindest eine solche Verbindung also in verschiedenen Kontexten belegt ist.288 Auch diese Phrase verzeichnet Heusler dabei unter den Sprichwörtern und vermutet, dass sie „als Zusatz eingedrungen“ sei, „angelockt durch die inhaltlich übereinstimmende Sentenz von V. 7 […]“, was wiederum die Bildung der letzten drei Zeilen (durch einen „Spaßvogel“) ausgelöst habe.289 Maßgeblich sind aus dieser Perspektive also vor allem Str. 134,5 f. (unvermeidbar, da Belegstelle), aber auch Str. 134,7; außerdem eventuell noch Str. 134,8 f., wenn man S/G und Heusler heranzieht. Es scheint damit zwar durchaus möglich, dass in Str. 134 spezifisch der þulr genannt wird, um den Kontrast zwischen prägend herausragender Sprachmacht und ihrer stereotypen Beschädigung durch Altersschwäche besonders scharf zu zeichnen; die Wahl des Adjektivs lässt jedoch kaum einen Zweifel daran, worauf der Schwerpunkt der Lehraussage im Endeffekt liegt.

284 Vogt 1927, S. 141, zur Strophe selbst dort S. 30 f. 285 Fettdruck von mir [KRMT]. 286 Evans 1986, S. 27 f. Dabei notiert er in der Anmerkung, dass die Phrase im Þorleifs þáttr jarla­ skálds als „altes Sprichwort“ genannt wird, auch, dass nicht völlig ersichtlich ist, ob der Ausspruch in jenem Text eventuell direkt den Hávamál entnommen wurde. 287 Heusler 1915 f., S. 302. 288 S/G 3/1, S. 139. 289 Heusler 1915 f., S. 303.



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5.4.1.1 Hávamál und Hugsvinnsmál An diesem Punkt lohnt sich ein Blick auf die im Rahmen der Struktur- und Quellenforschung aufgebrachten Textparallelen. Vor allem Bauer290 führt in ihrer Untersuchung von Disticha Catonis und Hugsvinnsmál einige Stellen aus den beiden Werken an, welche interessante Ähnlichkeiten im Inhalt aufweisen. Evans sieht solche Korrespondenzen kritischer,291 verlegt sich dabei allerdings auch hauptsächlich auf die Unterschiede zwischen den Hugsvinnsmál und dem „Alten Sittengedicht“.292 In den Hugsvinnsmál findet sich in Str. 65 folgende Aussage: Engan þú fyrirlít, þótt aflvani sé eða ljótr ok lágskapaðr; margr er hygginn, þótt herviligr sé, ok mjök lítit megi.293 („Verachte Du niemanden, sei er auch schwach oder hässlich und klein. Mancher ist klug, trotzdem er erbärmlich sein mag und zu sehr wenig imstande.“)

290 Bauer 2009. Zu den Hugsvinnsmál generell s. SkaldP 7/1, S. 359 ff. 291 There are a number of verbal similarities between this work and Hávamál and, though they are in fact not very numerous and were dismissed by Gering (2, VIII note 3) as mere coincidences, the view usually taken by scholars has been that Hugsvinnsmál is consciously echoing Hávamál in these places. […] What Hugsvinnsmál shows us is what a thirteenth-century Icelandic poet, working in the learned-clerical tradition, produced when he set out to compose a didactic poem on conduct; and the result is not at all like Hávamál […]. The contrast with the Gnomic Poem could scarcely be sharper. (Evans 1986, S. 17 f.) Dabei führt er weiter aus, dass in den Hugsvinnsmál vor allem die christlichen Anklänge, das Auftreten von Büchern sowie das Fehlen von Inkonsistenzen ins Auge fallen. Allerdings ist Gerings Abweisen nicht ganz so eindeutig: Jener schreibt „einzelne anklänge (vgl. 8,2 und 41,4 mit Hǫ́ v. 42,2; 20,4 mit Hǫ́ v. 22,4; 85,3 mit Hǫ́ v. 45,3. 91,3; 67,4 mit Hǫ́ v. 103,6) sind wol ebenso zufällig wie die übereinstimmung von 58,4 mit Skirn. 37,4. Eher wäre es möglich, daß str. 45 der Hǫ́ vamǫ́ l aus dem lateinischen Cato stammt, der bereits im 12. jahrhundert auf Island bekannt war (Mogk, Gesch. der norweg.-isl. lit.2, 711)“ (Gering 1907, VIII; Kursivsetzung von mir [KRMT]). Auch wird Hávamál Str. 134 bzw. als deren mögliche Korrespondenz in Gerings Ausgabe der Hugsvinnsmál Str. 117 (und die weniger wahrscheinliche Str. 62) überhaupt nicht genannt. Interessant ist hingegen Gerings Auffassung, dass sich der Übersetzer der Disticha Catonis auch aus heimischen Sentenzen bedient haben könnte (Gering 1907, VIII); dies gerade in Anbetracht der bereits erwähnten möglichen Reflexionen von Aussagen der Str. 134 in skandinavischen Sprichwörtern. 292 Einen Schritt weiter in der Frage der Beeinflussung geht, im Rahmen der etwas unübersichtlichen Transmission sowie einer potenziell länger andauernden Phase der Revision der Hugsvinnsmál, der Hinweis in SkaldP, der eine neue Perspektive auf die Problematik bietet: „It may, however, be wrong to suggest only one direction of influence. […] There may have been a long process of revision with influence from poems originally younger than Hsv and which in former times had themselves been influenced by Hsv or even directly by the Lat. Disticha.“ (SkaldP 7/1, S. 360) 293 Hugsvinnsmál Str. 65, SkaldP 7/1, S. 400.

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Der negativen Haltung gegenüber einem scheinbar schwachen oder anderweitig wenig eindrucksvollen Menschen wird im altnordischen Text also die Klugheit gegenübergestellt. Dabei findet sich die eingeschränkte Generalisierung mittels margr, die stark der mittels opt aus den Hávamál ähnelt, nicht in der lateinischen Vorlage, welche Bauer wie folgt zitiert: Corporis exigui vires contemnere noli: | consilio pollet, cui vim natura negavit.294 („Du mögest nicht die Kräfte eines schmächtigen Körpers verachten: Der, dem die Natur die Kraft verwehrt hat, ist stark im Beraten.“295)

Die Disticha Catonis generalisieren also erkennbar stärker als ihre altnordische Übersetzung, hier wird Schwäche grundsätzlich durch Beratungsstärke, also wohl Klugheit und/oder Eloquenz ausgeglichen. Alter per se spielt in dieser Strophe bei beiden Texten jedoch keine Rolle. Bemerkenswerter gestaltet sich die Sache in Str. 122 der Hugsvinnsmál, der man wohl die größte Ähnlichkeit zu Hávamál Str. 134 zusprechen kann und welche auch McKinnell jener gegenüberstellt:296 Eigi skaltu hlæja,

ef þú vilt horskr vera, at öldruðum afa; opt þat ellibjúgr man, sem ungr veit eigi, ok kennir gott gum*um.297 („Nicht sollst Du lachen, wenn Du klug sein willst, über einen bejahrten Großvater. Oft erinnert sich ein Altersgebeugter an das, was ein Junger nicht weiß, und lehrt Menschen Gutes/gut.)

Auch hier besteht keine vollständige Korrespondenz mit der Vorlage: Cum sapias animo, noli ridere senectam; | nam quocumque sene, puerilis sensus in illo est.298 („Wenn du im Geist klug bist, mögest du nicht über das Alter lachen; denn in jedem Greis gibt es eine kindliche Wahrnehmung.“)299

Die Grundaussage ist, wie McKinnell, der sie als „despise no man for being old“ zusammenfasst, vermerkt, eine Standardweisheit der gnomischen Dichtung allge-

294 Bauer 2009, S. 62. 295 Bauer 2009, S. 62. 296 McKinnell 2007a, S. 81; ebenso SkaldP 7/1, S. 433. 297 Hugsvinnsmál Str. 122, SkaldP 7/1, S. 433. 298 Bauer 2009, S. 76. 299 Bauer 2009, S. 76 f.

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mein, welche sich etwa auch in der Bibel findet (Jesus Sirach/Ecclesiasticus 8,6).300 Übereinstimmungen bestehen hier zwischen Hávamál und Hugsvinnsmál im Lachverbot, der Klugheit als Leittugend des Verses, dem Alter des Objekts als dessen bestimmendem, negativem Faktor sowie der im erweiterten Sinne geistigen Leistungsfähigkeit des alten Menschen als Rechtfertigung; in diesem Fall nicht als explizites „Sagen“ (qveða) ausgeführt, sondern als Tradierungsvermögen und damit Gedächtnis und Lehrpotenzial. All dies könnte man mithin ebenfalls mit „oft ist gut, was Alte sagen“ umschreiben; nicht zuletzt, weil in beiden altnordischen Gedichten die Verteidigung mit opt minimal eingeschränkt wird, was auch hier wieder der lateinischen Vorlage abgeht.301 Überhaupt ist die antike Quelle genereller; dass in jedem alten Menschen ein junger bzw. kindlicher sensus302 zu finden ist, sagt nur wenig über spezifischere Qualitäten aus. In der Tat ist sogar höchst wahrscheinlich, dass die lateinische Vorlage einen merklich anderen Sinn besaß als der altnordische Übersetzer in die Erklärung des Hugsvinnsmál-Verses einbrachte. Spätestens in jüngeren nicht-norrönen Versionen des Verbots, Alte zu verlachen, ist der als Begründung genannte sensus puerilis negativ, also als kindisch, infantil und nicht als jung oder „jugendlich-frisch“, ausgedeutet: Singer zitiert hier u. a. das mittellateinische Sensu defectam noli ridere senectam: Omnibus est uilis sensibus mens ac puerilis303

mit der Übersetzung Du sollst das Alter, dem es an Vernunft gebricht, nicht verspotten: Alle Greise haben einen geringen und kindischen Verstand Cato novus 243.304

300 McKinnell 2007a, S. 81. 301 Da diese Einschränkung allerdings nichts am Kern der positiven Gegenaussage ändert, und die Rechtfertigung mittels opt, wie bereits erwähnt, in den Hávamál nach von See ein häufig anzutreffendes (von See 1972a, S. 59 f.) und damit fast schon stereotypes Muster darstellt, wird dieser Abschnitt im Weiteren, wo nicht anders erforderlich, nur noch schlicht als „Verteidigung“, „Rechtfertigung“ oder „positive Darstellung“ bezeichnet werden, ohne auf die Begrenzung weiter einzugehen. 302 Dieser Begriff mit seiner großen Bandbreite an Bedeutungen lässt selbst mehrere Lesarten zu (zu Übersetzungen s. etwa Hau 2003, S. 836). Dennoch: Sei es nun die Wahrnehmung, der Verstand, die Denkart, die Urteilskraft, der Gedanke oder sonstiges – seine Basis bleibt geistig und in Verbindung mit puerilis als Gegensatz zur senecta lässt sich die Grundaussage immerhin darauf eingrenzen, dass in einem alten Menschen immer noch (irgendwo) ein irgendwie „junger“ geistiger Kern zu finden ist, auch wenn ebenso offenbleiben muss, wie sich dies genau äußert, wie auch, ob puerilis in der Tat positiv gemeint ist – wie gleich noch erörtert werden wird. 303 Singer 1995, S. 91. 304 Singer 1995, S. 91. Hau verzeichnet als Bedeutungen für puerilis sowohl „kindlich“ als auch „kindisch“ (Letzteres in Verbindung mit animus; consilium; sententia) und führt weiterhin als nachklassische Bedeutung von puerilitas „kindisches Wesen, kindisches Benehmen“ auf (Hau 2003, S. 745).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Und auch andere von Singer angeführte, etwa frühe französische, provenzalische oder deutsche Übertragungen tätigen diese negative Aussage, sodass in den Hugsvinnsmál eine Umdeutung durch den Autor – ob willentlich, eventuell gar unter Heranziehen der bereits zitierten Str. 65, oder nicht, sei dahingestellt – sehr naheliegt. McKinnell sieht die Differenz in der lateinischen Strophe als eindeutig gegeben an: „its rationale is that the old should be excused because they cannot help being childish. This is the direct opposite of the reasoning in Hávamál and Hugsvinnsmál […]“.305 Auch er kann nicht abschließend feststellen, ob dieser Wandel einer individuellen Entscheidung des Hugsvinnsmál-Autors entspringt oder einer Beeinflussung durch bereits vorhandene norröne Texte, tendiert jedoch zu letzterer Annahme.306 Damit bestehen in der zentralen Lehraussage deutliche Unterschiede zwischen der kontinentalen und den altnordischen Strophen, aufgrund deren sich der Komplex als eine von McKinnells „more distinctive resemblances between Hugsvinnsmál and Hávamál which are not shared by Disticha Catonis“307 klassifizieren lässt. Dennoch gibt es auch eine Parallele zwischen dem lateinischen Werk und seiner skandinavischen Übersetzung, welche die Hávamál nicht beinhalten: die Bedingung, durch die das Verbot motiviert ist. Und hier erscheint Klugheit erneut als tragender Topos (ef þú vilt horskr vera). Diese Spezifizierung ist in Str. 134 nicht vorhanden und wird durch die unverändert wiederholte, allgemeinere Ráðomc þér, Loddfáf­ nir …-Formel ersetzt. Im Vergleich zur gesamten Aussage handelt es sich hier allerdings um ein eher weniger wichtiges Detail. Ein letzter Unterschied liegt schließlich in der zweifachen Umschreibung des Alten in der jeweiligen Quelle: Beide altnordische Texte bemühen bei den zwei Begriffen in Verbot wie Begründung Personalisierungen (három þul  – gamlir; (öldruðum) afa – ellibjúgr), während das lateinische Gedicht zunächst ein Abstraktum zeigt, ehe es zur Person übergeht (senectam – sene).308 Angesichts derartiger Parallelen insbesondere der beiden norrönen Texte und vorausgesetzt, eine Beeinflussung der Hugsvinnsmál durch die Hávamál (oder mit von See umgekehrt309) hat in der Tat stattgefunden, stellt sich vor allem die Frage, in welchen Details sich die beiden Strophen unterscheiden. Hier fällt – unvermeidlich – sofort der þulr ins Auge, sozusagen als größere Spezifizierung des aldraðr afi.

305 McKinnell 2007a, S. 81. Ebenso SkaldP 7/1, S. 433. 306 „The poet of Hugsvinnsmál might have reversed the sense of his Latin original through sheer independence of mind, but it seems more likely that he was influenced by existing wisdom poetry in Old Norse, perhaps by Hávamál itself“ (McKinnell 2007a, S. 81 f.). 307 McKinnell 2007a, S. 77. 308 McKinnell (2007a, S. 81) nennt dies ebenfalls, wobei er die Beschreibung auf den Kontrast von „individual old man“ und „Old Age“ beschränkt. 309 Zum für eine solche Deutung notwendigen, äußerst gedrängten Transmissionsprozess der Texte s. McKinnell (2007a, S. 89 ff.), welcher für ein späteres Datum der Hugsvinnsmál und entsprechend keinen Einfluss auf die Hávamál plädiert.



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Ebenso bemerkenswert ist der bereits erwähnte, in Str. 134 nicht auftretende mögliche Wunsch des Gegenüber nach speziell Klugheit (implizit und auch durch die Formel gestützt, ist nur der allgemeinere Nutzen für den Angesprochenen enthalten). Die folgende Begründung des Lachverbots gestaltet sich in den Hávamál darüber hinaus erheblich länger als in den Hugsvinnsmál; dabei werden zudem Zentralbegriffe der Kombination „weise Worte“ und „Alter“ variiert, während die Rechtfertigung in den Hugsvinnsmál kurz und zweiteilig ist, wobei der letzte Teil praktisch aus dem ersten hervorgeht: Nur wer mehr weiß (sich an mehr erinnert), kann auch gut(e Dinge) lehren. Mag also die Grundaussage der Strophe, Alte nicht zu verlachen,310 auch mit klassisch-lateinischen sowie biblischen Quellen korrespondieren, so ist der þulr doch ein genuin nordisches Element, das – wie auch die Bilder des Strophenendes – nur in diesem einen Beleg der Hávamál auftritt. Das steht im Gegensatz zur positiven Alters­ interpretation, welche sich in beiden altnordischen Gedichten findet, aber nicht in dem antiken. Die Nähe zwischen den zwei norrönen Strophen ist damit, trotz erkennbarer Unterschiede, deutlich größer als die zu den Disticha Catonis. Aus dieser Perspektive heraus mutet es dann auch nicht völlig undenkbar an, dass es sich beim þulr um eine Art rückwirkenden Einfluss des verteidigenden Langverses handelt, also die Grundaussage bzw. Moral der „guten Äußerungen“ von Alten eine entsprechende Akteursbezeichnung angezogen hat. Das möglicherweise im Vergleich höhere Alter der Hávamál könnte hierbei als Erklärung dienen, warum die Hugsvinnsmál diesen Begriff nicht mehr verwenden, mehr noch die Komposition der Übersetzung „in a very simple style with an easily comprehensible and not very large vocabulary“,311 zuletzt vielleicht eine in letzterem Werk angestrebte stärkere semantische Kohärenz zwischen Individuum und Menge (Großvater – Alte). An konkreten Beweisen mangelt es freilich leider auch dieser These. Die wohlwollende Altersbeschreibung ist es wahrscheinlich auch, welche den weiteren Zeilen von Str. 134 zugrunde liegt. Str. 134,8–12 illustrieren vermutlich physische Aspekte des Alters in eventuell sogar humoristisch angehauchter Art und Weise und einem eher bäuerlichen Setting. Die Verse haben einiges an Fragen aufgeworfen und auf die unterschiedlichen Interpretationen soll im Folgenden eingegangen werden.

310 Das Lachverbot findet sich überdies auch an anderer Stelle in den drei Texten: In Hávamál Str. 132, Hugsvinnsmál Str. 14 sowie Disticha Catonis, Breves Sententiae 52, hier auf unterschiedliche Personen(gruppen) gemünzt (McKinnell 2007a, S. 88). Es wirkt deshalb auch eher unwahrscheinlich, dass der Gebrauch in Str. 134 spezifisch einen Niedergang des þulr zur verlachten Gestalt thematisieren sollte, wie Vogt (1927, S. 141) argumentierte. 311 SkaldP 7/1, S. 360.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

5.4.1.2 vilmǫgom Während scǫrpom belg (Str. 134,8) noch recht eindeutig als verschrumpelter Balg auszumachen ist und die scilin orð eine Variation des gott, welches Alte sprechen, darstellen, sind die folgenden drei Zeilen etwas problematischer. Das hängt vor allem am letzten Wort der Strophe, vilmǫgom (Str. 134,12), was von der Forschung auf *vilmagi oder vílmǫgr zurückgeführt wird, also entweder, laut Magnússon, den Labmagen der Kuh312 oder aber auf den „elendig stillet mand“, wie Finnur Jónsson den Ausdruck deutet.313 Im Gegensatz zu vilmagi ist Jónssons Lesart vílmǫgr dabei auch anderweitig im Altnordischen bezeugt.314 Magnússons emphatische Verteidigung seiner These bemüht im Gegenzug (alt-) skandinavische, insbesondere isländische,315 Lebensart sowie das Manuskript des Codex Regius, welches in der Tat kein langes í in diesem Wort zeigt;316 auch hält er Jónssons Interpretation für unvereinbar mit der mittelalterlich-norrönen Lebensrealität: Davon ausgehend, dass es sich beim Szenario um Räuchern oder Gerben, mit dem Setting eldahús (Küche), hier beschrieben als „the only tannery that Iceland has ever known“,317 handele,318 sei kaum nachvollziehbar, dass ein Dichter die in diesen Räumen anwesenden oder beschäftigten Menschen in solch abfälliger Form betitelt haben könnte.319 Bezieht man „elendig stillet (mand)“ hingegen rein auf die Stellung in der sozialen Hierarchie und nicht auf Befindlichkeiten oder dergleichen, liest den Ausdruck also als (sozial untergeordneter) Diener oder Knecht, der gegebenenfalls auch unerfreulichere Aufgaben verrichtet, wäre ein Zusammenhang zwischen derartigen Personen und Arbeit bzw. Anwesenheit im Bereich des Herdes schon eher denkbar.320

312 „ætti að lesa vilmögum = kálfsmögum, en ekki vílmögum = aumingjum“ (Magnússon 1898b); auch Magnússon 1898a, S. 319 und Magnússon 1887, S. 15: „‚vilmagi‘, literally: ‚intestinal maw‘; ‚vil‘ being a common word for intestines, bowels […], ‚magi‘ = maw, paunch“. S/G unterstützen diese Deutung (S/G 3/1, S. 140). 313 LP, S. 625 mit dem Zusatz: „at antage her et vilmagi er ganske grundløst“. Baetke übersetzt als „Mensch in niedriger Stellung, Mensch in elender Lage, Sklave“ (Baetke, S. 738), C/V „víl-mögr […] a son of toil, bondsman“ (C/V, S. 717) und LF/T geben beide Varianten an: „víl-mǫgr […] boy who does heavy (dirty) work; wretch (? – Skm. 35; perhaps in Háv. 134)“ sowie „‡vil-magi […] calf stomach, containing rennet, used in making milk products (? – Háv. 134, see S-G)“ (LF/T, S. 295). Fritzner (3, S. 948) gibt Jónssons Übersetzung wieder („ulykkeligt, elendigt Menneske. Hm. 135 [sic]; Skírn. 35“) und das Kopenhagener (Prosa-)Ordbog führt einzig den Snorra-Edda-Beleg auf („18710“, ONP). 314 Evans 1986, S. 129; „but obsolete in prose“ (C/V S. 717). 315 Magnússon 1887, S. 15 f. 316 GKS 2365 4to, 6v, Wimmer/Jónsson 1891, S. 12, Magnússon 1898b, Magnússon 1898a, S. 319. 317 Magnússon 1898a, S. 320. 318 Da die „baumelnden Bälge und Häute“ dort von der Decke in den Rauch gehängt wurden (Magnússon 1898a, S. 320). Die Erzeugung und vielfältige Nutzung von Bälgen wird ausführlicher beschrieben in Magnússon 1887, S. 14 f. 319 Magnússon 1898b. 320 Anders Heusler: „Die Vorstellung, dass der greise Spruchkundige sich unter niederem Gesindel



Der Thul in Hávamál-Strophe 134 

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Noch etwas eindeutiger scheint hier indes der von Magnússon weiterhin eingebrachte metaphorische Ansatz: scǫrpom belg, hám und scrám321 stehen dann quasi als Metonymien für den alten Mann, und das Bild wird sukzessive von dessen Situation in die Küche/Gerberei überführt, sodass der „verschrumpelte Balg“ als Verbindung in beide Richtungen fungiert. Der Greis wird also zuerst auf seine altersrunzelige Haut reduziert und diese dann wiederum, nunmehr ohne direkte Rückbindung an den Menschen, in den neuen Kontext von Häuten und Bälgen gestellt. Eine ähnliche Deutung vertritt Heusler, der hier allerdings auch eine Diskrepanz der neuen Bilder „zu dem gemeinten Sinne des Greisenmundes“ erkennt und die Zeilen daher als Hinzufügung betrachtet.322 Auch Tangherlini betont die bildliche Kontinuität dieser Lesart.323 Insbesondere die Präposition með deute hier, so Magnússon, eine „fellowship of locality“ an, welche gleichzeitig „a fellowship of identity of condition“324 darstelle. Es sei überdies nicht bekannt, dass Menschen jemals „unter“ im Sinne von „zusammen mit“ diesen Häuten gehangen oder gebaumelt hätten.325 Während Lindquists problematische „Rekonstruktion“ diese Strophe vergleichsweise wenig verändert, allerdings einen expliziten Vergleich einfügt, um das Bild Magnússons zu verdeutlichen,326 nennt Evans die Aussage der letzten Zeilen bei einem solchen Ansatz von vilmagi/vilmǫgom „deeply obscure“.327 Betrachtet man sie aber als reine Fortentwicklung der ursprünglichen Metapher, ist zumindest eine gewisse Kohärenz gewährleistet, die auch S/G gesehen haben müssen, da sie diese Deutung für ihre Edda-Edition zugrunde legten.328 Andererseits wäre ein solcher Schritt in die offenbar reine Bildvariation von Str. 134,8 eher ungewöhnlich – in den Loddfáfnismál gibt es keine weitere Strophe, in welcher ähnlich verfahren würde: Gerade die längeren Strophen finden immer wieder zur Grundaussage zurück, so etwa Str. 131 oder auch die längste, Str. 137. Andererseits weist Jackson darauf hin, dass an manchen Stellen der Edda solch parallele Dreierkonstruktionen zum Strophenabschluss eingesetzt werden, sodass rein strukturell-

herumtreibe, würde jedenfalls dem ersten, ursprünglichen Teil der Strophe widersprechen“ (Heusler 1915, S. 303). Ähnlich auch Heusler 1917, S. 213. Allerdings sieht er quasi drei Schichten in der Strophe vorliegen (þulr-Verteidigung, Sprichwort zur Verteidigung der alten Menschen, spaßhafte Variation des belgr-Bildes), differenziert nicht zwischen þulr und Alten in der Aussage und setzt für Ersteren offenbar einen vergleichsweise hohen Status an, ohne dies weiter auszuführen (Heusler 1915 f., S. 303). 321 Der Autor (Magnússon 1887, S. 15) weist darauf hin, dass es sich bei scrá genau genommen um eine spezifische Verwendung handelt: „skins (of sheep, used for scrolls, which is the proper sense of ‚skrá‘, though for that purpose skins were not smoked)“. 322 Heusler 1915 f., S. 303. 323 Tangherlini 1990, S. 94 f. 324 Magnússon 1898a, S. 320. 325 Magnússon 1898a, S. 320. 326 þeim líkom, er á lopti lafir (Lindquist 1956, S. 86). 327 Evans 1986, S. 129. 328 S/G 2, S. 1148; S/G 3/1, S. 139 f.

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metrisch durchaus eine Berechtigung für die Zeilen besteht.329 Die Annahme, dass die letzten Zeilen eine spätere Hinzufügung darstellen – auch angesichts der Tatsache, dass Str. 134 ungewöhnlich lang ist –, könnte zwar das thematische Abschweifen erklären, lässt sich aber auch nicht wirklich erhärten.330 Es bleiben also Fragen offen. Eine andere Lösung offeriert Krause in seiner Übersetzung:331 Nicht nur deutet er belg als „Beutel“ und nimmt dies, wie Sijmons/Gering332 und Heusler,333 als Bild für den Mund des Greises, sondern in den weiteren Zeilen benennen für ihn die Substantive konkret die Haut der Person und nicht als pars pro toto alte Menschen generell. Vor allem seine Interpretation von með in den drei Parallelzeilen weicht deutlich ab – anders als Magnússon liest er es nicht als „unter“ bzw. „zusammen mit“, sondern eher unpersönlich-instrumental bzw. auf den menschlichen Körper bezogen lokal und kommt mittels Paraphrase zur Übersetzung: „dem hängt das Fell / und schlenkert die Haut / und schwankt der Bauch“.334 Ein ähnliches Bild zieht auch Häny in seiner (freieren) Übertragung heran, fügt allerdings hinzu, dass diese Zeilen „im Urtext schwer verständlich“ seien.335 Für eine derartige Deutung von með im Zusammenhang mit den drei in den Hávamál verbundenen Verben hanga, scolla und váfa, wie von Krause angesetzt, verzeichnen die gängigen Lexika336 freilich keinerlei Belege. Zudem erfordert diese Lesart die Übersetzung aller Dativ-Plural-Formen der drei Substantive als Singular, sodass auch hier Kompromisse einzugehen sind,337 obschon das Bild selbst sehr stimmig ist und sich ebenso in die Thematik wie funktionell, als variierende Detailillustration eines zentralen Altersaspekts, ausgesprochen gut einfügt.

329 „structurally parallel couplets or triplets are used as closing devices elsewhere in the Edda“ (Jackson 1994, S. 40). 330 Was ein Hinweis darauf sein könnte, ist, dass ohne die Zeilen ab opt ór scǫrpom belg die Strophe sieben Zeilen lang wäre und damit der häufigsten Länge in den Loddfáfnismál entsprechen würde. Allerdings gibt es nun einmal auch mehrere davon abweichende Strophenlängen, etwa eine mit acht und eine mit neun Zeilen, sodass ein einziger Vertreter für eine weitere abweichende Länge ebenfalls nicht ungewöhnlich wäre. 331 Krause 2011, S. 53. 332 S/G 3, S. 139 f., die Autoren verweisen im Kommentar auch auf Parallelen für diese Verwendung. 333 Heusler 1915 f., S. 302 f. 334 Krause 2011, S. 53. 335 Häny 1987, S. 550. 336 Baetke, C/V, Fritzner, LP, ONP, LF/T. 337 Grundlage dafür wohl wörtlich: „dem, welchem es hängt mit/bei der Haut (den Häuten) …“. Ähnliches führt auch van Hamel an: „in the sense of ‚he hangs with his skin‘, ‚he has a hanging (badly fitting, shrivelled) skin“ (van Hamel 1932–33, S. 261). Bei hám könnte die singularische Lesart eventuell noch ansatzweise aus dem Manuskript ergehen, denn in der Handschrift ist das Längenzeichen deutlich blasser als die Buchstaben (GKS 2365 4to, 6v, Wimmer/Jónsson 1891, S. 12), sodass auch, wie Evans beschreibt, „some nineteenth-century editors“ dies als „dat.sg. of hamr“ gelesen hätten (Evans 1986, S. 129). Allerdings handelt es sich bei den Belegen für eine solche Dativform ohne Endungs-i, wie C/V verzeichnen, ausschließlich um poetische Texte des 10. Jahrhunderts (C/V, S. 236). Und scrám sowie vilmǫgom sind in jedem Falle eindeutig als Pluralformen zu erkennen.



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Eben ein solches Szenario von „hängenden Menschen“, wie es Magnússon vehement ablehnte, wird indes von anderen Forschern durchaus für möglich gehalten. Pipping338 griff, ausgehend von den Verben scolla und váfa und der an Frazer angelehnten Idee eines spezifischen Initiationsritus, der in Verbindung mit einem kultisch konnotierten Baum steht, auf historische religiöse Praktiken zurück, wie sie bei Adam von Bremen beschrieben werden.339 Mit diesen Komponenten geraten die Zeilen zu einer Abbildung geopferter Menschen, welche in Bäumen hängend im Wind schaukeln. Selbst Magnússons Labmagen fände hier für Pipping noch seinen Platz,340 allerdings zum Preis weiterer Hypothesen eines für „die þulr-Zeremonie im Haus aufgestellten Baums“,341 weshalb er die Deutung Jónssons vorzieht. Im Zuge dieser Darstellung erläutert der Autor auch sein Bild vom þulr und legt eine rituell-magische Figur zugrunde.342 Dabei beruft er sich ebenso auf Str. 111 der Hávamál wie auf den Víkarsbálkr-Beleg (nicht ins Spiel kommen hingegen Vafþrúðnismál oder Fáfnismál). Allerdings merkt Pipping explizit an, dass gerade für Starkaðrs Selbstbezeichnung nicht nur die odinisch-magische Interpretation infrage kommt, sondern etwa auch eine Art Variation des Dichterbegriffs – welcher allerdings wieder auf den höchsten Asen verweisen würde.343 Ebenfalls notiert er bei der Hávamál-Szene, dass in Str. 134, im Gegensatz zum Rúnatal und dem angenommenen Ritus, nicht von Selbstopfer und Speerwunde des Geopferten die Rede ist und der Weltenbaum gleichfalls nicht genannt wird, also doch auch Unterschiede zwischen den beiden Stellen vorliegen.344 Hummelstedt wiederum schließt an Pipping an und zieht darüber hinaus skandinavische Dialekte hinzu, insbesondere den finnlandschwedischen, in dem der Begriff löyp eine pejorative Bezeichnung für eine Person darstelle („fån, tölp“345), gleichzeitig aber identisch mit der Bezeichnung für „löpmage av kalv upphängd till torkning i taket nära spiseln“ sei.346 Auf Basis dieses Musters (tierische Innereien mit der zusätzlichen Funktion eines Schimpfworts für einen Menschen) existierten überdies weitere derartige Begriffe, so der Autor.347 Ausgehend von Pipping wäre für ihn damit vilmǫgom in der Bezeichnung „Labmagen“, hier halbmetaphorisch als eine Art Beutel, in dem der

338 Pipping 1928. 339 Pipping 1928, S. 4. Die Problematik der Beschreibung Adams wurde bereits erläutert. 340 Auch dieser Autor verweist auf traditionelle skandinavische Bräuche und nennt hierzu den Fund von unter dem Dach beim Schornstein aufgehängtem Lab in einer Sennhütte sowie die Gewohnheit auch in Island, einen Labmagen unter dem Dach zu befestigen (Pipping 1928, S. 5). 341 Pipping 1928, S. 5. 342 „Jag tror thulerna voro personer, som sysslade med just samma slags magi som Oden själv, bl.a. med ordmagi“ (Pipping 1928, S. 6). 343 Pipping 1928, S. 6. 344 Pipping 1928, S. 7. 345 Hummelstedt 1949, S. 26. 346 Hummelstedt 1949, S. 26. 347 Hummelstedt 1949, S. 26 f.

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þulr am Baum hängt, zu lesen und gleichzeitig wohl auch mit Anklängen an Überreste der anderen „baumelnden“ Körper versehen.348 Ebenso nimmt Tangherlini in den Loddfáfnismál einen rituellen Charakter an349 (er verweist dabei auf die magischen Elemente des Texts350) und sieht hier ein Hängeritual gegeben.351 Evans bewertet die

348 Hummelstedt 1949, S. 27. 349 The instruction of Loddfáfnir is possibly a form of ritual initiation, accounting for the location of the instruction and the partial galdralag meter. Beyond the allusions to þulir, Loddfáfnismál also contains specific references to witches and charms, […] which further underscore not only the ritual aspects of this section of Hávamál as initiation but also the importance of ritual and magic in the society. (Tangherlini 1990, S. 90) Der Aussage, dass die gesellschaftliche Relevanz von Magie sich in den Verweisen der Loddfáfnis­ mál abbilde, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Was die rituelle Komponente angeht, wirkt dies etwas diskussionswürdiger: Da Tangherlinis Annahme eines Ritualcharakters dieses Teils der Hávamál nicht unerheblich auf der Nennung des þulr beruht, welchen er mit Olrik als Ritualgestalt, als „cult head“, deutet (Tangherlini 1990, S. 89), stützen sich hier die beiden Annahmen zu Text und Figur gegenseitig. 350 Allerdings sind von den drei Verweisen auf Magie (die zauberkundige Frau aus Hávamál Str. 113, lícnargaldr aus Str. 120 und Zauber in der Schlacht (Str. 129)) zwei – Str. 113 und 129 – als Warnungen ausgeführt, die für jeden Menschen gültig scheinen und nicht nur für Kultexperten oder Magier (vielleicht sogar noch mehr für nicht mit Zauber befasste Adressaten, da der Rat jeweils recht allgemein und grundsätzlich ist und somit nicht wirkt, als sei er an „Experten“ gerichtet). Beim dritten Verweis handelt es sich eher um eine Nebenbemerkung in einer Strophensequenz, die die Wichtigkeit eines guten Freundes zum Thema hat (Str. 119–121); sie steht damit nicht an prominenter Stelle, wie es bei einer rituellen Einweisung vielleicht eher zu erwarten wäre. Überdies kann der Ausdruck lícnargaldr auch metaphorisch aufgefasst werden, wie S/G 3/1 („nem líknargaldr ‚lerne die kunst, dich beliebt zu machen‘“, S. 134) und LF/T („art of making o.s. well-liked“, S. 162) anführen. Ähnlich schlagen Evans/Faulkes (1987, S. 21) neben „kindness-spell, merciful charm“ auch das weltliche „mercy“ vor. Die Bedeutung des Begriffs ist nicht völlig gesichert und inwieweit er konkret oder bildhaft gedeutet werden kann, ebenfalls unklar (Evans 1986, S. 126). 351 Er beruft sich teils auf Pipping (Tangherlini 1990, S. 100), aber auch auf historische Quellen wie Adam von Bremen (Tangherlini 1990, S. 98), dessen Problematik bereits angesprochen wurde; außerdem auf Ibn Rustahs Beschreibung von Hängeopfern (das Aufhängen von Menschenopfern bis zum Tode, keine Selbstopferung (Tangherlini 1990, S. 99)), de Vries (Tangherlini 1990, S. 100; wobei dieser bei der Deutung von Str. 134 ebenfalls auf Pipping verweist (AR 1, S. 501)), auf die – unzweifelhaft schlüssige – Szene Odins als Selbstopfer, und auf lappischen Schamanismus, wobei er dort auf Belege entsprechender Opfer außerhalb des alten Skandinavien zurückgreifen muss (Tangherlini 1990, S. 101 ff.; vgl. auch Fleck 1971c: „no shamanism existed in primitive Germanic religion“, und die weitere Besprechung dort). Alles zusammengenommen, scheint mir seine Annahme eines rituellen Kontexts der gesamten Loddfáfnismál daher so nicht ausreichend begründet; auch in puncto Verhältnismäßigkeit deuten die nur drei Erwähnungen von Zauber in insgesamt 25 Strophen darauf hin, dass eine magisch-kultische Komponente in jedem Fall nicht das zentrale Element des Texts sein dürfte. Die entgegengesetzte Lesart, nämlich säkular-gnomischer Charakter mit vereinzelten Verweisen auf Magie, da deren Sitz im Leben eine Erwähnung auch im allgemeineren Rahmen etwa grundsätzlicher „Verhaltensregeln“ nachvollziehbar macht, wirkt damit plausibler.



Der Thul in Hávamál-Strophe 134 

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Deutung von Str. 134 als ein Ritualbild wie bei Pipping und Hummelstedt beschrieben, als „the only interpretation which makes sense“, warnt aber auch: „it is undeniably highly speculative“.352 Diese Warnung ergeht sicherlich zu Recht, denn Belege für ein Weltenbaumritual mit einem þulr, wie von den beiden Autoren angesetzt, gar noch mit einem in einem Sack hängenden Kultleiter, sind nicht verzeichnet.353 Gerade Hummelstedts Untersuchung mit den finnlandschwedischen Begriffen erweist sich allerdings auch unabhängig davon als wertvoll, öffnet sie doch die Tür zu einer Deutung von „Labmagen“ als abfällige Personenbezeichnung getrennt von jeglichem Ritual, was sich als durchaus mit der Grundaussage der Strophe vereinbar zeigt. Lässt man beide Aussagen Evans’ und den Belegmangel fürs Erste beiseite, löste die rituelle Deutung allerdings in der Tat einige, selbst strukturelle, Probleme und kann darüber hinaus sogar eine Schärfung des þulr-Bildes mit sich bringen: Der Greis, der trotz seines Alters immer noch nützliche Worte spricht, würde hier mit konkreten Opferpraktiken assoziiert, die ihm einerseits Autorität verleihen – was wiederum die Kernaussage der Strophe stützt –, andererseits wirkte ein solches Szenario auch kompositorisch als foreshadowing des im Codex Regius folgenden Rúnatal. Voraussetzung für einen derartigen Effekt ist zuerst einmal, dass trotz der Verallgemeinerung

352 Evans 1986, S. 129. 353 Fleck (1971a, S. 137 f.), welcher sich auf Pipping bezieht (1928, wohl S. 5 – er gibt nur den gesamten Aufsatz an), verweist auf das Märchen bzw. den Schwank „Die Rübe“, dessen früheste Variante er gegen 1200 in Süddeutschland als den lateinischen Rapularius verortet. Hier macht ein im Sack aufgehängter Protagonist einem vorbeiziehenden Schüler weis, es handele sich bei dem Behältnis um einen „Sack der Weisheit“, in welchem er bereits in kürzester Zeit sehr viel gelernt habe. Pipping selbst kritisiert S/G, welche das Märchen im Kontext von Str. 138 zitieren (S/G 3/1, S. 149 f.), die „liknande situation som den i str. 134 skildrade“ übersehen zu haben (Pipping 1928, S. 5). Ob es sich hierbei wirklich um Übersehen handelt, scheint mir indes fraglich: Wenn überhaupt eine vergleichbare Situation geschildert wird, ist diese in Str. 134 höchst verkürzt, auf Substantiv und Verb verdichtet, und erfordert einiges an – teils ziemlich spekulativer – Interpretation, während der Weisheitsgewinn Odins im Rúnatal expliziert wird und die Schilderung des Prozesses mehrere Strophen einnimmt. Ganz abgesehen davon unterscheiden sich auch die Funktionen des Motivs fundamental: Im Märchen ist die Erzählung, im Gegensatz zum eventuellen Ritual der Hávamál, eine List  – ein tatsächlicher Weisheitsgewinn, welcher dazu vom Beteiligten auch so intendiert war, findet nicht statt. Der Protagonist befindet sich in dem kontinentalen Schwank vielmehr wider Willen im Sack (gedungene Mörder wurden von den herannahenden Schritten des Schülers daran gehindert, ihren Plan auszuführen und hängten den Ergriffenen dann nur im Sack in den Baum), und das angeblich dadurch vermittelte umfassende Wissen ist eine List bzw. Lüge und dient dazu, im vorbeikommenden Schüler genügend Interesse oder Wissensdurst zu erregen, dass dieser ihn wieder herunterlässt, ohne die Zwangslage erkennen und damit ausnutzen zu können. Allenfalls könnte man den angeblichen Weisheitsgewinn dort als ironisches Fazit des Aufgehängten lesen, welcher durch den Angriff klüger geworden ist, was das Verhältnis gegenüber seinem Bruder (der die Attacke initiiert hatte) oder die Wachsamkeit allgemein angeht. Eine ausreichende Vergleichbarkeit scheint hier aber eher nicht gegeben.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

auf gamlir weiterhin auf dem zuvor genannten þulr das Hauptgewicht der Strophe liegt, und obendrein, dass dieser nicht nur metaphorisch unter bzw. zusammen mit anderen „hängt“. Dann nämlich findet hier eine inhaltliche Bindung an die Situation Odins am Windbaum statt, deren Schilderung wenige Strophen später folgt. Gleichzeitig rückt ein solcher Konnex zwischen dem Selbstopfer Odins und dem „baumelnden Alten“ den þulr näher an den höchsten Asen heran: entweder metaphorisch im Sinne des Wissenserwerbs durch (Selbst-)Opfer oder ganz konkret etwa im Kontext einer kultischen Personifizierung. Aus dieser Perspektive heraus wird außerdem interessant, dass váfa noch ein weiteres Mal in den Hávamál belegt ist und dabei, im Ljóðatal, explizit auf eine am Baum hängende Leiche verweist.354 Odin tritt dort weiterhin als Runenritzer auf (ríst … fác), diesmal unmissverständlich als Magier, welcher Tote zum Sprechen bringt.355 Und auch bei einigen Heiti für den höchsten Asen, wie Váfuðr, Hangi oder Hangatýr,356 ließe sich ein Bogen zur rituell interpretierten Str. 134 schlagen. Lässt man diese nach Evans „hochspekulative“ Deutung zu, gibt es also einige Verbindungen zum fim­ bulþulr bzw. zu Odin. Auf der anderen Seite spricht auch nicht wenig gegen eine solche Lesart: Wie bereits erwähnt, ist Str. 134 sehr eng in ihren unmittelbaren Kontext gebettet, sodass durchaus ein erkennbarer Abstand zwischen dieser und der späteren Belegstrophe für váfa besteht, deren inhaltliches Umfeld obendrein signifikant abweicht. Aufgrund des ansonsten bemerkenswert säkularen Kontexts der Loddfáfnismál wirkt ein solcher Schwenk hin zu Kult und Ritus daher abrupt.357

354 Þat kann ec iþ tólpta, / ef ec sé á tré uppi váfa virgilná: svá ec ríst / oc í rúnom fác, at sá gengr gumi oc mælir við mic. (Str. 157) 355 Klingenbergs „wörtlicher Anklang“ an Str. 142 (1972, S. 132) ist vielleicht etwas zu optimistisch, da die Wort- (nicht jedoch wortwörtlichen) Korrespondenzen auch einfach aus dem Themenfeld stammen können: rísta und fá sind zwei direkt mit Runenerzeugung verbundene Verben (s. Dillmann, RGA 25, S. 539) und dürften schon fast zwangsläufig in einer entsprechenden Beschreibung auftreten. Zudem findet sich in Str. 142 mit gorðo ein weiteres Verb, welches in Str. 157 nicht erscheint. Dennoch ist natürlich nicht auszuschließen, dass hier ein gezielt geformter und nicht nur stereotyper Zusammenhang besteht. 356 Pipping 1928, S. 12; Hummelstedt 1949, S. 27; Evans 1986, S. 32; Bonnetain 2007, S. 14; Sundqvist 2009, S. 649. 357 Van Hamel liest Str. 134 sogar explizit als Beispiel für das in den umgebenden Strophen ausgedrückte Verbot, den Gast schlecht zu behandeln, und folgert: „In str. 134 […] an allusion to any magical performance is precluded, the words opt er gott þat er gamlir kveða point in quite a different direction. Gott and skilin orð are terms referring to daily life, not to the heights of magic and mystery“ (van Hamel 1932–33, S. 261).



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Auch der Weg vom Alter über die „hängenden Häute“ zu den „elenden Menschen“ ist in einem derartigen Zusammenhang nicht völlig einsichtig, zumal der þulr, selbst wenn man nun eine Theorie von dessen Wissenserwerb durch einen Selbstopferungsritus ansetzt, einen solchen kaum in den letzten Jahren durchgeführt haben dürfte. Vielmehr müsste er ihn als Initiations- oder Qualifikationsritus durchlaufen haben,358 um überhaupt das ihn zum þulr machende Wissen zu erlangen, und damit also in einem ungleich jüngeren Alter.359 Bezüglich einer anderen Theorie, der Grønviks,360dass es sich bei der Beschreibung in Str. 134 um eine Reflexion des Rúnatal-Rituals handele, welches wiederum eine unio mystica darstelle, wies McKinnell darauf hin, dass jenes Konzept der christlichen Mystik entspringt, „which was not widely known in northern Europe until the thirteenth century, and which did not

358 So selbst Sundqvists (2009, S. 663 f.) vorsichtige Annahme: „[…] Odin, the god who protected and also gave them their skills during the painful initiation ritual which progressed over the course of the nine nights“. Sowie: „For the cult leader, these rituals were probably necessary to perform in order to gain full legitimacy from the cultic community, and to be fully accepted as an adequate religious specialist“ (Sundqvist 2009, S. 664). Er bezieht dies zwar auf das Rúnatal, aber dessen Strophen bilden, zusammen mit den Uppsala-Opferungen, die Grundlage für die analoge Deutung von Str. 134. Im Rahmen letzterer Strophe wäre vor allem auch zu fragen, wie ein solchermaßen eingeweihter, und, dem Alter (hárr) nach zu urteilen, lange praktizierender „religiöser Spezialist“ (Sundqvist) überhaupt eine derartige soziale Abwertung hätte erfahren können, dass er zum Gespött verkäme, was im Anschluss eine Ermahnung wie in Str. 134 erforderlich machte; dies insbesondere noch, wie im hiesigen Fall, angesichts einer religiösen Bindung an Odin, den höchsten Gott. Da über die eventuellen Praktiken und damit einhergehenden Anforderungen solcher Ämter nichts bekannt ist, dürfte es wenig sinnvoll sein, im Detail darüber zu spekulieren. Eines sei dennoch angemerkt: Sofern das „Hängeritual“ die Legitimation für Amt und Würden des þulr als Kultspezialisten, wie von Sundqvist vermutet, darstellt, und dies auch noch vom Mahnenden als Verteidigung eingebracht wird, müsste das dort Erworbene eigentlich noch entsprechende Gültigkeit besitzen, nicht zuletzt auch wegen der Präsensform der Verben (þeim er hangir/scollir/váfir …). Sollte hier in der Tat ein historischer Niedergang des Amtes zugrunde liegen, wäre wiederum zu fragen, wieso sich dies dann nicht auch auf die Darstellung Odins bzw. dessen primordiale Handlung im Text ausgewirkt hat. Im Ganzen bleibt bei dieser Deutung so mancher Zweifel bestehen. 359 Pipping löst dieses Problem, indem er die zugrunde gelegte Zeremonie nicht als Kulthandlung zur Initiation oder gar im Kontext des (tatsächlichen) Todes, sondern als eine Art „Auffrischungsritual“ auffasst: „Vi behöva icke tänka oss den nordiska riten endast som en sådan [initiationsrit, KRMT], vare sig i fråga om mänskliga trollkarlar eller i fråga om Oden. Ocksa en gammal trollkarl – och icke minst just en gammal, som började känna sina krafter och sin kunskap tryta – kunde behöva friska upp sin magiska förmaga och sin hemliga visdom“ (Pipping 1928, S. 10). Problematisch daran ist, dass auch bzw. gerade für ein solches überhaupt keine Hinweise existieren. Zusätzlich besitzt ein Initiationsritual als Qualifikationsprobe für ein kultisches Amt eine gewisse grundsätzliche Plausibilität (Beschränkung und Prüfung für den Zugang zu hochaufgeladenem, wirkmächtigem Spezialwissen) und ein Opferritus an sich ist ebenfalls dokumentiert, wenn auch, wie im Rahmen des Uppsala-Berichts und anderer Belege erörtert, ohne direkte Verbindung zur vorliegenden Szene. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass im mittelalterlichen Skandinavien „Auffrischungsrituale“ existiert hätten, welche dann noch spezifisch den þulr betrafen. 360 Grønvik 1999, S. 49 und S. 52 ff.

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surface in English and German vernacular works such as The Cloud of Unknowing until the fourteenth“.361 Sundqvist wiederum erteilt dem gesamten Konstrukt Grønviks eine Absage, da nichts darauf hindeute, „that the ‚thul‘ should be conceived as a mystic“, vielmehr sei eine „öffentliche“ Funktion am Hofe wahrscheinlicher; nicht zuletzt, da auch weitere Thesen des Autors einer genaueren Betrachtung nicht standhielten.362 Dass es über Praktiken wie das postulierte Hängen in einem Sack keine Belege gibt, betont auch van Hamel,363 welcher „a closer description of the wandering þulr with his shrivelled skin“ daher tendenziell den Vorzug gibt und zur zweiten váfaBelegstelle in den Hávamál feststellt: […] from Háv. str. 158364 nothing can be inferred, except that the rune-master is capable of reviving dead bodies by means of runes, and thus make them speak,  – a practice very common among Icelandic magicians.365

Auf einer weiteren Ebene stellen auch die Ähnlichkeiten in der Hugsvinnsmál-Strophe und  – teils  – deren lateinischer Parallele ein Hindernis dar: Sie enthalten keinerlei kultische Anklänge, sondern, im Gegenteil, eine neutrale Verallgemeinerung, unabhängig von dezidiert säkularen oder religiösen Aspekten. Zwar lässt sich eine Umformung ins Rituelle nicht völlig ausschließen, ebenso aber nicht schlüssig bezeugen. Auch hier, wie nur zu häufig bei der Figur des þulr, bringt Irvings bereits erwähnte, Beowulf-bezogene Beschreibung vieler Hypothesen: „unprovable if not […] untenable“,366 das Dilemma auf den Punkt. Und auch hier bietet sich, wie bereits bei dem altenglischen Werk, in meinen Augen diejenige Deutung an, welche die geringsten interpretatorischen Zusatzkonstrukte erfordert. Um noch einmal zurück zu den Parallelversen zu kommen, handelt es sich obendrein strukturell bei den þeim er … oc … oc-Passagen der Hávamál-Strophe um eine Elaboration des Alters, nicht des þulr, trotzdem das Adjektiv (gamlir) nun im Plural steht: Wieder aufgenommen wird hier scǫrpom belg, welches, wie auch aus der opt er  …  / opt ór  …-Parallele der beiden Zeilen ergeht, sich auf gamlir bezieht. Spätes-

361 McKinnell 2007a, S. 105; und McKinnell 2007b, S. 95: „no evidence for a tradition of heathen Germanic mysticism“. 362 Sundqvist 2009, S. 659 ff. Bei der Aussage zur offiziellen Funktion stützt sich Sundqvist allerdings stark auf die altenglischen Quellen, v. a. Unferð und die Glossen (Sundqvist 2009, S. 660). Dass deren Gleichsetzung mit den norrönen nicht unbedingt angebracht und auch Unferðs Status am Hofe Hroðgars weiterhin unklar ist, wurde bereits bei der Erörterung dieses Materials angemerkt und lässt eine solche Deutung ungewiss erscheinen. Allerdings wäre sie immer noch erheblich stichhaltiger als die Grønviks, für die weder Text noch Historie ausreichende Indizien bieten. 363 van Hamel 1932–33, S. 261. 364 Str. 157 bei Neckel/Kuhn. 365 van Hamel 1932–33, S. 261. 366 Irving 1989, S. 39.



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tens diese Zeile trennt also den þulr als konkrete Figur von der folgenden Darstellung ab. Dass das Subjekt der nächsten Zeilen im Singular steht, entspricht dabei auch anderen in den Hávamál verwendeten opt-Exempeln (vgl. etwa Str. 20, Str. 40, Str. 52, Str. 93). Das Aufhängen speziell von Greisen wiederum, welches die Zeile beschreiben würde, deutet man das Verb ganz konkret und übersetzt vilmǫgom als „elende Menschen“ (welche mit ihm hängen), ist in dieser Form historisch ebenfalls nicht bezeugt. Eventuell ergibt sich noch eine zusätzliche, Magnússons Deutung recht ähnliche Möglichkeit, den alten Mann und „runzeligen Balg“ mit dem eldahús- oder sogar einem noch allgemeineren Szenario des Forschers zu vereinen, wenn man hanga mit Dronke/Fritzner als „loitering“367 übersetzt sowie scolla und váfa entweder als dessen reine Variationen deutet oder aber einen weiteren Schwerpunkt auf den Beiklang der zwei Verben legt: Bei scolla wie auch váfa, insbesondere aber beim letzten Verb, ist, abgesehen vom Hängen, auch eine gewisse, unwillkürliche Bewegung impliziert (scolla: „hang over, dangle,368 váfa: „swing, vibrate to and fro“, im übertragenen Sinne auch „waver“369). Nicht ganz unmöglich scheint daher, dass hier vom runzeligen Balg über das Pendeln von Häuten im Rauch (hanga als gezielte Ambiguität) ein Bogen hin zum Schwanken oder Alterszittern des Greisen geschlagen wird. Unter solchen Umständen wäre með ganz regulär als „unter“ oder „inmitten von“ bzw. „im Umfeld von“ zu lesen, also in etwa entsprechend Magnússons „identity of location“, aber nicht der „of condition“ im Sinne eines konkret aufgehängten Menschen. Von einem solchen Ansatz aus, welcher die Verben mit den Lasten des Alters in Verbindung bringt, ist sogar eine Lesung von vilmǫgom als Jónssons „wretched persons“ möglich, die sich konkret auf Hochbetagte bezieht: elend nicht aufgrund eines Sklavenstatus oder als Beschimpfung, sondern vielmehr als Opfer der Altersschwäche, also vergleichbar dem ellibjúgr der Hugsvinnsmál. Andererseits wäre ein Bezug des Terminus auf Gesinde, welches bei und mit dem Feuer zugange ist, auch hier nicht unplausibel. Bei aller textlichen Verschiedenheit fände sich bei einem solchen Bild eine grobe Parallele des zweiten Teils der Strophe im Ende der Egils saga, wo der körperlich stark geschwächte, altersblinde Protagonist wegen seines am Feuer Liegens von der matselja vertrieben wird und darauf trotz aller Gebrechen noch mit einer vísa reagiert370 – opt er gott, þat er gamlir qveða! Legt man hingegen in einem solchen Umfeld Magnússons Deutung „Labmagen“ zugrunde, lässt sich dies auf zwei Arten interpretieren: Einmal schlicht als weitere

367 Dronke 2011, S. 61; Fritzner 1, S. 729: „2) blive ubevægelig uden at foretage sig noget, hænge, = Folkesprogets hengjast hos“. 368 C/V, S. 554. 369 C/V, S. 683. 370 Egils saga Kap. 87 (Einarsson 2003, S. 179).

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Reduktion oder  – möglicherweise komische371  – Pejorisierung des alten Menschen, welcher nun nicht mehr nur auf das Bild körperlichen Verfalls beschränkt, sondern schließlich sogar Tieren angenähert wird. Der Begriff belgr wird nach C/V auch  – selten – sprichwörtlich für den Menschen gebraucht.372 Für das rekonstruierte vilmagi lässt sich eine solche Aussage zwar nicht treffen, Hummelstedts Betrachtungen über das finnlandschwedische löyp würden aber immerhin, sofern hier in der Tat eine Funktionsähnlichkeit vorliegt, einen derartigen Gebrauch stützen. Im Deutschen könnte man vielleicht eine (in jeder Hinsicht) grobe Parallele in der Bezeichnung „alter Sack“ finden, denn auch der skandinavische aufgehängte Labmagen fungiert als Behälter. Durch einen so vergrößerten Kontrast der herabsetzenden Bezeichnung zur positiven Eingangserklärung erhält die Aussage des Spruchweisen erhöhte Einprägsamkeit. Eine zweite Deutungsvariante im Rahmen von Magnússons These bietet sich dahingehend, dass es sich beim Labmagen um die Weiterführung des Bildes von Trocken- bzw. Räucherwaren handelt, denen der Sprecher mittelbar über belgr den Greis zugesellt, weil jener sich im selben Umfeld wie sie befindet: Der Alte wird so metaphorisch zu einem weiteren „Balg373 an der Feuerstelle“; auch hier könnten scolla und váfa zusätzlich unkoordinierte, unwillkürliche Bewegungen andeuten. Bei jedem dieser Fälle ist allerdings erforderlich, die Verben nicht als spezifische Lagebestimmung, sondern als allgemeine Position bzw. charakteristische Bewegungsart zu lesen sowie gegebenenfalls den Einflussbereich von hanga auf die das Verb beinhaltende Zeile zu reduzieren. Im Ganzen wird somit ersichtlich, dass keine der Interpretationen vollkommen zu überzeugen vermag  – für jede müssen Kompromisse eingegangen werden. Wie aber hoffentlich gezeigt werden konnte, ist es doch nicht einzig die Lesart als Opfer­ szenario, welche, wie Evans meinte, „einen Sinn ergibt“. Eine letzte Variante bietet Larrington, die sich bei diesem Problem, entsprechend ihrem Diktum der durchgehend übernatürlichen Komponente, sogar zu einer Kombination beider Deutungen entschließt und Str. 134,9–12 erst folgendermaßen säkular überträgt: […] one who hangs among the hides and hovers among the skins and swings among the cheese-bags,374

371 Dies nehmen auch Sijmons/Gering an (S/G 3/1, S. 139 f.), ebenso Heusler (1917, S. 213) und Larrington (1993, S. 58) sowie Dronke (2011, S. 46), welche die gesamten Folgestrophen nach 134,8 f. als „a more detailed satirical description of the þulr“ betrachtet und vermutet, die Undurchsichtigkeit sei – womöglich unter Einfluss der Rätseltradition – intendiert. 372 C/V, S. 57. 373 Bzw. im letzten Fall Organ(-„behälter“). 374 Larrington 1993, S. 58.



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um fortzusetzen: „The thought moves from the metaphor of the old man as bag, behind which we sense the outline of the þulr who hangs himself on a tree to gain wisdom, to the literal picture of the dangling bags and cheese-bags of a farm kitchen“.375 Diese Vorstellung ist attraktiv, bringt aber keine Lösung, sondern eher eine Verdoppelung der Probleme mit sich (hapax legomenon, fehlende Belege für Kompositum wie Ritual etc.)  – was jedoch zugegebenermaßen kein Ausschlussgrund sein kann. Was nun genau für das Vexierbild, etwa im Gegensatz zu einer der beiden Deutungen allein, aber auch für die Annahme des þulr-Rituals spricht, wird aber leider überhaupt nicht weiter dargelegt;376 und ob letztlich das, was der moderne Leser als Kind einer Schriftkultur im Besitz von nur einem begrenzten überlieferten Textkorpus sowie im Spannungsfeld der Alterität „spürt“ („we sense …“), dem entspricht, was der altnordische Mensch beim Rezipieren dieser Zeilen empfinden mochte, erlaubt gewisse Zweifel. Auch Larringtons Ansatz vermag also nicht, das Problem zu lösen. Gerade wenn man den Schwerpunkt der drei oder vier letzten Zeilen jedoch mehr auf die poetische Technik, hier vor allem die Variation, legt, dazu eventuell noch von einem Sprichwort in Str. 134,8 ausgeht  – ganz zu schweigen von der Frage, ob die letzten Zeilen ursprünglich überhaupt Bestandteil der Strophe waren –, ist eine Elaborierung des einleitenden Bildes vom verschrumpelten Balg in den weiteren Versen durchaus denkbar. Eines Bildes, welches sich fast schon zu verselbständigen scheint und doch Anknüpfungspunkte an die Grundaussage, die Zentralthematik „Alter“ sowie die Verallgemeinerung enthält. Eine solche Lesart schließt, obwohl im Detail abweichend, auch die Übersetzungen Krauses und Hänys mit ein. Die Deutung von vilmǫgom als altersschwache Personen, wie eben beschrieben (eventuell, aber nicht notwendigerweise, mit emphatisch-pejorativen Verweisen auf tierische Bestandteile), scheint mir, schließlich, sich anhand der eben erörterten Punkte noch am ehesten in Strophenverlauf, Technik, Struktur und Umfeld einzufügen sowie inhaltlich etwas weniger Spekulation zu erfordern: Es existieren traditionelle kulturelle Praktiken für den aufgehängten Labmagen, möglicherweise sogar funktionelle Analoga in anderen kulturnahen Sprachen, und wenn auch keine Belege für das Kompositum vorhanden sind, sind die Simplizia doch bezeugt. Hingegen ist nirgendwo zufriedenstellend beweiskräftiges Material über speziell mit dem þulr in Verbindung stehende Kultpraktiken überliefert, welche diesen dazu noch als Ausübenden eines Hängerituals zeigen, sodass selbst die belegte Bedeutung „elender Mann“ weitere Interpretationsschritte erfordert, um zum vorgeschlagenen Bild zu

375 Larrington 1993, S. 58. 376 Larrington verweist hier (1993, S. 58 und S. 91) auf Flecks Studie zu einem eventuellen invertierten Hängeritual (Fleck 1971a, S. 119–142), welches aber auf dem Rúnatal beruht und nicht auf Str. 134. Auch spielt der þulr dort praktisch keine Rolle (implizit kann man ihn in Flecks Erwähnung von Pippings Aufsatz zu Odins Position am Galgen (Pipping 1928) beteiligt sehen), sondern es geht hauptsächlich um die Odinsdarstellung.

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kommen. Magnússons Lesart wird daher im Folgenden zugrunde gelegt. Dennoch soll auch das Opferszenario in der Kriterienauswertung nicht gänzlich unerwähnt bleiben, da die Deutung keinesfalls völlig ausgeschlossen werden kann und mehrere unbestreitbare Anknüpfungspunkte besitzt.

5.4.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 134 Bei der Auswertung der Strophe zeigt sich ein ähnliches Muster wie bei anderen Belegen in diesem Werk: In drei der vier377 Textstellen, in welchen ein þulr in den Hávamál auftritt, äußert er sich nicht in für die Untersuchung erschöpfend verwertbarer Manier  – es ist nicht zu erfahren, was und in welcher Form die Figur etwas adressiert. Dies geht zulasten einiger Kriterien und bedingt zugleich im Ganzen eine weniger affirmative Analyse als bei inhaltsreicheren Zeugnissen. 5.4.2.1 Text(re-)produktion Originalität Der Originalitätsgrad der Äußerungen des þulr lässt sich bei diesem Textabschnitt nur sehr schwer ersehen. Eventuell würde noch implizit für einen eigenschöpferischen Anteil sprechen, dass es bei dieser Figur in Str. 134 spezifisch um die Qualität und/oder den Nutzen für den Zuhörer Loddfáfnir geht: etwas, das mit einer reinen Komplettreproduktion (formal wie inhaltlich) bereits existenter Texte wahrscheinlich etwas weniger gut vereinbar sein dürfte378 als mit entweder in eigenen Worten repro-

377 Str. 80, 134 und 142. Str. 111 besitzt in diesem Punkt eine eigene Problematik; hier würde diese Aussage nur zutreffen, wenn man davon ausgeht, dass die Stelle entweder abgetrennt vom folgenden Text zu sehen ist (also das „so Gesagte“ nicht die Loddfáfnismál  – und auch keinen anderen Text – einleitet), oder aber dass die Figur auf dem þular stóll, aus welchen Gründen auch immer, nicht als þulr angesehen werden kann bzw. die folgenden Zeilen nicht spricht. Beide Ansätze sind wenig vielversprechend und wurden, auch weil sie nicht bewiesen werden können, in dieser Untersuchung nicht weiterverfolgt. Besonders die letztere Annahme machte die Untersuchung außerdem völlig obsolet: Wenn die Figur kein þulr sein sollte, finden sich hier auch keine entsprechenden Kontexte, die zu erörtern einen Sinn hätte. Da zudem die hiesige Auswertung der Str. 111 Strophenkontext und Folgekontext ohnehin zu einem erheblichen Teil trennt, lässt sich die Auswertung einer theoretisch für sich stehenden Str. 111 ohne Bezüge zu den sonstigen Hávamál auch als der Teil der jeweiligen Erörterungen begreifen, die sich nur auf ebendiese Strophe bezieht und weder Loddfáfnismál noch Rúna- und Ljóðatal noch Str. 164 anspricht (bezüglich Originalität dann etwa die Eigenproduktion der Inhalte von Str. 111, nicht aber die Reproduktion von Odins Worten in den Folgepassagen). 378 Wieso sollte eine wortwörtliche Wiedergabe traditionellen bzw. verbreiteten Wissens gerade alten Menschen (im Ganzen, also keine diesbezüglichen Spezialisten) zugeschrieben werden, wenn bei einem solchen Inhalt die vermittelnde Instanz – und damit deren Wesen – praktisch keinen Einfluss hat?



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duziertem Wissen (teilweise Originalität) oder gar vollständig autonom erworbener Altersweisheit (durchgängige Originalität). Selbst dies ist aber schon reichlich spekulativ, zumal auch über Loddfáfnir nichts bekannt ist, aus dem sich Art und Weise von Nutzenerwartung oder Qualitätskriterien ersehen ließe. De Vries’ Aussage über den Zweck des Gedichts im Ganzen trifft damit auch in diesem Detail zu: „Saa længe vi er uvidende om hvem Loddfáfnir var, kan vi vanskeligt paa en apodiktisk Maade afgøre hvilket Formaal Kvadet havde“.379 Formalästhetik (Stilistik, Sprecherorientierung und Publikum) Ohne Kenntnis der individuellen Äußerung kann weiterhin auch die Frage nach deren stilistischer Ausführung nicht beantwortet werden. Ebenso bleibt die Orientierung des þulr unklar und das Publikum als Gegenüber tritt gleichfalls nicht in Erscheinung. Der generalisierende Kontext der Strophe verweist hier einerseits auf unspezifische Situationen, die formelhafte Anrede rückt das Ganze andererseits in ein Lehrszenario, in welchem Loddfáfnir sich hypothetisch in Gegenwart eines alten þulr finden mag, der sich entweder an ihn persönlich oder allgemein an Adressaten in dessen Umfeld wendet – oder von dem dies zumindest erwartet wird. Loddfáfnir wäre also Publikum, während unklar ist, ob er darin auch mit dem vom þulr intendierten übereinstimmt. In jedem Fall ist es aber unwahrscheinlich, dass übernatürliche Mächte hier eine Rolle spielen: Selbst bei Ansetzen der Ritualtheorie stellten diese schließlich nur die nachgeschobene Autoritätslegitimation der Figur dar (und damit die Basis für das Lachverbot), nicht jedoch eine Beschreibung der spezifischen Situation, in welcher der þulr sich gegenüber dem Zuhörer äußert. Hinsichtlich einer Bewertung wiederum ist Str. 134 ein Sonderfall, da hier gleich mehrere Aspekte und Perspektiven hineinspielen. Ein verbreitetes negatives Urteil über die Figur (und deren Äußerungen) – aus denen das Verlachen resultiert – wird zuerst einmal stillschweigend vom Strophensprecher vorausgesetzt, da ansonsten die Ermahnung unnötig wäre. Explizit folgt dann die positive Bewertung mit, je nach Kontext inhaltlich-kultisch oder eher formal-variierend, erweiterter Begründung. Dabei soll an dieser Stelle noch einmal kurz angemerkt werden, dass genau genommen die Verteidigung durch opt geringfügig eingeschränkt ist; spätestens die Variation des positiven Inhalts lässt aber erkennen, wo der Kern der Aussage liegt, sodass eine weitere Differenzierung hier unnötig erscheint. (Dies gilt gleichermaßen für alle weiteren Kriterien, bei denen die Gegenüberstellung von negativer und positiver Zeichnung eine Rolle spielt.) Beide Bewertungen, negativ wie positiv, erfolgen außerdem extern: Was der þulr selbst von seinen Äußerungen hält, wird nicht ersichtlich (wobei man aber annehmen kann, dass er sie zumindest nicht so negativ betrachtet,

379 de Vries 1934, S. 29.

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dass sie sich eigentlich verbieten würden). Die für die positive Bewertung angesetzten Kriterien werden allerdings ebenfalls nicht weiter ausgeführt: gott und scilin genügen als Gütebezeichnung, sodass sich über weitere inhaltliche, formale oder gar ästhetische Aspekte dieser Einstufung nur rätseln lässt. Nimmt man die Hugsvinnsmál als einflussreiche Parallele hinzu, ließe sich hier wenigstens noch ein Bogen zu allgemein „lehrenswertem“ Wissen schlagen (kennir gott gumum), was die Aussage an sich aber auch nicht viel aufschlussreicher macht. Zu bemerken ist allerdings auch hier, dass die Ehrenrettung sich, wie bereits in der bisherigen Analyse der letzten Strophenzeilen genannt, genau genommen nicht mehr spezifisch auf den þulr, sondern generell auf „Alte“ bezieht. Damit bleibt offen, ob der þulr hier in der Tat noch gezielt verteidigt wird oder nur mehr gesichtsloses Mitglied einer Gruppe mit dem Merkmal „alte Menschen“ ist, das zwar ebenfalls in Schutz genommen wird, aber dies nicht, weil es ein þulr ist, sondern seiner hohen Jahre wegen. Von der reinen Versaussage her geurteilt, ist Letzteres der Fall. Und insbesondere wenn die Ritualhypothese abgelehnt wird, dürfte dies auch aus szenischer Hinsicht wahrscheinlicher sein  – nicht zuletzt, da die finalen Zeilen dann einzig Alterserscheinungen metaphorisieren, nicht aber „þulr-tum“.

Performative Aspekte Die Frage nach einer etwaigen Performanz bleibt bei Str. 134 ebenfalls praktisch unbeantwortet: Da die Strophenaussage allgemein bleibt und „Alte“ ebenso wie der þulr selbst beim Sprechen nicht in einer spezifischen Situation verortet werden, liegt zumindest nahe, dass der Kontext eine Performanz nicht zwingend voraussetzt. Allenfalls ließe sich eine gewisse Performativität konkret am Verb qveða festmachen, liest man die Bedeutung hauptsächlich aus der Perspektive von Inquit-Formeln wie in der Liederedda oder als Einleitung für Skaldenverse vor allem in Sagaprosa. Eine solche Lesart würde auch die Originalitätsthese wieder etwas stützen, da es sich bei jenen derartig eingeführten Äußerungen meist um als (im weitesten Sinne) individuelle Eigenschöpfungen dargestellte Texte handelt. Für eine solche Präzisierung gibt es in Str. 134 aber wenig zwingende Gründe.

Situationskontext Richtet man den Blick nun auf den szenischen Kontext, ist die Situation, wie bereits erwähnt, ähnlich unscharf. Sprecher und Setting des Rahmens werden nur umrissen (der hier noch nur als ec erscheinende Formelsprecher und der einzig namentlich bekannte Loddfáfnir). Wann der alte þulr vorträgt – oder, genauer gesagt: auftritt oder erscheint, was mit zumindest der Erwartung einer Äußerung einhergeht  –, sowie, vor wem und für wen er dies tut, bleibt ebenso ungenannt. Damit lässt sich auch der formale Gehalt der Äußerungen nicht eindeutig bestimmen; wie die Frage nach Säkularität oder Ritualbezogenheit unterliegt dieser Punkt der Interpretation: Der



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„Ritualsprecher“ der Hängeopfer-Theorie hat beide Möglichkeiten – er kann sich der Rolle entsprechend zeremoniell oder anderweitig formal äußern, sofern er dies qua Amt tut, oder – diesem zum Trotz – als Individuum in einem nicht-rituellen Kontext das Wort ergreifen. Letztendlich bezieht sich die abschließende Hängebeschreibung genau genommen ohnehin nur auf die erklärende Verteidigung, nicht aber die spezifische Sprechsituation der anfangs implizit gescholtenen Figur. Im Ganzen wirkt jedoch wahrscheinlicher, dass, falls diese Theorie in der Tat zutrifft, einem solchen Auftreten auch ein ritueller Kontext unterliegt, da ansonsten die Nennung speziell eines þulr unnötig wäre. Entsprechend ist die Situation während eines Rituals mythisch-kultisch oder magisch aufgeladen, außerhalb davon wäre aber auch ein weltliches Szenario möglich. Ein wenig ist dies Dilemma mit Unferð vergleichbar, von dem nicht bei jeder Äußerung klar ist, ob er sie in seiner Eigenschaft als þyle tätigt oder als „Privatperson“ (was durch die Beschreibung der Eifersucht noch verstärkt wird). Zieht man andererseits die gegensätzliche Theorie der mundanen Altersmetaphorisierung heran (gleich, ob mittels vil- oder vílmǫgom), entfallen sämtliche rituellkultischen Bestandteile. Es äußert sich der þulr damit hier höchstens in irgendeiner Art formal (sofern diese Bezeichnung formale Rede grundsätzlich impliziert und eine solches erfordernde Situation vorliegen sollte), im Ganzen dürften aber eher unzeremoniell-individuelle Anteile überwiegen – schlicht, weil nichts Formalisiertes oder anderweitig Hervorstechendes in irgendeiner Art vermittelt wird. (Im Nebeneffekt würde durch eine solche Ausdrucksart die Differenz zu einem nicht-greisen þulr als in irgendeiner Form markantem Formalsprecher noch einmal verstärkt.)

Rollen und Autorität Etwas ertragreicher gestaltet sich glücklicherweise die Frage nach der Autorität, und hierbei besteht außerdem eine Verbindung zur Bewertung. Auch dieses Kriterium besitzt zwei Ebenen: In der Binnenerzählung wird mit dem Verlachen die Autorität des þulr angezweifelt (wenn sie überhaupt je bestanden hatte, was zumindest für diese Figur in diesem Kontext nicht unzweifelhaft festzustellen ist). Diese Wertung bestreitet der Rahmensprecher anschließend durch die Verteidigung und bekräftigt in jener wenigstens deren geistig-verbales Gewicht. Hierbei ist allerdings erneut zu beachten, dass, je nach Interpretation, der Gegenstand der Verteidigung auch allgemeinerer Natur sein kann als der þulr selbst. Im Unklaren verbleibt weiterhin die spezifische Art der Autorität, da sie weder aus der Situation noch aus anderen Umständen ergeht. Es lässt sich also anhand des Stropheninhalts nicht bestimmen, ob es sich um einen zeitlich eingeschränkten oder dauerhaften Status handelt, gleichfalls nicht, worauf dieser Status gegebenenfalls beruht. Die Autorität allein dem þulr „qua Amt“ (sofern existent) zuzuschreiben, scheint unter solch diffusen Umständen zu spekulativ, zumal auch die anderen Belege etwas Derartiges nicht mit Sicherheit beweisen.

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Das kaum zu lösende Autoritätsproblem leitet zurück zur Frage, wieso es ausgerechnet der alte þulr ist, der niemals verlacht werden soll, und der Lehrsatz nicht einen anderen Terminus bemüht, welcher sich besser mit der daran anschließenden Erklärung vereinen ließe (etwa, indem das Ausmaß der erfassten Zielgruppe gleich bleibt und sich nicht, wie in der überlieferten Version, plötzlich verbreitert). Auch wenn es aufgrund der kurzen, meist nur lose verbundenen Stropheneinheiten wenig textliche Indizien dafür gibt, bietet sich der, schon zuvor aufgebrachte, durch den Begriff vergrößerte Kontrast zu den Infirmitäten später Jahre an: Der stereotype Verlust geistig-verbaler Fähigkeiten des Greises, wie sie auch in der Disticha CatonisStrophe aufgebracht werden (und dort gar als Entschuldigung dienen – hierin, wie erwähnt, konträr zu den zwei altnordischen Texten), wöge, und wirkte, bei einem þulr als im weitesten Sinne „Wort-Experten“ wohl ungleich schwerer als bei einem gewöhnlichen, nicht weiter definierten Mann. Auf einer anderen Seite steht die bereits anfangs erwähnte, bemerkenswerte Häufigkeit der Vorkommen eines alten þulr – bei zugegebenermaßen insgesamt wenigen Belegen für den Begriff überhaupt. Es befindet sich in fast jedem der altnordischeddischen Texte ein alter þulr.380 Damit ist folglich auch nicht auszuschließen, dass es sich hierbei um einen formelhaften Ausdruck (oder ein solches Bild) handelt, welcher aufgrund der Altersthematik und somit stärker über das Adjektiv seinen Weg in die Strophe fand, während die spezifischen Konnotationen des Substantivs geringeren Einfluss hatten. Weiterhin ist ebenso nicht ausgeschlossen, dass þulr hier pejorative Bedeutung trägt (beispielsweise „(alter) Schwätzer“); überdies etwas, was, wie zuvor erwähnt, auch für die Fáfnismál vertreten wurde.381 Beide Belege, Fáfnismál Str. 34 und Hávamál Str. 134, zeigen dabei speziell die Phrase hárr þulr, während in den Vafþrúðnismál, in denen, wie erörtert, eine negative Bedeutung tendenziell unwahrscheinlich ist, das Attribut gamall verwendet wird.382 In der Loddfáfnismál-Strophe dürfte ein solchermaßen abfälliger Gebrauch von þulr dann auf die emphatische Kontrastvergröße-

380 Interessanterweise erfahren wir absolut nichts über das Alter Unferðs. Ebenso ist bemerkenswert, dass in keinem Text, weder aus England noch Skandinavien, eine gegensätzliche Altersbezeichnung existiert: Der „junge þulr“ ist nirgends bezeugt. 381 Müllenhoff 1908, S. 289. 382 Dagegen könnte eventuell sprechen, dass hárr in Hávamál Str. 134 anschließend vom Rahmensprecher mit gamall variiert wird, ohne dass jener dabei eine negative Bedeutung übernimmt. Allerdings würde eine solche Perspektive nicht die unterschiedlichen Textebenen miteinbeziehen: Die Formulierung lässt nämlich nicht nur die allgemeinere Lesart „verlache nicht (einen) hárr þulr“ zu, sondern könnte auch als Verbalisierung der Gedanken der Kritiker gedeutet werden: „verlache nicht einen, den Du (verächtlich) hárr þulr nennst“. Die Verteidigung des Sprechers mittels gamlir kann in diesem zweiten Fall zusätzlich noch als gezielt eingesetztes neutrales Attribut gedeutet werden, sodass also mit der Variation auch eine, nicht ganz implizite, Korrektur erfolgt.



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rung zum Lehrsatz abzielen:383 Offene Verachtung von Person und Inhalt steht gegen ebenso entschiedene Wertschätzung. Darüber hinaus wird durch die Verteidigung vor allem das verbale Element der Bezeichnung betont (qveða), während sonstige denkbare Anklänge, seien sie offizieller, formaler, mythischer oder kultischer Natur, hinter die Äußerung der Figur zurücktreten müssen, denn auch der Lehrsatz nimmt auf nichts davon Bezug, einzig auf die Rede. Als Nebenbemerkung fügte sich ein solcher abfälliger Gebrauch auch recht gut in das Bild des verrunzelten Alten (besonders auf Basis Magnússons) ein, welches ebenfalls nicht sonderlich schmeichelhaft gestaltet ist. Mir scheint dieser Ansatz auch daher um einiges schlüssiger als ein Rückgriff auf „traditionelle“ Ritualpraktiken. 5.4.2.2 Informations(re-)produktion Informationsarten und Informationskontext Die verschiedenen Kriterien der Informations(re-)produktion leiden ebenfalls unter der Undurchschaubarkeit der Passage. So ist es unmöglich, die Arten der vom Thul in dieser Szene übermittelten Informationen genauer zu ersehen. Auch über deren Kontext lässt sich kaum mehr als spekulieren: Entweder es äußert sich der þulr hier als Individuum oder aber in irgendeiner Form offiziell – beides kann argumentativ begründet werden, und doch ist nichts davon in der Strophe selbst ersichtlich. Mit offizieller Rede stünde dabei vor allem eine positive Deutung der Begriffsverwendung in Einklang: der Verweis auf (verlorene) Qualitäten unter Beibehaltung der Rolle. Im Gegenzug lässt die Lesart als „Schwätzer“ auch die rein individuelle Äußerung zu, ja bedingt sie geradezu, denn dieser wenig höfliche Titel setzt keinerlei besondere Qualifikationen voraus. Hierin ließe sich sogar noch eine weitere Verbindung zur generischen Verteidigung ersehen, welche ebenfalls unspezifische Personen referenziert. Kompetitivität, schließlich, spielt im Rahmen der Beschreibung bei keiner Lesart eine Rolle, denn es sind keine Gegenüber beschrieben. Letzterer Mangel kommt ebenso bei einer Deutung auf Basis der Ritualhypothese zum Tragen, deren weitere Resultate allerdings etwas anders ausfallen: Aus dieser Perspektive wäre, bei gleichermaßen unbekannten Inhalten, von einer höchstwahrscheinlich offiziellen Äußerung des þulr auszugehen – wäre es anders, geriete die Funktionsbezeichnung zum blinden Motiv. Auch würde besonders in diesem Fall, wo nicht nur der Rednercharakter, sondern ganz spezifisch im geistlichen Leben verwurzelte Fähigkeiten eine

383 Hierin ähnelt der Zweck dem eines positiv (verbal bzw. intellektuell) konnotierten Gebrauchs: Bei Letzterem bildet die Grundlage für den Kontrast das Adjektiv (alt im Sinne der Altersschwäche), während möglicherweise positive Konnotationen des Substantivs (Kompetenz, daraus folgende Autorität) dadurch neutralisiert werden. Im Gegensatz fungieren beim negativen Gebrauch beide Teile zusammen als grundsätzliche Abqualifizierung. Hier ist der Abstand also noch etwas größer.

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Rolle spielen, der verallgemeinernde Lehrsatz über „die Alten“ die vorherige Spezifizierung konterkarieren, was ein weiteres Problem dieses Ansatzes darstellt: Es fallen immer wieder Inkongruenzen auf, selbst rein interne, wie hier. Tradierung Unabhängig vom Äußerungsmodus lässt sich immerhin – auch hier allerdings ohne letzte Sicherheit  – eine recht wahrscheinliche Tradierungsfunktion ansetzen: entweder, bei persönlicher Äußerung, eine allgemeinere, von erworbenem Wissen an sich. Dies kann etwa im Zusammenhang mit der Hugsvinnsmál-Parallele gelesen werden, wo das „Gute“, was der alte Mann den Menschen beibringen kann, nicht näher bestimmt ist und damit nicht in den expliziten Kontext formaler Erziehung gestellt wird. Gerade diese Parallele erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der þulr hier in irgendeiner Form als Tradent wirkt. Alternativ, im Falle offizieller Äußerung, läge eine Tradierung von in der einen oder anderen Form kanonisiertem oder anderweitig formalisiertem Wissen vor, welches mit der ausgeübten Funktion in Verbindung steht – also etwa mythologische Inhalte oder auch kultische, magische, gegebenenfalls auch säkulare(re), etwa im Sinne kultureller, historischer, sozialer oder sonstiger Informationen. Die genaue Art bleibt aber einmal mehr im Dunkeln und gerade die Verallgemeinerung über gamlir weitet erneut die möglichen Formen der Expertise so stark aus, dass kaum ein Bereich nicht denkbar scheint – auch in diesem Punkt wirkt also die Verteidigung der anfänglichen klareren Zeichnung durch den þulr-Begriff entgegen. Validierung Interessant ist bei Str. 134 indes alles, was mit der Wirkmacht zu tun hat. Zur Bewertung und der Autorität der Äußerungen gesellt sich hierbei noch die Frage nach ihrer Gültigkeit und Validierung. Auch in diesem Punkt greift zudem der Mechanismus der Doppelung über den Rahmen und die hypothetische Situation: Ausgangspunkt ist die Darstellung des þulr als unzuverlässige, nicht ernst zu nehmende Instanz  – damit sind seine Aussagen ungültig. Diese Invalidierung ist, wie bereits auch die negative Bewertung, eine implizite und im Lachen enthalten. Anschließend erfolgt die Rechtfertigung mittels funktionsübergreifender Generalisierung außerhalb der zuvor gezeichneten Szenerie. In gewissem Sinne sind die zwei Validierungen hier also nicht nur verschiedenen Figuren(gruppen), sondern vor allem unterschiedlichen Textebenen zugeordnet: zuerst die hypothetische Situation als eine Art Kern mit falscher Beurteilung, dem es entgegenzutreten gilt. Dann die erklärende, übergeordnete Verteidigung des hier allwissend erscheinenden Sprechers, welche die erste ersetzt. Validierung und konkret zu beurteilende Sprechsituation sind in der zweiten Phase also voneinander durch den Rahmen getrennt, in der ersten jedoch nicht (das Lachen als Reaktion auf den þulr erfolgt direkt). Ebenso unterscheidet sich die Art



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und Weise der Gültigkeitserklärungen: Eine Invalidierung durch Lachen ist öffentlich, direkt und individuell, die erklärende Rahmenverteidigung einerseits „privat“ (Sprecher zu Loddfáfnir), andererseits aber auch indirekt (getrennte Situationen) und verallgemeinernd. An dieser Stelle ist nun noch ein letztes Mal das opt aufzugreifen, welches bei diesem Aspekt am deutlichsten zum Tragen kommt: Die Verteidigung bewirkt durch die Einschränkung kein uneingeschränktes Lob, also eine Art Generalamnestie, welche quasi jegliche Äußerung eines „Alten“ validieren würde, sondern nur einen signifikanten Teil davon.384 In diesem Bereich tritt die  – stereotype?  – Einschränkung damit am stärksten zutage, während sie für die meisten anderen Kriterien keine größere Bedeutung besitzt. 5.4.3 Fazit Damit stellt sich diese Strophe der Hávamál gleichfalls als sperrig heraus: Abgesehen von der Deutung der konkreten Situation sorgt einmal mehr der fehlende Inhalt der Äußerungen des Thuls dafür, dass nur die wenigsten Punkte mit Sicherheit geklärt werden können. Es deutet aber einiges darauf hin, dass hier auf eine (gängige?) Verbindung der Figur mit in der einen oder anderen Art hervorgehobenem Wortgebrauch Bezug genommen wird, wobei selbst ein gezielt negativer Gebrauch nicht unbegründet ist. Ob der Begriff dabei spezifisch in einer dieser Arten verwendet wird, um einen größeren Kontrast zur Altersschwäche zu erzielen, ob beide Komponenten der Bezeichnung auf maximale Abqualifikation zielen, oder ob andererseits der betagte Mensch mit seinen gerade auch körperlich sichtbaren Alterserscheinungen, der dennoch scilin orð äußert, dadurch automatisch zum þulr (erhoben?) wird, muss weiter offenbleiben. Am hervorstechendsten bleibt daher bei diesem Beleg die Rede – wie gott sie auch immer gewesen sein mag.

5.5 Der Thul in Hávamál-Strophe 142 Der letzte Beleg der Hávamál wiederholt die Phrase aus Str. 80, stellt sie aber in einen leicht anderen Zusammenhang.

384 Inwieweit das opt als rein rhetorische Abschwächung aufzufassen ist, ist sicherlich auch Diskussionssache; im Kontext der unterschiedlichen Ansichten über die geistigen Kapazitäten eines Menschen im Alter (wie sie in den Disticha Catonis und europäischen Nachfolgern im Gegensatz zu den zwei altnordischen Wissensgedichten enthalten sind) scheint die Einschränkung hier aber nicht ganz unbegründet.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Rúnar munt þú finna oc ráðna stafi, mioc stóra stafi, mioc stinna stafi, er fáði fimbulþulr385 oc gorðo ginregin oc reist hroptr rǫgna,

5.5.1 Kontext der Belegstrophe Hier ist es nicht mehr die Situation des nach Runen Fragenden (welcher dann eventuell dem Schweigerat des Sprechers folgt), sondern die Voraussage des Strophensprechers besteht darin, dass sein Gegenüber Runen finden wird. Rein was die Situation des þú anbelangt, ist diese  – mehr oder weniger unsichtbare  – Figur dem Ziel aus Str. 80 damit schon deutlich näher gekommen.386 Strukturell gesehen handelt es sich bei Str. 142 um die erste Strophe nach dem Rúnatal, also den Runenerwerbsstrophen Odins.387 Insofern ist hier inhaltlich eine

385 Im Manuskript getrennt geschrieben: fimbul þulr (Wimmer/Jónsson 1891, S. 13), in Str. 80 zusammen (Wimmer/Jónsson 1891, S. 9). 386 Jacksons Aussage: „it would seem reasonable to assume that Loddfáfnir is being addressed throughout [strophes 111–164, KRMT] and that þú in each of its occurrences refers to him“ (Jackson 1994, S. 36), hat in diesem Kontext und unter der Annahme, dass Loddfáfnismál, Rúnatal und Ljóða­ tal eine Einheit, die „extended Loddfáfnismál“ (Jackson 1994, S. 42), bilden (Begründungen dafür in Jackson 1994, S. 39 ff.), ihre Berechtigung. Es stellt sich dann aber die Frage, ob auch in Str. 80 bereits Loddfáfnir adressiert wird, der erst viele Strophen später namentlich in Erscheinung tritt, was wiederum an die Platzierungsfrage rührt. 387 Dem widerspricht McKinnell (2007a, S. 105 f.): „a severe disruption of content“, da er die rúnar welche Odin aufnimmt, nicht als konkrete Zeichen oder Stäbe/Ritzungen, sondern als „Geheimnisse“ deutet: „in this context, rúnar is best translated ‚secrets‘, since it is clearly oral spells that Óðinn learns immediately afterwards (st. 140), but the interpolator has understood them as written inscriptions“. Ein wenig problematisch würde sich in diesem Fall vielleicht das Verb gestalten: nam ec upp (Hávamál Str. 139,4). Wenn auch nema für sich durchaus die Bedeutung „(geistig) empfangen, lernen“ besitzt (C/V, S. 453), scheint das upp doch auf einen eher physisch konnotierten Akt hinzudeuten. C/V führen diese Kombination von Verb und Präposition zwar nicht auf, aber Fritzner (2, S. 811) bietet dafür einige Belege und die Übersetzung „optage, borttage“. Bei den von ihm angeführten Textstellen handelt es sich neben der Hávamál-Strophe vor allem um Ausschnitte religiöser Schriften, die ausschließlich die Entrückung, also das „Hinauf-“ oder „Fortnehmen“ in Himmel oder Paradies referenzieren. Neben der Hávamál-Strophe ist der einzige andere Passus, der nicht in diese Kategorie der religiösen Texte fällt, ein Beleg aus der Grágás (Kap. 35, at ryðia quið, Finsen 1852, S. 61 f. („to challenge a panel“, Dennis/Foote/Perkins 2007, S. 71)). Hier bezieht sich nema upp auf die Möglichkeit der Absetzung bzw. Entfernung von zu Unrecht eingesetzten Nachbarn aus einem solchen Geschworenengremium: ef búar eru þar allir rangkvaddir, þá á hann kost at nema þá upp alla senn ok hafa til sannaðar­



Der Thul in Hávamál-Strophe 142 

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deutlich stärkere thematische Verbindung zu den vorausgehenden Versen ersichtlich als bei Str. 80. Auch die nachfolgenden Strophen, insbesondere bis zu Str. 144, befassen sich noch mit Runen, ehe der zweite Teil von Str. 144 und Str. 145 dann zum Ljóðatal überleitet. Vor allem Str. 143 und 144 sind zudem – in unterschiedlicher Weise – formelhaft geprägt: Erst die „Runenritzer-þula“ aus Str. 143, dann die anaphorisch fragende Str. 144 mit ihrer thematischen Überleitung vom Runenverfertigen und -deuten hin zum rituellen Dienst an den Göttern zeigen entsprechende Wiederholungsmuster. Schließlich folgt mit Str. 145 eine gnomische Strophe über das Maßhalten, diesmal mit der Grundaussage: „nichts zu tun ist besser als zu viel zu tun“, ehe in Str. 145,6 ff. mit Þundr und dem Vorzeitsetting noch einmal der Ritzertopos zurückkehrt und gleichzeitig die vorangehenden Aussagen der Strophe durch dessen personifizierte Autorität authentifiziert werden. Ebenfalls etwas anders als in Str. 80 gestaltet sich die mythische Formelkombination in Str. 142: Göttliche Verortung (reginkunnom) ist nun nicht mehr enthalten, dafür wird die personalisierte Nutzung weiter ausgeführt und darüber hinaus mit oc reist hroptr rǫgna erneut ein Odinsheiti388 ins Spiel gebracht. Vor allem die weitere

menn tvá (Fritzner 2, S. 811) – „If all the neighbours are wrongly called, the challenger may choose to dismiss them all at once, and have two men vouch for it“ (Dennis/Foote/Perkins 2007, S. 72). Auch bei diesem Text ist also eine physische Veränderung („fortnehmen, wegschicken“) ausgedrückt. Damit bietet keines der Beispiele für nema upp einen Beleg für eine rein geistige Handlung oder direkt den Kenntniserwerb, sodass es nicht unwahrscheinlich wirkt, dass die rúnar der Hávamál-Strophe doch eine physische Form besitzen, etwa indem sie mitsamt eines Trägers „aufgenommen“ werden. Auch das „nach unten spähen“ (nýsta ec niðr, Str. 139,3) passte gut zu einer körperlichen Handlung, in der plastische Objekte erst erkannt und dann ergriffen werden. (Und wenn auch die fimbullióð nío der Str. 140 in der Tat einen schlüssigen Übergang zum kurz darauf folgenden Teil bilden, ist in derselben Strophe auch von einem Zug vom Dichtermet die Rede (Str. 140,4–6), der im folgenden Text nicht mehr erwähnt wird, wohl aber in früheren Abschnitten Gegenstand war, sodass eine lineare Abfolge der Textteile, und somit auch ein derart gestalteter Zusammenhang, vielleicht doch nicht völlig zwingend gegeben sein muss.) 388 Evans 1986, S. 136; Simek 1995, S. 198. Über die Zuordnung des Heiti besteht in diesem Fall keinerlei Zweifel. Wie Simek darlegt und im Folgenden noch genauer ausgeführt wird, findet es sich mehrfach sowohl in eddischer wie auch skaldischer Dichtung. Überdies existiert mit dem ähnlichen Hroptatýr (Hávamál Str. 160) ein gewisses Verbindungsglied zwischen Hroptr und fimbultýr, wobei die genaue Bedeutung von Hroptr wie Hroptatýr unklar ist, wie Simek darlegt (1995, S. 198 f.; s. zu Hroptr auch De Vries 1962, S. 260). Hierbei bezieht der Autor auch Vogts frühere (allerdings nicht immer sauber argumentierte) Studie (Vogt 1925) mit ein und hält die bisher vertretenen Bedeutungen wie „Rufer“ oder gar „Beschwörer“ für unwahrscheinlich, „falls H. und [Saxos, KRMT] Rostarus zusammengehören“ (Simek 1995, S. 199). Da Vogts Deutung als „Beschwörer“ zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Annahme beruht, dass es sich bei Hroptr um ein Synonym zu fimbulþulr handelt (Vogt 1925, S. 48; wobei Vogts sehr problematische Deutung des þulr-Begriffs ebenso wie die damit einhergehenden Schwierigkeiten bereits mehrfach angerissen wurden), scheint mir eine allgemeine Interpretation als „Beschwörer“ auf

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Trennung des Runenschreibungsprozesses fällt hier ins Auge: Während in Str. 80 noch nicht ersichtlich war, ob der fimbulþulr die Runen ritzte/schrieb (also die graphische Erstumsetzung vornahm) oder (bereits Vorgefertigtes aus-)malte, wird hier dezidiert hroptr rǫgna als Ritzer angegeben, sodass für den fimbulþulr nur mehr das Färben übrigbleibt. Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass es sich hier um eine kategorische Trennung des Vorgangs handelt – eher noch scheint hier schlicht Variation vorzuliegen, wie sie sich bereits in stóra stafi – stinna stafi und wohl auch in rúnar und ráðna stafi findet. Insbesondere wirkt dies plausibel, wenn man davon ausgeht, dass auch bei den Akteuren mit fimbulþulr und hroptr rǫgna dieselbe Figur referenziert wird. Im Ganzen, und eingedenk der Parallelen zur früheren Belegstrophe, scheint Schneiders Urteil:389 „die sinnlos vorweggenommene Str. 80 aufgreifend und abwandelnd, 142“, daher nicht ganz unbegründet, auch wenn diskussionswürdig sein dürfte, welche Strophe auf der anderen beruht. Die bereits bei der Besprechung von Str. 80 angemerkte Trennung zwischen dem eventuellen Strophensprecher Odin und der folgenden mehrfachen, unkommentierten Erwähnung seiner selbst in der dritten Person fällt in Str. 142 noch deutlicher ins Auge. Dies gilt besonders, wenn man die nachfolgende Strophe miteinbezieht, in welcher weitere Ritzer, dabei einmal mehr der höchste Ase, und ebenso, zum Abschluss, das Sprecher-ec selbst auftreten. Dazu stellt sich ferner erneut die Frage, in welchem Verhältnis Strophensprecher und mythisches Personal stehen, welche bereits in Str. 80 nicht zufriedenstellend zu lösen war. Während die Nähe zum Rúnatal mit seinem Erzähler Odin für den Asen als Erzähler auch in der Folgestrophe sprechen würde, wirkt dies von Str. 143 aus beurteilt eher unwahrscheinlich:390 Zu deutlich sind hier die Runenschreiber den einzelnen mythischen Völkern zugeordnet: Asen, Alben, Zwerge und Riesen haben jeweils ihre eigenen namentlichen Vertreter. Nicht explizit genannt, fehlen die Menschen in der Aufzählung, sodass man einigermaßen begründet annehmen kann, dass das ec den Vertreter ebendieses Volkes denotiert, wie unter

dieser Basis wenig plausibel und höchstens eventuell situativ vertretbar. Hingegen mutet  – immer vorausgesetzt, der latinisierte Name steht doch nicht mit der Bezeichnung in Verbindung – ein „allgemeiner“ Rufer, d. h., jemand, der mit öffentlicher, eventuell autoritativer Lautäußerung in ursächlicher Verbindung steht, etwas wahrscheinlicher an. Aufgrund der Unschärfe und des ungeklärten Verhältnisses zu Saxos Namen wird in dieser Arbeit aber auch weiterhin davon ausgegangen, dass die genaue Bedeutung ungeklärt ist. 389 Schneider 1948, S. 72. 390 So z. B. Evans: „Four strophes follow (142–5), speaking in dark terms of runes and sacrificial rituals, and these apparently not spoken by Óðinn, since he is mentioned in the third person, whether under his own name (143) or under pseudonyms for him (fimbulþulr, Hroptr, Þundr) […]“ (Evans 1986, S. 7), ebenso McKinnell (2007b, S. 88 f.): „It is not clear who the speaker is meant to be here [in Str. 143, KRMT], but it is clearly not Óðinn […]. In stt. 142 f. instructions are given for discovering the divinely invented runes – but they are instructions clearly intended for human beings and apparently issued by a human rune-smith“.



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anderem auch Larrington vorschlägt391 – auch wenn die genaue Natur der Figur weiterhin nebulös bleibt.392 Dass die letzte Zeile eine Variation der erneuten Aussage über das Ritzen des Göttervaters darstellen und es sich damit beim Sprecher doch durchgängig um Odin handeln könnte, wäre in Anbetracht der ähnlich variierten Heiti in Str. 142 grundsätzlich denkbar,393 aber doch etwas unwahrscheinlich: Bei den anderen Vertretern in dieser Strophe ist keinerlei Variation auszumachen, vielmehr erscheint die präzise, differenzierte Aufzählung der Völker und ihrer Vertreter (mit emphatischer Wirkung) als deren inhaltlicher Schwerpunkt. Daher ist meines Erachtens die Trennung der beiden Charaktere und damit eine sich abgrenzende Übersetzung von Str. 143,5, als z. B. „und auch ich selbst ritzte einige“, vorzuziehen.394 Die Verbindung zwischen Str. 142 und Str. 143 wirkt überhaupt im Ganzen weitaus enger als die zwischen Str. 141 und Str. 142: Von Str. 141 zu Str. 142 kommt es zu Wechseln im Szenario (Windbaum  – undefinierter Dialogort des Rahmengesprächs), den Figuren (Odin allein – Sprecher und þú), der Handlung (ritueller Runenerwerb, Óðrerir und folgendes Wachsen – undefinierte Findungsvoraussage und mythische Urerzählung) sowie der Erzählweise (lineare Abfolge der Ereignisse – gegenwärtige Voraussage und Blick in die Vergangenheit). In Str. 143 wird hingegen die in Str. 142 begonnene mythische Situierung der Runen weiter ausgeführt, um sie schließlich mit einem Bogen zurück zum Sprecher selbst wieder abzuschließen. Es ist dadurch wahrscheinlicher, dass es sich bei Str. 142 und Str. 143 um zusammenhängende Textteile handelt. Nicht unplausibel ist außerdem, dass Str. 142 und 143 vom restlichen Kontext abzusetzen sind, aber zusammen komponiert wurden: Der Bruch von Str. 141 zu Str. 142 wurde bereits

391 Larrington (1993, S. 61): „Stanza 143 suggests that the poet already possesses this wisdom; ‚ek‘ in l. 5 is the poet, the hroptr for the race of men, who are otherwise the only class of creation missing from the verse‘“, wobei Jackson (1994, S. 51) darauf hinweist, dass mit „class of creation“ vernunftbegabte Lebewesen gemeint sein müssen, da andere Wesen der Schöpfung ebenfalls nicht enthalten sind. Aus ihrer vergleichenden Analyse von Sigrdrífomál und den Hávamál ab Str. 111 zieht sie den Schluss: „the presence of men [in den von ihr herangezogenen Korrespondenzstrophen der Sigrdrífomál, KRMT] lends some support to the interpretations of ec in Hávamál 143.5 favoured by Sijmons-Gering and Larrington“ (Jackson 1994, S. 51; zum Verhältnis von Sigrdrífomál und Hávamál, insbesondere Str. 111– 164, s. auch McKinnell 2005, S. 210 f., der aufgrund ihrer internen Kohärenzproblematik sowie einiger Übereinstimmungen und Besonderheiten im Wortgebrauch die Hávamál als Quellenmaterial für das Sigurdlied für wahrscheinlicher hält als die gegensätzliche Variante). 392 „who the ek of 143 can be is obscure“ (Evans 1986, S. 7). 393 S. dazu etwa Jackson 1994, S. 51: „Who is the speaker of this part of Rúnatal? It could be Óðinn; he does at times regard himself objectively, as in strophe 138.5–6, and the final line of the list could be understood as a reflective, concluding comment. However, it is also possible that some lines in 142–45 are spoken by someone else“. 394 Unterschiedliche Sprecher nimmt auch North an, der den Wechsel ebenfalls beim Übergang zu Str. 142 ansetzt, aber auch anmerkt, dass es für eine Selbsterwähnung Odins in der dritten Person durchaus (einige wenige) Parallelen gibt (North 1991, S. 140 f.).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

angesprochen, formal-inhaltlich besteht ebenfalls ein deut­licher Unterschied zwischen Str. 143 und Str. 144, auch wenn sich Runen als durchgängiger Topos begreifen lassen. Der sich verändernden Struktur (Chiasmus in Str. 143,1 f., Parallelismus in Str. 143,3 f. sowie teilparallelisierende Wiederaufnahme von Str. 142,7 in Str. 143,5) steht der durchgängige anaphorische Parallelismus in Str. 144 gegenüber, der Aussage über die mythischen Runenschreiber die (Wissens-)Fragen nach der Art diverser mit Runen oder Ritus verbundenen, auch welt- und gegenwartsbezogenen Tätigkeiten an das Gegenüber. Metrisch zeigt sich hier ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen Str. 142 und Str. 143, und zwar die Irregularität. So notiert Evans: „142 and 143 do not constitute recognized strophe-forms at all“,395 was überdies wieder eine Gemeinsamkeit mit Str. 80 darstellt. Neckel/Kuhn interpretieren, ebenso wie Evans, in diesem Zuge Str. 143 als Satzvollendung von Str. 142, wie das dortige Endkomma in beiden Editionen zeigt.396 Erneut gibt es also mehrere Möglichkeiten, wie Sprecher und Strophe(n) hier zu deuten sind. Mir scheinen aufgrund des eben erörterten Aufbaus folgende Annahmen am stichhaltigsten, welche für die anschließende Auswertung zugrunde gelegt werden: Str. 142 und Str. 143 bilden eine Einheit, welche vom vorausgehenden Rúnatal zu trennen ist und die sich auch von Str. 144 ff. absetzt; der Gedanke von Str. 142 wird in Str. 143 fortgeführt. Dabei ist unerheblich, ob das Ende der früheren Strophe mittels Punkt, Komma, Semikolon oder Doppelpunkt markiert ist. Was den Sprecher angeht, sind ebenfalls unterschiedliche Deutungen möglich: Beim Sprecher beider Strophen (ec) handelt es sich um Odin, der sprachlich zwischen der ersten und dritten Person changiert; somit tritt dieser Gott in den zwei Strophen in vierfacher Form auf, ohne dass eine ersichtliche Verbindung zwischen den Instanzen vorhanden wäre: fimbulþulr, hroptr rǫgna, Óðinn und ec. Davon stehen gleich drei direkt mit grundsätzlicher Runenproduktion in Verbindung  – der einzige, der nicht direkt damit zu tun hat, ist der fimbulþulr, dessen Handlung sich auf das fá beschränkt. Oder aber der ec-Sprecher der Strophen ist nicht Odin, sondern ein anderes Wesen, vermutlich ein Mensch, auf jeden Fall runenkundig und in mythischem Wissen bewandert. Er berichtet, wie in Str. 80, einem unbekannten Gegenüber von den Geschehnissen in Form einer kurzen Rahmenerzählung, welche mit Str. 143,5 und der dort enthaltenen Selbstnennung abgeschlossen ist. Es bietet sich hier eine Verbindung des ec zum Rahmensprecher, zumindest ab Str. 111,397 an, sodass die Stimme auf dem þulr-Stuhl

395 Evans 1986, S. 4; ähnlich z. B. auch McKinnell 2007b, S. 87, der die Irregularität auf den Komplex Str. 142–145 bezieht und Str. 142 dabei explizit als „single couplet followed by five odd lines“ beschreibt, welche überdies „probably interpolated“ sei. Außerdem unterschieden sich diese Strophen, zusammen mit Teilen von Str. 164, auch inhaltlich vom Rest des Ljóðatal (McKinnell 2007b, S. 88). 396 Neckel/Kuhn, S. 41; Evans, S. 69. Im Manuskript selbst steht hier  – wie nach anderen Versen, aber teilweise auch innerhalb von Strophen und Sätzen, unabhängig von Satzenden oder anderen Kriterien moderner Interpunktion – ein Punkt (Wimmer/Jónsson 1891, S. 13). 397 Str. 80 würde in diesem Kontext nur eine maßgebliche Rolle spielen, wenn es sich nicht um eine aus Versatzstücken aufgebaute, nachträglich zur Absatzbildung eingeschobene Strophe handelte.



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nun in Str. 143 kurzzeitig als Runenkundiger auftritt (wodurch kein weiteres Personal eingeführt werden muss, was sich auch sonst nirgends zeigt). Fimbulþulr, hroptr rǫgna und Óðinn stehen dann als Odinsnamen davon abgetrennt für sich; über das lyrische Ich ist außer dem Runenritzen und den Informationen des Erzählrahmens nichts weiter zu erfahren. Auch in diesem Fall ist der fim­ bulþulr nicht am Ritzen per se beteiligt, Odin wiederum ist es nur zweimal, und das ec tritt sehr plötzlich als Akteur in einem solchen Kontext zutage,398 um anschließend wieder hinter den Text zurückzutreten. Diese letzte Perspektive scheint mir plausibler, da sie die Ritzerwiederholung ebenso vermeidet, wie sie einen Repräsentanten für das „fehlende“ Volk der Menschen offeriert. Sie bildet daher die Grundlage für die Interpretation; wo die Betrachtung auch der anderen These sinnvoll ist, wird noch einmal darauf eingegangen werden. Im Ganzen hat diese Unterscheidung jedoch, wie noch zu sehen sein wird, auf die Ergebnisse der Untersuchung nur geringe Auswirkungen. Weiterhin stellt sich hier gegebenenfalls die Frage nach dem þú (Str. 142,1), welches anhand von Str. 80 noch gut als der direkte Ansprechpartner der Strophenstimme in der Runenszene zu deuten wäre; in Str. 142 mit der Anbindung an den Rahmen erscheint es aber plötzlich als eine Art individueller Adressat aus der bis dahin gesichtlosen Zuhörerschaft (auf die Menge deutet die Ansprache in Str. 164 hin), sodass sich hier eine gewisse Diskrepanz auftut. Ob daher in Str. 142 ein Einzelner aus der Menge pars pro toto angesprochen wird oder für die Individualunterweisung vielleicht sogar eine separate Szene anzusetzen ist, bleibt letzten Endes offen und weist einmal mehr auf die vielen Brüche der Hávamál hin. Das Binnensetting des fimbulþulr berührt diese Frage aber genau genommen nicht. 5.5.1.1 Exkurs: Hroptr An Odinsbegriffen bleibt somit, neben dem Klarnamen, fimbulþulr – und ec für die erste Interpretationsvariante  –, noch hroptr rǫgna. Während der Genitiv rǫgna von manchen als problematisch angesehen wurde,399 ist Hroptr allein als Odinsname über jeden Zweifel erhaben – schon weil Odin selbst ihn in den Grímnismál verkündet (Str. 8; zusätzlich Hroptatýr in Str. 54). Eddische Vorkommen stellen Hroptr z. B. als Gott der Walstatt dar (Grímnismál Str. 8, Vǫluspá Str. 62), als Vater der Götter (Loka­ senna Str. 45) und vor allem auch als Runenkundigen:

398 Zwar agiert das lyrische Ich, wo es nicht mit Odin übereinstimmt, sonst eigentlich nicht in einem überzeitlichen Kontext, genau genommen ist aber auch nicht ersichtlich, ob das ec reist […] zur selben Zeit stattfindet bzw. stattfinden muss wie die mythische Runenerzählung. Denkbar wäre auch, dass mit dem Übergang von der Kernerzählung zum Rahmen-ec ein kurzfristiger Übergang von der mythischen in die weltliche, sprecher-zeitgenössische Sphäre stattfindet. 399 Darstellung bei Evans, welcher zur Lösung eine Übersetzung mittels „among“ bzw. als partitivus vorschlägt; Evans 1986, S. 136, ähnlich McKinnell: „Hroptr of the gods“ (2007a, S. 101). S. auch Simek 1995, S. 199 f. zu Name und Deutungsansätzen.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Hugrúnar scaltu kunna, ef þú vilt hveriom vera geðsvinnari guma; þær of réð, þær of reist, þær um hugði Hroptr, af þeim legi, er lekið hafði ór hausi Heiddraupnis oc ór horni Hoddrofnis. (Sigrdrífomál Str. 13)400 In dieser Strophe wird also eine Verbindung zwischen Odin und den Schriftzeichen gezogen, speziell solchen, die geistige Fähigkeiten verbessern (hugrúnar, geðsvin­ nari). Gleichzeitig ist der Gott hier in mehreren Funktionen mit ihnen zugange: Zur bereits bekannten Rolle des Runenritzers gesellt sich die des Deuters und desjenigen, welcher sie (er-)dachte. Die dreimalige Kombination von Personen/Entitäten und Runen erinnert strukturell ebenfalls an Str. 142 (wenn auch die Anapher dort nicht durchgängig ist). Allerdings ist in den Hávamál-Versen die Konzeption oder geistige Schöpfung mittels hyggja nicht thematisiert; dort beginnt die Beschreibung bei der physischen Schöpfung gera. Eine solche Parallele zwischen Hávamál- und Sigrdrífomál-Strophe könnte eventuell darauf hindeuten, dass die Verbindung zwischen Hroptr und Runenritzung kein Zufall ist, sondern vielleicht sogar formelhafte Funktion besaß. Weitet man den Namen auf Hroptatýr aus, erscheint die Figur in der Edda zusätzlich als urzeitlich-mythische Göttergestalt (Grímnismál Str. 54) sowie als Nutznießer eines Weisheitszaubers (lióð) in Hávamál Str. 160. Mit Runen wird sie also nur einmal in Verbindung gebracht, mit Magie im weiteren Sinne zweimal. Die Vorkommen von Hroptr in der Skaldik401 zeigen folgende Bilder: Odin als Herrscher der Ynglinge und Besitzer Gungnirs (Sigurðardrápa Str. 7), als Gott der Walstatt (Hákonardrápa Str. 9) sowie der Krieger (Mahlíðingavísur Str. 9, Lausavísa von Eyjólfr Valgerðarson, Eiríksdrápa Str. 5 sowie Húsdrápa Str. 11402  – dort überdies in mythischem Umfeld und dazu in seiner Eigenschaft als Vater Baldrs). Hinzu gesellt sich ein, von Simek nicht erwähnter, da etwas unsicherer,403 Beleg aus den Hrafnsmál Str. 12, in denen, diesmal in umgekehrter Form, Kämpfer mit Odin assoziiert sind, Hroptr also in einer Kriegerkenning erscheint.

400 Zu sonstigen Ähnlichkeiten zwischen Sigrdrífomál und Hávamál, s. Jackson 1994; bezüglich dieser Strophe insbesondere S. 49 f. und S. 52. 401 Nach Simek 1995, S. 199. 402 Simek (1995, S. 198) führt hier Str. 8 und Str. 11 an, in Str. 8 handelt es sich allerdings um Hrop­ tatýr. 403 Das Wort wurde von Jónsson zu skoptum emendiert (Skjald B2, S. 129), Kock hingegen liest es spjót-Hroptum, also „den Speer-Hroptren“ (Kock 1, S. 99).



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Auch für die skaldische Dichtung kommen noch zwei weitere Darstellungen hinzu, wenn man Hroptatýr404 miteinbezieht: Odin in mythischer Göttergesellschaft, der befiehlt, einen gefallenen König in Empfang zu nehmen (Hákonarmál Str. 14), und als Vater des toten Baldr (Húsdrápa Str. 8). Mit der Húsdrápa findet sich in der Skaldik damit also ebenfalls ein Werk, welches beide Heiti bemüht. Zuletzt erscheint der Name noch in den þulur, wo die Liste der Helmkenningar mit der Ankündigung eingeführt wird, nun die Heiti für Hropts hattar zu nennen (Þul. IV s. 1,1405). Hier besteht also eine gewisse – allerdings eher lose – Verbindung zum Krieger bzw. dessen Rüstung. Damit überwiegen im Ganzen in der Skaldik signifikant die kriegerischen Kontexte, aber auch das mythische Umfeld tritt mehrfach auf. Die eddischen Belege zeigen das Gegenteil: überwiegend mythisch, die kriegerische Konnotation bleibt im Vergleich gering. Aber auch Runen spielen, abgesehen von der Sigrdrífomál-Strophe, kaum eine Rolle. Es lässt sich daher aus den Informationen nicht deutlich entnehmen, dass der Name Hroptr in den Hávamál mit dem (runischen) Verskontext von Str. 142 in direktem, zwingendem Zusammenhang steht. Falls diese Annahme auch auf die anderen Bezeichnungen ausgeweitet werden kann, würde das vor allem bedeuten, dass auch die Bezeichnung fimbulþulr nicht notwendigerweise durch die Runenszene motiviert sein muss. Diese Abwägung bewegt sich allerdings fast vollkommen im Bereich der Spekulation und soll daher im Weiteren außen vor bleiben. Auch lassen sich die Parallelen zur Sigrdrífomál-Strophe nicht so leicht von der Hand weisen, sodass eine Verbindung von Heiti und Runen zwar vergleichsweise selten, aber eben nicht völlig unbelegt ist. Die Nähe Odins, als Figur und unabhängig vom speziellen Namen, zu den Runen, ist wiederum ausdrücklich beschrieben, wie Evans darlegt und hierfür die Ynglinga saga zitiert: Zu den charakteristischen Qualifikationen des Asen gehören dort nicht nur das „gebundene“, poetische Sprechen, bezwingende Eloquenz, Gestaltwandel, die Gesetzgebung und Zaubersprüche, sondern auch diese Zeichen.406 5.5.2 (Kon-)Texte des Thuls in Hávamál-Strophe 142407 Aufgrund der großen Nähe zu Str. 80 finden sich auch bei der Kriterienauswertung weiträumig dieselben Resultate  – und Probleme. Letzteres gilt insbesondere für all

404 Simek 1995, S. 199. 405 Skjald B1, S. 665. (Diesen Beleg für Hroptr zitiert das LP nicht; aus den þulur werden hier nur die Odinsnamen in jj 2,7 (hroptr, Skjald B1, S. 672) und jj 3,6 (hroptatýr, Skjald B1, S. 673) angeführt (LP, S. 286)). 406 Evans 1986, S. 21 f. 407 Um zu vermeiden, sämtliche Ergebnisse von Str. 80 nur der Vollständigkeit halber zu wiederholen, werden bei diesem Beleg einzig – und ohne weitere Überschriften – die Korrespondenzen zusammengefasst und Differenzen erläutert.

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die Aspekte der Text(re-)produktion, welche in beiden Versen vom fehlenden Kontext betroffen sind. Kriterien wie performative Elemente, die Frage nach Publikum und Sprecherorientierung können auch in der späteren Strophe nicht befriedigend erörtert werden. Gleichermaßen verhält es sich mit etwaigen formalästhetischen Aspekten, welche sich mangels Informationen ebenso wenig untersuchen lassen wie eine eventuelle Bewertung und Wirkung. Lohnender sind auch hier die Erörterungen der Situation und Autorität, auch des Äußerungsmodus, sowie die Fragen nach einer Tradierungsfunktion und der Validierung. In diesen Fragen stimmt das Resultat zwar ebenfalls fast vollkommen mit dem von Str. 80 überein, denn die beschriebene mythische Situation ist zum größten Teil identisch. Allerdings verändert sich die Validierung geringfügig, wenn es sich beim Rahmensprecher-ec ebenfalls um Odin handeln sollte, da sie in diesem Fall nicht mehr nur durch den Mythos als Gattung, sondern obendrein den höchsten Gott selbst erfolgt. Die explizite Einteilung in Ritzer und Färber hat gleichfalls Auswirkungen, sofern angenommen wird, dass fimbulþulr und Hroptr unterschiedliche Figuren denotieren bzw. hier nicht nur Variation vorliegt, sondern dezidiert zwei verschiedene Schritte anzusetzen sind: So wäre die Originalität etwa, welche in Str. 80 noch aus dem mythischen Anbeginn und der möglicherweise allein für die physische Realisierung der Zeichen verantwortlichen Figur resultierte, hier merklich geringer, da der fimbulþulr nur mehr mit der Illumination betraut ist, die (grundlegende und bedeutungstragende) Ritzung aber ausdrücklich durch einen anderen vorgenommen wird. Auch die Autorität verringert sich bei dieser Trennung ein wenig: Einzig das „Nacharbeiten“ bleibt der Figur und vergleichbar verhält es sich mit einer möglichen Tradierungsfunktion, die kaum bei einem Akteur anzunehmen ist, welcher allein noch das Kolorieren bereits gefertigter Zeichen vollführt. Die Frage, ob bei einem solch verkürzten Prozess überhaupt noch eine auswertbare Information durch den Charakter übermittelt wird, wäre in diesem Fall ähnlich negativ zu beantworten, da die Ritzung Hroptrs über den informationellen Gehalt bestimmt. Sofern hier also in der Tat eine gezielte Trennung der beiden an der Runenrealisierung Beteiligten vorliegen sollte, büßt der fimbulþulr in deren Folge merklich an Bedeutung ein.

5.5.3 Fazit Demnach wird der (fimbul-)þulr in Str. 142 sehr ähnlich dem der Str. 80 abgebildet, was angesichts der zu vermutenden Übernahme auch keine größere Überraschung darstellt. Der Hauptunterschied der beiden Charaktere liegt darin, dass die „spätere“ mythische Figur, sofern sie und Hroptr nicht identisch sind, noch weniger direkt an der ursprünglichen Runenerschaffung beteiligt ist und somit vor allem auf der Inhalts- und damit Äußerungsebene (die beide ohnehin kaum erschlossen werden können) noch etwas geringere Bedeutung besitzt. Als primordiales, mythisches



Zusammenfassung: Der Thul in den Hávamál 

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Wesen, welches nichtsdestotrotz direkt in Schöpfungsprozesse involviert und weit jenseits der menschlichen Ebene angesiedelt ist, ist sein Status dennoch außerordentlich hoch; und höher als der jedes menschlichen Thuls, von dem uns überliefert ist.

5.6 Zusammenfassung: Der Thul in den Hávamál Folgendermaßen tritt der þulr somit in der Gesamtschau der Hávamál hervor: Zweifach als gewaltige Figur des übermenschlichen, sprachlosen Runenproduzenten: des Ins-Werk-Setzers oder Kolorierers götterentstammter, wirkmächtiger Zeichen – vielleicht auch Texte – unbekannten Inhalts in mythischer Vorzeit. Einmal aber auch, im Widerspruch, als verlachte menschliche Figur im Alter, die zwar Weisheit zu bieten hat und daher Verspottung nicht verdient, deren (literarische) Realität jedoch anders ausgesehen haben mag. Als  – vermutlich menschlicher  – Redner vom þulr-Stuhl und Horcher bei der Halle des Hohen, Reproduzent göttlicher Weisheit und, als Rahmensprecher, auch Erzähler mythischer Episoden. Dreifach ist hier also der þulr eindeutig mit hoher Autorität verbunden. Seine Tätigkeiten sind die ausgewiesene Proklamation, mit vorausgehender (passiver) Teilhabe an göttlicher Interaktion bei der Halle, und urzeitliche Runenerzeugung. Autoritativ, und performativ, sind alle drei jener Auftritte, Ehrfurcht gebieten sie ebenfalls, allem voran die Verkündung, gerade angesichts ihres Ursprungs und der Rezeptionsstätte. Dabei ist zwar nach Forschungslage etwas interpretationsabhängig, wie die Äußerung aus Str. 111 in Kombination mit der Folgestrophe anzusehen ist; wie erläutert, scheint eine ernste Lesart (ohne bathetische Tendenz) aber am schlüssigsten, und demgemäß ist auch hier hoher Respekt geboten. Dass dies eigentlich ebenso in Str. 134 der Fall ist – bzw. sein sollte –, stellt der dort mahnende Sprecher fest; ebenso wie, dass es im von ihm entworfenen Szenario trotz allem nicht immer eine Selbstverständlichkeit darstellt. Die Originalität der Beiträge hält sich in den Hávamál  – soweit dies aus den Belegen überhaupt ersichtlich wird – im Ganzen eher in Grenzen: In der Runenschöpfung ist die Figur offenbar vorwiegend an der physischen Gestaltung beteiligt; die Verkündungseinleitung dürfte zwar individuell geschaffen sein, der weitaus überwiegende Anteil der geäußerten Texte in dieser Episode besteht jedoch aus Reproduktion. Was der „alte þulr“ schließlich von sich gibt, lässt sich nicht näher ersehen. Außer in Str. 111 und Str. 164, die kunstvolle Ausformung zeigen, werden darüber hinaus keinerlei Details über die Textgestaltung bekannt, sodass weder über Informationsarten noch formalästhetische Aspekte außerhalb dieser beiden Rahmenstrophen viel zu erfahren ist. Auch besitzt die Figur in allen Belegen kein greifbares (re-) agierendes Gegenüber mit dem sie eine entsprechende Interaktion eingeht, weshalb auch über die spezifischen Äußerungsmodi, allem voran offizielle oder kompetitive Varianten, nichts erschlossen werden kann.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Sehr auffällig erweist sich in diesem Werk hingegen der Tradierungsaspekt: Nur implizit in der Runenschöpfung vorhanden – die allerdings die Grundlage für zukünftige Anwendungen bildet –, tritt er vor allem überaus deutlich im längsten expliziten Auftritt, von Str. 111–164, hervor, welcher ebendieser Vermittlung dient und sogar mit einer Ansprache von Hörern und (zukünftigen) Nutzern abschließt. Selbst in Str. 134 ist ein Tradierungselement nicht unwahrscheinlich, geht man davon aus, dass das „Gute“, was alte Menschen sagen, etwas Bewahrens- und Weitergebenswertes, vielleicht auch in einem langen Leben einst selbst von jemand anderem Gelerntes, ist. Damit erscheint der þulr in den Hávamál zuallererst als Autoritätsgestalt, die in irgendeiner Art und Weise mit Äußerung oder Sprache verknüpft ist – sei es mit, in ihrer grundlegendsten Form, geritzten inhaltstragenden Zeichen oder mit ganz ausdrücklicher mündlicher Proklamation. Auch eine Verbindung zum Übermenschlichen findet sich mehrfach gezogen, liegt jedoch nicht jedem Erscheinen zugrunde und ist zudem recht variabler Art – mal selbst mythische Figur, mal Zaungast. Ähnlich verhält es sich mit der Rolle des Tradenten, die der þulr nicht gleichförmig und durchgängig, aber in Str. 111 sehr prononciert und ausdrücklich einnimmt. Die Gültigkeit seiner Äußerungen wiederum wird nur einmal in Zweifel gezogen – und dies seitens des Sprechers vor allem, um sie noch in derselben Strophe in energischem Widerspruch zu bekräftigen, sodass auch die Validität von Texten des þulr eine Konstante darstellt. Eine ganz andere Kontinuität der vier Belege ist hingegen die Unsicherheit – text­ extern wie -intern – diverser Aspekte der einzelnen Szenen. Trotz alledem ist darüber hinaus bedenkenswert, dass die vier Auftritte der Figur in diesem Werk durchaus unterschiedlichen Bearbeitungsschichten entstammen können und damit kein durchgängiges Bild zeichnen.

5.7 Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze Wenn, wie McKinnell annimmt, sowohl Str. 80 als auch Teile von Str. 111408 und Str. 142 späteren textlichen Schichten zuzuordnen sind, würde das bedeuten, dass die teils als sehr alte schriftliche Zeugnisse für den þulr gedeuteten409 Belege weder dies sind noch eine Art frühskandinavisches Gemeinwissen, wie es eventuell in bzw. im Kontext von Gnomen kursierte, widerspiegeln; sondern, dass es sich dabei eher um

408 Und zwar die ersten drei Verse, welche Stuhl, þylia und Urdquell enthalten; also die für diese Untersuchung relevanteren Bestandteile, die auch die mögliche Odinsbeziehung herstellen (McKinnell 2007a, S. 102 f.). 409 Vogt etwa sah den Ursprung von Str. 80 und 142 in „einem Lehrgedicht über Runen“, welches direkt mit rituellen Praktiken verbunden war: der þula des von ihm postulierten Kultredners bei der „Zauber-opferhandlung“ (Vogt 1927, S. 55 f. und 1915, S. 7–13), also aus heidnischer Zeit.



Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze 

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die Vorstellung zweier oder gar eines einzigen erheblich späteren Bearbeiters handelte – auch wenn sich dessen Schaffenszeit immer noch nicht festmachen lässt.410 Im Falle zweier Editoren gemäß McKinnell wäre die „mystischste“ Str. 111 dann sogar die jüngste und, wie der Autor beschreibt, obendrein von einer Odinsvorstellung als þulr beeinflusst; damit ein Zu- bzw. Vorsatz zu einer ursprünglich rein menschlich konnotierten Passage.411 Jene Vorstellung des Asen als þulr müsste dann außerdem – zumindest, soweit man sich im Rahmen von Textkorrespondenzen bewegt  – auf Str. 80 bzw. 142 (hier aufgrund der Ähnlichkeit und der Konstruktion nach McKinnell als eine Instanz angesehen) beruhen, denn ein anderer Beleg für die Übereinstimmung von þulr und Odin existiert nicht. Und zwar nicht nur in den Hávamál, sondern im gesamten überlieferten Textkorpus: In den Fáfnismál wird Reginn als þulr bezeichnet, in den Vafþrúðnismál Odins Gegner Vafþrúðnir, im Víkarsbálkr Starkaðr und im Beowulf Unferð – als þyle. Hinzu kommen einige wenige jüngere Belege aus den deutlich später entstandenen (und daher hier nicht ausführlich behandelten) Rímur: In den Griplur wird, wie erörtert, ein draugr, Magier und ehemaliger Herrscher und Berserker þulr genannt (Griplur III Str. 15 bzw. 16), später ein anderer Widersacher des Helden (Vóli, Griplur V Str. 16), welcher zwar sowohl in den Rímur (enn galdra vísi) als auch in der Hrómundar saga Gripssonar (galdrarumr,412 Kap. 7) als Zauberer bezeichnet wird, aber gleichfalls nicht asischer Natur ist413 und auch keinen direkten Götterbezug aufweist. In den Hrings rímur ok Tryggva/Geðraunir (III, Str. 45,3) ist der þulr ebenfalls ein unmittelbarer Antagonist (Hárekr, welcher Hertryggr, den König von Byzanz, sowie den diesen unterstützenden Sachsenkönig Tryggvi bedroht); hierbei handelt es sich, wie in den Vafþrúðnismál und dem Víkarsbálkr, obendrein um eine Selbstbezeichnung. Auch dieser Figur haften keine odinischen Züge an: Der Charakter ist menschlich und wird als Wikinger benannt (Geðraunir III Str. 6,1), sein Ziel ist Kampf und Sieg (wie er es anfangs ausdrückt: „den Raben füttern“414) – oder, im Austausch, die Tochter des Königs zu erhalten.415 Beides sind überaus weltliche Ansinnen und es ist in solchem Handeln kein höheres Trachten erkennbar als schlichter Profit. Wenn auch in einigen Fällen die als þulr bezeichneten Charaktere mit Magie assoziiert416 sein können (Þráinn und insbesondere Vóli, der im Gegensatz zum draugr

410 Ob das Gedicht unter diesen Umständen immer noch als „locus classicus for the discussions about the þulr“ (Poole, RGA 30, S. 545) angesehen werden kann, wäre vielleicht ebenfalls eine Überlegung wert. 411 McKinnell 2007a, S. 102. 412 Ásmundarson 1886, S. 333. 413 Hier zeigt sich zudem selbst Vogt davon überzeugt, dass eine solche Assoziation nicht auf einer alten Basis beruht, sondern erst später in den Text eingebracht wurde (Vogt 1927, S. 75). 414 sedia hrafnn (Geðraunir III Str. 7,3; Rímnasafn 2, S. 186). 415 Geðraunir III Str. 8,3 f.; Rímnasafn 2, S. 187. 416 Jónsson übersetzt im Rímur-Ordbog (S. 412) þulr dann auch als „gammel wisemand (troldmand)“.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

auch keiner übernatürlichen Spezies angehört, der solche Fähigkeiten grundsätzlich eignen),417 fällt, alle Rímur-Belege zusammengenommen, vielmehr eine andere, da durchgängige, Gemeinsamkeit ins Auge – die Sprechsituation: Es handelt sich in jedem der drei Fälle, in dem der Begriff þulr gebraucht wird, um ein flyting-ähnliches Setting. Nicht im Sinne eines mannjafnaðr zwar, also eines direkten, ausdrücklichen Vergleichs persönlicher Qualitäten und Errungenschaften, aber in Form eines offen oder verborgen aggressiven, performativen Dialogs vor oder bei einem bewaffneten Konflikt, der hier – auch dies anders als im klassischen mannjafnaðr – einleitend oder begleitend, nicht aber sublimierend wirkt und damit quasi einen Teil des Gefechts darstellt.418 In der Skaldik erscheint der þulr wiederum einmal als Selbstbezeichnung von Jarl Rǫgnvaldr kali, in, wie erwähnt, dezidiert christlichem Kontext (Lausavísa 29419). Das andere Mal, in der Íslendingadrápa Haukr Valdísarsons, ist þulr die Bezeichnung für einen Skalden, Þorleifr Rauðfeldarson jarlsskáld (oder jarlaskáld),420 der zusammen mit seinem Bruder Ólaf einen Berserker tötet (Íslendingadrápa Str. 18421) und zuvor

417 Zusätzlich werden noch zwei der drei Charaktere an anderer Stelle als Berserker betitelt (Þráinn, wie erwähnt, und Hárekr wird von der begehrten Tochter Hertryggrs so genannt (Geðraunir III Str. 18,2; Rímnasafn 2, S. 188)). Somit vereinigt nur der draugr alle drei Aspekte: übernatürliche Fähigkeiten, þulr-Bezeichnung und Berserkernatur; Hárekr ist hingegen ein weltlicher (in Raserei verfallender) Krieger und Vóli vor allem durch Magie geprägt. Auch hier besteht also keine andere umfassende Gemeinsamkeit in den Zügen der drei Figuren, außer dass sie þulr genannt werden – und eben alle als Widersacher in direkten Konflikten agieren. . 418 Gerade die Äußerungen im ersten Griplur-Beleg (draugr-Szene) können, wie angeklungen, als eggja angesehen werden  – wenn auch diesmal von der Gegner-, nicht der Verbündetenseite. Dazu kommt außerdem, dass die Belegstelle der draugr-Szene erhebliche wörtliche und rhythmische Korrespondenzen zu der Passage in den Geðraunir zeigt: In beiden Fällen liegt mit der Kombination dul – þul dasselbe Endreimpaar vor, auch der Rhythmus der Strophen ist in Verslänge, Silbenzahl und der ­Position betonter und unbetonter Silben vollständig identisch. Der dritte Vers der beiden Strophen, in welchem þulr auftritt, unterscheidet sich sogar nur in einem einzigen Wort: Griplur: ef þú létir þenna þul (Rímnasafn 1, S. 372). Geðraunir: ef þu ætllar þenna þul (Rímnasafn 2, S. 193). Ein Zusammenhang oder vielleicht auch formelhafter Gebrauch scheint somit nicht völlig auszuschließen, auch wenn die nur zwei Belege überhaupt für einen Beweis kaum genügen. Andererseits sind die Rímur ohnehin recht fest in ihrem strukturellen Aufbau, und es lässt sich auch die Frage stellen, inwieweit dul, also „Unverschämtheit, Einbildung, Dummdreistigkeit“ (Rímur-Ordbog, S. 65) in einem kampfeinleitenden flyting-Kontext mehr oder weniger zum Standardrepertoire an Beleidigungen gehört. Letztendlich führt das wohl zur Frage von Henne und Ei: Hat þul dul angezogen oder umgekehrt – oder war beides eine bewusste Begriffsentscheidung? Im Gegensatz zum Eierproblem scheint hier leider keine verlässliche Erklärung in Sicht. Dennoch sind die Parallelen so auffällig, dass sie zumindest erwähnt werden sollten. 419 Genannt werden kross und palmr (SkaldP 2/2, S.  605). Zur Strophe allgemein s. SkaldP 2/2, S. 605 f., wobei Gade anmerkt, dass þulr im Kontext von Skaldendichtung selten ist, þylja in der Bedeutung „recite“ hingegen nicht (SkaldP 2/2, S. 606). Zu Rǫgnvaldr s. außerdem SkaldP 2/2, S. 575. 420 Simek 2007, S. 388; Skjald B1, S. 132 sowie SkaldP 1/1, S. 368, Letzteres auch zu den Varianten. 421 Skjald B1, S. 543.



Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze 

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als níð-Dichter gegen den feindlichen Fürsten in Erscheinung trat. In beiden Fällen handelt es sich damit bei den so Bezeichneten um Menschen, die sich – mehr oder weniger bewusst, und gegebenenfalls nach Darstellung des Verfassers  – in christ­ lichem Kontext (Rǫgnvaldr) bzw. auf Heiden entgegengesetzter Seite (Þorleifr) bewegen.422 Gerade bei Rǫgnvaldr, der tief im christlichen Umfeld verwurzelt ist und nur kurz nach seinem Tod heiliggesprochen wurde,423 kann an der religiösen Orientierung in seiner Strophe eigentlich kein Zweifel bestehen und somit ein „heidnischer“ Gebrauch oder auch nur Ruch des Begriffs in seinem Umfeld ausgeschlossen werden.424 Etwas komplizierter gestaltet sich die Lage bei Haukr bzw. Þorleifr: Zwar berührt der níð (in der Strophe óð […] ófríðan425 genannt) einen Grenzbereich zwischen sozial fast grenzenlos wirkmächtiger Invektive und Fluch bzw. Magie, und vor allem in den Schilderungen der Auswirkungen im Þorleifs þáttr jarlaskáld wird ein magischer Aspekt der Ereignisse, der in der vísa nicht weiter ausgeführt wird, offenbar. Dennoch richtet sich Þorleifrs Dichtkunst in der Íslendingadrápa doch gemäß Haukrs Beschreibung ganz explizit gegen jarli heiðnum426 und dürfte daher zumindest kaum auf eventuelle vorchristlich-kultische Bestandteile eines þulr verweisen. Vielmehr scheint mir hier ebenfalls, wie bei Rǫgnvaldr, eine Variation des Dichterbegriffs, vielleicht auch allgemeiner ein Verweis auf eine Rolle als öffentlicher Formalsprecher, vorzuliegen. Vogts strikte Ablehnung dieses Ansatzes wirkt unverständlich und die Argumentation teilweise recht zweifelhaft (was im Anschluss dargelegt werden soll), zumal die Bezeichnung auch nicht im Satz/Abschnitt mit der níð-Referenz, sondern erst dem darauf folgenden, also im Umfeld eines „normalen“ Kampfes gegen den Berserker,

422 Wobei natürlich unklar bleibt, wie „unheidnisch“ in diesem Kontext Þorleifr genau zu betrachten ist. Der Jarlsníð selbst datiert laut Skjald von 990 AD (Skjald B1, S. 133), während Haukr Valdísarson ein „isländ. Skalde des 12. oder 13. Jh.s“ war (Simek 2007, S. 164) und seine Wirkungszeit damit merklich nach der Christianisierung liegt. 423 de Vries AL 2, S. 24; SkaldP 2/2, S. 575. 424 Pooles Verbindung zu vor allem der ersten Strophe des Háttalykill inn forni (verfasst von Rǫgnvaldr zusammen mit Hallr Þórarinsson breiðmaga) als Verweis auf den „authoritative and instructive tone that fits with the discourse of the þulr (st. 1)“ ist interessant (Poole 2010, S. 246). Hier wäre vielleicht noch zu fragen, inwieweit es sich dabei eher um eine traditionelle Eröffnung handeln könnte bzw. eine, die sich ganz konkret auf die Rolle des Poeten ebenjenes Werks, dessen Ziel und Inhalt bezieht, als auf eine in einem anderen Text erwähnte Eigenschaft als þulr (ein Begriff, mit dem sich der Jarl nur ein einziges Mal, in ebendiesem anderen Text, bezeichnet). So schreibt Tranter zum Sprecher dieser Strophe: „[…] his function is to entertain and to commemorate. These functions are reflected in the choice of material for the clavis proper, in which the deeds of kings and heroes are re-told“ (Tranter 1997, S. 8). 425 Íslendingadrápa Str. 18,3 f., Skjald B1, S. 543. 426 Íslendingadrápa Str. 18,3, Skjald B1, S. 543. Selbst wenn man heiðnum nicht als intensiv religiös konnotiert, sondern allgemeiner als Terminus in Diensten einer Distinktionsstrategie deutet, bleibt die Tatsache, dass der Begriff nur dann eine ab- bzw. ausgrenzende Wirkung haben kann, wenn er nicht auch auf den positiv gezeichneten Protagonisten zutrifft.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

eingebracht wird. Auch Gades bereits erwähnte Feststellung, dass zwar nicht die Akteursbezeichnung, wohl aber das Sekundärverb þylja in der Bedeutung „rezitieren“ in der Skaldik nicht selten ist, kann als Hinweis auf eine solche synonyme Verwendung angesehen werden.

5.7.1 Exkurs: Vogts Interpretation des Íslendingadrápa-Belegs Vogt schreibt: Die Bezeichnung Þorl.s als þulr in Hauks Ísl. berechtigt in keinem Fall zur Übersetzung ‚Dichter‘. Sie ist in ihrem Helm. zu verstehen, und zwar bezogen auf den ófríðan óð. Dieser ist ein sorgfältig, offenbar nach Zaubervorschrift, dreiteilig aufgebautes Gedicht von galdr- und níð-Inhalt gewesen. Danach konnte er als níð aufgefasst werden. Die erhaltene þokuv. zeigt höchste Steigerung zauberischer Einbildung und macht die Annahme, daß das ganze Werk als Zauber gemeint gewesen ist, notwendig. Als Zauberer bewährt sich Þorl. als echter Sproß seiner zauberkundigen Familie.427

Gegen diese Darstellung ist einiges einzuwenden, und zwar nicht nur Sundqvists428 gegenteilige Auffassung, die beiden Strophen „benutzen den Terminus þulr in der Bedeutung ‚Skalde‘“: So stellt Vogt anfangs selbst fest, dass in der kontextualisierenden Handlung (die Tötung des Berserkers) „nach unseren Quellen eine þulr-Tätigkeit keinen Platz gefunden“ hat.429 Er sucht daher nach einer anderen Ursache im Umfeld dieses und weiterer Texte. Ein schlichtes Synonym für „Dichter“ oder „Skalde“ zieht Vogt bereits von Anfang an nicht in Betracht, obwohl smíða430 ebenso wie das explizite óðr als Begriff für Dichtkunst allgemein431 zur gängigen Terminologie für die poetische Textproduktion gehören und auch die níð-Dichtung den Skalden zugeordnet ist, das passende Umfeld also durchaus gegeben wäre. Hinzu kommen sprachliche Ungenauigkeiten zugunsten der eigenen These: Zum Beispiel nannten dem Autor zufolge „die Leute (þjóðir) ihn þulr […], wenn sie von ihm erzählten“,432 sodass leicht der Eindruck entsteht, dass es sich hier um eine allgemeine Betitelung für diese Person handelt, wann immer sie referenziert wurde, und sie hier somit auch nicht als Dichter markiert wird. Tatsächlich aber lauten die entsprechenden Verse:

427 Vogt 1927, S. 70. 428 Sundqvist, RGA 23, S. 432. 429 Vogt 1927, S. 58; mit „þulr-Tätigkeit“ bezieht er sich dabei auf seine eigene Definition vom Zauberer und Kultredner. 430 Gade 1995, S. 2. 431 C/V, S. 471. 432 Vogt 1927, S. 58.



Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze 

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vega kvǫ́ ðu þul þjóðir þann ok Óláf annan (brœðr vǫ́ ru þar báðir) berserk (at því verki). (Íslendingadrápa Str. 18,5–8)433 „(Die) Leute sagten, dass dieser þulr, und als zweiter Ólaf, den Berserker töteten (die Brüder waren dort beide an diesem Werk (beteiligt)).“ Aus der Strophe ergeht also nicht, dass es sich dabei um eine übliche Bezeichnung handelt, sondern nur, dass sie in dieser Erzählung angewandt wurde. Dazu lässt sich der Ausdruck sogar gleichermaßen der Stimme des Dichters wie den „Leuten“ zuordnen. In beiden Fällen bezieht sich þann þul durchaus auf den für ófríðan óð Verantwortlichen, also den eben erschienenen Þorleifr, der aber nun in einem anderen Setting platziert wird – etwas, das auch Vogt feststellt,434 ebenso wie, dass ein þulr nicht mit níð-Dichtung verbunden ist.435 Anstatt hier aber nun zumindest ansatzweise die Möglichkeit eines eventuellen Zusammenhangs mit der Skaldik – und in diesem Fall sind mit Haukr und Þorleifr sogar gleich zwei Skalden involviert – zu erörtern, sucht Vogt den Text als Zauber zu deuten und fragt: „Ist ófríðr óðr = níð?“.436 Und das, obwohl die im þáttr zitierte vísa Þorleifrs, auf die er sich in seiner Interpretation auch beruft, bereits die Bezeichnung Jarlsníð trägt.437 Vogt greift für die weitere Argumentation dann auf die Þokuvísur des Þorleifs þáttr jarlaskálds zurück und stellt fest – dies durchaus schlüssig –, dass in jenen ein Zaubergedicht vorliege. Nach Klassifikation der Þokuvísur als „echte“ Zauberdichtung und Postulat eines dreiteiligen Vortrags Þorleifrs vor dem Jarl438 stellt der Autor schließlich die Frage, ob dies „echter Zauber oder Zauber in Vorstellungsdichtung“439 sei. Sein etwas überraschendes Fazit ist, es gebe keinen Unterschied, da sich der Dichter in jedem Fall „beim Dichten der erhaltenen þokuv. als Zauberer gefühlt“ habe

433 Skjald B1, S. 543. 434 Vogt 1927, S. 58. 435 Vogt 1927, S. 58 f. 436 Vogt 1927, S. 58. 437 Lausavísa 2 (Skjald B1, S. 133). Dazu SkaldP 1/1, S. 372: „Jarlsníð appears to be a title, but could alternatively be taken as a descriptive phrase“. Zur Strophe an sich s. außerdem SkaldP 1/1, S. 372 f.; zu Þorleifrs Leben und Wirken SkaldP 1/1, S. 368. 438 Vogt 1927, S. 63 ff. sowie S. 68. 439 Vogt 1927, S. 69.

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sowie „das ganze Werk […] als Zauber gemeint gewesen“ sei.440 Gegen Gefühle lässt sich schwer anargumentieren. Es scheint aber einigermaßen fraglich, inwieweit ein mächtiger übernatürlicher Effekt, welcher nur in einer mehrere hundert Jahre vom Ursprungsgedicht entfernten Ausarbeitung detailliert beschrieben wird, als Beweis dafür gelten kann, dass der Dichter der originären níðvísur eine bestimmte emotionale Haltung eingenommen hätte; eine Haltung, welche wiederum auf einen Aspekt (Magie) verweist, der einer bestimmten Bezeichnung eines anderen Dichters (Haukrs þulr) – erneut in gewissem zeitlichen Abstand – zugrunde liegt: Der þáttr wird auf ca. 1300 datiert,441 von Þorleifrs Lebensdaten ist nicht viel bekannt, gesichert ist einzig die Zeit von 970–995 AD,442 sodass die zwischen den beiden Texten liegende Zeitspanne recht beträchtlich ist. Das Entstehungsdatum der Íslendingadrápa wiederum ist umstritten, „meist wird das späte 13. Jh. angenommen“,443 aber es gibt auch Ansätze für eine frühere Datierung im 12. Jahrhundert.444 In jedem Fall liegen hier also weit mehr als hundert Jahre (und auf Island zusätzlich ein Religionswechsel) zwischen dem skaldischen Ursprungstext und seinen Nachfolgern, wobei beim þáttr noch hinzukommt, dass diesem auch Parallelen zu Fornaldar- und Märchensagas attestiert werden,445 welche mit übernatürlichen Elementen ebenfalls nicht immer sparsam umgehen. Somit stellt sich auch hier die Frage, welche Aspekte der Zaubersituation des þáttr wirklich auf ursprüngliche und damit alte Bestandteile zurückzuführen und welche viel eher gattungsspezifisch oder durch Einflüsse anderer, v. a. zeitlich viel näherer Texte entstanden sind. In diesem Punkt lässt sich wieder an das Problem rekontextualisierter Skaldenstrophen in Sagas denken, die der Elaboration, Illustration oder Akzentsetzung von Elementen des inkludierenden Texts dienen können – was das Erkennen des ursprünglichen Kontexts nicht selten erschwert. (Ein ähnliches Problem existiert auch bei Pooles Verbindung von Hákons Beleidigung heljarkarl gegenüber Þorleifr im þáttr mit sonstigen Verknüpfungen des þulr mit Hel oder Hölle im Beowulf und den Fáfnismál:446 Es wird über mehrere Werke unterschiedlicher Provenienz und einen Mittlertext, der wohl die Figur, nicht aber den konkreten Terminus enthält – dafür aber einen Alternativbegriff (skáld), welcher sich ebenso mit den textproduktiven Aspekten in Verbindung bringen lässt – ein Gesamtbild konstruiert.) Zwar zieht Vogt auch andere Quellen für die Stützung seiner Thesen über die Dichtungsart heran; gerade eine seiner am eindringlichsten beschriebenen Korrespondenzen scheint jedoch ebenfalls problematisch. Im Sneglu-Halla þáttr der Mor­

440 Vogt 1927, S. 69. 441 Simek 2007, S. 388 f. 442 SkaldP 1/1, S. 368; den Jarlsníð datiert Skjald, wie angeführt, auf ca. 990. 443 Simek 2007, S. 205. 444 Simek 2007, S. 205. 445 Simek 2007, S. 389. 446 Poole 2010, S. 245.



Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze 

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kinskinna trägt Sneglu-Halli dem König seinen Traum vor, er sei Þorleifr gewesen und habe níð auf Einarr gedichtet.447 Vogt stellt fest, dass das níð-Motiv sich nicht „zwingend auf die Fabel des Þorl. þ. deuten“ lässt. Und schließt dann an: „Aber die Fortsetzung von Sn.-Hallis Worten: ok munda ek sumt, er ek vaknaða. Ok þokar þá frá hásetinu ok umlar við fyrir munni sér … erinnert doch geradezu an die Situation des Þorl. þ.“.448 Für diese Annahme nennt der Autor keinen genaueren Grund, und mir erschließt ein solcher sich auch nicht auf den zweiten Blick. Der murmelnde Abgang ist ja offenbar, zusammen mit der Erinnerung an sumt aus der geträumten Schmähdichtung, als implizite Drohgebärde zu lesen und steht damit im Gegensatz zum direkten Angriff beim Jarlsníð Þorleifrs (zumal Sneglu-Halli auch nicht auf den Herrscher selbst abzielt, sondern einen Unterling). Eventuell bringt Vogt þokar mit dem femininen Substantiv þoka („Nebel“) und somit den Þokuvísur in Verbindung(?). Hier dürfte es sich jedoch eher um das schwache Verb þoka, also „sich bewegen“,449 handeln, sodass sich die Parallele auf phonetische Gemeinsamkeiten beschränkt (inhaltlich ist ein Abgang nach abgeschlossenem Vorbringen eines Anliegens eine mehr oder weniger selbstverständliche Handlung und etymologisch gibt es zwischen dem Substantiv þoka und dem gleichlautenden Verb keine Verbindung450). Sehr interessant in diesem Kontext ist auch der weitere Verlauf des þáttr, denn der König findet gegenüber Einarr ziemlich deutliche Worte über Þorleifrs níð: […] er þetta engi draumr, er hann sagði, því at þetta mun hann enda, ok eru dœmi til þess, at níðit hefir bitit enn ríkari menn enn þú ert, ok mun þat aldri niðr falla, meðan Norðrlǫnd eru byggð. (Sneglu-Halla þáttr Kap. 7, Kristjánsson 1956, S. 286)

Er nimmt hier also auf keinerlei magische Wirkung Bezug, sondern auf den im Altnordischen buchstäblich „beißenden“ Spott der Schmähstrophen, die er kurz zuvor noch als kviðlingr,451 „Gedichtchen“, vermutlich in der Bedeutung „Spottvers“452 bezeichnet hatte, und warnt vor ihrer lang anhaltenden Wirkung. Gleichermaßen erkennt auch er den Traum sowie die Art des Vorbringens als leicht verhohlene Drohung. Wenn sich also aus diesem Text etwas ersehen lässt, dann scheint es mir eher zu sein, dass die Þokuvísur – wenn im Sneglu-Halla þáttr in der Tat auf jene und nicht den Jarlsníð oder einfach das Motiv des dem Fürsten persönlich Schmähdichtung vortragenden Þorleifr Bezug genommen wurde – vom Verfasser als „normaler“ níð aufgefasst wurden.

447 Kristjánsson 1956, S. 285 f. 448 Vogt 1927, S. 66. 449 C/V, S. 741. 450 Vgl. de Vries 1962, S. 615. 451 Sneglu-Halla þáttr Kap. 7, Kristjánsson 1956, S. 286. 452 C/V, S. 363: „a ditty, esp. of a satire or lampoon“; Baetke, S. 351: „kleines Gedicht, Verslein, bes. Spottvers“.

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Noch weitere Verse führt Vogt an. Die zweite Lausavísa Þorleifrs (bei Vogt Lv. 2,453 bei Jónsson 5454) enthält jedoch ebenfalls keine Ansatzpunkte für eine zwingend magische Deutung und ist obendrein strittig,455 wie auch Sveinn tjúguskeggs Strophe456 und ebenso die deutlich später datierte vísa Hallbjǫrn halis.457 Im Ganzen zeigen die frühen Referenzen somit einen ausgesprochenen Mangel an einer solchen übernatürlichen Orientierung. Da ist es dann schon fast nicht mehr verwunderlich, dass der Autor die anfängliche Scheidung zwischen Zauber und níð in einem Zwischenfazit praktisch wieder aufhebt: Þorl. þ. enthält echte alte Stücke des Gedichts: Þokuv., Teilung und Ordnung, konuvísur. Sie lassen es als ein umfangreicheres Werk erscheinen, in dem níð und galdr verbunden war – was übrigens nichts Überraschendes hat; vgl. Buslb. v. 7, 7 ff.; E. Noreen a. a. O. Daraus erklärt sich die Auffassung als níð in den älteren Zeugnissen. Von einer Wirkung des galdr gab es freilich in ereignisnahen Zeiten nichts zu erzählen. Da war níð der Exponent, und der hat gewirkt; das beweisen eben jene Zeugnisse. Ein späterer Dichter (Erzähler) brachte den galdr zu seinem Recht. (Vogt 1927, S. 68 f.)

Lässt man diese These des Gattungs- und Funktionswandels (die nicht belegt wird) beiseite, bleibt festzuhalten: Die alte, also zeitlich dem Text nächste Version, ist auch für Vogt der níð. Mit dem der þulr nicht verbunden ist. Wohl aber der Skalde. Der galdr-Aspekt, welchen er (als zentralen) ausmacht, blieb hingegen ihm gemäß über Jahrhunderte unbeachtet, um sich schließlich vor allem in einem einzigen þáttr zu offenbaren. Im Ganzen wirken Vogts Argumente für eine Deutung von þulr als „Zauberer“ in der Íslendingadrápa für mich nicht überzeugend genug, als dass man sie dem Synonym für „Skalde“, welches mit Rǫgnvaldrs Strophe ein zweites Mal bezeugt wäre, vorziehen sollte. (Allerdings deutet Vogt auch dieses zweite Vorkommen anders, nämlich als Terminus für eine Person, die mit sakralen Mächten kommuniziert, und verwirft die, u. a. von Müllenhoff aufgebrachte, Alternative, weil sie „ohne das Salz Rǫgnv.s“458 sei; und weiter: „Þulr ist ein ausgesprochen der Gedankenwelt des Heidentums angehöriger Begriff. Wir finden ihn nirgends indifferent als ‚Dichter‘“,459 was, wie beim vorherigen Beleg erörtert, Interpretationssache ist. Sowohl Vogts These wie auch die Gegenthese vom Dichtersynonym bergen nichtsdestotrotz fast unvermeidlich beide eine gewisse Zirkelschlussgefahr, denn es sind nun einmal nur zwei Belege für þulr aus dem Mund – oder der Feder – von Skalden

453 Vogt 1927, S. 64. 454 Skjald B1, S. 134. 455 SkaldP 1/1, S. 357. 456 Skjald B1, S. 175, Vogt 1927, S. 64; zur Authentizität s. SkaldP 1/1, S. 379 ff. 457 Skjald B1, S. 521, Vogt 1927, S. 65, zur Echtheit s. SkaldP 1/1, S. 382. 458 Vogt 1927, S. 78, eine ebenso prägnante wie detailarme Feststellung. 459 Vogt 1927, S. 78.



Nachsatz: Texteinheit und editorische Zusätze 

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überliefert. Eine gegenseitige Beeinflussung bei der Interpretation beider Texte bestmöglich auszuschließen, ist damit ebenso geboten wie schwierig.) Zurück zu den Hávamál, wären, wie vermerkt, die beiden modellbildenden fimbulþulrStrophen nach McKinnell somit ebenfalls ein Zusatz, dann eines anderen, früheren Bearbeiters als dem von Str. 111,460 und folglich kein Bestandteil des ursprünglichen, den Großteil der Verse ausmachenden Gedichts. Unter solchen Umständen bleibt als „ältere“ Schicht in diesem Fall also einzig Str. 134 inmitten der Loddfáfnismál. Eines Teils, welchen McKinnell als „christlich beeinflusst“461 bzw. „poem of largely Christian gnomic advice“462 bezeichnet und Anzeichen für eine vergleichsweise spätere Datierung findet.463 Dies und die Parallelen zu den Hugsvinnsmál, zusammen mit den bereits erwähnten Problemen bei der Deutung von vílmǫgom als geopferte Menschen und Tiere zuzüglich der generalisierenden Erweiterung jenes Lehrsatzes, macht es dann sehr wahrscheinlich, dass der þulr auch in Str. 134 keinen heidnisch-kultischen Beiklang besaß, sondern als in religiöser Hinsicht neutrale Figur eingebracht wurde. All das zusammengenommen verschwindet unter solchen Umständen damit ein ganz erheblicher Teil der literarischen Belege für den þulr als „Kult-Sprecher“ oder in irgendeiner Form rituell konnotierten „kultledare“464 (Sundqvist). Auch beim Víkars­ bálkr, wo der Protagonist wegen seiner Odinsnähe und der vorausgehenden kaschierten Weihe- bzw. Opferhandlung näher am Kult zu sein scheint als in anderen Quellen, ist eine solche Deutung nicht zwingend. Denn vor allem der Gebrauch von þulr im Sinne einer skaldischen Eigenbezeichnung und damit als Dichtersynonym, wie er meiner Meinung nach in den beiden Lausavísur zu finden ist, würde auch auf Starkaðr zutreffen. Auf die Figur eines Dichters, dessen poetischer Stellenwert nicht zuletzt auch dadurch bezeugt ist, dass mit dem Starkaðarlag ein eigenes Vermaß nach ihm benannt ist.465 Dies alles schließt selbstverständlich nicht aus, dass der historische þulr nichtsdestotrotz ursprünglich in einen existenten Kult involviert war. Es verringert aber signifikant die Menge der literarischen Indizien für einen solchen Befund. McKinnells Postulat der Bearbeiter löst nebenbei auch ein Problem, welches de Boor bei von Sees „Redaktor-Theorie“ monierte: In dessen Studie werden keine

460 McKinnell 2007a, S. 100 f. 461 McKinnell 2007a, S. 96. 462 McKinnell 2007b, S. 86. 463 „It is by no means certain that all of Loddfáfnismál shares the same origin, but the evidence of the expletive particle, such as it is, suggests a relatively late date for the poem“ (McKinnell 2007a, S. 111). 464 Sundqvist 2007. 465 Háttatal Str. 98 f. Poole stellt zusätzlich fest: „Skáldatal (Kringla text) partially confirms this role [as the earliest authority on the Dano-Swedish wars, KRMT]: Starkaðr hinn gamli var skáld. Hans kvæði eru fornust þeirra er menn kunnu nú. Hann orti um Danakonunga […]“ (Poole 2010, S. 255 f.). Hier wird neben der Autoritätsfunktion also der Skaldenstatus, nicht aber eine Rolle als þulr bestätigt, wie auch in anderen norrönen Werken (s. dazu Poole 2010, S. 256).

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 Mythen, Runen, Vielgestalt – Hávamál

Charakteristika benannt, an denen man diese späteren Kompositionen des letzten, formenden Bearbeiters erkennen könnte, „die dem Redaktor zugewiesenen Strophen heben sich in nichts von den übrigen ab“.466 Im Gegensatz dazu kann man wenigstens für die hier besprochenen Strophen aus McKinnells Theorie feststellen, dass die „zweitletzte“ Schicht sich zumindest durch metrische Irregularität abhebt (und auch Str. 111 ist nicht regelmäßig467) sowie motivisch durch die Vorstellung Odins als þulr. Damit wären auf zwei Ebenen Charakteristika zur Unterscheidung vorhanden, was der Theorie einige Plausibilität verleiht. Folgt man McKinnell strikt und setzt damit nur in Str. 134 ein originäres (und selbst dann wohl nicht sonderlich archaisches oder gar heidnisches) þulr-Bild an, erscheint hier sogar zu einem gewissen Grad das Gegenteil der Charakteristika der anderen Strophen: verlacht oder gar als Schimpfwort gebraucht, von zweifelhafter Autorität, auf fremde Unterstützung angewiesen und selbst in der Verteidigung nicht als þulr, sondern nur als Greis in Schutz genommen. In seiner Rede formal wie inhaltlich unklar, mit einem Publikum, das bestenfalls unberührt bleibt, ist allerdings auch hier die Konstante der verbalen Äußerung evident. Dieser Aspekt widerspricht außerdem vor allem der erhaben(?) schweigenden Präsenz des fimbulþulr, denn im Gegensatz zu den sonstigen Belegen ist dessen Sprachlosigkeit dort buchstäblich keiner Rede wert. Sie wird, anders als etwa im Beowulf oder im Víkarsbálkr, bei der urzeitlichen Figur in keiner Weise thematisiert, sondern ist schlicht gegeben. Auch die spezifisch aktive Beteiligung an der Runenerzeugung findet sich nur beim mythischen þulr (selbst bei der Inschrift des Steins von Snoldelev bleibt offen, wer der Ritzer war). Aus einer solchen Perspektive ist es dann eher Odin, genauer gesagt, der fimbulþulr, der aus dem Rahmen fällt, während die beiden „anderen“ þulir der Hávamál – ob positiv oder negativ, und gleich, ob der þulr-Stuhl in Str. 111 nun auf Odin verweisen soll oder nicht – durch ihre Äußerungen ausgezeichnet sind und damit deutliche Parallelen zu der Darstellung in anderen Texten aufweisen. Es bietet sich eingedenk all dieser Überlegungen daher meiner Ansicht nach an, fast alle468 Belege der Hávamál jeweils individuell als separate Schöpfungen und nicht als eine kohärente Figur zeichnende Teilillustrationen aufzufassen und zu untersuchen. – Zumindest bis größere Klarheit über Komposition und Gestaltungsprozess besteht.

466 de Boor 1973, S. 369. 467 McKinnell 2007a, S. 103. Wie der Autor ebenfalls vermerkt, würde Str. 111 zur regulären ljóðaháttrStrophe, wenn die erste Halbstrophe – die auch die Probleme mit dem Doppelort und einem eventuellen Sprecher Odin zu Beginn verursacht – abgetrennt wird (ebenjene ordnet er, als „Odinic reference“ (McKinnell 2007a, S. 102) einer anderen editorischen Schicht zu). 468 Str. 80 und 142 sind aufgrund der Korrespondenzen weiterhin als zusammengehörig anzusehen.

6 Zusammenfassung und Abschluss  In den in dieser Arbeit untersuchten Texten unterscheiden sich die literarischen Darstellungen des Thuls in manchen Punkten ganz erheblich; es fallen aber auch deutliche Gemeinsamkeiten ins Auge: Unterschiede gibt es in der Originalität. Hier stellen die Hávamál (Str. 111) mit der fast ausschließlichen Wiedergabe der Reden in der Halle des Hohen den einen, reproduktiven Pol dar, während den anderen, kreativen, Reginn mit vor allem seinem ausgesprochen persönlichen Streitgespräch mit Sigurd bildet. Vafþrúðnir nimmt mit der kompetitiven Verarbeitung traditioneller Inhalte in – größtenteils – eigenen Worten eine gewisse Mittelposition ein; ähnlich verhält es sich bei Unferð, wobei hier wohl noch mehr individuell-spezielles denn allgemein-verbreitetes Wissen1 hineinspielt. Bei den anderen þulir der Hávamál, schließlich, lassen sich die konkreten Inhalte nicht festmachen, sodass keine endgültige Aussage möglich ist. Ebenfalls unterschiedlich gestaltet sich das Publikum und hier lässt sich keine eindeutige Tendenz erkennen. Eins-zu-Eins-Konstellationen sind (in den Vafþrúðnis­ mál und im Fáfnismál-Streitgespräch) ebenso vorhanden wie die Zuhörermenge, die der Thul aber meist eher indirekt adressiert. Am offensten erfolgt die Ansprache einer Zuhörerschaft noch in Hávamál Str. 164 (als Komplement zu Str. 111)  – auch wenn dabei nur die dritte Person verwendet wird. Im Gegenzug arbeitet vor allem Unferð mit der sehr indirekten Anrede, wenn er sich einzig auf den Gegner bezieht, seine Worte aber ebenso Einfluss auf die zuhörenden Dänen haben und haben sollen (und dabei, wenn man den Interpretationen Enrights, Gwaras sowie anderen folgt, im Grunde die Vorbehalte einer ganzen Gruppe an die Öffentlichkeit gebracht werden). Auch Reginns Preisrede nach der Vaterrache ist zwar an niemanden spezifisch gerichtet, stellt aber eine bewusste, öffentliche Würdigung dar, die für alle Umgebenden bestimmt ist. Wie aus dieser Varianz ersichtlich wird, ist somit auch die Sprecherorientierung des Thuls nicht in allen Texten identisch, allerdings überwiegt die direkte Hinwendung zum Dialogpartner (Vafþrúðnismál, Regins- und Fáfnismál, Beowulf; eventuell auch Hávamál Str. 134). Andererseits wird die Menge, sofern vorhanden, doch meistens geschickt miteinbezogen, somit kann man hier vielleicht von einem Bewusstsein der jeweiligen Figur für den öffentlichen Auftritt sprechen, wobei sie sich das Umfeld zunutze zu machen weiß. Bei der Orientierung allgemein fällt außerdem auf, dass keinerlei im weitesten Sinne „religiöse“, mithin gebets- oder kulthafte Hinwendung zur Götterwelt erkennbar wird. Zwar findet teils durchaus eine Kommunikation mit dem Übernatürlichen statt, in einem solchen Fall sind aber auch die Thul-Figuren bereits im selben Bereich verortet: Vafþrúðnir ist ein Riese, und falls der fimbulþulr allem Informationsmangel

1 Dem dänischen Hof war Beowulf ohne Unferðs Exploration nicht bekannt genug, als dass es für den sofortigen, vollkommenen Gastempfang genügt hätte.

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 Zusammenfassung und Abschluss 

zum Trotz gleichfalls hierunter gerechnet werden sollte, befindet er sich ausweislich der beiden Strophen, mit ginregin und Hroptr, ebenso in mythischer Gesellschaft. Im Gegensatz dazu kommuniziert der Rezitator auf dem þulr-Stuhl am Urdquell ungeachtet des Ortes allem Anschein nach nicht mit der Götterwelt, sondern mit einer vermutlich menschlichen, vielleicht auch gemischten Schar (die Menschen- und Riesensöhne der Str. 164), in der auf jeden Fall göttliche Wesen keine Erwähnung finden. Seine vorausgehende Präsenz und damit Interaktionsrolle im Asenreich, in der er das Wissen seines Vortrags erwarb, war darüber hinaus rein rezeptiv. Ansonsten fallen die Hávamál, und dabei einmal mehr vor allem die fimbulþulrPassagen, auch in diesem Punkt aus der Reihe: Über Orientierung wie etwaiges Publikum dieser Figur lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Dies gilt zwar auch für Str. 134, allerdings mutet das dortige Szenario immerhin weltlich-„realistischer“ (entsprechend der in Weisheitsdichtung häufigen Alltagssituierung, vgl. etwa das „Alte Sittengedicht“) an als die eindeutig außerweltlichen Szenen des Erzthuls. Auf dieser Basis lassen sich dann zumindest einige begründete Annahmen über die Orientierung des grauen þulr jener Strophe tätigen (nämlich auch hier ins Nicht-Göttliche; schon durch die pragmatische Zurechtweisung des Rahmensprechers),2 während die Runenschöpfung im Dunkel des mythischen Anbeginns verbleibt. Allen frühen Überlegungen über eine mögliche Funktion des Begriffs als Dichterterminus zum Trotz ist eine ausgeprägte Formalästhetik offenbar nicht das Hauptziel oder -merkmal von Texten eines literarischen Thuls. Es fallen aber in dessen Worten durchaus stilistisch elaborierte Passagen ins Auge, die ein Bewusstsein und die Fähigkeit für gehobeneres Textschaffen erkennen lassen, wenn auch eine durchgängige derartige Gestaltung seiner Äußerungen, oder gar die Konzeption als eigenständiges Kunstwerk, praktisch nicht ersichtlich wird. Diese Eigenschaft ist mehr oder weniger allen hier behandelten eddischen und altenglischen Belegen gemein, die mit der Produktion von Texten, welche auch literarisch abgebildet werden, einhergehen. Allerdings kann in der Überschau auch festgestellt werden, dass zumindest zwei, eventuell sogar drei der hier nicht intensiv erörterten Werke, nämlich Jarl Rǫgnvaldrs Lausavísa, der Víkarsbálkr sowie die in der Íslendingadrápa erwähnte, dem þulrBegriff vorausgehende „unfriedliche Dichtung“ Þorleifrs, hiervon abweichen und durchaus ästhetische Elaboration und Werkhaftigkeit vereinen.3 Gleichermaßen fällt bei diesen Texten aber auch auf, dass all ihre Schöpfer gemeinhin unter einem ganz anderen Etikett firmieren, nämlich dem des Skalden, sodass unklar bleibt, inwieweit

2 Dass sich diese Folgerung mit der Figurendeutung als Ritualsprecher und vor allem einer kultischen Konnotation der drei Schlussverse ändert, bedarf keiner weiteren Ausführung mehr. Im entsprechenden Kapitel wurde aber bereits dargelegt, weshalb diese Lesart nicht ganz so überzeugend wirkt. 3 Bei Þorleifrs (nicht in der Íslendingadrápa zitierten) Worten trifft dies im Rahmen der von skaldischer Textproduktion gängigerweise erwartbaren, nicht aber anhand konkreter Elemente zu bemessenden Gestaltung zu.



Zusammenfassung und Abschluss 

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in diesen Fällen þulr-Begriff und Produktion elaborierter, abgrenzbarer Textgefüge tatsächlich zusammenhängen (und der Terminus nicht nur als reine Variation mit dem Nexus autoritativ-performativen Sprechens verwendet wird). Entsprechend der untergeordneten Rolle stilistischer Feinheiten in den hier behandelten Texten werden diese auch nicht explizit bewertet. Teilweise findet sich aber die implizite positive Anerkennung mittels Repetition; entweder durch das Gegenüber, welches stilistische Elemente wieder aufgreift, oder aber durch den Thul selbst, indem dieser den Stil des Gegners imitiert, zur Grundlage seiner Äußerung macht und damit seine eigene Wertschätzung dafür zum Ausdruck bringt. Ganz ausgesprochen zentral ist für die Äußerungen des Thuls indes ein performatives Element, welches praktisch ohne Ausnahme in allen Texten zu finden ist und nur in Hávamál Str. 134 aufgrund der dortigen Unschärfe fraglich bleibt. Häufig äußert sich die Figur dabei in einem formalen Rahmen, der nicht selten kompetitiv motiviert ist, was mal festeren Regeln (das flyting im Beowulf, der Wissenswettstreit zwischen Odin und Vafþrúðnir) und mal loseren (das thematisch-argumentativ stärker changierende Streitgespräch zwischen Reginn und Sigurd) folgt. Auch nicht-kompetitive Performanzen sind auszumachen; hierbei nehmen die Hávamál mit den urzeitlich-wortlosen Auftritten des fimbulþulr sowie der Verkündung beim Urdquell die vorderste Position ein, was dem Werk erneut eine gewisse Sonderrolle verschafft (und angesichts der betroffenen Strophen einmal mehr mit McKinnells Theorie der verschiedenen Schichten korrespondiert). Selbst in den hier nicht detaillierter behandelten Belegstellen ist die Performativität größtenteils evident: im Víkarsbálkr bereits aufgrund der gesamten Konzeption (autobiographisch rezitierender Dichterschöpfer), ebenso in Jarl Rǫgnvaldrs Lausavísa, und in den Rímur-Belegen situativ durch das kontextbildende flyting (dabei in den Griplur zwangloser, in den Geðraunir etwas fester). Nur Þorleifrs óðr kann nicht ganz zuverlässig eingestuft werden. Aufgrund der performativen Vortragssituation der Skaldik sowie ausgehend davon, dass sich jener Begriff Haukrs auf den Jarlsníð bezieht und zumindest die überlieferte Tradition von einem Vortrag grob ähnlich dem im späteren þáttr ausgeht, also einer öffentlichen Rezitation vor Publikum, lässt sich hier ein performatives Element aber zumindest annehmen. Die Vortragssituationen wiederum differieren merklich; hier treffen die mythischen Szenarien der Götterlieder (mit, wie Vafþrúðnirs Halle, auch durchaus weltlicher Gestaltung) auf die säkularen des Heldenlieds, ohne dass dies grundsätzlich einen deutlichen Bruch im Verhalten der Figur des Thuls mit sich bringen würde: Abgesehen von der speziellen Frage zum Abschluss der Vafþrúðnismál birgt das dortige Wissensgespräch beispielsweise merkliche Ähnlichkeiten zum Dialog zwischen Sigurd und Fáfnir; allerdings entfällt bei Letzterem das kompetitive Element, welches wiederum im mannjafnaðr anderer Texte erkennbar ist. Beim Streitgespräch zwischen Reginn und Sigurd kann man so Anklänge an jenes im Beowulf erkennen; ferner auch einige Parallelen zu den Szenen der Rímur, obschon die dortigen Wortgefechte ungleich offensiver sind.

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 Zusammenfassung und Abschluss 

In einigen wenigen Fällen lassen sich in weiterer Hinsicht zeremonielle Anteile annehmen (etwa beim Gastempfang des Beowulf), aber nicht wirklich beweisen; bei Weitem deutlicher sind allgemeine Formalisierungen, die vor allem in den kompetitiven Austauschen enthalten sind, sowie ein öffentlicher, nicht zwangsläufig auch offizieller Aspekt. Die Hávamál umfassen hier mit ihren drei unterschiedlichen Szenarien  – ikonische primordiale Situation, gegenwärtiger am Urdquell verorteter Vortrag, säkulare(re) Rede des alten þulr  – hochmythische wie weltliche Settings; zumindest eines davon auch mit deutlich zeremoniell-formalen Elementen (Str. 111). Einmal mehr fallen hier im Vergleich zu den anderen Texten jedoch die Unterschiede ins Auge und genau genommen existiert für keine der drei Varianten eine wirkliche Parallele: Die sprachlose numinose Runenschöpfung ist singulär, auch der feierliche Götterwortvortrag vom þulr-Stuhl kennt kein Analogon, und der schattenhafte verlachte Thul, dessen unbekannte Worte letztlich nicht aufgrund seiner Rolle, sondern seines Alters wegen verteidigt werden, steht ebenfalls allein. Fast allen hier diskutierten Thul-Figuren gemein ist eine zumindest situativ hohe Autorität, wobei die Götterlieder an vorderster Stelle stehen. In diesem Punkt stellen die Hávamál-Passagen sogar den Gipfel dar (einmal mehr mit Ausnahme der Str. 134): Eine höhere Autorität als der Göttervater kann kein anderes Wesen genießen und auch der Urdquell ist entsprechend konnotiert. Ebenjener fimbulþulr Odin, und seine Frau, attestieren dann im zweiten Götterlied dem Riesen Vafþrúðnir dessen grundsätzliche Macht (rammr), Wissen und Rang, wodurch all jenes ebenfalls außer Zweifel steht. Flüchtiger gestaltet sich dieses Charakteristikum dagegen bei den heroischen Texten: Reginn besitzt mehrere Male situativ hohe Autorität  – oder verschafft sie sich. Am stärksten wird dies, neben der nur erzählten Ziehvaterschaft und Rolle als Lehrer Sigurds, in Passagen ersichtlich, wo der Schmied als Herold in Erscheinung tritt, während er im letzten Wortgefecht seine Macht Zug um Zug verliert. Unferðs (situativ?) einflussreiche Position enthüllt sich im Schweigen des dänischen Hofes angesichts seiner Provokation des Gastes; vielleicht auch darin, dass Beowulf, ohne zu zögern, auf die Hohnesworte des þyle eingeht und damit nicht infrage stellt, ob der Gefolgsmann Hroðgars überhaupt zu solchen Äußerungen berechtigt ist. Auch dieser Charakter büßt die Autorität allerdings im Anschluss an seinen Auftritt ein – zusammen mit der Sprache, wie überhaupt in den meisten Texten ein etwaiger Verlust der Sprache mit dem Autoritätsverlust des Thuls einhergeht. Diese Tatsache lässt sich als Hinweis auf eine enge Koppelung des Äußerungsaspekts an den Begriff deuten. Interessant ist weiterhin, dass die Rollen von þulr und þyle überhaupt kein einheitliches Bild zeigen, sondern mannigfaltige Ausprägungen, insbesondere in den eddischen Götterliedern: Asenfürst, Urriese, Gastgeber, Fragender und Antwortender, Runenfärber, mythische Wissensquelle, Kombattant, verlachte Gestalt, Gast in Háva hǫll und am Urdquell … Gerade beim obersten Asen besteht indes eine große Gefahr, von grundsätzlichen Funktionen der Götterfigur auf den Begriff zu schließen. Odin, der kraft seiner Stellung im Pantheon über höchste Macht verfügt und als



Zusammenfassung und Abschluss 

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Patron und Exemplar mit ganz verschiedenen oral/verbal konnotierten Feldern assoziiert ist (Dichtung, Überzeugungskraft, Runen, Eloquenz, Magie …), macht es schier unmöglich, hier zwischen den Einzelaspekten zu differenzieren – zumal im Grunde genommen nur ein einziges Mal für ihn die Bezeichnung þulr verwendet wird (und dieser Vers sich wiederholt). Bei den Vafþrúðnismál ist ferner bemerkenswert, dass, wenn die letzten Worte Odins an Baldr in der Tat sakrale Bedeutung gehabt haben sollten, wie teils angenommen wird, der Thul Vafþrúðnir hier im sakralen Kontext versagt. Dies geschieht zwar mehr oder weniger unausweichlich, aufgrund der Natur – und wohl auch traditionellen Funktion – der Odinsfrage, dennoch wirft es ein interessantes Licht auf den (literarischen) þulr und das Thema kultischer Einbindung und Macht. Darüber hinaus ist der Riese bei Weitem nicht der einzige Thul, der eine Niederlage erleidet. Im Kontrast zu den mythischen sind die Rollen in den weltlichen Texten etwas weniger variantenreich; vor allem Unferð tritt außer als (offizieller?) Provokateur bzw. Gastprüfer nur noch als Besitzer und Übereigner des Schwerts Hrunting in Erscheinung. Demgegenüber hat Reginn – dies allerdings wohl auch aufgrund der Zeitspanne, die Regins- und Fáfnismál umfassen – mehrere Rollen inne. So etwa die anfangs beschriebenen des Ziehvaters und Lehrers, die sich aber im Kontext des Drachenkampfs verengen; nicht zuletzt, da sie von Sigurd zum Szenenabschluss hin erst performativ infrage gestellt werden und dann in die endgültige und brachiale Lösung des Helden von seinem bisherigen Vormund münden. Reginns prototypische Funktion – die des Schmiedes – spielt hierbei interessanterweise keine größere Rolle, bildet aber die argumentative Grundlage für dessen Verteidigung seines Verhaltens beim Fáfnirskampf. Bemerkenswert ist außerdem in der Äußerung der Vögel, die den þulr-Begriff enthält, die erneute Betonung des verbalen Elements, was sich vielleicht als Gegenstück zur oben erwähnten Koppelung von Sprache und Autorität (im Verlust) deuten lässt. Ebenfalls vielgestaltig zeigen sich die Informationsarten, welche in Texten des Thuls transportiert werden; sie lassen sich nicht auf einen oder zwei Typen reduzieren. Übergeordnet sind mythische Inhalte zwar sehr häufig (Vafþrúðnismál, Hávamál Str. 80 und Str. 142, Hávamál Str. 111, Rúna- und Ljóðatal), gleichwohl werden auch weltliche oft geäußert (Beowulf; konkrete Inhalte der „Thul-Erzählung“ Loddfáfnis­ mál wie etwa die Freundschaftsregeln, Regins- und Fáfnismál; selbst der Hortbericht ist, obwohl mythisch, gleichzeitig Teil der Lebensgeschichte des Schmieds und tritt schließlich mit Hreiðmarr in die säkulare Welt über). Unter den mythischen Informationen befinden sich dabei in gesteigertem Maße ätiologische, während Kosmographie und Eschatologie seltener vertreten sind. Die weltlicheren Texte bedienen sich andererseits vor allem heroisch motivierter Inhalte, obschon gerade diesen in den Fáfnis­ mál später von Reginn gezielt widersprochen wird. Gnomen wiederum spricht interessanterweise weniger der Thul selbst, vielmehr werden sie häufig in seinem Umfeld geäußert: von Odin bei Vafþrúðnir, von Sigurd gegen Reginn, und von Beowulf im Wortgefecht mit Unferð. Der Sprecher der Loddfáfnismál-Belegstrophe schließlich bringt die Figur gleich ganz direkt in seine lehrhafte Sentenz ein. Weniger Anteil an

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 Zusammenfassung und Abschluss 

den verbreiteten Inhalten haben außerdem anderweitig weltliche, etwa genealogische oder geographische Informationen, obwohl auch diese auftreten können, etwa in der Horterzählung gegenüber Sigurd. Über die Informationskontexte von Äußerungen des Thuls wurde bereits weiter oben einiges vermerkt, sodass an dieser Stelle nicht mehr viel anzufügen ist. Ein kompetitives Moment tritt in den hier untersuchten Werken signifikant häufig auf und ist auch in der Gesamtheit der Belege deutlich vertreten, da die Rímur-Passagen weitere Beispiele enthalten. Eindeutig kombativ sind dabei vor allem ebendiese (späten) Rímur-Szenen, während in den anderen Texten weniger der Aggressions- denn der Konkurrenzaspekt vorherrscht  – selbst bei der Attacke Beowulfs gegenüber Unferð rückt ein solcher allmählich, in den Vergleichen des Gauten mit den Errungenschaften der Dänen in den Mittelpunkt. Aber der Thul äußert sich auch in anderen Kontexten; insbesondere Reginns praktisch durchgängig persönliche Motivation sticht hier hervor. Unferðs Eifersucht kann man ebenfalls unter diesen Antrieb stellen, wenn sie auch kaum die einzige Triebkraft des þyle ist. Entsprechend den bereits erwähnten performativen Anteilen ist darüber hinaus ganz allgemein eine Tendenz zu formalisierter, im weiteren Sinne auch öffentlicher Rede zu erkennen. Bemerkenswert gestaltet sich ferner die Tradierung. Hier lassen sich vor allem zwei Schlussfolgerungen ziehen: Eine explizite Tradierungsfunktion ist eher selten gegeben. Aber ist dies doch der Fall, findet sie sich stark ausgebildet. Der þulr Reginn nimmt eine Tradentenrolle nicht explizit, aber implizit vor allem in der Funktion als Lehrmeister ein, wobei auch die Horterzählung Mittel zum Zweck  – dem Drachenkampf  – ist. Es handelt sich dort also nicht um eine typische Tradierung um der Erhaltung und Verbreitung, sondern eine zweckgebundene um der konkreten, individuellen Nutzung willen. Vafþrúðnirs Ziel im Wissensgespräch4 ist gleichfalls nicht die Weitergabe oder Konservierung, sondern Probe und Vergleich. Was der Riese an Zusatzinformationen über die Frage hinaus bietet, wird ebenfalls nicht ausdrücklich in diesen Kontext gestellt  – obwohl hier natürlich eine Tradierung stattfindet, sofern sein Gegenüber über dies Wissen vorher noch nicht verfügte. Unferð tradiert im Grunde ebenfalls nicht, sondern offeriert der Zuhörerschaft zwar situativ bis dato unbekannte Informationen, dies aber nicht im Sinne der bewahrenden Überlieferung, sondern zweckgebunden für die öffentliche aggressive Bloßstellung des Gegners. Nur in den Hávamál nimmt der þulr damit ganz gezielt die Tradentenrolle ein, und zwar in Str. 111 (und/bis Str. 164), wo er sich sehr ausdrücklich so betätigt. Den restlichen Belegen eignet – mit Ausnahme der Skaldik5 – wenn überhaupt, nur ein unterschwelliger Aspekt, und in Str. 134 wird der Stellenwert praktisch gar nicht ersichtlich.

4 Hier wird erneut McKinnells Deutung zugrunde gelegt. 5 In den Rímur kann eine Tradierung in keinem Fall angenommen werden, wohingegen sie der Skaldik (in diesem Fall einschließlich des Víkarsbálkr) bereits aufgrund der konservierenden Funktion dieser Dichtkunst, erkennbar vor allem in der Preisdichtung der drápur, inhärent ist.



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Von ebenso hoher Bedeutung wie performative Aspekte erweist sich schließlich die Validität der Aussagen eines Thuls. Auch dies trifft für jeden der untersuchten Texte zu: Die Gültigkeit von Vafþrúðnirs Aussagen im Wettstreit ist für sein Weiterleben essentiell (und bedingt seinen Ruf als Weiser), die Korrektheit von Reginns Äußerungen für das Zustandekommen des Drachenkampfs, von der Lehre bis zum erfolgreichen – „gültigen“ – eggja Sigurds. Unferð wiederum verlässt sich auf die Wirksamkeit seiner Worte, die womöglich auch an seiner Position in Heorot einen Anteil hat, um den Gast zu beschädigen (und dadurch dessen Rechtfertigung und Legitimation zu provozieren), und sowohl die Figur auf dem þulr-Stuhl als auch der fimbulþulr der Hávamál sind auf unterschiedliche Art und Weise ganz direkt mit göttlich authentifizierten Inhalten verbunden. Selbst der skizzierte Thul aus Str. 134 erfährt durch den Rahmensprecher Würdigung – obschon nicht ganz uneingeschränkt –, wenn dieser gezielt die Qualität der Inhalte in den Mittelpunkt stellt. Im Gegenzug lässt sich das „Versagen“ des Thuls, welches bereits öfters angesprochen wurde, aus dieser Perspektive auch mit ungültigen – falschen, fehlgeschlagenen oder unwirksamen – Äußerungen in Verbindung bringen. In allen Texten steht der Niedergang eines Thuls mit einem solchen Vorgang in Kontakt: Vafþrúðnir versagt das zu äußernde Wissen, Reginn die Argumente – oder zumindest die Schlagfertigkeit (er hat nicht einmal das letzte Wort, sondern im Gegenteil, Sigurd offenbar sogar gleich zwei Strophen, in denen der Jüngling seine Ansicht variierend und widerspruchslos darlegen kann), Unferð verliert das flyting und erfährt dafür vom Erzähler Spott. Starkaðr wiederum verhöhnen die Fürstensöhne als Stummen (referenzieren also die verlorene Sprachmacht per se), und in den drei Rímur-Belegen, schließlich, werden ebenjene Charaktere als þulr bezeichnet, die der jeweilige Held letztlich, und quasi in Erweiterung des Verbalkonflikts, niederstreckt. Figuren, Status, verbale Handlungen und Validität gehen also, im Positiven wie Negativen, auffallend häufig Hand in Hand, ohne dass dabei spezifische Inhalte einbezogen werden müssten. Der Validierungsprozess spielt darin zwar handlungsfunktional, nicht aber im Ergebnis eine Rolle – letzten Endes entscheidet die situative Gültigkeit. Der Vergleich der altnordischen mit der altenglischen Ausprägung eines Thuls gestaltet sich, nicht wirklich überraschend, auch mit den vorliegenden Ergebnissen weiter schwierig: Die ausführliche Darstellung Unferðs in ihrer bemerkenswerten Komplexität wird von der Spärlichkeit der Gesamtbelege in der angelsächsischen Literatur konterkariert: Wohl erfahren wir in dem altenglischen Epos viel über einen þyle, aber es ist eben auch nur diese konkrete Thul-Figur im Beowulf, von der mehr überliefert ist als der reine Begriff. Unter solchen Umständen erweist sich eine Gesamtschau „des Thuls“ über beide Kulturen hinweg als ziemlich zweischneidiges Schwert: Wie aussagekräftig der schillernde Charakter Unferð mit seinem großen Auftritt beim flyting, der scheinbaren „Narrenfreiheit“ in seinen Angriffen und den von ihm vertretenen Thematiken letztlich für „den angelsächsischen þyle“ ist, ist nur ein weiterer Aspekt des Thuls, der notgedrungen im Dunkeln bleiben muss. Seine eindeutige Weltlichkeit, die sofortige, direkte, durch keine vorherige Handlung des Pro-

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tagonisten bedingte Aggressivität, die Toleranz seines Fürsten, sein beeindruckendes Spezialwissen über Zeitgenossen auch aus ferneren Landen sowie seine Kunst, Fakten zweckgebunden größtmöglich zur Waffe umzudeuten – und mit den Angriffen doch letztlich dem Frieden den Weg zu bereiten – , vielleicht auch die Tatsache, dass praktisch alle ausdrücklich beschriebenen Handlungen Unferðs unzweifelhaft performativ geprägt sind, verschaffen dem þyle aber auch so eine gewisse Sonderstellung unter den Figuren, die in jedem Fall bemerkenswert ist. Die interkulturelle Betrachtung verbietet sich daher sicherlich nicht; dennoch sollte die Einzigartigkeit der Figur bei und in ihrer Funktion als Zeugnis nicht vernachlässigt werden. Um nun noch abschließend auf die anfangs aufgebrachten Fragen zurückzukommen, lassen die Ergebnisse somit folgende Antworten zu: Eine Bezeichnung als þulr/þyle für grundsätzlich den Initiator eines Wortstreits ist eher unwahrscheinlich, da sich hier kein eindeutiges Schema herauskristallisiert hat: Vafþrúðnir wird herausgefordert, Unferð provoziert selbst; wann das Wortgefecht zwischen Sigurd und Reginn beginnt, ist interpretationsabhängig und dementsprechend auch der Eröffner. Die meisten Konstellationen bieten überdies eine Situation, in der die Teilnahme am Streit fast schon zwangsläufig erfolgt  – sowohl die Vafþrúðnismál als auch die Fáfnismál-Passage sind Zwei-Personen-Szenarien und damit besteht gar keine Figurenalternative und auch keine Möglichkeit des Einflusses Dritter. Der einzige Text, bei dem dies Problem nicht besteht, ist Beowulf. Unabhängig davon ist indes eine Bedeutung des Begriffs als „formaler Sprecher mit hoher Kompetenz“ begründet; sie deckt sowohl das performative als auch das öffentlich-autoritative Moment ab, ebenso wie die Validität, ohne den jeweiligen Charakter inhaltlich festzulegen. Die Tatsache, dass – mit Ausnahme des fimbulþulr (der aber gar nicht unter dieser Bezeichnung in solchen Situationen auftritt) – jeder als Thul Bezeichnete in derartigen Wettstreiten letztlich unterliegt, lässt weiterhin annehmen, dass der Begriff wohl die reine sprachliche Fertigkeit denotiert – durchaus auch im Sinne der angewandten Eloquenz –, jedoch nicht so viel über das absolute, praktische Niveau aussagt, als dass damit die Wahrscheinlichkeit eines Sieges ausgedrückt würde. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Bezeichnung in den meisten Fällen positiv konnotiert ist. Und entsprechend kann sich ein Wettstreit so auch auf das Ansehen des Gegners auswirken. Es scheint daher begründet, zu vermuten, dass die häufigen Niederlagen viel eher aus der Figurenfunktion als Widersacher des Helden resultieren, welche für diese kompetitiv markierten þulir (und den þyle) ebenfalls eine Konstante darstellt. Eine solche Verbindung lässt sich weiterhin gut mit der grundsätzlich neutral-positiven Konnotation des Worts und ebenso mit Prestigeträchtigkeit für den Protagonisten vereinen. Diese Erklärung für das Unterliegen des Thuls scheint mir daher einer direkten Verbindung zum Begriff selbst vorzuziehen. Somit erweisen sich in den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Texten Performativität und Validität als zentralste Aspekte der Äußerungen eines Thuls, die dabei nicht selten im Kontext eines öffentlichen Auftritts stehen und denen oft auch



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formalisierte Anteile eigen sind. Gleichermaßen kann die Figur meist als Autorität angesehen werden, wobei dieser Status nicht immer den gesamten Text hindurch aufrechterhalten wird und ein etwaiger Niedergang mit Sprachversagen unterschiedlicher Art einhergeht. Weniger im Vordergrund stehen im Gegenzug vor allem Kreativität als Ideal, ebenso künstlerische Gestaltung, und auch die reine Tradierung ist selten – mit der eindrucksvollen Ausnahme von Hávamál Str. 111 – der primäre Zweck. Szenisch finden sich die Figuren in allen Kontexten wieder; mythisch wie säkular, persönlich wie offiziell. Erkennbare Beiklänge aus dem Kultus sind hingegen bemerkenswert selten und, wenn überhaupt, eigentlich nur in den Hávamál zu finden. Gerade dies Werk gibt allerdings immer noch (zu) viele Rätsel auf, und basierend auf der Bearbeitungstheorie McKinnells können zudem ausgerechnet ebendiese hierfür fruchtbarsten Strophen abgespalten werden, was ein kultisches Hochamt wie bei Vogt, rituelle Sitzgelegenheit und sakral konnotierte Äußerungen zumindest konzeptionell vom Kerntext trennen würde. Es bliebe, mit der skizzenhaften Str. 134, dann vor allem die Affirmation des Wortwerts, welcher dort indes nicht mehr auf den þulr, dafür aber formelhaft in seiner Reichweite (opt) beschränkt ist. Wird die Theorie McKinnells abgelehnt, zeigt das Doppelbild vom Runenmaler darüber hinaus ein einzigartiges Auftreten einer þulr-Figur: wortlos und doch am mächtigsten. Mythisch und darin der Höchste. Produktiv, doch was den geschaffenen Runen konkret innewohnt, bleibt ungewiss. Diese Ursituation zeichnet den literarischen „Ur-Thul“ somit in einem Akt, der von sämtlichen sonst beschriebenen differiert, während der Auftritt auf dem þulr-Stuhl durchaus Parallelen zu anderen Werken birgt. Um noch ein letztes Mal auf die übrigen Belege zurückzukommen, weisen die beider Textgattungen, Rímur wie Skaldendichtung, jeweils eine interessante Gemeinsamkeit auf, nämlich einen bestimmten, verengten Figurentypus: Víkarsbálkr und Lausavísa (sowie die Erwähnung Þorleifrs in der Íslendingadrápa) dokumentieren den skaldisch-poetischen, kunstfertigen Schöpfer, der in den ersten beiden Texten überdies betont selbstreferenziell agiert. Bei den Rímur hingegen fällt eine Verschiebung in den durchgängig heroisch-martialischen Kontext auf, auch hierbei wieder mit bewusster Performanz und dazu dem Wortkampf als Vorspiel zum, oder begleitend beim, bewaffneten Konflikt. All dies zusammengenommen erwiese sich damit in meinen Augen Heuslers früher Ansatz als der sinnvollste, nämlich als Bedeutung des – literarischen – Thuls „Wortführer“, d. h. „performativer Sprecher“, anzusetzen, und nicht a priori eine bestimmte, etwa künstlerische, kultische oder sonstige Ausrichtung zugrunde zu legen. Dabei entspricht dies „Führen“ des Wortes in den Belegtexten an Macht und Einfluss nicht selten dem einer Klinge; in vormodern-kriegerischer Zeit keine geringe Leistung – und entsprechend gestaltet sich auch zumeist der Stellenwert der Figur. Um sämtliche Auftritte zu erfassen, wäre sonst, analog zu Sundqvists „religious specialist“, gleichermaßen „Wortspezialist“ oder „Verbalperformer“ eine mögliche Bezeichnung (wobei „verbal“ hier die Produktion bedeutungstragender Zeichen

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jeglicher Art einschließt und nicht auf mündliche Rede beschränkt ist). Der Begriff fimbulþulr ließe sich in diesem Rahmen alternativ – und nach meinem Dafürhalten begründeter – als Rückgriff nicht auf eine Funktionsbezeichnung spezifisch des Thuls, sondern vielmehr auf eine der vielen sprachbezogenen Rollen des damit betitelten Odin lesen. Als Indiz dafür kann auch die Verbreitung des Heiti Hroptr aus Hávamál Str. 142 gedeutet werden, welches, wie gezeigt, zwar noch einmal im Rahmen von Runenschöpfung auftritt, aber auch in vielen anderen Kontexten zu finden ist, sodass es weder mit der Handlung noch mit den Zeichen in zwingender Verbindung stehen muss, sondern offenbar ebenfalls mehr auf andere Charakteristika Odins rekurriert (in der Skaldik dann vor allem auf militärische). Eine solche Grundbedeutung einer performativ konnotierten, inhaltlich weitgehend nicht festgelegten, autoritativen Sprecherfigur kann im Anschluss durch die jeweiligen Szenarien situative Aufladungen erfahren: Der Thul wird so zum (kenntnisreichen) Sprecher im Wissensdialog, zum (eloquent-strategischen) Infragesteller im mannjafnaðr, zum (Götterweisheit tradierenden) Rezitator an mythischem Ort, zum (aggressiven) Kämpfer-Sprecher im flyting und zum (selbstbewussten) Dichter-Sprecher der eigenen poetischen Schöpfung. Dabei sind, wie erkennbar wird, die Inhalte weitgehend frei, was der Funktion als verkörperte, Aufmerksamkeit gebietende Stimme, oder allgemeiner, Medium entspricht. Und an diesen Punkt fügt sich dann, um nun aus der literarischen Darstellung herauszutreten, der Begriff an den neuisländischen þulur an: Als Ansager und Moderator ist auch dieser Rolle das performative Sprechen ureigen, gleichermaßen ist die Validität der Äußerungen elementar. Inhaltlich und kontextuell ist er indessen nicht festgelegt und es wird auch keine kreativ-ästhetische Textproduktion von ihm verlangt oder bei seinem Auftritt grundsätzlich vorausgesetzt (obgleich sie bei Vorhandensein durchaus gewürdigt werden kann). Während also keinesfalls auszuschließen ist, dass der Thul in vorschriftlicher Zeit eine rituelle Funktion und entsprechenden Status innehatte – ja, der Gedanke sogar überaus attraktiv ist, da sich damit ein Bindeglied zwischen Funktions-, Traditions- und Kunstrede bzw. wirkungsorientierten, konservierenden und auf Ästhetik ausgerichteten performativen Texten auftäte – , zeigt, was in der Literatur überliefert ist, kaum mehr als schattenhafte Spuren einer solchen Rolle. Ob er einst Sakralredner war oder Ur-Poet, weltlicher Redner oder Kultfigur, Dichtersprecher, Reservoir heiliger Texte, Mime, Narr, Magier, Myste … Was in der Schrift überdauert, ist die Form, der Auftritt – wortgewaltig, sprachweise, mit vielleicht einem Echo einstiger Macht: orða valdandi, worda wealdend. Während die Inhalte so flüchtig sind wie das Medium seiner Zeit: Die Stimme.

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Register Varianten sind meist „stillschweigend“ enthalten, z.  B. enthält „gleoman“ auch die Belege für gliiman etc.; in besonderen Fällen sind sie auch per Schrägstrich ausgewiesen (þylia/þylja). Fremdsprachige Begriffe und Werknamen kursiv. Adam von Bremen 318, 319, 337, 338 alsviðr/alsvinnr 34, 35, 49, 59, 62–64, 69, 70, 93, 98 Alvíssmál 27, 52, 55, 84, 86 ätiologisch 21, 54, 61, 65, 67, 76, 77, 94, 97, 146, 279, 289, 290, 379 Atlaqviða 60, 145, 228, 282 Autorität 1, 49, 64, 68, 73, 74, 76, 93, 94, 126, 141, 143–145, 159, 160, 217, 255, 256, 258, 260, 276, 289, 292, 300, 301, 303, 304, 306, 312, 317, 322, 339, 349, 351, 352, 355, 362, 363, 374, 378, 379, 383 Baldrs draumar 36, 78 beadurune 168, 169, 218, 277 Beowulf (Werk) 4, 7, 9, 11, 12, 17, 22, 25, 28, 31, 33, 37, 41, 58, 82, 90, 98, 111, 125, 151–261, 264, 277, 312, 342, 365, 370, 374, 375, 377–379, 381, 382 Beowulf (Name) 22, 30, 40, 82, 149, 155, 158–165, 168, 172–187, 190–202, 204–210, 212–214, 218–221, 226–231, 233–237, 239, 242–245, 247–260, 375, 378–380 Berserker 125, 308, 310, 311, 365–369 Brakteat 8, 9, 282 Breca 152, 176–178, 180–183, 197, 219, 220, 230, 236, 242, 244, 250 Brot af Sigurðarqviðo 60, 145 Brudermord 83, 183, 184, 186, 188, 213, 215, 219, 220, 235, 242, 243, 259 Dichtermet 18, 269, 284, 296, 298, 303, 307, 355 Dichtkunst 18, 25, 92, 116, 280, 367, 368, 380 Disticha Catonis 262, 265, 297, 329, 330, 332, 333, 350, 353 draugr 308–311, 365, 366 eggia/eggja 108, 110, 114, 117, 145, 147, 148, 159, 311, 312, 366, 381 Egils saga 25, 274, 311, 343 eschatologisch 21, 49, 52, 54, 63, 69, 73, 75–82, 86, 87, 94, 281, 283

Fáfnir 36, 59, 63, 78, 79, 100–103, 105–107, 109–120, 122–128, 133, 134, 136–141, 143–149, 186, 377 Fáfnismál 4, 13, 19, 25, 29, 35, 36, 41, 42, 52, 56, 59, 60, 63, 78, 79, 85, 87, 90, 100–150, 154, 187, 193, 206, 246, 256, 257, 261, 310, 312, 337, 350, 365, 370, 375, 379, 382 fæþelas 154, 224 fimbul 273, 276–286, 288, 290, 354, 362 fimbulfambi 277, 281, 285, 286, 288, 297 fimbullióð 277, 279, 285, 286, 288, 355 fimbulsinni/fimbulsin 278, 279, 285, 287 fimbultýr 273, 277, 278, 282, 283, 288, 355 fimbulþul 23, 278, 283–288 fimbulþulr 8, 12, 14, 23, 30, 42, 48, 99, 135, 137, 154, 171, 198, 206, 213, 232, 266, 267, 269–271, 273–278, 280, 282–285, 288–290, 299, 302, 307, 340, 354–356, 358, 359, 361, 362, 373–378, 381, 382, 384 fimbulvetr 55, 277, 280, 281, 286, 288 Fjǫlsviðr 27 flyting 22, 25–31, 47, 53, 149, 154, 158, 159, 164, 165, 168, 170, 179, 183–186, 188, 190, 196, 197, 199–201, 204–206, 209–211, 213, 216, 218–223, 227, 229, 230, 234, 237, 238, 242–260, 312, 366, 377, 381, 384 fool, siehe auch Hofnarr 215–217, 221–226, 286 fornyrðislag 91, 135, 141 Frigg 37, 41, 44, 46, 48, 49, 52, 54, 57, 64, 77, 86, 88, 89, 93 fróðr 34, 35, 39, 49, 52, 58–64, 68, 70, 85, 98, 281 galdralag 314, 338 Gagnráðr/Gangráðr 34, 38, 41, 45, 51, 53, 58, 88, 94 Gangleri, siehe Tryggva Gautreks saga 4, 19, 232 Geðraunir/Hrings rímur ok Tryggva 4, 365, 366, 377 geographisch 21, 54, 69, 76, 94, 146, 256, 257, 380 Gestumblindi 38, 72, 85

400 

 Register

gleoman 155, 156, 217, 231 Glosse 3, 4, 7, 89, 153, 155, 156, 229, 342 Gnitaheide 100, 114, 142, 143 Gnome 44–47, 116, 131, 136, 182, 257, 268, 269, 364, 379 gnomisch 21, 47, 95, 117, 119, 128, 131, 132, 134, 140, 145, 182, 233, 256, 257, 268, 272, 281, 318, 326, 330, 338, 355 Grímnismál 23, 32, 34, 36, 53, 55, 60, 72, 83, 87, 89, 97, 192, 278, 282, 284–286, 359, 360 Griplur 4, 307–312, 365–367, 377 Gunnlǫð 49, 269, 281, 296, 297, 301, 307, 317 Gylfaginning 36–38, 43, 59, 66, 67, 69, 72, 77, 79, 89, 97, 138, 262, 277, 278, 280, 283, 287, 288, 304, 305 Gylfi/Gangleri 35, 36, 38, 59, 72 Hamðismál 328 Hängeopfer 318, 338, 349 Hárbarðslióð 36 Haukr Valdísarson 4, 366, 367, 369, 370, 377 Hávamál 3, 4, 11–14, 23, 41, 42, 45, 48–50, 59, 60, 99, 109, 117, 134, 154, 157, 164, 169, 171, 198, 206, 213, 214, 232, 262–381, 383, 384 Hávi 291, 294–296, 299, 301–305, 312–314, 317, 322, 378 he(a)lle 189, 190, 192 Heiðrekr 27, 72, 82, 83, 86 Heiðreks gátur 47, 72, 78, 85 Heimskringla 25, 238, 240 Hel 190–192, 310, 370 Helgaqviða Hundingsbana I 108, 186, 188, 189, 243, 260 Helgaqviða Hundingsbana II 192 heroisch 12, 21, 26, 42, 48, 105, 109, 115, 123, 125, 127, 128, 130, 131, 138, 146, 159–161, 163, 164, 168, 169, 172–175, 177, 179, 190, 191, 193, 195, 205–209, 218, 220, 222, 223, 226, 227, 229, 230, 234, 235, 237, 244, 246, 250, 256, 258, 259, 267, 378, 379, 383 Hervarar saga 27, 36, 38, 47, 71–73, 78, 82, 84, 85 histrio 154–156, 217, 224 hofðelum 155, 224 Hofnarr, siehe auch fool 12, 154, 157, 171, 211, 215, 216, 223 Hrings rímur ok Tryggva, siehe Geðraunir Hroðgar 58, 152, 158–165, 171, 173, 175, 176, 178, 179, 181, 182, 191, 192, 194–197,

200–211, 213, 219, 221, 222, 226, 229, 231, 236, 245, 247–258, 342, 378 Hroptatýr 282, 355, 359–361 Hroptr 354–362, 376, 384 Hrunting 165, 200, 202, 204–207, 214, 215, 218, 222, 253, 254, 379 Hugsvinnsmál 117, 262, 265, 266, 297, 329–333, 342, 343, 348, 352, 373 Hunferð, siehe Unferð Hǫfuðlausn 84 Informationsarten 21, 23, 94, 146, 256, 289, 318, 351, 363, 379 Informationskontext 22, 23, 95, 146, 257, 258, 289, 321, 351, 380 Íslendingadrápa 4, 366–370, 372, 376, 383 Jarlsníð 367, 369–371, 377 joculator 155, 224, 225 Klugheit 42, 47, 59, 61, 64, 71, 84, 85, 133, 136, 162, 208, 209, 255, 268, 270, 271, 281, 304, 325, 330–333 kombativ 22, 147, 170, 253, 257, 380 kompetitiv 22–25, 27, 29, 30, 33, 36, 39, 48, 49, 52, 60, 61, 72, 87, 97, 130, 147, 154, 180, 218, 242, 253, 257, 259, 321, 363, 375, 377, 378, 380, 382 kosmogonisch 21, 65, 67, 77, 94, 279 kultisch 1, 11, 14, 15, 21, 23, 24, 56, 57, 91, 105, 143, 146, 150, 156, 233, 256, 289, 306, 309–311, 318, 320, 321, 337, 338, 340–342, 347, 349, 351, 352, 367, 373, 376, 379, 383 Kultredner, siehe auch Kultspezialist 8, 10, 11, 13, 20, 157, 364, 368 Kultspezialist, siehe auch Kultredner 14, 21, 341 Lausavísa 2, 4, 18, 360, 366, 369, 372, 373, 376, 377, 383 Liber Scintillarum 4, 153, 157, 169 Liederedda 4, 60, 63, 67, 192, 280, 281, 304, 348 ljóðaháttr 89, 91, 135, 141, 269, 293, 324, 374 Ljóðatal 14, 273, 294, 299, 301–303, 312, 314, 316, 318, 325, 340, 346, 354, 355, 358, 379 Loddfáfnir 206, 267, 294, 295, 299, 312, 323, 324, 326, 328, 332, 338, 346–348, 353, 354 Loddfáfnismál 214, 268, 292–296, 299, 301–303, 312, 314, 316, 318, 320, 321, 323–325, 327, 335, 336, 338, 340, 346, 350, 354, 373, 379

Register 

Lokasenna 36–38, 44, 359 Loki 38, 44, 103 Magie 1, 14, 17, 143, 170, 274, 279, 280, 286, 298, 299, 311, 325, 338, 360, 365–367, 370, 379 Magier 280, 338, 340, 365, 384 mannjafnaðr 20, 25, 26, 47, 49, 52, 53, 71, 92, 96, 97, 118, 127, 136, 140, 142, 143, 145, 147–149, 179, 183, 196, 246, 259, 366, 377, 384 Medium 23, 206, 251, 289, 313, 320, 323, 384 morale officer 12, 235 mündlich, siehe auch oral poetry 23, 40, 185, 207, 212, 216, 237, 259, 263, 271, 274, 364, 384 mythisch 14, 15, 21, 24, 37, 41, 44, 48, 56, 57, 59, 61, 64, 65, 68, 69, 75–77, 86, 94, 95, 138, 142, 154, 162, 171, 254, 256, 274–76, 279–283, 285, 288–290, 295, 300, 302–304, 306, 312, 314, 316–318, 349, 351, 355–364, 374, 376–379, 383, 384 Mythologie 18, 21, 27, 69, 106, 184, 192, 273, 279, 299 nafnaþula 55, 287 nicht-kompetitiv 22, 23, 147, 289, 377 níð 1, 212, 367–372 Niederlage 27, 30, 34, 35, 71, 73, 82, 83, 86, 87, 94, 97, 160, 161, 176, 177, 181, 196–199, 203, 221, 243, 245, 250, 251, 259, 261, 290, 308, 379, 382 Nornagests þáttr 37, 113, 114, 143, 171 Odin, siehe auch fimbultýr, fimbulþulr, Gagnráðr/Gangráðr, Gestumblindi, Hávi, Hroptatýr, Hroptr 8, 14, 18, 23, 24, 27, 30, 33–41, 44–59, 61–88, 90–99, 103, 108, 112, 125, 134, 135, 137, 154, 171, 198, 213, 232, 237, 257, 262, 269, 270, 272–274, 277, 279, 281–284, 286, 288, 289, 296–307, 312, 313, 315, 316, 318, 320, 322, 325, 338–341, 345, 346, 354, 356–362, 365, 374, 377–379, 384 oral poetry, siehe auch mündlich 52,132 orator 13, 41, 153, 157, 178, 211, 217, 229 Originalität 16, 88, 89, 139, 140, 248, 275, 313, 346, 347, 362, 363, 375 Performanz 19, 20, 23, 24, 50, 58, 86, 90, 92, 96, 97, 118, 132, 139, 156, 157, 170, 199, 225, 249, 253, 275, 316, 317, 348, 377, 383

 401

performativ 20, 23, 24, 48, 50, 52, 54, 92, 99, 108, 118, 126, 139, 142, 149, 156, 157, 170, 217, 222, 253, 274, 275, 280, 292, 309, 316, 317, 322, 348, 362, 363, 366, 377, 379–384 Performativität 20, 69, 144, 348, 377, 382 Priester 11, 12, 106, 157, 232 Publikum 17–19, 23, 25, 54, 89, 90–92, 94–96, 110, 118, 126, 131, 140, 141, 157, 159, 184, 192, 207, 213, 221, 226, 249, 253, 254, 259, 275, 303, 307, 313, 315, 316, 347, 362, 374–377 Ragnarök 33, 52, 57, 66, 68, 73, 76, 78, 79, 81, 86, 87, 93, 95, 111, 280, 281, 283 Rätsel 38, 72, 76, 78, 82, 83, 85, 153, 170 Rätselwettstreit 29, 33, 36, 71, 72, 85 Reginn 19, 29, 42, 60, 100–134, 136–150, 154, 159, 171, 186, 198, 213, 214, 217, 246, 257, 259, 261, 310, 365, 375, 377–382 Reginsmál 4, 100–150, 193, 255, 375, 379 religiös 1, 7, 8, 21, 23, 41, 143, 146, 156, 157, 161, 169, 173, 175, 190, 191, 233, 254, 256, 265, 318, 337, 341, 342, 354, 367, 373, 375 Riese 15, 27, 29, 32–45, 47, 48, 50, 53–59, 61–76, 80–90, 93–96, 134, 135, 137, 138, 206, 260, 276, 280, 286–288, 300, 302, 312, 316, 356, 375, 378–380 Rímur 1, 2, 4, 13, 307–310, 312, 365, 366, 377, 380, 381, 383 rituell 21, 23, 24, 113, 254, 275, 308, 311, 318–320, 326, 337–340, 342, 349, 355, 357, 364, 373, 383, 384 Rolle 1, 3, 6, 14, 15, 20, 21, 34, 44, 45, 61, 65, 72, 75, 80, 93, 95, 98, 104, 105, 108, 110, 113, 114, 126, 131, 132, 133, 137, 140, 143–146, 165, 171, 172, 185, 199, 200, 209, 211, 215, 216, 223, 233, 248, 251, 255, 257, 260, 276, 289, 303, 306, 310, 312, 317, 323, 328, 349, 351, 360, 364, 367, 373, 378, 379, 384 Rúnatal 14, 269, 272, 273, 294, 299, 302, 303, 312, 316, 318, 319, 325, 337, 339, 341, 345, 354, 356–358 Rune 6, 25, 59, 69, 169, 170, 262, 267, 268, 270, 273–278, 280, 282, 283, 289, 298, 299, 301, 302, 316, 354–358, 360, 361, 364, 379, 383 Runensteine 6 Rǫgnvaldr 4, 18, 305, 366, 367, 372, 376, 377

402 

 Register

sakral 5, 8, 10–12, 95, 372, 379, 383 säkular 1, 8, 15, 21, 93, 142, 146, 152, 190, 192, 254, 256, 257, 260, 279, 281, 282, 302, 316, 338, 340, 342, 344, 352, 377–379, 383 Salhaugum/Salhøje/Salløv 6–8 Salmunge 6 Schwätzer 42, 134, 350, 351 Schweigen/schweigen 28, 50, 133, 146, 164, 199, 205, 253, 256, 257, 270–272, 308, 374, 378 scurra 155, 156, 217, 224, 231 Sencha mac Ailella 211, 212 Sigrdrífomál 60, 100, 267, 268, 357, 360, 361 Sigurd Fáfnisbani 19, 29, 36, 59, 60, 78, 79, 90, 100–105, 107–118, 120, 122–150, 154, 159, 171, 177, 187, 198, 233, 246, 257, 259, 375, 377–382 Sigurd Jórsalafari 238–241 Sigurðarqviða in scamma 108, 145 Situationskontext 16, 20–22, 93, 142, 254, 276, 317, 348 Skalde 14, 18, 116, 170, 198, 212, 218, 366–369, 372, 376 Skaldik 1, 97, 360, 361, 366, 368, 369, 377, 380, 384 Skáldskaparmál 18, 50, 282, 287 Sneglu-Halla þáttr 370, 371 Snoldelev 2, 6–8, 10, 14, 277, 374 Snorra Edda 3, 34, 35, 66, 89, 162, 334 Snorri Sturluson 25, 32, 38, 50, 246, 247, 269, 280, 281, 283, 304 Sonatorrek 18 Sprecherorientierung 17, 89, 90, 140, 141, 249, 313, 316, 347, 362, 375 Starkaðr 13, 19, 23, 29, 42, 135, 137, 198, 213, 217, 337, 365, 373, 381 Stilistik 18, 89, 91, 112, 140, 252, 313, 347 stóll, siehe auch Stuhl 291, 293, 300, 304, 306–308, 311, 346 Stuhl, siehe auch stóll 14, 171, 206, 214, 293, 294, 300, 302, 306–309, 311–314, 316, 317, 322, 324, 358, 363, 364, 374, 376, 378, 381, 383 stumm 138, 144, 198, 199, 290, 381 Svipdagr 27 Svipdagsmál 27, 52, 59, 85 Textproduktion 10, 15, 37, 368, 376, 384

Thor 27, 43, 44, 80, 81, 84, 282 Thorkelin 189, 190 Thul, siehe auch þuliz, þulr, þyle 1, 2, 5–13, 15, 16, 18, 20–23, 25, 29–31, 33, 42, 54, 88, 98, 99, 134, 139, 150–152, 154, 171, 198, 211, 213, 215, 226, 232, 248, 256, 257, 266, 273, 277, 290, 300, 305, 307, 310, 311, 313, 323, 326, 337, 342, 346, 351, 353, 361, 363, 375–384 Thwrsaker 6 Thylsaker 6 Thyulsakre 6 Thywlsaker 6 Tiwrsaaker 6 Toponyme 4–6 Torsåker 6 Tradent 96, 147, 258, 261, 289, 321, 322, 352, 364 Tradierung 23, 24, 90, 96, 97, 147, 257, 289, 303, 321, 352, 380, 383 Transmission 66, 87, 113, 140, 323, 329 Tullehøj 5 Tumbo 6 þelcræft/þylcræft 3, 153 þula 3, 10, 15, 55, 152, 278, 283–285, 355, 361, 364 Þorleifr jarlsskáld/jarlaskáld 366, 367, 369–372, 376, 377, 383 Þorleifs þáttr jarlaskálds 328, 367, 369 þuliz 2 þulr, siehe auch Thul, þuliz, þyle 1–4, 6–15, 17, 19, 23, 30, 32, 34, 40–42, 44, 47, 55–57, 86, 94, 96, 98–101, 104, 114, 134, 135, 137, 138, 142, 143, 147, 149–152, 154, 157, 169, 171, 198, 206, 213, 214, 217, 218, 232, 233, 261, 264, 267, 276, 277, 280, 283, 284, 288–291, 293, 294, 297, 298, 300, 302–318, 320–324, 326, 328, 332, 333, 335, 337–355, 358, 362–370, 372–383 þulur 251, 323, 384 þylcræft, siehe þelcræft þyle, siehe auch Thul, þuliz, þulr 1–4, 7, 9–12, 15, 17, 19, 30, 58, 151–153, 155–158, 165, 168–172, 175, 176, 178–182, 185, 186, 189–200, 202, 204–208, 210, 211, 213–220, 222–224, 226, 227, 229, 231–236, 239, 242, 244, 247–261, 349, 365, 378, 380–382

Register 

þylia/þylja 3, 10, 15, 157, 283, 284, 291, 293, 300, 306, 314, 316, 321, 364, 366, 368 Unferð/Hunferð 7, 9, 11, 12, 22, 29, 30, 58, 149, 152, 157–159, 165–187, 189–216, 218–232, 234–237, 239, 242–245, 247–261, 276, 277, 342, 349, 350, 365, 375, 378–382 Uppsala 319, 341 Urdquell 14, 284, 292, 293, 295, 300, 303–307, 314, 316, 364, 376–378 Vafþrúðnir 15, 27, 30, 33–41, 44, 46–71, 73, 74, 76, 77, 79–83, 86, 88–90, 92–95, 98, 99, 134, 137, 198, 214, 217, 261, 365, 375, 377–382 Vafþrúðnismál 4, 13, 22, 23, 25–27, 29, 31–99, 134, 135, 137, 138, 141, 147, 148, 154, 206, 232, 255, 257, 259, 261, 277, 280, 312, 337, 350, 365, 375, 377, 379, 382 Validierung 24, 25, 96–98, 148, 149, 258, 259, 289, 290, 322, 352, 362 verlachen 134, 331, 333, 347, 349, 350, 363, 374, 378 Víkarsbálkr 4, 13, 19, 23, 42, 198, 213, 337, 365, 373, 374, 376, 377, 380, 383 vilmǫgom/vílmǫgom 323, 334–337, 343–345, 349, 373 Vogelstrophen 120, 133, 136, 137, 138

 403

Vogt, Walther Heinrich 2, 9, 10, 11, 13–15, 56, 232, 277, 310, 311, 328, 333, 355, 364, 365, 367–372, 383 Vǫlsunga saga 36, 104, 106, 107, 110, 113, 114, 120–123, 125, 129, 132, 171, 188 Vǫluspá 77, 97, 104, 111, 192, 277, 283, 292, 297, 298, 304, 307, 359 warband 12, 196, 211, 213, 214, 226, 233, 236, 247, 248, 255 Weisheit, siehe auch wisdom 13, 34, 36, 37, 41, 47, 68, 104, 134, 137, 177, 183, 293, 294, 298, 299, 304, 306, 314, 316, 339, 363 Weisheitsdichtung 14, 22, 169, 178, 229, 314, 316, 376 Werkhaftigkeit 19, 376 Werkscharakter 252, 315 Widsið 4, 6, 151, 152, 170 wisdom 26, 34, 36, 39, 41, 45, 49, 56, 70, 84, 94, 215, 229, 233, 235–237, 267, 268, 298, 306, 332, 345, 357 Wissensdialog 26, 27, 36, 39, 48, 52, 59, 60, 61, 79, 84, 90, 95, 384 Wissensdichtung 55, 60, 90, 264, 295, 324 Wissenswettstreit 22, 25–31, 33, 34, 36, 38–41, 44, 49, 50, 52, 57, 59, 64, 66, 71, 75, 85, 89, 92–95, 97, 98, 135, 259, 377 wrecca 226–231, 235