Telenovelas und kulturelle Zäsur: Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika [1. Aufl.] 9783839413876

Die Telenovela ist im Zuge der Globalisierung in den verschiedensten Ländern beheimatet. Doch um was für ein TV-Genre ha

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Telenovelas und kulturelle Zäsur: Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika [1. Aufl.]
 9783839413876

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung: Auf der Suche nach der Apokalypse
2. Medien und die Zäsuren der Kultur
2.1 Sinn und Unsinn oder die Frage nach der Medienkultur
2.2 Wo ist die Zäsur?
2.3 Die epistemologische Zäsur der Medien
3. Intermediale Gattungspassagen
3.1 Wendungen und Windungen
3.2 „Nicht meins, nicht meins ist, was ich schreibe“
3.3 „Die Poetik hat genaugenommen von den Gattungen auszugehen“
3.4 Der Sinn zwischen den Aussagen
3.5 Gattungen und Medien
3.5.1 Mediale Performanz
3.5.2 Das Medien-Dispositiv
3.6 Intermediale Gattungspassagen
4. Das Dispositiv des Fernsehens
4.1 Die Zäsur der Audiovision
4.2 Der Prozess der Audiovision
4.2.1 Das Radio-Dispositiv
4.2.2 Das Fernseh-Dispositiv
5. Fernsehen in Lateinamerika
5.1 Fernsehen in Brasilien
5.1.1 Zur Rede über das Fernsehen in Brasilien
5.1.2 Fernsehen zwischen Modernisierung und Unterentwicklung
5.1.3 Intermediale Bedingungen
5.1.4 Die Sehnsucht nach brasilianischer Wirklichkeit: Entwicklungen des Fernsehens
5.2 Fernsehen in Mexiko
5.2.1 Radio und Posrevolución
5.2.2 Fernsehen und Posguerra
5.2.3 Das Fernsehmonopol Televisa
5.2.4 Fernsehen und Moderne in Mexiko
5.2.5 Notizen zur Rede über das Fernsehen in Mexiko
5.3 Fernsehkultur
6. Geschichte: Nichts ist so alt wie die Telenovela von gestern
6.1 Archäologie der Telenovela
6.2 Wider die „Mexikanisierung“: die Geschichte der Telenovela in Brasilien
6.3 Chronik einer Nicht-Geschichte: Telenovelas in Mexiko
6.3.1 Televisa: Von der Historie zur Formel
6.3.2 Argos und die Brasilianisierung der Telenovela
7. Produktion: Nichts ist so billig wie eine Telenovela
7.1 Die Telenovela, das unausweichliche Genre
7.2 TV Globo: die Fiktion der Autorschaft
7.3 Studio- und Starsystem
7.4 Filmischer Realismus
7.5 Die Debatte um das „offene“ Drehbuch
7.6 Televisa: Wer hat Angst vor dem Autor?
8. Narration: Wer alles auf einmal erzählt, verpasst das Beste daran
8.1 Folhetim eletrônico: serielles Erzählen
8.2 Rosa salvaje und die Monoplotstruktur
8.2.1 Konzentrische Figurenringe
8.2.2 Dauererzählung und Ereignisentzug
8.3 Por amor und die Multiplotstruktur
8.3.1 Das soziale Universum der núcleos
8.3.2 Das Labyrinth der Plots
8.4 Der Diskurs des Melodramas
8.4.1 Resakralisierung und terreur
8.4.2 Das Leid und das Gute in der Telenovela
8.4.3 Die realistische Welt der Telenovela
9. Rezeption: „Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“
9.1 Noch einmal: die Frage nach der Masse
9.2 Das Publikum, das große Rätsel
9.3 Die Miterzählung der Zuschauer
10. Tele-ImagiNation
10.1 Nationalappell
10.1.1 Ustedes los jodidos
10.1.2 Eles usam black-tie
10.2 Mediendispositiv und Kollektivsubjekt
10.2.1 Die Nation als kinematografische Katharsis
10.2.2 Die televisionäre Schlüsselloch-Nation
10.2.3 Von der Leitgattung zur Leidgattung
11. Schluss: Nicht classe média sondern classe mídia
11.1 Telenovela-Gemeinschaft
11.2 Telenovela-Kultur
11.3 Folge dem globalen Glück
12. Literaturverzeichnis
12.1 Audiovision
12.2 Text

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Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur

Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 11

Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.

Joachim Michael (Dr. phil.) lehrt romanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Hamburg und hat Einladungen als Gastprofessor an der Universidad de Guadalajara, Mexiko, wahrgenommen.

Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur. Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: David Poveda Lektorat & Satz: Joachim Michael Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1387-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Einleitung: Auf der Suche nach der Apokalypse ................. 9

2. Medien und die Zäsuren der Kultur ................................. 17 2.1 Sinn und Unsinn oder die Frage nach der Medienkultur.. 17 2.2 Wo ist die Zäsur?............................................................ 24 2.3 Die epistemologische Zäsur der Medien .......................... 29 3. Intermediale Gattun Gattungspassagen gspassagen ...................................... 43 3.1 Wendungen und Windungen .......................................... 43 3.2 „Nicht meins, nicht meins ist, was ich schreibe“............. 45 3.3 „Die Poetik hat genaugenommen von den Gattungen auszugehen“ .................................... 50 3.4 Der Sinn zwischen den Aussagen ................................... 58 3.5 Gattungen und Medien................................................... 66 3.5.1 Mediale Performanz ............................................... 69 3.5.2 Das Medien-Dispositiv ........................................... 73 3.6 Intermediale Gattungspassagen...................................... 87 4. Das Dispositiv des Fernsehens ........................................ 91 4.1 Die Zäsur der Audiovision .............................................. 91 4.2 Der Prozess der Audiovision ........................................... 95 4.2.1 Das Radio-Dispositiv ............................................. 96 4.2.2 Das Fernseh-Dispositiv........................................ 100 5. 5.1

Fernsehen Fernsehen in Lateinamerika .......................................... 119 Fernsehen in Brasilien.................................................. 119 5.1.1 Zur Rede über das Fernsehen in Brasilien.......... 119 5.1.2 Fernsehen zwischen Modernisierung und Unterentwicklung........................................ 123 5.1.3 Intermediale Bedingungen.................................. 130 5.1.4 Die Sehnsucht nach brasilianischer Wirklichkeit: Entwicklungen des Fernsehens .......................... 139 5.2 Fernsehen in Mexiko .................................................... 167 5.2.1 Radio und Posrevolución ...................................... 167 5.2.2 Fernsehen und Posguerra .................................... 169 5.2.3 Das Fernsehmonopol Televisa.............................. 171 5.2.4 Fernsehen und Moderne in Mexiko...................... 181 5.2.5 Notizen zur Rede über das Fernsehen in Mexiko.. 184 5.3 Fernsehkultur .............................................................. 186

6.

Geschichte: Nichts ist so alt wie die Telenovela von gestern ..................................... 189 6.1 Archäologie der Telenovela............................................ 189 6.2 Wider die „Mexikanisierung“: die Geschichte der Telenovela in Brasilien .................... 195 6.3 Chronik einer Nicht-Geschichte: Telenovelas in Mexiko.. 210 6.3.1 Televisa: Von der Historie zur Formel .................. 210 6.3.2 Argos und die Brasilianisierung der Telenovela .... 224 7. Produktion: Nichts ist so billig wie eine Telenovela ....... 229 7.1 Die Telenovela, das unausweichliche Genre.................. 229 7.2 TV Globo: die Fiktion der Autorschaft ........................... 232 7.3 Studio- und Starsystem................................................ 235 7.4 Filmischer Realismus ................................................... 236 7.5 Die Debatte um das „offene“ Drehbuch......................... 238 7.6 Televisa: Wer hat Angst vor dem Autor?........................ 240 8. 8.1 8.2

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8.4

9. 9.1 9.2 9.3

Narration: Wer alles auf einmal erzählt, verpasst das Beste daran 247 daran............................................... ran Folhetim eletrônico: serielles Erzählen ........................... 247 Rosa salvaje und die Monoplotstruktur ........................ 251 8.2.1 Konzentrische Figurenringe ................................. 253 8.2.2 Dauererzählung und Ereignisentzug.................... 255 Por amor und die Multiplotstruktur .............................. 259 8.3.1 Das soziale Universum der núcleos ...................... 265 8.3.2 Das Labyrinth der Plots ....................................... 267 Der Diskurs des Melodramas........................................ 272 8.4.1 Resakralisierung und terreur ............................... 272 8.4.2 Das Leid und das Gute in der Telenovela ............. 274 8.4.3 Die realistische Welt der Telenovela ..................... 280 Rezeption: „Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“ ............................................. 301 Noch einmal: die Frage nach der Masse ........................ 301 Das Publikum, das große Rätsel ................................... 305 Die Miterzählung der Zuschauer................................... 310

10. Tele Tele-ImagiNation.......................................................... 317 ImagiNation 10.1 Nationalappell .............................................................. 317 10.1.1 Ustedes los jodidos ............................................ 318 10.1.2 Eles usam black-tie ............................................ 329 10.2 Mediendispositiv und Kollektivsubjekt.......................... 341 10.2.1 Die Nation als kinematografische Katharsis....... 342 10.2.2 Die televisionäre Schlüsselloch-Nation............... 347 10.2.3 Von der Leitgattung zur Leidgattung.................. 354

11. 11.1 11.2 11.3

Schluss: Nicht classe média sondern clas classe se mídia ......... 357 Telenovela-Gemeinschaft .............................................. 357 Telenovela-Kultur ......................................................... 362 Folge dem globalen Glück............................................. 368

12. 12.1 12.2

Literaturverzeichnis ...................................................... 373 Audiovision................................................................... 373 Text .............................................................................. 374

1. Einleitung: Auf der Suche nach der Apokalypse Auf der Suche nach der Apokalypse ist der Ich-Erzähler einer Parabel, die sich in Los rituales del caos von Carlos Monsiváis findet.1 Er macht das Tor zur Endzeit auf und sieht, dass Mexiko-Stadt gigantisch angewachsen ist. Die Megalopole reicht von Guadalajara bis Oaxaca. Sie macht die gesamte Mitte Mexikos aus. Der Ich-Erzähler sieht eine Stadt, in der ein Liter Wasser tausend Dollar kostet, in der man bezahlen muss, um seinen Kopf ein paar Sekunden lang in einen Sauerstoffbehälter zu stecken, in der an den U-BahnEingängen per Losverfahren entschieden wird, wer mit der unterirdischen Bahn fahren darf. Überall sucht der Ich-Erzähler nach den „Zeichen“: nach dem Thron, der Blitze schleudert, nach den „Tieren, die mit so vielen Augen bedeckt sind, dass sie aussehen wie ein Monitorraum“, er sucht die Bücher mit den sieben Siegeln. Aber nichts. Was er vorfindet, ist nichts, womit er nicht längst vertraut wäre: „die Zeichen der Plagen, des Todes, des Weinens, des Hungers, aber sonst nichts“. Nichts, was er nicht in seiner Zeit schon erlebt hätte, nur, dass es nun noch mehr Menschen betrifft. Noch mehr Proteste und noch mehr (leere) Versprechen, „noch mehr Verdruss, noch mehr Resignation, aber sonst nichts.“ Aber das kann doch nicht sein! Was ist mit den Prophezeiungen und den Vorhersagungen? Wo stauen sich Jammer und Zähneknirschen? Wo stecken die Löwen mit dem Donnergebrüll, die ihre Opfer zerfleddern, als wären sie Flugblätter? Wo ist die Sonne, so schwarz wie ein Büßerhemd? Wo der Mond voller Blut, wo die auf die Erde gestürzten Sterne? Bringt mich bloß nicht um die Apokalypse, ruft er, „ich habe in einem Tal voller Schatten der Agonie gelebt und auf die höchste Revanche der Gerechten gewartet, ich habe genauestens das Gute getan, um die Übeltäter mit Feuergewalt gescholten zu sehen und die Dreizacke und das Erlöschen von Gottes Antlitz!“ Schließlich wird ihm geantwortet: »Mann allzu festen Glaubens! Worauf wartest du, was du nicht schon erlebt hättest?« Er erfährt, dass im Wesen alle Weissagungen versöhnlich sind, weil sie die Übel der Gegenwart in das ortlose Land der entfernten Zeit verschicken. Aber nein, schreit er, der Sinn der kommenden Zeiten ist doch, dass man sich freut, nicht in ihnen leben zu müssen. Sie kennen kein Erbarmen! Dann steht er plötzlich der Apokalypse von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er sieht die siebenköpfige Bestie und ihre zehn Hörner und zwischen den Hörnern zehn Diademe und über ihren Köpfen den Namen der Blasphemie. Um das Tier herum aber klatschen die Menschen, machen Fotos und Videos, lassen sich 1

Es handelt sich um eine der „Parábolas de las postrimerías“ („Parabeln der Spätzeit“), aus denen sich zusammen mit verschiedenen crónicas das Buch von Monsiváis zusammensetzt. Auf einige dieser crónicas wird im Laufe der Arbeit noch zurückzukommen sein.

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Exklusivinterviews geben. Und da wird ihm klar, dass der schlimmste Albtraum derjenige ist, den man nie träumt. Dass die heilige Angst vor dem Jüngsten Gericht auf der teuflischen Eingebung beruht, dass man ihm nie beiwohnen wird (Monsiváis 1998: 248-250). Was der Text zum Ausdruck bringen will, ist, dass die Welt im Grunde immer schon untergeht. Eine Apokalypse, die man jedoch ständig erlebt, ist keine mehr, denn die Apokalypse ist das absolute Ende, das man nicht erlebt. „Die Apokalypse unter Hausarrest“ – so heißt die zitierte Parabel von Monsiváis – legt der Offenbarung des künftigen Weltendes das Handwerk. Was bleibt, ist die Gegenwart, diese Zwischenzeit zwischen Paradies und Inferno, für die sich das apokalyptische Denken nicht wirklich interessiert. Wenn Gott die Welt nicht zerstört, und das Schlimmste (und die Erlösung im Neuen Jerusalem) nicht eintritt, bleibt das Schlimme des gegenwärtigen Zustand des Untergehens. Aus der Parabel ist zu schließen, dass sich der Betrachter vom apokalyptischen Blick auf das Schlimmste lösen muss, um das Schlimme, das noch nicht Allerschlimmste, zu erkennen. Dieses Schlimme ist zwar schlimm genug, aber nie so schlimm, dass es bereits das Ende wäre. Aber die Prophetie weiß, dass es noch schlimmer wird, und dass dann das Allerschlimmste und das Ende kommen werden. Der apokalyptische Blick sieht den Untergang, das Ende, und er übersieht das Noch-nicht-Untergehen, das Nochnicht-Enden, weil er nicht erkennt, dass, so lange es Menschen gibt, dieses absolute Untergehen und Enden nicht eintritt. Was der apokalyptische Blick dem Untergang weiht, gilt es daher zu betrachten, weil es noch nicht untergegangen ist. Dies ist das Unannehmbare, das doch angenommen wird, das Unzumutbare, das doch zugemutet wird. Es ist das Schlimmste, das nie so schlimm ist wie das Schlimme. Monsiváis wendet sich einem solchen Abscheulichen zu, dem Chaos der lateinamerikanischen Unterentwicklung, der Auflösung aller Ordnungen, dem Raum aller Abwesenheiten. Was es hier am Allerwenigsten gibt, sind Lebensbedingungen. Verblüffend oder nicht, die Menschen leben trotzdem. Monsiváis entdeckt Rituale, die im Chaos aller Ordnungszerstörung ausgeschlossen sind. Es stellt sich heraus, dass die Menschen, die es angeht, sich längst mit der „Apokalypse“ arrangiert haben, also mit den Bedingungen, unter denen die Welt untergeht. Sie haben sich im Unannehmbaren eingerichtet, so gut es geht. Manche finden an der Apokalypse einen eigenartigen Reiz: Wie die biblischen Prophezeiungen faszinieren, die düsteren Statistiken und die katastrophistische Auswahl persönlicher Erfahrungen! In den Treffen diskutiert man, ob man gerade das unmittelbar bevorstehende Desaster erlebt oder sich mitten in den Ruinen bewegt, und der kollektive Humor beschreibt die urbanen Landschaften mit dem Enthusiasmus eines Zeugen aus der ersten Reihe des Jüngsten Gerichts: Welch

ein Horror, drei Stunden in meinem Auto, um zwei Kilometer zurückzulegen! 2

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„¡Cómo fascinan las profecías bíblicas, las estadísticas lúgubres y la selección catastrofista de experiencias personales! En las reuniones se discute si se vive la inminencia del desastre o en medio de las ruinas, y el humor colectivo describe los paisajes urbanos con el entusiasmo de un testigo de primera fila del Juicio Final: ¡Qué horror, tres horas en mi automóvil para recorrer dos kilómetros!“ (Monsiváis 1998: 19-20).

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Auf der Suche nach der Apokalypse

Wenn das Fernsehen an sich zum Desaster führt, weil es die Kultur in seichte Unterhaltung auflöst (Postman), weil es die Menschen in eine höllische Situation einer totalitären Massengesellschaft versetzt, die Sinn zerstört und die Menschen vereinsamt (Flusser), weil es Kultur in Industriewaren verkehrt und die Menschen auch in ihrem Denken unter die Herrschaft des Apparates zwingt (Horkheimer/Adorno), wenn das alles so ist, dann gibt es keinen Ausweg als den Untergang. Was ist dann aber vom Fernsehen unter den Bedingungen der Unterentwicklung zu halten? Kann es die elenden Massen überhaupt noch weiter entfremden, als sie ohnehin schon entfremdet sind? Wird nun auf die koloniale Unterdrückung nicht die elektronische Knebelung gesattelt? Zementiert ein leichtes und billiges Unterhaltungsgenre wie die Telenovela mit seinen irrealistischen Glücksfantasien nicht die Verelendung, indem es der materiellen Armut noch die geistige hinzufügt? Es stellt sich geradezu die Frage, wie die beiden Katastrophen – Fernsehen und Unterentwicklung – überhaupt zusammenzudenken sind, denn mehr als ausweglos kann eine Situation kaum sein. Angesichts der Tatsache, dass sich die Katastrophen hinziehen und so schnell nicht enden, muss man sich fragen, ob nicht die Fragestellung zu überdenken ist. Lateinamerika ist noch nicht untergegangen – was machen die Menschen eigentlich in der Zwischenzeit? Die vorliegende Arbeit fragt nach dieser nicht enden wollenden Zwischenzeit des Noch-nicht-Untergehens. Sie fragt nach dem Schlimmen der lateinamerikanischen Telenovela, nach dem Zugemuteten und nach dem Angenommenen. Dies bedeutet zunächst, dass zu hinterfragen ist, ob die Telenovela nach einem halben Jahrhundert andauernder Ausstrahlung tatsächlich zum Niedergang der Kultur geführt hat. Aber wozu hat sie geführt, wenn nicht zur Dekadenz? Wenn die Telenovela die Kultur nicht zerstört, dann ist sie Teil von ihr. Wenn sie aber weitreichende Wirkungen entfaltet, dann muss sie die Kultur verändert haben. Die vorliegende Arbeit erörtert den Sinn, den die Rede von einer eigenen Kultur der Telenovela, von einer Telenovela-Kultur, haben könnte. Zunächst geht es um die Frage, inwieweit einer Gattung kulturelle Umbrüche zugeschrieben werden können. Die Untersuchung problematisiert daher zu Beginn verschiedene Ansätze, die den kulturellen Wandel auf das Wirken von Medien zurückführen. Angesprochen ist damit die mediale Zäsur, die die Technisierung der Kultur markiert. Das bedeutet letzten Endes, dass technische Medien als Grundlage der Kultur anzusehen sind. Dies wiederum hat Konsequenzen für den Kulturbegriff, der sich von der Technik nicht mehr absetzen kann. Wenn Kultur u.a. medial und technisch ist, berührt dies zwangsläufig das Selbstverständnis des Menschen. Was folgt aus der plötzlichen Einsicht, dass seine Wirklichkeit medialisiert ist, dass seine Wahrnehmung medial durchsetzt ist, dass seine Gemeinschaften nicht mehr nur auf der Angesicht-zu-Angesicht-Versicherung beruhen? Hier wird deutlich, dass die Dringlichkeit der medialen Zäsur sich weniger auf kulturhistorische Epochenschwellen bezieht sondern auf das Verhältnis zwischen Mensch und Medium. Verlangt wird, das Entsetzen zu wagen (Flusser) und die Zäsur der Medien (Tholen) als epistemologische Infragestellung sowohl Die Übersetzungen in der vorliegenden Arbeit stammen – so nicht anders gekennzeichnet – vom Verfasser.

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

der Fremdheit der Medien wie auch der Eigenheit des Menschen zu denken. Es zeichnet sich ab, dass der Mensch seinen primordialen Verfügungsanspruch über die Medien als schlichte Mittel zum Zweck nicht aufrechterhalten kann. Ebenso wenig jedoch weicht er hinter die Medien zurück als das Fremde des Technischen, das erst von seinen Sinnesorganen Besitz ergreift und ihn schließlich aus seiner Rolle als Subjekt der Geschichte verdrängt. Das Mediale bricht vielmehr in das Selbstbild des Menschen ein und macht sich als das bemerkbar, was ihm immer schon zuvorkommt, seine Wahrnehmung rahmt und mit-teilend alle Gemeinschaft bedingt. Wenn aber der Mensch nicht Herr über die Sinnschöpfung ist, sondern sich diese außerhalb seiner Subjektivität im Draußen der Kultur (Nancy) vollzieht, welcher Anteil an der kulturellen Sinnstiftung fällt dann den Medien zu? Die Enthaltung der Medien gegenüber der Botschaft deutet auf die Gattungen als sinnstiftender Anknüpfungskontext. So ist die gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium in den Blick zu rücken. Im Mittelpunkt stehen die Passagen der Gattungen zwischen den Medien. In dem Maße, wie sich das Augenmerk darauf richtet, dass intermediale Passagen die Gattungen grundlegend verwandeln, können die kulturellen Umbrüche als Bewegungen der Gattungen zwischen den Medien in den Fokus gerückt werden. Jedoch inwiefern wirken sich die Medien auf die Gattungen aus? Wie wäre die Medialität der Gattungen zu denken? Die Untersuchung greift hierzu die Performativitätsdebatte auf und überträgt sie auf den Zusammenhang von Gattung und Medium. In der Performanz ist der Bedeutungsmehrwert des Mediums zu sehen, der nicht diskursiv und nicht in der Sphäre der Zeichen anzusiedeln ist. Vielmehr sind mit der medialen Performanz die Subjektwirkungen angesprochen, die der Gattung anhaften. Vor diesem Hintergrund ist die kulturelle Bedeutung der Telenovela neu zu diskutieren. Eine solche Diskussion hat einen Weg zu suchen, der Abstand hält zu Deutungen der Gattung, die sie immer schon als Ankündigung des Endes (des Subjekts und der Kultur) bzw. als Merkmal der Vermassung verstehen. Zugleich ist den Versuchungen zu widerstehen, den distanzierten Blick abzuwenden und sich den Selbstrechfertigungen des Bestehenden zu ergeben. Sich gegenüber dem Determinismus des Schlimmsten zu verweigern, bedeutet, die dauerhafte Herrschaft des Schlimm-Seienden zu erschüttern. Weder das Subjekt noch die Kultur könnten an die Telenovela dasjenige verlieren, was sie nicht immer schon entbehrten – die Unversehrtheit vor medialen Zäsurierungen. Vielmehr ist die Ausgestaltung der medialen Performanz der Telenovela zu bestimmen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Bannkraft des Genres wie in allen Fällen des technischen Sehens von den Subjekt-Effekten ihres medialen Dispositivs ausgeht. Im televisuellen Dispositiv unterwirft das Fernsehen die Zuschauer einer subjekt-wirksamen An/Ordnung. Diese Performanz des Mediums erscheint wichtiger als die meist offenkundige ideologische Dimension seiner Botschaften. So zeigt sich, dass nicht (allein) die Botschaften im televisuellen Übertragungsgeschehen entscheidend sind, die im Übrigen auch durch andere Medien übertragen werden. Aber auch eine Diskussion der Subjekt-Wirkungen des Fernsehens reicht nicht aus, um den Sinn der Telenovela zu konturieren. In Betracht zu ziehen sind außerdem die soziokulturellen Voraussetzungen, auf die das Fernsehen 12

Auf der Suche nach der Apokalypse

in Lateinamerika stößt. Die These der Arbeit ist, dass sich die Telenovela nicht als Einzelphänomen erklären lässt. Eine fernsehimmanente Analyse wäre höchstens beschreibend, nicht erklärend. Nur als Schnittstelle von Medium, Kultur und Gesellschaft lässt sich die soziale Funktion der Telenovela erörtern, um die es geht, will man die Bedeutung der Telenovela erfassen. So gilt es beispielsweise herauszuarbeiten, dass das Fernsehen aufgrund der postkolonialen Bedingungen der immer nur inselhaften Modernisierung keine allgemeine Buchkultur vorfindet, die es ablösen oder korrumpieren könnte. Was bedeutet, mit anderen Worten, Fernsehen unter den Bedingungen der Unterentwicklung? Es bedeutet, dass das Fernsehen in Lateinamerika eine kulturelle Zäsur darstellt, die nur annähernd mit dem Kulturwandel vergleichbar ist, den das Medium in Europa/Nordamerika ausgelöst hat. Unterentwicklung ist zweifellos ein Begriff mit imperialismuskritischen Implikationen. Aus Ermangelung einer besseren Alternative findet er in der vorliegenden Arbeit Verwendung, doch wird versucht, ihn dem Modernisierungsdiktat ein Stück weit zu entwenden. Der Begriff wird Moderne-kritisch verstanden. Unterentwicklung heißt in diesem Kontext, dass sich die Moderne immer nur selektiv und unvollständig entfalten konnte. Die postkoloniale Bürde der inneren Verschuldung der Gesellschaften ihren Bevölkerungen gegenüber wird damit angesprochen. Zu zerklüftet sind die lateinamerikanischen Gesellschaften, als dass das Radio oder das Fernsehen imstande gewesen wären, das Publikum eine homogene Masse zu verschmelzen, in dem der Zuhörer und Zuschauer als Einheitsmensch im Ganzen aufginge. Umso deutlicher zeichnet sich ab, dass die Telenovela-Kultur nicht schlicht deformiert, sondern dass sie eine neue Kultur formiert, die historisch ohne Beispiel ist. Dies bedeutet, dass das Genre nicht einfach im Fernsehen wiederholt, was der Feuilletonroman, die Radionovela oder das cine mexicano bereits scheinbar endlos vorgemacht haben. Der Ansatz der intermedialen Gattungspassage bildet die Voraussetzung für eine Archäologie der Telenovela, die ebenso die Übergänge wie die Brüche deutlich macht, die mit dem neuen Genre einhergehen. So kann das, was die Gattung hervorbringt, als etwas in den Blick genommen werden, das nicht vollständig mit seinen historischen Voraussetzungen bricht, aber eben nicht vollständig auf sie zurückzuführen ist. Ausgangspunkt ist, dass die Telenovela als erste Gattung die lateinamerikanischen Gesellschaften als ganze (allmählich) erfasst und durchdringt. Vor dem Hintergrund der Unterentwicklung und der postkolonialen Spaltungen und Nicht-Übereinstimmungen der Gesellschaften mit sich selbst muss dabei der Telenovela als Leitgattung eine immense Bedeutung zukommen. Diese Bedeutung gilt es zu konturieren. Sie ist in erster Linie im Lichte dessen zu erörtern, was sich als sozio-kulturelle Funktion der Gattung abzeichnet. Einmal mehr zeigt sich, dass Gattung und Medium zugleich angesprochen sind, denn die Telenovela kann jene Funktion nur ausüben, weil sie televisionär ist, aber, wie herauszuarbeiten sein wird, ist das Fernsehen in seiner gesellschaftlichen Reichweite auf diese Gattung angewiesen. Die These ist, dass Medium und Gattung in Lateinamerika von der Machtformation der Unterentwicklung bestimmt werden. Gemeint ist damit die Schlüsselrolle, die diesem Fernseh-Genre in der peripheren Modernisierung zukommt. Es gilt daher, die Bedeutung der Telenovela vor dem Hintergrund der spezifischen Bedingungen der lateinamerikanischen Moderne zu erörtern. Es stellt sich in diesem Sinne heraus, dass die kulturkritische Debatte der Moderne auf die13

Telenovelas und kulturelle Zäsur

sem Kontinent den Entfremdungsgedanken primär nicht auf das Individuum bezieht sondern immer auf das Kollektiv. Nicht das individuelle Sein steht im Zeichen der Unterentwicklung erstrangig in Frage sondern das nationale. Damit verbindet sich auch der Anspruch an ein pluralistisches und demokratisches Fernsehen, das der Vielfalt und der Verschiedenartigkeit seines Landes Ausdruck verleiht. Denn erst wenn sie ihre Differenzen ausstrahlt, kann sich die Nation über sich selbst verständigen und eine selbstbestimmte Entwicklung einschlagen. Die emanzipative Modernisierung der Nation erscheint als der Maßstab, an dem die Telenovela in ihrem Kontinent gemessen wird. In diesem Zusammenhang lautet die kritische Frage – welche die historische Entwicklung der Telenovela geprägt hat – inwieweit sich das Genre in den Dienst der nationalen Selbstfindung stellt. Wird in diesem Licht die Geschichte der Gattung rekonstruiert, so gibt sich ein gattungsinterner Gegensatz zu erkennen, der mit sogenannten brasilianischen und mexikanischen Telenovelas bezeichnet werden kann.3 Während sich in Brasilien aufgrund spezifischer historischer Konstellationen ein „realistisches“ Modell herausgebildet hat, dessen Gattungsthema die brasilianische Nation in ihren unterschiedlichen Facetten ist, wurde das Genre in Mexiko weitgehend auf kontinuierliche Neuauflagen des Aschenbrödelmotivs reduziert. Was passiert, wenn die Telenovela ihren gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden scheint, was, wenn sie daran scheitert? Zum Einen bietet sie einen (bereitwilligen) Anlass zur mania nacional, zum Andern regt sie ein Unbehagen, dass sich nicht zuletzt als telenoverlas äußert. Aber warum bleiben die Zuschauer der Gattung trotz aller Immergleichheit insbesondere der mexikanischen Telenovela seit Jahrzehnten treu? Der Mangel an Alternativen ist wichtig, aber nicht allein entscheidend. Wie erträgt das Publikum jene Unzulänglichkeit von Gattung und Medium? Eine Analyse der narrativen Struktur deckt die Erzählstrategien des seriellen Melodramas auf, das sich in der Zwischen-Zeit der Erzählpausen in der Vorstellungswelt der Zuschauer einnistet, wenn die Telenovela nicht auf Sendung ist. An zwei konkreten Serien, der brasilianischen Produktion Por amor und der mexikanischen Rosa salvaje, wird gezeigt, wie sich der jeweilige narrative Kosmos aufbaut, vor allem aber wie das Genre Ereignisse nicht erzählt sondern erzählend aufschiebt, um so die Zuschauer tagtäglich miterzählend einzubinden. So kommt auch zum Vorschein, dass die Gattung eine Welt voller Konflikte und Leid darstellt, die erst ganz am Ende zur Auflösung gelangen. In beiden Gattungsvarianten macht sich das postkoloniale Vermächtnis der Klassengesellschaft bemerkbar, denn das Leid, das die Zuschauer in Affektappellen befällt, geht immer auf Klassengegensätze und Erniedrigungen zurück. Immer geht es um eine brutale und ungerechte Welt, in dem eine schurkische Oberschicht alle anderen quält. Gibt das Melodrama nicht vor, dass alles gut wird, weil das Gute immer siegt? Zweifelsohne ist das Glück am Ende Gattungsmerkmal. Aber Merkmal des Mediums ist, dass das Chaos der Welt erst im allerletzten Kapitel zurückweicht. Schon ein Sen3

Es gibt selbstredend eine sehr interessante Anzahl weiterer Gattungsvarianten sowie nationaler Telenovela-Produktionen, wie die argentinische, die kolumbianische, die venezolanische u.a. Auf sie sei hingewiesen, aber in der Untersuchung kann sie kaum berücksichtigt werden.

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Auf der Suche nach der Apokalypse

detag später ist es mit der Folgeserie triumphierend zurück. Die Nation, das Gute zerfallen in der medialen Endloserzählung der Leidgattung. Was die Telenovela tatsächlich andauernd erzählt, ist das Leid an der ungleichen Gesellschaft. Kurze Lichtblicke des Glücks bestätigen die Ungerechtigkeit der Telenovela-Welt, die in der Miterzählung der Zuschauer mit dem Sendeloch (deren Privatleben) eigenartig verwächst. Die Geschwätzigkeit des Genres kann nicht außer Acht gelassen werden, aber erst die Analyse des medialen Charakters der Gattung kann die „Unausweichlichkeit“ der Gattung plausibel machen. Die mediale Performanz der Telenovela gestaltet sich als eine voyeuristische Erfahrung des Begehrens einer schöner-als-schönen Bild-Nation. Nicht um Wiederspiegelung sozialer Wirklichkeit geht es selbst der realistischen Telenovela sondern stets um die Schau einer Opulenz, die den Mangel der Unterentwicklung überblendet. Weniger auf diskursiver als auf performativer Ebene ereignet sich die TeleImagiNation. Die Gattung konstituiert ein spezifisches Blickregime, das sich als Schlüsselloch-Blick in die streng bewachten Sperrbezirke der Allerersten Welt gestaltet. Welcher Art ist der Blick der immer schon Ausgeschlossenen und Vergessenen auf die Prallheit und Fülle vollendeter Eleganz und vornehmen Luxus (auch wenn dies böse ist)? Nicht Realitätsspiegelung entfacht den eigenartigen Telenovela-Blick sondern der imaginäre Spiegel der FernAnwesenheit des nationalen Schlaraffenlandes. Welche Ausstrahlung hat die Flimmerkiste im ‚Meer‘ der buchlosen Dunkelheit? Die Frage zielt auf das Paradox der audiovisuellen Alphabetisierung Lateinamerikas. Kaum ein anderes Genre ist in der Lage, die vielfältigen sozialen Grenzen und Abgründe der lateinamerikanischen Gesellschaften zu überwinden. Eine eigentümliche Kultur ist aus der vielfältigen Sogwirkung des technischen Sehens entstanden. Die sozialen Distanzen werden nicht überwunden, sie bleiben immer Voraussetzung der Telenovela-Kultur. In Gesellschaften, die das Buch in Sicherheitszonen einsperren, sprudeln die Tele-Bilder in nahezu jedes Heim. Primäres wird fern-gesehen und das FernGesehene wird zum Primären. Fern-Nähe also bedingt diese Tele-Kultur in vielfacher Hinsicht. Die größte Fiktion der Telenovela ist die einer fernanwesenden Gemeinschaft, die alle Grenzen missachtet. Die Nation wähnt sich – nicht auf dem Bildschirm allabendlich sondern in der gleichzeitigen und gemeinsamen Schau auf den Bildschirm. Die eigentliche Bestimmung des Genres ist ein fantasmatisches Wir, das sich darin spiegelt, dass alle dieselbe Telenovela schauen. Es ist die Schau der Schau, in der sich die Nation halluziniert. (Aber wenn es zu schlecht gemacht ist, sieht sie lieber weg.) Schließlich sei der Frage nachgegangen, was aus der globalisierten Telenovela wird. In einer interkontinentalen Gattungspassage lateinamerikanisiert die Telenovela die Welt und wird von dieser zugleich entlateinamerikanisiert. Einmal mehr zeigt sich, dass die Gattungspassage mehr verwandelt als bewahrt. Zu untersuchen gilt es etwa, warum und inwiefern die deutsche Telenovela keine Telenovela ist. Die vorliegende Arbeit verdankt sich vielen. Sie ist an den Betreuern Prof. Dr. Walter Bruno Berg und Prof. Dr. Georg Christoph Tholen und an ihrem Werk gewachsen. Ihnen sei auch gedankt für den Einsatz, die Ausdauer und den Glauben an ein gutes Ende. Den Fördereinrichtungen (Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, DAAD, DFG) und dem Freiburger Son15

Telenovelas und kulturelle Zäsur

derforschungsbereich 541 „Identitäten und „Alteritäten“ sei gedankt. Besonders sei auch Markus Klaus Schäffauer gedankt für sein uneingeschränktes Engagement für das Gelingen des Unternehmens. Vieles darin geht auf ihn zurück. Cecilia Valdez schulde ich tiefen Dank.

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2. Medien und die Zäsuren der Kultur

2.1 2.1. Sinn und Unsinn oder die Frage nach der Medienkultur Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Telenovela muss an der Frage nach ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung ansetzen. Das bedeutet, dass von der Telenovela als Produkt der lateinamerikanischen Kulturindustrie par excellence auszugehen ist. Dennoch muss sie als kulturelle Leitgattung in Lateinamerika angesehen werden. Wie aber ist dies zu verstehen? Bedeutet dies, dass der Triumph der Unterhaltungsindustrie Kultur in Lateinamerika zu Massenkultur reduziert? Dass es dieser Industrie in ihrer „ästhetischen Barbarei“ gelungen ist, die Kultur in Lateinamerika soweit ihrer Herrschaft zu unterwerfen, dass die eine „Formel“ Telenovela kulturelle Vielfalt verdrängt? Diese „Vermassung“ hätte gravierende Konsequenzen und bedeutete den Verlust von Urteils- und Reflexionsfähigkeit des Kulturkonsumenten, was in letzter Konsequenz auf die Entmenschlichung des Menschen hinausliefe (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 134; 139). Wie wäre jedoch der unbestreitbare Siegeszug der Telenovela jenseits der methodologischen Sogwirkung der Kulturkritik, zumal ihrer Ausprägung in der Frankfurter Schule einzuschätzen?1 Die vorliegende Arbeit versteht die Entwicklung der Telenovela als eminenten Bestandteil eines kulturgeschichtlichen Wandels, den es zuallererst anzuerkennen gilt als Emergenz einer neuen Kultur. Monsiváis bezeichnet diese Kultur als „urbane Popularkultur“ (Monsiváis 2004: 20). Es handelt sich bei dieser Entwicklung folglich nicht schlicht um die Entstellung der Höhenkammkultur durch die Trivialkultur im Sinne einer „Ersatzkultur“ für die urbanen Massen (Greenberg 1960: 102) sondern um etwas Neues, dessen Analyse die Überprüfung kulturtheoretischer Annahmen voraussetzt. Wie im Verlauf der vorliegenden Studie im einzelnen darzulegen sein wird, geht diese urbane Popularkultur mit den Umbrüchen der lateinamerikanischen Gesellschaften einher, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung folgen. Die urbane Popularkultur fügt dem Bestehenden also nicht etwas Weiteres hinzu, sondern stellt dieses von Grund auf in Frage und setzt es unter Veränderungsdruck. In den ersten beiden Kapiteln sollen die methodischen Prämissen erläutert werden, die die Analyse kulturellen Wandels zum Gegenstand haben. Erst dann wird kulturhistorische Kontext kurz skizziert. Zunächst jedoch zum Begriff der Kultur selbst: „Von Kultur zu reden war schon immer wider die 1

Zur Kritik an der Kulturkritik als „Rhetorik des Verlustes eines unmittelbaren oder gar ursprünglichen Lebens“, siehe Tholen (2002: 19).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Kultur“, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem Aufsatz über die Kulturindustrie (Horkheimer/Adorno 1998: 139). Jedoch ist der Begriff der Kultur mittlerweile zu einem Schlüsselbegriff innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften geworden.2 Walter Bruno Berg plädiert beispielsweise für eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Lateinamerikanistik. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive bietet sich, so Berg, als Ausweg aus dem Dilemma der ‚Hochspezialisierung‘ für die Literaturwissenschaft an. Diese solle sich vielmehr an dem multidisziplinären Projekt der „(Re)Konstruktion des einen Gegenstandes“ bzw. der Kultur beteiligen und sich mit den geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen und mit den Sozialwissenschaften vernetzen (Berg 2003a: 222). Es soll nicht um das Katalogisieren und Klassifizieren gehen, wogegen sich Horkheimer und Adorno sperrten, und was, wie diese meinten, die Kultur dem „Reich der Administration“ zuführe (ebd.). Damit verweisen die beiden Autoren darauf, dass sich die Unerfassbarkeit des Kulturellen immer schon dem verwaltenden Zugriff des Begriffs entzieht. Normativen Prägungen im Sinne ethischer und/oder ästhetischer Wertigkeiten verweigert es sich ebenso sehr. In den Sozialwissenschaften (Soziologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft) beispielsweise werden seit den 1980er Jahren verstärkt kollektive Sinnsysteme als Grundlage und Voraussetzung sozialen Handelns in den Fokus genommen. Kultur gerät somit als Semantik des Sozialen in den Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Forschungsinteresses. In dieser Lesart stellt sie das notwendige kollektive Wissen bereit, das die Voraussetzung sozialen Handelns bildet. Worauf Andreas Reckwitz am Ende seiner umfangreichen Analyse der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien jedoch hinweist, ist, dass diese Ansätze in ihrem Bestreben, Handlungsmuster kulturell zu interpretieren, tendenziell den Blickwinkel auf den statischen Aspekt der Kultur verengen: Sie beschränken sich damit mehrheitlich auf Wissensordnungen und auf die Reproduktion sozialen Sinns. Der dynamische Aspekt der Kultur bzw. Wandel, Umbrüche und Destabilisierungen der Sinnsysteme werden tendenziell vernachlässigt (vgl. Reckwitz 2000: 617). Die Loslösung des Kulturbegriffs von den Objekten war jedoch ein methodologischer Durchbruch, der eine Vielzahl vorher dunkel gebliebener gesellschaftlicher Prozesse sichtbar machte. Der analytische Schwenk weg von den Produkten und hin zu den Praktiken erlaubte es beispielsweise, das Populäre als Kultur anzusehen, die sich nicht auf die jeweiligen Gegenstände beschränkt sondern insbesondere in den Aneignungsweisen dieser Objekte 2

Seit Ende der 1980 Jahre spricht man geradezu von einem cultural turn insbesondere in den Sozialwissenschaften (vgl. Reckwitz 2000: 15-22). Die Herausgeber von Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie bezeichnen Kultur als „Zauberformel unserer Gegenwart“, der die Erläuterung unterschiedlichster gesellschaftlicher Zusammenhänge jenseits von Ökonomie und Politik anvertraut wird. Sie führen den damit verbundenen Status der Kulturtheorie auf die Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, auf die Komplexität und Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Wirklichkeiten Antworten zu finden. Aufgrund ihrer Transdisziplinarität biete sich die Kulturtheorie für die Analyse ambivalenter und pluraler sozialer Phänomene an. Die Grenzen des Zaubers der Kultur zeigen die Herausgeber jedoch leider nicht an (Hofmann/Korta/Niekisch 2004).

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entfaltet. Ähnlich wie später Monsiváis, legt Roger Chartier dar, dass der Konsum kultureller Produkte selbst auch kulturelle Produktion ist, bzw. Schöpfung von Nutzungsformen, die von den Herstellern der Produkte nicht vollständig vorherbestimmt werden können. Zwangsläufig wird so das kulturkritische Implikat in Frage gestellt, dass Konsumenten – einer tabula rasa gleich – intellektuell dem Produkt nichts entgegenzusetzen hätten. Wie noch zu diskutieren sein wird, ist dies von zentraler Relevanz für eine Neubewertung des Verhältnisses von Massenmedien und Popularkultur. Letztere sind weder identisch, noch schließen sie sich gegenseitig aus sondern beziehen sich mittels eines eigentümlichen Aneignungsmodus aufeinander, der selbst kulturell ist. Damit verliert auch die Annahme, zwischen high und low culture liege ein Wesensunterschied, ihre Grundlage: Beide Kulturen unterscheidet lediglich die Art und Weise, mit Kulturprodukten umzugehen (Chatier 1985: 383-386). Wenn davon auszugehen ist, dass Kultur nicht nur Standardisierung von Wissen und Wahrnehmung, also nicht nur Ordnung und System ist, in dem Bestehendes tradiert wird – was auf die Funktionalität sozialen Seins zurückzuführen wäre –, sondern auch Unordnung, in dem Tradiertes untergeht, Neues entsteht und Schöpfung möglich ist, stellt sich die Frage nach der transformatorischen Dynamik des Wissens.3 Eingedenk der eingangs erwähnten Unerschöpflichkeit der Kultur kann es nicht um eine umfassende Definition von Kultur gehen sondern um eine Erörterung der offenen Schaffung und Zerstörung von Sinn. Nach der Geschichtlichkeit des Wissens fragt auch Michel Foucault. Seine Archäologie des Wissens ist ein Vorschlag, wie epistemischer Wandel zu untersuchen ist, ohne jedoch mit der zu schreibenden Geschichte selbst Sinn zu stiften (also das längst Gewusste historiographisch zu entwickeln), sondern den sich zuwiderlaufenden Prozessen von Sinnschöpfung und Sinnvernichtung in der Zeit nachzuspüren. Es geht Foucault also nicht darum, einen „kontinuierlichen und glatten Text“ unter der Oberfläche der „Multiplizität der Widersprüche“ zu entziffern, um diese „in der stillen Einheit eines kohärenten Denkens“ aufzulösen (Foucault 1981: 222). Vielmehr handelt es sich darum, auf den Diskontinuitäten zu beharren und nicht mit vorwegnehmenden Kontinuitätsentwürfen historische Differenzen zu verwischen. Der Autor interessiert sich daher nicht für die Inhalte dessen, was ausgesagt wurde, sondern für die Bedingungen der Möglichkeit des Aussagens selbst. Er untersucht also nicht das Ausgesagte sondern die Aussagbarkeit, nicht die Dinge sondern die Regeln, die die Dinge erscheinen lassen. Dies sind die „diskursiven Formationen“: Sie bilden das „historische Apriori“ des Wissens (184), da sie die Dispersion heterogener Aussagen in einem Aussagefeld ermöglichen. In Foucaults nicht-interpretativer „Archäologie“ werden diese Diskursformationen und ihre Transformationen als „Monumente“ und nicht als „Dokumente“ untersucht. Die „Archäologie“ beschreibt also Funktionsweisen und Umbrüche der diskursiven Praktiken in ihrer „Positivität“, sie liest sie aber nicht im Hinblick auf gestifteten Sinn (198). Nicht 3

Zur Kritik am letztlich hermeneutischen Verständnis von Kultur als Wissensordnung siehe Berg (2003a). Berg führt an, dass sich Kultur in beständiger „Un-Ordnung“ befinde, was er mit der poststrukturalistischen Texttheorie (Text als unerschöpfliche Produktivität von Sinn) bzw. mit dem Hinweis auf die unendlichen Semioseprozesse der Sprache begründet (Berg 2003a: 221).

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Geschichte der Bedeutungen sondern Suche nach den je spezifischen zeitlichen Voraussetzungen des Bedeutens, erweist sich so die Frage nach der Dynamik des Wissens als eine epistemologische. Wenn das Wissen auf diskursive Praktiken zurückgeführt und deren Bedingungen erforscht werden, es also nicht als Bewusstseinsakt verstanden wird, verliert das Subjekt seine geschichtskonstituierende Souveränität. Sinn entsteht somit nicht im vorkommunikativen Bewusstsein sondern ereignet sich im Feld der Aussagen, das der Diskurs steuert. Das historische Wissen bietet dem Subjekt zwar Gelegenheit, sich zu positionieren, bleibt dadurch jedoch seiner Gestaltungsmacht entzogen. Ohne die transzendentale Wirkmacht des Subjekts als Ursprung von Formation und Deformation von Sinn lösen sich jedoch Richtung und Einheit der Geschichte auf: Die Geschichte zerfällt in zerklüftete epistemische Abschnitte.4 Das kulturelle Wissen macht sich vom Subjekt los. So verliert das Subjekt seine Transzendenz, seine hoheitliche Herrschaft über Sinn, Kultur und Geschichte: vom Zentrum des Geschehens wird es auf den Ort verwiesen, auf den überindividuelle Kräfte einwirken.5 Jorge Luis Borges scheint den Gedanken einer unermesslichen Gesamtheit des Kulturellen in seiner Erzählung La Biblioteca de Babel durchgespielt zu haben. Gleich zu Beginn wird der Leser mit der universalen Dimension der Bibliothek konfrontiert: „El universo (que otros llaman la Biblioteca)“ (Borges 1989: 465). Dazu passt das fundamentale Paradox, dass diese Bibliothek – als solche eigentlich eine Schöpfung des Menschen – diesem vorausgeht, immer schon existierte und ewig ist. Schließlich erfährt der Leser, dass die Bücher durchweg aus 25 Schriftzeichen bestehen. Da sich kein einziges Buch in der Bibliothek wiederholt, erklärt der Ich-Erzähler, dass die Bibliothek in erschreckendem Maße vollständig ist: Sie enthält alle nur denkbaren Bücher bzw. alle nur denkbaren Kombinationen der einheitlichen Schriftzeichen: Von diesen unbestreitbaren Prämissen leitete er ab, dass die Bibliothek total ist, und dass ihre Bücherschränke alle möglichen Kombinationen der über zwanzig orthografischen Symbole (eine, obgleich riesige, nicht unendliche Anzahl) verzeichnen, d.h. alles, was auszudrücken gegeben sein kann: in allen Sprachen.6

Die Bibliothek ist die Gesamtheit dessen, was mit diesen Schriftzeichen auszudrücken ist, egal, ob dies Sinn macht, oder nicht. Wenn man bedenkt, dass im 15./16. Jahrhundert v. Chr. in Babylonien eine Alphabetschrift erfunden wurde, die aus 22 Schriftzeichen bestand, so drängt sich der Eindruck auf, 4

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„Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen machen und aus dem menschlichen Bewußtsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die beiden Gesichter ein und desselben Denksystems“ (Foucault 1981: 23). Zum Zusammenhang zwischen der Geschichte von historisch variablen Wissensformationen und der Depontenzierung des Vernunft- bzw. Subjektbegriffes s. Borsò (1998). „De esas premisas incontrovertibles dedujo que la Biblioteca es total y que sus anaqueles registran todas las posibles combinaciones de los veintitantos símbolos ortográficos (número, aunque vastísimo, no infinito) o sea todo lo que es dable expresar: en todos los idiomas“ (Borges 1989: 467).

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dass es sich bei dieser Bibliothek um die fantastische Ausformulierung der Alphabetschrift mit ihren unvorstellbaren Kombinationsmöglichkeiten handelt.7 Alles, was mit diesen Buchstaben schreibbar ist, findet sich in der Biblioteca de Babel. Man könnte meinen, die Erzählung läuft auf einen Versuch hinaus, das Unermessliche des Potentials der Alphabetschrift zu veranschaulichen. Jedoch muss bedacht werden, dass es sich nicht einfach um Schrift handelt sondern um Bücher, die in exakt normiertem, einheitlichen Format vorliegen. Sie enthalten nicht nur alles tatsächliche Wissen der Menschheit sondern auch alles vorstellbare, unvorstellbare und potentielle Wissen sowie alles Unwissen, das in Buchform seinen Ausdruck finden kann und könnte. Sogar das „Buch der Bücher“, der „Katalog“ bzw. Schlüssel zur Bibliothek ist darunter, nur ist dieses Buch aufgrund der Unendlichkeit der Bibliothek nicht auffindbar. Die Bibliothek von Babel ist folglich lesbar als ein unmögliches Modell, als eine unvorstellbare Vorstellung der Kultur und ihres vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sinns und Unsinns. La Biblioteca verweist darauf, dass der Mensch Kultur nicht erschaffen kann – sie war gewissermaßen immer schon da und übersteigt das Subjekt. Es gibt kein Außerhalb der Kultur, da sie mit dem Universum selbst zusammenfällt – alle nur denkbaren Fragen sowie Antworten sind in ihr enthalten. Der Mensch, el bibliotecario, wird in diese Bibliothek hineingeboren, er verbringt sein Leben damit, sie zu erkunden und stirbt schließlich irgendwo in einem ihrer Säle. Die Erzählung geht jedoch weiter: Das kulturelle Potential des Sinns ist nicht einfach gegeben sondern geht von der Alphabetschrift und genauer vom Buch aus. Daraus wäre zu schließen, dass Kultur bzw. möglicher und unmöglicher Sinn immer an etwas gebunden ist, das ihn zum Ausdruck bringt: in diesem Fall das Buch. Verallgemeinert hieße das, dass die Kultur ihre Voraussetzungen für die Schöpfung und Verwerfung von Sinn im Bereich des Medialen findet. Borges beschreibt, so lässt sich folgern, mit der Bibliothek von Babel die Buchkultur. La Biblioteca de Babel suggeriert somit, dass sich das Labyrinth kultureller Bedeutungen einem zentralen Faktor verdankt: den Medien. Tatsächlich erscheinen die Medien als Schlüsselkonzept in der neueren sozial- und geisteswissenschaftlichen Debatte, um die Kultur zu denken. Das kollektive Wissen wird nicht per se von der Kultur bereitgestellt sondern bedarf der notwendigen Realisierung durch die Medien. Borges’ Erzählung deutet die gegenseitige Angewiesenheit von Medien und Kultur an: Erst durch das Buch kann Sinn bereitgestellt werden, aber erst durch die Kultur wird der Sinn lesbar. Und ein weiteres wird angesprochen: Die Depotenzierung des Subjekts durch die Vorgängigkeit der Kultur gilt ebenso für die Medien, die sich diesem nicht in Form von Alphabetschrift/Buch als Werkzeug andienen. Zur Veranschaulichung des grundsätzlichen Zusammenhangs zwischen Kultur und Medien wird auch von Medienkultur gesprochen.8 Wissen beruht 7 8

Zur Erfindung der Alphabetschrift sowie zur fundamentalen Bedeutung dieser Schrift als Wurzel der gesamten „westlichen Zivilisation“ siehe Flusser (2000: 90-93). Reinhold Viehoff macht deutlich, dass der Begriff der Medienkultur in der deutschsprachigen Medienwissenschaft in den 1990er Jahren gegen den der Kulturindustrie geprägt wurde, um eine „paradigmatische Wende“ in dem Verständnis vom Verhältnis zwischen Kultur und Medien zum Ausdruck zu bringen. Mit der konzeptionellen

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auf Aussageformationen, Aussagen sind auf Medien angewiesen.9 Dies erklärt, warum Kultur immer schon Medienkultur ist. Wie Michael Giesecke ausführt, ist daher die Rede von der »Mediengesellschaft« als Schlagwort der Gegenwart „Arbeit an einem rückwärts gewandten Mythos“: Mit ihm werde unterstellt, dass erst die heutige Gesellschaft von Medien bestimmt werde, während die früheren noch medienfrei gewesen seien. Dabei handele es sich um eine sehr verkürzende Sichtweise, denn „auch das leibliche Verhalten ist ein Medium für die Umwelt“ (Giesecke 2002: 242). Tatsächlich aber rückt die Rede vom »Medienzeitalter« die eminente Rolle der Medien beim kulturellen Wandel in den Mittelpunkt der neueren kulturtheoretischen Debatte. Wenn die Rede von der »Medialisierung« der Gegenwart als ein distinktives Merkmal der heutigen Zeit angesehen wird, so lenkt dies die Aufmerksamkeit auf die kulturgeschichtsbildende Energie der Medien. Wie oben angedeutet, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Medien mit der Erfindung der Elektrizität und der elektronischen Datenverarbeitung plötzlich in die Geschichte einbrechen. Zunächst ist jedoch zu konstatieren, dass die elektrischen, elektronischen und digitalen Medien die Welt im 19. und 20. Jh. radikal verändert haben. Dabei handelt es sich aber um einen kulturellen Transformationsprozess, der nicht zuletzt durch das Erscheinen neu entwickelter Medien in Bewegung gesetzt wurde. Es sind folglich bestimmte Medien, die in die Geschichte einbrechen. Daraus ergibt sich die Frage, ob das damalige Auftreten der nun verdrängten bzw. unter Druck geratenen, jedenfalls bisher existierenden Medien nicht ebenso ein geschichtliches Ereignis markierte, das eine neue kulturelle Ära einleitete. Die Fragestellung lautet also, inwiefern Medien kulturhistorische Abschnitte prägen. Dabei bleiben freilich das 19. und 20. (sowie das beginnende 21.) Jh. im Brennpunkt des Interesses, von denen aus die Frage nach der historischen Rolle der Medien auf die weiter zurückliegende Vergangenheit übertragen wird. Ein Augenmerk verdient jedoch die Beobachtung eines kulturhistoriographischen Einschnitts der Medien im 20. Jh. Dieser Einschnitt situiert eine Vielzahl kultur- und medienwissenschaftlicher Forschungen spätestens seit Marshall McLuhans bahnbrechender Beschreibung des Buchdrucks nicht nur als „Galaxie“ bzw. als kulturelles Universum sondern auch als Epoche (vgl. McLuhan 1967). Die Frage, inwieweit

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Wende geht eine Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen und transdisziplinärer Forschungen voraus, die sich gegen den kulturkritischen Gegensatz zwischen Medien und Kultur wenden (Viehoff 2002). Es gibt mittlerweile auch Entwürfe einer neuen wissenschaftlichen Disziplin mit eigenem Forschungs- und Lehrprogramm: die „Medienkulturwissenschaft“ (vgl. Schmidt 1998). Auch Foucault verweist auf die „materielle Dichte“, durch die eine Aussage gegeben ist. Die Materialität erweist sich folglich als eine der Bedingungen der Aussage in der diskursiven Praxis. Darunter ist sicherlich u.a. der mediale Charakter der Aussage vorzustellen. Foucault präzisiert dies jedoch nicht, und ebenso wenig verwendet er den Begriff des Mediums. Ihm geht es bei dem „System der Materialität“ um den institutionellen Stellenwert, den eine Aussage erlangt. Hierdurch werden die Bedingungen der Wiederholbarkeit und Übertragbarkeit einer Aussage festgelegt, die sie von einer Äußerung unterscheiden (Foucault 1981: 146-150). Gleichwohl Foucault den ‚medialen Faden‘ nicht weiter verfolgt, so findet sich dieser jedoch in der Archäologie des Wissens angelegt und bereit zur Wiederaufnahme.

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die Medien mit dem Wandel von Gesellschaft, Kultur und Wahrnehmung in Zusammenhang stehen, ist zentraler Bestandteil der gegenwärtigen Kulturtheorie. Georg Christoph Tholen macht darauf aufmerksam, dass etwa die Medienforschung seit Mitte der 1980er Jahre von der Untersuchung der Wirkung von Einzelmedien dazu übergegangen ist, nach den medialen Bedingungen von Kultur überhaupt zu fragen (Tholen 1999: 15). Das Anliegen der Forschung richtet sich nun darauf, inwieweit sich „Epochenschwellen als Initialräume technischer Medien“ bestimmen lassen (Tholen 1998: 65). Seit McLuhans Analyse des typographischen Zeitalters wird das epochenbildende Moment immer wieder Einzelmedien zugeschrieben, die, wie im Einzelnen zu zeigen sein wird, als Leitmedien eine hegemoniale Stellung in Kultur und Gesellschaft einnehmen. Eine Geschichte der Leitmedien, wie McLuhan sie mit seinem Werk anstrebt, ist darauf ausgerichtet, longues durées im kulturellen Prozess erkennbar zu machen, bzw. sie beansprucht, anhand des Wandels der Leitmedien fundamentale Umbruchbewegungen im kulturellen Prozess ausweisen zu können. Im Folgenden sollen einige Entwürfe zur Geschichte der Medienkultur vorgestellt werden. Zu fragen ist hierbei jedoch nach den Voraussetzungen, die es erlauben, eine Medienkulturgeschichte zu schreiben. Erinnert sei daran, dass die Medien erst mit der Rekonzeptualisierung der Kultur als sinnstiftendes System Eingang in die kulturtheoretische Debatte fanden. Es ist daher davon auszugehen, dass sie unter dem Aspekt der Sinnbildung diskutiert werden, weswegen der Fokus sich nicht nur auf die Inhalte richten wird, die sie hervorbringen, sondern insbesondere auf das Hervorbringen von Inhalten. Dieser epistemologische Ansatz der Medientheorien stellt eine Verbindung zu Foucaults Archäologie des Wissens her.10 Offen bleibt zunächst, inwieweit den Medien 10 Prominentester Vorläufer einer Medienepistemologie (wenn nicht gar der Medienwissenschaft überhaupt) ist sicherlich Walter Benjamin, für den die Medien spezifische Wahrnehmungsmodi zur Verfügung stellen. Medien erweisen sich daher seit Benjamin als ein ästhetisches Problem, bzw. als eines der Wahrnehmung. Ein wichtiges (aber nicht das einzige) Beispiel ist der Film und seine Veränderung der „Merkwelt“, die er u.a. 1936 in seinem berühmten ‚Kunstwerk-Essay‘ beschrieb. Dabei geht es um die „Zerstreuung“ als Fähigkeit der Zuschauer, sich den „Chokwirkungen auszusetzen“, die in der Abfolge der Bildschnitte entstehen, aber auch um die Eröffnung neuer Ansichten mittels Zeitlupe und Vergrößerung, die dem bloßen Auge unzugänglich sind (Benjamin 1969. S. hierzu auch Spahr 1997a). Im Jahr 2004 problematisiert Vittoria Borsò in ihrer Erörterung der „Medienkultur“ das Medium explizit als „phänomenologische Ermöglichungsbedingung von Sinn“ und geht in ihrer Begründung der damit verbundenen „Medienästhetik“ ausführlich auf Benjamin zurück (Borsò 2004). Zuvor entwarf schon Ralf Schnell eine umfassende „Medienästhetik“, ebenfalls im Rückgriff auf Benjamin, die sich eine detaillierte Analyse einzelner medialer Wahrnehmungsformen zum Ziel setzt. Warum es sich hierbei nur um Wahrnehmungsweisen handelt, die von audiovisuellen Medien begründet werden, warum also nicht-visuelle Medien keine eigene aisthesis hervorbringen, entzieht sich dem Leser. Vermutlich hat dies damit zu tun, dass Schnell einen grundlegenden kulturellen Wandel vor Augen hat, nämlich den „Übergang vom Text zum Bild“, auf den sich eine schriftzentrierte Kulturwissenschaft einzustellen habe. Angesichts der mehrheitlichen Verweigerung der Literaturwissenschaft vor dem allgemeinen „Umschmelzungsprozeß, dem die modernen Industriegesellschaften durch die audiovisuellen Medien

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jedoch eine totalisierende Rolle in der Kulturhistoriographie zukommt, die sie als transzendentales Moment einer entweder euphorischen oder (sog.) apokalyptischen Geschichtsteleologie ausweist. Zweifelsohne wird mit der Beschreibung medialer Einschnitte auf Brüche innerhalb der Kulturgeschichte verwiesen. Aber inwieweit dient das Konzept der Medien letztlich doch der Stiftung von Kohärenz, was die Einheit einer Epoche darzustellen erlaubt? Wird mit den Medien nicht ein neues Kohäsionsprinzip in die Geschichte eingeführt, das sie allen Dezentrierungen zum Trotz wieder zu einem langen Werden macht, nun aber zu einem Werden der Technik? Wird, mit anderen Worten, anhand der Medien das telos des Bewusstseins, der Vernunft bzw. des Subjekts gegen das der Technik eingetauscht? Verwischt die Medientheorie nicht das „Denken der Diskontinuität“ (Foucault 1981: 11), das die Differenzen und Heterogenitäten der Geschichte nicht mehr scheut und so das Verlangen nach einer Vorgegebenheit der Zeit als lineare Entwicklung aufgibt? Es wird also bei den medienkulturtheoretischen Ansätzen danach zu fragen sein, ob sie nicht den „Anthropologismus“ (28) durch einen ‚Technizismus‘ ersetzen und damit in kulturkritischer Perspektive ex negativo erneut heraufbeschwören. Mit dem Protagonismus sog. technischer Medien stellt sich, soviel lässt sich vorausschicken, letztlich die Frage nach dem Menschen und seinem Verhältnis zur Technik. Nicht nur das Subjekt in seiner historischen Transzendenz als Träger eines fortschreitenden und vorgängigen Bewusstseins und einer wahrheitsgarantierenden Vernunft sieht sich angesichts des von ihm abgelösten kulturellen Sinns in Zweifel gezogen. Auch der Mensch steht, wie zu zeigen ist, in seiner Selbstidentität gegenüber der Alterität der Technik in Frage.

2.2 Wo ist die Zäsur? Eine Vielzahl von Studien stimmt in der Annahme kultureller Zäsuren überein – in der Bestimmung, Periodisierung und Bewertung sind sie freilich meist uneins. Ohne auf die einzelnen Positionen genauer einzugehen, kann angedeutet werden, dass die Autoren generell der These des typographischen Zeitalters als vergangene medienkulturelle Epoche zustimmen. Uneinigkeit herrscht jedoch darüber, wie das Neue (Kultur und Leitmedium) zu fassen ist, das auf die Gutenberg-Galaxie folgt: als elektrische Ära, als Ära des Computers bzw. der Information, als Ära der Bilder oder als Ära der Unterhaltung usf. Wie ist nun diese Divergenz zu deuten? Sicherlich steht sie für die Schwierigkeit, eine allgemeine Tendenz der Kultur im 20. Jahrhundert zu bestimmen. Sie ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass die kulturprägende Wirkmächtigkeit der Medien zwar allgemein vorausgesetzt, aber im einzelnen sehr unterschiedlich definiert wird. McLuhan teilt die Geschichte allgemein in lediglich vier Zeitalter ein: die tribale Oralität, die literale Manuskriptkultur, die typographische Ära und schließlich das elektrische Zeitalter. Die Epochenumbrüche werden durch das Auftreten eines neuen Mediums

und die elektronischen Technologien unterworfen sind“, fordert er eine „Schule des Sehens“ bzw. (paradoxerweise) eine „Alphabetisierung des Auges“ (Schnell 2000: 910, s. auch Schnell 2002).

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hervorgerufen, wobei die Koexistenz dieser Kulturen nicht ausgeschlossen wird. Was die Buchkultur angeht, so stellt eine „abstrakte und explizit visuelle Technologie“ eine „einheitliche Zeit“ und „einen einheitlichen kontinuierlichen Raum“ her. Was hier folglich mit dem Begriff der Buchkultur vorliegt, ist eine komplexe, medial bedingte Welt(sicht). Daraus ergibt sich die Frage, wie es sein kann, dass McLuhan einem Medium die Schöpfung der Welt anvertraut. Die Antwort ist bekannt und ausführlich diskutiert: Medien determinieren die Wahrnehmung des Menschen und prägen die „Formen der Erfahrung, der geistigen Anschauungsweise sowie des Ausdrucks“ (McLuhan 1967: 1). Die Folgen erfassen die Gesellschaft als Ganzes: Im Falle des Buchdrucks bedeutet dies, dass Erfahrung in zunehmendem Maße auf das Sehen reduziert bzw. dass Wahrnehmung als lineare, sequentielle und fragmentierte visuelle Sinnestätigkeit normiert wird. Die Typografie führt nicht nur den festen Standpunkt („fixed point of view“) in das Denken und die Zentralperspektive in das Sehen ein, sondern ebnet kognitiv den Weg für eine mechanische (Re)Konstruktion der Wirklichkeit bzw. für eine Fließband- und Massenproduktion von Gütern, wofür sie selbst das erste Beispiel ist (124127, 151-153). Die neue electric galaxy of events leitet demgegenüber mit den elektrischen Technologien eine Vervielfältigung sinnlicher Wahrnehmungsformen ein. Erfahrung wird nun als plurale und simultane Sinnestätigkeiten rekonfiguriert, die sich zudem global ausdehnen: Die Welt gerinnt zum Dorf (5, 31, 278). McLuhans ‚Erkundung‘ der Gutenberg-Galaxis und ihres Endes stößt in der Medientheorie heute allgemein auf Zustimmung. Für Giesecke beispielsweise hat der Buchdruck nicht nur eine eigene Kultur sondern eine spezifische Gesellschaft hervorgebracht – die Industriegesellschaft. Wenn in seinem Ansatz die soziokulturelle Reichweite des Leitmediums Typografie ähnlich weit gefasst wird wie bei McLuhan, so weicht deren Begründung dagegen vom Vordenker ab: Nicht prothetisch denkt Giesecke die Schnittstelle Medien – Mensch sondern informationstheoretisch. Im Ergebnis erscheint die typographische Kultur als „Wissensgesellschaft“, die sich dadurch auszeichnet, das Glaubwürdigkeitsprivileg dem sprachlichen Wissen und den Büchern vorzubehalten. Den Übergang zur postindustriellen „Informationsgesellschaft“ versteht Giesecke als „Epoche eines Kulturwechsels“ bzw. als „zweite Renaissance“. Am Ende dieser Transformationsphase wird ein neues, digitales Leitmedium stehen, das einer bislang nur schemenhaft sich abzeichnenden neuen Kommunikationskultur den Weg bahnen wird (11-13). Wenn Information das Fundament der Kultur bildet, scheinen Ton- und Bildmedien keinen kulturprägenden Einfluss ausüben zu können. Eine solche methodische Verengung vermeidet Friedrich Kittler, obgleich auch er der Informationstheorie zugeneigt ist. In Ablehnung der hermeneutischen Frage nach der Bedeutung in der Geschichte fragt dieser Autor in Anlehnung an Foucault nach dem historischen Apriori des Bedeutens. Die Diskursanalyse ließ aus seiner Sicht jedoch einen wesentlichen Faktor bei der Bestimmung der kulturbildenden Aussagbarkeit eines historischen Abschnittes aus: die Medien. Hinter dem Begriff der Aufschreibesysteme verbirgt sich also der Versuch, die Diskursanalyse unter Einbezug der Medien fortzuführen. Es handelt sich dabei um ein „Netzwerk von Techniken und Institutionen [...], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“ (Kittler 31995: 519). Aus diesem Grund 25

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führt Kittler das kulturelle Wissen im Gegensatz zu der Mehrzahl der hier behandelten Autoren nicht ausschließlich auf die epistemologische Valenz der Medien zurück, sondern erklärt es als Ergebnis der „Verschaltung“ medialer Technik mit gesellschaftlichen Institutionen wie Universität, Wissenschaften Kunst, Familie u.a. Aufschreibesysteme beschreibt zwei kulturelle Zäsuren, die von der allgemeinen Alphabetisierung um 1800 und der technischen Datenspeicherung um 1900 gebildet werden. Dabei geht es um die Ablösung des Informationsmonopols des Buchs durch die technischen Medien. Kittler erörtert mit anderen Worten, wie durch die von unterschiedlichen Institutionen getragene allgemeine Alphabetisierung das Buch zum Universalmedium bzw. zum Speichermedium von Sinnesdaten aller Art wird, und wie dieser Status zu Beginn des 20. Jh. auf die technischen Medien übergeht.11 Kittler setzt also die epochale Zäsur wesentlich früher an als Giesecke. Die Eigenschaft der Schrift als Leitmedium begründet er mit der bislang einmaligen Kombination von Speicherung und Übertragung von Information. Die Schrift konnte ihr mediales Monopol so lange halten, wie sie den Übertragungscharakter seinen medialen Konkurrenten voraus hatte: Bilder waren zwar speicherbar, jedoch nicht übertragbar. Sie hatten ihren festen Ort – erst durch Technik gelang es, Bilder und Töne mobil zu machen. Vilém Flusser denkt den kulturellen Umbruch, der sich seit der Mitte des 19. Jh. vollzieht, noch radikaler als McLuhan. Für ihn handelt es sich um eine fundamentale Zäsur in der Geschichte des „westlichen Menschen“, vergleichbar nur mit der Erfindung des Alphabets und insofern weitaus einschneidender als die Einführung des Buchdrucks. Flusser situiert das Problem in einer Mediengeschichte der Menschheit. Die Periode der traditionellen Bilder endet 1500 v. Chr. mit dem Aufkommen des Alphabets, das die „Geschichte“ im eigentlichen Sinne hervorbringt bzw. denkbar macht. Die Ära des Alphabets wiederum wird um 1900 von der „Nachgeschichte“ abgelöst, die von den technischen Bildern bestimmt wird (Flusser 22000: 83-84). Die „Kulturrevolution“ der Technobilder bilden den Anlass von Flussers Kommunikologie. Die Technobilder leiten eine neue „Programmierung“ des Menschen ein. Technisierung des Bildes bedeutet, dass sich das Bild vom Träger emanzipiert und auf beliebige Flächen projiziert werden kann. Bilder werden allgegenwärtig und lösen die Schrift ab, so dass „gegenwärtig Flächen (und zwar ganz neuartige Flächen) und nicht mehr Zeilen jene Botschaften tragen, dank derer wir die Welt erleben, erkennen und werten.“ Eine bildliche Art des Bedeutens verdrängt die textuelle, d.h. die Kodierung von Sinn erfährt einen grundlegenden Wandel – der von der Buchkultur hervorgebrachte eindimensionale Code weicht einem zweidimensionalen (173-175). Es handelt sich um eine „semantische Revolution“, die eine „neue Bewusstseinsebene“ hervorbringt (222-224). Während eindimensionale Codes gelesen werden, bzw. sich erst am Ende eines Entschlüsselungsprozess eine Botschaft heraus11 Gerade aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist Kittlers Anliegen aktuell, die Möglichkeitsbedingungen der Literatur als konstitutives Element epochaler technischer Aufschreibesysteme zu hinterfragen, insofern als ihr zu Beginn des 19. Jh. eine zentrale kulturprägende Funktion zukommt: in ihr konnte der menschliche Geist seinen freien Ausdruck finden unter Einbezug aller Sinne. Diese Funktion habe sie ein Jahrhundert später an die technischen Medien verloren, die die Sinne konkreter ansprachen (vgl. Spahr 1997c: 172-186).

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stellt, werden zweidimensionale Codes erfasst: Ihre Botschaft ist für den Empfänger auf der Fläche ausgebreitet und verfügbar, sie entsteht spontan, „im Überblick, synchronisch und oberflächlich“. Daraus folgert Flusser, dass die Welt des Alphabets diachronisch, synthetisierend, prozessual, mit einem Wort: historisch ist, sie wird gelesen, sie wird begriffen. Die Welt der Technobilder dagegen ist synchronisch, analytisch, unmittelbar, also a-historisch. Sie wird spontan erfasst und vorgestellt. Das Besondere an Flussers Argumentation ist, dass sie zwei Momente innerhalb dieses Umbruchs gesondert hervorhebt: die Semantik der neuen Bilder sowie ihre Bewusstseinsprogrammierung einerseits und die Massenkommunikation anderseits. Der Vorteil dieser Differenzierung ist zweifellos, die Aufmerksamkeit auf diese Doppelbewegung der Gegenwartskultur zu lenken, ohne beide zu vermischen. So lässt sich die semantische Makrodynamik der technischen Bilder medienübergreifend und vor allem gesondert vom vieldiskutierten Problem der Massenkommunikation in den Blick nehmen. Flusser kann sich sehr elegant mit dem allgemeinen Phänomen der technischen Bilder auseinandersetzen, weil er sie streng genommen nicht als Medien versteht und im Grunde die Medien als solche nicht eigens in den Blick nimmt. Sein Universum der technischen Bilder ist semantisch und besteht aus einem Modus des Bedeutens und Sinnstiftens (angesichts einer eigentlich absurden Welt), der nicht mehr textuell ist sondern komputierend bzw. verbildlichend (Flusser 1992b: 9-15). In der Kommunikologie werden diese Bedeutungssysteme als Codes problematisiert. So ist der kulturelle Umbruch bei Flusser eine „Revolution der Codes“ – nicht der Medien (Flusser 2000: 264). Nicht zuletzt Flussers Verweigerung gegenüber dem Begriff des Mediums räumt ihm eine Sonderstellung innerhalb der Debatte über die Zäsur der Medien (und innerhalb der Medientheorie) ein, die hier nur angedeutet werden kann. Für Neil Postman dagegen ist die Geschichte der Kultur eine Sache der Leitmedien. In Amusing Ourselves to Death folgt auf die Kultur des Buches die des Fernsehens. Dass es sich bei letzterer eher um eine Unkultur handelt, geht bereits aus dem Titel des Buches hervor. Sogleich springt ins Auge, dass Postman die Debatte über den medialen Umbruch der Kultur mit kulturkritischen und entfremdungstheoretischen Ansätzen verbindet, insofern als er die modernekritischen Topoi der kulturellen Degeneration (Wirklichkeitsvernichtung, Verlust der Identität des Subjekts) auf das Wirken einzelner Medien zurückführt.12 Postmans Schrift steht für eine Tradition der Fernsehkritik,13 deren Anregungen und Implikationen es stellvertretend zu sortieren gilt. In ihr schildert der Autor das Auftreten der technischen Bilder als „Überfall“ auf die Buchkultur, da sie darauf ausgerichtet seien, die Sprache nach und nach als dominante Form der Weltvermittlung abzulösen. Zusammen mit der Telegrafie schafft sie eine neue Welt, die aus einer „Flut“ von Einzelinformationen besteht, die in sich geschlossen ist, und die dem Adressaten zwar keine Bedeutung anbietet, dafür jedoch endlose Unterhaltung.14 Vollen12 Zu Kulturkritik und Entfremdung siehe Wolfgang Ullrich (2000 a und 2000 b). 13 Siehe Adorno (1977a und 1977b), Anders (1999), Meyrowitz (1985). 14 „Together, this ensemble of electronic techniques called into being a new world – a peek-a-boo world, where now this event, now that, pops into view for a moment, then vanishes again. It is a world without much coherence or sense; a world that does

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det wurde diese Welt schließlich Mitte des 20. Jh. mit der Einführung des Fernsehens. Dieses Medium steht für den Siegeszug der Ära der Unterhaltung. Postmans sorgenvolles Anliegen ist hierbei, die Ausschließlichkeit dieser neuen Welt deutlich zu machen, die die vernunftbegründete, komplexe Welt des Buchdrucks im Fernsehzeitalter vollkommen ersetzt habe. Das Problem des Fernsehens ist die Bildhaftigkeit des Mediums, denn in Postmans Bildtheorie können Bilder nur unterhalten und nicht – wie die Sprache – argumentieren. Ein Bild ist zur Konzeption untauglich und folglich außerstande, den Verstand ansprechen und richtet sich daher lediglich an das Gefühl. Es kann dem „Herzen“ des Zuschauers Persönlichkeiten nahe bringen, nicht aber seinem „Kopf“ Ideen vermitteln.15 Die Bedrohung liegt für Postman darin, dass dieser affektgesteuerte Weltvermittlungsmodus Schule macht, und dass die Gesellschaft infolgedessen verlernt zu denken und zu argumentieren. In der Konsequenz lassen die elektronischen Medien eine schöne neue Welt entstehen (Huxleys Prophezeiung erfüllt sich), die zum unaufhaltsamen culture-death führt, denn „was ist das Antidot dafür, dass eine Kultur durch Gelächter weggespült wird?“16 Gegen das Schauen scheint jedenfalls kein Kraut gewachsen: „Das Problem jedenfalls liegt nicht darin, was die Leute schauen. Das Problem ist, dass wir schauen.“17 Angesichts der argumentativen Engpässe dieser letztlich metaphysisch (alttestamentarisch) verbürgten Ikonophobie sei jedoch eingeräumt, dass das Medium Fernsehen in Amusing Ourselves to Death nicht völlig in der Versenkung des Entfremdungsdenkens verschwindet sondern eine Reihe von interessanten Beobachtungen bereithält. In erster Linie drängt sich die konsequente Beschreibung des Fernsehens als Leitmedium auf. Postman bündelt die Aufmerksamkeit auf die Beobachtung, dass nicht das Bild an sich sondern speziell das Fernsehen die Typografie ablöst. Der Autor rückt damit das Phänomen des bewegten Bildes ins Zentrum der kulturhistoriographischen Debatte. Dass mit Amusing Ourselves to Death diese Diskussion zugespitzt, aber bei weitem nicht beendet wurde, lässt sich auf seinen kulturkritischen Ansatz zurückführen. Wenn der Autor hierbei den Film ausblendet, dann weil er die Verdrängung der Erörterungskultur (age of exposition) durch die Unterhaltungskultur (age of show business) mit dem Fernsehen verbindet, das infolgedessen als unumschränktes Leitmedium einzuschätzen ist. Obwohl also medienökologisch und -historisch betrachtet, der Film und andere Medien wie etwa der Videorecorder das audiovisuelle Zeitalter mitbestimmen, ist eine solche herausstellende Sicht auf das Fernsehen aufschlussreich. Bemerkenswert ist in bezug auf den Begriff des Leitmediums, dass er zwar von zentraler Bedeutung in der Debatte medialer Zäsuren ist, aber kaum definiert

not ask us, indeed, does not permit us to do anything; a world that is, like the child’s game of peek-a-boo, entirely self-contained. But like peek-a-boo, it is also endlessly entertaining“ (Postman 1986: 77). 15 „Television’s strongest point is that it brings personalities into our hearts, not abstractions into our heads“ (Postman 1986: 123). 16 „What is the antidote to a culture’s being drained by laughter? “ (Postman 1986: 156). 17 „The problem, in any case, does not reside in what people watch. The problem is in that we watch“ (Postman 1986: 160).

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wird.18 Postman liefert eine Reihe interessanter Kriterien für das Konzept: Er bezeichnet das Fernsehen als »Meta-Medium« und meint damit, dass es nicht nur das Wissen über die Welt determiniert sondern auch den Zugang zum Wissen (Postman 1986: 78). Die Hegemonie des Leitmediums wird also zum einen dadurch begründet, dass es den öffentlichen Diskurs einer Gesellschaft beherrscht. Daraus folgt, dass sich die Gesellschaft über das Fernsehen erfährt, dass sich dieses Medium als Quelle alles gesellschaftlich relevanten Wissens durchgesetzt hat, bzw. dass es bestimmt, was gesellschaftlich relevant ist. Daraus folgt auch, dass das Leitmedium den Modus des gesellschaftlichen Diskurses prägt, und dass sich darin andere soziale Kommunikationsformen anpassen. Zum anderen aber bedeutet die Hegemonie des Leitmediums, dass es den Gebrauch anderer Medien steuert und vorgibt, wie diese zu nutzen sind. Voraussetzung dieser Dominanz ist im Falle des Fernsehens – zumindest in Postmans Sichtweise – die uneingeschränkte Zugänglichkeit dieses Mediums, das, aus Bildern bestehend, keinerlei kognitiven Voraussetzungen an seine Nutzer stelle und keinen Lernprozess wie beim Lesen und Schreiben erfordere. Sieht man von der Sünde des Bildes einmal ab, bleibt ungeklärt, wie das Leitmedium seine Wirkungstiefe eigentlich entfalten kann – und wo sie endet. Zur Frage nach den Grenzen des Leitmediums gehört auch diejenige nach anderen Medien, und inwieweit sie diese neben jenem Geltung verschaffen, was ohne einen medienökologischen Ansatz nicht zu beantworten ist. Anders gewendet, ist zu erörtern, wo andere Medien – Typografie, Kino, Computer/Internet – stehen, und wo sie dem Fernsehen Grenzen setzen. Dies ist eine Problemstellung, die auf die spezifischen Bedingungen der Television im Rahmen der Unterentwicklung verweist und folglich in der vorliegenden Studie im Vordergrund steht. Noch ein Aspekt sei im Zusammenhang von Postmans Argumentation hervorgehoben: Seine Beobachtung dessen, was man ‚Affektsprache‘ des Fernsehen bezeichnen könnte. Nimmt man Abstand zur Zwangskorrelation Bild – Affekt, dann erscheint diese Beobachtung als ein weiterer wichtiger Ansatz, die TV-Analyse nicht nur auf die diskursive Ebene des televisionären Mediengeschehens zu beschränken sondern auf die Nebenwirkungen des Affektbefalls auszudehnen, was bei Genres wie der Telenovela unmittelbar ins Auge sticht.

2.3 Die epistemologische Zäsur der Medien Auch Tholen beschäftigt sich mit der Bilderflut und bezieht sich damit auf die Dynamik der symbolischen Formen der postmodernen Kultur. Gemeint ist eine Vielfalt audiovisueller und digitaler Medien, die dem „Vorwalten des Visuellen“ Vorschub leistet. Diese „Tendenz vom Wort zum Bild“ ist mittlerweile ein Allgemeinplatz in der gegenwärtigen Medienwissenschaft. Sie be-

18 Eine der seltenen begrifflichen Präzisierungen findet sich bei Udo Göttlich, der den Begriff recht vage als dominierendes Einzelmedium definiert, dem in einer bestimmten historischen Phase der Medienentwicklung „eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit zukommt“ (Göttlich 2002: 194).

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schränkt sich hier folglich nicht auf ein Leitmedium (Fernsehen) sondern ist plurimedial, und mit ihr gehen weitere Übergänge einher, nämlich der vom „Diskurs zum Event“ und derjenige vom „Argument zur Erregung“ (Tholen 2002: 147). Wenn dies in der Formulierung an Postman erinnert, dann weil Postman – wie angedeutet – zweifellos einen grundsätzlichen kulturellen Wandel fokussiert, mit dem sich Medien- und Kulturwissenschaften bis heute auseinandersetzen. Angesichts der Hybridität der postmodernen Bilderwelten, in denen sich digitale und analoge Medien verschränken, und in denen sich mediale Funktionen und Formate miteinander vermengen, erscheinen jedoch Konzepte der Kulturkritik und der Massenmedientheorie fraglich, die die Medien dichotomischen Klassifizierungen (dialogische – monologische, eindirektionale – pluridirektionale Medien usw.) unterziehen und hinsichtlich der Übereinstimmung mit einem präsupponierten menschlichen Selbst bewerten. Doch dazu später ausführlicher. Die Diskussion der einzelnen Ansätze über die kulturelle Zäsur der Medien zeigt die Unstimmigkeit der Forschung nicht nur in der Einschätzung der Gegenwartskultur sondern auch hinsichtlich des Medialen selbst auf. Ersetzen die Medien dem Menschen Körperteile, d.h. Sinnesorgane (McLuhan), oder übernehmen sie gar dessen Subjektstatus (Kittler)? Oder erhellen bzw. verdunkeln sie in letzter Instanz eine Welt, die Gottes ist (Postman)? Oder haben sie mit all dem gar nichts zu tun, und wenn sie es täten (als Codes), schotten sie den Menschen durch eine kulturelle Hülle der Bedeutungen vom leeren Nichts der Natur ab, die jedoch von den Massenmedien zusehends sinnentleert wird (Flusser)? Tholen zieht hieraus schließlich die Konsequenzen und nimmt Abstand von der Historiografie der Medienkulturen. Für ihn ist die „Zäsur der Medien“ kein primär historiografisches sondern ein epistemologisches Problem. Die epochalen Einschnitte, die Medien in Kultur, Kunst und Gesellschaft, „markieren“, erfordern – so Tholen – zuallererst eine Reflexion über die Medialität der Medien. Zur Debatte steht die „epochale Zäsur des Technischen selbst“, wie Tholen in einem früheren, gleichnamigen Aufsatz schreibt (Tholen 1998: 62). Am alle analogen Medien vereinnahmenden Computer macht sich symptomatisch das Technische selbst als Einschnitt bemerkbar, da es in diesem Medium beziehungslos seinen Ausgestaltungen gegenübersteht: Epochalität des Technischen heißt hier: Vorbehalt und Vorenthalt der Technik gegenüber ihren eigenen historisch je singulär datierbaren Gestalten und Gestaltungen, welche, um überhaupt als historisch beschränkte wahrgenommen und platziert werden zu können, nur in offener Distanz zu sich, nämlich als unvollständiger Spielraum des Technischen, verortet werden können. (Tholen 1998: 62-63)

Was es angesichts des Computers aus kulturphilosophischer Perspektive zu diskutieren gilt, ist folglich die Frage der Technizität der Medien und ihr Einbruch in das menschliche Selbst(-bild). Die Ansätze zu einer Medienkulturgeschichte belegen, wie oben angedeutet, dass „die Funktion der Medien unser Selbstverständnis nachhaltig irritiert“ (Tholen 1999: 15). Der Computer verweist darauf, dass unsere Formen der Wahrnehmung, des Wissens, des Gedächtnis und des Erzählens immer schon medial vermittelt sind. Wenn aber Medialität nicht als „materiale Bedingungen der Kommunikation“ sondern als „axiomatische Möglichkeit eben dieser Bedingungen selbst“ zu 30

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verstehen ist (ebd.), dann deshalb, weil Medien ihre Identität darin aufschieben, dass sie hinter dem, was sie vermitteln, zurücktreten. Diese Eigenschaftslosigkeit des Medialen tritt mit dem Computer deutlich zu tage: Er ist gegenüber den durch ihn simulierbaren Botschaften, Ästhetiken, Wirklichkeitskonstruktionen gänzlich gleichgültig und „re-präsentiert“ lediglich die „Eigenart des Medialen“, also das Speichern, Übertragen sowie Verarbeiten. Aufgrund seiner „unentscheidbaren Verwendungsoffenheit“ stellt er das mediale Geschehen des Übertragens von Bedeutungen durch vorgängige Einzelmedien zur Schau. Der Computer, anders ausgedrückt, „ist nicht sondern ek-sistiert in seinen medialen Gestaltungen und Oberflächen, die er zu simulieren gestattet“. Seine Nicht-Identität lässt sich als „metaphorischer »Als ob«- oder »Ersatz«-Charakter“ beschreiben (Tholen 1998: 69-70). Hieraus zieht Tholen grundlegende Schlüsse: Die Medientheorie hat angesichts der „prostitutiven Nachgiebigkeit der digitalen Technologie“ die „zweckindifferente Übertragbarkeit als solche“ in den Mittelpunkt ihrer Reflexion zu stellen (Tholen 2002: 20). Was folgt, ist eben keine Medienästhetik sondern eine Metaphorologie der Medien, die ihren Ausgang in der Beobachtung findet, dass das Mediale mit dem sinn-indifferenten Übertragen zu beschreiben ist: Wenn Tholen schreibt, die Medien übertragen Bedeutungen, sind aber als Boten gerade nicht die Botschaft selbst, dann widerspricht er damit nicht nur dem berühmten Diktum McLuhans sondern lässt auch die aisthesis-Kritik der Medien hinter sich. Wie zu sehen ist, veranlasst ihn die Frage nach den Medien demgegenüber zu einer Dekonstruktion u.a. der Wahrnehmung. Medien, fortfahrend, übertragen Sinn, nehmen aber keinen Bezug zu ihm auf, weswegen das Mediale gerade in diesem „Sinnvorbehalt und Sinnaufschub“ gesehen werden kann. Die Medialität der Medien besteht darin, das darzustellen, was sie selbst verbirgt, bzw. wovon sie sich selbst enthalten. Medien schenken Präsenz, indem sie sich absentieren: Die Medialität der Medien konturiert den Horizont, in dem sie selbst nicht „aufgehen“ kann: Medien sind indifferent gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten. (Tholen 2002: 8-9)

Medien sind also nicht das Erscheinende, sondern lassen erscheinen. Wenn Medien auch auf die Sinngebung nicht einwirken – diese kann nicht ohne sie stattfinden. Auch das zeigt der Computer: Die digitale Simulation einzelmedialer Wirklichkeitsrepräsentationen lässt die mediale Voraussetzung von Weltschöpfungen umso deutlicher zu tage treten. Zu erkennen ist darin die mediale Vorgängigkeit von Welt und Gegenwart: Wir verdanken es dem Zurkenntnisnehmen des medialen Charakters von Wirklichkeitsrepräsentationen, daß jede Auffassung einer vormedialen, ursprünglichen oder wiederzugewinnenden, und das heißt, sinnerfüllten Gegenwart prekär ist und die Funktion einer Ersatz-Religion annimmt. (Tholen 1998: 70-71)

Die Analogie zwischen Medium und Metapher erschließt sich in der metaphorologischen Wende der Bestimmung des Metaphorischen weg vom transportierten Inhalt hin zum Transport, weg also vom übertragenen Sinn

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hin zum Übertragen selbst (Tholen 2002: 44-45).19 In diesem Sinne ergibt sich die Metaphorizität des Mediums aus der Entsprechung des „unabschließbaren, indefiniten Selbstentzugs“ der Metapher mit der Nicht-Koinzidenz des digitalen Mediums mit sich selbst. Beide kennzeichnet ein ontologisch nicht fixierbares Sein der Übertragbarkeit (44, 58). Angesprochen ist damit die ortlose aber unhintergehbare Zwischenräumlichkeit. Nicht die Mitteilung sondern das Mitteilen – die Medien sind mit anderen Worten das, was konstitutiv zuvor- bzw. dazwischen kommt. In Anlehnung an Jean-Luc Nancy bestimmt Tholen die Medialität als „Mit-Teilbarkeit“ (8),20 die gleichermaßen trennt und zusammenführt. „Mit-Teilbarkeit“ bedeutet, das Wahrzunehmende nicht wahrnehmbar im Voraus zu setzen. Sie ist nicht lokalisiert sondern passiert – selbst nicht mitteilbar – im Mitteilen: Weder Mittel noch Milieu, weist die Metaphorologie der Medien darauf hin, die Medialität der Medien als Mit-Teilbarkeit zu situieren, als Einrahmung und Entrahmung des Wahrnehmbaren und Mitteilbaren. Die Mit-Teilbarkeit selbst hat keinen vorgegebenen Ort. Sie verliert sich in den Gestalten, in denen wir sie wahrnehmen können. (Tholen 2002: 60)

Als das fügende und teilende Dazwischen aber gehen die Medien der Gemeinschaftlichkeit voraus: Eben diese Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber dem Sinn der Botschaft ist vielleicht auch als In-Differenz lesbar, d.h. als Dazwischenkunft der uns teilenden und dadurch verbindenden Medien, mithin als das, was uns vorausgeht, bzw. den anthropologischen Fixpunkt dieses „Uns“ oder „Wir“ dezentriert. (Tholen 2002: 9)

Nancy dekonstruiert die „Gemeinschaft“, er lässt ihr Wesen erodieren. Das Ergebnis – die „Mit-Teilbarkeit“ – wird von Tholen aufgegriffen. Im folgenden soll dieser Denkbewegung kurz nachgegangen werden, die von grundlegender Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist. Nancy beschreibt die Gemeinschaft als einen Raum der Alterität: Hier kann es nur Andere geben, die je als „Ich (je)“ auftreten – ein „Ich-Selbst (moi)“ ist hier nicht denkbar, es wäre das Subjekt, das sich selbstbestimmend der eigenen Andersartigkeit bzw. des Seins für die Anderen, das letztlich im Tod gipfelt, widersetzt.21 Die Gemeinschaft ist also immer „die Gemeinschaft der anderen“, sie ist keine Verschmelzung der Subjekte zu einem einzigen „Ich-Selbst (moi)“ oder zu 19 Zu dem bei Hans Blumenberg entliehenen Begriff der Metaphorologie s. Tholen (2002: 21 ff.) Blumenbergs Metaphorologie untersucht die Metaphern nicht nur als „Restbestände“ auf dem Weg vom „Mythos zum Logos“ sondern als „Grundbestände der philosophischen Sprache“, also als „Übertragungen“, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen (Blumenberg 1998: 10). 20 Tholen nimmt u.a. Bezug auf Nancys Abhandlung über Die undarstellbare Gemeinschaft (Nancy 1998) (Tholen 2002: 180-181 und 1999: 27). Interessanterweise ist der Begriff bei Nancy offenbar selbst Ergebnis einer Übertragung: Nancy verwendet im Original (Nancy 1990) den Term „partage“ (Teilung – Verteilung – Aufteilung), der in der deutschen Fassung mit der Neuschöpfung „Mit-Teilung“ übersetzt wird. 21 „Si la communauté est révélée dans la mort d’autrui, c’est que la mort elle-même est la véritable communauté des je que ne sont pas des moi“ (Nancy 1990 : 42).

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einem „höheren Wir“. Sie kann daher auch kein gemeinschaftliches Sein als Subjekt begründen, im Grunde schließt sie sich selbst aus – als Selbstidentität: Sie ist kein Projekt der Selbstwerdung – „sie ist überhaupt kein Projekt“ (Nancy 1988: 38). Was ist sie dann? Sie ist die Grenze des Subjekts: Wo das Subjekt auftritt, verschwindet der Andere (wird zum Gegenstand seiner Vorstellung, zum Objekt). Das Subjekt ist ein zentriertes Innen, im Subjektdenken muss das „Draußen“ das Andere der Objekte sein. Das Sein der Gemeinschaft setzt jedoch Formen des Mit-Seins, des Verstreut-Seins, bzw. des ‚eigenen‘ Draußen-Seins voraus. Kommunikation bedeutet dies – jedoch würde Kommunikation in einer Beziehung zwischen Subjekt und Objekt verschwinden, in der sich Subjekt und Subjekt unvereinbar gegenüberstehen. Für das Subjekt kann Kommunikation nur instrumentellen Charakter haben, das Subjekt, mit anderen Worten, kommuniziert nicht, es kann sich nicht mitteilen: Das Subjekt kann nicht außer sich sein: schließlich wird es ja sogar gerade dadurch definiert, daß sein ganzes Draußen, alle seine Formen der „Entäußerung“ und „Entfremdung“ letztendlich von ihm selbst beseitigt und in ihm aufgehoben sind. Das Sein der Kommunikation dagegen, das Mitteilend-Sein (und nicht das vorstellende Subjekt) oder – wenn man so weit gehen will – die Kommunikation als prädikative Bestimmung 22 des Seins, als „Transzendentales“, ist vor allem Außer-Sich-Sein. (Nancy 1988: 55)

Wo das Subjekt aufhört, anders ausgedrückt, beginnt die Gesamtheit des Seins, die singulären Existenzen, die nur in ihrem Nicht-für-sich-Sein, in ihrer dezentrierten Bezogenheit aufeinander in Erscheinung treten. Ihr Dasein verdankt sich der „Mit-Teilung“ der Gemeinschaft: Diese singulären Seienden werden jedoch selbst durch die Mit-Teilung konstituiert; sie werden durch die Mit-Teilung, die sie zu anderen macht, verteilt und im Raum platziert oder besser gesagt im Raum verstreut. Sie werden so füreinander jeweils andere und sind andere, unendlich andere für das Subjekt ihrer Verschmelzung, das in der Mit-Teilung, in der Ekstase der Mit-Teilung, verschwindet, und „mitteilt“, das es 23 nicht „vereint“. (Nancy 1988: 57)

Gemeinschaft, en somme, ist für Nancy kein höheres Subjekt, das aus der Verschmelzung mit sich selbst hervorgeht, sondern der heterogene Raum des singulär Seienden. Und Kommunikation ist kein Mittel zur Vereinigung, das

22 „Le sujet ne peut pas être hors de soi: c’est même en fin de compte ce que le définit, que tout son dehors et toutes ses »aliénations« ou »extranéations« soient à la fin par lui supprimés, et relevés en lui. L’être de la communication, au contraire, l’êtrecommuniquant (et non le sujet-représentant), ou si on veut se risquer à le dire la communication comme prédicament de l’être, comme »transcendental«, est avant tout être-hors-se-soi“ (Nancy 1990 : 62). 23 „Mais ces êtres singuliers sont eux-mêmes constitués para le partage, ils sont distribués et placés ou plutôt espacés par le partage que les fait autres. Autres l’un pour l’autre, et autres, infiniment autres pour le Sujet de leur fusion, que s’abîme dans le partage, dans l’extase du partage : »communiquant« de ne pas »communier«“ (Nancy 1990 : 64).

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Über-Einstimmung von Subjekten herstellt, sondern disparate Setzung der Daseine in diesem Raum: Diese „Orte der Kommunikation“ sind keine Orte der Verschmelzung mehr, auch wenn man dort von einem zum anderen übergeht; sie werden gerade durch ihr Auseinander bestimmt und exponiert. So wäre das Kommunizieren der Mit-Teilung diese 24 dislocatio selbst. (Nancy 1988: 57)

So weit zu Nancy – Tholen überträgt den Gedanken der gemeinschaftsvorgängigen „Mit-Teilbarkeit“ auf das wesenlose Sein der Medien. Es kann sich hierbei nur um eine Entsprechung (die durch die einfühlsame und für Tholens Reflexion sehr passende Übersetzung gefördert worden sein mag), nicht um eine Identität der Begriffe handeln. Tholen setzt in Nancys Überlegung nicht eine vermeintlich fehlende Apparatur ein sondern übernimmt die zentrale Denkfigur und macht so aus der Frage des Technischen eine philosophische Argumentation: Die Medien sind das mit-teilende Dazwischen, das auf uns als (gemeinschaftlich) Seiende zukommt. Der Zwischenraum der verstreuenden Kommunikation ist medial. Schon La Biblioteca de Babel veranschaulicht die un-heimliche Vorgängigkeit des Medialen (hier der Alphabetschrift bzw. des Buches): Sie ist das „Universum“, das die Menschen übersteigt. Ein ewiger Raum, ohne Ursprung, Mittelpunkt, Ende – kurz: ein unfassbar Zuvorkommendes: Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren Mittelpunkt ein jegliches Sechseck ist, deren Umfang unzugänglich ist [...] Die Bibliothek existiert ab aeterno. Diese Wahrheit, deren unmittelbares Korollarium die zukünftige Ewigkeit der Welt ist, kann kein verstandesbegabter Geist anzweifeln. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar, mag ein Werk des Zufalls oder böswilliger Demiurgen sein; das Universum, mit seiner eleganten Ausstattung an Regalen, an rätselhaften Bänden, an unermüdlichen Treppen für den Reisenden, und an Latrinen für den sitzenden Bibliothekar, kann nur das Werk ei25 nes Gottes sein.

Der Mensch ist selbst vom Medium durchsetzt in dem Sinne, als seine Existenz als „Bibliothekar“ auf das Buch ausgerichtet ist: Seine Welt, seine Wahrnehmung, sein Sinn findet sich draußen in den Labyrinthen der Bücherregale. Medien sind nicht als das Andere des Menschen zu verstehen, weder als Entfremdendes noch als Dienliches. Sie sind Funktion der Exzentrizität des Menschen, seiner Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst bzw. seines Außer24 „Ces »lieux de communication« ne sont plus les lieux des fusion, bien qu’on y passe de l’un à l’autre ; ils sont définis et exposés par leur dis-location. Ainsi, la communication du partage serait cette dis-location elle-même“ (Nancy 1990 : 64). 25 „La Biblioteca es una esfera cuyo centro cabal es cualquier hexágono; cuya circunferencia es inaccesible [...] La Biblioteca existe ab aeterno. De esa verdad cuyo corolario inmediato es la eternidad futura del mundo, ninguna mente razonable puede dudar. El hombre, el imperfecto bibliotecario, puede ser obra del azar o de los demiurgos malévolos; el universo, con su elegante dotación de anaqueles, de tomos enigmáticos, de infatigables escaleras para el viajero y de letrinas para el bibliotecario sentado, sólo puede ser obra de un dios“ (Borges 1989: 466).

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Sich-Seins. Deutlich wird, dass Tholens Philosophie der Medien nicht nur das Medium (‚das andere Subjekt‘) dekonstruiert sondern auch den Menschen (‚das eigentliche Subjekt‘). Der politische Begriff der Gemeinschaft als kollektive Selbstidentität – darauf wird gegen Ende der Studie ausführlich einzugehen sein – entpuppt sich selbstredend als Mythos, insbesondere in der Moderne, der sich nicht zuletzt einer Abwehrbewegung gegenüber der Gesellschaft als Phänomen der Zersplitterung des Gemeinwesens verdankt (Nancy 21990: 29). Viele politische Utopien lassen sich daher als Versuche deuten, die Gemeinschaft „phantasmatisch“ zu vergegenwärtigen (Tholen 1999: 27). Zu reformulieren ist, wie angedeutet, auch das Konzept der Kommunikation, das ja in seiner landläufigen Fassung als Voraussetzung einer solchen Vorstellung der Einswerdung der Gemeinschaft mit sich selbst dient: Das Postulat der unmittelbaren Verständigung zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern lässt sich auf das Face-to-face-Modell der Kommunikation zurückführen, das der körperlichen Präsenz der Kommunikationsteilnehmenden eine unvermittelte Übereinstimmung zuschreibt. Es insistiert damit auf der Selbstidentität des menschlichen Subjekts als Ursprung und Hort von Sinn, den die Kommunikation bestenfalls transportiert, und, wenn nicht gar verfälscht, so doch stets gefährdet. Auf das mediale Dazwischen der Kommunikation weist jedoch bereits die gemeinschaftsstiftende Überwindung der angenommenen Körpernähe durch die Netzmedien hin (Tholen 2002: 22). Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Begriff des Mediums – als selbstentziehende Rahmung des symbolischen Handelns – nicht mit essentialistischen Bezügen zu fassen ist. Anthropologische bzw. instrumentelle Medienkonzeptionen überwiegen jedoch in den Studien zur Medienkultur. Dass dies nicht zuletzt mit Kränkungen der menschlichen Eigenliebe durch die Technik zu tun hat, belegt Tholens Beobachtung einer Renaissance der lebensphilosophischen Kulturkritik, wie sie zu Beginn des 20. Jh. formuliert wurde, in der Medientheorie gegen Ende dieses Jahrhunderts. Es handelt sich, so schreibt er, um eine „Rhetorik des Verlustes eines unmittelbaren oder gar ursprünglichen Lebens“, die die Technik als unnatürlich verurteilt (Tholen 2002: 19). Zu verstehen sind diese „Abwehrgesten“ als Versuch, das Vertraute des Menschen in seiner vermeintlichen Wesenhaftigkeit zumindest konzeptionell gegen das Unbestimmte der technischen Medien zu behaupten. In der Folge wird das angeblich selbstgegenwärtige menschliche Eigene gegen das Andere der Technik in Stellung gebracht. Die Mediatisierung von Kultur und Gesellschaft kann dann – gefasst als Entfremdung – in selbstsichere Reflexionsformen zurückgeführt werden. Das ist also, zusammenfassend, das zentrale Thema von Die Zäsur der Medien: die postmoderne Frage nach dem Ort der technischen Medien (169). Es handelt sich um eine Frage, die angesichts der historisch beispiellosen Beschleunigung der medialen Entwicklungen in den Mittelpunkt der Zeitdiagnosen geriet. Das vorangehende Kapitel hat gezeigt, wie rekurrent die Bemühungen sind, das Subjektdenken angesichts des Einbruchs der technischen Medien in Kultur und Leben aufrecht zu erhalten: Der Anthropomorphismus ist der Medientheorie mit McLuhan in die Wiege gelegt. Die Fremdheit der Technik wird hier an die menschlichen Sinne angedockt, was nicht ohne Verluste, „Amputationen“ des Menschlichen vonstatten geht. Die metaphysische Präsenz des Körpers grundiert die Medientheorie seitdem, und es macht in dieser 35

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Hinsicht nur wenig Unterschied, ob sie euphorische Ausgestaltungen – wie bei McLuhan – oder (sog.) apokalyptische – wie bei Baudrillard oder Postman – annimmt.26 Beide Varianten des Argumentationsmusters sind kurioserweise bei Flusser zu finden. Ausgangsprämisse ist der Gegensatz Mensch – Medien aber ebenso bei Kittler, der den Verlust des Subjektstatus vom Menschen auf die Technik hinübergleiten sieht. Instrumentelle Ansätze unterwerfen die Medien der Verfügungsgewalt des Menschen als Mittel und Zweckeinsatz und restituieren mit dem impliziten Gegensatz zwischen dem menschlichen Selbst und dem Anderen der Technik den hoheitlichen Subjektstatus des Menschen. Veranschaulicht wird dies von Giesecke in seiner kommunikationstheoretischen Untersuchung über den Wandel in der Informationsverarbeitung, der die Medien dienen.27 Was mit anderen Worten in der heutigen Medientheorie auf dem Spiel steht, ist angesichts der Irritationen des menschlichen Selbstverständnis durch die Medien eine Neubestimmung des Technischen – und des Menschlichen. Hierum geht es bei der epochalen Frage nach dem Ort der Medien. Die Medien wurden oben bereits als verwendungsoffene und vorgängige Mit-Teilbarkeit umschrieben. Was und wem gehen aber die Medien voraus? Dem symbolischen Handeln, wie schon dargelegt wurde, der Sinnstiftung also, der Gemeinschaftlichkeit, dem Wir – dem Menschen tout court. Im Rückgriff auf Heidegger – allerdings in Umgehung seines Gegensatzes von Natürlichkeit und Künstlichkeit – gilt es die Technik philosophisch zu problematisieren als „teleologisch nicht vorentschiedene Artefakt[e]“, als einem „transhumanen und unvordenklichen Ereignis [...], das den Geltungsbereich von Mittel und Zweck verlässt“ (171). Schon Heidegger sieht das Wesen der Technik nicht in der Instrumentalität sondern im Ge-Stell, das den Menschen herausfordernd stellt, und so erscheint die Verschränkung des Menschlichen und Technischen bereits denkbar: „denn so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht“ (Heidegger 91996: 32). Was Tholen betreibt, ist in Anlehnung an Ulrich Sonnemann eine negative Anthropologie: Geschichtskritik und „Ideologiezerstörung“ im Sinne des Nachweises, dass es keine (positive) Anthropologie ohne Selbstwiderspruch geben kann, und dass sich das Humane höchstens aus seiner „Verleugnung und Abwesenheit“ erschließen lässt (Sonnemann 1969: 227-269).28 Hier bedeutet negative Anthropologie, Abstand zu nehmen vom narzisstischen Verfügungsstolz des Menschen über die Technik (vgl. Tholen 1998: 71 und 2002: 9). Das Technische wird demgegenüber gleichsam in das Menschliche hineingeholt und das 26 Vielfach ist in dieser Hinsicht der religionsnahe Charakter einiger medientheoretischer Ansätze hingewiesen worden. Bekannt ist der christliche Charakter der visionären Mediengesellschaft bei McLuhan (vgl. u.a. Tholen 1998: 71), aber ebenso deutlich ist die christliche Identität des Menschen bei Postman. 27 In einer ‚zweiten‘ Metaphorologie untersucht Tholen die Metaphorik, derer sich zeitgenössische Medientheorien bedienen und zeigt dabei insbesondere das Wiederaufleben des Subjektdenkens in der Postmoderne entweder als Abwehr gegen das Technische oder als dessen Triumph (Tholen 2002: 19-43 u. 174-189). 28 „Die Stunde der Historie als Kritik ist die von Anthropologie als negativer, weil diese selbst, die in jener ihren Horizont hat, damit Kritik ihres Gegenstands wird: durch deren Mittel die Menschen, was jene Negativität wiederum ausdrückt, erst werden“ (Sonnemann: 1969: 227).

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Menschliche gleichzeitig in das Technische hinausgetragen. Ohne entfremdet zu werden, wird der Mensch technisch und fremd. Er verliert, anders ausgedrückt, seine vorgebliche Selbstübereinstimmung. Sein selbstgegenwärtiges Zentrum zerstreut sich auf das Äußere der Technik, das ihm immer schon zuvorkommt und ihn mitkonstituiert. Als animal symbolicum (Ernst Cassirer) ist das ‚Wesen‘ des Menschen kulturell und somit technisch. Somit wird anschaulich, um welche Zäsur es Tholen im Grunde geht. Nicht die Umbrüche in der Medienkulturgeschichte sind sein primäres Anliegen. Diese lässt er nicht außer Acht, aber sie dienen ihm als Ausgang zur Erschließung einer weiteren Dimension: Anlässlich der zunehmenden Bedeutung und Aufmerksamkeit, die den Medien und Kunst, Kultur und Gesellschaft zukommen, ist der mediale Einschnitt primär epistemologisch zu verstehen als tiefreichender Bruch im Selbst-Verständnis des Menschen, der sich nun mit seiner technischen Fremdkonstituiertheit konfrontiert sieht. Der an Foucaults archäologisches Denken der Diskontinuitäten angelehnte Begriff der Zäsur rückt – lineare Vorstellungen der Zeit aufbrechend29 – abrupte Bewegungen historischer Formationen in das Blickfeld. So erlaubt er, Umbrüche in den diskursiven Voraussetzungen des Menschen in Augenschein zu nehmen. Um welchen epistemischen Bruch handelt es sich also angesichts der technischen Medien? Die Zäsur der Medien lässt die Vorgängigkeit der Medien, das „historische Apriori des Technischen“ in die Rede vom natürlichen Menschen einbrechen und erschüttert dadurch Vorstellungen vom ursprünglichen Leben, von der eigentlichen Wirklichkeit. Die Vorstellungen einer vormedialen Welt, eines übermedialen Sinns, einer außermedialen Identität erscheinen damit als Abwehrgesten gegenüber den Blessuren der Medien. Zäsuren der Medien betreffen Mensch und Kultur in ihrem Innersten und konstituieren sie. Mensch und Welt erscheinen als medial zäsuriert. Die mediale Zäsur des Menschen zeigt sich, oder besser: verbirgt sich in der Wahrnehmung, deren paradoxe Möglichkeitsbedingung sie ist. Es geht um den Nachweis, dass es so etwas wie eine unmittelbare menschliche, ‚natürliche‘ Wahrnehmung nicht gibt. Die Kulturkritik der Medien, die den Raub der Wahrnehmung durch die Medien anklagt, läuft insofern immer schon ins Leere. Statt den Verlust der Wahrnehmung zu beklagen, gilt es, den Verlust in der Wahrnehmung zu beschreiben, der für diese jedoch konstitutiv ist. Erst davon ausgehend, lässt sich, so das Anliegen Tholens, eine Topologie des Imaginären erstellen mit dem Ziel, „den unsichtbaren Rand der mediengeprägten Bild- und Blickverhältnisse zu verorten“ (Tholen 2002: 12).30 Das Sichtbare d.h. die Blickordnungen und Dispositive des Sehens, lassen sich, so die grundlegende These, ohne Analysen dessen, was zu sehen gibt und sich dabei dem Sehen entzieht, nicht erfassen. Angesichts einer zunehmend visuell geprägten Welt geht es daher paradoxerweise zuvörderst um die Spuren des Nichtsichtbaren. 29 Die „Zäsuren der Zeit“ werden im Zuge des epistemologischen Einbruchs der Medien ausführlich diskutiert. Dabei geht es um die Frage nach dem „Entzug oder Abgrund einer Unzeit, welche die lineare oder zyklische Zeitvorstellung unterbricht“ (Tholen 2002: 125). 30 Der Ausdruck „Topologie des Imaginären“ verweist bereits auf die Nähe zu Jacques Lacans Denken, der in Les écrits techniques de Freud eine topique de l’imaginaire skizziert (Lacan 1975).

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Dieses „Plädoyer für das Unsichtbare“ gründet auf einer radikalen Verunsicherung gegenüber den Dingen, deren fundierende Perzeption von befremdlichen Rissen durchsetzt ist. Was das Sehen ermöglicht, ist der selbstentziehende Blick, d.h. dass sich die Präsenz des Phänomenalen einer konstitutiven aber rätselhaften Absenz verdankt. Der Blick ist dem Menschen fremd, seine Alterität unterbricht den das Selbst bestätigenden Zugriff auf die Welt. Keine Technik kann dem Menschen nehmen, was nicht sein Eigen ist, worüber er nicht verfügt: „Der Blick des Menschen läßt sich nicht ersetzen oder maschinisieren, weil er weder anthropologisch noch instrumentelltechnisch zu verorten ist“ (13). Worum es geht, ist die „Spaltung zwischen Auge und Blick“ (Lacan 1978b: 73-84 bzw. 1973: 65-74), deren Verkennung die Unmittelbarkeit der menschlichen Wahrnehmung präjudiziert und so im »Medienzeitalter« „Verlustrechnungen“ aufmacht, die das Dominium des Menschen durch technische Medien kolonisiert sehen. Maurice Merleau-Ponty ging in Le visible et l’invisible über die Phänomenologie des Visuellen hinaus und wandte sich der „Abhängigkeit des Sichtbaren“ zu. Diese „Abhängigkeit von dem, was uns unter das Auge des Sehenden stellt“, interessiert Lacan. Das Auge ist aber nur das „Sprießen des Sehenden“, etwas geht ihm voraus: die „Präexistenz eines Blicks – ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt“ Lacan 1978b: 78).31 „Präexistenz“ des Blicks bedeutet, dass menschliche Wahrnehmung draußen ist, im vorausgehenden Angeblickt-Sein durch die Dinge. Mehr noch, den Phänomenologen ist es gelungen, mit Präzision und auf eine Verwirrung stiftende Art und Weise zu artikulieren, daß es völlig klar ist, daß ich draußen sehe, daß die Wahrnehmung nicht in mir ist, daß sie auf den Gegenständen ist, die sie 32 erfasst. (Lacan 1978: 87, Übersetzung abgeändert)

Warum aber, und das ist die Frage, die sich Lacan ausgehend von diesem Befund stellt, ist es jedoch so, dass wir wähnen, unser Bewusstsein nähme die Welt wahr, als ob es darauf Besitzansprüche stellen könnte? Woher kommt die scheinbare „Immanenz des ich sehe mich mich sehen“ (87)? Auf welche Weise richtet sich das Subjekt in der Wahrnehmung ein? Die Antwort liegt im Blick, der „Kehrseite des Bewußtseins“ (90): Angesprochen ist hiermit das, was Freud mit „Schautrieb“ bezeichnete, also den Trieb, der „am vollständigsten die Unvollständigkeit“ (die Kastration) umgeht. Das Begehren richtet sich deshalb so hartnäckig auf den Blick, weil er jeglicher Gegenständlichkeit entbehrt, er ist „das loslösbarste Objekt des Begehrens“ (Tholen 2002: 88). Das Subjekt kann sich deshalb auf so stabile Weise im Blick verkennen, weil er nicht zu fassen ist: Er [der Blick] wird daher mehr als jedes andere Objekt verkannt, und vielleicht ist auch dies Grund, weshalb das Subjekt so gerne den ihm eigenen Zug des Schwindens und 31 „Ce qu’il s’agit de cerner, [...] c’est la préexistence d’un regard – je ne vois que d’un point, mais dans mon existence je suis regardé de partout“ (Lacan 1973-69). 32 „Bien plus, les phénoménologues ont pu articuler avec précision, et de la façon la plus confondante, qu’il est tout à fait clair que je vois au-dehors, que la perception n’est pas en moi, qu’elle est sur les objets qu’elle appréhende“ (Lacan 1973 : 76).

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Medien und die Zäsuren der Kultur der Punktualität in der Illusion des Bewußtseins, sich sich sehen zu sehen, symboli33 siert, in der der Blick elidiert wird. (Lacan 1978: 90)

Dem Blick, so Lacan schon einige Jahre vor seinen Ausführen zum Blick als „Objekt klein a“, kommt eine wesentliche Funktion in der Konstitution des Subjekts zu. Nicht nur identifiziert sich das Subjekt mit dem Blick – und nichtet ihn derart –, sondern im Blick vollziehen sich auch Identifikationsprozesse mit dem Angeblickten. Hier geht es um die imaginäre Funktion des Blicks. Als Ausgangspunkt können die Paradoxe der sehenden Blindheit und der »Blindheit bei sehendem Auge« (Sigmund Freud) dienen. Das Sehen kann sich, so lässt sich folgern, nicht in der physiologischen Umsetzung von Licht in Nervenimpulsen durch das Auge erschöpfen. Etwas interveniert im Sehen. Es handelt sich um das Problem des Narzissmus, an dem Lacan die Funktion des Imaginären veranschaulicht. In seiner vieldiskutierten Theorie des Spiegelstadiums wird die Konstitution des Selbst als ein visuelles Problem erörtert, was die grundlegende Bedeutung der Visualität für den Menschen deutlich macht. Jedoch ist diese visuelle Wahrnehmung kein reines Sehen bzw. keines, mittels dessen sich das Bewusstsein selbstvergewissert. Angesichts der Grunderfahrung des Mangels des Selbst vermeint das Kind, diese Unvollständigkeit durch das Sehen seines Spiegelbildes überwinden zu können. Im Blick auf das Spiegelbild identifiziert es sich mit dem, was er sieht, bzw. imaginiert seine Ganzheit als Subjekt unter Ausblendung der fundamentalen Nicht-Übereinstimmung des Selbst. Der Blick, mit anderen Worten, gibt das Sehen frei, durchsetzt es aber mit seinen – imaginären – Vorgaben. Das Subjekt sieht sich, ‚findet‘ sich außer sich, im Spiegel – in einem Medium – im „Medium des Anderen“. In seiner (dif-)fundierenden Nichtübereinstimmung mit sich selbst bleibt es auf den Anderen angewiesen und sucht sich nicht nur im Anderen des Spiegelbildes sondern wird sich auch immer im Anderen des zwischenmenschlichen Gegenüber suchen, dessen Vollständigkeit es voraussetzt. Es geht so aus dem Widerspruch zwischen mangelhaftem Sein und „uneinholbarer Vorgabe“ des Anderen hervor (Tholen 2002: 75). Diese Kluft ist der Spielraum des Imaginären, das die Identifikation des Ich mit dem Spiegelbild unter Ausblendung seiner Andersheit vollzieht. Wirksam wird das Imaginäre im Blick: Einer Selbstpräsenz entbehrend antizipiert sich das Subjekt im Blick auf den Anderen und im Blick des Anderen, d.h. es nimmt sich selbst im Blick vorweg als noch nicht „daseiender Zustand“ und differiert so von sich selbst in der prekären Zeitlichkeit einer „Vor-Zu-Kunft“ (84). Der Modus des Subjekts ist kein Sein sondern ein Werden, das imaginär immer schon unvollständig in den komplexen Identifikationsprozessen übersprungen wird, die sich im Augen-Blick abspielen. Im Blick arbeitet die Mangelhaftigkeit des Ich an ihrer unzureichenden Überwindung, in ihm sucht es seine „ab-gründige Spaltung“ zu umgehen (88). Was Tholen auf der Spur ist, ist mit den Worten Lacans kein Pfad „zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem“ (Hervorhebung d. Verf.), der an den Grenzen von Instanzen entstünde, die die Welt dem Menschen aufnötigt. Das 33 „C’est pour cela qu’il est, plus que toute autre objet, méconnu, et c’est peut-être pour cette raison aussi que le sujet trouve si heureusement à symboliser son propre trait évanouissant et punctiforme dans l’illusion de la conscience de se voir se voir, où s’élide le regard“ (Lacan 1973 : 79).

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„Sehfeld“ wird vom Blick aufgetan, „gestoßen gleichsam durch unsere Erfahrung: jener konstitutive manque / Fehl der Kastrationsangst“ (Lacan 1978b: 79).34 Der Blick stellt das Sehen, er rahmt den Horizont und hat dabei selber kein Sein, das in Erscheinung treten könnte. Tholen folgert hieraus die Notwendigkeit, das seit der Antike und mindestens bis zur Moderne gültige „Bild-Denken“ zu diskutieren bzw. den Referenzcharakter des Bildes radikal in Frage zu stellen, den die Auffassung einer wahrnehmbaren Objektwelt aufdrängt. Das Bild ist als Ergebnis der primordialen Spaltung zwischen Auge und Blick neu zu denken und zu hinterfragen. Mit Jacques Derrida plädiert er für einen „ab-okularen Begriff des Bildes“ (Tholen 2002: 15), der seiner dem Auge vorgängigen Rahmungsfunktion des Sichtbaren Rechnung trägt: „Das Bild, das die imaginäre Anschauung einrahmt, übersieht gleichsam diesen Rahmen als nicht-sichtbaren Horizont, dem sie sich doch verdankt“ (75-76). Erst auf der Grundlage einer solchen Topologie des Imaginären – so argumentiert Tholen – kann die Verortung historischer Blick- und Sehräume angegangen werden. Das Ziel ist, auf diese Weise die Macht von Blickordnungen und ihren vor-bildenden Subjektkonstitutionen zu erfassen. Tholen verweist auf die Faszination des filmischen Sehens, die ideologieoder kulturkritisch nicht zu erfassen ist, und die sich als zentrales Thema der Filmanalyse anbietet. Die „halluzinatorische Funktion des Films“ (88) erschließt sich in der Untersuchung des filmischen Blicks, den das Kino generiert. In ihm entfaltet sich eine neuartige Dimension des Imaginären, in der das Subjekt Ansätze zu Identifikationsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen findet. Daran anknüpfend geht es darum, einen televisionären Blick zu erörtern (147). Am Genre der Talkshow setzt Tholen dies in die Tat um als „Diskursanalyse des panoptischen Blicks“ (147-168). Daran anknüpfend soll in der vorliegenden Arbeit an einer anderen Gattung, der Telenovela, gezeigt werden, welcher Art die Blickregimes sind, die das Fernsehen eröffnet. Zunächst genüge jedoch, zusammenfassend zu verdeutlichen, dass audiovisuellen und digitalen Medien dem Menschen keinen Blick aufzwingen, indem sie einen anderen verdrängten, der ihm eigen wäre. Wie hängt aber die Frage nach den technischen Medien in concreto mit der uneinholbaren Fremdheit des Blicks zusammen? Ein Vorschlag: Die Medien setzen an der Zäsur des Menschen ein, in diesem seinem unabschließbaren Selbstaufschub. Die Frage nach den Medien stellt sich also vom ortlosen Einschnitt des Blicks her: In seinem nichtsichtbaren Aufriss des sichtbaren Horizonts eröffnet dieser den Zwischenraum des Medialen. Hier, im uneinholbaren Zwiespalt jener Wahrgebung kommt das Medium mit-teilend dazwischen. In seiner konstitutiven Alterität ist dem Mensch die Verwiesenheit auf das Andere der Medien und dem Medium des Anderen vor-gegeben. Die Frage nach der Technizität der Intervention in der dem Menschen uneigenen Wahrnehmung ist, so wäre zu folgern, nicht die entscheidende. Es stellt sich nicht primär die Frage nach der Materialität, die jene schließlich ermöglicht, sondern eine nach jenem vorgängigen Spalt, der die Technik aufruft.

34 „Le regard ne se présente à nous que sous la forme d’une étrange contingence, symbolique de ce que nous trouvons à l’horizon et comme butée de notre expérience, à savoir le manque constitutif de l’angoisse de la castration“ (Lacan 1973 : 69-70).

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Der Dekonstruktion der Wahrnehmung kommt, anders ausgedrückt, angesichts der wuchernden Entfremdungskritik bzw. der Apologie der Medien die evidente Funktion zu, die Debatte auf ein anderes Feld zu lenken. Es steht keine aisthesis der Medien an, die Anzeige erstattet über Wahrnehmungsmodi, die die Medien dem Menschen aufnötigt. Vielmehr ist anzuerkennen, dass die Wahrnehmung kein Hoheitsgebiet des Subjekts ist. Die Wahrnehmung ist, im Gegenteil, der imaginäre Raum des Subjekts, in dem sich dieses unaufhörlich (fremd-)konstituiert. Dies könnte also der Gegenstand der Medienwissenschaft sein: die Untersuchung der immer schon prekären Subjektimaginationen in medial zäsurierten Wahrnehmungen. Oder mit anderen Worten: Zu analysieren wären nicht die Bedrohungen des Subjekts durch die Medien sondern die Subjektivationen, die sich im medialen Wahrnehmungsfeld zu ereignen drohen.

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3. Intermediale Gattungspassagen

3.1 Wendungen und Windungen Die Medien sind ins Zentrum der Kulturtheorie gerückt. Mit unterschiedlicher Gewichtung werden sie mit den sich beschleunigenden Brüchen der kulturellen Wissensformationen in Verbindung gebracht. Eines der wichtigsten Themen der Debatte ist die Passage von schriftlich geprägten Kulturen zu visuell codierten bzw. von typografischen Bedingungen der Aussagbarkeit zu audiovisuellen und digitalen. Dieser „epochemachende Paradigmenwechsel“ (Schnell 2000: 10) führt dazu, dass die Kulturtheorie als Medienkulturtheorie im vielfältigen Phänomen des Bildes einen primordialen Untersuchungsgegenstand findet. Wie ich dargelegt habe, ist angesichts der Frage nach dem sozialen Wissenssystemen in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit einigen Jahren die Rede von einem cultural turn. Aber scheinbar wenden sich die Wissenschaften immer häufiger und schneller, wofür eine Serie anschließender turns spricht: Die Frage nach der Entstehung von Wissen und Sinn bildet ein transdisziplinäres Interesse, das von einem cognitive turn zu sprechen veranlasst (vgl. Fuller/De Mey/Shinn/Woolgar 1989).1 Im Kontext des Vorwaltens des Visuellen ist der iconic turn von besonderem Interesse, der sich ebenso bemüht, den linguistic turn abzulösen, sich dabei jedoch auf den zuvor datierten pictorial turn beruft.2 Offensichtlich ist die kulturelle Wende methodisch nicht ausreichend, um die Eigenart der bildlichen Sinnstiftungsprozesse in ihrer kulturellen Reichweite angemessen erfassen zu können. Andererseits macht die oben angedeutete Diskussion deutlich, dass das Aufkommen der technischen und bewegten Bilder nicht den einzigen tiefwirkenden Umbruch in den europäisch geprägten Kulturen markieren: Erika Fischer-Lichte beobachtet beispielsweise einen performative turn im 20. Jahrhundert und meint damit, dass zunehmend „theatralische“ bzw. nicht-diskursive Formen der Be1

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Angemerkt sei lediglich, dass neben den anschließend zu diskutierenden turns bereits weitere kultur- und sozialwissenschaftliche Wenden ausgerufen wurden, wie etwa der spatial turn, der die Kategorie des Raums in das methodologische Zentrum rückt (s. Döring/Thielmann 2009), oder der translational turn, für den insbesondere Doris Bachmann-Medick wirbt angesichts der beschleunigten sozialen und kulturellen Migrationen im globalisierten Zeitalter (Bachmann-Medick 2008 und 2009). Siehe Gottfried Boehm (1994), der sich an Jean Baudrillard (1981) anlehnt. 2004 erschien der Sammelband Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder (Maar/Burda 2004), in dem Boehm eine überarbeitete Fassung seines Konzepts vorlegt (Boehm 2004). Aufschlussreich in diesem Band ist auch der Beitrag von Horst Bredekamp (2004).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

deutungsschöpfung kulturelle Praktiken bestimmen und infolgedessen wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen (Fischer-Lichte 2004: 45, 317).3 Dem entspricht die Tätigkeit des Sonderforschungsbereiches 447 „Kulturen des Performativen“, in dem verschiedene Disziplinen performative turns in historischer Perspektive untersuchen,4 und deren Sprecherin FischerLichte war. Aber was ist dann generell mit dem Medialen? Ist es nicht auch eine Wende wert? Doch, würde Sybille Krämer antworten, die von einem media turn spricht. Krämer hat sich ebenfalls in der Debatte um Performativität hervorgetan, aber sie will mit ihrem Begriff deutlich machen, dass eine allgemeine, d.h. nicht an Einzelmedien gebundene „Umakzentuierung“ in bezug auf die Medien in den unterschiedlichen Disziplinen im Gange sei. Das gemeinsame Anliegen sei hierbei die Erörterung des grundsätzlichen Zusammenhangs zwischen Medium und Sinn (Krämer 1998: 73-74 und 2004: 22 sowie Krämer/Bredekamp 2003: 14).5 Für den medienorientierten Fokus stehen selbstredend die oben diskutierten kulturtheoretischen Positionen. Sie legen jedoch nicht nur darüber Zeugnis ab, wie disparat die methodischen Ansätze sind, das Phänomen der Medienkultur zu fassen, was im Grunde kaum überraschen mag. Sie verweisen auch darauf, dass die Frage der Medien nicht ein einfaches kulturwissenschaftliches Thema unter anderen ist sondern das wissenschaftliche Denken selbst herausfordert und wenigstens teilweise zur Diskussion stellt. Zum Einen führen sie in den Bereich des „Nicht-Hermeneutischen“. Mit diesem Begriff beschrieb Hans Ulrich Gumbrecht Mitte der 1990er Jahre den Zielpunkt einer „Umorientierung“ der Geisteswissenschaften, die sich tendenziell von der Interpretation als primordiale Methode zur Erfassung von Sinn losgelöst habe. Stattdessen seien zwei Fragen in ihren Mittelpunkt gerückt: Einerseits gehe es um die Bedingungen der Möglichkeiten von Sinn und zum anderen um die sinnlichen Dimensionen der Wahrnehmung (Gumbrecht 1996: 17-18). Beide Fragen sind, wie unten weiter ausgeführt wird, für die vorliegende Arbeit von grundlegender Bedeutung. Die Dekonstruktion des Subjekts, so wäre hinzuzufügen, stellt den hermeneutischen Ansatz der 3 4

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Hierzu vgl. Uwe Wirth (2002: 10), der einen performative turn in den Kulturwissenschaften erkennt. Vgl. den Untertitel des SFB („»Performative Turns« im Mittelalter, in der frühen Neuzeit und in der Moderne“) und seine Konzeption in der Internetdarstellung (http://www.sfb-performativ.de/index.html, zuletzt aufgesucht 16.04.2010). Stefan Münker erkennt einen „medial turn“ und meint damit, dass insbesondere die Philosophie seit Mitte des 20. Jahrhunderts begonnen habe, sprachphilosophische Probleme medientheoretisch zu hinterfragen. Er nennt dafür „exemplarisch“ den Namen Jacques Derrida, was zweifelsfrei nahe liegt, aber weiterer Ausführungen wert gewesen wäre. Medienphilosophie bedeutet für Münker Ausrichtung der Philosophie auf die Gegenwart, die vom Übergang auf die Informationsgesellschaft geprägt sei. Gefordert sei sie hierbei insofern, als die Medien „unser Selbst- und Weltverhältnis“ neu zu ‚buchstabieren‘ beginnen, wie man den Gedankengang etwas frei und zugegebenermaßen anachronistisch resümieren könnte. Dies zeige sich (angesichts der Konstruktion virtueller Lebenswelten) am Brüchig-Werden des vor-digitalen Realitätsbegriffs (Münker 2003: 17-20). Leider verharrt diese Medienphilosophie somit bei der Reflexion einzelner Begriffe, anstatt die grundlegende Zäsur des Medialen anzugehen (ähnlich auch Roesler 2003).

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Intermediale Gattungspassagen

Ausdeutung und Fest-Stellung von Sinn von vorneherein in Frage. Hermeneutisch jedenfalls ist Medienkultur nicht zu fassen, da es nicht mehr um Botschaften geht, hinter deren Ausdruck sich eine tiefer liegende Bedeutung verbürgt. Zum Anderen macht die wissenschaftliche Ausrichtung auf die Medien, wie oben ausgeführt, das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Technik zum beherrschenden Thema. Diese Herausforderung wird ergibt sich nicht zuletzt durch das unverhoffte Wiederauftauchen einer typischen Denkfigur der Moderne, der Kulturkritik, inmitten in der postmodernen Bilderflut. In den Fängen des Subjektdenkens – dies ist die These – kann das Faszinosum und der Siegeszug der technischen Medien nicht erklärt werden. Denn die Kulturkritik vermag Umbruchphänomene eindrücklich und aufmerksam zu beschreiben, aber sie macht nicht plausibel, warum die Menschen es sich nicht nehmen lassen, sich mit Lust zu entfremden. Anders als unter Vorbehalt gegenüber der kategorialen Trias Subjekt – Wahrnehmung – Wirklichkeit können die grundlegenden Machteffekte nicht aufgezeigt werden, die sich mit der Lust des Schauens, Hörens – und Lesens verbinden.

3.2 „Nicht meins meins,, nicht meins ist, was ich schreibe“ Die Medien stehen im Brennpunkt der Kulturtheorie, aber sie sind nicht das neue Subjekt der Kulturgeschichte. Wie wir sahen, war die Versuchung, mit ihnen – auf Kosten des Menschen – die Geschichte zu erklären, immer wieder groß. Eine Medienkulturtheorie, die derartige Aporien zu vermeiden sucht, hat als Ausgangspunkt, die Medien in die Komplexität der kulturellen Sinn- und Unsinnstiftung mit einzubeziehen. Der Schnittpunkt Mensch bleibt der Geschichte erhalten, jedoch weder als Objekt noch als Subjekt. Nicht historisch entfremdet sondern heimatlos fremd, kommt ihm das Andere immer schon zuvor. Daraus kann nur gefolgert werden, dass dieses ex-zentrische Wesen als Ursprung von Sinn nicht in Frage kommt. Auch der Ort des Sinns ist draußen, im Bereich des Anderen. Der Mensch ist kein originärer Schöpfer, auch beispielsweise in der Literatur nicht, die spätestens seit der Moderne etwa mit Fernando Pessoa die Kategorie der Schöpfung und ihr Emblem, den Autor, selbst zum Gegenstand der Fiktion gemacht hat. Diese Literatur stellt unaufhörlich dar, dass sie sich dem Anderen verdankt, dass hinter ihr kein einheitliches Ich steht, das sie hervorbringt, denn dieses Ich ist längst zerfallen. Faszinierend zum Ausdruck gebracht findet sich dies in der Heteronymie, der Fremdschreibung einer Vielzahl anderer Autoren, deren sogenannte Hauptheteronyme nur die bekanntesten sind, und die Fernando Pessoa zum autonomielosen Rest-Ich schrumpfen lassen. Wie dieses RestIch schreibt, ist es nicht in der Lage, ein Urheberrecht auf das zu erheben, was es schreibt: Nicht meins, nicht meins ist, was ich schreibe. Wem verdanke ich es? Wessen geborener Bote bin ich? Warum, irregeleitet,

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Telenovelas und kulturelle Zäsur Wähnte ich meines, was meines war? Welcher Andere gab es mir? [...]6

Zur Bestimmung dieses vielgestaltigen Anderen, dem sich die soziale Sinnbildung in einem historischen Moment schuldet, hat Foucault mit dem Begriff der diskursiven Formation einen wichtigen Beitrag geleistet. Wie bereits ausgeführt, geht es hierbei um die Möglichkeitsbedingungen des Aussagens, denn die Gegenstände sind nicht gegeben sondern müssen erscheinen, es muss ihnen zuvörderst ein Platz zugewiesen werden – durch den Diskurs, der sie streut. D.h. dass der Diskurs als Gesamtheit der Regeln des Erscheinens der Gegenstände als das zu verstehen ist, was den Dingen in der Widersprüchlichkeit ihrer Sichtweisen Raum gibt.7 Das bedeutet, daß man nicht in irgendeiner Epoche über irgendetwas sprechen kann; es ist nicht einfach, etwas Neues zu sagen; es genügt nicht, die Augen zu öffnen, Obacht zu geben, sich bewußt zu werden, damit neue Gegenstände sich sofort erhellen und auf ebener Erde ihr erstes Leuchten hervorbringen. (Foucault 1981: 68)

Die Diskursanalyse begegnet hier der phänomenologischen Dekonstruktion der Wahrnehmung, insofern als sie deutlich macht, dass Wirklichkeit nichts ist, was vor-gegeben seiner Ent-Deckung als Objektwelt durch die Bewusstwerdung des Subjekts harrte: [...] der Gegenstand wartet nicht in der Vorhölle auf die Ordnung, die ihn befreien und ihm gestatten wird, in einer sichtbaren und beredten Objektivität Gestalt anzunehmen; er ist sich selbst nicht präexistent, von einem Hindernis zurückgehalten an den ersten Ufern des Lichts. Er existiert nur unter den positiven Bedingungen eines komplexen Bündels von Beziehungen. (Foucault 1981: 68)

Im Gegensatz zur Phänomenologie sucht die Diskursanalyse nach dem historischen Apriori. In diesem Zusammenhang macht Foucault auf den „materiellen Status“ einer Aussage als eine ihrer Konstitutionsbedingungen aufmerksam (146). Ich hatte bereits angedeutet, dass er damit das konkrete Mediale in den Diskurs integriert, es aber als solches nicht thematisiert. Dazu meint Kittler, dass Foucault das Medium nicht sah, da er sich nur mit Zeiträumen befasste, in denen die Typografie eine (nicht ganz) unangefochtene Selbstverständlichkeit war (also bis zur Mitte des 19. Jh.). Das Auftreten der technischen Medien ab diesem Zeitpunkt bewirkt jedoch einen Umbruch in der Macht- und Wissensformation. Worauf Kittler also hinaus will, ist, dass 6

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„Não meu, não meu é quanto escrevo / A quem o devo? / De quem sou o arauto nado? / Por que, enganado, / Julguei ser meu o que era meu? / Que outro mo deu? [...]“ (Pessoa 1986: 117). Theoretisch ausformuliert hat diesen Tod des Autors bekanntermaßen v.a. Roland Barthes: Schreiben ist Einschreibung in den Raum der Kultur, kein originärer Ausdruck sondern Nachahmung vorgängiger Gesten. Der Text erscheint als Gewebe unzähliger Zitate und Schreibweisen (Barthes 1984: 66). Die diskursive Praxis ist der „Ort, an dem eine verschachtelte Vielfalt, die lückenhaft und übereinandergelegt, zugleich ist, von Gegenständen sich formiert und deformiert, erscheint und erlischt“ (Foucault 1981:73).

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„Archäolgien der Gegenwart“ die Medien in das zeitliche Apriori einzubeziehen haben (Kittler 1995: 519). Dass die Medien an der Möglichkeitsbedingung von Aussagen anteilig sind, wirkt auf den ersten Blick sehr plausibel. Aussagen sind per se medial. Wenn nun aber das Medium als sinn-indifferente Mit-Teilung zu denken ist, es also auf die Botschaft keinen Einfluss nimmt, es selbst auch nicht die Botschaft ist, und es ebenso wenig die historisch vakante Stelle des Subjekts einnimmt, welche Relevanz kommt ihm dann im historischen Apriori zu? Medien an sich sind zu Sinnstiftung nicht fähig – oder besser gesagt, wie La Biblioteca de Babel zeigt, ihr aleatorisches Zeichenpotential befähigt sie ebenso zur Schöpfung von Bedeutung, ja von Wahrheit, wie von „Rauschen“ bzw. Nicht-Information. Wann gilt das, was ein Medium hervorbringt, als Sinn? Wann hört es auf, als solches zu gelten? Unter welchen Bedingungen bringt ein Medium eine Aussage hervor, die die semantischen Voraussetzungen erfüllt, sich in das diskursive Aussagefeld einzureihen? Mit Sybille Krämer kann ein Medium als das angesehen werden, das etwas hervorbringt, was abgelöst von ihm nicht denkbar ist. Ein Medium „erschließt“ etwas, was ohne es nicht möglich wäre, „für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt“. Dies unterscheide Medien von Werkzeugen, die lediglich vorgegebene Tätigkeiten erleichtern. Ein Medium erzeuge dagegen „künstliche Welten“, es „eröffnet Erfahrungen und Verfahren“, die es ohne das Medium nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gäbe (vgl. Krämer 1998: 83-85). Aber auch Krämer bleibt mit einer solchen Bestimmung des Mediums als technischer „Apparat“ eine Antwort darauf schuldig, wie dieser Sinn schöpfen und Mitteilung werden kann. Gleichzeitig erinnern wir uns an die Unsichtbarkeit der Medien. Sie erschließen „Welten“, also Wahrnehmungsräume, entziehen sich dabei jedoch der Wahrnehmung. Was nehmen wir also wahr, wenn wir etwas wahrnehmen, das nicht das Nichts des Rauschens ist? Es kann dies nur das Mitgeteilte, die Aussage sein, womit wir wieder bei der Ausgangsfrage angelangt wären. Um den Zusammenhang des Mediums mit der diskursiven Praxis fokussieren, um das „historische Apriori des Technischen“ konkretisieren zu können, bedarf es einer Denkfigur, die der des Diskurses entspricht, die sich jedoch epistemologisch auf einer anderen Ebene befindet: Es handelt sich um einen dem Diskurs untergeordneten Raum von Anknüpfung, Widerspruch, Negation und Subversion von Aussagen, kurz um einen Raum enunziativer Dispersion. Gemeint ist eine Kategorie, die die Kultur schon immer begleitet hat: die Gattung. Die Gattung ist eine offensichtliche Bedingung der Aussagbarkeit. Das, was die wahrnehmbare Oberfläche der Medien bildet, sind die Gattungen. Sie bilden die semantischen Voraussetzungen dafür, dass das, was Medien erzeugen, als Aussagen innerhalb eines Diskurses erscheinen kann. Sie sind jedoch auf die materiell-technische Erzeugung von Äußerungen durch die Medien angewiesen, da sie außerhalb medialer Konstitutionen nicht vollziehbar sind. Ohne die konnektive Struktur der Gattungen, hinter der sie zurücktreten, hören jedoch Medien auf zu sein, was sie sind. Gattung und Medium bedingen sich in diesem Sinne gegenseitig (vgl. Michael/Schäffauer 2004). Es gilt daher, die Gattung als Schnittstelle zwischen dem ‚Kulturellen‘ und dem ‚Technischen‘ zu denken. Zunächst sei mit Derrida auf das „Gesetz des Gesetzes der Gattung“ verwiesen, um deutlich zu machen, dass der Begriff der Gattung nicht im her47

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kömmlichen Sinn als Ordnungskategorie zu denken ist: Ihr Gebot der Reinheit findet sich immer schon durch Unreinheit konterkariert, denn indem sich die Gattung an einem Text – oder an „jeglichem Korpus von Spuren“ – markiert, demarkiert sie sich zugleich, da das Markieren nicht mit dem Markierten übereinstimmen kann – es ist anderer Art. Das Gesetz schreibt die Markierung vor, jedoch schließt die „Klausel“ die Gattung gleichzeitig aus dem aus, was sie einschließt. Was folgt aus dieser Dekonstruktion der Gattung? Die Gattung ist ein Widerspruch, der nur mittels einer externen validierenden Präsenz aufgehoben werden kann, was ihr die Autorität eines Ordnungssystems verleiht. Wird der Selbstwiderspruch der Gattung zugelassen, schließt dies ihre eigene Überschreitung mit ein, ihre Identität und ihre Nichtidentität, ebenso wie die der Texte, die ihr daher nicht an-gehören, sondern die an ihr lediglich partizipieren (Derrida 1980: 182-185, s. hierzu auch Michael/Schäffauer 2004: 268-273). Wenn die Gattung kein Ordnungssystem ist, inwiefern ist sie aber eine unausweichliche Notwendigkeit? Es ist nicht einfach, „etwas Neues“ zu sagen, schreibt Foucault – nichtsdestoweniger ist es auch nicht einfach, nichts zu sagen. Jean-François Lyotard meint mit letzterem, dass uns das Aussagen vorausgeht. Wenn man sich darüber wundert, dass es eher etwas als nichts gibt, so wundert man sich darüber, dass es eher einen oder mehrere Sätze gibt als: gar keinen. Und man hat recht. (Lyotard 21989: 117-118)8

Sätze sind immer schon da, sie sind unhintergehbar, sie kommen jeder Reflexion, jedem Zweifel und jedem cartesischen Subjekt zuvor.9 Weder gibt es einen ersten Satz, insofern jeder Satz einen anderen, ihm vorgängigen Satz voraussetzt, noch einen letzten Satz, da auf jeden Satz ein nächster folgt. Mit dieser Unausweichlichkeit des Satzes, oder besser: der Sätze, ist angesprochen, dass ein Satz nie allein steht, sondern immer in einen anderen übergeht (selbst wenn dies in Form des Schweigens, der Unordnung oder des Nichts geschieht). Die Satzfolge – die Aussage also – ist Ergebnis der unvermeidlichen Verkettung der Sätze – wie die Sätze verkettet werden, ist jedoch offen: Daß es keinen Satz gibt, ist unmöglich; notwendig gibt es: Und ein Satz. Man muß verketten. Das ist keine Verpflichtung, kein „Sollen“ [im Original deutsch], sondern eine Notwendigkeit, ein „Müssen“ [im Original deutsch]. Verketten ist notwendig, wie verketten nicht. (Lyotard 21989: 119)10 8

„Quand on s’étonne qu’il y ait quelque chose plutôt que rien, on s’étonne qu’il y ait une ou des phrases plutôt que : pas de phrase. Et on a raison“ (Lyotard 1983: 102). 9 „Es ist nicht das denkende oder reflexive Ich, welches die Probe des universellen Zweifels besteht (Apel, 1981), es ist der Satz und die Zeit. Aus dem Satz: Ich zweifle folgt nicht, dass ich bin; es folgt, dass es einen Satz gab“ (Lyotard 21989: 108) – „Ce n’est pas le je pensant ou réflexif que résiste à l’épreuve du doute universel (Apel, 1981), c’est la phrase y le temps. De la phrase: Je doute, il ne résulte pas que je suis, il suit qu’il y a eu une phrase“ (Lyotard 1983: 93). 10 „Qu’il y ait pas de phrase est impossible, qu’il y ait: Et une phrase est nécessaire. Il faut enchaîner. Cela n’est pas une obligation, un Sollen, mais une nécessité, un

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Dem Bewusstsein kommt der Satz immer schon zuvor, denn die Sprache als Totalität der möglichen Sätze, die jeder Satz voraussetzt, ist ihm gegeben.11 Wenn das Bewusstsein jedoch nicht den Ursprung der Sätze bildet, was verkettet dann die Sätze? Hierbei handelt es sich um die Frage nach der „Passage zwischen den Sätzen“ (Schäffauer/Michael 2004: 265-268). Vollzogen wird der Übergang von Satz zu Satz durch die Diskursgattung: Es gibt keinen Satz ohne Gattung. Die Gattung überwindet die Heterogenität der Sätze und unterwirft sie ihren Zielen, indem sie eine Passage über die „Abgründe“ hinweg ermöglicht, durch welche die Sätze voneinander getrennt sind. Das Aussageziel einer Satzfolge geht somit von der Gattung aus. Die Gattung „verführt“ den Satz und prägt sein Universum nach Maßgabe ihrer Zielsetzung, die sie ihm auferlegt.12 Die Aussageziele (die Teleologie) stammen folglich von den Gattungen, damit gehen sie jedoch auf keinen Ursprung zurück, denn Gattungen sind „Strategien. Von niemandem.“13 Indem eine Gattung ihre Verkettungsregeln durchsetzt, schließt sie alle anderen aus – dies ist, was Lyotard interessiert: Die Gattungen konkurrieren aufgrund der Vielfalt möglicher Verkettungen untereinander im Versuch, ihre Ziele durchzusetzen. Da aber keine Gattung als Metagattung in der Lage ist, die anderen endgültig zu unterwerfen, liegt mit dem Wort Lyotards ein Widerstreit im Sinne eines unschlichtbaren Streitfalles (différend) vor. Was hier im Spiel ist, das ist der „Bürgerkrieg der Sprache“, dem wir alle ausgesetzt sind (Lyotard 1983: 205).14 Die Passagen, welche die Gattungen den Sätzen auferlegen, erstrecken sich bei Lyotard nicht auf die Gattungen selbst. Diese Undurchlässigkeit der Gattungen bzw. das mit ihr verbundene Unrecht gegenüber den ausgeschlossenen Sätzen bilden das ethische Moment von Le différend. Jedoch geht es auch darum zu zeigen, dass Gattungen sich nicht per se gegenseitig ausschließen (Michael/Schäffauer 2004: 280). Mit Derrida wäre beispielsweise nicht nur ein Verbot (anderer Verkettungsregeln) sondern auch ein Verbot des Verbots zu denken, das intergenerische Passagen in den Begriff der Gattungen einschließt. Dennoch bleibt das Problem der Vormacht einzelner Gattungen bestehen, womit sich der Ausschluss anderer historisch möglicher Genres verbindet. Diskursanalytisch bedeutet dies die Dominanz einer Aussageformation innerhalb eines Diskurses einer epistemischen Periode. Darauf Müssen. Enchaîner est nécessaire, comment enchaîner, ne l’est pas“ (Lyotard 1983: 103). 11 Das Bewusstsein kann nicht definieren, was der Satz ist („man wird niemals wissen, wovon man spricht“), aber es wird immer „Sätze hervorbringen“ (Lyotard 1983: 107). Der Satz ist ein Ereignis, eine Tatsache, „nicht das Sein, aber ein Seiendes“ (109). 12 „Un genre de discours exerce une séduction su un univers de phrase. Il incline les instances que cette phrase présente vers certains enchaînements, ou du moins il les éloigne d’autres enchaînements qui ne sont pas convenables par rapport à la fin poursuivie par ce genre“ (Lyotard 1983 : 128). 13 „Les genres du discours sont des stratégies. De personne“ (Lyotard 1983: 198). 14 Wenn es auch einer Gattung nicht gelingt, die anderen endgültig zu besiegen, so gelang es einigen historischen Diskursgattungen dennoch, eine Vormachtstellung zu erlangen, und „große Erzählungen“ zu bilden, von denen Lyotard in seinen früheren Essays schreibt. Dabei handelt es sich um das Vorrecht, in bestimmten Epochen über grundlegende soziale Fragen zu entscheiden.

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wird im Folgenden ausführlich zurückzukommen sein. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist just die Vormachstellung einer Gattung und der Beitrag des Mediums zu dieser Hegemonie. – An diesem Punkt soll vorerst vermerkt werden, dass die Aussage als basale Satzverknüpfung im Draußen der Kultur zustande kommt, dem Subjekt vor-gegeben durch die Möglichkeiten der Sprache, Sätze zu bilden, und durch die Regeln der Gattungen, wie die Sätze miteinander verkettet werden.

3.3 „Die Poetik hat genaugenommen von den Gattungen auszugehen“15 Der Begriff der Gattung ruft selbstverständlich eine Disziplin auf den Plan, die sich immer schon mit diesem Gegenstand beschäftigt hat: die Literaturwissenschaft. Man könnte ihren methodischen Beitrag zur Medienkulturwissenschaft daher in der jahrtausendealten Auseinandersetzung mit den Formationsbedingungen künstlerischer Aussagen erkennen, die sie zugänglich macht.16 Denn schon immer fiel die Frage nach der Literatur mit der nach den Gattungen zusammen: Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkungen eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, [...] wollen wir hier handeln, [...] (Aristoteles 2002: 5)

Dies ist nicht nur der Beginn der Poetik von Aristoteles und antike Urzeit der Literaturwissenschaft sondern bleibendes Thema dieser Disziplin, die bis heute angesichts der Undefinierbarkeit ihres globalen Gegenstandes Literatur immer wieder als ‚Gattungswissenschaft‘ dazu übergeht zu versuchen, nicht jene sondern ihre „Unterteilungen“, die literarischen Gattungen, zu bestimmen. Dies schlägt beispielsweise Tzvetan Todorov in Diskursgattungen (Les genres du discours) vor, und er fasst und situiert Literatur damit als eine plurale Diskursgattung neben nicht-literarischen Diskursgenres.17 Das bedeutet, wie er ausführt, dass Gattungen allgemein als gesellschaftliche Kodifikationen des „Diskurses“ zu verstehen sind, wobei mit „Diskurs“ hier der Modus der Sprachverwendung oder besser: der Äußerungszusammenhang gemeint ist. Die Gesellschaft gibt so über die Gattungen formale Möglichkeiten vor,

15 „La poétique doit partir précisément du genre“ (Michail Bachtin zitiert nach Todorov 1981 : 123). 16 Es ist offensichtlich, dass sich die vorliegende Arbeit dieser sehr literaturwissenschaftlichen Frage nach den Gattungen verdankt. 17 Auch für Jean-Marie Schaeffer ist Literarizität primär ein Gattungsproblem, da die Frage nach der Literatur darauf hinausläuft, diese innerhalb der verbalen Praktiken, deren Teil sie sind, abzugrenzen (Schaeffer 1989: 9). Nicht die modernistische Überwindung von Gattungsgrenzen sondern ihre Spezifizität als Gattung begründet demnach, was unter Literatur zu verstehen ist.

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Äußerungen zu gestalten (Todorov 78: 23-24).18 Todorov stützt sich in seiner Theorie der Diskursgattungen auf Michail Bachtin, ohne ihn dabei jedoch zu erwähnen.19 Todorov hat einen Querschnitt des kritischen Werks von Bachtin vorgelegt, in dem er die besondere Stellung der Gattung im Denken des russischen Literaturwissenschaftlers zwar erwähnt, aber zugleich auf die Literaturgeschichte beschränkt (Todorov 1981: 123-124). Keine Erwähnung findet jedoch, ebenso wenig wie bei der weiteren (post-)strukturalistischen BachtinRezeption, die Tatsache, dass Bachtin in den Gattungen ein zentrales Problem nicht nur der Literatur- sondern auch der Sprachwissenschaft sah, dem er ein umfassendes Buch widmen wollte. Dieses Buch hat er zwar nie fertiggestellt, seine Grundrisse sind jedoch der Vorstudie „Les genres du discours“ zu entnehmen. Darin plädiert er für ein grundlegendes Umdenken in der Sprachwissenschaft, der er vorwirft, die kommunikative Dimension der Sprache zugunsten des individuellen bzw. kollektiven Subjekts vernachlässigt zu haben. Sprache sei bisher primär als Drang des Sprechers nach Ausdruck gedacht worden, als ob dieser allein stünde und nicht auf Partner am sprachlichen Austausch angewiesen sei – es sei denn als passive Rezipienten.20 Bachtins kommunikationstheoretischer 18 Damit kommt die Literaturwissenschaft – auf kulturtheoretischer Ebene – der Wissenssoziologie nahe, die mit Thomas Luckmann Gattungen als kommunikative „Problemlösungen“ untersucht. Diese erscheinen als „verfestigte Formen“ gesellschaftlicher Wissensvermittlung, die „Gesamtmuster des Redens“ bereitstellen, also vorgefertigte Darstellungen gesellschaftlicher Wirklichkeit d.h. „handlungsorientierendes Wissen“. Das Ziel dieser wissenssoziologischen Untersuchungen ist ein systematisches: Es geht darum, dieses gesellschaftliche Wissen zu ermitteln, indem die Gesamtheit der Gattungen in einer Epoche erfasst wird, wodurch der „kommunikative Haushalt“ einer Gesellschaft erschlossen werden könne. Jedoch wird in diesem Modell die Konstitution des Wissens nur teilweise in das Gesellschaftliche verlegt, wie die Unterteilung kommunikativer Vorgänge in spontane und gattungsgeleitete Akte deutlich macht. Dadurch wird die Entstehung von Sinn der Kommunikation vorgelagert. Kommunikation wird instrumentalistisch lediglich als Übertragung von Wissen gedacht, das außerkommunikativ zustande gekommen ist. Denn „spontane Kommunikation“ beruht auf einer „einigermaßen bewußten kommunikativen Absicht“, die ein Mitteilender durch eine „selbständige“ Auswahl „sprachlicher (und allgemeiner: kommunikativer) Mittel“ zum Ausdruck bringt. Gattungsgestützte Kommunikation dagegen stellt das für den Erhalt einer Gesellschaft notwendige „handlungsorientierte Wissen“ sicher. In beiden Fällen existieren Sinn, Wissen, kommunikative Absicht bereits vor der Kommunikation, die sie lediglich in standardisierter oder nicht-standardisierter Form weiterleitet. Die Gattung ist ein kommunikatives Vehikel, das Wissen ist eine angenommene feststehende Größe, ein Zustand, der sich ermitteln lässt. Die Vorstellung einer Gesamtmenge „kommunikativer Gattungen“ korrespondiert mit der eines Ganzen des gesellschaftsrelevanten Wissens. Sie kommt nicht zuletzt im Summenbegriff des „Haushalts“ zum Ausdruck (Luckmann 1986, vgl. auch Luckmann 1988 und Bergmann/Luckmann 1995). 19 Zu den folgenden Ausführungen über die bisher nur wenig wahrgenommene historisch-dialogische Dimension der Gattungstheorie von Bachtin s. Michael/Schäffauer (2004: 249-254). 20 „[...] le langage est envisagé du point de vue du locuteur comme si celui-ci était seul, hors du rapport nécessaire aux autres partenaires de l’échange verbal. Et lorsque le

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Ansatz bedeutet demgegenüber, konsequent die Funktion des Anderen in seiner vorgängigen Teilnahme am sprachlichen Geschehen zu reflektieren.21 Kommunikation im herkömmlichen sprachwissenschaftlichen Sinne des Sender – Empfängermodells wird damit zum Gegenstand der Kritik. Den Hörer nur auf die passive Rezeption zu beschränken, ist für Bachtin Ausdruck von „science-fiction“, eine Abstraktion, die völlig außer Acht lässt, dass das Verstehen nie nur Verstehen ist sondern immer zu aktivem Antworten führt. „Aktives antwortendes Verstehen“ („compréhension responsive active“), wie er es bezeichnet, ruft wie auch immer geartete Äußerungen und Handlungen hervor, und dies ist der Zweck jeder Aussage: Ein Sprecher erwartet keine passive Aufnahme des Gesagten, keine „Verdoppelung seines Denkens im Geist eines Anderen“ sondern eine Reaktion.22 Diese kann sich auch zeitversetzt manifestieren. Vor allem der kulturelle (Kunst, Wissenschaft) und der schriftliche Austausch sind auf verzögertes Antworten ausgerichtet. Konsequent weitergedacht bedeutet dies, dass der Sprecher im Grunde selber immer Antwortender ist, denn „er ist nicht der erste Sprecher, der zum ersten Mal die Stille einer stummen Welt aller Ewigkeit zerbricht“.23 Er setzt zum einen das Sprachsystem (langue), aber zum anderen vorhergehende Aussagen voraus, auf die seine eigene Äußerung in welcher Weise auch immer Bezug nimmt: „Jede Äußerung ist ein Glied in der sehr komplexen Kette anderer Äußerungen“ (Bachtin 1984: 274-275).24 Damit ist angezeigt, dass Bachtin die strukturalistische Dichotomie zwischen Sprachsystem und Rede im Prinzip aufrecht erhält, das Konzept der parole jedoch einer fundamentalen Kritik unterzieht. Dieser Begriff verkenne den kommunikativen Charakter der Sprache bzw. die Rolle des Anderen, weswegen er ihn durch verbalen Austausch ersetzt, dessen Einheit nicht Wort oder Satz ist (diese gehören dem Sprachsystem an) sondern die Aussage (énoncé). Konkret ist Sprache also nicht einfach als Rede sondern als Rede und Gegenrede, als kommunikative Wechselwirkung aufeinander angewiesener Sprecher gegeben. Sie kann als einfache oder als komplexe Aussage bzw. als „Werk“ (der Künste, Wissenschaften) in Erscheinung treten – ein Roman ist in diesem Sinne ebenso Aussage wie ein Gesprächsbeitrag. Immer ist die Aussage in die dialogische Verkettung des Austauschs eingelassen. Wie bereits angedeutet, hallen in einer Aussage vorangegangene nach – sie ist, indem andere in ihr sind:

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rôle de l’autre est pris en compte, c’est sous la forme d’un allocutaire que se borne à comprendre passivement le locuteur“ (Bachtin 1984 : 273). Die Sprachwissenschaft blendet, so Bachtin, die aktive Rolle des Anderen im sprachlichen Austausch fast gänzlich aus: „Le rôle actif de l’autre dans le processus de l’échange verbal s’en trouve minimisé à l’extrême“ (Bachtin 1984: 276). „Un locuteur postule une telle compréhension active : ce qu’il attend, ce n’est pas une compréhension passive que, pour ainsi dire, ne ferait que dupliquer sa pensée dans l’esprit d’un autre, ce qu’il attend, c’est une réponse, un accord, une adhésion, une objection, une exécution, etc.“ (Bachtin 1984 : 275). „Le locuteur lui même, en tant que tel, est à un certain degré, un répondant, car il n’est pas le premier locuteur, rompant pour la première fois le silence d’un monde muet de toute éternité […]“ (Bachtin 1984 : 275). „Chaque énoncé est un maillon de la chaîne fort complexe d’autres énoncés“ (Bachtin 1984 : 275).

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Intermediale Gattungspassagen Die Aussagen sind sich gegenüber nicht gleichgültig, und sie genügen sich nicht selbst; sie kennen sich untereinander, sie spiegeln sich in einander. Es sind eben diese gegenseitigen Widerspiegelungen, die ihren Charakter bestimmen. Eine Aussage ist angefüllt mit Echos und Erinnerungen anderer, an die sie im Innern einer gemeinsamen Sphäre verbalen Austauschs gebunden ist. Eine Aussage muss vor allem als eine Antwort auf vorhergehende Aussagen im Innern einer gegebenen Sphäre betrachtet werden (den Begriff „Antwort“ verstehen wir hier im weitesten Sinne): Sie bestreitet sie, sie bestätigt sie, sie ergänzt sie, stützt sich auf sie, setzt sie als bekannt voraus und rechnet auf die eine oder andere Art und Weise mit ihnen.25

Eine Aussage ist keine selbstgenügsame Übermittlung eines vom Bewusstsein gestifteten Sinns. Als „dialogische Resonanz“ ist sie durchsetzt von „versteckten oder halb versteckten Worten anderer“, von „einem mehr oder weniger großen Ausmaß an Alterität“ (Bachtin 1984: 301-302). Der Gegenstand eines Äußerungszusammenhangs kann nicht selbstherrlich vom Subjekt gesetzt werden – wo es ansetzt, war immer schon ein Anderer: Der Diskursgegenstand eines wie auch immer gearteten Sprechers ist nicht zum ersten Mal ein Diskursgegenstand in einer gegebenen Aussage, und der Sprecher ist nicht der erste, der darüber spricht. Der Gegenstand ist bereits unterschiedlich besprochen, bestritten, beurteilt und erhellt worden, er ist der Ort, an dem sich differente Standpunkte, Weltsichten, Tendenzen kreuzen, begegnen und trennen. Ein Sprecher ist kein biblischer Adam im Angesicht jungfräulicher Gegenstände, die noch nicht bezeichnet wurden, die er als erster benennen könnte. Die vereinfachte Idee, die man sich von der Kommunikation macht, und die für die logisch-psychologische Grundlage der Proposition gehalten wird, führt dazu, das Bild dieses mythischen Adams zu evozieren.26

In der Literaturwissenschaft wurde aus Bachtins Ansatz der interrelationalen Alterität eines Textes bekanntermaßen die Intertextualitätstheorie entwickelt (vgl. Kristeva 1969). Dabei wurde jedoch Bachtins Interesse an den Gattun25 „Les énoncés ne sont pas indifférents les uns aux autres et ils ne se suffisent pas à eux-mêmes ; ils se connaissent les uns les autres, se reflètent les uns les autres. Ce sont précisément ces reflets réciproques qui déterminent leur caractère. Un énoncé est rempli des échos et des rappels d’autres énoncés, auxquels il est relié à l’intérieur d’une sphère commune de l’échange verbal. Un énoncé doit être considéré, avant tout, comme une réponse à des énoncés antérieurs à l’intérieur d’une sphère donnée (le mot » réponse«, nous l’entendons ici au sens le plus large) : il les réfute, les confirme, les complète, prend appui sur eux, les suppose connus, et, d’une façon ou d’une autres, il compte avec eux“ (Bachtin 1984 : 298). 26 „L’objet du discours d’un locuteur, quel qu’il soit, n’est pas objet de discours pour la première fois dans un énoncé donné, et le locuteur donné n’est pas le premier à en parler. L’objet a déjà, pour ainsi dire, été parlé, controversé, éclairé et jugé diversement, il est le lieu où se croisent, se rencontrent et se séparent des points de vues différents, des visions du monde, des tendances. Un locuteur n’est pas l’Adam biblique, face à des objets vierges, non encore désignés, qu’il est le premier à nommer. L’idée simplifiée qu’on se fait de la communication, et qui est prise comme fondement logique-psychologique de la proposition, mène à évoquer l’image de cet Adam mythique“ (Bachtin 1984 : 301).

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gen ausgeblendet (Michael/Schäffauer 2004: 250). Das dezentrierende Kommunikationsmodell ist völlig übersehen worden, in dem der Gattung eine elementare Funktion zukommt. Denn eine Aussage knüpft an eine vorhergehende an, aber sie muss auch so ausgestaltet sein, dass sie eine responsive Haltung hervorruft. Es reicht nicht, dass sie auf der Ebene der langue verständlich ist, sie muss ein Ganzes bilden und also erkennbar abgeschlossen sein, erst dann provoziert sie Reaktionen. Bachtin nennt diesen Abschluss der Aussage achèvement (282). Die Frage ist nun, wie eine Aussage zu einem solchen Abschluss gelangt, der sie als ein Ganzes erscheinen lässt. Die Elemente des Sprachsystems (Wörter, Sätze) sind hierzu, wie angedeutet, ungenügend. Der entscheidende Faktor, der sprachliche Bausteine und einen Anknüpfungswunsch zu einer Aussage gestaltet, ist die Gattung. Sie gibt dem Sprecher Formen vor, wie ein enunziatives Ganzes unter gegebenen Umständen zu strukturieren ist: Das Sagen-Wollen eines Sprechers verwirklicht sich vor allem in der Wahl einer Diskursgattung. Diese Wahl wird in Funktion der Spezifizität einer gegebenen Sphäre des sprachlichen Austauschs, der Bedürfnisse einer Thematik (des Gegenstands des Sinns), der Gesamtheit der Sprecher usw. bestimmt. […] Zum Sprechen bedienen wir uns immer Diskursgattungen, anders ausgedrückt, verfügen alle unsere Aussagen über eine typische und relativ stabile Form, über eine Strukturierung eines Ganzen.27

Bachtin überträgt das Problem der Gattungen vom Bereich der poetischen Funktion der Sprache auf den der konkreten Gegebenheit der Sprache, der bei ihm immer Austausch ist. Dies macht deutlich, dass die Gattung zu einer grundlegenden kommunikationstheoretischen Kategorie wird. Jedoch schwebt dem Autor kein „System der Gattungen“ vor wie etwa Todorov (Todorov 1978: 23) sondern eine unermessliche Vielfalt von Diskursgattungen, die den unerschöpflichen Äußerungsvarietäten entspricht (Bachtin 1984: 265). Es geht also nicht um ein Ordnungsprinzip der Äußerungsmodalitäten – das Ziel ist mit anderen Worten keine „Typologie des Diskurses“ (Todorov 1978: 25)28 – sondern eine Erörterung der Entstehungsbedingungen von Aussagen. Gattungen sind kommunikative Strukturen, die den Sprechern mit der Sprache gegeben sind, weswegen sich der Spracherwerb auf der Grundlage des Erlernens von Gattungen vollzieht, denn erst sie erlauben zu sprechen bzw. Aussagen zu bilden. Dies hat zur Folge, dass einem Sprecher nicht nur andere Sprecher zuvorkommen, sondern dass ihm mit der Sprache auch die Gattungen vorausgehen: „Sie sind ihm gegeben, er ist nicht derjenige, der sie erschafft“ (Bachtin 1984: 287). Eine Aussage, anders ausgedrückt, ist bei al27 „Le vouloir-dire du locuteur se réalise avant tout dans le choix d’un genre du discours. Ce choix se détermine en fonction de la spécificité d’une sphère donnée de l’échange verbal, des besoins d’une thématique (de l’objet du sens), de l’ensemble des partenaires, etc. [...] Pour parler nous nous servons toujours des genres du discours, autrement dit, tous nos énoncés disposent d’une forme type et relativement stable, de structuration d’un tout“ (Bachtin 1984 : 284). 28 Todorov unterscheidet im Sinne einer Systematik der Äußerungen „historische“ und „theoretische“ Gattungen: Während jene als Ergebnis empirischer Untersuchung feststehen, ergeben sich jene aus literaturtheoretischen Ableitungen (Todorov 1993: 25).

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ler Singularität keine reine Schöpfung des Individuums, wie dies dem Strukturalismus in bezug auf die parole (und im Gegensatz zur Konventionalität der langue) vorschwebt.29 Über Bachtin hinausgehend, hieße dies, dass eine Aussage nicht auf den autonomen Ausdruckswillen des Subjekts zurückgeht, das sich eben nicht nur dem Sprachsystem unterordnen muss sondern auch den Formen der Sprachverwendungen und dem bereits Ausgesagten. Konkret kommt eine Aussage dadurch zustande, dass Sprecher/Schreiber Sätze in Funktion eines Ganzen ihrer Aussage/ihres Textes auswählen, dessen Vorstellung von der Kenntnis der Gattung vorgegeben wird. Hier ist übrigens – unter Vorbehalt ihrer gänzlich unterschiedlichen Prämissen – eine Nähe in den Argumentationen von Bachtin und Lyotard auszumachen: Die Gattung verantwortet die interne Komposition der Aussage bzw. die Verkettung der Sätze, was nicht dasselbe ist, worauf aber unten zurückzukommen sein wird. In Bachtins rhetorisch anmutender Konzeption als enunziative Strukturierung formt die Gattung die Aussage zu einer Einheit des verbalen bzw. kulturellen Austauschs und gibt damit auch formale Modelle vor, wie sich etwas Auszusagendes mit seiner angestrebten oder vermuteten Rezeption abstimmen kann. Mit ihren stilistischen Mittel prädisponiert sie Adressaten der Aussage und trägt somit zur enunziativen Interrelation bei (302-307). Aussagen, so kann zusammengefasst werden, knüpfen an einen Äußerungszusammenhang an – sie können darin aber nur dann als weiterer Beitrag erscheinen, wenn sie sich mittels stilistischer Konventionen des Aussagens an ein bestimmtes Publikum wenden und auf diese Weise rezipiert werden. Sie artikulieren sich daher nur in Gattungen. Dieses doppelte Außer-sich-Sein der Aussage ist dem Interesse an Intertextualität und Polyphonie bislang meist entgangen. Das Andere durchsetzt eine Aussage nicht nur durch seine Vorzeitigkeit, die ihr ermöglicht anzuknüpfen, sondern auch durch seine Nachzeitigkeit, die ihr erlaubt, selbst zum Punkt der Anknüpfung zu werden. Insofern ragen nicht nur vorhergehende Aussagen in eine ‚neue‘ hinein sondern auch bereits mögliche nachfolgende. Da dies die Präexistenz der Gattungen voraussetzt, werden diese bei Bachtin zur zentralen dialogischen Kategorie. Zweifellos birgt die Aussage in sich eine Geschichte des Ausgesagten – im Falle komplexer Aussagen (Literatur, Philosophie, Wissenschaften usw.) handelt es sich um unterschiedlichste offene oder verdeckte Zitate bzw. Überreste von Anschauungen, Ansätzen, Argumenten u.ä. Andererseits verdankt sich die Aussage auch einer Geschichte des Aussagens, denn die diskursive Verkettung bedarf ihrerseits formaler Voraussetzungen, um statt zu haben. Das Interessante an Bachtins Gedankengang – was meines Erachtens bisher gänzlich unberücksichtigt blieb –, ist, dass eine enunziative Verkettung erst dann zustande kommen kann, wenn sie über sich hinaus verweist und weitere 29 „Les genres du discours, comparés aux formes de langue, sont beaucoup plus changeants, souples, mais, pour l’individu parlant, ils n’en ont pas moins une valeur normative: ils lui sont donnés, ce n’est pas lui qui les crée. C’est pourquoi l’énoncé, dans sa singularité, en dépit de son individualité et de sa créativité, ne saurait être considéré comme une combinaison absolument libre des formes de langue, à la façon dont Saussure, par exemple, le conçoit (et, à sa suite, bon nombre de linguistes), qui oppose l’énoncé (la parole) en tant qu’acte purement individuel dans le système de la langue comprise comme phénomène purement social et prescriptif pour l’individu“ (Bachtin 1984 : 287).

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Anknüpfungen anbahnt. Dieser Gedanke wiederum fußt auf Bachtins subjektkritischer Kommunikationstheorie, in der die Sprache nur in Form von Aussagen verwendet wird, die neben dem sprachlichen System die Gattungen voraussetzen. Die Gattungen sind als Konventionen der Sprachverwendung geschichtlich und bergen – im Falle „komplexer“ Gattungen (insbesondere im Bereich der Kunst) – ihren evolutiven Wandel in sich. Bachtin erkennt in ihnen daher den Ort des kulturellen Gedächtnisses, denn sie stellen als „kreatives Gedächtnis“30 zumindest Reste vergangener kultureller Traditionen bereit: Die kulturellen und literarischen Traditionen (einschließlich der ältesten) bewahren sich und leben fort, aber weder im subjektiven Gedächtnis des Individuums, noch in einer kollektiven Psyche, sondern in den objektiven Formen der Kultur selbst (einschließlich ihrer sprachlichen und diskursiven Formen); in diesem Sinne sind sie intersubjektiv und interindividuell (und folglich sozial).31

Wenn Sinn im Draußen der Kultur entsteht, ist es nur zwingend, auch das Gedächtnis dort zu verorten. Um das Problem des kulturellen Gedächtnisses jedoch genauer zu fassen, seien einige zusätzliche Argumente gestattet. Jede Epoche, jedes soziale Milieu, jede „Mikrowelt“, so Bachtin, bringt Aussagen hervor, die „Autorität“ ausüben, die „den Ton angeben“ (Bachtin 1984: 296), und die, wenn man so will, ein Verkettungszentrum bilden. Dies erinnert an Foucaults Vorstellung des Diskurses. Hinzuzufügen wäre mit Lyotard, dass die Gattungen historische Hegemonien des Aussagens (mit-)ausüben. Diese Schlussfolgerung zieht Bachtin jedoch offensichtlich nicht. Aber sie liegt nahe: Wenn die Gattung zwischen den Äußerungen steht, hat sie an der Artikulation einer wie auch immer gearteten Äußerung entscheidenden Anteil. Und wenn diese Äußerungen zeitlich und räumlich divergieren, so ließe sich die Gattung als ein Zwischen-Zeit-Raum denken, der aber selber nicht gegenüber den Differenzen von Zeit und Raum indifferent sein kann, da sich andernfalls die Anknüpfung nicht vollzöge. Die Gattung – dekonstruiert als Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst – eignet sich nicht zur Taxonomie, der sie immer schon voraus ist, und die sie in ihrer Ambivalenz stets überschreitet. Weder definiert sie, noch lässt sie sich definieren. Ebenso wenig ist ihr Normativität eigen – sie engt nicht die Freiheit eines genialischen Schöpfers ein, der aus sich heraus Sinn stiftete, der Herr über seine künstlerischen Aussagen wäre, und dessen Originalität sie zwangsweise zu beschneiden versuchte.32 Ihr ‚Wesen‘ bestimmt sich nicht dadurch, dass sie Behelfs30 „Le genre est le représentant de la mémoire créatrice dans le processus de l’évolution littéraire“ (Bachtin zitiert nach Todorov 1981: 130). 31 „Les traditions culturelles et littéraires (y compris les plus anciennes) se préservent y vivent, non pas dans la mémoire subjective de l’individu, ni dans une »psyché« collective, mais dans les formes objectives de la culture elle même (y compris dans les formes linguistiques et discursives); en ce sens, elles sont intersubjectives et interindividuelles (par conséquent sociales)“ (Bachtin zitiert nach Todorov 1981: 131). 32 Alastair Fowler sieht in literarischen Gattungen keine dem Schaffensprozess fremden Beschränkungen sondern im Gegenteil eine kreative Grundlage literarischer Produktion. Literarische Texte entstehen im Weiterschreiben bereits geschriebener Texte, die einem Autor als Gattung gegeben sind, und damit in der Umwandlung dieser

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lösungen vorgefertigter Formeln böte (sie tut das freilich auch), derer sich Kleingeister bedienen könnten, die zu individuellen Aussagen nicht in der Lage wären. Sie ist, kurz gefasst, nicht das Fremde, das das Eigene entweder einschränkt oder ersetzt. Allzu gern hält das selbstherrliche Bewusstsein die Aussage für einen Ausdruck (seines Innersten) und verdrängt das Andere, das dem Eigenen in ihr zuvorkommt. In der Folge bezieht es eine Frontstellung gegenüber der Gattung. Jedoch hat diese kein Sein, das dem Selbst gegenüberstünde sondern lässt sich vielmehr vorstellen als Moment der Verschränkung mit dem Anderen. Indem die Gattung (nur) bestimmte Verkettungen ermöglicht und damit andere unterbindet, übt sie historische Hegemonien aus: Sie gibt vor, wie ein Äußerungsbestreben zu konfigurieren ist, damit es als Aussage erscheinen kann und Folgeaussagen anknüpfen. Daraus wäre zu folgern, dass sie zur diskursiven Formation eines epistemischen Zeitraums beiträgt, der sie jedoch zugleich die selektiven epochalen Vormachtstellungen verdankt, und der sie damit unterworfen ist. Daraus ergibt sich, dass historische Umbrüche die Gattungen nicht nur betreffen sondern sich gezielt auf sie richten. Denkbar als Zwischen-Zeit-Raum und als mehr als das: als verändernder Durchschritt dieses Raums, als Passage,33 reicht die Gattung ebenso in das Vergangene, wie sie auch auf das Zukommende wirkt. Insofern ist sie kreatives Gedächtnis, wie Bachtin schreibt, weil sie Vergangenes nur dann aufruft, wenn sie es verändert. Sie kann daher auch als „chronotopische Passage“ bzw. als „offenes Gedächtnis“ bezeichnet werden, da sie nicht primär historische Aussagen bewahrt sondern Verknüpfungen zu ihnen herstellt und so historische Formen – Traditionen – des Aussagens vermittelt (Michael/ Schäffauer 2003). Sie akkumuliert Sinn nicht, sie generiert ihn – und sie unterbindet ihn. Wenn das Gedächtnis mit Renate Lachmann als einer der dynamischen Aspekte der Kultur angesehen werden kann, so heißt dies, dass es Sinn schöpft und zerstört, dass es mit anderen Worten Erinnerung herbeiführt ebenso wie Vergessen. Zeichenträger werden entweder einer „Desemiotisierung“ oder einer „Resemiotisierung“ unterworfen (Lachmann 1993). Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass die Gattung diese Gedächtnisfunktion ausübt. Wie bereits angedeutet, sind Gattungen nur sehr bedingt als kontinuitätsstiftend zu verstehen, weil sie grundsätzlich von sich selbst abweichen. Sie haben keine Identität, die sich transhistorisch bewahrte. Als Funktion des epistemischen Wandels werden sie von Brüchen geprägt, wodurch sich der Raum des Aussagens wandelt, den sie bereitstellen. Die genannten Umbrüche können jedoch auch dazu führen, dass ihre Verkettung abbricht und andere Gattungen an ihre Stelle treten, wodurch es passieren kann, dass Äußerungstraditionen im Dunkel der Bezugslosigkeit verschwinden. Kurz gefasst, sind sie „Kategorien in Bewegung“ (Steimberg 21998: 88), die zur Instabilität der Kultur beitragen.

Gattung: „Rightly understood, it [the genre] is so far from being a mere curb on expression that it makes the expressiveness of literary works possible. Their relation to the genres they embody is not one of passive membership but of active modulation. Such modulation communicates“ (Fowler 1982: 31). 33 Die Gattung als Passage – das ist die grundlegende Idee des bereits zitierten, gemeinsam mit Markus K. Schäffauer verfassten Aufsatzes (Michael/Schäffauer 2004).

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3.4 Der Sinn zwischen den Aussagen Auf der Grundlage von Le différend erscheint die Gattung als eine Teleologie, die sich den Sätzen mit ihren Zwecken auferlegt. Sie regiert in die Sätze hinein, um sie auf die Verkettung mit anderen Sätzen auszurichten und derart ihr „Ziel“ zu erreichen. Was ‚will‘ eine Gattung? Sie will aussagen – „wissen, lehren, recht haben, verführen, rechtfertigen, bewerten, erregen, kontrollieren...“34. Sie will andere Sinnstiftungen ausschließen. Gemäß Bachtin in „Les genres du discours“ kommt, wie ausführlich dargestellt, eine Aussage zustande, wenn eine Gattung einen Anknüpfungswunsch so gestaltet, dass er abgeschlossen ist und Erwiderungen hervorruft. Die Gattung erscheint also in Übereinstimmung mit den bisher untersuchten Positionen von Lyotard und Bachtin als zweifache Passage: zum einen als Verkettung der Sätze innerhalb einer Aussage und zum anderen als Verkettung von Aussagen untereinander. Nicht zuletzt aufgrund ihrer sprachkritischen Perspektive liegt es, wie ich schon andeutete, nahe, die beiden Ansätze miteinander zu verschränken: Die Gattung ordnet die Sätze entsprechend ihrer Zielsetzung an, aber diese besteht in der bedeutungsstiftenden Anknüpfung an andere Aussagen. Jedoch bleibt hierbei eine Leerstelle: Lyotard bezieht das Wirken der Gattung nur auf die Satzanordnung, Bachtin auf die Ausrichtung auf eine Rezeptionssituation. Müsste die Gattung nicht auch als das gefasst werden, was eine Aussage mit vorhergehenden verkettet? Denn unweigerlich wird eine Aussage, die sich mit Hilfe einer Gattung an bestimmte Adressaten wendet, an die im Rahmen dieser Gattung bereits getätigten Aussagen anschließen. Woher kommt der „Zweck“ einer Gattung, wenn nicht von Aussagen, die sie im Vorfeld zustandebrachte? Einen Hinweis hierzu gibt abermals die Literaturwissenschaft: Alastair Fowler hat am Beispiel literarischer Gattungen daran erinnert, dass Gattungen aus Texten bestehen, die sich entsprechen. Er beschreibt Gattungen als Texttraditionen bzw. als Verknüpfungen von Texten auf der Grundlage von „Einfluss und Nachahmung sowie ererbter Codes“.35 Daraus folgt, sehr formalistisch gedacht, dass Gattungen den Ausgangspunkt für literarische Aussagen bilden, indem sie einen Raum des Schreibens eröffnen, denn sie vermitteln das Geschriebene, von dem sich ein neuer Text abheben kann.36 Ebenso wie Bachtin so versteht auch Fowler die Gattung in erster Linie als kommunikationstheoretische Kategorie, da sie eine entscheidende Voraussetzung für die Schöpfung literarischer Bedeutung bildet.37 Beide

34 „Ces genres du discours fournissent des règles d’enchaînement de phrases hétérogènes, règles qui son propres à atteindre des buts : savoir, enseigner, être juste, séduire, justifier, évaluer, émouvoir, contrôler…“ (Lyotard 1983 : 10) 35 „[…] a sequence of influence and imitation and inherited codes connecting works in the genre“ (Fowler 1982: 42). 36 „Far form inhibiting the author, genres are a positive support. They offer room, as one might say, for him to write in – a habitation of mediated definiteness; a proportioned mental space; a literary matrix by which to order his experience during composition“ (Fowler 1982: 31). 37 Indem Gattungen, sind sie für Fowler in erster Linie eine Kategorie der Kommunikation: „Jedenfalls gibt es keinen Zweifel, dass die Gattung primär mit Kommunikation

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Theoretiker weisen darauf hin, dass eine (literarische oder nicht-literarische) Aussage nicht isoliert sondern nur im Zusammenhang des – wie auch immer gearteten – dialogischen Äußerungsgeschehens zu betrachten ist. Kommunikation bedeutet hier die Vorgängigkeit des Anderen im enunziativen Prozess. Dass Aussagen aufgrund von Wechselwirkungen mit anderen Aussagen zustande kommen, und Sinn insofern nicht (nur) durch Regelanwendung entsteht oder intentional gesetzt sondern koproduziert wird, ist eine These von Bernhard Waldenfels, die er in einem Aufsatz über das kommunikative Verhalten entwickelt. Waldenfels versteht unter Äußerungen nicht nur sprachliche Aussagen sondern auch leibliche Akte und Handlungen, die sich (alle drei) im Verhalten verschränken. Darüber hinaus lässt sich der Ansatz, wie ich meine, auf kommunikative Akte aller Art übertragen. Was ihn insbesondere im Zusammenhang mit der kommunikativen Funktion der Gattung interessant macht, ist seine Auseinandersetzung mit der Verkettungsdynamik von Äußerungen. Dem Autor geht es darum, Kommunikation nicht instrumentalistisch als zeichengestützten Transport vorgefertigten Sinns zu konzipieren sondern als „gemeinsame Sinnbildung“ in der Zeichensphäre (Waldenfels 1980b: 163). Waldenfels kritisiert die „Vorordnungen“ der Gesellschaft oder des Bewusstseins in der Kommunikationstheorie, die der Kommunikation entweder überindividuelle Regelsysteme oder die Intention des Subjekts vorschalten (164). Anstelle solcher präkommunikativen Weltkonstitutionen plädiert er dafür, die Produktion von Sinn im Draußen des „kommunikativen Geschehens“ zu verorten: Die Aussage wird somit auch in diesem Ansatz dem Dominium des absoluten Selbst entzogen und in die Zwischenzone der Verflechtungen mit dem Anderen verlegt. Was Waldenfels sich bemüht zu zeigen, ist, dass Sinn in einem dialogischen Zwischenraum entsteht. Dieser Zwischenraum erscheint als Umfeld von Äußerungen, das Erwiderungen und Gegenäußerungen provoziert. Wenn der Autor dieses enunziative Umfeld als Kontext bezeichnet, so ist damit im Grunde ein prozessuales Geschehen gemeint, da sich dieser Kontext durch jede hinzukommende Äußerung sozusagen fortschreibt. Waldenfels fasst die Entstehung von Sinn mit anderen Worten als „Fortbildung eines Kontextes“ (177), da geäußerte kommunikative Einzelakte im Bezugsfeld aufgehen, auf das sie antworten, und so weitere Verkettungen hervorrufen. Kommunikative Akte kommen zustande, indem sie an vorhergehende anknüpfen, und sie knüpfen an, indem sie unter „kontextmöglichen“ Äußerungen auswählen. Der Kontext ist „offen-begrenzt“, d.h. er schließt bestimmte Verkettungen aus, ohne bestimmte vorzuschreiben: „Die Antwort paßt auf die Frage, wie es ganz schlicht bei Husserl heißt.“ Wann aber passt eine Äußerung? Wenn sie einer vorhergehenden entspricht, antwortet Waldenfels. Erst der Bezug zu einer getätigten Aussage bringt sie hervor. Diese Überlegung ist sehr schlicht, entkräftet aber völlig das gängige Container-Modell der Kommunikation, nach dem diese lediglich Botschaften weitergibt. Die „Botschaft“ entsteht hier in der Zwischensphäre der Kommunikation selbst, denn wie bei Bachtin zu tun hat. Sie ist kein Instrument der Klassifikation oder der Vorschrift sondern eines der Bedeutung“ – „At any rate there is no doubt that genre primarily has to do with communication. It is an instrument not of classification or prescription, but of meaning“ (Fowler 1982: 22).

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kann eine Äußerung nicht als neue Rede anheben sondern nur als Gegenäußerung, als Entgegnung, als Antwort auf eine andere. Eine Äußerung kann nur dann artikuliert werden, wenn es schon andere gibt, an denen sie wie auch immer ansetzt. Ihr kommt, anders ausgedrückt, das Andere immer schon zuvor. Sie führt Vorgängiges fort, und koproduziert mit ihm das zu Äußernde: Die Fortführung des Themas, die Sinnfortbildung ist weder reine Produktion noch bloße Reproduktion, sondern eben Koproduktion, eine Produktion, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht einholt und insofern schon begonnen hat. (Waldenfels 1980b: 180-181)

Das Aufgreifen und Weiterführen des bereits Ausgesagten auf der Grundlage einer dialogischen Gemeinsamkeit ist, so der Autor, „die Bedingung dafür, daß in der Kommunikation Neues entsteht und nicht bloß Fertiges ausgetauscht“ wird (181). Hierin erkennt Waldenfels – angesichts eines Subjekts, das nicht mehr originell aus sich heraus schöpft – den kommunikativen Spielraum innerhalb der sozialen Regelsysteme, die jenes Subjekt auf die Ausführung seiner Vorgaben beschränkt. Wie auch Bachtin hervorgehoben hat, kann die Entsprechung, aufgrund derer eine Aussage entsteht, ebenso kohärent wie inkohärent sein, also ebenso auf Übereinstimmung wie auf Abweichung oder Verneinung beruhen. Im Unterschied zu Bachtin jedoch beschränkt sich Waldenfels nicht auf die Sprache sondern zieht verhaltensphänomenologisch unterschiedliche Äußerungsformen sowie vor allem ihre gegenseitige Durchdringung und Verflechtung in Betracht. Kommunikation läuft daher jeweils weder nur auf rein sprachlicher oder rein nicht-sprachlicher Ebene ab, sondern auf verschiedenen Ebenen sukzessiv oder gleichzeitig. Es kann daher sein, dass die Kommunikation auf einer Ebene (etwa Sprache) abbricht, aber auf einer anderen (beispielsweise Mimik, Gestik) fortgesetzt wird. Dieser Ansatz ist, wie bereits angedeutet, deshalb so interessant, weil er Möglichkeiten bietet, die Medien ins Spiel zu bringen. Wie wären die von Waldenfels angesprochenen Äußerungsformen anders zu definieren als medial? Dieser Punkt ist weiter unten auszuführen, festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass Kommunikation medial verflochten ist bzw. zu Anknüpfungen unter verschiedenen Medien führt. Kommunikation als „Äußerungskette und Äußerungsgeflecht“ zu betrachten, bedeutet, den Glauben an ein erstes Wort aufzugeben. Es ist kein „reines Wort“, wie Waldenfels ausführt, da sich die Kommunikationsakte und Verhaltensweisen vermengen, und es ist kein „erstes Wort“, da jede Aussage einen Kontext fortbildet. „Relative Neuansätze und Abschlüsse“ dagegen gibt es zweifellos, jedoch immer innerhalb eines Kontextes. Sinn, so ist zu folgern, entsteht nicht ablösbar von den Zeichen und auch nicht ablösbar von den Medien, nicht jenseits der Kommunikation, nicht in der Autonomie des Subjekts. Er ist nur in diesem dialogischen Zwischenraum des Äußerungsgeflechts zu verorten: „zwischen den Zeilen eines Textes und somit auch zwischen den Partnern, die sich in Texten bewegen“ (182-183). Es scheint auf der Hand zu liegen, dass diese Dezentrierung der Kommunikation für eine Theorie der Gattung, wie sie in der vorliegenden Arbeit entwickelt wird, grundlegend ist, obgleich sich Waldenfels an keiner Stelle auf die Gattung bezieht. Waldenfels’ Anliegen ist, den Spielraum des kommunikativen Verhaltens deutlich zu machen, der sich an den Rändern von 60

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Regelsystemen auftut. Ihn interessiert insbesondere der Spalt des Unbestimmten in sprachlichen und sozialen Strukturen, das „Ungeregelte in allen Regelungen“, der „Schatten“ des Ausgeschlossenen, der jedem System anheftet. Es ist das Moment der Transgression und der Abweichung, das einen sens sauvage aufscheinen lässt (Waldenfels 1980a: 21-22). Kurz, es gilt, Horizonte zu denken, die gleichzeitig offen und begrenzt sind, in denen Neues entstehen kann, und die somit einen Ausgangspunkt für den historischen Wandel bilden. In diesem Sinn ist für die Phänomenologie der Kommunikation der Begriff des Kontextes grundlegend: Wie dargestellt, bildet er die Voraussetzung von Äußerungen, indem er einen offen-begrenzten Rahmen der Entsprechung mit anderen Äußerungen vorgibt. Es kann also bei einer Gattungstheorie nicht darum gehen, diesen offenbegrenzten Horizont kommunikativer Wechselwirkung sogleich wieder mit Gattungsgesetzen zu schließen. Aber das ist bei einem Ansatz, der neben dem Gesetz auch das Gesetz des Gesetzes der Gattung in Betracht zieht, der also grundsätzlich die Gattung nicht als Regelwerk sondern als kommunikative Verschränkung mit dem Anderen versteht, nicht der Fall. Insofern macht es Sinn, den Begriff des offen-begrenzten Kontextes mit dem der Gattung zusammenzubringen, um ebenso Waldenfels’ Kommunikations- als auch die vorwiegend literaturwissenschaftliche Gattungstheorie weiterzudenken. Wie Waldenfels schreibt, reicht es nicht, die Regeln der Sprache zu beherrschen, um eine Aussage zu tätigen, nicht zuletzt, weil diese über die Komposition eines Satzes nicht hinausreichen (Waldenfels 1980b: 175). Damit befindet er sich in Übereinstimmung mit Bachtin und Lyotard, erörtert aber im Gegensatz zu ihnen das Problem der Satzanordnung nicht, worin sie die Funktion der Gattung erkennen. Er beschäftigt sich lediglich mit dem Problem der Anknüpfung, deren Vollzug er auf den Kontext zurückführt, und deren eingeschränkte Unbestimmtheit er betont. Zu fragen wäre nun, wie die Vorstellung eines Anknüpfungskontextes zu konkretisieren wäre, ohne dabei den eben konturierten kommunikativen Spielraum wieder zu schließen. Wie Bachtin zeigt, reicht der Erwiderungswunsch – ebenso wie die Regeln des Sprachsystems – nicht aus, damit eine Äußerung zustande kommt. Modelle des Aussageabschlusses stehen mit den Gattungen bereit, wie er schreibt – Aussagestrategien werden den Sätzen durch die Gattungen auferlegt, wie Lyotard argumentiert. Aber woher kommen diese Modelle, diese Strategien? Worin bestehen sie? Wird mit ihnen nicht wieder ein Regelsystem inauguriert, das Kommunikation auf die Reproduktion ihrer Muster zurückführt? Wie bereits angedeutet, entspricht dies nicht dem hier zu entwickelnden Ansatz. Demgegenüber gilt es, die Gattung selbst als Kontext zu denken, der einen Rahmen möglicher Satzverkettungen auftut. Als Anknüpfungskontext entfaltet die Gattung ihre Generizität: die Hervorbringung einer ent-sprechenden Aussage. Es sei darauf hingewiesen, dass eine vorhergegangene Äußerung oder der Äußerungswechsel zweier Kommunikationspartner nicht genügen können, um einen Kontext zu stiften, der fortzusetzen wäre. Gerade weil es keine erste Äußerung gibt, kann auch keine erste Äußerungssituation und kein erster Kontext existieren. Dies betrifft ebenso das Verhalten in einer unmittelbar dialogischen Kommunikationssituation (die ja nie körperliche Präsenz erforderte) wie den „kulturellen Austausch“, wie Bachtin die Produktion von Artefakten bezeichnet, und die – das ist deutlich zu machen – grundsätzlich ebenso dialogisch ist. Es muss gefolgert werden, dass ein 61

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Kontext nie nur in einer konkreten Kommunikationssituation aufgeht, sondern eine unbestimmbare Vielzahl vormaliger Situationen umfasst. Wie formuliert man eine Antwort auf eine Frage? Im Grunde sehr einfach: in Anlehnung an andere Antworten. Ein Kontext eröffnet damit einen Raum abgeschlossener Äußerungen, die sich entsprechen, und die zur Entsprechung auffordern. Die Gattung als Kontext – das bedeutet, dass unter Kontext nicht nur der unmittelbare Zusammenhang zu verstehen ist, der eine neue Äußerung provoziert, sondern auch eine historische Tiefe von Äußerungen und Gegenäußerungen äquivalenter Zusammenhänge. Ein solches Konzept der Gattung könnte erklären, wie ein enunziativer „Spielraum“ im kulturellen Austausch von Artefakten (also unabhängig von einer konkreten Verhaltenssituation) zustande kommen kann – womit sich Waldenfels in seinem Aufsatz nicht beschäftigt. Modell und Strategie der Gattung bestünden also darin, in dialogischer Auseinandersetzung mit der Geschichte einen Spielraum des Gegenwärtigen zu eröffnen. Hierin wäre ihre Funktion als kreatives Gedächtnis zu sehen, wie oben ausgeführt. Dieses Gedächtnis ist die sogenannte Regel der Gattung: das Wissen über eine Tradition von Äußerungen. Es bestimmt die intratextuelle Verknüpfung der Sätze und ermöglicht damit die intertextuelle Verkettung der Aussagen. Etwas zu Äußerndes wird artikuliert, indem es mit dem bereits Geäußerten thematisch und/oder formal in Beziehung tritt. Die Gattung stellt den Hintergrund des Gesagten dar, vor dem sich das Neue als differentieller Überschuss abhebt. Sie umfasst ebenso die Weiterführung wie den Bruch mit dem Geäußerten. Sie bildet kein Regelwerk der Satzverkettung, weil sie als Kontext durch jede neue anknüpfende Äußerung fortgeschrieben und verändert wird. Eine Gattung formt per se kein stabiles System, das Erfahrungs- und Handlungsschemata reproduziert (Luckmann), bzw. das sich der autonomen Sinnproduktion des Subjekts entgegenstellt. Vielmehr ist sie vorstellbar als kontinuierlich sich wandelnder Spielraum, in dem Sinn auf der Grundlage dialogischer Wechselwirkung mit anderen kommunikativen Akten koproduziert wird. Anders formuliert, engt eine Gattung den Spielraum der Erwiderungsmöglichkeiten ein, ohne ihn auszuschöpfen. Es bleibt bei einem Wiederaufgreifen der Äußerungstradition, die eine neue Aussage unausweichlich fortführt. Denn selbst, wenn sie eine bereits artikulierte Äußerung gänzlich wiederholt, kann sie dennoch nicht umhin, sie zu verändern, da eine WiederHolung aufgrund ihrer zeiträumlicher Differenz immer zugleich Verschiebung bedeutet.38 Die Gattungsregel – das kann im Grunde nicht die Vorschrift bestimmter Merkmale bedeuten, da eine Gattung nicht zu definieren ist, auch nicht über Merkmale.39 Derrida hebt hervor, dass eine Gattung prinzipiell nicht mit sich identisch ist, und Fowler weist darauf hin, dass keine Einzeläußerung mit einer anderen alle Merkmale teilt. Im Gegenteil, mit jeder Äußerung wandelt sich die Gattung. Wie der Autor deutlich macht, bestehen Gattungen aus 38 Vgl. Derridas Argument der Iterierbarkeit eines Zeichens (1976: 133). 39 „In short, genres at all levels are positively resistant to definition. Definition is ultimately not a strategy appropriate to their logical nature.“ („Kurz gefasst, sind Gattungen auf allen Ebenen gegenüber Definitionsversuchen eindeutig resistent. Definition ist letzten Endes keine Strategie, die ihrer logischen Natur angemessen wäre“) (Fowler 1982: 40).

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ständiger Umformung und Selbstüberschreitung: Sie stellen den historischen Wandel von Texten dar, die sich entsprechen. Die Art der Entsprechung ist prinzipiell offen. Nicht nur kann eine Aussage, wie erwähnt, dem jeweiligen Kontext widersprechen, sondern sie kann vorhergehende Aussagen schlicht wiederholen.40 Die Kontexte können an Offenheit bzw. Begrenztheit variieren, immer sind sie Vor-Gegebenes, das eine Aussage ermöglicht, ohne diese jedoch vorweg bestimmen zu können. Als Teil einer historischen Diskursformation kann Gattungen die Macht zukommen, den Raum der Entsprechungen dominant einzuschränken, äquivalente Erwiderungen zu privilegieren und somit Kontexttreue durchzusetzen – Abweichungen können sie als Nicht-System jedoch grundsätzlich nicht ausschließen. Deutlich wird hiermit, dass je nach historischer Diskursformation Gattungen immer wieder andere Funktionen erhalten können, vor allem aber dass generische Kontexte äußerst unterschiedlich strukturiert sind. Ein fortbildender Kontext kann sich als Gattung mit einem Gattungsnamen zu erkennen geben, der auf seine Geschichte verweist.41 Generizität wird jedoch auch durch spontane Kontexte geschaffen, die in der Abfolge konkreter Aussagen unterschiedlicher Gattungen vorliegen können. Zu denken wäre nicht ausschließlich an das von Waldenfels untersuchte kommunikative Verhalten, das im Übrigen ebenso wie Artefakte historischen Gattungen unterliegt. Zu folgern wäre insbesondere, dass eine Äußerung kaum nur einem einzigen generischen Kontext entspringt sondern mehreren zur gleichen Zeit, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. So kann etwa eine Aussage einen thematischen Kontext fortbilden, sich dabei an einen stilistischen anlehnen, aber von einer Äußerung provoziert werden, die ihrerseits ganz anderen Traditionen entspringt.42 Gemeint ist damit weder eine kategoriale Unterscheidung zwischen 40 Wie sich Aussagen zu Gattungen verhalten, liegt z.T. an den Gattungen selbst. JeanMarie Schaeffer beispielsweise unterscheidet bei den gewöhnlichen Beziehungen einer Aussage zur Gattung zwischen Exemplifikation und Modulation. So ist die Gattungsbeziehung exemplifizierend, wenn mit der Gattung pragmatische Aspekte des kommunikativen Aktes verbunden sind, so bei der Predigt z.B. Außerdem ist sie bei Gattungen exemplifizierend, mit denen nur globale diskursive Haltungen einhergehen, wie bei der Gattung Drama oder bei der Erzählung. Die individuelle Textstruktur wird bei diesen Gattungen nicht berührt. Modulierend ist die Gattungsbeziehungen bei Gattungen, die sich auf syntaktische und semantische Aspekte der Aussagen richten. In diesem Fall geht jeder Text eigene Wege, so z.B. bei der Gattung philosophische Erzählung (Schaeffer 1989: 156-170). 41 Schaeffer hat darauf aufmerksam gemacht, dass Gattungsbezeichnungen selbst Teil der Geschichte (literarischer) Aussagen sind. Sie sind deshalb wichtig, weil Gattungen keine kausale Kategorien bilden und im Bereich der Artefakte, also im Gegensatz zur Biologie, das Individuelle, das an ihr teilhat, nicht erklären können. Gattungsnamen kommen daher als einziger „stabiler Sockel“ in Betracht (der durch analytische Begriffe nicht einfach ersetzt werden kann), denn sie geben Aufschluss über die „Generizität“, also über die Bedingungen sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Aussagen. Jedoch beziehen sie sich immer nur auf einzelne Niveaus einer Aussage, also auf den globalen Kommunikationsakt, auf den formalen oder den semantischen Aspekt (Schaeffer 1989: 68, 75, 129). 42 Vorstellbar wäre als (frei erfundenes) Beispiel ein wissenschaftlicher Aufsatz, der die Konventionen dieses Genre beachtet (Fragestellung, Thesenbildung, Quellenbelege,

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historischen und spontanen noch eine zwischen inhaltlichen und formalen Kontexten sondern nur ein Hinweis auf die Vielschichtigkeit des jeweiligen generischen Kontextes, der sich als ein pluraler erweist. Anknüpfungskontexte entstehen mit anderen Worten innerhalb historischer Gattungen und über sie hinweg. Damit ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Gattungen angesprochen: ihre intergenerische Tendenz. Nicht nur sind also, wie bereits erörtert, ihre Grenzen fließend, sie sind grundsätzlich durchlässig gegenüber anderen Gattungen.43 Gattungen, mit anderen Worten, gehen ineinander über. Daraus folgt, dass eine Aussage, wie Derrida schreibt, einer Gattung nicht angehört, sie nimmt an ihr teil (Derrida 1980: 185) – weil sie prinzipiell an mehreren teilhat. Daher kann die Zuordnung einer Aussage zu einer Gattung zwar möglich sein, aber sie lässt sich von dieser nicht vorschreiben. Wenn also ein pluraler Kontext aus sich überlagernden und miteinander korrespondierenden Gattungen gebildet wird, so bedeutet dies, dass sich Generizität in der Verflechtung von Kontexten vollzieht. Ein Modell, das die Entstehung von Aussagen auf der Grundlage generischer Kontexte analysiert, führt folglich nicht zu drastischen Komplexitätsreduktionen. Was Lyotards Einschätzung betrifft, Gattungen verdrängten andere Gattungen in der Satzverknüpfung und erlaubten keine intergenerische Passagen: sie kann angesichts der Vielschichtigkeit des Verkettungsmoments nicht ohne Einschränkungen bestätigt werden. Ein Kontext setzt sich aus einer Mehrzahl von Gattungen und Einzeläußerungen zusammen und verschränkt sich intergenerisch mit anderen – nichtsdestoweniger ersetzt er andere mögliche plurale Kontexte und schließt sie bei der Aussagenbildung aus. Ein Widerstreit im Sinne Lyotards ist daher im Verkettungsmoment auch vielfältiger Anknüpfungskontexte grundsätzlich gegeben. Mit der Rede vom verschränkten Kontext soll nicht behauptet werden, dass jede Aussagenverkettung aus einem Zusammenspiel einer Vielzahl von Gattungen hervorgehen muss. Es soll lediglich die mögliche Weite des kontextuellen Spielraums angedeutet werden. Auf dieser Grundlage sollen dann Einschränkungen des Verkettungskontextes und die Undurchlässigkeit von Gattungsgrenzen als Sonderfälle diskutiert werden können. Dabei gilt es, den Blick dafür zu schärfen, dass Anknüpfungskontexte soziohistorisch gegeben sind. Sie sind als Bestandteil der Diskursformation bzw. als historische Möglichkeitsbedingung des Äußerns zu analysieren. Ihre Untersuchung soll einen methodischen Beitrag zur Beantwortung der Frage liefern, was annähernd in einem epistemischen Zeitraum in einer Gesellschaft (oder einem sozialen Sektor) geäußert werden konnte – und vielleicht was nicht. Genauer gefasst, geht es aber nicht nur um die historischen Spielräume des Äußerns sondern aufgrund der notwendigen Instabilität der Gattungen auch um den Wandel und die Brüche der Kommunikation.

kritischer Apparat etc.), in seinen Formulierungen Anleihen beim Essay (u.a. Spiel mit Paradoxa und Provokationen, absichtsvoller Subjektivismus) macht, der sich inhaltlich mit Reiseführern auseinandersetzt, und der durch ein Gespräch in der Universitätskantine inspiriert wurde. 43 Zu den „intergenerischen Beziehungen“ der Gattungen s. auch Fowler, der wegen der Neigung der Gattungen, sich miteinander zu vermischen, ihr „taxonomisches Potential“ als sehr gering einstuft (1982: 249-255).

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Wie oben ausgeführt, versucht das Modell des generischen Kontextes, deutlich zu machen, dass sich die Produktion von Sinn im Draußen der Kommunikation ereignet. Was damit aber nicht impliziert wird, ist, dass ein solcher Anknüpfungskontext einer Aussage nach ihrem Zustandekommen als ‚eigentlicher Sinn‘ und Ursprung anhaftete. Wie Derrida erörtert hat, ist jedes Zeichen „graphematisch“ (Derrida 1976: 143), es ist Schrift, wie er schreibt, d.h. es erschöpft sich nicht in der Gegenwart seiner Einschreibung. Als Zeichen ist es in Abwesenheit dieses Kontextes lesbar und wiederholbar. Aufgrund dieser fundamentalen Iterierbarkeit bricht das Zeichen mit dem Kontext, d.h. „mit der Gesamtheit von Anwesenheiten, die das Moment seiner Einschreibung organisieren“ (135). Eine Äußerung, so könnte gefolgert werden, entsteht in einem bestimmten Kontext, sie ist aber späterhin für ihr Funktionieren nicht mehr auf diesen Kontext angewiesen und löst sich unweigerlich von ihm. [...] auf Grund seiner wesentlichen Iterierbarkeit kann man ein schriftliches Syntagma aus der Verkettung , in der es gegeben oder eingefasst ist, immer herauslösen, ohne daß ihm dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens, wenn nicht eben alle Möglichkeiten von „Kommunikation“, verloren gehen. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder ihnen aufpropft. Kein Kontext kann es einschließen. (Derrida 1976: 135)

Gemeint ist hiermit, dass das Zeichen aufgrund seiner Iterierbarkeit jeden Ursprung einer Intention verliert und sich damit der Präsenz des Bewusstseins entzieht. Das bedeutet jedoch im Zusammenhang mit dem bisher Erörterten, dass eine Aussage weder an das Meinen des Subjekts gebunden sein kann noch an einen sinneinschließenden Entstehungskontext. Zeichen bzw. Aussagen existieren nicht jenseits von Kontexten, aber sie gehören keinem einzelnen Kontext sondern bewegen sich zwischen ihnen. „Dies setzt nicht voraus, daß das Zeichen (marque) außerhalb von [sic] Kontext gilt, sondern im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt“ (141). Jede Äußerung entzieht sich ihrem Anknüpfungskontext und lässt sich in beliebig viele Kontexte einlesen. Interessant ist in bezug auf die „Rekontextualisierung“ von Texten Schaeffers Unterscheidung zwischen einer généricité auctoriale und einer généricité lectoriale. Generizität erweist sich demnach als ein doppelter Prozess, der sich ebenso bei der Produktion wie bei der Rezeption vollzieht. Der Autor will darauf hinaus, dass die Beziehung eines Textes zur Gattung zum einen durch seine Entstehung, zum anderen durch seine Lektüre bestimmt wird. Während bei der Textgenese nur Gattungskriterien wirksam sein können, die dem Text vorzeitig sind, können bei der Rezeption Merkmale ins Spiel kommen, die nach dem Text entstanden sind. So wandelt sich die Gattung nach Erscheinen eines Textes und sein späteres Verständnis durch die Leser (Schaeffer 1989: 147-151). Dieser Gedankengang, der in etwa auch in rezeptionsästhetischen Ansätzen wie in Jauß’ Modell des Erwartungshorizonts angelegt ist (Jauß 1994), liegt nur zu nahe: Der Anknüpfungskontext ist keine stabile Größe sondern befindet sich in stetigem Wandel und Fortbildung. Dieser flüchtige Kontext bedingt zwar die Äußerung, und der Erwiderungswille mag bestimmte Prioritäten innerhalb dieses generischen Spielraums setzen, sie können sich in die Aussage als iterierbares Graphem jedoch nicht einschließen. Jede Rezeption wird sie in 65

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einen neuen Kontext von sich überlagernden und wandelnden Gattungen einlesen und so neuen Sinn koproduzieren.44 Wenn Sinn im Zwischenbereich der Wechselbeziehung zwischen pluralem Kontext und neuer Äußerung entsteht, stellt sich die Frage: Was ist Sinn? Im Rahmen der hier vorgelegten Argumentation ließe sich antworten, Sinn wäre das, was zu einer Aussage berechtigt, also die unbestimmte Entsprechung des Kontextes vorhergehender Äußerungen. Nicht transzendental und auch nicht inhaltlich zu fassen, ließe sich Sinn als die generative Differenz verstehen, die die Aussagen miteinander verknüpft. Sinn entsteht aus Sinn, bzw. aus der Fortbildung von Sinn – oder anders ausgedrückt: Sinn ist eine Bewegung. Sinn kann nicht festgeschrieben sondern nur fortgeschrieben werden, er ereignet sich in seiner Koproduktion. Kommunikation und Sinnschöpfung funktionieren auf der Grundlage der Gattungen als ursprungsloses Kontinuum. Wie bereits erörtert, hat dies nichts mit einem semantischen Kontinuum zu tun bzw. mit der Kontinuität eines Anknüpfungskontextes. Im Gegenteil enden generische Kontexte und schließen sich – ihre Aussagenverkettung kommt zum Stillstand. Gleichzeitig treten Gattungen allmählich oder plötzlich auf und eröffnen einen neuartigen Kontext, der bestehende umwandelt bzw. miteinander vermengt. Dieser bleibt nicht konstant sondern wird fortgebildet, bis auch er keine Entsprechung mehr findet. Einzelne Gattungen sind nicht zeitlos, sondern führen eine zeitlich, räumlich und kulturell bedingte Existenz. Sie unterliegen daher Grenzen, sie kennen Anfang und Ende. Fowler weist jedoch darauf hin, dass das Ende einer literarischen Gattung nicht deren Auslöschung bedeutet, sondern nur deren Übergehen in eine andere, ebenso wie ihre Entstehung auf bereits existierende Gattungen zurückgeht (vgl. Fowler 1982: 166-169). Ein Bruch einer Äußerung mit einer Gattung kann beispielsweise das Ende dieser Gattung bedeuten aber gleichzeitig eine neue Gattung begründen, indem sie im selben Kommunikationsakt an andere anknüpft. Einzelne Gattungen stellen daher kein kommunikatives Kontinuum dar, wohl aber die Gattungen in ihrer unbestimmbaren Summe.

3.5 Gattungen und Medien Gattungen konstituieren, so wäre zusammenzufassen, einen sich fortbildenden Raum von Anknüpfungen, in dem Sinn in der Verschränkung mit dem Anderen entsteht. Sie bestehen aus Aussagen, die die unbestimmte Entsprechung neuer Aussagen provozieren (oder sie geraten in Vergessenheit). Als sich überlagernde und plurale Kontexte bilden sie Bedingungen für die Streuung von Aussagen, wie Foucault es formuliert. Gattungen, wie dargelegt, sind Teil des historischen Apriori von Aussagen, dem als übergreifende Diskursformation jedoch auch sie unterworfen sind. Ein Element dieser epistemischen Konfiguration, das als unmittelbare Voraussetzung der Gattungen 44 Der Leser, so formuliert es Barthes, ist „dieser Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren zusammenbringt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt“ („il est seulement ce quelqu’un qui tient rassemblées dans un même champ toutes les traces dont est constitué l’écrit“) (Barthes 1984: 69).

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erscheint, ist ihr „materieller Status“. Gattungen bedürfen der MitTeilbarkeit, der Dazwischenkunft, der technischen Realisierung von Aussagen – sie sind auf Medien angewiesen. An diesem Punkt jedoch erschöpft sich der rein literaturwissenschaftliche Beitrag zur Theorie der Gattungen. Die Medien als kulturprägenden Faktor anzuerkennen, bedeutet, die Eingangsüberlegungen fortführend, Sinnstiftung nicht ausschließlich im Bereich des Diskursiven zu verorten. Eine medienorientierte Kulturtheorie muss nicht nur über das Hermeneutische hinaus gehen sondern auch über das Semiotische. Sie muss sich für Sinngebungsprozesse jenseits des Zeichengeschehens öffnen. Diese wären vorläufig als medial zu bezeichnen und in bezug auf die konstatierte Indifferenz des Mediums gegenüber der Botschaft zu problematisieren, was weiter unten in Angriff genommen wird. Jedoch sei an diesem Punkt erlaubt zu insistieren, dass die Fokuserweiterung jenseits des Zeichenhaften die Vorstellung der Kultur als Text überwindet.45 Damit ist dieses Konzept nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern es gilt, deutlich zu machen, dass Kultur nicht nur lesbar ist, dass also nicht alle Entstehung von Sinn auf der Grundlage des Strukturmodells der Sprache bzw. der Schrift zu verstehen ist.46 Worauf es ankommt, ist weniger die Frage, ob Bilder im linguistischen Sinne als ‚Aussagen‘ zu betrachten sind oder als ikonische Kommunikate, die ihrer eigenen, bildlichen Bedeutungslogik aufsitzen. Vielmehr geht es darum, dass jede Kommunikation medial ist. Aber Medien produzieren, wie bereits ausgeführt, ebenso Sinn wie Irrsinn, Information wie Rauschen. Um in diskursive Formationen eingehen und Äußerungen konstituieren zu können, muss die mediale Zeichenbildung als solche einem generischen Kontext unterliegen. Artefakte können nur dann als Zeichengebilde wahrgenommen werden und als solche von sich weg verweisen, wenn sie in begrenzt-offener Weise anderen Zeichen entsprechen. Erst durch eine enunziative Verkettung bringen Medien eine Äußerung zur Erscheinung, hinter der sie entschwinden, andernfalls erscheinen sie – dann jedoch wiederum als etwas Anderes, nämlich als ‚stummes Ding‘. Medien und Gattungen müssen, so die Schlussfolgerung, zusammengehen, um als solche zu fungieren. Die These der gegenseitigen Bedingung von Gattung und Medium (Michael/Schäffauer 2004: 286-290) hat die 45 Die Metapher der Kultur als Text suggeriert, dass die Kultur ein semiotisches Universum darstellt bzw. einen sprachanalogen Sinnkomplex. Ausgeweitet wurde der Textbegriff insbesondere durch die poststrukturalistische Texttheorie, die unter „Text“ jegliche bedeutungsstiftende „Produktivität“ – und freilich kein Bedeutungsprodukt – versteht. Eine solche überbordende Bedeutungsschöpfung, wie sie durch „Text“ entsteht, ist nicht medial festgelegt („Toutes les pratiques signifiantes peuvent engendre du texte: la pratique picturale, la pratique musicale, la pratique filmique, etc.“ Barthes 1977: 1016) und steht daher für die Kultur als Ganzes. Zur hermeneutischen Interpretierbarkeit der Kultur sei auf Gadamer verwiesen: „Am Ende enthält Goethes universale Wendung »Alles ist Symbol« – und das will doch heißen: ein jegliches deutet auf ein anderes – die umfassendste Formulierung des hermeneutischen Gedankens“ (Gadamer 1993: 7-8). Zur Geschichte des Textbegriffs siehe Knobloch 1990 und zur Konzeption der Kultur als Text sowie ihrer Kritik vgl. auch Michael (2004). 46 Zur Auffassung, dass Kultur nicht nur Symbolisches und semiotisch Gegebenes ist, vgl. Krämers und Bredekamps Plädoyer „Wider die Diskursivierung der Kultur“ (2003).

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grundlegende Verschränkung des Technischen und des Kulturellen zum Gegenstand. Kultur ist immer schon technisch, da sinnstiftende Aussagenverkettungen mediale Rahmungen voraussetzen. Medien sind immer schon in die historische Tiefe der Aussagenverkettungen eingelassen. Das Draußen des Sinns wird doppelt fremd: In ihm überlagert sich die Vorgängigkeit des Anderen mit dem unvordenklichen Zuvorkommen des Mediums. In den Aussagen verkreuzen sich die Seienden mit den Anderen aus Gegenwart und Vergangenheit und zugleich mit dem Anderen des Mediums. Die Technisierung des Aussagens (die vielzitierte „Medialisierung“) macht den Menschen nicht fremder, als er immer schon war. Der Medienwandel kündigt daher nicht das Schlimmste an – und so wird der Blick auf das Schlimme an ihm frei. Wenn das Medium in die historische Tiefe der Gattung reicht, so bedeutet dies nicht, dass es eine Kontinuität zur ihrer Vergangenheit im Rahmen früherer Medien herstellt. Im Gegenteil tut sich im geschichtsbildenden Über-Gang der Gattung von einem Medium auf das andere ein Bruch des Anknüpfungskontextes auf, in dem der mediale Umbruch der Kultur zu erkennen ist. Diese kulturelle Zäsur bedeutet: Auch wenn die Aussage in der Passage von einem Medium zum anderen konstant bleibt, ändert sich ihr Sinn. Welcher Art sind aber die Beziehungen zwischen Gattung und Medium? Wenngleich die Mediennutzung spontan erkennen lässt, dass sich manche Gattungen gegenüber manchen Medien als ‚passend‘ erweisen, so ist immer vorstellbar, dass Medien auch ‚unpassende‘ Gattungen übertragen. Es ist daher davon auszugehen, dass Medien Gattungen zwar grundsätzlich ohne Vorbehalte und Voraussetzungen übertragen, dass sie sie jedoch einer An-Passung unterziehen. Das hieße, dass Medien prinzipiell keine spezielle Eignung seitens der Gattung voraussetzen, sondern dass sie sich die Gattung gewissermaßen vorübergehend zu eigen machen. In diesem Sinne verändert sich die Gattung durch die mediale An-Eignung. Anders ausgedrückt verleiht ihr der Übergang auf ein neues Medium ein distinktives Merkmal. Daraus folgt, dass das Zusammengehen von Gattung und Medium nicht nur als das Phänomen einer Selektion sondern eher als das einer Transformation zu verstehen ist. Aber in welcher Weise transformiert das Medium die Gattung? Die These der Indifferenz des Mediums gegenüber der Enunziation schließt aus, dass die mediale An-Eignung der Gattung einen nennenswerten Einfluss auf den Inhalt und die Aussagenverkettung ausübt. Wie lässt sich jedoch die mediale Rahmung der generischen Weltkonstitution beschreiben? Es handelt sich hierbei um die Frage nach der Dazwischenkunft des Mediums, die die Wahrnehmung der Gattung bzw. ihrer enunziativen Verkettung ermöglicht. Mit anderen Worten geht es darum, zu beschreiben, auf welche Weise das Medium die Gattung und ihre Aussagen in Erscheinung treten lässt. Im Rückgriff auf oben dargelegte Argumente soll im Folgenden gezeigt werden, wie diese Wahrnehmungsstiftung als Performanz des Mediums konzipiert werden kann.

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3.5.1 M EDIALE P ERFORMANZ Das Medium ist nicht selbst die Botschaft, wie McLuhans Anthropomorphismus proklamierte, denn es ersetzt nichts Menschliches, was nicht immer schon prekär gewesen wäre. Jedoch wäre ausgehend vom kategorialen Sinnvorbehalt des Mediums gegenüber der Äußerung nach einer Dimension des Mediums zu fragen, in der ein nicht-enunziatives Mehr an Sinn entsteht. Gemeint ist Sybille Krämers These des Mediums als einer „Spur“, die in die Botschaft hineinragt. Die „Materialität“ des Mediums, so die Autorin, bringt „einen nicht-diskursiven, einen vor-prädikativen Überschuß an Bedeutung“ hervor (Krämer 1998a: 79). Medien, rekapitulierend, ersetzen keine vermeintlich ‚menschliche‘ Sinngebung, sie haben an der Bedeutungsstiftung einer Aussage an sich keinen Anteil, sie beschränken sich auf das Übertragen von Botschaften jeglicher Art. Wie auch Dieter Mersch schreibt, sind Medien an Sinnbildungsprozessen beteiligt, aber sie selbst schaffen keine Botschaften. Sie setzen Sinn voraus. Sie genügen sich ob dieser Angewiesenheit auf Bedeutungen nicht selbst (Mersch 2004: 78, 90). Ebenso wenig jedoch kann Sinn sich selbst erfüllen und bedarf eines koproduktiven Anknüpfungsgeschehens in der medialen Übertragung. Aber die Vollzugsformen des Aussagens, die Rahmungsmodalitäten des enunziativen Horizonts erzeugen Interferenzen in der Äußerung, die weitgehend unabhängig von der sinnbildenden Verschränkung mit anderen Aussagen sind. Die Vollzugsbedingungen des Aussagens (und Rezipierens), die den einzelnen Medien eigen sind, fügen der Aussage etwas hinzu – jedoch nur am Rande. Solche Aspekte der Sinnstiftung jenseits der Zeichenebene erörtert die Debatte über Performativität. Die Frage nach dem Performativen erweitert den Sinnbegriff, indem sie bekanntlich Handlungen selbst als signifikant anerkennt. Nach John Austin besteht die Bedeutung einer performativen Äußerung in ihrem Vollzug, d.h. sie führt den Zustand herbei, den sie denotiert. Es handelt sich folglich um eine Art der Sinnstiftung, die nicht zeichenvermittelt sondern handlungsgeneriert ist. Eine performative Aussage kann also weder wahr noch falsch sein (aber gelingen oder verunglücken), wie Austin schreibt (Austin 2002). Nachdem der Begriff des Performativen in der Sprechakttheorie geprägt (und zugunsten des Illokutionären wieder zurückgenommen47) wurde, griff ihn die Dekonstruktion kritisch auf, bevor er kulturwissenschaftlich ausgeweitet wurde.48 Geeint werden die unterschiedlichen Vorstöße von der kulturtheoretischen Überwindung der Textmetapher der Kultur bzw. von der Fokussierung auf Sinnstiftungen jenseits des Zeichenuniversums. In der Bestimmung der performativen Sinnschöpfungen gehen die Ansätze freilich wieder auseinander. Erika Fischer-Lichte beispielsweise schlägt Performance als neue Kulturmetapher vor und plädiert damit für eine theatralische Konzeption der Kultur (Fischer-Lichte 2004: 36). Anzeichen für eine Theatralisierung der

47 Hierzu siehe Krämer/Stahlhut (2001: 36). 48 Gemeint ist die bereits erwähnte Rede vom performative turn der Kulturwissenschaften. Zu den verschiedenen ‚Passagen‘ des Begriffs des Performativen bis hin zur Medientheorie siehe Krämer (2004) und Wirth (2002).

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zeitgenössischen Kultur, die sie als „Kultur der Inszenierungen“ bzw. als „Inszenierung von Kultur“ beschreibt, mögen ihr dabei recht geben (FischerLichte 1998: 24). Jedenfalls überarbeitet sie Austins Begriff des Performativen im Rückgriff auf Judith Butler dahingehend, dass sie statt der Gelingensbedingungen der Sprechakte die Verkörperungsbedingungen von bedeutungsstiftenden Handlungen in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt. Zugleich betont sie den öffentlichen Charakter performativer Akte ebenso bei Austin wie bei Butler und schließt daraus, dass diese Akte aufgeführt werden müssen, um Performativität zu entfalten. Ihr Beitrag zur Performativitätsdebatte liegt deshalb darin, aufgrund der engen Bindung zwischen Aufführung und Performativität, eine „Ästhetik des Performativen im Begriff der Aufführung zu fundieren“ (Fischer-Lichte 2004: 41). Aus den Verkörperungsbedingungen werden so Aufführungsbedingungen, wobei jedoch zwischen Aufführung, Inszenierung, Performance und Performanz nicht mehr scharf unterschieden wird. Entscheidend ist das Ereignis, das in der Aufführung entsteht, und das von dessen „spezifischer Medialität“ bestimmt wird. Das bedeutet, dass etwas geschieht, das einen Eigensinn unabhängig von dem dabei zu Äußernden entwickelt. Seine Bedeutung liegt im Geschehen selbst.49 Der Autorin geht es hierbei speziell um die Kopräsenz von Schauspielern und Zuschauern, die Wechselwirkungen zwischen beiden Gruppen hervorruft, die unabhängig vom Zeichencharakter des Bühnengeschehens sind (Fischer-Lichte 2003: 16-17 u. 2004: 47-52). Es ist offensichtlich, dass die „Theatralisierung“ des Performanzbegriffs seiner „Medialisierung“ Vorschub leistet, indem sie den Fokus von den Bedingungen des Gelingens performativer Akte auf die der Verkörperung bzw. der Aufführung verschiebt. Da diese Bedingungen medial sind, gerät somit die Medialität der Akte in den Blick. Wirth erkennt übrigens in der Archäologie des Wissens einen ersten „Problemaufriß“ für die Erörterung der Materialität performativer Akte, da Foucault historische Aussagen als Akte auffasst, deren diskursanalytische Relevanz sich nicht inhaltlich bestimmt sondern durch die historischen Umstände ihres Vollzuges (Wirth 2002: 42-43). Wie bereits erwähnt, spricht Foucault die Materialität der Aussage an, erörtert sie aber nicht als solche. Seine Nennung in einer Genealogie der medientheoretischen Wendung des Performanzbegriffs scheint daher eher dem Mangel an Ansätzen geschuldet, denn auch Wirth beschränkt sich in seinem Abriss faktisch auf Sybille Krämer. Fischer-Lichte hält in der Erörterung der Theatralität des Performativen inne und stellt darüber hinaus die allgemeine Frage nach den Medien nicht. Die Medientheorie ihrerseits hat sich, so weit mir bekannt, für die Performativitätsdebatte kaum interessiert. So bleibt es letztlich Krämers Verdienst, Performativität medientheoretisch zu denken. Krämer geht es um eine grundsätzliche Kritik der Theorien der Repräsentation (seien sie semiotischer, hermeneutischer oder anderer Provenienz). Sie kritisiert sie als ‚Zwei-Welten-Ontologie‘, die die Welt in eine Tiefenstruktur universaler Muster oder Regeln und in eine Oberflächenstruktur ak49 „Für die Ereignishaftigkeit der Aufführung ist die Emergenz dessen, was geschieht, wichtiger als das, was geschieht, und als die Bedeutungen, die man ihm später, d.h. nachdem das Ereignis vorbei ist, beilegen mag. Daß etwas geschieht und das, was geschieht, beides affiziert alle am Ereignis Beteiligten, wenn auch durchaus auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße“ (Fischer-Lichte 2003: 17).

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tueller Realisierungen dieser Universalien aufspaltet (1998b: 33-34). Die Zeichentheorien der Sprache verfehlen, so die Autorin, das Sinnschöpfungspotential des medialen Vollzugs der Sprache. Krämer fragt daher nicht nach Symbolisierung sondern nach Somatisierung und plädiert dafür, jede Repräsentation zuerst als Präsentation anzuerkennen (2004: 25, 20). Wenn sich der Fokus derart vom Regelwerk auf das Phänomen (und auf seine Materialität sowie auf seine Ereignishaftigkeit) verschiebt, kann das Augenmerk, so die Autorin, nicht länger nur mehr auf dem Sich-Zeigen ruhen sondern muss auch das Wahrnehmen einbeziehen. Beides, also den „bipolar strukturierte[n] Vollzug eines Ereignisses und seine Wahrnehmung“, soll der Begriff der „Aisthesis“ in den Blick bringen (13). Das „Mediengeschehen“ soll nicht als Zeichengeschehen verstanden werden sondern als eines, das „sich ein Stück weit der Ordnung der Semiosis und den Regeln der Repräsentation und Kommunikation [entzieht]“. Das „Aisthetische“ wird in Abgrenzung zur traditionellen Ästhetik als das „in-Szene-setzende Wahrnehmbarmachen“ aufgefasst (25). Obwohl Krämer in der Frage nach der „Aisthesis“ eine Tendenz in der Performativitätsdebatte erkennt, bleibt sie eine detailliertere Bestimmung des Begriffs (und weiterführende Verweise) schuldig. So erweist sich die Rede von der aisthetischen Performativität der Medien eher als Forschungsprogramm denn als Untersuchungsergebnis. Ein bisschen überrascht hierbei, dass Krämer die existierenden Ansätze zur Medienästhetik, etwa den bereits erwähnten von Ralf Schnell (2000 und 2002), nicht berücksichtigt. Die Frage nach der Performativität der Medien ist mit Krämer also angedacht, bleibt aber weiterhin offen. Als wichtiger Anstoß erscheint hierbei die Anerkennung des marginalen, nicht-repräsentationalen Sinnschöpfungspotentials der Medien und seines Spannungsverhältnisses zur anknüpfungsgenerierten Aussage. Festzuhalten wäre folglich, dass der mediale Vollzug der generischen Kontextfortbildung der Aussage als fragmentarische Spur anhaftet. Daraus wäre zu schließen, dass die Aussagenverkettung der Gattung nicht nur offensichtlich auf den medialen Vollzug – als „Träger“ – angewiesen ist, sondern von der Dazwischenkunft des Mediums affiziert wird. Zu fragen bleibt, wie diese mediale Dazwischenkunft in der Aussagenverknüpfung, die sich mit der Wendung des performatorischen Sinnüberschusses des Mediums umschreiben lässt, konkret zu bestimmen ist. Ohne diese offene Frage schließen zu wollen und auf die Verlockungen konkreter ‚Lösungen‘ einzugehen, sei nach einem Ansatz gesucht, wie mit dieser Frage in einer Weise umgegangen werden kann, die über den Hinweis eines neuen Forschungsfeldes hinausgeht. Zunächst sei daran erinnert, dass das Performative Situierungen in Zeit und Raum zu denken gibt, also das nur schwer fassbare Problem des Ereignisses. Es kann nicht darum gehen, auf dem Umweg der medialen Performativität zu einer mit sich selbst identischen Medialität vorzustoßen, deren Bestimmung an anderer Stelle bereits als wenig sinnvoll erachtet wurde. Was die Performativitätsdebatte vorschlägt, ist, den medialen Äußerungsvollzug als Handlung anzusehen bzw. als ein Ereignis, das eine ‚aisthetische‘ Wirkung auf den Rezipienten entfaltet. Insofern sind, wie FischerLichte es im Fall der theatralischen Aufführung beschreibt, und wie Krämer es allgemein mit dem Begriff der „Aisthesis“ zu fassen versucht, Wahrnehmungsprozesse in den Blick zu bringen, denen sich Rezipienten in ihrer Mediennutzung aussetzen, und die unabhängig von den Deutungen der Äuße71

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rungen sind. Wichtig ist, wie Krämer bemerkt, dass es kein ‚reines‘ Ereignis der Medienperformanz gibt, das etwa nur für die Präsenz der Darsteller und Zuschauer im Theater zuträfe, woraufhin sich das Problem der technischen Reproduktion stellte (vgl. Krämer 2004: 18). Ferner ist zu unterstreichen, dass es hierbei, wie bereits angedeutet, nicht um den Zusammenhang von Repräsentation und Dekodifikation geht, der den Selbstentzug des Mediums zur Voraussetzung hat. Vielmehr handelt es sich um ein Problem der Präsentation, der Vergegenwärtigung, nicht um die zeichenhafte Verweisung auf Abwesendes. Diese mediale Performanz lässt sich als Erfahrung des Wahrnehmens selbst verstehen, als Moment der Setzung des aisthetischen Horizonts, als ephemeres Rauschen des medialen Selbstentzugs, bevor das Medium hinter der Aussage verschwindet. Bei dem Mediengeschehen dreht es sich folglich nicht um die Welten, die die Aussagen bedeuten sondern um den stets marginalen Akt der Öffnung und Rahmung dieser Welten, um die nicht-signifikante Dazwischenkunft des Mediums. Mediennutzer kennen diesen medialen Akt, sie haben sich mit den Funktionsformen der Medien vertraut gemacht. Das Medium verlangt von seinen Nutzern, sich seiner Dazwischenkunft zwischen ihnen und den von ihm eröffneten enunziativen Welten zu unterziehen. Die Erfahrung dieses Dazwischenkommens ist flüchtig und weicht augenblicklich der frei-gesetzten Wahrnehmung, notwendigerweise aber bleibt das Medium während der Wahrnehmung dazwischen und haftet dieser an. Ein Medium verlangt von seinen Nutzern spezifische Kompetenzen, etwa die Fähigkeit zu lesen, und es erfordert Aufwand, es nutzen zu können, z.B. den Erwerb eines Fernsehgerätes. Es unterwirft seine Nutzer bestimmten „An/Ordnungen“ (Paech: 2003: 180), indem es sie zu teils umfangreichen Handlungen auffordert, die die Rezeption ermöglichen, beispielsweise die Programmstruktur von Rundfunkmedien zu beachten oder öffentliche Vor- bzw. Aufführungen aufzusuchen. Mediale Performanz folgt aus dem Wahrnehmungsereignis. Dies bedeutet, dass der analytische Fokus zunächst ebenso auf die aisthetische wie auf die pragmatische Dimension der medialen Dazwischenkunft gerichtet ist. Auf der Grundlage der Arbeiten von Krämer und Fischer-Lichte soll so gezeigt werden, wie das Medium jenseits von der generischen Aussagenverknüpfung einen performatorischen Mehrwert an Sinn provoziert, der der jeweiligen Gattung anhaftet und sie modifiziert. Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass die mediale Dazwischenkunft auch unter dem Aspekt der Handlung verstanden werden kann. Praktisch in Umkehrung der Fragestellung von Austin, der sich in der zweiten Vorlesung mit Äußerungen beschäftigte, die – mehr als etwas zu bedeuten – eine Handlung vollziehen (vgl. Austin 2002: 63), geht es in der Medienrezeption um Handlungen, die – mehr als etwas zu tun – einen Bedeutungscharakter annehmen. Gemeint sind freilich nicht symbolische Handlungen im Rahmen des Zeichengeschehens. Performatorische Handlungen verweisen nicht auf ein Abwesendes sondern eröffnen vielmehr durch ihre tuende Vergegenwärtigung der Aussage eine unverhoffte, subliminale Sinndimension: So bedeutet es etwas Anderes, einen Feuilletonroman zu lesen, als eine Telenovela zu sehen. Um dies zu erörtern, ist eine je nach Medium differierende Wahrnehmungssituation herauszuarbeiten. Die mediale Vergegenwärtigung unterwirft 72

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die Adressaten einer spezifischen Rezeptionssituation. Der Akt der (stillen) Lektüre beispielsweise erfordert Konzentration und schließt Nebenbeschäftigungen aus. Er ist jedoch völlig disponibel und bewegt sich in Zeit und Raum mit dem Leser, der Leserin. Die Telenovela-Schau dagegen findet mitten im Familiengeschehen statt. Allerdings ist sie an das Programm des Fernsehens gebunden und ordnet die Zuschauer zu festen Zeiten vor dem Empfangsgerät an. Auf dem Spiel stehen folglich je eigentümliche Wahrnehmungserfahrungen, die mit den Medien einhergehen. Dabei wirkt etwas auf den Rezipienten und letztlich auch auf die Aussage zurück, das näher zu bestimmen ist.50 Wie diese mediale An/Ordnung der Wahrnehmung jedoch zu fassen ist, dazu bietet die Performativitätsdebatte bislang nur vereinzelte Anhaltspunkte. Um sie in diesem Sinne weiterzuentwickeln, liegt es nahe, sie mit Ansätzen in Verbindung zu bringen, die sich mit der medialen Strukturierung der Wahrnehmung auseinandersetzen. Hierzu bietet sich das Konzept des medialen Dispositivs an.

3.5.2 D AS M EDIEN -D ISPOSITIV 3.5.2.1 Wieder Foucault

Der Begriff des Dispositivs wurde im französischen Poststrukturalismus Mitte der 1970er Jahre geprägt. Bekannt ist Foucaults Anliegen, die Diskursanalyse mittels des Dispositivbegriffs im Sinne einer Analytik der Macht zu erweitern.51 Es galt, das rein diskursive Konzept der Episteme um das NichtDiskursive zu ergänzen. Insofern umreißt Foucault sein Verständnis des Begriffs als diskursiv und nicht-diskursiv.52 Dieserart versteht sich die oft zitierte Definition des „entschieden heterogenen Ensembles“ (die hier nicht ausführ50 Es ist verführerisch anzunehmen, hiermit liege das Schöpferische der Medien vor. Jedoch kann derart kaum auf eine stabile Medialität geschlossen werden, da sich die Medien aufgrund technischer Innovationen wandeln (z.B. die Veränderung des Radios vom Möbelstück zum tragbaren Transistorradio) und sich diese Wahrnehmungsmodi auch durch die Interrelationalität der Medien verschieben. (Erinnert sei lediglich an den Verlust soziokultureller Bedeutung des Radios durch das Aufkommen des Fernsehens.) Jedes neue Medium übt einen Transformationsdruck auf die alten Medien sowie ihre perzeptiven Dispositionen aus. 51 Foucaults Analytik der Macht bemüht sich darum, die Beziehungen der Macht in ihrer Vielfalt und Produktivität zu bestimmen. Macht erscheint also nicht als Kräfte, die von außen auf ein soziales Feld einwirken sondern als die Kräfteverhältnisse, die diesem sozialen Feld immanent sind und es organisieren. Der Ansatz wendet sich gegen die Theorie der Macht und ihre „juridische“ Vorstellung der Macht als vertikale Repression bzw. „Untersagungsgesetz“ (Foucault 1976: 107-127, s. auch Foucaults knappe Zusammenfassung in 1978: 126). 52 „In der »Ordnung der Dinge«, wo ich eine Geschichte der Episteme schreiben wollte, bin ich in eine Sackgasse geraten. Jetzt dagegen will ich versuchen zu zeigen, daß das, was ich Dispositive nenne, ein sehr viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder eher, daß die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nichtdiskursiv [sic] ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist“ (Foucault 1978: 123).

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lich wiedergegeben zu werden braucht). Weniger häufig zitiert werden jedoch die beiden anderen Definitionen des Begriffs, mit denen Foucault deutlich macht, dass es bei dem Konzept um die Beziehungen zwischen diesen heterogenen Elementen geht, die ihre Funktionen innerhalb des „Netzes“ des Dispositivs ändern können. Zudem entsteht das Dispositiv in Reaktion auf einen „Notstand“ einer konkreten historischen Gegebenheit und stellt somit wesentlich eine Strategie dar. Jedoch handelt es sich um eine „Strategie ohne Strategen“, bzw. ohne Subjekt. Insofern geht es Foucault um das Dispositiv der Macht als ein „Bündel von Beziehungen“, das – ohne einer zentralen Steuerung zu unterliegen – soziale Kräfteverhältnisse determiniert.53 Foucault hat sich mit dem Konzept des Dispositivs folglich um den Einschluss des Nicht-Diskursiven bemüht, und daher erscheint es vielversprechend, nicht nur den Beitrag der Medien zum Dispositiv der Macht zu untersuchen sondern die Zweiwertigkeit des Konzepts auf die Medien selbst anzuwenden und neben ihrem diskursiven insbesondere ihren nicht-diskursiven Anteil in den Blick zu nehmen.54 In den obigen Ausführungen wurde bereits vorgeschlagen, die mediale Performanz als eine An/Ordnung von Rezeptionshandlungen zu sehen, aus denen Wahrnehmungseffekte entstehen. Warum also den Begriff des Dispositivs nicht auf die Strukturierung des Wahrnehmungsgeschehens des Mediums selbst beziehen?

3.5.2.2 Das Subjekt als Effekt

Jean-Louis Baudry hat hierzu den wichtigsten Beitrag geleistet. Im gleichen Jahr (1975) wie Foucault führte er den Begriff in die Debatte ein, im Gegen53 Der Begriff des Dispositivs taucht 1975 erstmals in Surveiller et punir auf, jedoch ohne methodologische Zuspitzung und meint schlicht ein heterogenes Ensemble, wenn etwa von „dispositifs disciplinaires“ die Rede ist (Foucault 1975: 305 – in der deutschen Übersetzung kommt der Begriff übrigens gar nicht vor, sondern wird jedes Mal aufs Neue umschrieben, wie in diesem Fall mit „Disziplinareinrichtungen“ [Foucault 1977: 385]). Als spezifisch machtanalytisches Konzept erscheint der Terminus im ersten Band (La volonté du savoir) der Histoire de la sexualité (1976). Nichtsdestoweniger wird der Begriff auch hier nur sehr knapp erläutert und zwar als Ergebnis stets lokaler sich verknüpfender Machtbeziehungen und ihrer Taktiken. Diese „dispositifs d’ensemble“ bilden dann „große anonyme Strategien“, die selber „beinahe stumm“ sind, aber „geschwätzige Taktiken koordinieren“ (1976: 125). La volonté du savoir diente als Grundlage für das Gespräch mit den Angehörigen des Département de Psychoanalyse der Universität Paris VIII, das 1977 veröffentlicht wurde, und in dem Foucault das Konzept erstmals ausführlicher begründet. Allerdings handelt es sich auch hierbei nicht um einen vollständig ausgefeilten Ansatz, wie Foucault selber zugibt: „Was das Dispositiv anbetrifft, stehe ich vor einem Problem, aus dem ich noch nicht ganz raus bin“ (1978: 122). Zur Dispositivforschung s. auch Andrea D. Bührmann und Werner Schneider (2008). 54 Wie schwierig ein solches Unterfangen ist, Nicht-Diskursives zu fokussieren, zeigt die Skepsis des Lacanianers Jacques-Alain Miller während des Gesprächs in Vincennes gegenüber Foucaults Versuch, jenseits des Diskurses zu gelangen („Ich vermag nicht zu sehen, wo Du denn etwas »Nicht-Diskursives« zu fassen bekommst“ [Foucault 1978: 124]).

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satz zum Begründer der poststrukturalistischen Diskursanalyse jedoch bezog er ihn auf die Medien bzw., um genau zu sein, auf das Kino. Außerdem stellte er das Konzept unmittelbar in den Mittelpunkt des Interesses. „Le dispositif: approches métapsychologiques de l’impression de réalité“ („Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“) macht den Begriff zu einer grundlegenden Kategorie der Kinotheorie. Kurioserweise wird das Konzept lediglich in einer Fußnote etwas präziser umrissen. Wie dem auch sei, darin wird es dem überwölbenden Begriff des Basisapparats unterstellt, der alle Gerätschaften und Abläufe bei Produktion und Rezeption des Kinos umfasst. Das Dispositiv bezeichnet hier, so könnte resümiert werden, die Ausrichtung der Apparatur auf den Rezipienten. Dabei ist die Projektion (des Films auf die Kinoleinwand) gemeint, aber – und hier wird es interessant – ebenso die Auswirkung auf den Zuschauer. Das Dispositiv, mit anderen Worten, bringt das Subjekt ins Spiel. Es lohnt, sich die Fußnote in Gänze zu vergegenwärtigen: Wir unterscheiden allgemein den Basisapparat [appareil de base], die Gesamtheit der für die Produktion und die Projektion eines Films notwendigen Apparatur und Operationen, von dem Dispositiv, das allein die Projektion betrifft und bei dem das Subjekt, an das die Projektion sich richtet, eingeschlossen ist. So umfaßt der Basisapparat sowohl das Filmnegativ, die Kamera, die Entwicklung, die Montage in ihrem technischen Aspekt usw. als auch das Dispositiv der Projektion. Vom Basisapparat zur Kamera allein, auf die mich zu beschränken man von mir verlangte (man fragt sich warum, um welchem üblen Verfahren zu dienen?), ist es ein weiter Weg. (Baudry 1994: 1052)

Wie dem Zitat zu entnehmen ist, setzt Baudry das Dispositiv nicht mit dem Medium gleich sondern versteht es gewissermaßen als eine seiner Anlagen. Dies sei angesichts der Versuchung betont, in dem – im Weiteren zu entwickelnden – Konzept des Dispositivs eine fest-stellbare Medialität – Identität – des Mediums zu verorten. Der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass Baudry dem Tel-QuelKreis angehörte und zunächst die „ideologischen Effekte“ des Kinos untersuchte, die er jedoch nicht auf das Werk zurückführte sondern auf die Produktivität des Mediums (vgl. Paech 2003: 175). Er schrieb mit anderen Kinotheoretikern wie Jean-Louis Comolli die sogenannte Apparatus-Debatte fort, die Marcelin Pleynet 1969 begonnen hatte (Pleynet 1969).55 So geht Baudry 1970 in „Cinéma: effets idéologiques produits par l’appareil de base“ („Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat“) davon aus, dass Technik grundsätzlich ideologisch determiniert sei. Dabei geht es ihm jedoch nicht um eine anthropozentrische Entfremdungskritik des Kinos und schon gar nicht um die Aufdeckung von Bewusstseinsmanipulationen, denn das eigentliche Wirken des Kinos – seine ideologische Funktion – sieht er nicht auf der Ebene von Inhalt, Aussage oder Botschaft. Der „ideologische Mehrwert“ rührt vielmehr von einem verborgenen Arbeiten, einem stillen 55 Ausgangspunkt bei der Apparatus-Debatte war die Vermutung, dass vor jeder Botschaft und Autorenintention die Technik (des Kinos) immer schon ideologisch sei und Herrschaftsverhältnisse stabilisiere. Zu dem an Althusser angelehnten Ideologiebegriff der Apparatus-Theorie und sein Zurückweichen zugunsten der Psychoanalyse siehe Winkler (2003: 217-221).

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„Transformationsprozeß“ (Baudry 2003: 29), womit Baudry die Subjektfunktion des Apparats umschreibt. Das bedeutet, dass dieser die Konstitution des Subjekts am Zuschauer simuliert. Dies geschieht grundsätzlich durch zwei Operationen, in die der Rezipient involviert wird: Zum Einen verleiht der Zuschauer der Fülle von losen Einzelbildern Kohärenz und stellt eine „Kontinuität der diskontinuierlichen Elemente“ her (32). Derart erfährt er sich als transzendentales Subjekt, das für sich in Anspruch nimmt, Kontinuität zu stiften und dadurch die Grundlage der Sinnschöpfung zu bilden.56 Zum Anderen wird der Kinobesucher durch die Umstände der Projektion – die Dunkelheit des Kinosaals, die Leinwand und die Gefesseltheit des Zuschauers – in die frühe Phase der Subjektkonstitution versetzt, die Lacan mit dem bereits erwähnten Spiegelstadium umschrieben hat. Es ist bekannt, dass in dieser imaginären Ich-Konstitution die frühzeitige Entwicklung der visuellen Wahrnehmung und die unreife Motorik entscheidend sind, die zur Identifikation des Ichs mit dem Anderen des Spiegelbilds führen. Beide Bedingungen werden im Kino „wiederholt“, so Baudry, indem der kinematografische Apparat eine Situation herstellt, in der die Motorik der Zuschauer aufgehoben wird und das Sehen prädominiert. Die Leinwand fungiert als besondere Art des Spiegels – als Leinwand-Spiegel –, der den Zuschauer nicht nur mit dem identifizieren lässt, was er sieht, sondern vor allem mit dem Sehen selbst und seinen sinnstiftenden Funktionen. Mit anderen Worten spiegelt sich der Zuschauer angesichts der Leinwand nicht nur im Bild sondern im Erscheinen-Lassen des Bildes bzw. in der (kontinuitäts- und sinnstiftenden) Funktion des transzendentalen Subjekts. Wie Baudry vermutet, rührt der Eindruck des Realen des Kinos daher nicht von der Realität des Gesehenen sondern von der des sehenden Subjekts. Und hierin, also in der „Fantasmatisation des Subjekts“ erkennt der Autor den „ideologischen Effekt“ des Apparats (37-38). Baudrys Leistung in seinem ersten Kinoaufsatz ist folglich, das Wirken und die Bedeutung des Kinos weder auf der Ebene der Aussagen festzumachen, noch auf eine anthropozentrische Verlustargumentation zu beziehen. Nicht die Technik entwendet dem Menschen seinen Subjektstatus. Vielmehr macht zuvörderst die konstitutive Subjektschwäche des Menschen die Technik möglich. Hier setzt der kinematografische Apparat an und bildet jenes „Dispositiv“ nach, das die von Lacan beschriebene Spiegelfase auslöst. In diesem Aufsatz wendet Baudry folglich den Begriff des Dispositivs nicht auf das Kino selbst an, sondern auf jene frühkindliche Konstellation der Subjektkonstitution. Der Apparat erscheint jedoch als das, was seine Elemente so disponiert, dass die Subjektkonstitution re-konstruiert wird (36-37). Fünf Jahre später spitzt Baudry seinen psychoanalytischen Ansatz zu, indem er, wie angedeutet, den Begriff des Dispositivs nun auf die Konstellation selber bezieht, der die Zuschauer in der Kinoprojektion ausgesetzt sind. Wieder fragt er danach, was den Realitätseindruck des Kinos ausmacht. Diesmal jedoch greift er nicht auf Lacans Modell früher Subjektkonstitution zurück sondern bezieht sich auf Freuds metapsychologische Traumanalysen. Auf56 „Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen der für die Konstitution des Sinns notwendigen Kontinuität und dem konstituierenden »Subjekt« dieses Sinns artikuliert: die Kontinuität ist ein Attribut des Subjekts. Sie setzt es voraus und sie umschreibt seinen Platz“ (Baudry 2003: 35).

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hänger ist hierbei, dass die spezifische Wirkung des Kinos an jenes „Mehrals-Reale“ erinnere, das den Traum kennzeichne. Gemeint ist die Halluzination eigener Vorstellungen des Träumenden als Realität bzw. als „etwasRealeres-als-real“ (Baudry 1994: 1064).57 Baudry bleibt seinem Ansatz treu, dass das Kino nicht primär das Reale simuliert sondern auf das Subjekt ausgerichtet ist und Subjekt-Wirkungen hervorruft. Der Unterschied ist jedoch, dass es nun nicht mehr die Konstitution des Subjekts simuliert sondern Zustände aus frühen Entwicklungsphasen, die im Traum reaktiviert werden. Nach Freud charakterisiert die halluzinatorische Befriedigung den frühkindlichen Beginn des Seelenlebens. Das bedeutet, dass Wahrnehmung und Vorstellung noch nicht unterschieden werden. Bereits das Wünschen eines Objektes lässt dessen Erfüllung als Wirklichkeit erscheinen. Die sogenannte Realitätsprüfung tritt in dieser Entwicklungsphase noch nicht ein, da hierzu die körperliche Bewegungsfähigkeit ausgebildet sein muss. Wird in späteren Entwicklungsphasen die Motilität aufgehoben, z.B. im Schlaf, findet die Realitätsprüfung ebenso wenig bzw. nicht mehr statt. Dies fördert die Regression des Bewusstseins, wie sie der Traum vollzieht. Der Traum wiederholt den frühen Zustand und lässt das Subjekt halluzinatorisch in seine Vorstellungen eintauchen (1063-1064). Baudry argumentiert nun, dass der Traumwunsch nach halluzinatorischer Befriedigung auch im Kino wirksam ist und die Grundlage für das „kinematografische Dispositiv“ bildet. Wie schon im Aufsatz von 1970 ist es in erster Linie die mangelnde Motilität, die die Subjekt-Wirkungen auslöst. Ähnlich wie im Traum versetzt das Kino-Dispositiv den Zuschauer in ein Stadium frühkindlichen Narzissmus, der in allem Geschehen stets die eigene Person in den Mittelpunkt rücken lässt, indem sich Gedanken und Bilder miteinander vermengen (1062, 1068). Inwieweit das Doppelargument der Einschränkung von Motilität und Realitätsprüfung stichhaltig ist, sei vorerst dahin gestellt. Wichtig ist zunächst Baudrys Gedankengang, dass derart eine „Überbesetzung der Vorstellungen“ hervorgerufen werde, wodurch diese in die visuelle Wahrnehmung eindringen. Analog hierzu werden im Kino umgekehrt die wahrgenommenen Bilder „überbesetzt“ und „erlangen somit einen Status, der jenem der sensorischen Bilder des Traums entspricht“ (1072). Eine genauere Erklärung der Überbesetzung der Wahrnehmung bzw. der Transformation der Wahrnehmung in eine „Quasi-Halluzination“ im Kino bleibt der Autor trotz seiner umsichtigen Argumentation schuldig. Festzuhalten ist zunächst jenes erhellende Paradox, dass der Eindruck des Mehr-als-Realen just dem Aufschub des Realitätsprinzips geschuldet ist. En somme geht Baudry also nicht mehr von einer Simulation frühkindlicher Subjektkonstitution sondern von der einer traumähnlichen Regression in einen halluzinatorischen Zustand aus, in dem das Außen und das Innen, die Welt und das Subjekt miteinander verschwimmen. Übrigens distanziert sich der Autor auch explizit von seinem ersten Ansatz, wenn er schreibt, dass der Kino-Effekt über die Identifizierungsprozesse hinausgeht, die von der imaginären Verfasstheit des Ichs herrühren (1069). Stärker noch als die spekulare Selbst-Identifikation des Subjekts scheint also die „Lust“ den Bann des Kinos 57 Der Traum ist eine wiederkehrende Figur in der Kinotheorie, das Faszinosum des Kinos zu denken. Er taucht beispielsweise bei Jean Cocteau auf, um die hypnotische Wirkung des cinématographe zu beschreiben. Siehe zu Cocteaus Ansatz Berg (1997).

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auszumachen. Gemeint ist die Lust, die der Zuschauer im Kino-Wunsch findet (1068). Das kinematografische Dispositiv hält den Rezipienten zu einer Art von Wahrnehmung an, die das Wahrgenommene mit dessen eigenen Impulsen vermengt. Bei dem Wunsch nach frühkindlicher Befriedigung, den das Dispositiv auf diese Weise auslöst, handelt es sich im Grunde um den „Wunsch des Wunsches“ bzw. um die Erfüllung des Wunsches durch seine Imagination (1070). Damit hat Baudry einen bedeutenden Anfang gemacht, der Faszination des Kinos auf den Grund zu gehen, anstatt auf der Kritik der Inhalte zu beharren oder die Technik per se unter Ideologieverdacht zu stellen. Hans-Thies Lehman beispielsweise hat in dieser Argumentationslinie 1983 klar gemacht, dass es darum gehen muss, nicht den Gehalt von filmischen Stereotypen zu untersuchen, sondern vielmehr den Grund, warum diese vom Publikum so bereitwillig angenommen werden. Die Kinotheorie (und in besonderem Maße die Fernsehforschung) muss sich damit auseinandersetzen, warum das Publikum „diese Welt“ durchaus zu sehen bereit ist, und worin ihr Reiz liegt (Lehmann 1983: 580). Auf Lehmanns (ebenfalls psychoanalytische) Antworten auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle soll lediglich hervorgehoben werden, dass die Anziehungskraft der Medien mit den Subjekt-Wirkungen in Zusammenhang zu bringen sind, die von den apparativen An/Ordnungen des Mediums, dem Medien-Dispositiv, ausgelöst werden. Baudry geht noch einen Schritt weiter und überlegt, ob nicht das Unbewusste und seine in ihm verdrängten und aufgehobenen früheren Subjektzustände das Subjekt beständig dazu bewegen, Möglichkeiten zu erfinden, sein eigenes Funktionieren zu simulieren und zur Anschauung zu bringen.58 Man kann Baudrys These einer teleologischen Entwicklung ausgehend von Platons Höhlengleichnis bis hin zum Kino (1059) durchaus in Frage stellen, aber sein grundlegender Ansatz, Medien seien die unmittelbare Folge der Brüchigkeit und Gespaltenheit des Subjekts und nicht deren Ursache, ist von eminenter Bedeutung für die Medientheorie. Zu folgern ist auch, dass eine „Medienästhetik“ bzw. eine Kritik medialer Wahrnehmungsformung zu kurz greift, wenn sie nicht auf die Subjekt-Wirkungen in der Wahrnehmung abhebt. So verstanden, bilden Dispositiv und Subjekt ein zusammengehörendes Doppel: Es handelt sich um „ein Gesamt-Dispositiv, zu dem auch das Subjekt gehört“ (1067). Damit zeigt sich, dass sich das Konzept des Dispositivs der Medien zweifelsohne auf einer anderen epistemologischen Ebene ansiedelt wie das des Dispositivs der Macht. Ohne die Differenzen beider Begriffsverwendungen insbesondere hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades zu vernachlässigen, ist doch offensichtlich, dass beide die Ausrichtung auf das Nicht-Diskursive eint. Ebenso entsprechen beide einer Strategie, auf einen „Notstand“ zu antworten, der sich im Falle des Medien-Dispositivs als Subjekt-Notstand umschreiben ließe. Es ist auch nicht ausgemacht, dass sich das 58 „Ohne daß es sich dessen fortwährend bewußt ist, wird das Subjekt dazu veranlasst, Maschinen zu produzieren, die nicht nur Funktionen des Sekundärprozesses vervollständigen oder ergänzen, sondern auch in der Lage sind, ihm sein Funktionieren im Ganzen darzustellen, und zwar durch nachahmende Apparate, die jenen Apparat simulieren, der er selber ist“ (Baudry 1994: 1073-74).

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Medien-Dispositiv ausschließlich auf nicht-diskursive Sinnschöpfungen zu beschränken hat. Wie bereits angedeutet wurde und weiter unten auszuführen ist, ruft die Frage nach dem medialen Diskursiven die Gattungen auf den Plan. So wichtig die Bemühung um das Nicht-Repräsentationale der Medien ist, so offensichtlich ist auch, dass Medien ohne Aussagen keine sind. Der Ansatz des Dispositivs wäre geeignet – das bliebe herauszuarbeiten –, mediale Performanz und Gattung zusammenzuführen. Damit wird deutlich, wie nahe die Rede vom Medien-Dispositiv an die Performativitätsdebatte angrenzt. Sie berühren sich in der Problematik der Wahrnehmung, die ein Anliegen ebenso der Performativitätstheorie wie der Psychoanalyse ist. Das psychoanalytische Verständnis des Dispositivs scheint angesichts seiner Ausrichtung auf das Nicht-Diskursive sehr dazu geeignet, Anknüpfungspunkte zur Performativitätsdebatte aufzutun: Die Subjekt-Wirkung des Dispositivs erscheint als das Mediengeschehen, aus dem der performatorische Sinnüberschuss der Mediennutzung hervorgeht. Wie zu folgern wäre, entspringt dieser Sinnüberschuss jenem Genuss des Mehr-als-Realen, in dem Wünsche und Wirklichkeit halluzinatorisch ineinander übergehen. Um den Gedankengang auf den Punkt zu bringen: Das Dispositiv folgt auf das unstillbare Bedürfnis des Subjekts nach Übereinstimmung mit sich selbst und entfaltet hierin die Performanz des Mediums.

3.5.2.3 In Anknüpfung an Baudry

Baudrys Arbeiten sind nicht ohne Wirkung geblieben. Bekanntlich bildeten sie den Anstoß zur sog. Apparatus-Theorie der 1980er Jahre in den USA. Den Hintergrund für diesen Begriff bildet die Übersetzung des französischen dispositif in das Englische als apparatus (dies betrifft ebenso das Macht- wie das Medien-Dispositiv).59 Die Apparatus-Theorie fragt nicht zuletzt nach der Geschlechter-Konstruktion der Subjekte, die der apparatus hervorbringt.60 In Deutschland hat Ende der 1980er Jahre eine Debatte eingesetzt, die die Begriffe des Apparats und des Dispositivs miteinander vermischt, und die sich nicht nur auf das Kino bezieht, sondern auch auf das Fernsehen. Joachim Paech trennt beide Termini, indem er vorschlägt, das Konzept des kinematografischen Dispositivs als „Theorie medialer Topik“ zu verstehen. Damit versucht er klar zu machen, dass das Dispositiv die medienspezifischen Effekte hervorruft und nicht der Apparat an sich: Das Dispositiv ordne die Apparate räumlich an, und dadurch entstehe erst der Realitätseindruck (Paech 2003: 186). Der Autor führt die Raum-An/Ordnung des Dispositivs nicht weiter aus, sondern historisiert stattdessen den Dispositiv-Begriff und interpretiert ihn als Antwort auf die Krise des „klassischen diegetischen Films“ in den 1960er Jahren, die nicht zu letzt durch die Konkurrenz des Fernsehens

59 Bei dieser Übersetzung kommt es schon allein deswegen zu Unschärfen, da auch das französische appareil im Englischen mit apparatus übersetzt wird (vgl. Rosen 1986a: 282). Spontan ersichtlich wird dies an der Indifferenzierung von Baudrys Begriffen im Englischen: Der „appareil de base“ wird als „basic cinematographic apparatus“ übersetzt und „le dispositif“ als „the apparatus“ (Baudry 1986: 317). Zum Problem der Übersetzung des Begriffs ins Deutsche s. übrigens Dammann (2002/2003). 60 Vgl. Lauretis/Heath (1980); Kyung Cha (1980) und Rosen (1986b).

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hervorgerufen worden sei (184). Er plädiert dafür, das Konzept des Dispositivs nicht nur auf eine bestimmte historische Erscheinung des Kinos zu beziehen sondern es als „kritisches, dynamisches Modell“ audiovisueller An/Ordnungen zu verstehen (185). Siegfried Zielinski (2003) nimmt sich in diesem Sinne vor, die historischen „Verschiebungen“ der Subjektpositionen im Bereich der audiovisuellen Medien zu untersuchen. Er führt jedoch die medialen Subjektzuweisungen auf den Apparat zurück. Wie seine Argumentation zeigt, ist es wesentlich die An/Ordnung des Zuschauers durch das Medium, was als „Apparat“ gilt und Subjekt-Wirkungen hervorruft. Mit diesem Hinweis soll hier aber nicht Begriffsklauberei betrieben sondern lediglich deutlich gemacht werden, dass ein Schwanken zwischen den Konzepten zu notieren ist. Nichtsdestoweniger wird in der vorliegenden Untersuchung dem Terminus des Dispositivs der Vorzug eingeräumt, da er nicht nur Machteffekte konnotiert sondern insbesondere den performativen Aspekt des Mediums der An/Ordnung bereits lexikalisch in den Fokus rückt. Zielinski verwendet den Begriff des Dispositivs übrigens sehr wohl, jedoch in erster Linie zur Bezeichnung der speziellen Etappe der kinematografischen Subjektkonstruktion. Insgesamt zeichnet er sechs „historische Modi des audiovisuellen Apparats“ nach. Vor dem „Cine-Subjekt“ datiert er drei audiovisuell-apparative Subjektzuweisungen (darunter das Kontroll-Subjekt der Camera Obscura), danach die beiden von Fernsehen/Video und dem Computer. Zielinskis Hauptaugenmerk gilt den Verschiebungen des filmischen Subjekts im Übergang vom Kino auf das Fernsehen und den Computer. Dies wird im Weiteren für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse und im Zusammenhang mit Zielinskis umfassenden Entwurf einer „Geschichte der Audiovision“ (Zielinski 1989) im Einzelnen zu diskutieren sein. An dieser Stelle soll vorläufig genügen, dass Zielinskis Studie ein Beleg dafür ist, wie mit Baudrys Ansatz (auf den er sich explizit bezieht) mediale Subjekt-Wirkungen in historischer bzw. betont archäologischer61 Perspektive gearbeitet werden kann. Knut Hickethier dagegen grenzt das Konzept des Dispositivs gegen Foucaults Ansatz ab. In seiner Fernsehanalyse beschränkt der Autor den Begriff auf die Anordnungen von Apparat, Angebot und Zuschauer. Er setzt eine „Mensch-Maschine-Relation“ gegen das Massenkommunikationsmodell, das nur eine einseitige Kommunikation vom Sender zum Empfänger zulässt und den Blick auf den Kommunikator einschränkt. Demgegenüber sollen mit dem Ansatz des Dispositivs die „unterschiedlichen Bedingungsgefüge für die Rezeption“ bzw. die „Wahrnehmungssituation“ des Zuschauers erhellt werden. Dabei entledigt sich Hickethier der psychoanalytischen Subjektanalyse (Hickethier 1991: 430-432).62

61 Siehe Zielinskis 2002 erschienene Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. 62 „Ob hier beim Betrachter sinnvoll von einer ‚mentalen Maschinerie‘ oder von einer verdrängten Technik des Unbewussten zu sprechen ist, oder ob dies nur als Metapher zu verstehen ist für ganz anders noch zu fassende Prozesse, mag erst einmal dahingestellt bleiben“ (Hickethier 1991: 430-431).

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3.5.2.4 Der Einbruch des Imaginären

Geht es um Subjekt-Wirkungen im Bereich der Audiovisionen, darf ein geradezu kanonischer Text der psychoanalytischen Kinotheorie nicht übergangen werden: „Le signifiant imaginaire“ von Christian Metz. Erschienen in derselben Ausgabe von Communications (1975) wie Baudrys „Le dispositif...“, ist Metz mit diesem Aufsatz jedoch Baudrys früherem Text „Cinéma: effets idéologiques...“ (1970) sehr viel näher. Dies bedeutet nicht, dass sich Metz für ideologische Effekte interessierte. Er richtet sein Augenmerk auch streng genommen nicht auf den Apparat. Stattdessen geht der Autor von der „Institution“ Kino aus, womit er nicht nur die Produktion sondern insbesondere auch die Rezeption (und die Filmkritik) meint. Rezeption verstanden als Teil der Kino-Institution – nur so könne der Frage nachgegangen werden, warum die Zuschauer ohne Zwang ins Kino gehen. Der Film wird als bon objet des Zuschauers diskutiert, und das bedeutet, dass es um die Psychologie des Zuschauers geht, wenn zu klären ist, warum er das Kino aufsucht (Metz 1975: 6-11). Wie unschwer zu erkennen ist, eint Metz und Baudry der psychoanalytische Ansatz, der dem Kinogenuss auf den Grund gehen und nicht kinematografische Aussagen überprüfen will. Wichtiger noch als diese Rahmenübereinkunft ist jedoch, dass Metz wie Baudry 1970 hierfür in erster Linie Identifikationsprozesse ins Feld führt. Wenn auch die Ergebnisse beider Theoretiker partiell übereinstimmen, so ist doch ihre Vorgehensweise recht unterschiedlich. Zunächst differenziert Metz semiologisch zwischen kinematografischem Signifikant und Signifikat, um sich unter Maßgabe des oben angedeuteten Erkenntnisinteresses dem signifiant-cinéma zu widmen. Damit macht er deutlich, dass das Signifikat eines Films – seine Aussage – im Grunde nicht kinospezifisch ist und auch anders erzählt werden könnte. Was in der vorliegenden Arbeit weiter oben medientheoretisch zu entwickeln versucht wurde, bringt Metz auf den Punkt: Die kinematografische Aussage – der Film – verdankt sich dem Kino und bringt es gleichzeitig zum Verschwinden: „Ein Kunstwerk verheimlicht die jeweilige Kunst und stellt sie gleichzeitig aus, denn es ist zugleich mehr und weniger als sie. Jeder Film zeigt uns das Kino, und er ist auch sein Tod.“63 Was Metz also entsprechend seiner strukturalistischen Prägung (wenn auch in Anführungszeichen) als »Sprachen« der Künste bezeichnet, erscheint, etwas weiter gefasst, als Medien. Was sie voneinander unterscheidet, ist nicht (unmittelbar) ihr Signifikat sondern ihr Signifikant, und zwar aufgrund dessen „physischer und perzeptiver“ sowie „formaler und struktureller“ Eigenschaften (26).64 Für das Kino bedeutet dies, dass es sich „erahnen“ lässt als „besondere Weise, über egal was (oder nichts) zu sprechen“ bzw. als

63 „L’œuvre d’un art nous dérobe cet art en même temps qu’elle nous le présente, parce qu’elle est à la fois moins et plus que lui. Tout film nous montre le cinéma, et en est aussi la mort“ (Metz 1975 : 26). 64 Das Bedeutete verweist – so meine und Schäffauers These – auf die Gattung. Wie Tholen es formulieren würde, verhält sich das Medium gegenüber dem Signifikat indifferent. Mit den Worten von Metz: „Il n’existe aucun signifié qui serait propre à la littérature ou au contraire au cinéma, aucun »grand signifié global« que l’on pourrait attribuer par exemple à la peinture elle-même […]“ (Metz 1975 : 26).

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„Signifikanten-Effekt“.65 Metz greift also indirekt Baudrys Rede vom spezifischen Kino-Effekt wieder auf, ringt sich jedoch nicht durch, gezielt von der Technik (also vom „Apparat“) zu sprechen sondern bleibt grundsätzlich dem semiologischen Ansatz treu, in den er die Psychoanalyse integriert. Die Psychoanalyse kommt ins Spiel nicht nur, weil es generell um Phänomene der Wahrnehmung geht, sondern auch, weil der Kino-Signifikant66 (also nicht lediglich sein Signifikat) ein Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit eröffnet. Im Kino, das ist Metz’ These, ist nicht nur das Signifikat sondern insbesondere der Signifikant abwesend. Was der Zuschauer auf der Leinwand sieht, ist nicht da – die Darstellung ist selbst nur dargestellt (bzw. abgebildet, projiziert). D.h. unabhängig von der Fiktionalität oder NichtFiktionalität der Aussage ist das Aussagen selbst – im Gegensatz zum Theater oder zur Oper – nicht ‚real‘ sondern fiktiv. Das Imaginäre, das sich ebenso durch An- wie durch Abwesenheit kennzeichnet, macht das Kino folglich aus – nicht jedoch auf der Ebene des Gegenstands der Repräsentation sondern auf der des Signifikanten: „Das Eigene des Kinos ist nicht das Imaginäre, das es eventuell darstellen kann, sondern jenes ist zuvörderst das Eigene des Kinos, es konstituiert es als Signifikant [...]“.67 Auf der einen Seite überflutet das Kino den Zuschauer mit Sinneswahrnehmungen, auf der anderen Seite haftet diesen Wahrnehmungen etwas Irreales an. Daraus folgt: Mehr als „andere Künste“ bindet uns das Kino in das Imaginäre ein (32). Der Film ist, darauf läuft die Argumentation hinaus, wie ein Spiegel, jedoch ein Spiegel besonderer Art, in dem alles gesehen werden kann, außer dem Körper des Zuschauers selbst. In der Spiegelmetapher begegnen sich schließlich Metz und Baudry. Auch in „Le signifiant imaginaire“ wird eine Parallele zu Lacans Spiegelstadium gezogen. Auch Metz fragt sich nun, womit sich der Zuschauer angesichts des Leinwand-Spiegels identifiziert. Es sind nicht vorrangig die Sekundäridentifkationen mit Figuren, die hier interessieren, denn dann stellte sich das Problem bei figurenlosen Filmen von neuem. Es geht um das Moi spectatoriel, das sich jedoch schon formiert haben muss, denn sonst wäre es nicht in der Lage, einem Film zu folgen. Wie bei Baudry identifiziert sich das Moi im Leinwand-Spiegel mit sich selbst als transzendentales Subjekt. Nun ist es allerdings nicht die Kontinuitäts- und Sinnstiftung, die zu dieser Subjekt-Wirkung führt, sondern die Selbst-Identifikation als reine Wahrnehmung. Wie das? Die Leinwand ‚spiegelt‘ alles – außer den Zuschauer; sie ‚spiegelt‘ mit anderen Worten immer das Andere. Das Ich ist, anders ausgedrückt, von allem auf der Leinwand ausgeschlossen. Womit identifiziert sich dann das Ich? Es ist nur da, um wahrzunehmen und geht ganz in der Wahr65 „[...] le cinématographique ne consiste pas en quelque liste statique de thèmes ou de sujets […] mais peut seulement se définir, ou plutôt se pressentir, comme une façon particulière de parler de n’importe quoi (ou de rien), c’est-à-dire comme un effet de signifiant : un coefficient spécifique de signification (et non un signifié) tenant au fonctionnement intrinsèque et à l’adoption même du cinéma plutôt que d’une autre machine, d’un autre appareillage“ (Metz 1975 : 27). 66 Zumindest bei den „diegetischen“ Filmen, wie Metz einräumt (Metz 1975: 29). 67 „Le propre du cinéma n’est pas l’imaginaire qu’il peut éventuellement représenter, c’est celui que d’abord il est, celui qui le constitue comme signifiant […]“ (Metz 1975 : 31).

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nehmung auf. Gleichzeitig weiß es ja, dass das Wahrgenommene imaginär, seine Wahrnehmung aber real ist: Es kommt daher zu sich als Akt reiner Wahrnehmung, der allem Wahrgenommenen vorausgeht.68 Was sich bei Baudry noch etwas konstruiert ausnahm, wird nun von Metz weiter ausgearbeitet, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich jener wieder davon distanzierte. Gemeint ist die Subjektkonstitution angesichts des Leinwand-Spiegels. Übrigens bezeichnet Metz diese Anordnung vor der Leinwand explizit als dispositif und betont hierbei den „topographischen Sinn“ des Begriffs (35). Allerdings ordnet er diese technikbezogenen Beobachtungen dem semiologischen Ausgangspunkt seiner Fragestellung unter und problematisiert sie – im Gegensatz zu Baudry – nicht. Deutlicher als dieser macht jedoch Metz am Doppelungscharakter des miroir second den Einbruch des Imaginären in der Kinowahrnehmung fest. Dazu rekurriert er freilich auf dessen Topos der Bewegungshemmung, insofern als bewegungsloses Wahrnehmen den Zuschauer zur „Beute des Imaginären“ werden lasse: Seltsamer Spiegel, sehr ähnlich demjenigen der Kindheit und sehr anders. Sehr ähnlich, wie es Jean-Louis Baudry hervorhebt, denn während der Vorstellung sind wir, wie das Kind, in einem Zustand der Unter-Beweglichkeit und der Über-Wahrnehmung; denn wie jenes sind wir die Beute des Imaginären, des Doppelten, und wir sind das paradoxerweise mittels einer realen Wahrnehmung.69

Für Metz sind es also Identifikationsprozesse, die das Kino bestimmen und nicht Simulationen von Traumregressionen. Das Subjekt spiegelt sich in seinem Wahrnehmen und nicht in seiner Kohärenzstiftung. In diesem Sinne durchsetzen Fantasmen des Ichs die Kinoschau, und so entsteht erst aus dem Imaginären des Subjekts das Symbolische des Films. Kurioserweise wird ein zentrales Element der Argumentationskette – die Einschränkung der Motilität – nicht erörtert. Es bleibt bei dem Verweis auf Baudry.70 Diese Auslassung ist angesichts des Umfangs der Gesamtargumentation etwas verwunderlich, jedenfalls wird letztlich nicht ganz klar, wie das Imaginäre mit der körperlichen Regungslosigkeit im Falle des Kinos zusammenhängt. Ist nicht alle Wahrnehmung, wie Lacan auch dargestellt hat, vom Imaginären durchdrungen? Was ist das Besondere am Kino? Die Irrealität des Wahrgenommenen bei gleichzeitigem Bewusstsein der Realität der Wahrnehmung, würde Metz 68 „Le spectateur, en somme, s’identifie à lui-même, à lui-même comme pur acte de perception (comme éveil, comme alerte) : comme condition de possibilité du perçu et donc comme à une sorte de sujet transcendantal, antérieur à tout il y a“ (Metz 1975 : 34). 69 „Étrange miroir, très semblable à celui de l’enfance, et très différent. Très semblable, ainsi que le marque bien Jean-Louis Baudry, parce que durant la séance nous sommes, comme l’enfant, en état de sous-motricité et de sur-perception ; parce que, comme lui encore, nous sommes la proie de l’imaginaire, du double, et que nous le sommes, paradoxalement, à travers une perception réelle“ (Metz 1975 : 34-35). 70 Fast identisch argumentiert übrigens Lehmann in seiner Antwort auf die oben angedeutete Frage nach der Faszination des Kinos: „Der Zuschauer, libidinös mit sich selbst als reiner Kraft der Wahrnehmung identifiziert, wird ganz Auge – verwandt dem staunenden, ängstlichen neugierigen Blick des Kindes, das untermotorisch und übersichtig seine Identität sucht“ (Lehmann 1983: 582-583).

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wohl antworten. Aber welchen Beitrag steuert hierzu die körperliche Unbeweglichkeit bei? Wie dem auch sei, worauf Metz hinaus will, ist der vor-symbolische Blick des Zuschauers auf die Leinwand, bzw. der imaginäre Charakter des Kino-Signifikanten, der im Moi begründet wird. Das Interessante an seinem Gedankengang ist die Betonung der Nicht-Anwesenheit des Ansichtigen. Worum es also geht, ist die Kluft zwischen Wahrnehmung und Abwesenheit, in der Metz das Spiegelspiel einer imaginären Ich-Welt ansetzt. Was der Zuschauer sieht, imaginiert er, denn auf der Leinwand findet sich lediglich Wiederschein. Im Kino-Blick vermischt sich das Ich mit dem Gesehenen – in diesem Blick bringt die Sehnsucht nach dem Ich das Andere der dargestellten Welt hervor. Die Sogwirkung der Leinwand, die Lust am Kino erklärt Metz darüber und über Baudry hinausgehend mit der Leidenschaft der Wahrnehmung bzw. mit der Affinität der „Institution“ des Kinos mit dem Voyeurismus. Die Begierden des Sehen des Hörens setzen als Entfernungssinne die Distanz zum Objekt voraus. Im Kino jedoch sind sie unstillbar, zum Einen wegen der Fülle der Reize, zum Anderen weil das Objekt nicht nur entfernt sondern gänzlich abwesend ist und lediglich sein Abbild zurücklässt. Das Kino macht das Wahrnehmungsobjekt daher unendlich begehrenswert, da es nie zu besitzen ist. Es verwandelt die voyeuristische Konstellation der Entfernung zwischen Voyeur und Objekt in eine räumliche Abschottung der beiden voneinander, in der das geschaute Objekt den Voyeur vollständig ignoriert, und in der sich dieser in Dunkelheit und Einsamkeit wiederfindet, umgeben nur von anderen Voyeuren. Die Leinwand wird zu einem Schlüsselloch, das den Zuschauer eine Welt von Objekten der Begierde präsentiert und ihm gleichzeitig den Zugang dazu verwehrt (45). Der Begriff des Dispositivs würde sich sehr gut zur Beschreibung dieser Rezeptionsbedingungen eignen. Metz verwendet ihn tatsächlich auch, jedoch im Kontext der Beschreibung einer weiteren Einbeziehung des Unterbewussten durch das Kino: Es geht um den Technikfetischismus des Kinos. Das Dispositiv des Kinos ist die „Abwesenheit des Objektes, das von seinem Wiederschein ersetzt wird“ (52). Es begründet den Mangel, den die technische Leistung als Fetisch verdeckt, gleichzeitig aber verweist die Technik just auf diesen Mangel. Damit wird deutlich, dass sich die Rede von der Affinität des Kinos zum Voyeurismus und die des kinoeigenen Fetischismus nicht auf bestimmte Bilderinhalte beruft sondern, wie Metz es ausdrückt, auf die Eigenart des Signifikanten, oder, wie es in der vorliegenden Arbeit bevorzugt wird, auf die Wahrnehmungsanordnung des Kinos.

3.5.2.5 3.5.2.5 Die Performanz des KinoKino-Blicks

Zusammenfassend wäre zu konstatieren, dass, wie es Lehmann formuliert, der Grund für die „Verzauberung“ des Zuschauers nicht im Bereich der filmischen Erzählung zu suchen ist (Lehmann 1983: 573). Er liegt vielmehr im Nicht-Diskursiven d.h. in der Erfahrung eines Blicks, der imaginär (Metz) bzw. halluzinatorisch (Baudry) zu nennen ist. Trotz der Unterschiedlichkeit der psychoanalytischen Ansätze lässt sich erkennen, dass das Eigentümliche 84

Intermediale Gattungspassagen

des Kinos just dieser Blick ist, der eine Welt entstehen lässt, die von den Fantasmen, den Sehnsüchten, den Begierden des Ichs durchsetzt ist. Der Kino-Blick entfaltet die Subjekt-Wirkung des Mehr-als-Realen, dem der Zuschauer „verfällt“ (Lehmann 1983: 583). Er ist das Ergebnis des kinematografischen Dispositivs. Obwohl Metz’ Fragehorizont grundsätzlich semiologisch ist, kann er nicht umhin, das technische Dispositiv des Kinos zu erwähnen: Es handelt sich bei ihm, wie bereits angedeutet, um die topische An/Ordnung des Rezipienten vor der Leinwand, die eine Darstellung spiegelt, deren wichtigstes Merkmal die Abwesenheit ist. Die Abwesenheit des Gesehenen – also die Abwesenheit nicht nur des Repräsentierten sondern auch des Repräsentierenden – ködert das Moi und reizt seine Begierden. Mit Baudry lässt sich daher das Kino-Dispositiv als apparative An/Ordnung verstehen, in der der Rezipient nicht einfach nur Bildersequenzen sieht und Tonabfolgen hört, sondern in der er einem Blick und einem Gehör71 erliegt, die aus der Kluft zwischen der Fülle der Wahrnehmung und dem Mangel des Wahrgenommenen entstehen. Der Kino-Blick und das Kino-Gehör sind (in besonderem Maße) performatorisch, da sich in ihnen ein Kino-Subjekt konstituiert, das lustvoll Bilder und Töne besetzt. Das Medien-Dispositiv, so ließe sich ausgehend vom Kino-Dispositiv verallgemeinern, entfaltet nicht-diskursive Effekte, die in der grundlegenden Mangelhaftigkeit des Subjekts ihren Ursprung haben. Mit seiner apparativen An/Ordnung reizt es die Wahrnehmungsleidenschaft des Rezipienten, indem es ihm das Objekt seiner Wahrnehmung auf je unterschiedliche Weise präsentiert und gleichzeitig entzieht. So ruft das Dispositiv ein Subjekt hervor, das die Darstellung der Welt imaginiert/halluziniert, bevor deren Symbolgehalt entziffert wird. Erst spricht das Medium das Imaginäre an, dann eröffnet es das Symbolische der Aussage. Wie Baudry feinsinnig beobachtet, bezieht sich das Reale, das das Kino simuliert, nicht auf die dargestellte Welt sondern auf die Subjektivierungsprozesse. Die Abwesenheit des Dargestellten stellt offenkundig keine ausschließliche Eigenschaft des Kinos dar. Sie entspricht dem medialen Übertragungscharakter. Was das Kino jedoch von vielen Medien unterscheidet, ist die scharfe Diskrepanz zwischen ungeheurem Wahrnehmungsreichtum des Dargestellten und der Abwesenheit der Darstellung dieser Welt. Das Kino, mit anderen Worten verdoppelt die Abwesenheit des Zeichenprozesses. Es bietet den Zuschauern perzeptive Fülle und entzieht ihnen zugleich die Präsenz nicht nur des Dargestellten (Signifikat) sondern auch des Darstellenden (Signifikant) (Metz 1975: 32). Angesichts der Tatsache, dass dies für alle audiovisuellen Medien gilt, handelt es sich um einen ersten Hinweis darauf, warum das Audiovisuelle derart im 20. Jh. dominieren konnte. So gesehen, schwächt sich das Argument der körperlichen Starre ab, denn diese kennzeichnet in besonderem Maße das kinematografische Dispositiv. Sie muss aber allgemein für die audiovisuelle Subjekt-Wirkung nicht unabdingbar sein. Das soll heißen, dass die Hemmung der Motilität zum Realitätseindruck beiträgt, aber nicht in ausschließlicher Form. Sie steht, so ließe sich einwenden, für die 71 Die Funktion des Ohrs kann nur sehr flüchtig erwähnt werden. Ihre Vernachlässigung zugunsten der des Auges ist sträflich, fügt sich aber der Notwendigkeit nach Vereinfachung und Stringenz. Zum Kino-Gehör s. Bonitzer (1986) und Doane (1986). Zum Gehör s. Nancy (2010) und zur einer Phänomenologie des Tons Ihde (2007).

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tendenziell vollständige Beanspruchung des Bewusstseins durch die Wahrnehmung und die weitgehende Einstellung aller anderen Handlungen. Dies mag Parallelen zur frühen Subjektkonstitution aufweisen, insofern als der Wahrnehmungstrieb das Bewusstsein okkupiert und so maximale Intensität erreicht, muss aber nicht zwangsläufig Regression in ein frühkindliches Subjektstadium bedeuten. An diesem Punkt ist aufzugreifen, was weiter oben im Zusammenhang mit Tholens Wahrnehmungskritik bereits angedeutet wurde: Gemeint ist die Spaltung zwischen Auge und Blick, die, wie Lacan zeigt, immer schon die Wahrnehmung konstituiert. Nicht erst das technische Dispositiv der Medien schaltet das Imaginäre zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung, das beides miteinander verschmelzen lässt. Die Wahrnehmung ist, wie Tholen betont, niemals ‚rein‘ sondern immer schon zäsuriert d.h. vom Wahrnehmungstrieb durchsetzt und vom konstitutiven Subjektmangel motiviert. In besonderem Maße nistet sich das Subjekt in der „Präexistenz des Blicks“ (Lacan 1973: 69) ein, der das Sehen unter Maßgabe des narzisstischen Begehrens freigibt. Zur Auslösung von Primärprozessen ist also nicht zwangsläufig eine apparative Simulation frühkindlicher Subjektzustände vonnöten. Der effet de sujet ist, mit anderen Worten, der Wahrnehmung inhärent. Die Medien siedeln an der Zäsur der Wahrnehmung. Ihr technisches Dispositiv tendiert dazu, die Zäsur zu vertiefen und die Primärprozesse zu verstärken. Hierin, zugespitzt, entfaltet sich mediale Performanz: Das Medien-Dispositiv setzt in der Subjekt-Disposition ein. Es bietet dem Rezipienten unzugängliche Wahrnehmungsgegenstände und facht – auf je unterschiedliche Weise und in divergierendem Maße – das Imaginäre an. Es fügt, wie etwa im Fall des Kinos, der voyeuristischen Disposition eine neue Form des Mangels hinzu (vgl. Metz 1975: 45). Das führt dazu, dass sich, wie oben ausgeführt, das Subjekt in der Wahrnehmung selbst spiegelt. Des weiteren besetzt der (Kino-)Zuschauer (visuelle) Realität mit seinem Begehren und verwandelt sie in eine »Quasi-Halluzination« (Baudry 1994: 1072).72 Was Baudry vorschwebt, könnte folgendermaßen aufgelöst werden: Es ist die Absenz der überbordenden Welt, die den Medienrezipienten mit seiner Wahrnehmung allein lässt und das Begehren auf die Präsenz der Wahrnehmung richtet. Die Lust dieser imaginären Erfüllung vermengt sich mit dem Wahrgenommenen und verleiht ihm den halluzinatorischen Charakter des Irrealen (das Abwesende), das als real (als Perzeption gegenwärtig) erscheint, bzw. als mehr-als-real. Die Pointe ist mit Baudry hierbei, dass die Strategie des medialen Dispositivs nicht schlicht in der Vergewisserung von ‚Realität‘ zu suchen ist sondern primär im Aufschub (wenn auch nicht Aufhebung) des „Realitätsprinzips“ der Wahrnehmung. Das Dispositiv, mit anderen Worten, dient nicht in erster Linie dem, was man Übertragungssicherheit nennen könnte, sondern dazu, buchstäblich einen (subliminalen aber lustvollen) Spiel-Raum des Imaginären zu eröffnen. Das Ergebnis ist realer-als-real.

72 Anzumerken wäre, dass, genau genommen, das Kino in Umkehrung des Traums operiert (und nicht traumähnliche Regressionen simuliert): Der Traum wandelt Gedanken, Wünsche usw. in visuelle Realität um – im kinematografischen Dispositiv aber wird audiovisuelle ‚Wirklichkeit‘ imaginiert.

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Intermediale Gattungspassagen

3.6 I NTERMEDIALE G ATTUNGSPASSAGEN Warum die Analyse einer Gattung und nicht die des Mediums? Wie schon dargelegt, manifestiert sich ein Medium nur mittels Gattungen. Was der Mediennutzer wahrnimmt, ist ja die jeweilige Aussage in ihrer generischen Kontextverknüpfung.73 Mit jeder Gattung erscheint das Medium daher aufs Neue und in je unterschiedlicher Weise. Wie wäre das Medium aber fassbar, wenn die Gattungen noch dazu nicht seiner Eigenschaft zuzurechnen sind sondern sich intermedial verschieben? Stellt das Dispositiv nicht ein distinktives Medienmerkmal dar? Zweifelsohne, aber auch das Dispositiv ist ohne Gattungen lediglich rauschende Apparatur. Der Funktionsmodus des Dispositivs wird von der Gattung nicht unbeeinträchtigt bleiben, was an Beispielen rasch veranschaulicht ist. So wird eine im Kino projizierte Nachrichtenschau nicht die gleiche Wirkung entfalten wie ein Spielfilm. Das bedeutet nichts Anderes, als dass sich die Gattung auch in der Performanz des Mediums bemerkbar macht. Kurzum, eine Medienanalyse ohne Einschluss der Gattungen muss zwangsläufig eine Abstraktion bleiben. Ebenso abstrakt bleibt aber eine Gattungsuntersuchung ohne Berücksichtigung der Medien. Der Ansatz der gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium ließe sich u.a. folgendermaßen formulieren: Die Medien bieten den Gattungen einen Spielraum der Übertragung und der Performanz – die Gattungen bilden den sinnstiftenden Anknüpfungsraum des medialen Geschehens. Die Gattung, obwohl sie dem Medium nicht angehört, wird dennoch von ihm affiziert, sie wird vom Übertragungsmodus und von der medialen Performanz durchdrungen. Woran aber ist an der Gattung die mediale Dazwischenkunft zu erkennen? Wie oben ausgeführt, entfaltet sich die Performanz eines Mediums durch sein Dispositiv: Effets de sujet durchwalten die vom Dispositiv erschlossene und bedingte Wahrnehmung der Aussage. Das bedeutet, dass die Subjekt-Funktion des medialen Dispositivs auch die übertragene Gattung durchzieht. In diesem performatorischen Sinne verändert die mediale Übertragung die Gattung. So wird die Subjekt-Wirkung eines im Kino vorgeführten Spielfilms eine andere sein als die desselben Films, der im Fernsehen gesendet wird (um bei dem alten Beispiel zu bleiben). Wenn das Medium, wie oben erwähnt, Spielräume für Gattungen eröffnen, dann gilt es für diese, die medialen Möglichkeiten auszuschöpfen. In diesem Sinne erscheint es plausibel, dass sich feste Beziehungen zwischen Medien und Gattungen einstellen, in denen die Potenziale beider Seiten zur Geltung kommen. Während der Spielfilm hohen technischen Aufwands die kinematografische Bandbreite an Gattungen (heute) derart dominiert, dass er (derzeit) sogar für das Kino zu stehen scheint, so mag er wohl dem Rezeptions-Dispositiv des Fernsehens nicht zuwiderlaufen, aber wohl dem der TVProduktion. Dessen An/Ordnung sieht vor, ein endloses Programm zu füllen und kann (oder will) sich nicht auf die kostspielige Herstellung von Einzelprodukten konzentrieren. Ihm entsprechen Serien mit hoher Fortsetzungsfrequenz (also mindestens wöchentlich, wenn nicht gar täglich). Außerdem

73 Die gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium sorgt für ein vexierbildähnliches Changieren, das dazu führt, dass beständige das Eine für das Andere gehalten wird.

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

kommt das Serielle dem Rezeptions-Dispositiv in besonderem Maße entgegen, da der niedrige Rezeptionsaufwand der Bedienung des TV-Gerätes in der häuslichen Privatsphäre die Fortsetzung des Fernsehens nahe legt, was unterbrochene Narrationen (fiktionaler wie nicht-fiktionaler Genres) von auf einander verweisender Folgen fördern. Es kann daher nicht verwundern, dass Serien im Programmangebot des Fernsehens so überwiegen, dass sie seine Erscheinung vereinnahmen. Wenn Einzelgattungen metonymisch für das Medium stehen, so wird deutlich, dass Medien sich speziell solche Genres aneignen, die der RaumZeit-Instantiierung ihres Dispositivs entsprechen. Tatsächlich bilden sie ihre ‚eigenen‘ Gattungen heraus. Ist der (Spiel-)Film nicht eine genuine KinoGattung? Ist die Telenovela nicht eine Fernseh-Gattung par excellence? Vollkommen selbstverständlich geht die Forschung und der allgemeine Mediengebrauch davon aus, dass zu bestimmten Medien bestimmte Gattungen gehören.74 Vor dem Hintergrund der obigen Ausführen erklärt sich, dass sich ein Medium Gattungen aneignet, indem es sie an sein Dispositiv anpasst. Das bedeutet, dass ein Medium Gattungen, die seinem Produktions-Dispositiv entsprechen, einem Performanzwandel unterzieht. Damit ist angesprochen, was dem Begriff der intermedialen Gattungspassage aufgezeigt werden soll: Generische Anknüpfungen vollziehen sich nicht nur über Text- und Gattungsgrenzen sondern auch über die Grenzen von Medien hinweg. Diese Über- und Durchgänge der sinnstiftenden Verkettung bezeichnen Schäffauer und ich als Passage, die nicht nur als intertextuell sondern auch als intergenerisch und intermedial zu verstehen ist. Waldenfels hatte, wie schon erwähnt, darauf aufmerksam gemacht, dass sich Anknüpfungen auf unterschiedlichen Ebenen von Verhaltensäußerungen (die medial, bzw. sprachlich und nicht-sprachlich zu bestimmen sind) teils gleichzeitig ergeben. Auch im Bereich der Artefakte verketten sich Aussagen über mediale Grenzen hinweg (Michael/Schäffauer 2004). Das heißt, dass Gattungen von einem Übertragungsmodus nicht völlig neu geschaffen werden. Wie Todorov in bezug auf literarische Gattungen bemerkte, liegt der Ursprung von Gattungen in anderen Gattungen (Todorov 1978: 47). Gattungen, mit anderen Worten, wandeln zwischen den Medien. Ein wesentlicher Anstoß für die Überlegungen zur intermedialen Gattungspassage geht auf das Buch Semiótica de los medios masivos (Semiotik der Massenmedien, 1993) von Oscar Steimberg zurück. Erstmals werden mit dieser Studie „intermediale Transpositionen“ von Gattungen methodologisch in den Brennpunkt gerückt. Steimberg bezieht sich in seiner Untersuchung auf Massenmedien, aber er macht klar, dass mit den Gattungen und ihrem Medienwechsel generell die „Mobilität der Kultur“ angesprochen ist. Die Gattung gilt ihm als „bevorzugter Indikator“ kultureller Dynamik, und er führt dies zuvörderst auf ihre condición cambiante zurück. Sie ist ständig in Bewegung, zumal sie nie in Rein- sondern immer nur in Mischformen vorliegt (Steimberg 21998: 88). Das Neue an seinem Ansatz ist, ihre „intermediale Zirkulation“ in den Blick zu nehmen und dabei auf ihre „Frakturen“ und 74 Um nur vereinzelte Beispiele zu nennen, sei etwa Glen Creebers Sammelband The Television Genre Book (2001) erwähnt oder Stephen Neales Monographie zu Kinogenres (1980). Daran, dass die Frage der literarischen Gattungen die Literaturwissenschaft seit ihren Anfängen beschäftigt, wurde schon erinnert.

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„Mutationen“ aufmerksam zu machen, die von Medium zu Medium zur Bildung spezifischer Gattungen mit neuen Merkmalen führt (15).75 Der Begriff der intermedialen Gattungspassage ist bereits im Untertitel von Steimbergs Buch angelegt. El pasaje a los medios de los géneros populares (Die Medienpassage der popularen Gattungen). Darüber hinaus erscheint er jedoch nur ein einziges Mal im Text. Er eignet sich jedoch dazu, insbesondere die Instabilität der Gattungen und die Spannungen und Brüche zu fokussieren, die mit ihrem Medienwechsel einhergehen. Ähnlich wie das anthropologische Modell des rites de passage, das den zeremoniellen Übergang eines Gemeinschaftsmitgliedes von einer sozialen Rolle zur anderen beschreibt,76 geht es darum, den Veränderungsprozess zu erhellen, der mit der Transition verbunden ist.77 Zugleich fällt auf, dass Intermedialität nicht zuletzt auf die Mobilität der Gattungen zurückgeht. Gattungspassagen durchziehen die Zwischenräume zwischen den Medien. Mittels der Gattungen intervenieren Medien in anderen Medien (beispielsweise das Kino über den Spielfilm im Fernsehen). Wie schon angedeutet, lassen sich in Medien nicht andere Medien sondern Gattungen anderer Medien erkennen (vgl. Michael/Schäffauer 2004: 289). Wieder-Holung bedeutet Veränderung, insbesondere bei einer intermedialen Gattungspassage. Notwendigerweise wird eine Gattung im Übergang auf ein anderes Medium rekonfiguriert. Das bedeutet, dass intermediale Gattungspassagen gewisse Kontinuitäten über die Medien hinweg erzeugen, aber insbesondere auch Differenzen. Jede Bewegung unterwirft die Gattung partiell einem Bruch und einer Neuschöpfung. Das Medium verleiht der Gattung einen ihm eigentümlichen performativen Charakter, der aus dem spezifischen Vollzug von Äußerung und Rezeption im Dispositiv hervorgeht. Intermediale Gattungspassagen erschließen Gattungen neue Übertragungen und dehnen so ihren Anknüpfungsraum aus. Sie stechen besonders bei der Entstehung neuer Medien ins Auge, die zum Aussagenvollzug auf bestehende Verkettungskontexte angewiesen sind – die Form des Neuen wird zuerst von der des Alten beherrscht. Dies wird in nachfolgenden Kapiteln am Beispiel der Einführung des Fernsehens in Brasilien und in Mexiko im Jahre 1950 untersucht. Dabei wird gezeigt, dass in das neue Medium u.a. das Radio, das Theater, das Kino und die Typografie eingehen. In Erscheinung tritt diese konstitutive Intermedialität, in den Gattungen, die sich das Fernsehen von aneignet. Obgleich sich Gattungen in einem neuen Medium fortsetzen, wie beispielsweise serielle Showformate des Radios im Fernsehen, reproduzieren sie sich dabei nur partiell. Gattungspassagen sind zugleich immer differenzerzeugende Alteritätsbewegungen. Sie bilden medienübergreifend keine kontinuierlichen Linien sondern Verzweigungen, Spaltungen, sogar Rupturen. Jede Transition verlängert den Kontext, unterbricht ihn jedoch gleichzeitig, indem sie im Zusammengehen mit anderen einen neuen Kontext aufbaut. Die Bruchlinie, die sich auftut, ist medialer Art. Sie wird markiert durch die neue Performanz, die das Zielmedium der Gattung verleiht. Bühnenaufführungen, 75 Eine ausführlichere Diskussion von Steimbergs Ansatz und insbesondere von seinem Konzeptes der Transgattung findet sich in Michael/Schäffauer (2004: 284-286). 76 Zum Begriff der Übergangsriten/rites de passage s. Arnold van Gennep (1909). 77 Siehe auch Schäffauers Ausführungen zum Passagenbegriff (Schäffauer o.D.).

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Kino- und TV-Verfilmungen von Theaterstücken mögen aufeinander verweisen, aneinander anknüpfen, sich textuell im Einzellfall eines Artefakts sogar gleichen – sie sind dennoch nicht identisch. In ihrer differierenden Performanz werden sie dem Zuschauer je Anderes bedeuten. Damit nicht genug, im Bestreben, eine »eigene Sprache« zu entwickeln, setzt das neue Medium seinen Aneignungsprozess der Gattungen fort und rekonfiguriert sie im Sinne einer Ausschöpfung seines Dispositivs: Es löst die Gattungen von ihrem Herkunftsmedium ab und erfindet sie neu. Das Kino entwickelt eine eigene Dramaturgie in der Genrevielfalt seiner Spiel- und Kunstfilme, das Fernsehen entwickelt Erzählformen audiovisueller Serialität. Dramenstoffe mögen diesen Narrationsweisen weiterhin zur Vorlage dienen, das enunziative Ergebnis wird jedoch eines dem jeweiligen Dispositiv angepasstes sein. In diesem Sinne transformieren die audiovisuellen Medien langfristig auch den Diskurs, der sich ihren enunziativen Bedingungen anpasst. Intermediale Gattungspassagen zeigen in summa die Instabilität der Kultur und Diskontinuität in ihrem Wandel an. Sie markieren das Aufkommen neuer Medien und die kulturellen Zäsuren, die damit einhergehen. Ihre Analyse lenkt das Augenmerk insbesondere auf die medialen Umbrüche der Kultur seit dem 19. Jahrhundert, seit dem sich dank der technischen Entwicklung mediale Innovationen beschleunigen. Sie konturiert das kulturhistorische Paradox, dass sich der Prozess der Kultur als Kontextverlängerung und zugleich als Ruptur vollzieht. Damit hilft die Fokussierung auf die Gattungspassagen die Transformationen kultureller Enunziation nachzuvollziehen. Sie versucht, Umbrüche in der Performanz des Aussagens deutlich zu machen, und inwiefern dies auf das Aussagen selbst zurückwirkt und das Voraussetzungsgeflecht des Auszusagenden verändert. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass Gattungspassagen nicht gerichtet sind. Ihre Bewegungen gehorchen keinen Zielvorgaben. Sie gehen nicht nur von alten Medien aus und bilden einen Gattungskontext in einem neuen Medium fort. Genauso gut wechseln Gattungen von jüngeren auf ältere Medien. Gattungspassagen erzeugen Intermedialitätsbeziehungen und indizieren den Austausch unter den Medien. Ihre Untersuchung fragt also auch nach dem medienökologischen Anpassungsdruck neuer Medien auf alte und letztlich nach der Rekonfiguration medialer Übertragbarkeit im Zuge der Medienentwicklung. Intermediale Gattungspassagen sind, kurz gefasst, eine Kategorie zur Beschreibung des kulturellen Wandels. Sie legen insbesondere nahe, das kulturrevolutionäre Phänomen des „Vorwalten des Visuellen“ als medialen Umbruch der Gattungen in den Blick zu nehmen.

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4. Das Dispositiv des Fernsehens

4.1 Die Zäsur der Audiovision Wie ist das Neue der post-typografischen Ära zu fassen? Sollte man von einem „Zeitalter des Fernsehens“ sprechen, wie Postman es tut? Aber welche Rolle spielen dann andere Bildmedien wie Fotografie und Kino? Dreht es sich um „Flächen“, die als Technobilder dazu übergehen, die Welt zu kodieren, wie Flusser es will? Aber wie ist mit diesem Begriff die Spezifizität der sogenannten bewegten Bilder zu fassen? Und welchen Stellenwert hat der Ton, der schon früh zu den bewegten Bildern hinzukommt? Dies Fragen gelten auch dem offeneren Begriff der „optischen Medien“, den Kittler vorschlägt.1 Genau genommen, wird die kulturelle Vorherrschaft der Schrift nicht durch ein Medium abgelöst, sondern durch deren Vielzahl. Es wäre passender, schlicht von Bild-, Ton- und audiovisuellen Medien zu sprechen oder in Anlehnung an Siegfried Zielinski von Audiovision. Gemeint ist damit zunächst die Übertragung von Bildern, Tönen und Bewegungen sowie deren Zusammengehen.2 Das Konzept der Audiovision soll helfen, das Phänomen der „Bilderflut“ methodisch (und jenseits der Kulturkritik) zu fassen und zugleich um das des ‚Tonschwalles‘ zu ergänzen. Denn nur von der Technisierung des Bildes zu reden, verkennt, dass diese von Anbeginn an mit der des Tones einherging und sich beide in Tonfilm, Fernsehen und Multimedia zu historisch je hegemonischen Medien verbündeten. Audiovision ist mit anderen Worten der Medienverbund, der die Typografie um ihre kulturelle Suprematie brachte. Wie alle genannten Ansätze betonen, bedeutet die Rede eines medienkulturellen Umbruchs nicht, dass das alte kulturbestimmende Medium durch neue Medien gänzlich verdrängt würde. Vielmehr geht es um den kulturprägenden Vorrang, der von einem Medium auf das andere übergeht. So ist offensichtlich, dass auch ein Zeitalter der Audiovision typografisch ist. Im 20. und im beginnenden 21. Jh. wurde und wird – in Europa/Nordamerika – vermutlich mehr gelesen und geschrieben denn je, aber der Schrift kommen nun andere kulturelle Funktionen zu, als dies vor der Audiovision der Fall war. Vielmehr ergibt sich von einem intermedialen Blickpunkt aus, dass Me1

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Kittler räumt allerdings ein, die akustischen Medien zu vernachlässigen, begründet dies aber damit, dass diese sich mit den optischen zunehmend vermengten (Kittler 2002: 26). Zielinskis Begriff der Audiovision wäre also etwas zu weiten, da dieser unter dem Term bewegte Bilder fasst und als „Inszenierung von Bewegungsillusionen vermittels technischer Apparaturen“ versteht (Zielinski 1989: 12).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

dien sich nicht (zwangsläufig) ausschließen sondern gegenseitig (in Konkurrenz) bedingen.3 Nicht nur in diachronischer, auch in synchronischer Perspektive wirken Medien ineinander. Ihr uneigentliches Übertragen erfährt je historische Spezifizität nicht zuletzt durch das „ökologische Kommunikationssystem“ der Kultur eines geschichtlichen Moments (Giesecke 2002: 256), in dem andere Medien ihren kontextanknüpfenden und performatorischen Spielraum prägen. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Audiovision einen kulturhistorischen Abschnitt einleitet, der sich ebenfalls nur unter Brüchen fortentwickelt. Von vielen Ausnahmen abgesehen, zeigt sich jedoch, dass weniger die Existenz einzelner Medien als ihr herausgehobener Status ephemer ist, der ihnen erlaubt, Funktion und Status anderer Medien zu bestimmen. Mit anderen Worten haben sich innerhalb der Kulturhegemonie der Audiovision die Leitfunktion des Kinos und auch die des Fernsehens bereits als vorübergehend erwiesen. In der vorliegenden Arbeit soll das Fernsehen und die Telenovela als Teil der Audiovision im Kontext der Medienkulturgeschichte zumindest annähernd situiert werden. Zu diesem Zweck erscheinen jedoch einige weitergehende Überlegungen zur Bestimmung der Audiovision notwendig. Zunächst ist nach dem Begriff der kulturellen Hegemonie zu fragen. Die Rede von der Hegemonie bezieht sich darauf, dass dem Medienverbund der Audiovision eine Vorrangstellung vor anderen Medien zukommt, die für die Kultur bestimmend ist. Wie Lyotard herausgearbeitet hat, bedeutet Hegemonie, dass bestimmte Sinnformationen gegenüber allen anderen überwiegen, indem einzelne Gattungen in gegebenen historischen Abschnitten die Verkettung der Sätze zu kontextanknüpfenden Aussagen für sich beanspruchen. Zweifelsohne übernehmen diese Gattungen – und das wird am Beispiel der Telenovela näher zu zeigen sein – kulturprägende Funktionen. Gattungen sind jedoch ihrerseits auf Medien angewiesen, die ihren Aussagenverket3

Medien entstehen aus anderen Medien und verweisen in ihrer Rahmung enunziativer Kontexte auf andere Medien. Dass dieser Prozess sich fortentwickelnder Technik jedoch keine lineare Evolution darstellt, darf vorausgesetzt werden. Der Weg zur Herausbildung von Medien, die sich schließlich durchsetzen, ist voller Brüche und Umwege, auf denen andere Medien ‚auf der Strecke‘ bleiben. Kittler hat diese Brüche etwa in den jahrhundertelangen Versuchen, Bilder zum Laufen zu bringen, sehr foucaultianisch nachgezeichnet (Kittler 2002). Auch Zielinski bringt in seiner Archäologie des Kinos und des Fernsehens viele später in Vergessenheit geratene bildtechnische Apparate zu Tage, die den späteren Leitmedien die Richtung wiesen oder auch nicht, wie z.B. das Panorama und seine vielfältigen Ausfertigungen, eine der großen Attraktionen der Weltausstellung 1900 in Paris (Zielinski 1989: 19-22). Dass Medien „sterben“, wollten Richard Kadrey und Bruce Sterling 1997 mit ihrem Internetprojekt der Dead Media veranschaulichen, das trotz großer öffentlicher Aufmerksamkeit nun selbst dem Tod nahe ist. Es ging darum, die Technikgeschichte um das „Scheitern“ abgestorbener Medien zu erweitern, so das „Dead Media Manifesto“. Das Projekt ist „vorübergehend“ offline (siehe http://www.deadmedia.org, zuletzt aufgesucht: 19.04.2010) Ein Interview mit Sterling aus dem Jahre 1999 gibt Auskunft über das Anliegen (http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=208, zuletzt aufgesucht: 19.04. 2010). Zum Thema der toten Maschinen und der Müllhalden ausgemusterter Medien siehe auch Zielinski 2002: 9-11).

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Das Dispositiv des Fernsehens

tungen Wahrnehmbarkeit verleihen. Wenn Medien also Dominanz zugesprochen wird, dann üben sie diese zwangsläufig mittels Gattungen aus. Ihre Performanz verleiht diesen Aussagenverkettungen Reichweite und Durchsetzungsfähigkeit in den sinnstiftenden Praktiken der Gesellschaft. Sie demarkiert den dispositiven und generischen Spielraum aller anderer Medien. Für die Audiovision bedeutet dies, grob verkürzt, dass Welt und Wahrheit nun grundsätzlich sichtbar und hörbar sein müssen, um als existenzberechtigt gelten zu dürfen. Eine solche Welt formatierte und formatiert sich v.a. als Spielfilm- bzw. als radiophone und televisuelle Serienerzählung sowie als Nachricht und Reportage mit originalem Bild- und Tonmaterial in Echtzeit etc. Kittlers informationstheoretischem Standpunkt nach konnte die Schrift ihr „Monopol“ über zwei Jahrtausende halten, da sie nicht nur Speicher- sondern immer auch Übertragungsmedium war. Bilder dagegen waren immer schon speicherbar, aber bis zu ihrer Technisierung nicht übertragbar. Dies änderte sich in der Mitte des 19. Jh. mit der Entwicklung der Fotografie. Mit der Kinematografie mobilisierte die Technik am Ende des Jahrhunderts nicht nur das Bild selbst sondern auch seinen Inhalt (Kittler 2002: 48-49). Die Identität, die die Industriegesellschaften laut Giesecke in der Buchkultur gefunden haben (Giesecke 2002: 11), wird durch die audiovisuellen Medien zwar nicht gänzlich geleugnet, so doch zunehmend in Frage gestellt. Die widersprüchlichen und unaufhörlichen Prozesse in der Formierung eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses mutieren in wachsendem Maße zu visuellen und auditiven Suchen von Selbstbildern. Es handelt sich um eine Entwicklung, in der Gesellschaften zwar weiterhin typografisch mit sich und über sich kommunizieren, audiovisuelle Medien aber Gattungen übernehmen und so neue Kommunikationsformen kreieren, die kraft ihrer skopischen Dispositive prämiert werden und in immer stärkerem Ausmaß beanspruchen, das Wissen der Gesellschaft über sich und die Welt zu vermitteln. Postman prangert beispielsweise nicht nur an, dass das Fernsehen zur wichtigsten Grundlage des Wissens wurde, das wir über unsere Gesellschaft verfügen, sondern dass es darüber hinaus generell der Kultur vorgibt, wie die Welt kommuniziert zu werden hat (Postman 1986: 92). Das bedeutet, dass die Prämierung der Audiovision anderen Medien einen neuen Status und neue Funktionen zuweist, aber auch, dass sie auf deren Übertragungsmodus selbst einwirkt, etwa, indem sie Gattungen vorgibt oder in der Performanz des jeweiligen Mediums interveniert.4 Wie Flusser schreibt, wird die Welt im Zeitalter des Nach-Alphabets durch Bilder programmiert, die als „realer“ erscheinen als „alle übrigen Informationen, die wir durch andere Medien (inklusive unsere Sinne) empfangen“. Die Menschen werden, so Flusser, in der Folge von den Bildern „existentiell abhängig“, auf denen zunehmend ihre Erlebnisse, Kenntnisse, Urteile und Entscheidungen beruhen (Flusser 1999: 73). Die Rede der kulturellen Hegemonie fragt nach den Machtbeziehungen, die die Möglichkeiten des Aussagens zu einem historischen Zeitpunkt bestimmen. Damit ist das machtanalytische Anliegen Foucaults angesprochen, historische Bedingungen der Aussagbarkeit und des Wissens zu erörtern. In diesem Sinne versteht Zielinski Audiovision als Diskurs bzw. als 4

Ein vieldiskutiertes Beispiel sind sogenannte seriöse Tageszeitungen, die sich nach langer Zurückhaltung dem Bild und der Farbe im Layout öffnen, etwa Le Monde, die am 17.01.2004 erstmals Farbabbildungen zuließ (siehe Bredekamp 2004: 15).

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„Ausdrucks- und Handlungsbereich“, der sich seit der Mitte des 19. Jh. in den sich industrialisierenden Gesellschaften institutionalisierte und immer stärker spezialisierte. Gemeint sind Handlungen, die sich auf Produktion und Rezeption von Bewegungs- und Tonillusionen mittels technischer Apparate richten. Der audiovisuelle Diskurs steht jedoch nicht für sich sondern ist bei Zielinski in das „Kulturindustrielle“ eingebunden. Dieses ist darauf aus, die Mediennutzer als Subjekte zu modellieren und zu unterwerfen und hat damit „auch dispositiven Charakter“ (Zielinski 1989: 13). Die Kulturindustrie konkretisiert den audiovisuellen Diskurs in medialen Ausgestaltungen, die selbst als Dispositive zu verstehen sind. Zielinski unterteilt den historischen Prozess der Audiovision in vier mediale Dispositive: Als erstes führt der Autor eine unentschiedene Experimentierphase der Audiovision an, in der heterogene Bildermaschinen zum immer nur probehaften Einsatz gelangen und sich die Kulturindustrie lediglich vereinzelt ankündigt. Diese etabliert sich in der zweiten Phase rasch mit dem Kino, das die Übertragung von Bewegungen in Raum und Zeit in öffentlichen Vorführungen perfektioniert. Als nächstes nennt Zielinski das Fernsehen, das einen Fluss von „Bewegungsillusionen“ in den privaten Raum eines dispersen Publikums übermittelt. Viertes und letztes Dispositiv ist die „fortgeschrittene Audiovision“, in der Bilder und Töne sowie ihre Sequenzen digitalisiert werden, was ihre scheinbar uneingeschränkte Verwertung und Wiederverwertung einleitet.5 Diese Unterscheidung, so Zielinski, stellt keine Chronologie dar, da die medialen Dispositive teilweise koexistieren und sich überlappen. Die kulturelle Hegemonie, die sie jedoch innerhalb dieses historischen Prozesses für sich in Anspruch nehmen, offeriert Markierungspunkte einzelner Unterabschnitte der Audiovision, deren Analyse sich der Autor zum Ziel setzt (Zielinski 1989: 13-14). Zielinski operiert in seiner Diskursanalyse der audiovisuellen Medien folglich mit dem Begriff des Dispositivs in seiner zweifachen Verwendung: Einerseits greift er Foucaults Vorstellung des Machtdispositivs als übergeordnetes strategisches Ensemble auf, anderseits das kinotheoretische Konzept des Mediendispositivs. Wenngleich dies etwas verwirrend erscheint, so wird nichtsdestoweniger deutlich, dass Audiovision Teil einer gesellschaftlichen Formation ist, die fundamentale Rahmenbedingungen des Machbaren und Äußerbaren setzt. Zugleich zeigt Zielinskis Argumentation an, wie sich der audiovisuelle Diskurs konkret vollzieht, und wie er im einzelnen seine kulturelle Hegemonie ausübt, nämlich in den Anordnungen der Apparate. Im Medien-Dispositiv entfaltet sich, wie schon erwähnt, die mediale Performanz der zu übertragenden Gattung. Diese Apparate bilden die einzelnen Stationen der Audiovision, die auch Kittler in seiner Geschichte der optischen Medien beschreibt, und zwar als technische Entwicklung von der chemisch-mechanischen Bildaufnahme mit mechanischer Speicherung und mechanischer Wiedergabe über die elektronische Bildverarbeitung bis hin zur Digitalisierung.

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Wie bereits im vorigen Kapitel angedeutet, geht Zielinski an anderer Stelle (2003) von sechs historischen Subjekt-Positionierungen aus, die er zwar als „Apparate“ bezeichnet, was aber angesichts ihrer Subjektfunktionen dem Begriff des Dispositivs gleichkommt. D.h. dass hier neben den oben genannten vier noch zwei Dispositive aus der Frühgeschichte der Audiovision hinzukämen, nämlich die Camera obscura und die Laterna magica (Zielinski 2003: 163-166).

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Etwas verwirrend, wie angemerkt, sind lediglich die argumentativen Verschachtelungen: Das Medien-Dispositiv gestaltet den audiovisuellen Diskurs aus, der wiederum dem Macht-Dispositiv des „Kulturindustriellen“ untersteht. Und welcher Formation, so könnte man fragen, untersteht das „Kulturindustrielle“? Die Über- und Unterordnungen verundeutlichen, was zu fokussieren ist: Die Audiovision ist eine Machtbeziehung, die wiederum in Machtbeziehungen eingebunden ist. Ein (nicht weniger verwirrender) Vorschlag: Medien-Dispositive sind immer auch Macht-Dispositive, denn in ihnen vollziehen sich die Subjektivationen (Judith Butler), die die Zuschauer und Zuhörer in ihrer audiovisuellen Subjektformierung den gesellschaftlichen Machtbeziehungen unterwerfen. Die Audiovision bündelt diese Machtbeziehungen, ist jedoch, wie Zielinski anführt, nicht deren alleiniger Ursprung. Speziell in Bezug auf Lateinamerika ist von der Machtformation der Unterentwicklung auszugehen, die – wie in den nachfolgenden Kapiteln erörtert wird – das Handeln, Denken und Aussagen im 20. Jh. hegemonisch bestimmt. Die Machtformation der Unterentwicklung bedingt einen spezifisch lateinamerikanischen Diskurs der Modernisierung. Die Audiovision mag davon ausgehen. Jedoch macht es wenig Sinn, dauerhafte Unter- bzw. Überordnungen festzulegen. Sinnvoller erscheint, im Neben-, Über- und Untereinander von Unterentwicklung, Modernisierung, Emanzipation, Industrialisierung, Audiovision u.a. ein strategisches Ensemble von diskursiven und nichtdiskursiven Kräften zu skizzieren. Worauf es ankommt, ist, deutlich zu machen, dass in Lateinamerika eine sehr spezifische Machtformation vorliegt, die wiederum eine sehr spezifische Ausgestaltung der Audiovision bedingt (was wiederum von Gesellschaft zu Gesellschaft zu differenzieren ist). Damit ist gemeint, dass die Unterentwicklung der Audiovision allgemein eine sehr eigentümliche Machtwirksamkeit eröffnet, dabei jedoch die Television vor allen anderen Medien-Dispositiven prämiert. In der Folge vermengen sich u.a. nicht nur Kultur und Technik sondern auch Kultur und Industrie.6

4.2 Der Prozess der Audiovision Zielinski liefert eine brillante Beschreibung des Entstehungs- und Ausbildungsprozesses der Audiovision. Auf sie sei in bezug auf den audiovisuellen Entwicklungsprozess in Europa und in den USA verwiesen, insbesondere im Hinblich auf erste Suchprozesse audiovisueller Dispositive und auf das KinoDispositiv (Zielinski 2003: 19-175). Das Radio- und Fernseh-Dispositiv verdienen eine eingehendere Erörterung im Rahmen der vorliegenden Arbeit. In

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Der Zusammenhang von Kultur und Kapital wird von der Audiovision verschärft. Er war ihr jedoch durch die Typografie vorgegeben, nicht erst durch die Massenpresse des 19. Jh. Wie u.a. Giesecke hervorgehoben hat, verdankt sich auch die Entwicklung der Buchkultur marktwirtschaftlicher Strukturen, da das Buch zum Einen die öffentlichen Interaktionsnetze der Marktwirtschaft zur Voraussetzung hatte, die erst die typographische Informationszirkulation zuließen, und zum Anderen selber ein Handelsgut darstellt, dessen Produktion zu Beginn höchst kapitalintensiv war (Giesecke 2002: 61-63).

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nachfolgenden Kapiteln wird auf die interkulturelle Passage der Audiovision und speziell des Fernsehens nach Brasilien und Mexiko eingegangen.

4.2.1 D AS R ADIO -D ISPOSITIV Das Kino-Dispositiv ist bereits ausgiebig diskutiert worden. Voraussetzung der Erörterung des Fernseh-Dispositivs ist demgegenüber eine Analyse des Radios. Der Okularzentrismus (von dem sich auch die vorliegende Arbeit nicht ganz frei macht) täuscht schnell darüber hinweg, dass das Fernsehen nicht nur Bildmedium ist, sondern auf einer Vielzahl von medialen Dispositiven aufsitzt, von denen das des Radios besonders wichtig ist. Mit der öffentlichen Projektion von Bewegungsillusionen schafft das Kino die apparativen Voraussetzungen, zum bestimmenden Faktor der sich zu Beginn des 20. Jh. formierende „Outdoor-Kultur“ zu werden, zu deren kommerziellen Veranstaltungen die Menschen aus ihren bedrückenden Wohnverhältnissen flüchten auf der Suche nach konzentrierter Zerstreuung (Zielinski 1989: 74). Zur gleichen Zeit wird die Entdeckung elektromagnetischer Wellen zur drahtlosen Übermittlung elektrischer Signale umgesetzt. Ende der 1890er Jahre gelingt es, die in elektrische Signale umgewandelte Schrift per Funk zu übertragen. Diese Verfahren werden sofort in der entstehenden Telekommunikationsindustrie angewandt, um wireless zu telegraphieren (insbesondere auf Schiffen). Außer in der Funktelegrafie scheint jedoch die drahtlose Übertragung zunächst kaum Verwendung zu finden. Erste Versuche ab 1906, die menschliche Stimme und Musik per Funk zu übermitteln, finden nur wenig Interesse. Offensichtlich ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welch kulturelles und ökonomisches Potential die Radiophonie birgt. Dies mag daran liegen, dass das Dispositiv des Rundfunks eine komplexe Struktur erfordert, die eine zentrale Sendestation vereinzelten, anonymen Empfängern mit eigenem Empfangsgerät gegenüberstellt. Dieses Dispositiv ist damals noch nicht absehbar, obwohl die Technik weitgehend vorhanden ist und auch erste Nutzer. Es kann sich zu seiner Entfaltung nicht an Vorläufer anlehnen, wie etwa die Filmprojektion an die Laterna magica. Einzelne Amateurfunker sind es, die mit selbst-gebastelten Geräten und ausgedehnten Sendungen anderen Funkern ein Programm anbieten, sie zu Hörern machen, Interesse wecken und so rundfunkähnliche Nutzungsweisen entwickeln. So geschehen 1920 mit der home station des Funktechnikers Frank Conrad in Pittsburgh, der die Sendequalität verbesserte und aus seiner Garage heraus dazu überging, dauerhaft zu senden. Seine Söhne beteiligten sich als Ansager und legten Musik eines Plattenladens auf, der dafür durch Werbung entschädigt wurde. Als samstags abends (Haus-)Konzerte gegeben und gesendet wurden, wuchs das Interesse, bis ein lokaler Anbieter von radio sets auftrat. Dies machte Conrads Arbeitgeber, den Elektrokonzern Westinghouse, auf die Radiophonie als ein Geschäftsmodell aufmerksam, das versprach, das Radio-Empfangsgerät als Haushaltsutensil massenhaft verkaufen zu können. Zu diesem Zweck gründete das Unternehmen ebenfalls in Pittsburgh den ersten öffentlichen Radiosender, KDKA, und startete die Massenproduktion von Radiogeräten. KDKA nahm die am 2. November 1920 stattfindende Präsidentschaftswahl als Anlass zum Sendestart und übertrug 96

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abends die Ergebnisse der Wahlen, die es von der Pittsburgher Tageszeitung und seinen Nachrichtentelegraphen erhalten hatte (Douglas: 1987: 1-21).7 Damit waren in einem erratischen Suchprozess die Grundlagen des Rundfunk-Dispositivs geschaffen, bei dem eine Funk-Übertragung eine unbestimmte Anzahl an Rezipienten in ihrem häuslichen Umfeld erreicht und sie dort kontinuierlich informiert, unterhält und/oder belehrt. Bereits diese ersten Konstitutionsmomente des neuen Mediums weisen wesentliche Kennzeichen seiner dispositiven Struktur auf, die sich erst im folgenden Jahrzehnt vollständig entfalten. Schon als Garagensender ist das Radio ein Programmmedium, das zum Einen auf Dauer, zum Anderen auf Regelmäßigkeit ausgelegt ist: Es überträgt nicht sporadisch sondern kontinuierlich und sendet ein bestimmtes Angebot zu festen Zeiten. Seine Übertragungen werden nicht nur zeitlich sondern auch inhaltlich durch die Belegung der Programmplätze durch invariante Genres strukturiert. Außerdem aber bindet das Medium das singuläre Ereignis in sein Programm ein und übermittelt es ohne Zeitverlust an die Empfänger.8 So verspricht das Radio seinen Rezipienten, wichtige Ereignisse mithören zu können. Auf diese Weise konstituiert es eine neue und apparative Form des Seins, die als echtzeitige Fernanwesenheit zu beschreiben wäre.9 An den beiden Pittsburgher Pioniersendern wird bereits deutlich, dass die radiophonische Sinnbildung zwar nicht ursprünglich aber sehr schnell durch wirtschaftliche Gewinnerzielungsabsichten motiviert ist und dazu dient, nicht sich selbst (wie im Falle des Films), sondern industrielle Güter zu verkaufen. Industrie und Kultur vermengen sich: Verbale und musikalische Sinnbildung werden nicht ihrer selbst willen übertragen sondern fungieren als Werbung für Industrieprodukte.10 Erwähnenswert ist, dass es Anfang der 1920er Jahre in den USA zwar einen dominanten politischen Willen gab, den Rundfunk nicht staatlich zu organisieren sondern ihn der Privatinitiative zu überlassen. Jedoch sprachen sich Politik, öffentliche Meinung sowie viele Radiounternehmer strikt gegen ein anzeigenfinanziertes Programm aus. Werbung, so die Konsensmeinung, dürfe nicht gesendet werden. Das bedeutet, dass sich das 7

Wie Wolfgang Hagen herausarbeitet, wird das Radio gewissermaßen zweimal erfunden – einmal in Europa und einmal in den USA. Sein Buch über die Geschichte des Radios zeigt u.a die Differenzen dieser Doppelentwicklung an den Beispielen Deutschland/USA auf. 8 Westinghouse wählte sich wieder ein besonderes event, um 1921 mit seinem zweiten Sender, WJZ, in New York auf Sendung zu gehen. Diesmal handelte es sich um das Sportereignis der World Series (Douglas 1987: 25). Ereignisse, insbesondere große Sportveranstaltungen, werden vom Rundfunk systematisch als Entwicklungsschub benutzt – dieses Muster wiederholt sich von nun an jahrzehntelang vor allem im Bereich des Fernsehens (vgl. Zielinski 1989: 157, 206). 9 Eine wichtige technische Voraussetzung für die Herstellung der Fernanwesenheit des Hörers ist die bereits von KDKA eingelöste Mobilität des (Sende-)Radios, das sich nicht darauf beschränkt, Hörbares in das Studio zu bringen, sondern das Hörbares vor Ort und Stelle mikrofonisch einfängt, über Telefonkabel an den Sender leitet, von wo aus es ausgestrahlt wird (Douglas 1987: 127-128). 10 Etwas anders stellt sich der Fall in vielen europäischen Ländern dar, wo sich das Radio unter Aufsicht des Staates konstituiert, von ihm betrieben und propagandistisch in den Dienst seiner Führung genommen wird (vgl. Zielinski 1989: 114-119).

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gesponserte Programm Mitte der Zwanziger Jahre erst nach und nach durchsetzen konnte, da eine Reihe anderer Finanzierungsmodelle fehlschlugen,11 während die Sendungen immer anspruchsvoller und teuerer wurden (Douglas 1987: 81-90). In Bezug auf den generischen Kontext, den das neue Medium fortbildet, sind mit den beiden Pioniersendern ebenfalls grundsätzlich die Weichen gestellt: Zum Einen überträgt das Radio Musikstücke, und zwar die Genres, die der Phonograph zuvor technisiert hatte. Zum Anderen übermittelt es Nachrichten, wobei es auf die Presse zurückgreift. In beiden Bereichen greift das Radio auf Gattungen älterer Medien zurück, kreiert jedoch das gänzlich neue Genre der Live-Übertragung. Eine Vielzahl weiterer Gattungen wie der Wetterbericht oder Humorsendungen, die das Radio dem Vaudeville entnimmt, kommen später hinzu. Zweifelsohne transformieren die intermedialen Passagen die betreffenden Gattungen grundlegend. Gemeint ist damit in erster Linie, dass das Programm-Dispositiv des neuen Mediums die Gattungen serialisiert. Das Radio unterbricht folglich die generische Enunziation bzw. bringt sie zu einem nur vorläufigen Abschluss und setzt sie am Folgetag oder in der Folgewoche fort. Gegen Ende des Jahrzehnts entstehen Serienfiktionen, von denen die melodramatische Variante besonders populär wird. Es handelt sich um das Genre der soap opera, dem seitens der Programmdirektoren die Funktion zukommt, das vorwiegend weibliche Publikum am Nachmittag anzusprechen. Schon die Gattungsbezeichnung macht deutlich, wie stark dieses Format an die kommerzielle Struktur des Mediums angepasst ist. Als die Gattung 1932 erstmals auf Sendung geht, war die Werbefinanzierung des Programms bereits voll entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich folgender Produktionsmodus herausgebildet: Die meisten Sendungen wurden nun von Werbeagenturen geplant und aufgenommen, die als veritable Produktionsfirmen agierten. Diese suchten Sponsoren für die Sendung und übergaben den Radiostationen anschließend das fertige Paket zur Übertragung. Anfang der Dreißiger Jahre hatte der US-amerikanische Rundfunk seine nationale Ausdehnung erlebt, und Industrie und Werbung sahen in diesem Medium ein geeignetes Mittel, um den Konsumartikeln einen landesweiten Markt zu erschließen. Nur die Zeitschiene nachmittags mit ihrem weiblichen Publikum war schwer zu verkaufen. Daraufhin wurde ein Genre entwickelt, das mittels der intermedialen Passage eines bestimmten literarischen Genres aus dem 19. Jh., nämlich des sentimentalen Familienromans, geeignet schien, gezielt Hörerinnen anzusprechen. Heraus kam das Format einer fiktionalen Serie, die weder Anfang noch Ende hat, sondern mitten im Geschehen beginnt, keinen Abschluss kennt und irgendwann schlicht abgesetzt wird.12 Das Thema der

11 Ein Finanzierungsvorschlag, der übrigens vom Gerätehersteller Radio Company of America (RCA) stammte, bestand beispielsweise darin, dass die Geräteproduzenten zwei Prozent ihrer Umsätze an eine zu gründende Broadcasting Company abführen sollten, deren Aufgabe die Finanzierung der Radiophonie wäre. Er erwies sich jedoch aufgrund mangelnder Zahlungsbereitschaft der betroffenen Firmen als nicht praktikabel (Douglas 1987: 82). 12 Painted Dreams gilt als die erste soap und ging ab 1930 fünfzehn Minuten täglich auf Sendung. Die Serienerzählungen sind teils jahrzehntelang on air, so z.B. The Ro-

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soap sind Liebes- und Familienkonflikte, teils alleinstehender Frauen, die sich gegenüber einer feindlichen Welt zu behaupten haben, teils verheirateter Frauen, die sich mit Eheproblemen auseinandersetzen müssen. Es geht, kurz gefasst, um Frauen, ihr Verhältnis zur Moral und ihre Rolle in der Gesellschaft. Die Handlung besteht aus unterschiedlichen Strängen, die sich abwechseln, vermischen, die enden oder neu einsetzen. Das mag für die Hörerin auf Anhieb verwirrend erscheinen, da die Hilfestellung eines Erzählers nicht zu erwarten ist. Im Gegenzug entwickelt sich die Erzählung nur sehr langsam und mittels vieler Redundanzen sowie flashbacks, so dass es einer Hörerin kaum gelingt, wichtige Erzählmomente zu verpassen. Zur Orientierung dient ferner die moralische Grundkonzeption der Figuren: Sie werden in einem Spektrum eindeutiger Positionen zwischen gut und böse gegenübergestellt, was auf die konstitutiven Beziehungen zum Melodrama verweist. Als Hauptsponsoren dieser Serien finden sich die Hersteller von Hygieneartikeln wie Colgate Palmolive-Peet und Procter and Gamble. Die enge Verbindung ihrer Produkte mit den Erzählungen spiegelt sich schließlich in der Bezeichnung der Gattung.13 Das Genre ist äußerst erfolgreich: Bei niedrigen Produktionskosten bildet es über Jahrzehnte ein treues Publikum und sorgt so für die höchsten Einnahmen unter den daytime Sendungen. Auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit Anfang der 1940er Jahre werden 64 Serien täglich ausgestrahlt, meist landesweit. Es wird davon ausgegangen, dass im Jahr 1940 schätzungsweise 20 Millionen Frauen mindestens zwei soap operas pro Tag hören. Anfang der Fünfziger Jahre wechselt die Gattung auf das Fernsehen über. 1960 wird die letzte radio soap opera in den USA abgesetzt (Cantor/Pingree 1983: 19-46). Das in den Zwanziger Jahren entstehende Radio-Subjekt ist auf den Empfang von verbalen bzw. musikalischen Botschaften ausgerichtet, von denen es heimgesucht wird, anstatt dass es ihnen in der Öffentlichkeit nachgehen müsste. Das bedeutet, dass die apparative Zerstreuung die Grenzen der Vergnügungsstätten der Music Halls, Vaudeville-Theater, Varietés, der Jahrmärkte usw. überschreitet und in die Privatsphäre des Rezipienten eindringt. In dem Maße, wie das Radio dazu übergeht, sein Programm auf die gesamte Wachzeit der Hörer (und darüber hinaus) auszudehnen, verwandelt es dessen Zuhause in einen ständigen Raum apparativer Unterhaltung, Information und Belehrung. In der Tendenz ist das Radio-Subjekt damit ein dauernder Empfänger, an den die auditive Zerstreuung ohne Unterbrechung herantritt. Damit geht die Unterhaltungskultur dazu über, das Subjekt permanent zu begleiten. Zudem dringt die Radiophonie mit der Zeit in alle Haushalte ein und macht die Bürger tendenziell zu Hörern bzw. zu dispersen und anonymen Elemen-

mance of Helen Trent und Ma Perkins, die erst nach 27 Jahren abgesetzt wurden (Cantor/Pingree 1983: 38). 13 In der Erzählstruktur kommt die Verbindung zwischen Industrie und Unterhaltung durch die Werbeblöcke bzw. jingles zum Ausdruck, die die Sendungen unterbrachen und Produkten galten, deren Kunden meist Frauen waren, so z.B. Putz- und Waschmittel. Der Begriff der soap operas wurde in der US-amerikanischen Zeitungspresse in den 1930er Jahren geprägt. Angesichts der außerordentlichen Popularität konzentrierten sich um 1940 90% aller kommerziellen Sponsoren im Tagesprogramm auf diese Radiodramen (Allen o.D.).

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ten eines Massenpublikums,14 die unabhängig von einander darin konvergieren, sich einer gemeinsamen Wahrnehmungsdisposition zu unterziehen. So amorph die Masse zu sein scheint, sie nimmt bereits innerhalb weniger Jahre nationale Konturen an. Voraussetzung hierfür sind die technischen Möglichkeiten, das Radioprogramm eines zentralen Senders mittels Telefonleitungen über ein landesweites Netz von Filialsendern auszustrahlen.15 Es handelt sich um eine historisch beispiellose, massenhafte An/Ordnung der Bürger, nicht nur ihre Freizeit der radiophonen Zerstreuung zu widmen, sondern auch Industrieprodukte zu konsumieren. Das neue Medium findet seine gesellschaftliche Funktion nicht zuletzt in der Formation eines nationalen Publikums als eines gigantischen Konsumentenkollektivs.

4.2.2 D AS F ERNSEH -D ISPOSITIV 4.2.2.1 Suchprozesse zwischen Fernkino und Bildfunk

Das Radio war, wie oben angedeutet, bereits zu Beginn des 20. Jh. technisch zwar ansatzweise realisierbar, aber aufgrund der Komplexität seines Dispositivs noch nicht vorstellbar. Als sich im amateurhaften trial-and-error-Verfahren erste Konturen herausbildeten, riss die Telekommunikationsindustrie die Entwicklung augenblicklich an sich und wunderte sich, nicht schon früher auf diese Idee gekommen zu sein (vgl. Douglas 1987: 19). Die Inkubationsphase des Fernsehens war dagegen wesentlich länger. Ab Mitte des 19. Jh. verdichtet und beschleunigt sich der Prozess der Aneignung, Zurichtung und Zurschaustellung der klanglichen und sichtbaren Welt. Bemerkenswert ist nun, dass schon zu diesem Zeitpunkt zwei Projekte technischen Sehens abzeichnen, die erst im folgenden Jahrhundert zur Entfaltung kommen würden. Es geht einerseits darum, das Sichtbare in seiner Dynamik abzuspeichern und anschließend zu reproduzieren, und andererseits darum, über Distanzen zu sehen, so, wie es sich auch schon über Distanzen schreiben und später hören ließ. Das bedeutet, dass sich die Kinematografie und die Television parallel entwickelten, und zwar schon ab einem frühen Zeitpunkt, wenn man bedenkt, dass das Fernsehen erst in den Dreißiger Jahren des 20. Jh. auf Sendung ging. Ein Blick auf die Entstehungsphase des Fernsehens macht erkenntlich, dass das Medium Fernsehen aus der Nachrichtentechnik hervorgeht, die durch die Elektrifizierung einen gewaltigen Entwicklungsschub erhielt. Wie auch die Etymologie der Medienbezeichnung anzeigt, reiht sich das Mitte des 19. Jh. bereits projektierte Medium in die Tradition von Telegrafie und Telefonie ein. Gleichwohl konnte es vor dem kinematografi14 Ab 1922 setzte ein beispielloser Radio-Boom in den USA ein: Ende 1922 waren bereits 690 Sendelizenzen vergeben. Während zu Beginn des Jahres schätzungsweise 60.000 Haushalte ein Radiogerät besaßen, waren es 1928 bereits 7.500.000 (Douglas 1987: 34, 77). Cantor und Pingree schätzen, dass 1930 50% aller Haushalte im Besitz eines Empfängers waren, und 1940 98% (Cantor/Pingree 1983: 45). 15 Der Wandel des Rundfunks zum network vollzieht sich schnell, und schon im Januar 1927 nimmt die National Broadcasting Company (NBC) den Sendebetrieb auf. Das network Columbia Broadcasting System (CBS) folgt im September desselben Jahres (Douglas 1987: 127-141).

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schen Einfangen und Widergeben visueller Bewegungen zunächst nur darum gehen, einzelne Bilder zu senden. Bildtelegrafie, Fernfotografie und später Bildfunk, woraus später u.a. das Fax hervorgeht, markieren erste Entwicklungsetappen der Television. Kaum waren die ersten Telegrafen in Betrieb, wurde schon mit der Bildübertragung experimentiert.16 Nichtsdestoweniger herrschte noch im ersten Drittel des neuen Jahrhunderts Unklarheit darüber, wie sein Dispositiv zu konfigurieren war.17 Dies drückt sich in der Vielzahl der Bezeichnungen aus, das apparative FernSehen zu benennen und zu denken: Die Vorstellungen schwankten u.a. zwischen Bildfunk, Fernkino, Funkfilm und Fernsehsprechverkehr und entsprechend heterogen waren die technischen Entwürfe, die Visionen umzusetzen. Die Anstrengungen liefen darauf hinaus, aus unterschiedlichen Kombinationen der vier Medien Telegrafie, Telephonie, Radiophonie, und Kinematografie ein neues visuelles Live-Medium zu gestalten. Es liegt nahe, dass sich hierbei ein Zusammengehen von Radio und Kino herauskristallisierte, da die Kinematografie das Problem des Einfangens des bewegten Sichtbaren gelöst hatte, und der Rundfunk ein Modell bot, wie eine mediale Übertragung räumliche Distanzen ohne Zeitverlust überwinden konnte. Das elektrische Distanz-Sehen erwies sich jedoch als enormes technisches Problem: Zwar wurde bereits im 19. Jh. die mechanische Zerlegung des Sichtbaren in Bildpunkte und der anschließende zeilenhafte Bildaufbau entworfen. Die mechanischen Lösungen führten jedoch nur zu rudimentären Bildauflösungen und blieben so hinter den Erwartungen zurück.18 Immerhin war das Prinzip des elektrischen Sehens gefunden: Das Sichtbare mutiert zu einem rechteckigen Lichtraster und wird in Einzelpunkte (in der digitalen Ära: picture elements oder abgekürzt Pixel) aufgelöst und in elektrische Spannung umgewandelt. Nun konnte es raumzeitliche Distanzen überwinden – erst per Telefonkabel, später per Funk. Damit zerstückelt das Fern-Sehen nicht nur die Zeit sondern auch das Sichtbare in diskrete Datenmengen, um sie später wieder zu einer Abfolge rechteckiger Bilder zusammenzusetzen.19 16 Der 1843 von Alexander Bains entworfene Kopier-Telegraph wurde zwar nicht gebaut, sah aber schon vor, ein Bild zeilenweise abzutasten und wiederaufzubauen und antizipierte damit bereits die Grundlagen der apparativen Television. Giovanni Casellis Pantelegraph dagegen wurde 1855 gebaut und zehn Jahre später in Frankreich und Russland zum Einsatz gebracht. Nachdem 1873 die Entdeckung gemacht wurde, dass das chemische Element Selen Licht in Strom umsetzen kann, sprießen in verschiedenen Ländern Entwürfe elektrischen Sehens aus dem Boden. Am weitesten gediehen waren die Elektrischen Teleskope Adriano de Paivas und Constantin Senlecqs Ende der 1870er Jahre, die ein Bild in Zeilen und Punkte zerlegen und in elektrische Impulse umwandeln wollten (Zielinski 1989: 46-49). 17 „Das Fernsehen ließ sich, anders als der Film, vor seiner Entwicklung nicht einmal träumen“ (Kittler 2002: 290). 18 Diese Entwicklung führt über den bereits erwähnten Entwurf von Bains und den Pantelegrafen von Caselli zur Nipkowscheibe (1884), deren Rotation spiralförmig angeordneter Löcher das Licht in einzelne Punkte zerlegt, die sich mittels lichtempfindlicher Selenzellen in Stromimpulse verwandeln (vgl. Kittler 2002: 292-295). 19 Das technische Sehen verdankt sich Apparaten, die, wie Flusser in einer späteren Schrift argumentiert, die Schwärme von Partikeln und Quanten raffen bzw. komputieren, in die das Universum zerfallen ist. Die technischen Bilder – fotochemische

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Der Paradigmenwechsel weg vom fotografischen und kinematografischen hin zum televisionären Sehen springt ins Auge: Statt fotochemische Analogien der visuellen Wirklichkeit zu erstellen, betreibt Television deren elektrische Auflösung und erneute Zusammensetzung. Das kann den Begriff der visuellen Wirklichkeit nicht unbeeinträchtigt lassen: Zwischen Abbau und Wiederaufbau des Sichtbaren entsteht ein medialer Spielraum, in dem das Visuelle neuen Definitionen ausgesetzt wird, die später in seiner Übersetzung in den binären Code die Grenze der Beliebigkeit überschreiten. Jedoch dauerte es noch bis in die dreißiger Jahre, bis die mechanische Bildverarbeitung durch die Elektronik ersetzt werden konnte, also durch eine Technik, die Licht mittels Elektronenröhren in Strom umwandelt und umgekehrt Strom in Licht rekonvertiert. In diesem Stadium überforderte der technische und finanzielle Aufwand die Möglichkeit von Bastlern und Amateuren. Telekommunikationskonzerne und staatliche Institutionen rissen die Entwicklung an sich. In den USA war es insbesondere RCA, die den Erfolg seines Radio-networks NBC auf der Ebene der Television zu wiederholen sich anschickte und in das neue Medium investierte. In Nazi-Deutschland waren es die Deutsche Reichspost sowie die Fernseh AG und Telefunken, die die Entwicklung vorantrieben. Die Konstitution des Mediums vollzog sich daher unter der Maßgabe staatlicher (bzw. faschistischer) und wirtschaftlicher Interessen und Begierden. Die Schwierigkeiten hierbei waren jedoch nicht nur technischer sondern auch konzeptioneller Art: Die Gestalt des neuen Mediums hinsichtlich Sendung und Empfang war völlig unklar, d.h. die Umrisse des Fernseh-Dispositivs (reine Live-Übertragung oder Programmstruktur, öffentliche oder private Rezeption) waren nicht absehbar. Selbst der kulturelle Sinn der televisuellen Bilder mutete fraglich an. So bezweifelte Mitte der zwanziger Jahre ein deutscher Regierungsrat und Mitglied des Reichpatentamts, dass es überhaupt genügend re-visualisierbare Ereignisse gäbe, die den technischen Aufwand rechtfertigten. Hinzu kommt, dass das neue Medium aufgrund seines angenommenen Live-Charakters nicht als Programmmedium vorstellbar war. Ebenso wenig war für diesen Beobachter absehbar, dass das Fern-Sehen privat zu rezipieren sein könnte. Stattdessen ging er von öffentlichen Empfangseinrichtungen aus, die aufgrund mangelnden Übertragungsstoffes meist leer stehen müssten.20 Achtzig Jahre später mutet eine solche Einschätzung angeebenso wie elektronische und digitale – entstehen somit vor dem Hintergrund und in der Folge der Auflösung der Welt in diskrete Einzeldaten. Dies ist die grandiose Fiktion der technischen Bilder: die wissenschaftlich-technische Kalkulation dieses zusammenhangslosen Punktuniversums zu visuellen Imaginationen (Flusser 1992b). 20 „Die meisten Ereignisse dürften den Transport und die Aufstellung eines Fernsehers samt Sendestation nicht lohnen. [...] Ob sich der Bau von Vorführungstheatern für Fernsehbilder rentieren würde, erscheint mehr als fraglich, denn man darf nicht vergessen, daß sich nicht zu jeder Tageszeit etwas Interessantes und Sehenswertes ereignet. Da bei einem Fernseher die Ereignisse zur selben Zeit sichtbar gemacht werden können, in der sie sich abspielen, würden vielleicht zu einer bestimmten Zeit mehrere sich zeitlich überdeckende Fernsehübertragungen stattfinden, und dann würde wieder viele Stunden lang nichts zu sehen sein. Die betreffenden Fernsehtheater würden daher meistens leer stehen. Nur wenn sich ganz welterschütternde Dinge ereignen, wie Boxkämpfe und ähnliche Sensationen, dann dürften auch die

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sichts von Befürchtungen, die Wirklichkeit sei von einer visuellen Simulation komplett ersetzt worden, kurios an, aber sie zeigt, welchen grundlegenden kulturellen Wandel das Fernsehen nach seiner Etablierung vollzogen hat: Die elektronische Verschiebung des kulturellen Paradigmas von der Schrift zum Bild. 1935 wurde in Nazi-Deutschland ein regelmäßiger Fernsehbetrieb aufgenommen. An drei Abenden in der Woche wurden der NS-Propaganda unterstehende Sendungen ausgestrahlt. Die soziale Form der Rezeption war dabei jedoch noch unentschieden. Der Elektroindustrie war zwar am Verkauf der Empfangsgeräte gelegen, da diese aber fast unerschwinglich waren, wurde zweigleisig verfahren: Der gesellschaftlichen Elite wurden Fernsehgeräte als Luxusmöbel für die familiär-intime Rezeption angeboten. Für die Masse war mit den Fernsehstuben ein kollektiver Konsum in der Öffentlichkeit vorgesehen. Unentschieden war auch, was das neue Medium eigentlich übertragen sollte, d.h. womit der faschistische Krieg der Gehirne geführt bzw. anzeigenfinanzierter Gewinn erzielt werden konnte und die Konsumenten zum Kauf des Apparats bewogen werden sollten. Die Lösung überrascht nicht: Zum Einsatz kamen zunächst v.a. Gattungen des älteren Mediums Kino, nämlich Filme, die zur Anpassung an die Fernsehabtastung und die kleinen Empfangsschirme rigoros zusammengeschnitten wurden.21 Zuständig für das Programm sind wie beim Radio von Anbeginn an keine Kulturschaffenden sondern Telekommunikationstechniker. Die große Mobilmachung des NS-Fernsehens erfolgte 1936 anlässlich des Großereignisses der Olympischen Spiele in Berlin. Nun wurden ebenso bei der Aufnahme wie bei der Wiedergabe Kathodenröhren eingesetzt, wodurch das Fern-Sehen auf eine vollelektronische Basis gestellt wurde.22 Zum ersten Mal wurde Live-Fernsehen in großem Stil betrieben. Jedoch war die Auflösung der Bilder immer noch sehr schwach und bedurfte radiohafter verbaler Unterstützung durch den Kommentator. Mit anderen Worten schwankte das Fernsehen zu diesem Zeitpunkt zwischen Fernkino und Bildfunk. Die London Television Company konnte dagegen bei ihrer Inbetriebnahme Ende 1936 aufgrund einer höher auflösenden Aufnahmeröhre sehr viel bessere Bilder anbieten. Sie war ein enormer Erfolg, der sich auch in hohen Verkaufszahlen von Empfangsgeräten niederschlug. 1941 schließlich ging das Fernsehen in den USA nach dem Modell des kommerziellen Rundfunks auf Sendung, angeführt von RCA/ Fernsehtheater ein »volles Haus« aufweisen“ (Walter Friedel, 1925, zitiert nach Zielinski 1989: 124-125). 21 Erfolgreich war diese Testphase nicht: Eine Live-Berichterstattung gab es nicht, zwar eine Wiedergaberöhre, aber keine Aufnahmeröhre entwickelt worden war. Deswegen musste das Nazi-Fernsehen auf das ältere Medium des Films zurückgreifen und im sogenannten Zwischenfilmverfahren einen von einer Filmkamera belichteten Film einer Schnellentwicklung unterzog, um sich dem zu übertragenden Ereignis zeitlich anzunähern (Zielinski 1989: 154). Außerdem war die Bildqualität sehr schlecht. Kein einziges Gerät wurde verkauft (Abramson 1995: 29). 22 Entwickelt wurde die „elektrische Netzhaut“ namens Ikonoskop auf der Grundlage der Braunschen Röhre zu Beginn der dreißiger Jahre von RCA in den USA. Damit war das Fernsehen produktionstechnisch auf der gleichen Höhe wie das Kino und konnte unter den gleichen Lichtbedingungen wie dieses Aufnahmen vornehmen (Zielinski 1989: 156 und Abramson 1995: 28).

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NBC. Der Zweite Weltkrieg brachte den zivilen Fernsehbetrieb jedoch zum Erliegen bzw. ordnete ihn militärischen Zwecken unter (vgl. Zielinski 1989: 125-160; Kittler 2002: 290-307; Abramson 1995).23 Die US-amerikanische Elektro- bzw. Rundfunkindustrie ging gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, von dem sie entwicklungstechnisch und finanziell stark profitiert hatte und machte sich sofort nach Kriegsende daran, das vor dem Krieg begonnene Fernsehprojekt wieder aufzunehmen. Aber obwohl diesen Konzernen zur Konstitution des neuen Medien-Dispositivs das Vorbild der werbefinanzierten Radiophonie zur Verfügung stand, die sie selbst betrieben, war die Ungewissheit groß. Viele Beobachter zweifelten am Erfolg eines audiovisuellen Programmmediums, da sie davon ausgingen, dass das apparative Fern-Sehen die Aufmerksamkeit der möglichen Zuschauer komplett auf sich ziehen würde, weswegen diese das neue Medien höchstens ein bis zwei Stunden pro Tag würden nutzen können. Da es keinen Spielraum für die Verrichtung von Haushaltstätigkeiten erlaube, würde es nie mit dem Radio konkurrieren können, so ein frühe Einschätzung. Das bedeutet übrigens, dass sich das Fernsehen, um sich durchzusetzen, von Anbeginn an als Nebenbeimedium konstituieren musste, und dass hiervon seine Prädominanz des gesprochenen Wortes, seine Geschwätzigkeit (Zielinski), herrührt – nicht als Zeichen des Niedergangs eines idealen Sehverhaltens sondern als konstitutives Merkmal. Andere Skeptiker sahen im Fernsehen eine Zukunft nur als großleinwandiges Spektakel, das in speziellen Vorführungstheatern zu zeigen wäre. Dass es Familien Abend für Abend vom Ausgehen abhalten und an den Bildschirm fesseln würde, konnten sie sich nicht vorstellen. Ein anderer Einwand war, dass die Kosten ebenso für das Programm wie für die Geräte zu hoch seien, als dass sich das Fernsehgeschäft rentieren könnte. Dieses lief dementsprechend schleppend an. 1947 waren erst 60.000 Empfangsgeräte im ganzen Land verkauft, zwei Drittel davon allein in New York City. Tatsächlich war das Interesse vor allem mittlerer und unterer Einkommensschichten an dem neuen Medium aber riesig, und schon drei Jahre später wurden drei Millionen Apparate abgesetzt. Das enorme Bedürfnis nach audiovisueller Heim-Zerstreuung entstand vor allem außerhalb der großen (Innen-)Städte. Ende der vierziger Jahre beschleunigte sich das Wachstum des Fernsehens und machte die US-amerikanischen Fernsehbranche weltweit führend. 1955 waren in den USA 36 Millionen Fernsehgeräte in Benutzung – in ganz Europa waren es 4,8 Millionen, davon 4,5 Millionen in Großbritannien (Boddy 1995, Briggs 1995: 192-193). Der Konstitution des Mediums unterliegt wie generell im medienkulturellen Prozess keine Teleologie einer gerichteten Entwicklung, sondern antwortet kontingent auf Verschiebungen soziokultureller Kräfteverhältnisse. Dies zeigt sich, wie bereits angedeutet, an der Ratlosigkeit, die von der Emergenz des neuen Mediums in bezug auf seine Dimension und sein Dispo23 Bekanntlich bestand eine militärische Nutzung des elektronischen Sehens in der Umfunktionierung der Fernsehröhren zu Radargeräten, die Nicht-Sichtbares sichtbar machen. Außerdem wurde das Fernsehen zur Überwachung von Raketenstarts eingesetzt sowie versuchsweise zur Selbststeuerung von Waffensystemen (Kittler 2002: 305). Für eine ausführliche Darstellung der Entstehungsphase des Fernsehens siehe übrigens Abramson (1987), für eine kurze „Archäologie des Fernsehens“ siehe Bergmann/Zielinski (1999).

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sitiv ausgeht. Anders ausgedrückt, war die Technik der generischen Sinnschöpfung lange Zeit voraus. Zielinski formuliert es treffend für die dreißiger Jahre: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu zeigen, aber man wußte nicht recht, was man eigentlich zeigen wollte“ (Zielinski 1989: 160). Jenseits von Großereignissen gab es kaum audiovisualisierbare Nachrichten, die Welt der Television war unvorstellbar und musste erst geschaffen werden. Dies macht zweierlei deutlich: Ohne Einlassung in die generische Sinnschöpfungskette der Kultur sendet ein Medium nicht, es bleibt stumm (oder rauscht). Im Augenblick der Einlassung in die Verkettung der Aussagen aber bricht es diesen Kontext: In der Suchphase des TV-Dispositivs konnte man sich die ‚Welt‘ im Fernsehen nicht vorstellen – im Laufe der Zeit fällt es jedoch immer schwerer, sich die ‚Welt‘ außerhalb des Fernsehens vorzustellen. Mit dem Einbruch des Digitalen verabschiedet sich nun die ‚Welt‘ schrittweise aus der Flimmerkiste. Das Medium stand zunächst vor der Aufgabe, sich seine Gattungen anzueignen. Es übernahm grundsätzlich die Programmstruktur des Radios und unterteilte sie in prime-time- und daytime-Schienen: Für das Abendprogramm wurden Theaterstücke produziert, die man live sendete. Später ersetzten Gattungspassagen des Films das Theater auf dieser Programmschiene. Für das Tagesprogramm bediente man sich in erster Linie des Radiogenres der soap opera.24 Die Gattung konnte ihren Ursprung im Radio nie ganz verleugnen, galt von Anfang an als radio with pictures und führte vieles fort, was in der Radioversion schon angelegt war: die Ausrichtung auf ein weibliches Publikum, die Konstruktion sogenannter femininer narrativer Welten, in deren Mittelpunkt Ehe, Familie und ihre Probleme stehen,25 die melodramatische Ordnung dieser Welten und Figuren und, nicht zuletzt, die Verpflichtung des Genres gegenüber der Seifenindustrie. Teilweise wird der TV-externe Herstellungsmodus durch Werbekunden mit eigenen Produktionsfirmen (v.a. Procter and Gamble) beibehalten, der jedoch durch Produktionen durch die networks selbst bzw. ihnen unterstellten Produktionsfirmen ergänzt wird. Nichtsdestoweniger indiziert die Tatsache, dass das Genre spätestens in den sechziger Jahren komplett auf das Fernsehen überging, bzw. zu diesem Zeitpunkt die letzten Radio-soaps eingestellt wurden, dass die Gattung nicht schlicht mit einem anderen Medium fortgeführt wird. Vielmehr geht mit der Passage zum Fernsehen ein grundsätzlicher Wandel der soap einher, der das radiophone Format zum Abbruch führte.26 Wie Radiomanager so schätzen 24 Das Genre startete im Fernsehen zu Beginn der fünfziger Jahre mit werktäglichen Folgen von fünfzehnminütiger Dauer. Ab 1956 gingen Serien auf Sendung, deren Folgen eine halbe Stunde dauerten, was bis Ende der sechziger Jahre von allen Produktionen übernommen wurde. In den Siebzigern dehnten sich die einzelnen Kapitel auf eine einstündige Dauer aus. Zu einer kurzen Geschichte der TV-soaps siehe Allen (o.D.). 25 Jedoch verzichtet das Fernsehen auf den Themenstrang der alleinstehenden Frau und bevorzugt den der Familien-Saga, deren Protagonistinnen Ehefrauen bzw. Mütter sind, und die um die Beziehungen zweier Familien kreist (Cantor/Pingree 1983: 2122). 26 Cantor und Pingree weisen beispielsweise darauf hin, dass in dem Maße, in dem das Fernsehen ein umfangreicheres Publikum anzog, auch die Sponsoren zum neuen Medium wechselten. Procter & Gamble, größter Radioserien-Sponsor, übertrug sein

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auch die TV-Verantwortlichen das Genre, da es offensichtlich den Bedürfnissen des kommerziellen Programmmediums in vielfältiger Weise entgegenkommt: Die Produktionskosten sind niedrig, da fast ausschließlich indoor auf schlichten Sets gedreht wird, die zudem Jahre lang genutzt werden können. Manche Serien laufen über Jahrzehnte.27 Dagegen sind die Einnahmen hoch, da die Gattung ein Publikum aufbaut, das über Jahre und Jahrzehnte treu bleibt. Die TV-soap ist von Anbeginn an äußerst erfolgreich gewesen: 1960 liefen 210 Minuten soap pro Tag, Anfang der Achtziger waren es 600 (vgl. Cantor/Pingree 1983: 47-57).

4.2.2.2 Die FernFern-Gegenwart

Ab Ende der vierziger Jahre zeichnet sich das Fernseh-Dispositiv angesichts der US-amerikanischen Entwicklung in Umrissen ab. Das Fernsehen als „unreines Medium par excellence“, als „Labyrinth der Intermedialität“, das wird bereits deutlich, kann nur als komplexes Dispositiv beschrieben werden, für das Noël Nel ein plurales Konzept einfordert. Für Nel ist das Fernseh-Dispositiv ein Netz von Einzel-, Teil- oder Unterdispositiven, die von der strategischen Funktion des „televisuellen Handelns“ zusammengeführt wird (Nel 1998: 59-60). Diese Funktion wäre vorab als televionäre Subjektivation zu beschreiben (was Nel jedoch nicht unternimmt). Hingewiesen sei an dieser Stelle auch bereits darauf, dass es sich bei der folgenden Beschreibung des televisuellen Dispositivs nicht um eine Systematik handeln kann (wie dies der Ansatz Nels nahe legt), sondern lediglich um einige Konturen, die eine historisch begrenzte Tendenz darstellen. Das bedeutet, dass das FernsehDispositiv nicht an sich gegeben ist, sondern sich aus den Verschiebungen anderer Medien-Dispositive ergibt und sich im Wandel der Gattungen immer

Engagement schon zu Beginn der fünfziger Jahre auf das Fernsehen. Unter den Sponsoren der Radio-soap in den letzten sechzehn Monaten, in denen das Genre auf dem Radio lief, fand sich kein Seifenhersteller mehr (Cantor/Pingree 1983: 37). Damit bliebe die Frage des Wechsels des Publikums zum Fernsehen jedoch unberücksichtigt bzw. als selbstverständlich vorausgesetzt. Worin genau besteht aber der perzeptive Mehrwert des Bildes? Diese Frage lässt sich nicht beantworten, wenn nicht auf die Performanz des TV-Dispositiv eingegangen wird. 27 The Guiding Light beispielsweise startete 1937 auf dem Radio (NBC) und wurde von 1952 bis 2009 vom Fernsehen (CBS) ausgestrahlt. Ab 1975 hieß die Sendung schlicht Guiding Light. Unter fiktionalen Erzählungen schlägt sie alle Rekorde, was die Dauer des Erzählens betrifft. Ca. vierzig Chef-Drehbuchautoren (und ein Vielfaches untergeordneter Autoren) schrieben die 15.762 Kapitel der 72 Jahre langen Dauer-Erzählung (Eintrag „Guiding Light“ bei Wikipedia, auf http://en.wikipedia.org/wiki/ The_Guiding_Light, zuletzt aufgesucht: 19.04.2010 und Kantrowitz 2009). Zum Ende der Serie s. Carter (2009) und Kantrowitz (2009). Guiding Light ist jedoch nur die mit Abstand längste soap, da sie schon im Radio ausgestrahlt wurde, aber eine ganze Reihe anderer Serien sind auch bereits seit Jahrzehnten auf Sendung, wie z.B. As the World Turns (seit 1956), General Hospital (seit 1963), Days of Our Lives (seit 1965), On Life to Live (seit 1968) u.a. (Eintrag „Soap opera“ bei Wikipedia auf http://en.wiki pedia.org/wiki/Soap_opera, zuletzt aufgesucht: 19.04.2010).

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wieder neu konkretisiert, wie er im Weiteren anhand der Telenovela genauer zu analysieren sein wird. Nach dem Vorbild der Radiophonie wird das Fernsehen entweder öffentlich-rechtlich oder privatwirtschaftlich betrieben und ordnet seine Sinnschöpfung dem Rahmen staatlicher oder/und kommerzieller Interessen unter. Daraus folgt nicht nur, dass es sich entweder über Gebühren oder über Werbung finanziert, sondern auch, dass sich kulturelle Sinnschöpfungen mit staatlichem Ordnungshandeln oder wirtschaftlichen Gewinnerzielungsmaßnahmen oder mit beiden zugleich vermengen. Wie im Falle des Radios bringt das Fernsehen Ereignis und Reproduktion zeitlich zur Deckung, dissoziiert sie jedoch räumlich nach Belieben (bzw. entsprechend der Reichweite seines networks). Von der Radiophonie übernimmt es die zeitliche und kontinuierliche An/Ordnung der Zuschauer durch die Programmstruktur. Es potenziert die Telepräsenz des Radios durch eine umfassende perzeptive Teilnahme am Ereignis. Aus dem radiophonen Mithören wird nun ein televisuelles Dabeisein. Seinem Anspruch nach fängt das Fernsehen alles Hörbare und Sichtbare in ihrer Lebendigkeit ein und liefert es frei Haus. Zweifellos nimmt jedes Medium für sich in Anspruch, ‚Welt‘ zu übertragen, wenn auch nur ausschnitthaft. Die Fernseh-Welt reklamiert jedoch eine historisch beispiellose Fülle. Wie die Radio-Welt ist die des Fernsehens lebendig. Im Gegensatz zur ihr wird aber das Lebendige nicht auf eine Aussage reduziert, sondern wird selbst zur Aussage. D.h. dass eine Rede nicht nur in ihrer Stimmlichkeit übertragen wird sondern in ihrer gesamtkörperlichen Einschreibung (Blick, Körperhaltung, Mimik und Gestik des Sprechenden). Das Fernsehen überwindet mit anderen Worten die Grenzen der Zeit und des Raumes des Lebendigen. Damit entsteht etwas Neues: das Lebendige wird zum televisuellen Produkt und löst sich vom Leben ab, das längst nicht mehr ist, wenn jenes in Raum und Zeit exportiert wird – ein Simulakrum des Lebens (Derrida 1996: 48). Simulakren produziert auch das Kino, aber das Kino ist nicht wie das Fernsehen eine uneingeschränkte Teletechnologie, die in Anspruch nimmt, dem Zuschauer alle Facetten des Lebens nahe zu bringen. Zudem liefert das Fernsehen keine Einzelerzählungen wie das Kino, sondern einen tendenziell ununterbrochenen Fluss von Simulakren. Die Fernseh-Welt läuft ständig. Die televisionäre Welt beansprucht aufgrund ihrer umfassenden und unaufhörlichen Lebendigkeit, alle bisherigen Medien an Fülle und Vollständigkeit zu übertreffen. Das bedeutet, dass sich das, was im Fernseh-Zeitalter als Welt Geltung verschaffen möchte, erst televisuell reproduziert werden muss.28 An sich ist das nichts Neues angesichts der Tatsache, dass Welt immer medial bzw. durch generische Kontexte gegeben ist. Offensichtlich wird dies, wenn bedacht wird, dass ein Gegenstand erst durch seine mediale Übertragung soziale Relevanz erzielen kann, sei es durch die mündliche Rede in der antiken Agora, Briefe oder Buchpublikationen in der humanistischen Gelehrtenrepublik oder Zeitungen in der aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jh. Der Unterschied besteht im beispiellosen Totalitätsanspruch des Fernsehens, der darauf hinausläuft, Wirklichkeit vollständig,

28 Zum Wandel des Konzepts ‚Welt‘ im televisuellen Zeitalter (aus kulturkritischer Sicht) siehe auch Anders (1999).

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d.h. in ihrer unendlich detaillierten Phänomenalität zu erfassen und zu übertragen. Welcher Art ist nun diese lebendige Fernseh-Welt? Es handelt sich um eine Welt, die sich durch Vielfalt und Unaufhörlichkeit kennzeichnet. Das Fernsehen bietet jedoch keine Gesamtschau sondern eine endlose Folge von Einzeläußerungen. Die Welt wird mit anderen Worten in Segmente (z.B. eine Nachricht, ein Gespräch oder eine fiktionale Handlung) zerlegt, die zeitlich organisiert werden. Sie werden einer Abfolge unterworfen, die von einem Programmgitter strukturiert wird. So entsteht ein kontinuierlicher Fluss von parzellierten Zeitsegmenten. Wie John Ellis deutlich macht, ist die narrative Grundeinheit des Fernsehens, das Segment, in sich zwar kohärent, bildet aber mit den vorgängigen bzw. nachfolgenden Segmenten keine übergreifende Kohärenz sondern steht für sich. Segmente sukzedieren und kumulieren lediglich, sie stellen untereinander jedoch tendenziell keinen Bezug her und gehen in keiner überwölbenden finalen Sinnprojektion auf. Im Gegensatz zum Kino bringt das Fernsehen – so Ellis – keine Erzählung hervor, die auf eine finale Sinnstiftung ausgerichtet ist. Angeordnet werden die einzelnen, selbständigen Segmente in grundlegender Weise durch das Genre der Serialität. Die Serie bildet den Rahmen, in dem das Einzelsegment Sinn macht. Sie verkettet die Segmente auf der Basis einer endlosen Erweiterung und Ausdehnung einer Grundfragestellung oder eines fundamentalen Ausgangsproblems. Diese werden unaufhörlich wiederholt und neu aufgeworfen – aber nie endgültig beantwortet. So fragt beispielsweise eine Nachrichtensendung nach aktuellen Ereignissen und reiht einen Bericht an den anderen, Tag für Tag. Eine soap opera entfaltet immer neue Wendungen grundsätzlicher zwischenmenschlicher Konflikte – Tag ein, Tag aus. Daraus geht hervor, dass die Segmentierung und Serialisierung des Fernsehens ebenso für Fiktion wie für Nicht-Fiktion gilt. Nicht zuletzt aus diesem Grund neigen im Fernsehen beide Bereiche dazu, ineinander überzugehen. Continuity-with-difference bestimmt beide Gattungskontexte: Nicht-fiktionale Serien wie Nachrichten, Dokumentargenres oder Talkshows ordnen ihre einzelnen Segmente mittels konstanter und vertrauter Präsentationsformen an. Serienfiktionen wie die soap opera wiederholen mit jeder Folge eine narrative Grundsituation von Beziehungskonflikten, konstanten Figuren (Familie) oder eines Ortes der Handlung (z.B. Lindenstraße). Bekannte Elemente werden ohne Entwicklung unaufhörlich wiederholt nach dem Prinzip des Was-passiert-als-nächstes? Eine Ausnahme zu den Endlosserien bilden Serien mit einer finalen Erzählstruktur, die einem Ende zustreben, auf die die Einzelsegmente zusteuern. Das ökonomische Dispositiv des Fernsehens stellt dabei jedoch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit eines hohen Aufwandes, dem oftmals nur wenige Kapitel (bei einem Mehrteiler) zur Vermarktung gegenüberstehen. Nichtsdestoweniger handelt es sich in der Regel um Prestigeproduktionen (zumal bei den TV-Movies), die selber als ‚TV-Ereignis‘ Nachrichtenwert annehmen und die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen sollen. Die Telenovela ist, wie hier nur angedeutet sei und ausführlich zu zeigen sein wird, eine finale Serie, die das serielle Prinzip der Extension und auch das (spiel)filmische einer abgeschlossenen Erzählung auf besondere Weise vereint. Allerdings ist im Fall finaler Serien, TV-Movies oder der Ausstrahlung von Dokumentar- bzw. Kinofilmen zu berücksichtigen, dass diese Sendungen immer im Programm eingebettet bleiben, meist auf festen Programmplätzen, 108

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die sie aufgrund ihrer Wiederkehr als Ganzes zu Episoden einer fortdauernden Sendereihe macht. Die Welt, folglich, die aus diesen serialisierten Segmenten entsteht, überwindet ihre Grundkonstellation nicht, sondern kehrt nach jedem Segment zu dieser zurück. Sie verharrt in einem andauernden Dilemma, in dem Konflikte nicht gelöst und Störungen nicht behoben werden, sondern lediglich ein tägliches update erfahren (vgl. Ellis 1992: 111-126). Eine serielle Welt entsteht, in der sich Ereignisse und Vorfälle abwechseln, die sich aber grundsätzlich nicht wandelt und Normalität und Alltag als Effekte erzeugt (158). Für diese Welt gibt es keine Lösung und keine umfassende Klärung, denn sie ist auf Endlosigkeit ausgelegt.29 Der unaufhörliche Programmfluss der Fernsehsegmente erweckt auch den Eindruck einer fortschreitenden Gegenwart, die die Ereignisse nur im Moment ihres Ausstrahlens ansichtig werden lässt und nicht auf Abruf bereit hält. Flüchtig ist diese Fern-Gegenwart und leicht zu verpassen für denjenigen, der nicht im rechten Moment empfangsbereit ist (Abhilfe leisten jedoch die ständigen Wiederholungen).30 Sie gibt vor, sich nicht in Selbstbezogenheit zu erschöpfen sondern erhebt den Anspruch auf Übereinstimmung mit dem Lauf der Zeit in der Welt. Mit dem GegenwartsEffekt erhebt das Fernsehen den Anspruch, dass sich die Welt auf dem Bildschirm abspielt: Wer sie nicht versäumen will, schaltet besser nicht mehr ab. Die Zeit des Fernsehens wird zur echten Zeit, zur Jetztzeit, der sich die Empfänger unterzuordnen haben. Die elektronische Bildbearbeitung erlaubt eine augenblickliche Verfügungsmacht über das visuelle Leben, das die radiophone Echtzeit vervollständigt: Im lebendigen Moment schickt es das Lebendige auf jeden häuslichen Bildschirm. Wie die Kritik betont, ist diese televisuelle Unmittelbarkeit immer nur eine scheinbare – die Echtzeit des Fern-Sehens ist eine Schöpfung des Fernsehens, die auf Auswahl, Vorarbeit, Rahmung, Inszenierung beruht.

29 Das Beispiel Guiding Light zeigt, wie endlose Formate enden: Rückgängige Einschaltquoten ‚bringen‘ sie schließlich ‚um‘ trotz großen Bedauern der Verantwortlichen von Sender (CBS) und Sponsor (Procter & Gamble): „It will be difficult for all of us at the show to say goodbye“ („Es wird schwierig für uns alle in der Show, goodbye zu sagen“) (Ellen Wheeler, Executive producer der Serie in Carter [2009]). 30 Eine „neue Qualität“ erhält die Audiovision mit der Überwindung des zeitlichen Dispositivs des Fernsehens durch den häuslichen Videorekorder, der bis Ende der achtziger Jahre das Fernsehgerät in jedem zweiten US-Haushalt ergänzt. Er erlaubt den Mediensubjekten, selber manipulativ in die zentralisiert festgelegten Zeitstrukturen einzugreifen. Mit dieser „audiovisuellen Zeitmaschine“ wurde es dem Zuschauer möglich, Archive von TV-Segmenten anzulegen und nach eigenem Gutdünken zu nutzen. Das Audiovisuelle geht somit von der Verfügungsgewalt der Sender und Produzenten auf die der Rezipienten über (Zielinski 1989: 232-242). Im digitalen Zeitalter steigert sich die Verfügbarkeit der Programmsegmente durch die transmediale Archivfunktion des Internets: selbst soaps aus der Anfangszeit des Radios sind beispielsweise auf Old Time Radio Researchers Group abrufbar (http://thewrite-thing.com/OTRRLibrary/index.html, zuletzt aufgesucht: 20.04.2010). TVsoap-Kapitel finden sich (zerstückelt) auf YouTube.

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Auch die Live-Übertragung ist im Grunde vor-produziert, fiktiv also, wie Derrida bemerkt.31 Ellis macht darauf aufmerksam, dass es sich bei der Television in erster Linie um einen Effekt der Unmittelbarkeit handelt, kurz gefasst, um einen Direkt-Effekt. Das Medium erweckt beständig den Anschein, als wären seine Segmente live, dabei arbeitet es nur in den wenigsten Fällen mit Direktübertragungen und verwendet ab der Entwicklung der Videokamera überwiegend vorproduziertes Material.32 Dieser Eindruck entsteht aber nicht nur aufgrund der elektronischen Bildverarbeitung sondern insbesondere durch die Beziehungen, die die audiovisuellen Segmente mit den Zuschauern aufbauen. Sie gehen mit dem Publikum ein intimes Verhältnis gegenseitiger Anwesenheit ein. Dies betreibt das Medium systematisch mit direkten Ansprachen an das Publikum, entweder durch Ansager (die weitgehend durch ansagende voice-overs ersetzt wurden), Nachrichtensprecher, Moderatoren, u.a., die sich verbal an die Zuschauer wenden oder einen vermeintlichen Blickkontakt zu ihm herstellen. Damit wird der Eindruck geweckt, das zu Sendende ereigne sich zum Zeitpunkt von Aufnahme und Empfang. Das Fernsehen, mit anderen Worten, tut so, als spiele sich das, was es zeigt, zur gleichen Zeit ab (z.B. Unterhaltungsshows) bzw., als sei das, was es über den Bildschirm anwesend macht, gleichzeitig. Damit verstärkt es den Effekt einer fortdauernden Gegenwart, die danach trachtet, mit der Gegenwart des Zuschauers zur Deckung zu kommen. Auch Geschehen fiktionaler Serien erwecken den Anschein, als würden sie gleichzeitig mit ihrer Übertragung produziert. Dies bedeutet, dass ihnen das Publikum zusehen kann, als sei es anwesend (132-135).33 Unter diesen Bedingungen kann eine Fiktion unschwer „Effekte des Realen“ auslösen, die über den Anspruch wirklichkeitsindizierender Darstellungen hinausgehen, wie im Falle der Telenovela zu zeigen sein wird.34 Die Fernseh-Welt, zusammengefasst, ist ein wiederkehrendes Raster endloser Ereignisse, kontinuierlich anwesend (immer auf Sendung), aber nur momentan ansichtig. Sie bildet eine eigene fortschreitende (tatsächliche oder vermeintliche) Echtzeit. Das televisuelle Dispositiv zielt folglich darauf ab, Welt als verkörperte Lebendigkeit, als endloses Dilemma von Konflikten aller Art und als zeitgleiches, offenes Kontinuum, also als Gegenwart schlecht31 „Ce qui est » transmis « »en direct« sur une chaîne de télévision est produit avant d’être transmis ; l’ » image « n’est pas une reproduction fidèle et intégrale de ce qu’elle est censée reproduire“ (Derrida 1996 : 49). 32 Die Entwicklung der Videokamera hat die Television auf eine neue technische Grundlage gestellt. Ab ihrem ersten Einsatz 1956 erlaubte sie, Sendesegmente kostengünstig und technisch unkompliziert vorzuproduzieren. Bis dato wurden Schnellentwicklungsverfahren von Filmen verwendet, die teuer und aufwändig waren, weshalb ein Großteil der Produktionen live gesendet werden musste. Erst die Videokamera erlaubte dem Fernsehen, mit dem time shifting, hinter sein Versprechen des ‚Echt‘-Sehens bei Bedarf zurückzutreten. Ab Mitte der sechziger Jahre eroberte das Fernsehen mit leichten Videokameras und tragbaren Videorekordern die Welt außerhalb der Studios (Abramson 1995: 32-34). 33 Dies war, nicht zu vergessen, in der Frühzeit des Fernsehens tatsächlich der Fall, als die Theaterproduktionen des Fernsehens mangels Aufnahmetechniken live gesendet wurden. 34 Zum „effet de réel“ siehe Barthes (1984b).

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hin zu konstituieren. Der Zuschauer hat anwesend sein, um dieser Gegenwart beizuwohnen. Es erübrigt sich ihm (bzw. untersagt sich ihm), sein Zuhause (seinen Bildschirm, sein Display) zu verlassen. Die Tele-Gegenwart holt den Zuschauer ein, ist aber niemals da.

4.2.2.3 Nicht Fenster sondern Schlüsselloch

In bezug auf Programmstruktur und Heimrezeption erscheint das Fernsehen daher zunächst als räumliches und zeitliches Dispositiv.35 Immer wieder wird es aufgrund seiner räumlichen An/Ordnung des Publikums in seiner Privatsphäre als Familienmedium verstanden (Ellis 1992: 113-115, 135-137). Zweifellos erhielt das Fernsehen zu Beginn als (sehr teueres) Möbelstück Zugang zur Privatsphäre der Zuschauer. Als solches versammelte es die Familie um sich herum zum Zweck gemeinsamer Information, Unterhaltung und Belehrung. Wenn es stimmt, dass das Medium in diesem Sinne Familien zusammenführte (oder auseinander brachte), so stimmt auch, dass es dies tat, indem es die Familienmitglieder zunächst (tendenziell) in Stillschweigen versetzte (wenn keine Werbung lief) und ihnen anschließend Gesprächstoff (oder Konfliktreize) zum Austausch über das Gesehene lieferte. Fernsehen ist folglich im Ursprung eine individuelle und zugleich soziale Praxis. Die Fernsehfamilie ist daher eine, die sich einem gemeinsamen Rezeptionserlebnis verdankt, und deren Interaktion an die televisuelle Zerstreuung gebunden bleibt, auch und gerade bei ausgeschaltetem Gerät. Dies wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass das audiovisuelle Rundfunkmedium nicht nur Freizeit für sich beansprucht, die zuvor anderen Hausmedien wie dem Fonografen oder dem Radio gewidmet wurde, sondern dass es darüber hinaus in private Zeitzonen eindringt, die bislang nicht auf für medialen Konsum verwendet wurden (Briggs 1995: 194). Dem Fernsehen gelingt es mit anderen Worten, die mediale Zerstreuungsdauer zu steigern und die Privatsphäre so immer stärker medial zu durchdringen. Individuelle Freizeit wird damit umfassender als beim Radio zum Wirtschaftsprodukt, indem sie, in Zeitschienen eingeteilt, mittels unterschiedlicher televisueller Aufmerksamkeitsangebote an Werbekunden verkauft wird. Auch in diesem Sinne wird deutlich, dass es andere Medien wie das Radio nicht einfach ‚ersetzt‘ sondern etwas Neues hervorbringt, das dazu beiträgt, die Praktiken der Medienrezeption, die Freizeit, die Privatsphäre, das familiäre Zusammenleben u.a. neu zu gestalten.36

35 Mittlerweile steht das televisuelle Dispositiv jedoch nicht (mehr) still und hat sich aufgemacht, den Zuschauer mittels tragbarer Empfangsgeräte zu begleiten. Damit kommt das Signal nicht mehr nur zum Zuschauer sondern geht mit ihm mit. Seit kurzem ist es beispielsweise möglich, mittels der Technik des Universal Mobile Telecommunications System (UMTS) auf dem Handy zu fernzusehen. Der ‚Preis‘ des „ÜberallFernsehens“: ein winziger Bildschirm (Borchers 2004). 36 Bekanntermaßen gab der Einfluss des Fernsehens auf Familie, Freizeit, Kindheit u.a. Anlass zu intensiven Debatten und unzähligen Untersuchungen. Die Forschung begann beispielsweise mit quantitativen Rezeptionsuntersuchungen, kam aber nur zu kontextgebundenen und letztlich kontroversen Ergebnissen in Bezug auf zentrale Fragen der Auswirkungen des Fernsehkonsums auf die Zuschauer, insbesondere von Kindern. Noch nicht einmal bei der brisanten Frage, inwieweit Darstellungen von Ge-

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Wie dem auch sei, das Fernsehprogramm begann früh damit, sich auf die Familie auszurichten. Hierfür steht die Vielzahl von Sendungen, die die Familie zum Gegenstand haben: Darunter sind sitcoms, Familiendramen und Familienserien aller Art, darunter an prominenter Stelle die soap operas und später in Lateinamerika die Telenovelas. Zu bemerken ist hierbei insbesondere, dass ab Mitte der 1950er Jahre die Sponsoren ein immer größeres Interesse an idealisierten und vor allem wohlsituierten Familienverhältnissen zeigten, deren materielle Ausstattungen sich anzueignen die Zuschauer angestiftet werden sollten.37 Endlosserien verleiten darüber hinaus in besonderem Maße zu sekundären Identifikationsprozessen, die dem Fernsehen an sich eigen sind: Das Publikum projiziert in die Familien der Serienerzählung nicht nur Wunschvorstellungen eines idealen (Familien-)Lebens sondern beobachtet voyeuristisch das Intimleben der dargestellten Familienmitglieder. Dieser Voyeurismus-Effekt ist umso stärker, als sich die Serienerzählung parallel zum Alltagsleben der Zuschauer vollzieht und aufgrund seiner dauernden Wiederkehr in der Zuschauerwahrnehmung Aspekte des ‚Realen‘ annimmt, indem die Zuschauer die Serienhandlungen tendenziell mit-leben und die Figuren zu deren Lebensbegleitern werden (208). Jedoch ist einzuwenden, dass das televisuelle Dispositiv nicht per se auf die Familie abzielt sondern auf die Heimrezeption. Dafür spricht nicht nur die historische Entwicklung der Ausdifferenzierung der Familienbeziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh., der die Diversifizierung des Fernsehens über Kabel und Satellit durch Spartenkanälen folgte. Genau genommen, handelt es sich beim Fernsehen um ein Privatmedium. Es simuliert und verlängert privates Sein vor allem in seinen Unterhaltungsgenres. Hierbei kommt der Familie auch weiterhin eine besondere Rolle zu, denn sie dient als Norm privaten Seins. Sie stellt daher immer noch den überragenden fiktionalen Kosmos, an dessen alltäglicher TV-Gegenwart die Zuschauer zusehend teilhaben können, unabhängig von ihrer eigenen familiären Situation. Das Dispositiv der Privatheit äußert sich freilich nicht nur in den Ausrichtungen generischer Kontextverknüpfungen. Bekanntermaßen ist das Empfangsgerät als Möbelstück in das häusliche Ambiente integriert. Das Bild ist (verglichen mit dem Kinobild) klein und verkleinert, was es abbildet. Auch ist die Auflösung (wieder verglichen mit dem Kinobild) gering. Bereits diese Merkmale weisen auf eine wesentlich schwächere Bannkraft des TV-Bildes hin. Hinzu kommt, dass das Fernsehen als Teil der Privatsphäre mit allen anderen Tätigkeiten des Zuhause-Seins konkurriert, seien es Freizeitbeschäftigungen, Haushaltsverrichtungen oder andere. Als Privatmedium ist es, wie schon erwähnt, notwendigerweise ein Nebenbei-Medium und kann walt die Gewaltbereitschaft insbesondere kindlicher und jugendlicher Zuschauer fördert, lässt sich eine grundsätzliche Übereinstimmung der Positionen erkennen im Sinne der Annahme allgemeiner Kausalitätsbeziehungen, die etwa das Umkehrargument ausschließen könnte, dass eine vorausgehende Gewaltbereitschaft die Rezeption von Gewaltdarstellungen fördert (Briggs 1995: 194-205). 37 In dem Maße allerdings, wie die klassische Kernfamilie immer weniger das Modell des Zusammenlebens im Haushalt abgab, wandelte sich ab den sechziger Jahren auch das Familienbild im Fernsehen und ließ davon abweichende Familienformen zu, bis hin zur grotesken Monsterfamilie der Addams Family (1964-1966) (Briggs 1995: 206-207).

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sich der Aufmerksamkeit der Zuschauer nie ganz sicher sein. Aus diesem Grund, so Ellis, kommt dem Ton eine besondere Bedeutung zu, denn er versucht, die Aufmerksamkeit zu sichern, auch wenn die Zuschauer nicht zusehen (worin eventuell auch das Erbe des Radios zum Ausdruck kommt). Über den Ton und nicht über das Bild, so Ellis, vermittelt das Fernsehen die wesentlichen Informationen. Der Autor geht so weit, das Bild lediglich als Illustration des Tons zu bezeichnen. Diese Behauptung ist kritisch zu hinterfragen, denn auch wenn ein Großteil des Diskurses des Fernsehens über den Ton vermittelt wird, muss dies nicht heißen, dass es sich dabei um das Wesentliche der televisionären Äußerung handelt. Das Fernsehbild trägt zum TV-Diskurs bei, aber insbesondere hat es über den Schautrieb am Nicht-Diskursiven der Fernsehübertragung teil, wodurch es sich vom Radio unterscheidet. Ellis erklärt jedenfalls mit dem Primat des Fernseh-Tons die kompositorische Bescheidenheit des TV-Bilds, das (im Vergleich zum Kino) auf einen komplexen Aufbau und raffinierte Details verzichtet (Ellis 1992: 127131). Ob diese relative Bildarmut der Unterordnung unter die Prädominanz des Tons oder unter die der industriellen Fabrikation der TV-Segmente geschuldet ist, die Kosten minimiert und Gewinne maximiert, sei dahingestellt.38 Jedenfalls tendiert die Television dazu, Totalen zu vermeiden und dafür close-ups von Details, insbesondere von Köpfen, zu privilegieren, die sowieso ständig reden (die talking heads). Bildvariation geschieht tendenziell nicht innerhalb der Einstellungen sondern durch schnellen Bildwechsel mehrerer Kameras, die jedoch das Geschehen theatralisch und aufwandssparend von vorne zeigen und nicht in räumlicher Ansicht. Als Möbel mobilisiert es den Zuschauer, der sich um das Fernsehgerät herum bewegt, um seine häuslichen Tätigkeiten zu verrichten. Das Fernsehen disponiert ein bewegliches Subjekt, dessen Blick am Bildschirmrand über das Gehäuse immer wieder abrutscht und durch den Raum schweift, den das Gerät möbliert. Es verliert sein Subjekt und holt es zurück, nicht zuletzt durch den Ton, der dieses auch bei Entfernungen zu begleiten vermag. Das KinoSubjekt wird noch von der Leinwand „festgeschraubt“, indem es aus den montierten Kameraeinstellungen einen kohärenten Raum konstruiert, den es unter Ausblendung des Kinosaals als eine ihn einschließende Welt imaginiert. Als Mittelpunkt dieser imaginären Welt weitet sich das Kino-Subjekt als allsehend (Sierek 1991: 61).39 Demgegenüber ist das Fernseh-Subjekt flüchtig, prekär, es nimmt keinen dauerhaften zentralisierenden Sehpunkt ein sondern verschiedene kurzzeitige. Seine imaginäre Welt ist stets labil, weicht immer wieder dem Raum des Schauens und zerfällt in inkonstante Bruchstücke. Dieses fragmentarische Fernseh-Subjekt wird jedoch beständig aufgeschoben durch TV-immanente Unterbrechungen wie durch die Inkohärenz 38 Auch die niedrige Auflösungsrate des Fernsehbildes könnte bald der Vergangenheit angehören. Das hochauflösende Digitalfernsehen (High-Definition-Television, HDTV) übertrifft mit ein bis zwei Millionen Pixel pro frame die Bildauflösung des sogenannten Standard-Definition-Fernsehens (etwa 200.000 Pixel) um mindestens das Fünffache. Die Auflösung des Ultra-High-Definition-Video (UHDV) kommt dagegen auf ca. 32 Millionen Pixel. UHDV wird von der japanischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt NHK entwickelt (s. Heingartner 2004). 39 Zum Zusammenhang zwischen Raumbildung und Subjektkonstitution in der „Raumfabrik“ Kino siehe auch Lehmann (1983).

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aufeinanderfolgender Segmente (etwa beim Einschub von Werbeblöcken) oder durch Einwirkungen seitens der häuslichen Umgebung des Sehens. Gleichzeitig wird die Subjekt-Funktion beständig neu aufgenommen und alsbald wieder unterbrochen. Die kontinuierliche Abfolge von Ansätzen und Abbrüchen frakturiert die Subjetivation und verzögert ihren integralen Vollzug endlos. Das Fernseh-Subjekt vertagt sich als unaufhörliche Dilation. Es zerstreut sich. Das Blickregime des Fernsehens weicht, wie schon so oft hervorgehoben wurde, grundsätzlich von dem des Kinos ab. Ellis führt eine Differenzierung ein, die in der Folge immer wieder übernommen wurde (z.B. Zielinski 1989: 244 oder Flitterman-Lewis 1987: 147): Der Fernsehblick ist weniger intensiv und gleicht dem flüchtigen Blick (glance), während der des Kinos dem starren Blick (gaze) entspricht. Der Fernsehzuschauer ist ein abgelenkter viewer endlos neuer Bildsegmente, der Kinozuschauer ist ein konzentrierter spectator in sich geschlossener Bildnarrationen (Ellis 1992: 137). Dem TV-Subjekt gelingt es nicht, sich abschließend zu konstituieren sondern hängt (um im Bild zu bleiben) am steten Tropf des kontinuierlichen Bilderflusses. Es findet sich in einem gebrochenen und unaufhörlichen Formierungsprozess, der seine Freizeit zunehmend ausfüllt und zur Erfahrung von Alltäglichkeit geworden ist. Dennoch geht auch vom Fernsehbild eine Sogwirkung aus, die die Subjektivation immer wieder neu aufnimmt. Obgleich die Subjekt-Wirkung des Fernseh-Dispositivs extensiv und nicht wie im Kino intensiv ist, kann trotzdem angemerkt werden, dass das oben bereits kritisierte kinotheoretische Argument der Körperstarre als Auslöser für primäre Identifikationsprozesse als nicht stichhaltig erscheint. Ein Effekt des Mehr-als-Realen muss sich auch im Fernsehen einstellen, sonst hätte der Bann des Fernsehens nicht entstehen und das Medium seine hegemonische Stellung in der Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jh. nicht errichten können. An Unter-Beweglichkeit kann, wie schon bemerkt, die Über-Wahrnehmung nicht liegen. Wenn einzelne TV-Segmente in der Lage sind, den Blick des Zuschauers zu bannen, weswegen er (kurz- oder längerfristig) andere Tätigkeiten ruhen lässt, dann weist dies darauf hin, dass die Bannkraft vom Bild ausgehen muss, um sich gegen andere Aufmerksamkeitsangebote durchsetzen. Auch das Fernsehen stimuliert den Schautrieb, sonst würde der Blick es nicht unaufhörlich suchen. Sicherlich wäre an eine imaginäre Spiegelung des Selbst im Bildschirm als wahrnehmendes Subjekt zu denken. Angesichts aber der unendlichen Fülle an Sichtbarem, das die Television bietet, muss das Augenmerk auf das fallen, was diese Fülle anspornt: der Mangel und das Begehren. Ellis’ Argumentation läuft jedoch darauf hinaus, just diesen Gedanken zu verneinen. Dem Fernsehen könne kein Voyeurismus zugrunde liegen, da die grundlegende Abtrennung des Zuschauers vom Gegenstand des Begehrens nicht gegeben sei. Der Autor führt eine Reihe von Einwänden ein, u.a. dass das Gesehene nicht wie im Kinosaal abwesend sondern gegenwärtig sei (138), und dass der Zuschauer den Blick an das Fernsehen delegiere, das die Welt außerhalb der Privatsphäre der Rezeption einfange (163-164). Während das zweite Argument an Anthropomorphismus grenzt, scheint das erste weitaus relevanter. Beim Fernsehen ist das Gesehene nicht im gleichen Maße abwesend wie im Kino, denn das televisuelle Dispositiv stellt mit seinem DirektEffekt jenen ambivalenten Modus der Fernanwesenheit her, der dem Sehen114

Das Dispositiv des Fernsehens

den das Gesehene auf eigentümliche Weise vergegenwärtigt. Nichtsdestotrotz erweist sich die Telepräsenz, wie bereits gezeigt, als Suggestion des Mediums. Es disponiert den Zuschauer, seine Abspaltung vom Gesehenen imaginär zu überwinden. Der Fülle der fernzusehenden lebendigen Welt steht der ursprüngliche Mangel des Subjektes gegenüber und potenziert sein Begehren. Im Blick und im Gehör waltet das Begehren und halluziniert das Abwesende: Die Subjekt-Wirkung des Mehr-als-Realen entsteht. Ähnlich wie das Kino, aber auf eigenartige Weise bietet das Fernsehen etwas an, was es gleichzeitig entzieht. Die televisuelle Subjekt-Wirkung mag extensiv statt intensiv sein, gebrochen, dispers, aber sie ist anhaltend angesichts des unaufhörlichen Anreizes des Schautriebs. Fern-Sehen ködert den Blick. Das Fernsehen tut dies ohne Unterlass und zwar dort, wo der Blick Fenster sucht: im Heim. Das bedeutet: Das Fernseh-Dispositiv ist an sich voyeuristisch: Es stellt die unfassbare Fülle einer lebendigen Welt in echter Zeit – nicht nur eine filmische Erzählung über die Welt – audiovisuell zur Verfügung. Es lässt diese Welt auf dem Bildschirm im Zuhause des Empfängers entstehen, überwindet die Distanzen von Raum und Zeit und könnte sie dem Subjekt nicht näher bringen – und vertieft zugleich die Abspaltung zwischen dem Subjekt und dem unerschöpflichen Objekt seines Begehrens, denn auch diese Welt bleibt letztlich eingeschlossen in das Medium.40 Fernsehen ist weniger ein „Fenster zur Welt“ als ein Schlüsselloch zu unerreichbaren Objekten des Begehrens, unter dessen strenges Zeitregime des Programmgitters sich der Voyeur gerne unterwirft und dafür einen Großteil seiner Freizeitaktivitäten nachzuordnen bereit ist (wenn er sich nicht punktuell per Video oder YouTube vom Zeitdispositiv löst). Das Paradox der permanenten televisuellen Fernanwesenheit steigert den skopischen Reiz aufgrund seiner Unversöhnlichkeit tendenziell ins Unermessliche. Dennoch bricht sich der Schau- und Hörtrieb an der Kleinheit und Grobheit des Sichtbaren sowie an der Aufmerksamkeitskonkurrenz im Zuhause und verliert sich in seiner nimmerendenden Streckung endloser Objektserien.41 Fernsehen bedeutet, mit dem elektronischen Auge der Videokamera in die letzten Winkel fremden Lebens einzudringen und sich an diesen nicht nur punktuell sondern fortdauernd zu weiden. Hierbei ist es nicht relevant, ob die täglichen Segmente des Einblicks in das fremde Leben auf fiktionaler (z.B. Seifenoper, Telenovela) oder sog. nicht-fiktionaler (z.B. reality TV) generischer Basis

40 Wie Ellis herausarbeitet, isoliert das Fernsehen die Zuschauer im Grunde von der Welt, die es überträgt, da es die Aufspaltung in eine Außenwelt der fernen Ereignisse und in eine Innenwelt der Heimrezeption betreibt, in die jene eindringt. Zudem bekräftigt es die Außenwelt als Abnormalität des Wunderbaren, Bizarren und Bedrohlichen und bestärkt die Innenwelt als Normalität und Vertrautheit (Ellis 1992: 166-167). 41 Das Fernsehen ‚arbeitet‘ jedoch hieran und versucht, sich die Intensität des Kinoblicks durch technische Nachrüstungen anzueignen: Es geht hierbei um eine Weiterentwicklung des televisuellen Dispositivs, die Zielinski als „fortgeschrittene Audiovision“ bezeichnet, und die auf der Digitalisierung des Fernsehens beruht. Die bereits erwähnte hochauflösende Television steigert mit Flachbildschirmen und Breitwandformat den Einwirkungsgrad der Bilder auf den Zuschauer. Dadurch wird der Blickwinkel des Fernsehens geweitert, das sich natürlichen Sehverhältnissen annähert (vgl. Zielinski 1989: 248).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

verkettet werden.42 In beiden Fällen wirkt das TV-Dispositiv des Voyeurismus und macht den Zuschauer mit dem aufgenommenen Fremden durch die tägliche Wiederkehr vertraut, lässt ihn an Leid und Glück Anderer teilhaben und es mit-leben. Unabhängig von den Gattungen stellen sich grundsätzlich Effekte des Realen (und des Mehr-als-Realen) ein, da das Gesehene dazu tendiert, zu einer Bezugsgröße im Alltagsleben der Zuschauer zu gerinnen. In seiner direkten Ansprache durch vermittelnde TV-Instanzen wie Ansagerinnenstimmen, Moderatoren, anchor-men u.a. scheint das Fernsehen eine intime Beziehung zum Zuschauer herzustellen und die Seh- und Hör-Segmente zur privaten Stillung nur seiner Begierde zur Verfügung zu stellen. Entscheidend ist für das voyeuristische Dispositiv, dass der Zuschauer selbst ungesehen bleibt. Er kann damit seinem vom Begehren nach dem Anderen durchwalteten Blick freien Lauf lassen. Diese Ungezügeltheit des Blicks steigert sich durch die Privatheit der Schau, die keiner Kontrolle öffentlicher Rezeptionseinrichtungen unterliegt und im Schauplatz des Mangels selbst, nämlich im Zuhause des Zuschauers, entfesselt wird.43 Der Kinofilm The Truman Show veranschaulicht das voyeuristische Fernseh-Dispositiv am extremen Beispiel eines vollständig für das Fernsehen gezüchteten Lebens, das des 29jährigen Protagonisten Truman Burbank, das als ununterbrochene TV-Sendung zur voyeuristischen Zerstreuung der Zuschauer inszeniert ist. Der springende Punkt ist hierbei, dass Truman davon nichts weiß, und das Publikum just diese Lebenslüge bzw. den (getäuschten) Realitätssinn eines TV-Protagonisten goutiert, der sich in der ‚realen Wirklichkeit‘ wähnt.44 Der Film zeigt die Grausamkeit der Verwertung und Unterwerfung einzelner Lebensgeschicke durch das Fernsehen zur Befriedigung voyeuristischer Publikumslüste und Steigerung der Einschaltquote. Er demonstriert zugleich die beispiellose Macht der televisuellen Real-Effekte, die kulturhistorischen Abgrenzungen zwischen dem Wirklichen und dem Gemachten zu verwischen und eine neue, hybride Realität entstehen zu lassen, in der sich die Gattungen der Nicht-Fiktion und der Fiktion miteinander vermengen, ohne jedoch ihre Selbständigkeit und Erkennbarkeit vollständig aufzugeben (The Truman Show 1998).45 42 Clay Calvert stellt gar eine Typologie des TV-Voyeurismus auf: Er unterscheidet zwischen dem dokumentarischen „Video vérité voyeurism“, dem fiktionalen „Reconstruction Voyeurism“, dem „Tell-All/Show-All Voyeurism“ der Talkshows und schließlich dem „Sexual Voyeurism“ (Calvert 2000: 5-10). Entscheidend für die Eigenart des Fernseh-Voyeurismus ist jedoch die fundamentale Disposition des Zuschauers zum Verlangen nach dem Fernen, die die Television von innen heraus und historisch konstituiert. Auf diesem Dispositiv schließen sitzen Sendestrategien auf, die sich in einem sekundären Voyeurismus das Begehren durch gezielte Reize zu nutze machen, wie etwa erotische Sendungen. 43 Für eine Zusammenfassung psychoanalytischer Ansätze zum Fernsehen siehe Flitterman-Lewis (1987). 44 Der Name Truman steht ist nicht nur ein selbstredendes Kompositum sondern u.a. auch eine Abkürzung für „T Totally Recorded hUMAN UMAN life“ (hierzu und zu weiteren Informationen und Deutungen siehe den Wikipedia-Eintrag „The Truman Show“, http://en.wikipedia.org/wiki/ The_Truman_Show, zuletzt aufgesucht 20.04.2010). 45 Der Film hat Begierden und Ängste bezüglich des Reality-Fernsehens getroffen. Mit dem Begriff des Truman-Syndroms bezeichnen beispielsweise Psychiater Fälle von

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Das Dispositiv des Fernsehens

Das televisuelle Dispositiv reizt jedoch nicht nur den Wahrnehmungsdurst – es unterwirft ihn auch Normierungsprozessen. Television richtet sich an „normale Bürger“, wie Ellis schreibt (169). Ein „normaler Bürger“ etwa lebt in einer Familie oder wünscht sich eine. Das Normierungsdispositiv des Fernsehens betrifft folglich nicht nur die Familie sondern den Privatmenschen allgemein. Im Grunde spielt das Fernsehen beständig mit der Frage nach der Norm privaten Seins: Es richtet sein Programm am ‚normalen‘ Wahrnehmungsreiz aus, in dessen Definition primär staatliche bzw. kommerzielle Interessen intervenieren, und der in den meisten Fällen per Quote quantifiziert wird bzw. auf grobe Mehrheitsmodelle hinausläuft. Dieser Norm ordnet es das Wahrnehmungsverhalten des einzelnen Zuschauers unter. Gleichzeitig weckt es ‚abnormale‘ Reize des Obszönen, des Gewalttätigen, Grotesken etc. und bekräftigt mit diesen Transgessionen die Grenzhaftigkeit der Norm, deren Demarkationen lediglich verschoben werden. Der Rahmen, innerhalb dessen diese Normierungen stattfinden, ist bis heute (jedoch in abnehmendem Maße) das Nationale. Wie zuvor das Publikum des Radios und des Tonfilmes ist das TV-Publikum ein nationales, denn der auditive Charakter der Television bindet sie an die jeweilige Nationalsprache. Aber auch seine technische Struktur sorgt (zunächst) für eine nationale Einhegung, da die Funkübertragung des Fernsehens auf Hochfrequenzen angewiesen ist, die nur auf kurze Reichweiten kommen (60-70 Kilometer) (Kittler 2002: 300).46 Dazu kommt auch, dass die Staaten von Anbeginn an größtes Interesse am neuen Medium hatten, nicht nur in militärischer sondern auch in propagandistischer Hinsicht. Wenn diese nicht die Konstitution des Fernsehens selbst in die Hand nahmen (z.B. Großbritannien und Nazi-Deutschland), so unterwarfen sie es wie das Radio doch einer staatlichen Aufsicht und Reglementierung wie keine anderen Medien zuvor (z.B. USA). Gemeinsam ist jedoch allen Modellen, dass sie sich das Bemühen um nationale Integration sowie um Bestimmung und Verbreitung nationaler Kultur zur Aufgabe des Rundfunks machen (vgl. Hilmes 2003). Welchen Normierungsprozessen der Zuschauer durch das TV-Dispositiv unterworfen wird, wie privates (und öffentliches) Sein des Zuschauers national genormt wird, ist letztlich nur im Einzelfall der konkreten televisuellen Enunziation zu klären.

Schizophrenie, bei denen sich Patienten in einer gigantischen Reality-Show wähnen (Kershaw 2008). 46 Nicht erst die elektrischen/elektronischen Medien führen die Beziehung Medium – Nation ein: Typografie und Nation waren immer schon aufeinander angewiesen (vgl. Flusser 2000: 144 und Anderson 1983: 44-46).

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5. Fernsehen in Lateinamerika

5.1 Fernsehen in Brasilien 5.1.1 Z UR REDE

ÜBER DAS

F ERNSEHEN

IN

B RASILIEN

In Mexiko wurde das Fernsehen im August 1950 in Betrieb genommen. In Brasilien nahm das neue Medium einen Monat später seinen Betrieb auf. Die Rahmenbedingungen der Television sind zunächst in beiden Ländern ähnlich: Die TV-Sender wurden in der Regel von Medienmogulen aufgebaut, die im Radio- und Zeitungs-/Zeitschriftengeschäft groß geworden waren. Bestes Beispiel ist der Gründer der ersten brasilianischen Fernsehanstalt, Assis Chateaubriand, der auf dem Höhepunkt seiner Medienmacht Ende der fünziger Jahre über 34 Zeitungen, 18 Zeitschriften, 25 Radiosender und schließlich 18 Fernsehsender gebot (Xavier/Sacchi 2000: 257). Dass das Fernsehen dem Ausbau dieses und anderer Medienimperien diente, macht deutlich, dass es in Brasilien wie in Mexiko nach dem kommerziellen Modell des US-Fernsehens gestaltet wurde. Der Staat überlässt das Fernsehen weitgehend der privaten Initiative, die sich über Werbeeinnahmen finanziert. Jedoch übt er die Hoheit über die televisuelle Kommunikation aus und vergibt bzw. verlängert befristete Sendelizenzen. Dadurch entsteht eine grundsätzliche Abhängigkeit des Mediums von der Politik, die, wie auch im Fall Mexikos, im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruht. Hieraus ergibt sich, dass das Dispositiv des brasilianischen Fernsehens hinsichtlich seiner Produktion nicht nur durch unternehmerische Gewinnmaximierung sondern, wie schon das Radio, grundsätzlich auch durch politische Interessen geprägt wird. Noch bevor das neue Medium regulär in Betrieb genommen wurde, feierte die Fachpresse den espírito de pioneirismo und den patriotismo von Assis Chateaubriand, der trotz aller Widrigkeiten wenige Monate später Brasilien zu dem Land machen würde, das als „zweites“ nach den USA das kommerzielle Fernsehen einführt. Die Hindernisse waren enorm, wie Carlos Rizzini, der leitende Direktor von Chateaubriands Medienimperium Emissoras e Diários Associados, im März 1950 zu Protokoll gab: Angesichts der riesigen Investitionssummen und der geringen zu erwartenden Einnahmen halte er das Fernsehen für ein „ruinöses Geschäft“. Wenn das Fernsehen selbst in den USA mit ihrem immensen Werbemarkt Verluste machte, wie sollte es dann in Brasilien funktionieren? Trotzdem sei das Unternehmen Emissoras e Diários Associados aus reinem „Pioniergeist“ fest zu dem Wagnis entschlossen, denn Brasilien dürfe dem elektronischen Fortschritt nicht fernbleiben (o.A. 1950). Entscheidend ist hierbei nicht die Genauigkeit der Angaben (welches Land wann das Fernsehen einführt, und ob das US-Fernsehen zu 119

Telenovelas und kulturelle Zäsur

diesem Zeitpunkt nicht schon Gewinn abwirft), sondern der Diskurs über das neue Medium selbst. Dieser macht die Television von Anbeginn an zu einem Platzhalter für den Aufbruch Brasiliens in ein Zeitalter des Fortschritts, in dem sich das Entwicklungsland trotz aller Hindernisse zur technologischen Avantgarde aufschwingt. So lässt sich erahnen, welche (freilich nicht unumstrittene) identitätsstiftende Bedeutung bereits die bloße Existenz des Mediums in der brasilianischen Gesellschaft einnimmt. Wie sich der TV-Regisseur Paulo Pontes erinnert, engagierte Chateaubriand drei Marketingexperten aus den USA, die im Vorfeld die finanzielle Tragfähigkeit des brasilianischen Fernsehprojekts prüfen sollten. Sie rieten davon ab. Der Werbemarkt sei zu klein, Chateaubriand solle abwarten, bis sich das US-Fernsehen kommerziell konsolidiere und dann dessen Geschäftsmodell übernehmen (Avancini/Pontes/Sodré 1976: 129).1 Tatsächlich waren die US-networks zu diesem Zeitpunkt noch zu sehr mit dem Aufbau des heimischen Fernsehmarktes beschäftigt, um sich in Lateinamerika zu engagieren. Dies ändert sich erst, als sich Anfang der sechziger Jahre erste Sättigungserscheinungen am US-Markt zu erkennen geben, und die Konzerne daraufhin im Ausland und vornehmlich in Lateinamerika zu investieren beginnen (Sinclair 1999: 14). Brasilianische Fernsehmacher, die im Rückblick gerne auf die Eigenständigkeit der Entwicklung des Fernsehens in Brasilien verweisen, erwähnen nicht, dass es sich dabei um einen parallel verlaufenden Prozess in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern handelt. Der TVSendebetrieb in Mexiko wurde noch vor dem in Brasilien aufgenommen, in Cuba nur Wochen später noch im selben Jahr, in Argentinien 1951 und in Venezuela 1952 (ibidem). Allem Anschein nach verlief der Aufbau der lateinamerikanischen Fernsehanstalten in der Frühphase jedoch weitgehend unabhängig voneinander. In bezug auf das brasilianische Fernsehen gibt es erst aus den sechziger Jahren Hinweise auf einen Erfahrungsaustausch nicht nur 1

Dass die großen US-networks Chateaubriand von der Einführung des Fernsehens abrieten, gehört zu den Standardargumenten in der brasilianischen Fernsehgeschichtsschreibung, insbesondere wenn diese durch ihre Macher betrieben wird. Ein anderes, oft wiederholtes Argument ist, dass in einem Gespräch David Sarnoff, der Präsident von RCA, Chateaubriand auf sein Ansinnen, das Fernsehen in Brasilien aufzubauen, unverblümt antwortete, das Fernsehen sei „nur etwas für entwickelte Länder und für finanzstarke Unternehmen. Da ihr Unternehmen die notwendige Größe nicht besitzt, und Brasilien ein unterentwickeltes Land ist, fehlen die Bedingungen, dass es dort in den nächsten Jahrzehnten Fernsehen gibt.“ („Dr. Assis, televisão é um negócio só para países desenvolvidos e para empresas que tenham capacidade econômica. Como a sua empresa não tem porte para isso e o Brasil é um país subdesenvolvido, não há condições de ter televisão por lá nas próximas décadas.“) Dies berichtet der Journalist und Werbeunternehmer Mauro Salles, der wichtige Führungspositionen in verschiedenen TV-Sendern innehatte. Er will den Wortlaut der Unterredung von einem Vertrauten Chateaubriands, Rubem Furtado, erfahren haben. Chateaubriand hat sich bekanntlich von diesen negativen Einschätzungen nicht abhalten lassen. Er bestellte und erhielt TV-Gerätschaften von RCA. Aber aus Rache habe er ihre Bezahlung, so Salles, mit allen Mitteln hinausgeschoben: „Dieser Sarnoff verdient keine Bezahlung“ habe Chateaubriand dazu gesagt. So sei sein Konzern RCA bis Mitte der siebziger Jahre eine halbe Million Dollar schuldig geblieben (Salles 2000: 173).

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Fernsehen in Lateinamerika

mit US-Unternehmen sondern auch mit dem damals als sehr fortschrittlich geltenden argentinischen Fernsehen (vgl. Costa 1986: 160). Wie dem auch sei, das Fernsehen in Brasilien konnte – wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas – bei seiner Einführung nicht auf bewährte Muster zurückgreifen. Selbst wenn Chateaubriand die TV-Technik in den USA einkaufte, einige Techniker dort ausbilden ließ und bei der Einweihung des ersten Senders von einem US-Techniker unterstützt wurde, so handelt es sich dennoch nicht um eine simple Übertragung des Mediums von den USA nach Brasilien. Zwar war die Technik weitgehend entwickelt, die Funktionsweise war jedoch noch nicht vollständig absehbar, das televisuelle Dispositiv musste erst noch entfaltet werden. Die Bedingungen hierzu waren in Brasilien zweifelsohne prekär. „Na base do quebra-galho“, auf der Grundlage improvisierter Problemlösungen, gehe man „das Unmögliche“ an, so versucht Pontes Mitte der siebziger Jahre die Situation zu beschreiben. „Televisão vietcong“ nennt das Walter Clark, einer der Männer, die später Rede Globo zum Giganten machten, und meint damit ein Fernsehen, das ohne ausreichende technische und finanzielle Ausstattung kämpfen musste (Clark 1980: 32).2 Es galt, ein neues Medium zu konfigurieren, wofür keine Blaupause zur Verfügung stand, und wozu die Beteiligten nur auf ihren eigenen Erfindungsgeist zurückgreifen konnten. So der Fernsehregisseur Fábio Sabag: Aber wir hatten wenig Ahnung von dem, was wir taten, weil wir etwas vollkommen Neues machten, von dem wir nicht wussten, was es war. Wir erfanden das Fernsehen. Kein Leiter wurde in die USA, nach Deutschland geschickt, wo es das Fernsehen schon länger gab. Also gingen die Leute erfinderisch, schöpferisch vor...3

In den Aussagen der frühen Fernsehmacher macht nicht zuletzt eine Begeisterung für das neue Medium auf sich aufmerksam. Diese Begeisterung bezieht sich auf die Ausgestaltung der Television auf der Grundlage des Einfallsreichtums sowie der Hingabe der Beteiligten. Aparecida Menezes, eine Drehbuchautorin und Regisseurin der fünfziger Jahre, betont den Enthusiasmus, mit dem sie und ihre Kollegen den Herausforderungen des neuen Mediums begegneten: Und damals machten alle fast alles: Produktion, Regie, Drehbuch, Schauspielern. Wirklich, Fernsehprofis gab es wenige, und da war dieser Enthusiasmus, auf den ich mich eben bezog. Man schaute nicht auf die Uhr, wir kamen früh morgens ins Fern-

2

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Clarks Guerrilla-Metapher spricht Bände: Das Fernsehen verfügt zwar anfangs nur über spärliche Mittel, nichtsdestotrotz befindet es sich auf einem Eroberungsfeldzug. Es fragt sich jedoch, wer der Feind ist. „Mas nós não tínhamos muita noção do que fazíamos, porque estávamos fazendo uma coisa inteiramente nova, que não sabíamos o que era. Estávamos inventando a televisão. Nenhum diretor foi mandado para os Estados Unidos, para a Alemanha, onde já tivesse televisão há mais tempo. Então as pessoas foram inventando, criando“ (Sabag 1991: 105).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur sehen und blieben die ganze Nacht. [...] Ich weiß nicht, ich glaube, wir waren ein bisschen verrückt, wissen sie? Das waren wir wirklich.4

Das Bemerkenswerte hierbei sind vielleicht weniger die kreativen Erfahrungen, die sich auch andernorts eingestellt haben mögen. Interessanter ist, dass sie recht gut belegt sind. Die brasilianische Forschung hat zur Untersuchung der Geschichte des Fernsehens (nicht zuletzt aufgrund mangelnder sonstiger Quellen) unzählige Interviews mit Fernsehmachern durchgeführt und zum Teil veröffentlicht.5 Der Stellenwert, den die persönlichen Beiträge der Beteiligten bei der Rekonstruktion der Entwicklung des brasilianischen Fernsehens erhalten, ist beträchtlich. Dies ist – so weit sich das überblicken lässt – nicht der Fall in der mexikanischen Fernsehforschung. Überhaupt erscheint das Interesse der brasilianischen Forschung am Fernsehen wesentlich stärker als das der mexikanischen.6 Zumindest ist die Fernsehforschung in Brasilien sehr viel umfangreicher. Ihr entspricht eine ausgeprägte öffentliche Aufmerksam4

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„E naquela época todo mundo fazia quase tudo: produzir, dirigir, escrever, atuar. Realmente, os profissionais de televisão eram poucos, e havia aquele entusiasmo a que eu me referi. Não havia hora, a gente chegava cedo na televisão e varava a noite. [...] Não sei, acho que a gente era meio maluco, sabe? Realmente era“ (Menezes 1991: 83). So beispielsweise Macedo/Falcão/Almeida (1988), Klagsbrunn/Resende (1991) oder Júnior (2001). Sobrinho (2000) ist u.a. eine Sammlung von Stellungnahmen einzelner Fernsehmacher. Jedoch gibt es umfangreiche Interviewsammlungen, die unveröffentlicht sind, so die Interviews, die die Fundação de Arte (Funarte), Rio de Janeiro, Anfang der achtziger durchgeführt hat oder „A telenovela: a história, a imprensa especializada, o enredo e a audiência 1950/1980“, eine Interviewsammlung der Abteilung Informação e documentação de arte (IDART) des Kultursekretariats der Stadt São Paulo, die sich im Multimedia-Archiv des Centro Cultural São Paulo (CCSP) befindet. Dies sind vereinzelte Versuche seitens öffentlicher Einrichtungen, Archive zur Fernsehgeschichte anzulegen. Dass diese fehlen, liegt an den prekären Bedingungen des Fernsehens in der Frühphase, als das Film- bzw. Videomaterial häufig wiederverwendet und so gelöscht oder von häufigen Studiobränden zerstört wurde. Brasilien sei kein Land „ohne Gedächtnis“, wie es immer heiße, bemerkt der TV-Unterhalter Jô Soares in diesem Zusammenhang, sondern ein Land „ohne Archive“ (Soares 2000: 118). Zur unzureichenden wissenschaftlichen Rekonstruktion der Geschichte des mexikanischen Fernsehens bzw. ihrem teils „journalistischen“ und unkritischen Zuschnitt siehe Orozco (2002: 214-215). Ein Problem der mexikanischen Publikationen über das Fernsehen ist, dass sie zu einem nicht geringen Teil von Televisa bzw. dem dazugehörigen Verlagskonsortium selbst herausgegeben oder gesponsort werden, was zu Auslassungen, Parteinahmen oder sogar apologetischen Tendenzen führt. Ein Beispiel sind die journalistischen Crónicas de la telenovela wie México sentimental, 1999, von Luis Reyes de la Maza und Lágrimas de exportación, 2000, von Luis Terán, die vom Televisa-Verlag Clío veröffentlicht wurden. Von Clío ist auch die mehrteilige Geschichte des mexikanischen Fernsehens auf Video, Historia de la TV mexicana, 2001. Televisa hat übrigens auch die von Miguel Ángel Sánchez de Armas herausgegebenen Apuntes para una historia de la televisión mexicana mitfinanziert. Der Sammelband präsentiert sich mit einem Grußwort des Televisa-Präsidenten Emilio Azcárraga Jean.

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keit in bezug auf das Fernsehen, die sich beispielsweise in den vielfältigen und außerakademischen Veröffentlichungen zum fünfzigjährigen Bestehen des Fernsehens in Brasilien wiederspiegelt, was in dieser Form in Mexiko nicht zu beobachten ist.7 Bei aller kritischen Auseinandersetzung mit der überwältigenden Meinungsmacht des Fernsehens in Brasilien spielt der kreative Aspekt in der gesellschaftlichen Debatte eine beachtliche Rolle. Diese Debatte kann nur voller Widersprüche sein, denn letztlich wird sie meist vom Ringen um einen schöpferischen Spielraum innerhalb der engen Grenzen des kommerziellen und politischen TV-Dispositivs bestimmt. Immerhin, so lässt sich vorausschicken, kommt der Television bei aller Kontroverse ein signifikanter Stellenwert in der öffentlichen Diskussion um die brasilianische Kultur zu.8 Zu schlussfolgern ist also, dass die Bedingungen des Sprechens und Schreibens über das Fernsehen in Brasilien andere sind als in Mexiko. Warum dies so ist, obwohl das Fernsehen in diesem Land seit Anfang der siebziger Jahre auch von einem Monopol beherrscht wird – das von Rede Globo –, und obwohl dieser Monopolist eng mit der Militärdiktatur in jener Zeit zusammenarbeitete, lässt sich nur mit Blick auf Entstehung und Entwicklung des brasilianischen Fernsehens erhellen. Eine besondere Rolle spielt hierbei eine Gattung: die Telenovela.

5.1.2 F ERNSEHEN ZWISCHEN M ODERNISIERUNG UND U NTERENTWICKLUNG Der erste Fernsehsender Brasiliens war TV Tupi Difusora (Canal 3) in São Paulo. Ein halbes Jahr nach dessen Inbetriebnahme, im Januar 1951, weihte Chateaubriand in der damaligen Hauptstadt des Landes, Rio de Janeiro, seinen zweiten Sender ein, TV Tupi (Canal 6). Dies zeigt bereits eine weitere 7

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Ein Beispiel ist die Internetseite des Centro Cultural São Paulo (CCSP) „TV Brasil 50 anos“ (http://www.centrocultural.sp.gov.br/tvano50/apre.htm, zuletzt aufgesucht 20.04.2010). Erwähnenswert ist zudem der eher journalistisch geprägte Almanaque da TV. 50 anos de memória e informação, 2000, von Ricardo Xavier und Rogério Sacchi und die bereits genannte Interviewsammlung des Journalisten Gonçalo Júnior Pais da TV. A história da televisão brasileira contada por Armando Nogueira et al., 2001 sowie die von José Bonifácio de Oliveira Sobrinho herausgegebenen Rückblicke von 50 Fernsehmachern in 50/50: 50 anos de TV no Brasil, 2000. Zudem erschienen einige biographisch geprägte Geschichten des brasilianischen Fernsehens wie die von João Lorêdo (Era uma vez... a televisão, 2000). Ein weiteres Beispiel für das Interesse an der Fernsehgeschichte ist das umfangreiche Internetportal Tele-historia. De A a Z, tudo sobre a TV auf http://www.telehistoria.com.br/ (zuletzt aufgesucht: 26.05. 2010). Das Spektrum der Kontroverse ist, wie zu erwarten, ein sehr breites. Auf der einen Seite finden sich Positionen der Massenmedienkritik, die in der monologischen Struktur des Fernsehens notwendigerweise eine uneingeschränkte Beherrschung des Zuschauers sehen (z.B. Muniz Sodrés O monopólio da fala: função e linguagem da televisão no Brasil, 1984). Dem stehen auf der anderen Seite die unvermeidlichen Verherrlichungen des brasilianischen Fernsehens nach der Art von Ana Rosas Essa louca televisão e sua gente maravilhosa, 2004, gegenüber.

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Eigenheit des brasilianischen Fernsehens an, das sich wie das Radio von Anbeginn an nicht auf ein Zentrum konzentrierte, wie es z.B. in Mexiko der Fall war. Stattdessen verteilte es sich auf die „Achse“ Rio de Janeiro – São Paulo, die beiden politischen und wirtschaftlichen Schwergewichte des Landes. Zum Zeitpunkt dieses Doppelstarts des Fernsehens gab es, wie im Falle des Radios, noch keine Empfangsgeräte. Diese mussten teuer aus den USA importiert werden, jedoch schon im Verlauf des Jahres 1951 wurden einheimische Geräte zu niedrigeren Preisen angeboten. Dennoch waren auch die in Brasilien gefertigten Apparate anfangs nur für Wohlhabende erschwinglich.9 Dementsprechend war das Zielpublikum der fernsehfinanzierenden Werbung äußerst eingeschränkt. Warum ließen sich Unternehmer wie Chateaubriand in Brasilien oder Rómulo O’Farril und Emilio Azcárraga in Mexiko auf ein Geschäft ein, dessen Profitabilität so ungewiss schien? Die Antwort liegt nahe: Sie kannten den Medienmarkt als Zeitungsverleger und insbesondere als Radiobetreiber nur zu gut. Die urbane Popularkultur hatte sich seit Beginn der dreißiger Jahre expansiv entwickelt. Wichtigstes Medium war das Radio,10 das den Höhepunkt seiner Popularität und kulturellen Bedeutung im Übrigen parallel zur Einführung des Fernsehens in den fünfziger Jahren erlebte.11 Zur urbanen Popularkultur zählten natürlich weitere Medien wie u.a. die Presse mit ihren auflagenstarken Zeitungen und Zeitschriften, das Grammofon,12 das

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Wie aus Simões (1986: 25) hervorgeht, kostete das erste brasilianische TV-Gerät 9000 Cruzeiros. Dies entsprach dem Dreiundzwanzigfachen des Mindestlohns, der 1951 380 Cruzeiros betrug (http://www.jfpr.gov.br/ncont/salariomin.pdf, zuletzt aufgesucht 20.04.2010). 10 Die urbane Popularkultur ist in besonderem Maße radiophon: Stellvertretend für die Radiokultur der 30er bis 50er Jahre sei der überaus erfolgreiche und populäre Radiosender Rádio Nacional genannt, der als Kommerzsender begann und 1940 unter der Diktatur von Getúlio Vargas verstaatlicht und in den offiziellen Regierungssender umgewandelt wurde. Ein Jahr später führte Rádio Nacional die erste Radionovela ein, wie lateinamerikanische Variante der soap opera bezeichnet wurde. Neben der Radionovela steht ein Genre paradigmatisch für diese Radiokultur, die identitätsstiftend innergesellschaftliche Spannungen symbolisch aufhob. Es handelt sich um die Radiotransposition des Sambas, die beginnend ab 1938 als samba exaltação das eigene afrobrasilianische Fremde in eine integrative Mestizenkultur verwandelte, und die diese zugleich nach Maßgabe „moderner“ Bigband-Orchestrierungen verbürgerlichte und domestizierte. Das berühmteste Beispiel: Aquarela do Brasil von Ary Barroso aus dem Jahre 1939. Man denke hierbei auch an die Umerziehungsmaßnahmen der afrobrasilianischen Bevölkerung durch das Vargas-Regime des Estado Novo, das aus dieser eine fleißige Arbeiterklasse machen wollte, und das deshalb nicht zuletzt den samba malandro verbot (vgl. Saroldi/Moreira 1984; Vicente 2006; Ortiz 1994: 36-44; Matos 1982 und schließlich Barroso 1939). 11 Mitte der fünfziger Jahre wurde mit der Herstellung von Transistorradios in Brasilien begonnen (Federico 1982: 86). 12 Schon 1902 wurden in Rio de Janeiro die ersten grammofonischen Aufnahmen gemacht. (Die ersten Platten wurden in Europa gepresst, 1912 wurde die erste Plattenfirma in Brasilien eröffnet.) Bis 1927 wurden 7000 Platten hergestellt, was Brasilien schon damals mengenmäßig zu einem der größten Musikmärkte der Welt machte (siehe den Eintrag „Casa Edison“ im Dicionário Cravo Albin da música popular brasi-

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Kino, das Theater und hierbei insbesondere das Revuetheater, sowie nicht zuletzt der Karneval. Angesichts dieser Entwicklung kann der Ehrgeiz einzelner Medienunternehmer und der Enthusiasmus ihrer Mitarbeiter nicht überraschen, die das neue Medium in Brasilien einzuführen sich vornahmen. Sie sahen das Fernsehen aus der Perspektive des Radios, und angesichts des Radiobooms in diesen Ländern lag es nahe, dass ein ‚Radio mit Bildern‘ mittelfristig ebenso starken, wenn nicht noch stärkeren Zuspruch erhalten würde. Das erste Nachkriegsjahrzehnt bedeutete eine Phase beschleunigten Wachstums für die brasilianische Wirtschaft. Die Industrieproduktion legt zwischen 1946 und 1955 um durchschnittlich 8,5% pro Jahr zu. Dabei ist zu beachten, dass ab Ende des Zweiten Weltkriegs die erste Etappe der Industrialisierung der brasilianischen Wirtschaft bzw. die Produktion kurzlebiger Konsumgüter weitgehend von einer zweiten Industrialisierungswelle abgelöst wurde. Es handelt sich um die Substitution der Importe langlebiger Konsumartikel wie Elektrogeräte und Automobile (Pereira 1987: 39-41). Die wirtschaftliche Prosperität der Nachkriegsjahre und die damit verbundene Expansion des Werbemarktes scheint zum Ausbau der Kulturindustrie durch das Fernsehen zu ermutigen. Wie schon das Radio entfaltet das Fernsehen eine Strahlwirkung der Modernisierung, die ihr nur die Unterentwicklung verleihen kann. Es sei jedoch bereits an diesem Punkt angemerkt, dass die Modernisierung mit Blick auf die Gesamtgesellschaft prekär ist: Sie kennzeichnet sich einerseits durch eine rasante Urbanisierung, eine Anhebung des städtischen Lebensstandards und die Entfaltung der oben bereits erwähnten „nationalen“, urbanen Popularkultur. Andererseits bleibt die ländliche Bevölkerungsmehrheit von der Modernisierung abgekoppelt und nimmt an ihr lediglich – das jedoch in steigendem Maße – durch Migration in städtische Zentren teil. Trotz der einsetzenden Industrialisierung ist Brasilien um die Jahrhundertmitte, wie Boris Fausto hervorhebt, auf das Ganze gesehen immer noch ein Agrarland (Fausto 1999: 323).13 Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt sich der bereits angedeutete Entwicklungsprozess. Der gesellschaftliche Wandel verschärft sich. Zwischen 1950 und 1990 verdreifacht sich die Bevölkerung beinahe.14 Die Urbanisierung nimmt an Geschwindigkeit zu und schnellt von einer städtischen Einwohnerrate von 31% der Gesamtbevölkerung im Jahre 1940 in vierzig Jahren auf 67,6% hoch (Oliveira/Roberts 1994: 317). Ursachen für die Intensivierung der Land-Stadt-Migration sind die Industrialisierung mit ihrer Nachfrage nach unqualifizierten Arbeitskräften, schwere Dürreperioden im Nordosten und ein Modernisierungsprozess in der Landwirtschaft, der kleinbäuerliche Pächterexistenzen zugunsten des agribusiness verdrängt. Die zunehmende Einkommens- und Landbesitzkonzentration ist von den Militärs, die zwischen 1964 und 1984 an der Macht sind, gewollt. Ihr Modernisieleira.

Online-Dokument [http://www.dicionariompb.com.br/casa-edison/dados artisticos, zuletzt aufgesucht 20.04.2010]). 13 1950 waren noch 59,9% der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, 1980 fiel dieser Anteil auf 29,2% (Fausto 1999: 324). 14 Sie steigt von 51,9 Millionen Einwohner 1950 auf 146,1 Millionen 1990 an (Fausto 1999: 321).

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rungskonzept setzt nicht auf eine Stärkung der Binnennachfrage durch eine Kaufkraftsteigerung der unteren Schichten sondern begünstigt Großbetriebe in Industrie und Landwirtschaft. Bauern verlieren die Bindung an ihr Land und werden auch als Landarbeiter aufgrund der Mechanisierung der Landwirtschaft immer weniger gebraucht. In der Folge verdingen sie sich als bóias frias, als Wanderarbeiter, die von Ernte zu Ernte umherziehen. Oder sie migrieren in städtische Zentren. Die einzige Alternative, die ihnen die Regierung hierzu anbietet, besteht in der Urbarmachung bisher unbesiedelten Gebietes, also in der Ausdehnung der „landwirtschaftlichen Grenze“, insbesondere in Amazonien im Zuge des Baus der Transamazônica. Die Modernisierung, mit anderen Worten, schließt die bäuerlichen Existenzen aus (wenn sie sie nicht vernichtet) oder verdrängt sie in die Wildnis: Noch 1975 bestellten 73% aller Höfe ihre Felder ohne Pflug. 1980 lag das Pro-Kopf-Einkommen von 73% der Landbevölkerung bei einem halben Mindestlohn oder darunter (Fausto 1999: 323-326). Fortschritte werden im Bereich der Bildung erzielt, aber sie sind sektoriell beschränkt. Bis 1980 fällt die Analphabetenrate in der Bevölkerung von knapp 60% um mehr als die Hälfte auf 26%. 1985 werden Analphabeten erstmals zu politischen Wahlen zugelassen. Das bedeutet, dass bisher auch in Zeiten formaler Demokratie über die Alphabetismus-Voraussetzung ein Großteil der Bevölkerung vom fundamentalen Bürgerrecht politischer Mitbestimmung ausgeschlossen war, was ein Schlaglicht auf die segregierenden Tendenzen in der brasilianischen Gesellschaft bis in die jüngste Vergangenheit wirft (313). 1949 besuchten nur 15,1% der Bevölkerung im Alter zwischen 5 und 24 Jahren die Schule. 1987 waren es bereits 47% (328). Dieser Einschulungserfolg kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass über die Hälfte der Jugendlichen demnach zu jenem Zeitpunkt weiterhin keine Schulbildung genossen. Dies macht deutlich, wie halbherzig und ungleich sich die Modernisierung des Landes vollzieht. Aber zurück zum Beginn der fünfziger Jahre. Das Fernsehen schien, sich bestens in den neuen Modernisierungsschub der Nachkriegsjahre einzupassen. Geradezu emblematisch für den Optimismus, dass das Land seinen Rückstand aufholen und 50 Jahre in fünf wettmachen könne, dass es also sein Versprechen nach Zukunft einlöse, ist die Amtszeit des Präsidenten Juscelino Kubitschek (1956-1961), in der die neue Hauptstadt Brasília im Landesinneren gebaut wurde. Die Idee zu diesem modernistischen Unternehmen par excellence war nicht neu, sondern wurde schon zu Kolonialzeiten erwogen, nach der Unabhängigkeit 1822 neu diskutiert und schließlich 1891 in der Verfassung der Ersten Republik verankert. Nun schließlich sollte der Vorsatz in die Tat umgesetzt werden, mit dem litoralen Brasilien und seinen atlantischen Anbindungen zumindest symbolisch zu brechen und das immense Landesinnere nicht nur zu „besetzen“ sondern zur eigentlichen brasilianischen Wirklichkeit zu machen (vgl. Martins 2000). Allein um das neue Verwaltungszentrum Brasiliens, das in den sehr schwach besiedelten cerrado der brasilianischen Hochebene verlegt wurde, mit der (städtischen) Bevölkerung Brasiliens in Verbindung zu setzen, bedurfte es moderner Kommunikationsmittel. Auch „weitest voneinander entfernte menschliche Gruppen“ sollten mit dem neuen Medium zusammengebracht werden – so Assis Chateaubriand in seiner Rede zur Einweihung seines Pioniersenders TV Tupi 1950 (zitiert 126

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nach Simões 1986: 20-21). Der teletechnologische Aspekt des Fernsehens stand in Brasilien angesichts der kontinentalen Ausmaße des Landes von Anbeginn an im Vordergrund. Dem Medium kommt mit der Überwindung von Distanzen damit eine vorrangige soziale Funktion zu, die sich nicht auf die Überbrückung geographischer Abstände beschränkt sondern insbesondere während der Militärdiktatur, als das Fernsehen seinen Aufschwung nahm, mit dem Begriff der „nationalen Integration“ umschrieben wurde. Das Fernsehen sollte vollbringen, wozu das Radio Ansätze geliefert hat, nämlich die disparaten Bevölkerungsgruppen als Nation zu vereinen. Es orientiert sich daher in der Anfangsphase stark am Radio, was auch daran lag, dass, wie bereits angedeutet, zunächst kein konsolidiertes Modell vorlag, wenngleich das USamerikanische Fernsehen eine Vorreiterrolle spielte. Das Fernsehen steht paradigmatisch für einen zweiten Modernisierungsschub des Landes. Gemeint ist der Nachkriegsboom der zweiten Industrialisierungsphase. Diese bestand – abweichend vom ersten industriellen Aufschwung der dreißiger Jahre (Importsubstitution einfacher Konsumgüter) – in der Produktion haltbarer Konsumgüter wie Elektrogeräte und Autos und hatte aufgrund des Know-how- und Kapitalbedarfs die Niederlassung großer transnationaler Konzerne in Brasilien zur Voraussetzung (Pereira 1987: 47-49). Das bedeutet jedoch, dass sich nun – anders als in der Radiokultur – die Frage nach der Rolle des ausländischen Kapitals bei der Entwicklung des Landes stellt. Damit ist angesprochen, dass der soziale Sinn des neuen Mediums stärker noch als im Falle des Radios an seinen Beitrag zur kulturellen Emanzipation gekoppelt ist. Dass sich die öffentliche Debatte über die Kulturindustrie im Falle des Fernsehens zuspitzt, ist ein allgemeines Phänomen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, erfährt jedoch die Kulturkritik in Brasilien eine postkoloniale ‚Anpassung‘ an die peripheren Bedingungen der Unterentwicklung. Dies ist zu berücksichtigen, will man die brasilianischen Debatten über das Fernsehen verstehen. Die Modernisierungsdebatte greift – im Gegensatz zum modernismo – zunehmend den prekären Charakter des Fortschritts auf. Sie wird primär von einem Begriff bestimmt, der das theoretische und politische Denken in ganz Lateinamerika bis in die neunziger Jahre prägte, als er von dem der Globalisierung abgelöst wurde. Es handelt sich um das Konzept der Unterentwicklung. Markanterweise hinterfragen die mit diesem Begriff verbundenen Ansätze die Moderne nicht an sich sondern nur die Hemmnisse, die der Modernisierung in sog. unterentwickelten Ländern entgegenstehen. Angesprochen sind damit Probleme auf dem Weg zur Moderne, nicht der Weg selbst. Das bedeutet, dass sich vor diesem Hintergrund eine Kulturkritik kaum abzeichnen wird. Vielmehr geht es um „Hindernisse“, „Widerstände“, „chronisches Steckenbleiben“, allgemein um „Rückstand“. Von der Auslegung des Begriffs der Unterentwicklung leiteten sich politische Programme ab, die zur Aufhebung der von ihm identifizierten Probleme führen sollten. Das wichtigste war der desenvolvimentismo, der die Politik Kubitscheks bestimmte und alle Anstrengungen auf die Steigerung von Fortschritt und Industrialisierung ausrichtete. Alsbald wurde diese Entwicklungspolitik selber zum Gegenstand von Kritik, da sie die eigentlichen Ursachen der Unterentwicklung verkenne, nämlich die Hierarchie der internationalen Produktionsverhältnisse. Die Kritik an der Unterentwicklung nimmt marxistische Züge an und wandelt sich zunächst zur Imperialismustheorie 127

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und in den siebziger Jahren schließlich zur Dependenztheorie. Diese Ansätze versuchen zu erklären, warum der Zustand der Unterentwicklung auch bei zunehmender Industrialisierung bestehen bleibt. Sie kommen – wie etwa bei André Gunder Frank – teils zu apokalyptischen Ergebnissen, denenzufolge Unterentwicklung aufgrund der weltweiten kapitalistischen Arbeitsteilung nur zu vermehrter Unterentwicklung führen kann (vgl. González 1985: 2229, 49 und Echeverría/Frank 1980). Gemäß der allgemeinen These „deformiert“ die internationale Ordnung der Produktionsverhältnisse die kapitalistische Entwicklung unterentwickelter Länder. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das Kapital der entwickelten Länder die Entwicklung unterentwickelter Landes durch Ausübung interner und externer Zwänge blockiert. Unterentwicklung bedeutet somit, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes nicht „eigenen“ bzw. „nationalen“ Zwecken gehorcht sondern Zielsetzungen unterworfen ist, die ihm „fremd“ sind und vom „Imperialismus“ definiert werden. Kapital ist somit „ausländisch“ nicht aufgrund seines Ursprungs sondern wegen seiner Funktion, Gewinne zu erwirtschaften, die der heimischen Wirtschaft nicht zugute kommen, sondern ins Ausland abgeführt werden. Dieses Kapital orientiert sich nicht an örtlichen Bedürfnissen sondern ausschließlich an der im Ausland zu realisierenden Gewinnmaximierung. Daher beeinträchtigt es die heimische Entwicklung, fördert soziale sowie regionale Ungleichheit und verhält sich letzten Endes „parasitär“. Dem „ausländischen Kapital“ schließen sich auch einheimische Kräfte an, allen voran der Großgrundbesitz, der das landwirtschaftliche Potential allein für den Export einsetzt, auf diesem Gebiet Überschüsse produziert (z.B. Kaffee), aber dadurch eine Unterversorgung des Binnenmarktes provoziert. Daraus ergibt sich ein grundsätzlicher „Widerspruch“ zwischen der „Nation“ und dem „Imperialismus und seinen internen Agenten“. Was aber ist in diesem Zusammenhang „Nation“? Sie besteht aus Proletariat, Landarbeitern und „nationaler Bourgeoisie“, die sich dem „Imperialismus“ widersetzt (Sodré 1987: 392-403). Die Theorie der Unterentwicklung geht auf das Axiom der „autonomen Entwicklung“ bzw. der Emanzipation zurück und bekräftigt die Vorstellung eines eigentlichen, wesentlichen Seins als nationales Sein. Das zentrale theoretische Problem ist folglich die „nationale Bourgeoisie“ als geschichtsmächtige (revolutionäre) Kraft und ihr Konflikt mit dem Imperialismus – weniger der Widerspruch zwischen ihr und dem Proletariat. Dieser findet zwar Erwähnung, kann sich jedoch aufgrund des eigentlichen Widerspruchs (Nation – Imperialismus) nicht entfalten. Entfremdung bleibt damit eine grundlegende Kategorie für das kritische Denken der Moderne in Lateinamerika, aber sie rührt nun nicht primär vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit her sondern von dem zwischen Nation und Imperialismus.15 Ent-

15 Bei Marx’ Begriff der Entfremdung des abhängigen Lohnarbeiters wird das Arbeitsprodukt dem Arbeiter fremd und zu einer „selbständigen Macht“, die nicht länger darauf ausgerichtet ist, unmittelbare Bedürfnisse zu befriedigen. Die Arbeit verwandelt sich in „ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen“. Indem die Arbeit nicht mehr Selbstzweck ist, und ihr Produkt jemandem anderen gehört, entspricht sie nicht mehr dem Wesen des Arbeiters, der „sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint“. So wird der Arbeiter schließlich sich selbst fremd, er „entäußert“

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fremdung, mit anderen Worten, beschreibt in diesem Kontext nicht das Ergebnis von Modernisierung sondern ihre Verhinderung. Daraus folgt, dass die Kulturkritik und speziell die Kritik an der Kulturindustrie in Brasilien, wie Renato Ortiz gezeigt hat, nicht an sich modernekritisch ist (Ortiz 1995: 184-188).16 Die Entfremdungsproblematik, mit anderen Worten, wird nicht auf die Verdrängung des Individuums bzw. des kritischen und unabhängigen Geistes durch den Massenmenschen bezogen sondern kollektiv gewendet und auf die Emanzipationsfrage der Nation ausgerichtet. Die Massifizierung nämlich ist eines der markantesten Merkmale der Moderne (bzw. ihrer Kritik), aber diese Moderne scheitert, sich in Brasilien und ganz Lateinamerika umfassend durchzusetzen. Schlussfolgernd ist das Sein, das hier unter Entfremdungsgefahr steht, nicht das des Menschen sondern das der Nation. Es ist nur folgerichtig, in der Entfremdung gar einen Grundgedanken der Theorie der Unterentwicklung zu erkennen. Interessanterweise wurde diese Überlegung just auf dem Gebiet der Kulturtheorie ausgearbeitet. Roland Corbisier brachte die Diskussion auf den Punkt, indem er Entfremdung als das zentrale Merkmal des Kolonialismus bezeichnet. Gemeint ist, dass die koloniale Dominanz noch über die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie hinaus die nationale Bewusstwerdung blockiert.17 Das bedeutet, dass die imperialistische Ausbeutung nicht nur auf materielle Güter zielt sondern auch auf kulturelle Dominanz. Kulturimperialismus als Merkmal der Unterentwicklung verdammt zu kultureller Inauthentizität. Entwicklung ist in diesem Sinne ein kritischer Begriff und sieht Emanzipation bzw. Verwirklichung des eigentlichen nationalen Seins vor. Entwicklung versteht sich daher als „Humanismus“, da sie Entfremdung überwindet, der Nation ihr Wesen zurückgibt und dem Menschen zu einem würdigen Dasein verhilft (vgl. Ortiz 1994: 60). Ähnlich wie schon in der künstlerischen Avantgarde-Bewegung des Modernismo in den Zwanziger und Dreißiger Jahren gilt es, wie es Oswald de Andrade im Manifesto antropófago formulierte, das „Importbewusstsein“ („a consciência enlatada“) zu überwinden (Andrade 1970: 13). Unterentwicklung, nicht Kulturkritik im engen Sinne ist also der theoretische Rahmen, in dem die Entfremdungskritik in Brasilien aktualisiert wird. Daher gilt die Skepsis gegenüber der Kulturindustrie zunächst in erster Linie ihren kulturimperialistischen Implikationen angesichts ihrer Verbindungen zur ökonomischen und politischen Vormacht USA. Sie hebt auf die Frage ab, inwieweit die audiovisuellen Medien, insbesondere das Fernsehen, die kulturelle Entfremdung vertiefen bzw. durch die Ausstrahlung ausländischer Programme die Emergenz einer authentischen Kultur und eines nationalen Beund „entwirklicht“ sich im kapitalistischen Arbeitsprozess zur Ware (Marx 1973: 510522). 16 Zur Tradition der europäischen Kultkritik siehe Georg Bollenbeck (2007) und Ralf Konersmann (2001). 17 „Der Mangel an Nationalbewusstsein, der Mangel an kritischem Bewusstsein uns selbst gegenüber erklärt sich durch die Entfremdung, denn der Inhalt der Kolonie ist nicht die Kolonie selbst, sondern die Kolonialmacht...“ („A falta de consciência nacional, a falta de consciência crítica em relação a nós mesmos se explica pela alienação, pois o conteúdo da colônia não é a própria colônia, mas a metrópole...“) (Roland Corbisier zitiert nach Ortiz 1994: 55).

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wusstseins hemmen. In einer peripheren Moderne ist dies der kritische Kontext, der zusammen mit den ökonomischen, politischen und intermedialen Faktoren Auftreten und Gestaltung des Fernsehens bedingt. Sie unterliegen allesamt der Makrobedingung der Modernisierung, der sich auch die linke Kritik an der Unterentwicklung nicht entzieht. Dem Fernsehen ist, mit anderen Worten, die soziokulturelle Funktion der emanzipativen Modernisierung auferlegt und bezieht von dieser Funktion seine ambivalente Stellung. Die brasilianische Frage an das Medium ist also, ob und inwiefern es entweder zur Entwicklung oder Unterentwicklung des Landes beiträgt. Nicht zuletzt das Stichwort des Humanismus erinnert daran, dass das hier skizzierte Entfremdungsdenken nicht an sich modernekritisch ist. Denn eine Kritik am Humanismus als metaphysischer Begriff ist diesem Denken fremd. Eine solche Kritik wurde jedoch bekanntlich von Heidegger bereits formuliert. Dabei ging er explizit über den marxistischen Entfremdungsbegriff hinaus und sah im technischen Humanismus die modernen Voraussetzungen für die metaphysische Verdrängung des Seins durch das Seiende (Heidegger 2000).

5.1.3 I NTERMEDIALE B EDINGUNGEN Das televisuelle Dispositiv muss, wie angedeutet, bei Einführung des Fernsehens in Brasilien erst noch entworfen werden, und dies geschieht in Analogie zum Radio. Dies ist zweifellos ein Allgemeinplatz, dennoch lohnt es sich, diese intermedialen Passagen zu beleuchten, um den Bruch deutlich zu machen, der mit der Konfiguration des neuen Mediums letztlich einhergeht. Vom Radio übernahm das Fernsehen das kommerzielle und politische Dispositiv wirtschaftlich auszubeutender Lizenzen, die von der Regierung vergeben werden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen hierzu sind zunächst dieselben wie die des Radios und stammen aus dem Jahre 1932 (Federico 1982: 50). Erst dreißig Jahre später, 1962, tritt ein neuer Código brasileiro de telecomunicações in Kraft, der erstmals Regelungen für das Fernsehen vorsieht. Das Fernsehen führte das Prinzip des toll broadcasting fort, mit dem das Radio sich als kommerzielles Medium etablierte und Sendeplätze an Agenturen vermietete. Diese produzierten selbständig einzelne Sendungen, die dann den Namen des Sponsors trugen.18 Ein berühmtes Beispiel ist die Nachrichtensendung Repórter Esso, die 1941 im Radio startete und von 1951 bis Ende der siebziger Jahre von TV Tupi ausgestrahlt wurde (Sinclair 1999: 64-65). Das neue Medium übernimmt folglich nicht nur einen Großteil des Personals, der Genres sowie der Sendungen unmittelbar vom radiophonen Rundfunk.19 Wie Federico betont, vollzieht es dessen Gestaltungs- und Such-

18 Dieses System war 1922 vom Telefonriesen AT&T und seinem New Yorker Radiosender WEAF erfunden worden, auf das nach und nach die gesamte Radiowirtschaft in den USA einschwenkte. Das Mautgebührenkonzept entsprang der Vorstellung der Telefongesellschaft, dass Interessenten das Medium wie Telefonleitungen vorübergehend zur eigenen Nutzung anmieten (Douglas 1987: 36). 19 Während der ersten fünf bis sechs Jahre waren die meisten Mitarbeiter von TV Tupi ehemalige Radioleute (Blum 1991: 118).

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prozesse der zwanziger und dreißiger Jahre nach. Das bedeutet, dass es nicht einfach das Dispositiv des Radios mit bewegten Bildern versieht. Von vorneherein ging es darum, ein neues Dispositiv zu gestalten, über dessen Konturen man sich Anfang der fünfziger Jahre ebenso im Unklaren war, wie in Bezug auf das Radio-Dispositiv in den Zwanzigern. Was das Fernsehen in seiner Frühphase folglich kennzeichnet, ist ein intermedialer Zwischenstatus, der sich nicht nur den Passagen von Radiogenres verdankt sondern auch den Transpositionen von literarischen, filmischen und theatralischen Gattungen. Das Fernsehen konstituiert sich vorerst als „Vehikel anderer Vehikel“ (vgl. Federico 1983: 83-84). Bei aller Nähe des televisuellen Rundfunks zum radiophonen ist somit deutlich, dass das Fernsehen – wie jedes neue Medium – eine neue Welt impliziert, für die es per se keine Parameter gibt. Schon die soziokulturellen Rahmenbedingungen sind Anfang der fünfziger Jahre völlig andere als dreißig Jahre zuvor. Auf ein nicht-gewinnorientiertes Projekt, der Bevölkerung die Bildung angedeihen zu lassen, die das lückenhafte Schulsystem nicht anzubieten in der Lage ist, lässt sich die Television im Gegensatz zum Radio aufgrund der vorgegebenen industriekulturellen Basis erst gar nicht ein.20 Jedoch teilt es wegen der hohen Anschaffungskosten in seiner Anfangsphase mit dem Radio und mit Fernsehsystemen in anderen Ländern die Eigenschaft eines Luxusgutes und profiliert sich zunächst im Bereich der Hochkultur insbesondere mit Verfilmungen internationaler Literatur- und Theaterklassiker. Als Ergebnis dieser Bemühung entstand das neue Genre des teleteatro, das Theaterstücke im Studio inszenierte und live übertrug. Bestes Beispiel ist die Sendung Grande Teatro Tupi, die ab 1951 über zehn Jahre lang wöchentlich ausgestrahlt wurde, und in der große Bühnenstars mitwirkten (Xavier/Sacchi 2000: 111-112). Wie die Schausspielerin Norma Blum rückblickend berichtet, war Grande Teatro Tupi mit seinen modernen und antiken Theaterstücken von bis zu dreieinhalb Stunden Dauer sehr beliebt, auch außerhalb gebildeter Kreise: Wir führten Klassiker in voller Länge auf. Das Grande Teatro Tupi war ein Schauspiel von drei, dreieinhalb Stunden. Das war nicht vor zwei Uhr morgens zu Ende. Offiziell wurde die Sendung ab zehn Uhr ausgestrahlt, aber sie begann nie vor 11 Uhr, wegen 20 Das Radio verfolgte in Brasilien u.a. anfänglich das Ziel, die Einschränkungen der Buchkultur aufzuheben und „Kultur“ unabhängig vom Buch zu verbreiten und so den „Fortschritt“ des Landes zu fördern. Dies war die Funktion des 1923 gegründeten Rádio Sociedade do Rio de Janeiro. Es ging der Radiogesellschaft darum, per Funk den Bildungsrückstand zu überwinden. Als Voraussetzung jedoch galt eine Funktionsweise des Mediums, die nicht gewinnorientiert ist, wie der maßgebliche Begründer und Betreiber von Rádio Sociedade, Edgard Roquette-Pinto, betont: „Das Radio ist die Schule derer, die keine Schule haben. Es ist die Zeitung derer, die nicht lesen können; es ist der Lehrer derer, die nicht zur Schule gehen können; es ist die kostenlose Unterhaltung der Armen; es ist der Stifter neuer Hoffnungen, Tröster der Armen und Führer der Gesunden – so lange es mit altruistischem und noblem Geist durchgeführt wird“ („O rádio é a escola dos que não têm escola. É o jornal de quem não sabe ler; é o mestre de quem não pode ir à escola; é o divertimento gratuito do pobre; é o animador de novas esperanças, o consolador dos enfermos e o guia dos sãos desde que o realizem com espírito altruísta e elevado“ [Roquette-Pinto zitiert nach Castro 2004].)

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Telenovelas und kulturelle Zäsur der Zensur; manchmal gab es schwer verdauliche Texte. Ich ging am Morgen nach dem Grande Teatro auf den Wochenmarkt. Wissen sie, dass viele Marktverkäufer die Sendung gesehen hatten? Sie verzichteten auf den Schlaf, um die Klassiker zu sehen. Als dann die Pasteurisierung des Fernsehens kam, und Globo behauptete, dass das Publikum einen bestimmten Typ von Sendungen nicht akzeptiere, habe ich mich nie damit abgefunden. Wir hatten eine Erfahrung, ein Erleben, dass sich die einfachen Leute Tschechow ansahen, ihn verstanden und aufblieben, um ihn zu sehen.21

Wie sehr das Fernsehen in seiner Entstehungsphase – zumindest in bezug auf bestimmte Gattungen – Theater bzw. Ferntheater war, zeigt, dass die Zuschauer der live gesendeten teleteatros als gutes Theaterpublikum häufig beim Sender anriefen, um die Schauspieler zu beglückwünschen (Simões 1986: 26). Zugleich knüpfte das Fernsehen an die urbane Popularkultur des Radios an und bot bereits in der Frühphase – was häufig übersehen wird – ein letztlich gemischtes kulturelles Profil. Hierbei handelt es sich insbesondere um Radionovelas, die als Telenovelas zum Fernsehen übergingen.22 Festzuhalten ist zunächst, dass sich mit dem neuen Medium auch didaktische Hoffnungen verbanden, den kulturellen Rückstand des Landes aufzuholen und „Kultur“, wie z.B. das Theater, zu verbreiten und das Bildungsniveau anzuheben. Zweifelsohne galt es, die Television kulturell zu legitimieren und den Bildungsansprüchen des vermögenden Publikums gerecht zu werden, die sich die Empfangsgeräte leisten konnten. Jedoch greift der Begriff des „Elitismus“ (z.B. Sinclair 1999: 64), mit dem die Frühphase des Fernsehens gerne bezeichnet wird, zu kurz und übersieht nicht zuletzt das kulturutopische Moment bei der Einführung des neuen Mediums. In diesem Sinn stellte sich das neue Medium nicht nur in den Dienst von „Kultur“ und Bildung sondern, wie bereits angedeutet, insbesondere in den der brasilianischen Kultur. Bereits die Namensgebung der Fernsehsender der 21 „Fazíamos clássicos na íntegra. O Grande Teatro Tupi levava três horas, três horas e meia de espetáculo. Não acabava antes de duas horas da manhã. Oficialmente, o programa entrava às dez horas, mas nunca começava antes das 11hs, por causa da censura; às vezes havia textos pesados. Eu ia à feira no dia seguinte ao do Grande Teatro. Sabe que muitos feirantes tinham assistido? Eles deixavam de dormir para ver os clássicos. Quando houve esta pasteurização da televisão, e a Globo passou a dizer que o público não aceita certo tipo de programa, eu nunca me conformei. Nós tínhamos uma experiência, uma vivência de que o povão assistia a Tchecov, entendia, gostava ficava acordado para ver“ (Blum 1991: 121). 22 Vom Standpunkt des Bildungsanspruchs her sicherte das Fernsehen in den fünfziger Jahren trotz seines melodramatischen Programmanteils „große kulturelle Qualität“. Dagegen ist aus Norma Blums Sicht das gegenwärtige Fernsehen stark abgefallen und verzerre letztlich die „Kultur“: „Heute zum Beispiel stellt das Fernsehen eine Unterkultur dar, derart entstellt sie die Kultur. Selbstverständlich hatten wir damals Melodramen. Aber zur gleichen Zeit, als man Melodramen machte, machte man auch Dostojewski, und zwar äußerst ernsthaft und würdevoll“ („Hoje em dia, por exemplo, a televisão apresenta uma subcultura, tal a forma como ela deturpa a cultura. É lógico que a gente tinha melodramas na época. Mas ao mesmo tempo em que se faziam melodramas, fazia-se Dostoievski com a maior seriedade, com a maior dignidade“ [Blum 1991: 121]).

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Mediengruppe Diários e Emissoras Associados, TV Tupi, rückt das Fernsehen in den indianistischen Identitätsdiskurs ein, der die Figur des Indios seit der Romantik als nationales Symbol stilisiert. Tupi ist eine der größten indigenen Sprachfamilien Brasiliens, die aufgrund ihrer ursprünglichen Verbreitung an der Küste und im Norden, wie Claudius Armbruster schreibt, zum pars pro toto der indigenen Bevölkerung des Landes wurde. Insbesondere aber verweist der Name Tupi auf das modernistische Kulturmodell der antropofagia („Tupi, or not tupi that is the question“ [Andrade 1970: 13]) und die damit verbundene Dynamik der Einverleibung des Anderen. Deutlicher noch wird dies im Logo der Senders, das aus einem comicartig gezeichneten Kopf eines Indianerjungen besteht, der ein Stirnband trägt, von dessen Mittelpunkt über der Stirn zwei schräge Antennen aufsteigen. Das Logo suggeriert damit die Inkorporierung der kommunikationstechnischen Moderne durch eine junge Gesellschaft, deren Indigenität allenfalls eine Metapher ihres Differenzcharakter darstellt. Allerdings sieht sich diese Differenz durch den Comicstil längst in die Moderne eingeholt. Angedeutet wird damit jedoch, dass das Fernsehen in Brasilien einen kreativen Prozess markiert, der in der Vermischung kultureller Gegensätze (indianische Tropenwaldkultur vs. Elektronik) das Eigene (das ja als jung und ‚unfertig‘ gekennzeichnet wird) zwar modernisiert, das Moderne zugleich aber ‚indigenisiert‘ (vgl. Armbruster 2004: 123). Das Fernsehen kann, wie bereits erörtert, den Anspruch auf Modernität nur einlösen, wenn es nicht nur technische Entwicklungen einführt sondern auch kulturelle Emanzipation fördert. Daher ist es nur konsequent, wenn das Fernsehen nicht nur Klassiker der Weltliteratur, sondern insbesondere auch der brasilianischen Literatur verbreitet, wie es TV Tupi beispielsweise in der Sendung Teatro de Comédia tat, in der vorzugsweise brasilianische Theaterstücke inszeniert und übertragen wurden (Blum 1991: 123). TV de vanguarda (1952-1967) suchte sich vom Einfluss des Theaters zu lösen und ein fernsehgerechteres Format zu entwickeln. In diesem Sinne änderte die Sendung zuallererst ihren Namen, der ursprünglich Teatro de vanguarda lautete. Sie übertrug literarische Texte, nicht zuletzt brasilianische, sowie Kinofilme und spielte sie vor der Fernsehkamera nach. Die Sendung wurde zum prestigeträchtigsten Produkt von TV Tupi und avancierte zum Inbegriff des brasilianischen Fernsehens in den fünfziger Jahren (Simões 1986: 29). TV de vanguarda ist ein Beispiel für die differenzstiftende Funktion der intermedialen Gattungspassage, also für die Suche des Mediums nach einem generischen Anknüpfungskontext im Bereich der Fiktion, der sich von den theatralischen, filmischen, radiophonen und literarischen enunziativen Verkettungen absetzt. Hier geht es um die vielzitierte „linguagem própria da televisão“ („die dem Fernsehen eigentümliche Sprache“, Blum 1991: 122), deren Entwicklung die Fernsehmacher der frühen Stunde, wie oben beschrieben, anspornte. Zugleich muss daran erinnert werden, dass sich das neue Medium im Grunde kaum auf das Theater oder das Kino in Brasilien stützen konnte, weil diese Medien hier Anfang der fünfziger Jahre erst begannen (oder versuchten), institutionelle Strukturen im Land aufzubauen. Wie Ortiz deutlich macht, bildete sich zu diesem Zeitpunkt ein kultureller Markt für diese Medien, wenn auch teils auf prekärer Basis (Ortiz 1995: 38-48, 102-104). Nun erst formiert sich ein (städtisches, gebildetes und einkommensstarkes) Publikum, das ein brasilianisches Theater angesichts des Mangels an staatlichen 133

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Subventionen zu finanzieren in der Lage ist. 1948 wurde aus den Reihen vermögender Industrieller das Teatro Brasileiro de Comédia (TBC) in São Paulo gegründet. Dabei handelt es sich um ein Theater auf unternehmerischer Basis, das den Amateurgruppen und Einzeldarstellen eine feste Bühne bot und so den Übergang zu einem professionellen, aber marktorientierten Theater mit festem Ensemble einleitete (Prado 1998). Erst in der Folge entstanden experimentelle Theaterhäuser in São Paulo wie das Teatro de Arena (1952) und das Teatro Oficina (1958), die eine spezifisch brasilianische und kritische Dramaturgie zu entwickeln sich anschickten.23 Ähnlich verhielt es sich mit dem Kino. Anfang der vierziger Jahre hatte Hollywood brasilianische Kinoproduktionsfirmen wie Cinédia oder Brasil Vita Filmes, die Anfang der dreißiger Jahre entstanden waren, weitgehend verdrängt. 1941 wurde das Kinostudio Atlântida gegründet, das meist leichte Unterhaltung (chanchadas) produzierte, dazu in sehr eingeschränktem Umfang. 1949 wurde in São Paulo das Studio Vera Cruz ins Leben gerufen, übrigens teilweise von denselben Unternehmern, die auch das Teatro Brasileiro de Comédia aufgebaut hatten. Bei Vera Cruz handelt es sich um den Versuch, ein brasilianisches Hollywood zu errichten, also eine brasilianische Kinoindustrie nach US-amerikanischem Vorbild (Ortiz 1995: 70). Vera Cruz ging bereits 1954 bankrott, Atlântida war bis 1962 in Betrieb. Paulo Emilio Salles Gomes, der große Filmkritiker, nennt dies die „Unterentwicklung“ des brasilianischen Kinos. Unterentwicklung – als „Zustand“, nicht als „Etappe“ – meint hier nicht nur die Schwierigkeit der nationalen Kinematografie, sich gegen das US-Monopol zu behaupten, sondern auch, sich kritisch mit Brasilien auseinander zu setzen (Gomes 2000). Im Gegensatz zum Theater war zwar die Praxis der Kinorezeption im urbanen Milieu sehr ausgeprägt. Laut einer Umfrage aus dem Jahre 1952 war das Kino sogar mit gigantischem Abstand die beliebteste Freizeitbeschäftigung in São Paulo (das Kino rangierte mit 51,38% der Vorlieben weit vor dem zweitplatzierten Freizeitvergnügen, dem Sport, der auf 8,65% kam) (Simões 1986: 25). Dahinter stand aber keine inländische Filmindustrie, die das Fernsehen hätte mit Filmmaterial versorgen können, wie dies in den USA der Fall war (19). In Brasilien, mit anderen Worten, entwickelt sich das Fernsehen gleichzeitig und nicht nachzeitig zu den Künsten Theater (mit festen Ensembles) 23 Teatro de Arena und Teatro Oficina setzten sich offensiv für eine „Nationalisierung“ des Theaters in Brasilien ein und wendeten sich nicht zuletzt gegen den „italienischen Einfluss“ durch das TBC, das von Unternehmern italienischer Abstammung (Franco Zampari) gegründet und geleitet wurde, sich lange Zeit am italienischen Nachkriegstheater orientierte und eine Reihe italienischer Regisseure engagierte (Prado 1998). Das Teatro de Arena beispielsweise suchte nach einem „brasilianischen Schauspielstil“ und machte sich sowohl daran, die „Klassiker“ (Molière, Lope de Vega u.a.) zu „nationalisieren“ wie zugleich die „konkrete brasilianische Wirklichkeit“ „realistisch“ vor Augen zu führen. „Experimentelles“ Theater bedeutete somit den Gegensatz zum „Import von Stilen, Formen und Moden“ sowie Verpflichtung gegenüber „den Bedürfnissen des Publikums und der brasilianischen Gesellschaft“ („O Teatro de Arena de São Paulo é um conjunto extremamente experimental e oposto à importação de estilos, formas e modismos, e dedicado à pesquisa de um teatro que corresponda às necessidades do público e da sociedade brasileira, em cada momento histórico da sua evolução“) (o.A. 1970a: 29).

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und Film. Daraus folgt, dass es zwar auf internationale Dramen und Filme zurückgreift, aber nur eingeschränkt brasilianische Vorgaben dieser Medien übernehmen kann. Paradoxerweise verdrängt das Fernsehen im Grunde das brasilianische Theater zunächst nicht, auch nicht das brasilianische Kino, da diese von vorneherein über keinen stabilen Ort verfügen. Im Gegenteil wird an das neue Medium die Funktion herangetragen, die strukturellen Schwächen von Theater und Kino nicht nur durch Verdienstmöglichkeiten der jeweiligen Kulturschaffenden sondern auch durch die Förderung der betreffenden Medien selbst zu kompensieren. Darauf wird im Einzelnen noch einzugehen sein. Erwähnt sei an dieser Stelle lediglich ein Kommentar des Schauspielers und Regisseurs Zbigniew Ziembinski. Er hat das brasilianische Theater von den vierzigern bis in die siebziger Jahre stark geprägt. 1975 gibt er zu bedenken, dass das Fernsehen dem Theater nicht schade, sondern es vielmehr unterstütze, indem es überhaupt erst die Aufmerksamkeit und das Interesse für die Bühne bei Menschen decke, die nie mit dem Theater in Berührung kommen.24 Daraus ist zu folgern, dass trotz der vielfältigen intermedialen Gattungspassagen das televisuelle Dispositiv in Brasilien tendenziell durch die ‚Schwäche‘ des Theater- und Kino-Dispositivs geformt wird: Das brasilianische Fernsehen beansprucht auf diese Weise einen vergleichsweise erweiterten enunziativen Raum und diskursive Funktionen, die andernorts vom Theater und Kino wahrgenommen werden. Hieraus ergibt sich jedoch auch, dass die Entwicklung anderer Medien-Dispositive in besonderem Maße von der Hegemonie der Television durchdrungen werden, wiewohl diese sie – wie Ziembinski dies für das Theater bekräftigt – nicht verdrängt sondern fördert. Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dass dieser enunziative Raum weitgehend von einem einzigen Genre ausgefüllt wird: der Telenovela. Sie entsteht in Brasilien an der Kreuzung zwischen Fernsehen und insbesondere solchen Medien, deren Entfaltung durch postkoloniale Bedingungen gehemmt ist. Dies wird im Verlauf der Argumentation auszuführen sein. Vorerst sei lediglich auf den Theaterautor Dias Gomes verwiesen, der Ende der sechziger Jahre begann, Drehbücher für Telenovelas zu schreiben. Er weist rückblickend darauf hin, dass die politische Zensur der Militärs zu diesem Zeitpunkt die Theatertätigkeit unmöglich machte, weswegen nicht nur er sondern eine Reihe engagierter Theaterautoren auf das Fernsehen auswichen. Diese „Generation“ von Theaterleuten habe sich dem Projekt eines „popularen und politischen Theaters“ verschrieben gehabt. Das bedeutet, dass ihr Theaterprojekt auch ohne die politischen Einschränkungen auf enge Grenzen stieß, da es, wie er einräumt, zwar politisch war, aber nie „popular“, also nah an der Bevölkerung. Dies sei auch das Problem des Kinos gewesen. Angesichts aber eines starken Bedürfnis nach einer bevölkerungsnahen „Kunst“ habe sich ein „Raum“ aufgetan, den die Telenovela auszufüllen begann. „Das

24 „A televisão não só não prejudica o teatro como ajuda a divulgá-lo. Ela trouxe a consciência do espetáculo teatral a pessoas que não tinham a menor idéia do que ele significa. Isso criou nelas uma grande curiosidade pelo palco“ (Ziembinski 1975: 4).

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hätte in den USA nicht passieren können, wo das Theater eine populäre Kunst ist“.25 Wenn das Fernsehen teils ‚Bühne‘ zu sein wünschte, auf der brasilianische „Wirklichkeit“ dramatisiert wird, so begehrte es auch, ‚Leinwand‘ zu sein für ein Land, das immer wieder damit rang, eine nationale Kinematografie aufzubauen. Symptomatisch für diese Ambition ist das Ansinnen der beiden Manager von TV Globo, Walter Clark und José Bonifácio de Oliveira Sobrinho (genannt Boni), die alten Anlagen des Kinostudios Maristela (19501958) für ein neues Produktionszentrum des Senders umzufunktionieren, das nach einem Brand des TV-Studios von Globo in São Paulo erforderlich geworden war. Aus Kostengründen wurde von dem Projekt abgesehen und entschieden, die Fernsehproduktion in Rio de Janeiro zu zentralisieren (Wallach 2000: 125). Aber es zeigt das Anliegen des Fernsehens, die Rolle der Traumfabrikation zu übernehmen. TV Globo gab dieses Anliegen übrigens nicht auf sondern setzte es später mit seiner Telenovelaproduktion aufwendig in die Tat um. Zu diesem Zweck schuf es, wie weiter unten ausgeführt wird, ein hollywoodähnliches Star-System der Telenovelaschauspieler und baute nicht zuletzt das gigantische Produktionszentrum Projac. Projac ist eine Telenovelastadt auf 1.300.000 m2, in der die Serien aufgenommen werden. Wie Paulo Antonio Paranaguá schreibt, hat das Fernsehen hier das „industrielle Paradigma“ Hollywoods übernommen und das Projekt eines „tropischen Hollywoods“, das verschiedene Studios jahrzehntelang zu verwirklichen versuchten, im Bildschirmformat umgesetzt (Paranaguá 2000a: 6-7). Der Telenovela-Regisseur Régis Cardoso kommentiert hierzu, dass das brasilianische Fernsehen die soziokulturelle Bedeutung übernimmt, die das Kino insbesondere in den USA innehat.26 Darauf wird im Rahmen der Telenovela-Analyse zurückzukommen sein. Nicht zuletzt aus der Sicht der Theorie der Unterentwicklung ist diese ‚Hollywood‘-Funktion des Fernsehens jedoch – dies sei hier bereits angemerkt – äußerst ambivalent. Wie Paulo Emilio Salles Gomes ausführt, geht es nicht nur um ein Kino in Brasilien sondern darum, eine Kinematographie gegen die ocupantes und für die ocupados zu betreiben. Das Frantz Fanon (1961) entliehene Begriffspaar macht die antikolonialistische Tendenz deutlich. Der Ausbruch aus der Unterentwicklung besteht darin, die Unterentwicklung selbst zu problematisieren und die interne Kolonisierung und Marginalisierung von zwei Dritteln der Bevölkerung aufzuzeigen, die vom verbleibenden Drittel aus dem Konzept der Nation schlicht ausgeschlossen und dem „Dios dirá“ überlassen werden (Gomes 2000: 32).27 25 „Isso não poderia ter ocorrido nos Estados Unidos, onde o teatro é uma arte popular“ (Gomes 1991: 176). Was es mit der „arte dramática popular“ auf sich hat, die Gomes vorschwebte und auf die Telenovela übertrug, wird in den Folgekapiteln erörtert. 26 „Für die Nordamerikaner ist das Kino das Wichtigste, für uns ist es das Fernsehen“ („Para os norte-americanos, o mais importante é o cinema, para nós é a TV“) (Cardoso 2001: 303). 27 Eine Alternative zur Kulturindustrie entstand innerhalb der Audiovision bekanntlich erst Mitte der sechziger Jahre mit dem Cinema Novo, das auf der Grundlage einer „Ästhetik des Hungers“ ein völlig anderes und verdrängtes Brasilien zeigte. In seinem zentralen Anliegen der „kulturellen Dekolonisierung“ knüpfte der Cinema Novo, wie Paranaguá betont, ganz offensichtlich am Modernismus an (Paranaguá 2000a: 14).

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In verschärftem Maße trifft die mediale „Unterentwicklung“ auf die Typografie zu. Bis Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jh. war das brasilianische Verlagswesen in einem Zustand, den Laurence Hallewell als „extrem deprimierend“ bezeichnet. In ganz Brasilien gab es lediglich ca. dreißig Buchläden, die sich zudem größtenteils in den wohlhabenden Stadtvierteln Rio de Janeiros und São Paulos befanden und vorzugsweise Bücher aus Frankreich und Portugal verkauften. Auch diejenigen brasilianischen Werke, die Käufer fanden, wie die Romane von José de Alencar und Machado de Assis, wurden vom Verlag Garnier in Paris gedruckt (Hallewell 1982: 170). Erst in den zwanziger Jahren verlässt die Buchkultur ihre scharf demarkierten Inseln der wohlhabenden Viertel Rio de Janeiros, São Paulos und weniger anderer großer Städte.28 Ab den dreißiger Jahren schließlich wächst und diversifiziert sich das Verlagswesen.29 Zweifellos gab es auch schon Ende des 19. Jh. Ansätze einer populären Buchkultur, doch blieb diese aufgrund des insularen Vertriebs und des Rückstands der Schulbildung (1890: 84% Analphabetismus [Ortiz 1995: 28]) wahrscheinlich weitgehend auf Rio de

Der Cinema Novo hat sich, so Paulo Emilio Salles Gomes, zum Ziel gesetzt, die Interessen der Marginalisierten, der ocupados, zu eigen zu machen und so die Störung des „sozialen Gleichgewichts“ zu beseitigen. Aus diesem Grund reflektierte und schuf er das Bild eines anderen (nicht-modernen) Brasiliens des sertão, der favelas, der subúrbios, der gafieiras (Tanzsalons) u.a. Jedoch gelang es dem Cinema Novo nie, zu dem Publikum zu gelangen, für das es sich engagierte, und blieb auf einen intellektuellen, engen Zuschauerkreis beschränkt. Diese wichtigste Schöpferfase des brasilianischen Kinos war jedoch äußerst kurz und wurde durch den zweiten Militärputsch (1968) jäh beendet (Gomes 2000: 32-33). Zu Paulo Emilio und seiner Bedeutung für das brasilianische Kino siehe Paranaguá (2000b). Allerdings verharrt Glauber Rochas „Ästhetik des Hungers“, wie José Carlos Avellar anmerkt, nicht im Rahmen einer naturalistischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Unterentwicklung sondern setzt zu Erkundungen einer Traumdimension an, die der Hunger neben der Verzweiflung eröffnet. Diese Traumdimension setzt sich über die bedrückenden Entbehrungen hinweg und tritt der Realität entgegen (Avellar 2001: 76). 28 Gemeint ist die „Revolution“ des brasilianischen Buchmarktes durch den Schriftsteller und Verleger Monteiro Lobato. Er baute ein landesweites Vertriebsnetz für seine Bücher auf, indem er sie Geschäften aller Art zu sale-or-return-Bedingungen anbot. Er hatte Erfolg, und schon bald errichtete er ein Vertriebsnetz von knapp 2000 Verkaufsstellen (das ist nur etwas mehr als der Stand der französischen Buchkultur hundert Jahre zuvor: 1825 gab es in Frankreich 1586 Buchverkaufsstellen). Lobato baute in der Folge einen eigenen Verlag (Monteiro Lobato & Cia.) auf, in dem er nur brasilianische Werke und vorzugsweise junge Autoren veröffentlichte. Schon 1920 verkaufte der Verlag 4000 Bücher pro Monat, im Jahr darauf kam jede Woche eine neue Ausgabe heraus, 1923 hatte er fast 200 Titel im Angebot. Lobato hatte für das Produkt „Buch“ einen völlig neuen Markt geschaffen. Voraussetzung hierfür war, wie Hallewell schreibt, dass er selbst zuvor dieses Produkt so umgestaltet hatte, dass es auf die Nachfrage seitens neuer Leser treffen konnte. Gemeint ist damit nicht nur die „nationale“ Thematik sondern auch ein „brasilianisierender“ Sprachstil, der in den Dialogen ländliche Oralität simulierte (Hallewell 1982: 176-187 und Simionato 2004). 29 Zwischen 1938 und 1950 vervierfacht sich die Menge der Buchveröffentlichungen, die Anzahl der Verlage verdoppelt sich von 1936 bis 1948 (Ortiz 1995: 43).

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Janeiro beschränkt.30 Daraus leitet sich ab, dass die Überwindung der postkolonialen Grenzen des Buches erst ca. hundert Jahre nach der Unabhängigkeit einsetzte. Das bedeutet, dass sie zeitgleich mit der Einführung des Radios verlief. Die Verwurzelung der Buchkultur in der Gesellschaft geht der Etablierung der elektronischen Massenmedien demnach nicht voraus sondern verläuft parallel zu ihr. Schlussfolgern lässt sich, dass die Audiovision das Zeitalter Gutenbergs in Brasilien nicht ablöst. Sie ergänzen sich im Sinne einer (nachholenden) soziokulturellen Entwicklung und Modernisierung. Ihre Beziehung zueinander wird infolgedessen eine andere sein als in Europa/Nordamerika. Diese Beziehung wird u.a. immer wieder von einer gegenseitigen Angewiesenheit geprägt. In dem Maße jedoch, wie sich die audiovisuellen Medien durchsetzen, verleihen sie der Alphabetisierung einen audiovisuellen Charakter. Noch in der Jahrhundertmitte bleibt die kulturelle und ökonomische Stellung der Typografie weiterhin prekär. Zum ‚Mangel‘ an Theater und Kino kommt die Leerstelle des Buches hinzu, wodurch sich ein Aussageraum des Fernsehens auftut, aus dem sich dieses nur schwerlich wieder zurückziehen wird. In der oben erwähnten Umfrage zur Freizeitgestaltung in São Paulo aus dem Jahr 1952 gaben beispielsweise nur 5,11% der Befragten die Lektüre als bevorzugte Freizeitbeschäftigung an (Simões 1986: 25). Auf den Punkt gebracht, bedeutet dies, dass die ‚Stärke‘ des Fernsehens ohne die ‚Schwäche‘ des Buches und anderer Medien nicht zu verstehen ist. Die Überentwicklung des Fernsehens verdankt sich der Unterentwicklung von Buch, Kino, Theater u.a. Hinzuzufügen wäre, dass die Hochkultur im Bereich der bildenden Künste ebenfalls just in diesem historischen Moment grundlegende institutionelle Strukturen erhält. Die großen Kunstmuseen Brasiliens werden Ende der vierziger Jahre gegründet: das Museo de Arte Moderna de São Paulo (MASP) (1947), das Museo de Arte Moderna (MAM) in Rio de Janeiro oder die Biennale in São Paulo (1951). Bezeichnend ist, dass das MASP von Fernsehgründer und Medienmogul Chateaubriand ins Leben gerufen wurde, das MAM und die Biennale vom Großindustriellen Francisco Matarazzo, der auch hinter der Gründung des Filmstudios Vera Cruz stand (Ortiz 1995: 6669). Zweifellos macht dies die vom industriellen Fortschritt getragene Aufbruchstimmung nach Kriegsende deutlich. Sie legt nahe, wie Ortiz argumentiert, dass die Moderne mit der Expansion eines kulturellen Marktes schließlich – wenn auch verspätet – einsetzt. Aber nicht nur die bereits angesprochene enge Begrenztheit des modernen Fortschritts ist entscheidend. Indem sich diese Medien praktisch gleichzeitig und in demselben konzeptuellen und sogar personellen Kontext der Modernisierung entfalten, findet das Fernsehen zu diesem Zeitpunkt tendenziell kein kritisches Gegenüber sondern eher ein interdependentes Miteinander. Zwar war selbstredend der ästhetische Vorbehalt gegenüber dem Fernsehen von vorneherein groß. Ziembinski ist noch zurückhaltend mit seiner Äußerung, zu Beginn habe niemand (vom Theater) das Fernsehen ernst ge30 Hierbei geht es um den 1879 gegründeten Verlag volksnaher Bücher Livraria do Povo von Pedro Quaresma, der Trivialliteratur aller Art, Kinderbücher, Liederbücher und einzelne ästhetisch anspruchsvolle brasilianische Romane veröffentlichte (Hallewell 1982: 145-146 und Far 2004).

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nommen (Ziembinski 1975: 4). Dias Gomes ist dagegen etwas deutlicher, wenn er davon spricht, dass die Telenovela als „subliteratura, subarte“ galt, von der er selbst zunächst befürchtete, in Werk und Person deformiert zu werden (Gomes 1991: 173-174).31 Gleichzeitig jedoch (bzw. einige Jahre früher) schrieb der Dichter Guilherme de Almeida, der bereits an der Semana de Arte Moderna teilgenommen hatte, in einer Zeitungskolumne im Jahre 1956, manche Produktionen des „teledrama“ oder der Telenovela seien dem Theater und dem Kino in Brasilien weit überlegen. Konkret bezieht er sich auf die „Transposition“ des Romans Calunga von Jorge de Lima in TV de Vanguarda. Er hält sie für so gelungen, dass er meint, das Fernsehen als „Avantgarde-Kunst“ bezeichnen zu können.32 Dies mag eine punktuelle Einzelmeinung sein, die dennoch als symptomatisch für die intermediale Bedingung des Fernsehens erscheint.

5.1.4 D IE S EHNSUCHT NACH BRASILIANISCHER W IRKLICHKEIT : E NTWICKLUNGEN DES F ERNSEHENS 5.1.4.1 Frühphase Frühphase

Wie die vorhergehenden Kapitel zeigen, waren die Ausgangsbedingungen für die Errichtung des Fernsehens in Brasilien, wie übrigens in ganz Lateinamerika, ambivalent: Einerseits gab es, wie bereits angedeutet, bei Aufnahme des regulären Sendebetriebs gerade einmal ein paar Hundert Empfangsgeräte in Brasilien, die Chateaubriand wahrscheinlich selber importiert und an verschiedene Multiplikatoren verteilt hatte. Auch sechs Jahre später überstieg die Anzahl der Geräte nicht eine Viertelmillion (Sinclair 1999: 64). Anderseits machte die Popularität des Radios den enormen kulturellen Bedarf deutlich, der sich aufgrund der postkolonialen Insularität typografischer und anderer technischer Medien ergab. Unter den Bedingungen der aufholenden Modernisierung war das kulturelle und wirtschaftliche Potential des Fernsehens enorm. So erklärt sich, dass das Medium nicht nur in mehreren lateinamerikanischen Ländern sehr schnell eingeführt wurde, sondern auch jeweils mit mehreren Sendern. Nachdem 1951 auch ein Tupi-Sender in Rio de Janeiro gegründet wurde, folgten andere Unternehmen schnell nach. TV Tupi in São Paulo erhielt Konkurrenz durch TV Paulista (1952) und TV Record (1953), in Rio gingen TV Rio (1955) und TV Continental (1959) auf Sendung. Chateaubriand er31 Bei seiner ersten Telenovela, A ponte dos suspiros, scheute sich Dias Gomes beispielsweise, seinen Namen preiszugeben und firmierte mit dem Pseudonym Stella Calderón (Gomes 1991: 174) 32 „Não tenho escrúpulo, acanhamento, vergonha, pudor [...] de confessar que algumas realizações de teledrama ou telenovela, a que tenho assistido, são por enquanto, para mim muito, muitíssimo superiores a tudo o que têm feito o teatro e o cinema nacional [...] A verdade tremenda que encerra violenta a substanciosa história nordestina contado pelo esplêndido Jorge de Lima e inspirados e heróicos responsáveis – todos eles – pela sua realização ante as objetivas da TV, estão a afirmar e provar que já existe, no Brasil, uma arte de vanguarda“ (Guilherme de Almeida zitiert nach Simões 1986: 31).

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richtete in den folgenden Jahren in sieben weiteren Großstädten einen Sender (in Belo Horizonte, Salvador, Recife, Fortaleza, Porto Alegre, Belém und Brasília) (Xavier/Sacchi 2000: 229-238). Auch der Staat plante einen eigenen Sender. Rádio Nacional experimentierte schon 1946 mit Fernsehübertragungen, allerdings autorisierte die Bundesregierung erst zehn Jahre später den Sendebetrieb. Dass dieser jedoch nie zustande kam, könnte – so Maria Federico – mit dem Druck Chateaubriands auf den damaligen Präsidenten Kubitschek in Verbindung stehen. Der Medienmogul wünschte keine staatliche Konkurrenz und drohte mit einer Medienkampagne gegen die Regierung (Federico 1982: 80). Wie in diesem Abschnitt über die Geschichte des Fernsehens in Brasilien und Mexiko zu zeigen ist, wurden zwar technische und auch ökonomische Lösungen sowie Gerätschaften aus den USA eingeführt. Dass das Medium dennoch in diesen (und anderen Ländern) im Grunde neu erfunden werden musste, liegt auch daran, dass sein Dispositiv zu diesem Zeitpunkt nur vage vorstellbar war, was sich wiederum dem Umstand schuldet, dass dieses Dispositiv nicht absolut gegeben ist, sondern sich im Wechselspiel mit anderen Medien-Dispositiven konfiguriert (und immer wieder rekonfiguriert). So wird deutlich, dass Medien nicht schlechthin technisch gegeben sind sondern zudem aus kulturellen Entwicklungen hervorgehen. Ein Fernsehsender hatte zur damaligen Zeit lediglich eine Reichweite von 100 km. Da die einzelnen Sender zunächst nicht untereinander verschaltet waren, sendete jeder einzelne, auch innerhalb der Senderfamilie von Chateaubriand, für sich alleine. Der Staat wiederum sah erst mit der neuen Telekommunikationsgesetzgebung von 1962 die Schaffung staatlicher Behörden zur Regelung und zum Ausbau der Telekommunikation und ihrer Infrastruktur vor, weswegen die TV-Unternehmen in der Anfangsphase auf sich selbst gestellt waren. Ihnen oblag es daher, die Infrastruktur aufzubauen, die für die Errichtung eines networks notwendig ist. Dabei handelt es sich darum, alle 40 bis 50 km einen Übertragungsmasten aufzustellen. Weil sie dazu angesichts der Ausmaße des Landes nicht in der Lage waren, produzierte jeder Sender in dieser Phase sein eigenes Programm. Dazu kommen auch die technischen Voraussetzungen, die die Aufzeichnung von Fernsehproduktionen und ihre Weitergabe erschwerten bzw. unmöglich machten. Das Videoband kam im brasilianischen Fernsehen erst Anfang der sechziger Jahre zum Einsatz.33 In der Folge sendete das brasilianische Fernsehen in den ersten zehn Jahren fast immer live. Es war daher in dieser Zeit ein lokales Medium, das 33 Das Videoband wurde 1956 von CBS eingeführt und diente von vorne herein zwei Funktionen: Zum Einen erweiterte es die televisuelle Erzähltechnik nach dem Vorbild des Films. So bestand eine der ersten Sendungen, in denen das videotape eingesetzt wurde, darin, dass sich ein Komiker live mit seinem zuvor auf Band aufgenommenen Ebenbild unterhält und beide Bilder mit dem Effekt überblendet werden, die Person stünde sich selbst gegenüber. Dabei handelt es sich um eine beliebte Spielerei, die bald auch im brasilianischen Fernsehen Eingang erhielt (in der jahrzehntelang ausgestrahlten Sendung Chico Anysio Show). Zum Anderen ging es den US-Sendern darum, in ihrem network die Zeitverschiebungen zu berücksichtigen, was eine Aufzeichnungs- und Vervielfältigungstechnik zur Voraussetzung hatte, die es erlaubte, eine Sendung im gesamten Sendenetz nicht nur gleichzeitig, also live, auszustrahlen, sondern je zur gleichen Uhrzeit (Xavier/Sacchi 2000: 123-126).

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als Nahsehen sein teletechnisches Potential erstaunlich lange nicht zu entfalten vermochte. In vielerlei Hinsicht springt der experimentelle Charakter des Fernsehens in dieser Frühphase ins Auge, in der nach einem televisuellen Dispositv gesucht wird. Die Television blieb in ihren Möglichkeiten vorerst auf LiveÜbertragung in engem Senderadius beschränkt. So verfügte das Medienimperium Diários e Emissoras Associados als einziges Unternehmen über mehrere TV-Sender, dazu in den wichtigsten urbanen Zentren. Es übte in den fünfziger Jahren eine unangefochtene Dominanz aus. Jedoch war es nicht in der Lage, aus diesen Sendern einen Verbund bzw. ein Sendenetz zu formen. So kam den einzelnen Sendern eine Selbständigkeit zu, die sich bereits in ihrer Namensgebung ankündigt. So führten nur die Sender in São Paulo und Rio de Janeiro den Namen „Tupi“. Der zur Gruppe gehörende Sender in Belo Horizonte hieß TV Itacolomi,34 der in Salvador TV Itapoan (nach dem an die Stadt angrenzenden Strand), der in Recife TV Rádio Clube de Recife, der in Fortaleza TV Ceará, der in Belém TV Marajoara, der in Porto Alegre Piratini und der in Brasília TV Brasília (Xavier/Sacchi 2000: 230). Daraus folgt, dass nicht einmal das indigenistische Motiv in der Namensgebung der einzelnen Sender beibehalten wurde, was nur teilweise auf die Anknüpfung des neuen Mediums an das ebenso lokale Radio zurückgeht. Der Gründung dieser Senderfamilie lag ein einheitliches Sendekonzept offensichtlich nicht zugrunde. So überrascht nicht, dass sich die Sender nicht konsequent aufeinander abstimmten. Zwar wurden einzelne Sendungen (v.a. Shows und Telenovelas) von einem Sender auf die anderen übertragen, ausgehend von den Hauptsendern in Rio und São Paulo, von wo aufgrund der sehr viel besseren Ausstattung der Sender die Entwicklung ausging. Dies bedeutete aber, dass die betreffenden Sendungen jeweils vor Ort neu produziert werden mussten. Dann wurden sie häufig den örtlichen Gegebenheiten angepasst, manchmal auch mit Abänderung des Namens der Sendung (Simões 1986: 77). Die Drehbücher von Telenovelas wurden beispielsweise in Rio de Janeiro oder São Paulo geschrieben und dann an verschiedene Sender im Land verschickt, die sie dann mit ihren eigenen Schauspielern umsetzten (Menezes 1991: 80).35 34 Eigentlich sollte er TV Rádio Guarani heißen, in Übereinstimmung mit dem vorgängigen Radiosender der Gruppe in Belo Horizonte, Rádio Guarani, der die TV-Sendelizenz erhalten hatte. Chateaubriand entschied sich jedoch für den Namen des Berges Itacolomi, der Belo Horizonte überragt (Xavier/Sacchi 2000: 235). 35 Régis Cardoso führt auch den bairrismo (Lokalpatriotismus) in São Paulo bzw. Rio de Janeiro als Motiv dafür an, dass ein und dasselbe Drehbuch von Sendern in beiden Städten mit Schauspielern dieser Städte je neu besetzt wurde. „Klar, da gab es auch Fragen des Lokalpatriotismus, des Akzents, diesen Blödsinn, der gewöhnlich die Rivalität anstachelt. São Paulo akzeptierte die Sprechweise des carioca nicht besonders gut, das »S« und das »R« besonders zu betonen. Und der carioca nahm das halbwegs italienische Ding des paulistano nicht an, der das »S« der Pluralendungen verschluckt“ („Claro, havia também questões bairristas, de sotaque, essas bobagens que costumam acirrar a rivalidade. São Paulo não aceitava muito bem esse jeito do carioca falar, de carregar nos esses e erres. Nem o carioca aceitava aquela coisa meio italiana do paulistano, que costuma comer os »s« das palavras no plural“ [Régis Cardoso 2001: 298]).

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Auch kam es vor, dass einzelne TV-Anstalten Sendungen anderer Unternehmen übernahmen. Ein bekannter Fall ist die Telenovela Direito de nascer, ein kubanischer Klassiker der Radionovela (1946), der in den fünfziger Jahren zwei Mal im brasilianischen Radio produziert wurde (von Rádio Tupi in São Paulo und von Rádio Nacional in Rio de Janeiro). Die Telenovela wurde von TV Tupi in São Paulo produziert und von Dezember 1964 bis August 1965 ausgestrahlt. Sie war der erste Riesenerfolg des Genres und ebnete den Weg zu seiner Hegemonie im Fernsehen.36 José Bonifácio de Oliveira Sobrinho (Boni) erklärt in einem Interview, er habe die Rechte an der Serie zusammen mit Walter Clark in ihrer Zeit bei TV Rio erworben, ohne dort aber über Möglichkeiten zu verfügen, sie zu produzieren. Ihr Partnersender TV Record in São Paulo aber weigerte sich. Also schlossen sie ein Abkommen mit TV Tupi in São Paulo, d.h. mit einem Vertreter eines Konkurrenzunternehmens. Dieser willigte ein, produzierte die Telenovela und strahlte sie dort aus. In Rio allerdings musste er sie TV Rio überlassen und durfte sie nicht TV Tupi Rio de Janeiro zur Verfügung stellen (Sobrinho 2001: 48). Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Verfassung der Fernsehunternehmen, die nicht nach dem Modell eines Senderverbundes organisiert sind sondern auf der Grundlage von Lokalinteressen. Zwar wurden die Tupi-Sender von Rio de Janeiro und São Paulo in den fünfziger Jahren technisch miteinander verbunden, dennoch bewahrten sie ihre Eigenständigkeit.37 Tatsächlich tobte innerhalb der Associadas ein Machtkampf zwischen den Niederlassungen in Rio und in São Paulo (Simões 1986: 75).38 TV Record in São Paulo und TV Rio bildeten zwar die Rede de Emissoras Independentes (REI) und bauten 1959 eine Mikrowellenverbindung zwischen beiden Sendern auf, die zur zeitgleichen Ausstrahlung einzelner Sendungen genutzt wurde. Noch vor dem Start von TV Rio 1955 entstanden jedoch Divergenzen zwischen beiden verwandten Familien, in deren Besitz sich TV Record und TV Rio befanden. Daraufhin teilten sich die Eigentümer die Sender unter sich auf. Der Fall von Direito de nascer macht deutlich, dass die Anstalten trotz ihrer zunehmenden technischen Verschaltung nur punktuell zusammengingen (Xavier/Sacchi 2000: 231-235 und Costa 1986: 127130). TV Tupi bildete erst 1974 ein network mit einer programação nacional (Simões 1986: 96). Zu diesem Zeitpunkt lag das Unternehmen bereits weit abgeschlagen hinter TV Globo. Dieser Sender startete erst 1965, baute jedoch 36 Die öffentliche Abschlussveranstaltung außerhalb der Studios wird von den Chronisten gerne als „kollektive Neurose“ u.ä. beschrieben (Fernandes 1994: 50). 37 Wie schwierig es war, in der Frühphase die Verbindung Rio-São Paulo über die Sendemasten tatsächlich herzustellen, beschreibt Aracy Menezes. Der link war nicht per Knopfdruck herzustellen sondern bedurfte einer Vorbereitungszeit von einer Woche, um die Sendemasten alle in Funktionsbereitschaft zu versetzen, und die im Anschluss bewacht werden mussten. Rede war also nur für „besondere Fälle“ herzustellen (Menezes 1991: 80-81). 38 In bezug auf das Verhältnis von TV Tupi in Rio und in São Paulo schreibt Álvaro de Moya, der zu dieser Zeit in einer leitenden Position bei TV Excelsior war: „Sie taten sich nicht zusammen, denn sie machten sich gegenseitig das Imperium von Assis Chateaubriand streitig“ („Não se uniam, pois disputavam o império de Assis Chateaubriand“) (Moya 2000: 30).

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zielstrebig und schnell ein Sendenetz auf, das er schon 1969 in Betrieb nahm. Dass das brasilianische Fernsehen also fast zwanzig Jahre benötigte, um networks zu errichten, unterscheidet es vom Fernsehen in Mexiko, wo die Bildung von Sendenetzwerken von Anfang an zielstrebig verfolgt wurde. Dazu trug die Rivalität der beiden Pole Rio und São Paulo bei, die der Zentralisierung des Sendebetriebs durch eine Anstalt entgegenwirkte. Daher waren es nicht nur technische Hindernisse, die der Zentralisierung von Produktion und Ausstrahlung des Programms entgegenstanden. Offensichtlich konnte sich das brasilianische Fernsehen in den ersten eineinhalb Jahrzehnten nicht vom Funktionsmodus des brasilianischen Radios trennen, das sich nicht vernetzte sondern aus der Summe lokaler Einzelsender zusammensetzte. Die Gründung eines überregionalen Netzwerks besagt jedoch nur die simultane Ausstrahlung eines einzigen Programms durch eine Vielzahl von Sendestationen. Wie zu zeigen sein wird, ist diese Gleichzeitigkeit zwar entscheidend für die Tele-ImagiNation der nationalen Gemeinschaft. Die televisuelle Überwindung von Distanzen und der Austausch bewegter Bilder über den Senderadius und die Achse Rio-São Paulo hinaus wurde jedoch schon zu Beginn der sechziger Jahre durch das Verschicken von Videobändern ermöglicht. Ein einheitliches Programm ist jedoch noch kein nationales. Im Gegenteil wurde die „Brasilianität“ der Sendungen erst durch die videotapes zum Problem, die nämlich den Programmimport fast ausschließlich aus den USA einleiteten. Zuvor waren Prestigesendungen wie die bereits erwähnten teleteatros immer wieder um die Umsetzung brasilianischer Werke bemüht. Auch live ausgestrahlte Telenovelas, die damals über kein Prestige verfügten, griffen vereinzelt brasilianische Themen und Probleme auf. Aber diese „brasilianische“ Entwicklung war, wie zu zeigen ist, weder ungebrochen noch zielstrebig. Das erste Jahrzehnt war zwar vom Nahsehen geprägt, aber ebenso von regionaler Vielfalt und Differenz, da vor dem tape jeder Sender sein eigenes Produktionszentrum war. Menezes verweist darauf, dass allein im Sender Tupi in Rio de Janeiro damals ein Ensemble von 300 bis 400 Schauspielern beschäftigt war. Dazu kamen Autoren, Regisseure, Produzenten und Techniker. Die Einführung des Videobandes bereitete dem jedoch schnell ein Ende. Ein Videoband brauchte man nur noch zu senden, es kam fertig enlatado, und „nun begannen die Massenentlassungen“ (83). Es förderte den Ausbau des Programms, stoppte aber dessen „brasilianische“ Ansätze. Die Produktionsbedingungen in dieser Zeit waren aufgrund der chronischen Unterfinanzierung der Sender immer prekär. Dazu trug die Enge des Marktes bei, aber auch häufig ein Management, das sich über das Medium nicht ganz im Klaren war. So ermangelte es den meisten Sendern an langfristigen Strategien, die über die schnelle Gewinnerzielung hinausgingen, oder an der Konsequenz, sie umzusetzen. Daraus folgten häufige Krisen, die u.a. dazu führten, dass von den Sendern aus den fünfziger und sechziger Jahren lediglich TV Record (nach mehrfachem Besitzerwechsel), TV Globo und TV Bandeirantes (gegründet 1967) noch gegenwärtig in Betrieb sind.39 39 Oftmals wurden die Sender im Gutsherrenstil geführt. So erhielten die Angestellten von TV Tupi immer wieder monatelang kein Gehalt, weil der Sender nicht liquide war. In einem Fall war der Tupi-Sender in Rio de Janeiro sechs Monate mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. Als sie schließlich ausgezahlt werden sollten, erschien Chateaubriand in der Zahlstelle und nahm das gesamte Geld mit, um damit ein

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5.1.4.2 Die Konstitution des Programmdispositivs

Anfang bis Mitte der sechziger Jahre wird das Fernsehen in Brasilien praktisch neu erfunden. Diese zweite Phase in der Entwicklung des Mediums wird zunächst durch die Einführung des „videoteipe“ initiiert. Wie bereits angedeutet, verlässt das Fernsehen dadurch den lokalen Wirkungsrahmen. Das bedeutet, das sich die TV-Produktion zunehmend auf die Achse Rio – São Paulo konzentriert, von wo aus die Bänder an die verschiedenen Sender in Brasilien verschickt werden. Aufgrund der technischen und finanziellen Überlegenheit der TV-Anstalten im Südosten ist kaum von einem überregionalen, gegenseitigen Austausch auszugehen. Dennoch bleibt den Sendern außerhalb dieser „Achse“ ein breiter Spielraum, da sie für ihr Programm selbst verantwortlich sind und nur einzelne Sendesegmente aus Rio/São Paulo übernehmen. Die Ära des Videobandes bedeutet jedoch auch, dass der Programmimport aus dem Ausland, d.h. aus den USA, zum beherrschenden Thema wird. Zum Einen senken die enlatados, wie bereits angemerkt, dramatisch die Kosten. Zum Anderen nehmen sich die US-networks in den sechziger Jahren vor, angesichts einer sich abzeichnenden Sättigung des Binnenmarktes im Ausland zu expandieren. Insbesondere Lateinamerika erscheint ihnen nun als interessanter Markt, den sie zuvor noch als nicht tragfähig für das Medium erachtet hatten. Treibende Kraft hinter der Expansion des US-Fernsehens sind transnationale Industrieunternehmen, die sich nun verstärkt in Lateinamerika niederlassen und dort Kapitalgüter produzieren. Ihnen folgen die großen US-amerikanischen Werbeagenturen, die Interesse an einem televisuellen Werbemedium hatten.40 Daher nahm sich beispielsweise das network ABC vor, ein „transnationales Medium für transnationale Werbekunden“ aufzubauen (Sinclair 1999: 15). Zunächst werden Niederlassungen in Mittel-

Smaragdgeschmeide zu bezahlen, das er später der Königin Elisabeth von England anlässlich ihrer Krönung schenkte, was ihm den Posten als Botschafter in London einbrachte (Lorêdo 2000: 34). Nachdem Chateaubriand 1960 schwer erkrankte, überließ er 1962 das Unternehmen 22 leitenden Angestellten einschließlich zweier Söhne (das sog. Condomínio Associado). Wie bereits angedeutet, rivalisierten im Condomínio jedoch die paulistas gegen die cariocas. Das Medienimperium geriet in den Sog interner Streitigkeiten und geriet von einer Krise in die andere. Ende der siebziger Jahre führten ausbleibende Gehaltszahlungen zu Streiks, bis die Regierung 1980 schließlich die Lizenz entzog und den Fernsehbetrieb einstellte (Simões 1986: 48-120). 40 Ortiz verweist darauf, dass die US-amerikanischen Werbeagenturen erst in den sechziger Jahren in großem Stil international expandierten, dann aber den internationalen Werbemarkt dominierten. Dies bezieht sich nicht nur auf Brasilien oder Lateinamerika sondern erscheint als globales Phänomen. Engagierten sich von 1915 bis 1959 insgesamt 50 US-Agenturen im Ausland, waren es zwischen 1960 und 1971 schon 210. Agenturen wie W. Thompson oder McCann-Erikson – die übrigens schon seit den dreißiger Jahren in Brasilien aktiv waren – erwirtschafteten gar mehr als die Hälfte ihres Umsatzes im Ausland (Ortiz 1995: 195-196). Dies zeigt den ungeheuren, globalen Expansionsschub der US-Industrie ab den sechziger Jahren und zugleich auch die Verknüpfung dieses ‚Imperiums‘ mit dem Fernsehen, mit dessen Hilfe sich die US-Industrieprodukte den Käufern aufdrängten.

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amerika gegründet. Auch die anderen beiden großen US-Fernsehunternehmen, NBC und CBS, engagieren sich in Lateinamerika. Dort wächst der Markt nun im Zuge der bereits erwähnten sog. zweiten Industrialisierungsphase. Der desenvolvimentismo der Regierung Kubitschek förderte konsequent inländische sowie ausländische Investitionen und unterstützte die Wirtschaftsentwicklung durch staatliche Investitionen. Die Schlüsselindustrie ist hierbei die Automobilindustrie, die 1955 praktisch bei null anfing und 1960 bereits über 130.000 Fahrzeuge produzierte (Pereira 1987: 42-51). Ähnliche Wachstumsraten verzeichnet auch die Elektroindustrie. Seit Mitte der fünfziger Jahre verdoppeln sich jährlich die Verkaufszahlen von Fernsehgeräten. Allein 1960 werden 200.000 Geräte verkauft. In diesem Jahr gab es über 620.000 Fernseher in Brasilien (Xavier/Sacchi 2000: 164 und Simões 1986: 62). Daraus entsteht ein Millionenpublikum, wenn man davon ausgeht, dass das Fernsehen sein Privat-Dispositiv noch nicht voll entwickelt hat und halb öffentlich, halb im trauten Kreise rezipiert wurde. Die Anzahl der Empfangsgeräte ist also für einen Rückschluss auf das Publikum um ein Vielfaches zu multiplizieren. Nicht nur die Familienmitglieder sondern auch die televizinhos sind mit einbeziehen, Nachbarn und Freunde, die sich um ein Gerät herum versammeln und aus der TV-Rezeption eine Gemeinschaftserfahrung machen.41 Für die in- und ausländischen Unternehmen jedenfalls bedeuten die steigenden Gerätezahlen die Entstehung eines interessanten Marktes mit großem Potential. Nicht von ungefähr erhält die Telekommunikation 1962 in Brasilien, wie schon erwähnt, eine umfassende, neue gesetzliche Regelung, die nun erstmals auch das Fernsehen einschließt. Das Gesetz kennzeichnet sich durch eine intensive Lobbyarbeit seitens des just zu diesem Zeitpunkt gegründeten Interessenverband der Rundfunkunternehmer (ABERT). Dieser Lobbygruppe gelang es, die Pläne des linksliberalen Präsidenten João Goulart (1962-1964) zu durchkreuzen, die Rundfunklizenzen an kürzere Laufzeiten (drei Jahre) zu binden. Stattdessen schrieb der Kongress langfristige Garantien (fünfzehn Jahre) fest und setzte sich hierzu über insgesamt 52 Vetos des Präsidenten hinweg. Der Código brasileiro de telecomunicações verstärkte die nationalistische Tendenz des Vorgängergesetzes, Lizenzen bevorzugt an Bewerber zu vergeben, die sich zu einem nationalen Sendeprogramm verpflichten. Es untersagte ausdrücklich joint ventures zwischen brasilianischen und ausländischen Rundfunkunternehmen (Simões 1986: 66-67, Caparelli/Santos 2002: 69-70 und Fox 1997: 56-57). Bemerkenswert ist, dass ABERT diesen Passus nicht streichen ließ. Den Rundfunkunternehmern, die sich bisher ohne USEngagement etabliert hatten, war offensichtlich daran gelegen, US-amerikanische Konkurrenz im Heimatmarkt zu verhindern. Anlass zur Sorge gab es, denn im selben Jahr wurde ein folgenschwerer Vertrag zwischen dem Medienkonzern Time-Life und Roberto Marinho zum Aufbau eines neuen Fernsehkanals geschlossen. Marinho, der über Printmedien und Radiosender verfügte, hatte Anfang der fünfziger Jahre eine TVLizenz beantragt und sie 1957 erhalten. In der Folge bekam er nicht nur von Time-Life ein Angebot zur Zusammenarbeit sondern auch von NBC, das er

41 Zu den „Tele-Nachbarn“ siehe Simões (1986: 27-28).

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jedoch ausschlug (Herz 1987: 94).42 Als Ergebnis des joint venture entstand der Sender TV Globo, der 1965 seinen Betrieb aufnahm. Time-Life überwies insgesamt ca. sechs Millionen Dollar an Globo und unterstützte den Sender darüber hinaus umfassend in den Bereichen Technik, Verwaltung, Programm, Werbung, Ausbildung und Training des Personals u.a. Globo wurde zudem ein Finanzmanager zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug sollte TimeLife 45% des erwirtschafteten Gewinns und 3% des Umsatzes des Senders erhalten. Der Vertrag war auf eine erneuerbare Dauer von zehn Jahren ab Betriebsaufnahme ausgerichtet (Herz 1987: 193-198 und Kehl 1986: 180182). Die Partnerschaft Globo-Time-Life – „o escândalo Time-Life“ – war und ist immer noch Gegenstand heftiger Debatten.43 Sie führte 1966 sogar zu einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, denn sie verstieß offensichtlich gegen das frisch verabschiedete Telekommunikationsgesetz. Dieser Untersuchungsausschuss wurde maßgeblich auf Betreiben des Abgeordneten João Calmon eingesetzt. Calmon erklärte sich in einer Kongressrede als zur Speerspitze im „Kampf ohne Waffenstillstand gegen die schlechten Brasilianer, die Rundfunkkanäle entfremden wollen, die der Regierung und dem Volk gehören, und die nicht dem ausländischen Kapital dienen dürfen.“44 Calmon mag, wie er behauptet, ein „authentischer Nationalist“ gewesen sein (zitiert nach Simões 1986: 74) – er war jedoch als herausragendes Mitglied des Condomínio der Associados auch ein Interessenvertreter der Konkurrenz, die durch das neue Unternehmen viel zu verlieren hatte (und auch viel verlor). Auf Globo, den „escândalo Time-Life“ und die Affinität zur Militärregierung wird noch zurückzukommen sein. Vorerst soll an dem Fall und an der erfolgreichen Lobbyarbeit der Medienunternehmer im Gesetzgebungsverfahren veranschaulicht werden, wie sehr das Fernsehen nun zu einem Politikum wurde, noch bevor es als Massenmedium die Öffentlichkeit beherrschte. Nicht nur blieb es mit dem neuen Gesetz durch das Lizenzverfahren unmittelbar an die Bundesregierung gebunden, war also weder an untergeordnete staatliche Regulierungsbehörden noch an das Parlament verwiesen. Die Abhängigkeit von der Regierung wurde als zentrales Merkmal des Mediums bestätigt. Auch betrieb es selber Politik und war u.U. in der Lage, sich über den Präsidenten selbst hinwegzusetzen, was auch der Fall des geplanten 42 Die US-amerikanischen Medienunternehmen waren Anfang der sechziger Jahre aktiv auf der Suche nach einheimischen Partnern für Investitionen in Brasilien. So wurde beispielsweise auch Júlio de Mesquita Filho, der Inhaber der Tageszeitung O Estado de São Paulo von Time-Life angesprochen, ging jedoch nicht auf das Gesuch ein (Herz 1987: 93). 43 Daniel Herz beispielsweise arbeitet in A história secreta da Rede Globo den gesamten Skandal kritisch auf. Davon ausgehend, versucht er die „unsichtbaren“ politischen Machenschaften der „Bewusstseinsfabrik“ Globo bzw. ihren „verborgenen Sinn“ aufzudecken, hinter denen der Machtwille des Medienunternehmers Roberto Marinho steht (Herz 1987: 14-15). 44 „Em face dessa grave ameaça [...] não hesitarei um momento. Desta tribuna e através do rádio e da televisão, vou empenhar-me numa luta sem tréguas contra os maus brasileiros, que estão querendo alienar canais que pertencem ao Governo e ao povo e que não podem estar a serviço de capitais alienígenas“ (zitiert nach Simões 1986: 71).

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staatlichen TV-Senders zeigt, dessen Inbetriebnahme Chateaubriand zu verhindern wusste. Goulart unterlag in dem genannten Gesetzgebungsverfahren mit seinem Ansinnen, die Sender durch die Lizenzen stärker unter politische Kontrolle zu bringen. ABERT bildete eine aktive Opposition gegen seine Regierung und bejubelte den Putsch durch die Militärs 1964. Die Associados betrieben sogar eine antikommunistische Kampagne gegen die Regierung Goulart (Simões 1986: 67, 56). In ihrer Interessensgemeinschaft mit den Militärs jedenfalls unterschieden sich die Associados nicht wesentlich von ihrem neuen Rivalen TV Globo. Eine Ausnahme bildete TV Excelsior. TV Excelsior ging 1960 auf Sendung und gehörte Mário Wallace Simonsen, einem der damals reichsten Männer Brasiliens Er gebot über ein riesiges Firmenimperium, über die Fluggesellschaft Panair und über das größte Kaffeeexportunternehmen des Landes, Comal. Im Gegensatz also zu den meisten anderen TV-Unternehmern war Simonsen ursprünglich kein Medienunternehmer sondern ein weltweit agierender Geschäftsmann. Er stieß erst durch Vermittlung eines Geschäftspartners auf die Gelegenheit, gemeinsam mit weiteren Interessenten Rádio Excelsior in São Paulo zu übernehmen. Der Radiosender verfügte über eine TV-Lizenz. Noch im Jahr der Gründung des Fernsehsenders übernahm Simonsen alle Anteile daran (Xavier/Sacchi 2000: 238). Von Anfang an unterschied sich TV Excelsior von den bisherigen Fernsehanstalten durch seine konsequente Ausrichtung an einer langfristigen Strategie für das Medium. Mit dem gewaltigen Firmenimperium im Rücken besaß der Sender hierzu über die Bereitschaft und die betriebswirtschaftliche Disziplin, nicht auf den schnellen Gewinn hinzuarbeiten. Vor allem verfügte er über die Mittel, die hohen Investitionen zu tätigen. Bei TV Excelsior waren die Gehälter höher als bei allen anderen Sendern. So konnte die Anstalt die besten Kräfte für sich gewinnen. Überhaupt brach der Sender das sogenannte „convênio“ unter den Medienunternehmern, eine Art gentleman agreement, sich nicht gegenseitig das Personal abzuwerben. Dieser „convênio“ sah vor, dass das Personal nur bei einer Anstalt arbeiten konnte. Wurde ein Mitarbeiter entlassen oder kündigte, wurde er auch von anderen Unternehmen nicht mehr eingestellt. TV Excelsior brach mit diesem patriarchalischen Gebaren. Zudem machte der Sender gezielt und wirksam Werbung für sich und sein Programm und trat dabei als erster Sender mit einem eigenen Slogan auf. Der Sender setzte auch erstmals im brasilianischen Fernsehen Werbejingles ein und verzichtete auf die garotas-propaganda, die Damen, die bis dato jedes beliebige Produkt anpriesen (Costa 1986: 159, 165). Damit visualisierte er die Werbebotschaft, statt sie durch die garotas-propaganda zu verbalisieren, und passte die Aussagen des Mediums an dessen performatives Potential an. Vor allem aber verstand TV Excelsior das Programmdispositiv des Mediums. Aus der Tatsache, dass das Programm aus einem Fluss von einzelnen Segmenten besteht, zog der Sender frühzeitiger als seine Mitbewerber Schlussfolgerungen, die darauf abzielten, das Fernsehen als Gewohnheit im Alltag der Rezipienten zu verankern. Der Sender führte als erster ein vertikal und horizontal strukturiertes Programmgitter ein (Costa 1986: 160-161). Das bedeutet, dass der Tagesablauf des Programms, d.h. die Abfolge eines Sendesegmentes bzw. Genres fest vorgegeben ist. Sie wiederholt sich am Folgetag. So wird ein Sendesegment nicht durch das anschließende fortgesetzt sondern 147

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durch die am nächsten Tag gesendete Folge auf demselben Programmplatz. Das Programm erweist sich als grundsätzliche Serialisierung der Sendesegmente auch dann, wenn diese aus in sich abgeschlossenen Einzelerzählungen bestehen, wie etwa Filme (dokumentarischer oder fiktionaler Art). Denn die serielle Fortsetzung am Folgetag (oder in der Folgewoche) knüpft nicht an der einzelnen Aussage an, sondern an ihrem generischen Kontext. Cinema em casa beispielsweise war ein Programmplatz am Abend (22 Uhr), an dem, wie der Titel besagt, Filme ausgestrahlt wurden. Nicht der Einzelfilm wurde (und wird seitdem) serialisiert sondern der Film als Gattung. Das (Tages-)Programm gestaltete sich somit als zeitliche Schichtung von Gattungen, die zumindest werktags nicht variierte. D.h. dass sich diese Genresequenz werktäglich wiederholte und zur selben Uhrzeit auf dem selben Sender immer die selbe Gattung bzw. die selbe Serie lief. Bei TV Excelsior begann das Tagesprogramm invariant mit Kindersendungen, gefolgt von einer Telenovela, gefolgt von Nachrichten, gefolgt von einer Show, gefolgt von einem Film. Voraussetzung für die konsequente Einhaltung eines solchen Programmgitters war die Verfügbarkeit der Sendesegmente, die durch Live-Übertragung kaum sichergestellt werden konnte und daher auf Speicherformen wie das Videoband angewiesen war. Das Programmgitter als beständig wiederkehrende Abfolge von Gattungen bzw. Serien passt sich dem Tagesablauf der Zuschauer an und geht dazu über, jenen auf das Programm abzustimmen. Die Verlässlichkeit des Sendeablaufs bildet wichtige Voraussetzungen, das Programm oder zumindest bestimmte Segmente zum festen Bestandteil eines in seiner Zeitstruktur ebenso invarianten Freizeitverhalten der Menschen zu machen und sie in habituierte Zuschauer zu verwandeln: Vom Standpunkt der Hausfrau ging es darum zu wissen, dass es jeden Tag um acht Uhr abends eine Telenovela gab [...] das ist wie jeden Tag das Essen kochen müssen, jeden Tag das Kind in die Schule bringen müssen. Dieser Sachverhalt war es also, der Horizontalität in das Programm brachte, d.h. in das Programm von Montag bis Freitag.45

Das Zitat stammt von Álvaro de Moya, dem künstlerischen Leiter des Senders, und gibt nicht zuletzt den Zwangscharakter des Zeitgitters zu erkennen, das menschliche Tätigkeiten anordnet. Das Fernsehen, mit anderen Worten, ist dann kein schlichtes Fenster mehr, das Zugang zu Entferntem herstellt. Es ist Tagesablauf des Zuschauers. Es saugt Aufmerksamkeit bzw. Zeit der Zuschauer an. Es saugt zumindest einen bestimmten Abschnitt des Tagesablaufes an, zumindest partiell (d.h. in Konkurrenz zu anderen Aufmerksamkeitswerber). Im Zeitgitter erwächst das Dispositiv, das die vielbeschworene Macht des Mediums über die Menschen ausübt. Von nun an richtet sich das Fernsehen nicht mehr primär darauf aus, Inhalte zu übertragen, die Interesse wecken oder nicht. Nun schickt es sich an, einen Teil des Tagesablaufs – d.h. vorzugsweise die abendliche Freizeit – der Menschen dauerhaft zu besetzen 45 „Do ponto de vista da dona de casa ela sabia que todo dia às 8 horas da noite tinha novela [...] é como todo dia ter que fazer almoço, todo dia ter que levar a criança para a escola. Então, esse tipo de coisa foi que deu horizontalidade à programação, quer dizer, programação de segunda à sexta“ (Álvaro de Moya, zitiert nach Costa 1986: 161).

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(und darüber hinaus noch mehr Zeit anzusaugen). Die Macht des Fernsehens entfaltet sich in der An/Ordnung der Menschen zum allabendlichen Empfang von Inhalten. Dabei ist nicht entscheidend, was mit den Inhalten passiert. Das Medium überträgt – es überzeugt nicht, sondern es fesselt. Es begnügt sich mit der Aufmerksamkeit, die es gewinnt und mit der Zeit, die es von anderen Beschäftigungen des Menschen abzieht. Es überträgt immer und vergittert den ‚freien‘ Tagesablauf der Menschen. TV Excelsior hat dieses televisuelle Dispositiv in Brasilien weitgehend entwickelt. Der Erfolg des Senders hat dieses Dispositiv konsolidiert: Bereits sechs Monate nach Einführung des Programmgitters war der Sender Quotenführer auf dem umkämpften Markt in São Paulo (Costa 1986: 160). Freilich hat TV Excelsior das Modell des Programmgitters nicht erfunden sondern vom US-amerikanischen und argentinischen Fernsehen übernommen (ibidem). Aber der Sender hat es stringent umgesetzt und wurde auf diese Weise selbst modellbildend für das brasilianische Fernsehen. Denn perfektioniert wurde es später von TV Globo, deren Topmanager Walter Clark den Schlüssel zum Erfolg des Senders in der Habituierung der Zuschauer sah: Ein hoher Produktionsaufwand bei einer Sendung binde nicht zwangsläufig ein großes Publikum, sondern die Gewohnheit: „Publikum ist Gewohnheit“.46 Die „Gewohnheit“ der TV-Schau, d.h. die dauerhafte Fesselung des Zuschauers an den Bildschirm verlangt selbstverständlich Inhalte (also Gattungen). Wie schon angedeutet, serialisiert das Programmgitter die Inhalte. Das bedeutet, dass das Fernsehen seine Inhalte in Segmente zerstückelt. Im Programmfluss folgt ein Inhaltssegment auf das nächste. Anknüpfungen sind meist nicht nötig, da das Medium mit der körperlichen Schwerkraft auf dem Sofa rechnen kann. Im Programmgitter dagegen knüpft auf derselben Zeitschiene tages- oder wochenversetzt ein Inhaltssegment an das andere an. Nachrichtensendungen eignen sich besonders zu diesem Zweck, denn ihre Erzählung setzt sich endlos fort mit immer neuen Informationen. Im Bereich der Fiktion bietet sich insbesondere die Telenovela an, denn der Fortsetzungscharakter der Gattung kommt – wie schon die Radionovela beim Radio und der Feuilletonroman bei der Zeitung – dem täglichen Übertragungsmodus des Mediums entgegen. TV Excelsior machte aus der Telenovela, die bislang zwei bis drei Mal wöchentlich ausgestrahlt wurde, eine tägliche Serie. Das Genre, das bereits Anfang der fünfziger Jahre Programmbestandteil war, aber hinter den Prestigesendungen wie den teleteatros und den Erfolgsproduktionen wie den Shows zurückstand, wurde nun zu einer der wichtigsten Grundlagen des Programms. An der Radionovela anlehnend, bestand die Telenovela zunächst aus relativ kurzen Erzählungen, die lediglich einen Monat liefen. Später wuchsen sie bis auf ca. dreißig Kapitel an. Zudem wurde das Genre meist am frühen Nachmittag ausgestrahlt, sprach daher ein spezifisches Hausfrauenpublikum an (vgl. Levy 1991: 112). Das Genre blieb in den fünfziger Jahren, wie der TV-Regisseur Walter Avancini erinnert, immer hinter den Erwartungen zurück. Es konnte, wie er ausführt, kein Publikum binden, da eine Serie,

46 „Eu nunca acreditei que o programa caro é o programa bom. Talvez um programa caro acabe sendo bom. Mas não é isso que faz audiência em televisão. Audiência é hábito“ (Clark 1980: 32).

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wie angedeutet, nur zwei bis drei Mal wöchentlich lief. Die Investitionen seitens der Sender waren gering, sie konzentrierten sich auf andere Genres.47 TV Excelsior dagegen orientierte sich am argentinischen Modell und führte die „horizontale Telenovela“ ein, die diesen Rahmen sprengte (Avancini 1991: 148). Vom argentinischen Telenovela-Autor Alberto Migré stammt die Vorlage der ersten telenovela diária in Brasilien. 2-5499 ocupado, so hieß die Serie, wurde von Mitte Juli bis Ende September 1963 ausgestrahlt (Fernandes 1994: 39). Damit kommt sie insgesamt auf ca. 50 Kapitel. Mit dem videotape kann nun im Voraus produziert werden, was die technischen Voraussetzungen dafür schafft, das Genre nicht nur täglich im Programm zu platzieren sondern ihr Erzählvolumen auch zu vervielfachen. Eine Telenovela des Senders, Redenção, hält in diesem Sinne bis heute alle brasilianischen Rekorde und kam auf 596 Kapitel. Die Serie wurde zwei Jahre lang gesendet, von 1966 bis 1968 (81). Die Umstellung des Genres auf eine (werk)tägliche Serie macht die Telenovela (für den Bereich fiktionaler Sendesegmente) gemeinsam mit den Nachrichten (für den Bereich informativer Sendesegmente) zum Rückgrat des Programms. Die Gattung rutscht infolgedessen vom frühen Nachmittag auf den horário nobre des Abendprogramms (20 Uhr), spricht ein breites Publikum an und wandelt sich zur zentralen Strategie, die allabendliche freie Zeit der Menschen zu besetzen. Dies gelang der telenovela diária in einem bisher unvorstellbarem und historisch einzigartigen Ausmaß. In Brasilien nennt man das mania nacional (Xavier/Sacchi 2000: 239). Noch eines spricht für die Privilegierung der Telenovelas im Programm aus Sicht des Medienunternehmens: Sie ist, wie noch auszuführen sein wird, im Vergleich zu den teleteatros sehr viel günstiger zu produzieren. Sie erfordert nur eine Anschaffung für Kulisse und Requisiten, nur ein casting für anfangs 50 (wenn auch kürzere) Sendesegmente statt nur für eines (das jedoch länger ist). So können mehrere Sendesegmente – Kapitel – hintereinander weg produziert und der kreative Prozess industrialisiert, bzw. rationalisiert werden: Kosten fallen, Gewinne steigen. Die Industrialisierung des Fernsehens setzt demnach genau genommen mit Sendesegmenten ein, die sich in großer Stückzahl unter Kostenersparnissen produzieren lassen. Jedoch schlägt das brasilianische Fernsehen bei aller Analogie nicht den gleichen Weg ein wie das mexikanische, das den Industrialisierungsprozess bei der Telenovela perfektioniert. Zweifelsohne ist die mexikanische Entwicklungsvariante der Telenovela dem Mangel an Produktionsalternativen des Genres geschuldet, der aus dem Monopol Televisas entsteht. In den fünfziger und sechziger Jahren war hingegen das brasilianische Fernsehen von einem sehr heftigen Wettbewerb geprägt. TV Excelsior macht aus der Radionovela mit Bildern (die daher keine mehr ist) der Frühphase weitgehend die Telenovela, wie sie später im brasilianischen Fernsehen dominiert. Um das Genre in der prime time zu verankern und es gegenüber den Prestigeformaten wie den teleteatros zu behaupten, wertet es der Sender durch eine Steigerung des Produktionsaufwandes auf. Während in der Frühphase die Produktion des

47 „É verdade que elas [die Telenovelas] não se fixavam em termos de público, passando duas vezes por semana. Não havia um empenho nem um investimento muito alto nesse processo“ (Avancini 1991: 146).

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Genres meist prekär war,48 bemühte sich TV Excelsior erstmals ernsthaft um Sorgfalt bei der Aufnahme sowie um „ästhetische Qualität“ und setzte damit Maßstäbe innerhalb des brasilianischen Fernsehens.49 Der Sender mietete die Studios von Vera Cruz an, und was er dort errichtete, war keine Filmstadt mehr sondern eine Telenovela-Stadt. Schon Mitte der sechziger Jahre also dient die brasilianische Telenovela dazu, die Kinoindustrie auf den Bildschirm zu transponieren. Redenção wurde in den Studios von Vera Cruz aufgenommen (eben nicht gefilmt) und galt bereits als eine „halbwegs hollywoodartige Superproduktion“ (Régis Cardoso 1991: 167). Zwei Faktoren sind in diesem Zusammenhang zu bedenken: Zunächst steigen die Verkaufszahlen der Empfangsgeräte, die Zuschauerzahlen multiplizieren sich, das Medium „popularisiert“ sich und wird immer größeren Bevölkerungskreisen zugänglich. Gleichzeitig interessieren sich nun die großen US-amerikanischen Werbeagenturen für den Markt. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Telenovela in anderen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere Cuba, aber auch Argentinien, stellen sie eine treibende Kraft bei der Ausrichtung des Programms auf die Telenovela dar. Aufgrund des Radioprinzips des toll broadcasting waren meist die Kunden, also die Agenturen oder der Sponsor selbst, für das Programm zuständig. Um Seifen und andere Industrieprodukte im Fernsehen verkaufen zu können, benötigten sie dazu das entsprechende Vehikel (die Oper). Die Agenturen, aber auch Unternehmen wie Gessy-Lever oder Colgate-Palmolive produzierten die Telenovelas oder beaufsichtigten deren Produktion durch die Sender, für deren Ausstrahlung sie die TV-Anstalten bezahlten, wie sie es zuvor auch schon mit den Radionovelas getan hatten. Jedenfalls bestimmten sie über die Gattung, suchten kubanische oder argentinische Skripte aus, die zu übersetzen und zu senden waren. Dabei handelte es sich um Erzählungen, die mit der Konstruktion von Fantasiewelten evasive Tendenzen seitens der Zuschauer befördern sollten und folglich den Bezug zur deren Lebenswelt ausschlossen: Jegliche Erwähnung, jeglicher Bezug zum Realen waren verboten, denn die Sponsoren fanden, dass dies die Wirkung, die ganze romantische Fantasie der Telenovela verwässern würde. Also gab es viele Telenovelas mit historischem Setting.50

5.1.4.3 Nationa Nationalisierung lisierung

Im Kontext der damaligen kulturtheoretischen Debatten zur Unterentwicklung war das Genre selbstverständlich ein Problem. Es musste in dieser Form

48 Die Schauspielerinnen Eugênia Levy und Aracy Cardoso beispielsweise erinnern daran, dass die Schauspieler ihre Texte oftmals erst eine Stunde vor der Übertragung erhielten, und dass sie die Kostüme ihrer Rollen selber von zu Hause ins Studio mitbrachten (Levy 1991: 113, Aracy Cardoso 1991: 87). 49 „A TV Excelsior é responsável pelo maior cuidado e pela busca de qualidade estética nas novelas. Até então, não havia quase nada. A Excelsior atingiu um momento muito importante em termos de produção“ (Avancini 1991: 147). 50 „Era proibida qualquer menção, qualquer relação com o real, porque os patrocinadores achavam que isso diluiria o impacto, toda a fantasia romântica da novela. Então, havia muitas novelas de época“ (Avancini 1991: 147).

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zwangsläufig als entfremdend gelten. Das Publikum konnte nur zur bewusstlosen Masse verkommen. Die Telenovela in dieser Form – so die Kritik – musste der nationalen Emanzipation entgegenwirken. Ein solches Genre verleitet zur Flucht aus einer Realität, die es bewusst zu machen gilt. Im Gegensatz dazu besteht seine einzige Funktion besteht darin, als Werbeträger für den Sponsor zu dienen. Eine derartige Telenovela ist in dieser Sicht noch nicht einmal Kultur, die zur Ware degradiert wird. Sie ist selbst nicht Ware sondern nur deren Träger. Im Gegensatz zur mexikanischen Telenovela konfrontiert sich die brasilianische Variante mit dieser Kritik und stellt sich in den Dienst der emanzipativen Modernisierung. Damit knüpft sie an Tendenzen der fünfziger Jahre an, sich auch in den Telenovelas „nationalen Themen“ zuzuwenden. Die Telenovela-Autorin Aparecida Menezes beispielsweise sagt von sich, „immer brasilianische Themen“ bearbeitet zu haben. Für sie war die Telenovela schon in den fünfziger Jahren der „Roman des Volkes“, die „Zeitung des täglichen Lebens“. Dies impliziert für sie „luta popular“ bzw. Kampf des Volkes gegen seine Unterdrückung als Gegenstand der Telenovela-Erzählung: Die Themen zeigten jenen Kampf: die Arbeiterschaft gegen den Boss, das Mädchen, das den Jüngling erobern möchte. Mittendrin kamen jene Botschaften, die viel ernster waren als jetzt. Ich finde, dass es jetzt wenige Künstler gibt, die sich für den Geist der luta popular [Kampf des Volkes] engagieren. [...] Immer die Botschaft des Kampfes der Arbeiterschaft gegen die Versklavung durch den Mächtigen, die dem Mächtigen nahe zu legen versuchte, dass er ein bisschen mehr nachdenken solle, schließlich war er ja abhängig vom Proletariat, nicht wahr?51

1960 schrieb Menezes beispielsweise die Telenovela O último líder, in der es u.a. um die Unterdrückung von Waldarbeitern in Amazonien geht, und in der ein Arbeiter sich schließlich mit einer Rede an seine Leidgenossen wendet, in der er sie zum Befehlsgehorsam anstachelt. Daraufhin sei die Serie verboten worden. Menezes sagt von ihren Drehbüchern, sie habe ihre Erzählungen immer in einem brasilianischen Setting angesiedelt. Sie könne sich an kein „ausländisches Thema“ erinnern, dessen sie sich angenommen hat. Mit Ausnahme einer Serie, die auf dem Mars spielte (Menezes 1991: 82)... Diese „brasilianischen“ Telenovelas fallen vor die Phase des kommerziellen takeoffs des Fernsehens, als die US-Konzerne sich dafür zu interessieren begannen. Die „brasilianische Thematik“ war zudem nicht die Regel, wohl eher die Ausnahme.52 Die Regel waren „Liebesgeschichten, große 51 „Era o romance do povo, o jornal da vida diária. Os temas mostravam aquela luta: operiado contra patrão, a mocinha querendo conquistar o mocinho. No meio disso tudo vinham aquelas mensagens, quer eram muito mais sérias do que agora. Acho que agora há poucos artistas realmente engajados no espírito de luta popular [...] Sempre uma mensagem da luta do operariado contra a escravidão imposta pelo poderoso, procurando enfiar na cabeça do poderoso que ele tinha que pensar um pouquinho mais, porque ele dependia do proletariado, não é?“ (Menezes 1991: 82). 52 Genaue Untersuchungen zu der Frühphase der Telenovela gibt es nicht. Telenovela brasileira. Memória von Ismael Fernandes ist ein Register aller bisher gesendeten Telenovelas. Aber es setzt erst mit der telenovela diária von 1963 ein. Einen ersten

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Liebesgeschichten“ (Aracy Cardoso 1991: 85). In den sechziger Jahren, als Agenturen wie W. Thompson sich der Telenovela annahmen, wurden die Drehbücher, wie schon erwähnt, nicht mehr von brasilianischen Autoren geschrieben. Diese waren nur noch für die Auswahl und die Übertragung der Vorlagen zuständig.53 Bei TV Excelsior begann, sich dies zu ändern. Der Sender ging dazu über, brasilianischen Autoren (wieder) das Drehbuch anzuvertrauen, wie z.B. Ivani Ribeiro, die bereits auf eine langjährige Karriere als Radionovela-Autorin zurückblicken konnte. Von Ribeiro stammt beispielsweise das Script von Redenção. Avancini führte häufig Regie von Ribeiros Serien. Gemeinsam mit ihr versuchte er Mitte der sechziger Jahre, die „Fantasiewelt“ der Telenovelas zumindest in ein brasilianisches Ambiente zu versetzen. Ein erster Versuch galt der TV-Transposition des Shakespeare-Stücks Der Widerspenstigen Zähmung in A indomável (1965): Ich begann die Idee zu verteidigen, zumindest die Handlung nach Brasilien zu verlegen, noch innerhalb der Fantasie. Brasilianische Charaktere, oder zumindest mit brasilianischen Namen. Und die erste Arbeit in diesem Sinne war eine Telenovela mit dem Titel A Indomável, eine Adaptation von Der Widerspenstigen Zähmung von Shakespeare, die in die zwanziger Jahre in Brasilien versetzt wurde.54

Die „Brasilianisierung“ des Genres, die Avancini als einer der ersten und einflussreichsten Fernsehmacher ab den sechziger Jahren systematisch betrieb, war jedoch nach eigenen Angaben ein mühseliger Prozess. Das Ziel war die „brasilianische Realität“, der „Alltag“, aber das „war sehr schwierig zu erreichen“. Die Agenturen ließen sich zwar darauf ein, dass nun brasilianische Autoren das Drehbuch übernehmen sollten, aber sie verweigerten sich „jeglicher Idee eines Bezugs zum Alltag“.55 Dennoch legte Excelsior, so Avancini weiter, mit Hilfe der brasilianischen Drehbuchautoren den Grundstein für die Vorstoß in die Frühzeit der Gattung bildet die Studie von Klagsbrunn/Resende/ Lins/Rapp (1991), die eine Reihe von Interviews mit Fernsehmachern einleitet und resümiert (aber darüber nicht hinausgeht), auf die sich die vorliegende Arbeit stützt. 53 Benedito Ruy Barbosa, beispielsweise, der später zu einem brasilianischen Erfolgsautor für Telenovelas wurde, wurde von der Agentur Denison Propaganda 1966 als script-editor eingestellt, um hispanoamerikanische Drehbücher für das brasilianische Fernsehen auszuwählen. Wie er selbst schreibt, erhielt er diese Anstellung aufgrund des Erfolges von Fogo frio, ein Bühnenstück, das er zuvor geschrieben hatte. Es wurde von Augusto Boal im Teatro de Arena uraufgeführt und mit einem Preis gekrönt (Barbosa 2000: 38). 54 „Comecei a defender a idéia de trazer a ação pelo menos para o Brasil, ainda dentro da fantasia. Personagens brasileiros ou, pelo menos, com nomes brasileiros. E o primeiro trabalho feito nesse sentido foi uma novela chamada A Indomável, uma adaptação de A megera domada, de Shakespeare, trazida para a década de 20 no Brasil“ (Avancini 1991: 147). 55 „Surgiu uma nova realidade: o autor brasileiro. Mas ainda, evidentemente, muito preso a um distanciamento da realidade brasileira, do quotidiano. Isso era uma coisa muito difícil de conseguir. As agências de propaganda aceitaram até essa modificação no processo – não ser mais uma novela de cubano, e sim de autor brasileiro – mas resistiram muito a qualquer idéia de relação com o quotidiano“ (Avancini 1991: 147).

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Komplexitätssteigerung und den zunehmenden Ehrgeiz der Gattung, anspruchsvolle TV-Erzählungen hervorzubringen. „Brasilianisierung“ des Genres bedeutet also, nicht nur eine thematische Zuwendung zu „Brasilien“ sondern auch eine Überwindung des sehr engen Produktions- und Narrationsschemas „kubanischer Telenovelas“, die in nur einem einzigen Studio mit nur „wenigen Kulissen, einer kleinen Gruppe von Charakteren“ aufgenommen wurde.56 Tatsächlich beschränkt sich die „Nationalisierung“ von Sendeinhalten bei Excelsior nicht auf die Telenovela sondern bezieht sich auf das Gesamtprogramm. Der Sohn von Simonsen, Wallace Cochrane Simonsen, dem die Leitung von TV Excelsior anvertraut war, beschreibt den Sender rückblickend als das Projekt, „ein brasilianisches, grundsätzlich brasilianisches Fernsehen“ aufzubauen (zitiert nach Costa 1986: 157). Der Sender versuchte, sich als Gegenentwurf zu US-amerikanischen Vorgaben zu etablieren – zumindest auf der Ebene der Sendesegmente. So wurde nur brasilianische Musik gespielt, in den Shows wurde nur brasilianische Kultur präsentiert, in den teleteatros wurde nur brasilianisches Theater transponiert. In der Programmschiene Film wurden primär europäische Filme gezeigt, aber jede Woche wurde ein brasilianischer Streifen ausgestrahlt (Costa 1986: 157-158). Der Sender inszenierte sich folglich als ein Projekt brasilianischer Modernisierung, das den Kreislauf von Unterentwicklung und (USamerikanischem) Kulturimperialismus durch die Verbindung von Fortschritt und Entfaltung des nationalen Selbst zu durchbrechen suchte. ‚Brasilien‘ wurde zum Gegenstand nicht nur der Segmente sondern des gesamten Programms. Es ging dem Sender darum – so stellt es sich zumindest aus der entsprechenden Literatur rückblickend dar –, aus dem Fernsehen angesichts der drohenden Instrumentalisierung des Mediums durch US-amerikanische Interessen ein brasilianisches Kulturprojekt zu machen. Dies bahnt sich, wie oben ausgeführt, im Bereich der Telenovela an. Dies manifestiert sich jedoch sehr deutlich im teleteatro des Senders (in São Paulo übrigens Canal 9) mit dem Namen Teatro Nove, für das renommierte Theaterautoren wie Gianfrancesco Guarnieri oder Jorge Andrade schrieben (158). Excelsiors Funktionsmodus des Fernsehens war jedoch US-amerikanisch, daraus machte der Sender auch keinen Hehl (vgl. Álvaro de Moya in Costa 1986: 164). Darum konnte es auch nicht gehen, denn schließlich bezog sich die Entfremdungsdebatte auf die Diskursebene, nicht auf den Prozess der Moderne an sich. Dem US-Modell des Mediums folgte TV Excelsior auch in seinem konsequenten Aufbau eines networks. 1963 wurde ein Sender in Rio gegründet, der durch Verdoppelung des Gehalts den anderen Sendern das Personal abspenstig machte, die alle schlecht bezahlten. Dies betraf besonders TV Rio. Der Sender verlor über Nacht zig Mitarbeiter, darunter vor allem Stars und leitende Angestellte. Von diesem Schlag erholte sich TV Rio nicht mehr. Hinzu kam die verschärfte Konkurrenz durch die Gründung von 56 „Com o autor brasileiro, houve uma ampliação dos espaços. Aquilo que era feito apenas num estúdio, como tradicionalmente eram as novelas cubanas, com uns poucos cenários, um grupo pequeno de personagens, essa coisa toda, foi deixado para trás por uma ambição maior, um espetáculo maior, mais pretensioso em termos de produção, em termos de dramaturgia de conflitos e tudo o mais“ (Avancini 1991: 147-148).

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TV Globo 1965, drei Jahre später wurde TV Rio verkauft, 1977 verlor der Sender seine Lizenz (134-143). TV Excelsior stellte die erste Direktverbindung zwischen seinem Sender in São Paulo (Canal 9) und dem in Rio (Canal 2) mittels eines Mikrowellensystems her. Zusätzlich wurden Sender in Belo Horizonte und in Porto Alegre erworben, dazu Abkommen mit weiteren Stationen geschlossen (162). Diese Sender wurden per tape mit dem Programm aus São Paulo und Rio de Janeiro versorgt. Die network-Bildung stellt einen weiteren Schritt zur Industrialisierung des Fernsehens dar, da die Produktion der Sendesegmente zentralisiert, und die Kosten drastisch gesenkt werden, indem die ‚peripheren‘ Sender zu einfachen Reproduktionsanstalten geraten. Andererseits entstand aus diesem Einspareffekt auch die Möglichkeit, vermehrt in die zentralisierte Produktion zu investieren. Excelsior reinvestierte diese Mittel in „Kulissen, Schauspieler, Statisten, alles von bester Qualität“ (Aracy Cardoso 1991: 85). Der Wandel der politischen Rahmenbedingungen 1964 machte jedoch das Projekt TV Excelsior zunichte. Simonsen Senior sympathisierte zwar nicht mit Goularts linksliberalem Kurs, unterstützte ihn jedoch bei seiner Amtsübernahme 1961, als Präsident Jânio Quadros urplötzlich zurücktrat. João Goulart war zu diesem Zeitpunkt Vizepräsident. Wie Ivan Martins schreibt, ging es Simonsen dabei um die Wahrung der Legalität, denn die Widerstände in Politik und Militär gegen Jango waren enorm. Jedenfalls verschaffte sich Simonsen durch diese Haltung erbitterte Feinde bei den Putschisten von 1964. Simonsens Firmenimperium wurde zur Beute der „Revolutionäre“ sowie ihrer Unterstützer und restlos unter ihnen aufgeteilt. Offensichtlich ging es darum, den lukrativen Kaffeehandel unter US-amerikanische Kontrolle zu bringen, was nach dem Putsch tatsächlich geschah. Die Fluglinie Panair wurde aufgelöst und der Konkurrentin Varig zugeschlagen. Auch dem Grupo Associados war an der Ausschaltung der Konkurrenz gelegen. Das Militärregime entzog Simonsen seine Handels- und Fluglizenzen und enteignete Güter sowie Firmen. Vom märchenhaften Reichtum blieb der Familie nichts, Simonsen starb bald darauf (Martins 2004). Während des Putsches wurde TV Excelsior von bewaffneten Soldaten besetzt und strengsten Zensurbestimmungen unterworfen. Die Sendergruppe geriet schnell in Zahlungsschwierigkeiten und musste verkauft werden. 1970 entzog ihr die Militärregierung die Lizenzen (Costa 1986: 152-155). Trotz des Scheiterns von TV Excelsior setzte das brasilianische Fernsehen die mit diesem Sender initiierte Entwicklung fort. Die Militärregierung sorgte jedoch dafür, dass diese Entwicklung nun von einem verlässlichen Verbündeten getragen wurde: TV Globo. Sie unterstützte den Ausbau des Fernsehsystems massiv. Sie war die erste Regierung, die eine spezifische Telekommunikationspolitik betrieb. Der Código von 1962 sah die Schaffung einer staatlichen Telekommunikationsagentur vor. Gegründet wird die Empresa Brasileira de Telecomunicações (Embratel) jedoch erst durch die Militärs 1965. Zwei Jahre später tritt Embratel in Kraft. Im gleichen Jahr wird das Ministério das Comunicações gegründet. Mittels der Embratel betreibt die Regierung den Aufbau der Infrastruktur für die Telekommunikationstechnologie. Dies sah zum Einen die Herstellung von Satellitenverbindungen vor (1964 tritt Brasilien dem Konsortium Intelsat bei), zum Anderen die Schaffung eines Netzes von Mikrowellenverbindungen, mit dem über lokale Sender das Fernsehsignal landesweit ausgestrahlt werden konnte. Der 155

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Staat übernahm daher die Aufgabe, die technischen Voraussetzungen zu schaffen für ein brasilienweites network. Embratel vermietete das Netz an interessierte Fernsehunternehmen. Dazu war jedoch Ende der sechziger Jahre nur TV Globo in der Lage (Kehl 1986: 191).57

5.1.4.4 TV Globo

Bevor Globo jedoch die staatliche Infrastruktur nutzen konnte, musste sich der junge Sender erst gegen den bereits erwähnten, 1966 eingerichteten Untersuchungsausschuss behaupten, der die Illegalität der Partnerschaft mit Time-Life anprangerte. Die Gesetzeslage war eigentlich klar, und der Ausschuss kam zu einem klaren Ergebnis: TV Globo verstieß gegen das Gesetz. Die Militärregierung, die nun am Zug war, tat das Gegenteil von dem, was sie im Fall Simonsen tat, der 1964 auch einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Gesetzeswidrigkeit bezichtigt wurde. Damals vollzog die Regierung den Beschluss des parlamentarischen Ausschusses sofort und nahm dem Konzern dadurch die Geschäftsgrundlage. Am darauf folgenden Bankrott konnte auch ein späteres Urteil des Obersten Gerichts nichts mehr ändern, der den Befund des Untersuchungsausschusses für nichtig erklärte (Martins 2004). Bei dem „escândalo Time-Life“ dagegen wies die Regierung des Feldmarschalls Humberto de Alencar Castelo Branco (1964-1967) den Befund des Ausschusses 1967 als unbegründet zurück und überließ der Nachfolgeregierung unter Feldmarschall Artur da Costa e Silva (1967-1969) die endgültige Entscheidung in diesem Fall. 1968 bestätigte Costa e Silva die Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Konzerns Globo und „legalisierte“ damit den Sender (Herz 1987: 185-190).58 Warum ist der „escândalo Time-Life“ der Brennpunkt der brasilianischen Massenmedienkritik? Die Antwort liegt auf der Hand: In ihm sieht sich die Theorie der Unterentwicklung bestätigt, die in den Strukturen des internationalen Kapitalismus eine neue Form kolonialer Ausbeutung sehen, die auf die Vermittlung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, angewiesen ist. Das Fernsehen dient in dieser Sichtweise in erster Linie als eine Art Türöffner für die großen transnationalen Unternehmen. Sie beeinflussen die Beherrschten im Sinne der Beherrschenden, indem sie ein Konsumverhalten anstacheln, das die Grundlage für die Absatzmärkte der „Multis“ bildet (85). Die Kritik an der Modernisierung wendet sich also gegen eine fremdgesteuerte und verhinderte Modernisierung, die nur zu mehr Unterentwicklung und Ausbeutung führt. In dieser Perspektive kommt den Massenmedien die Funktion der Bewusstseinsmanipulation zu, die die Brasilianer als Konsumenten ausländischer Industrieprodukte programmiert. Es handelt sich folglich bei diesem Skandal um einen doppelten Pakt mit dem ausländischen Kapital: Zum Einen verbündet sich Globo direkt mit einem US-amerikanischen Medienkonzern und ermöglicht damit einen unmittelbaren Zugriff US-ameri-

57 Zum Ausbau der Kommunikationsinfrastruktur in Brasilien vgl. Braunschweig 1995: 21-31. 58 Herz rekonstruiert sehr detailliert den gesamten Prozess des parlamentarischen Untersuchungsausschusses und arbeitet dabei insbesondere die Protokolle des Ausschusses auf (Herz 1987: 151-190).

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kanischer Interessen auf ‚brasilianische Köpfe‘. Zum Anderen stellt sich Globo – gemeinsam mit den Militärs und ihren zivilen Unterstützern – in den Dienst der ausländischen Industriekonzerne und stimuliert die Transformation Brasiliens in eine abhängige Konsumgesellschaft. Die Interessensgemeinschaft der vier Akteure – Globo, Militärs, Time-Life, transnationale Industrie-Unternehmen – ist dabei offensichtlich: Sie gründet im Anliegen, Brasilien als einheitlichen, nationalen Markt zu „integrieren“. Allerdings handelt es sich um eine autoritäre Modernisierung. Denn der Markt, der so entstehen soll, beruht, wie Herz schreibt, auf der Konzentration der Einkommen. Der Autor zeigt die engen Verbindungen zwischen Roberto Marinho und verschiedenen Mitgliedern des Militärregimes auf. Damit belegt er seine These, dass sich TV Globo perfekt in das Wirtschaftsmodell der konservativen, dem „transnationalen Kapital“ verpflichteten Modernisierung einpasste und die Vermittlungsfunktion zwischen dem „multinationalen finanz-industriellen Interessen“ und dem auf Kosten der unteren Einkommensschichten entstehenden nationalen Markt annahm (200-206). Herz hat seine These Mitte der achtziger Jahre entwickelt und blickt dabei auf die sozioökonomischen Ergebnisse der Militärregierung zurück. Diese geben dem Autor insofern recht, als die von den Militärs forcierte Industrialisierung zwar ein kurzfristiges „milagre brasileiro“ hervorbrachte, aber, wie bereits erwähnt, zulasten der einkommensschwachen Bevölkerung ging. Von der ersten Industrialisierungsphase (einfache Konsumgüter) ab Anfang der dreißiger Jahre profitierte insbesondere das Fabrikproletariat, auf das sich der Populismus im politischen Zyklus bis 1955 stützte. Die daran anknüpfende zweite Industrialisierungsphase (durable Konsumgüter) begünstigte hingegen die Mittelschicht, deren Beschäftigungsmöglichkeiten sich durch die neue kapitalintensive Industrie stark ausweiteten, die dank des Technologieeinsatzes mit vergleichsweise weniger manual employment auskam. Das bedeutet, dass der Jobwachstum im manual-Bereich zugunsten des non-manual employment abnahm im Vergleich zur Vorperiode. Dies ist übrigens eine lateinamerikaweite Entwicklung (Oliveira/Roberts 1994: 280283). Zudem geht es nun um Güter, die sich aufgrund ihrer Anschaffungskosten an Mittelschichtkonsumenten wenden. Der ‚neue‘ Markt, den die sich nun niederlassenden transnationalen Industriekonzerne anvisieren, ist daher ein Markt für die Mittelschicht. Diese Gesellschaftsschicht wuchs, wie sich nachweisen lässt, auf Kosten des Proletariats und Subproletariats. Während der Dekade 1960 bis 1970 halbierte sich der Mindestlohn inflationsbereinigt beinahe, während der Durchschnittslohn signifikant anstieg.59 Der Industrialisierungsprozess der sechziger Jahre vollzieht sich somit auf der Grundlage einer Einkommensumverteilung von unten nach oben. Verschärft wurde dieser Prozess durch die Diktatur, die die Arbeitnehmerrechte drastisch einschränkte und den Mindestlohn drastisch absenkte.60 Die mit (militärischer) Gewalt forcierte Modernisierung führte dazu, dass 1970 50% der Bevölke59 Auf der Grundlage des Wertes des Cruzeiros im Jahr 1969 betrug der Mindestlohn 1959 331,5 Cruzeiros, 1970 waren es dagegen nur noch 187,2 Cruzeiros. Der Durchschnittslohn in São Paulo dagegen stieg von 405,66 Cruzeiros im Jahr 1965 auf 534,05 Cruzeiros 1970 an (Pereira 1987: 200-201). 60 Von 1959 auf 1969 fiel der Mindestlohn um 10%, hielt sich dann bis 1964 fast konstant. Vom Putsch in diesem Jahr an wurde er jährlich reduziert (Pereira 1987: 200).

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rung mit einem Monatseinkommen von bis zu 130 Dollar auskommen mussten. Die Hälfte der Bevölkerung hatte damit einen Anteil von nur 18,6% am Gesamteinkommen der Gesellschaft. Er war damit genauso hoch wie derjenige des reichsten Prozentes der Bevölkerung (auch 18,6%). 1% der Bevölkerung verdiente monatlich über 880 Dollar und mehr (im Schnitt 6500 Dollar) und verfügte damit über ein Gesamteinkommen, das genauso groß war wie das der armen Hälfte der Bevölkerung. D.h. auch, dass 90% der Bevölkerung über ein Monatseinkommen von bis zu 350 Dollar verfügte, nur 10% darüber. Während 1960 die reichsten 5% der Bevölkerung über 37% des Gesamteinkommens der Gesellschaft verfügten, waren es zehn Jahre später bereits 45% (Pereira 1987: 195, 201). Luiz Carlos Bresser Pereira nennt Brasilien daher in den achtziger Jahren ein „industrialisiertes unterentwickeltes Land“ (16). Der Medienmogul Roberto Marinho stand den Militärs und ihrer Politik zweifelsohne sehr nahe. Deutlich wird dies u.a. an seinem Berater Walter Poyares. Poyares stand Roberto Marinho fünf Jahrzehnte lang zur Seite. Als Werbefachmann und Kommunikationstheoretiker war er ab Anfang der fünfziger Jahre für das image der Zeitung O Globo zuständig und später direkt Roberto Marinho unterstellt. Geradezu ein Alterego von Marinho, schrieb er beispielsweise oftmals Leitartikel in O Globo, die Marinho unter seinem Namen veröffentlichte (Poyares 2001: 346). Gonçalo Júnior nennt ihn in der Einleitung zu seinem Interview den „permanenten Schatten“ von Marinho (344). In ihren Meinungen dürften die beiden sich eng aufeinander abgestimmt haben. Poyares bekennt sich als Unterstützer des Militärputsches und arbeitete eng mit der höchsten militärischen Führung zusammen. Er schuf nach eigenen Aussagen die Grundlagen für Selbstinszenierung der Militärregierung. Er tat für die Militärs im Grunde also das Gleiche wie für Marinho. Er bot dem Präsidenten Castelo Branco, die Schaffung einer „assessoria de relações públicas“ an, die Einrichtung einer public-relations-Abteilung, was dieser jedoch mit der Begründung ablehnte, er wolle keinen Propagandaapparat. Sein Nachfolger Costa e Silva jedoch zeigte sich einsichtig. Mit ihm, der Ende 1968 den ‚zweiten Putsch‘ mit dem Übergang zu politischer Repression61 vollzog, verband Poyares, wie er sagt, eine innige Freundschaft (363, 367). Außerdem unterrichtete er regelmäßig hohe Offiziersränge. Vermitteln, so Poyares, musste er jedoch zwischen den Militärs und Marinho nicht. Das habe dieser nie nötig gehabt (367). Wie dem auch sei, unter diesen Bedingungen kann es nicht mehr überraschen, dass Costa e Silva gegenüber der Gesetzeswidrigkeit von Globos Abkommen mit Time-Life alle Augen zudrückte. Die Figur von Poyares erscheint emblematisch für den ideologischen Gleichklang zwischen der Militärdiktatur und dem Konzern Globo. Beide sind auf die Umwandlung Brasiliens in eine industrialisierte Konsumgesellschaft ausgerichtet, wenngleich dies bedeutet, dass nur der kleinere Teil der 61 Es handelt sich um die drastische Einschränkung politischer Rechte, die Costa e Silva durch den Ato Institucional 5 (AI-5) verfügte. Er sah v.a. die Schließung des Kongresses und die Einschränkung der Meinungsfreiheit vor. Von nun an setzte sich der innerste Machtzirkel aus Mitgliedern der „information community“ zusammen, also aus Geheimdienstleuten. Nun wurde auch die Folter Bestandteil des Regierungshandelns (Fausto 1999: 289-290).

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Gesellschaft in den Genuss dieser Modernisierung kommt. Beide weisen dem Fernsehen eine zentrale Rolle in diesem Modernisierungsprozess zu. Nicht nur stellt das Fernsehgerät eines der Industriegüter her, um dessen Produktion und Konsum es geht. Darüber hinaus dient das Fernsehen als wesentliches Instrument zu dieser Modernisierung Brasiliens, indem es die Bedingungen für einen landesweiten Markt schafft. Als notwendige Ergänzung zur fortgeschrittenen Industrialisierung macht es die Absatzprodukte bekannt und lehrt die Zuschauer das Konsumieren. Das würde bedeuten, dass TV Globo von Anfang an als Marketingmaschine konzipiert wurde, die auf die konsequente Durchdringung ganz Brasiliens ausgerichtet war. Daran kann kein Zweifel sein. Dies war der Zweck des Engagements von Time-Life. Die bereits erwähnten sechs Millionen Dollar, die das US-Unternehmen insgesamt in das Projekt pumpte, waren eine gigantische Summe im Vergleich zur Finanzausstattung von Globos Mitbewerbern, die sich zu recht gegen diesen illegalen Wettbewerbsvorteil zu Wehr zu setzen versuchten. Globos Eigenkapital – als Vergleichsmaßstab – betrug lediglich 200.000 Dollar (Herz 1987: 194). Mit dem Kapital konnten nicht nur modernste Geräte angeschafft sowie hochqualifiziertes Personal eingestellt und trainiert werden, um sich einen technischen Vorsprung in der Bild- und Übertragungsqualität zu sichern. Mit dem Geld konnte auch ein Sendenetz aufgebaut werden. Der erste Schritt war die Übernahme von TV Paulista in São Paulo 1966. Ein Jahr später wurde ein Sender in Belo Horizonte übernommen. 1969 wurde mit der ersten Ausstrahlung der Abendnachrichten Jornal Nacional das erste brasilianische network in Betrieb genommen. In den Folgejahren wurde es durch weitere Zukäufe und regionalen Partnerschaften Schritt um Schritt auf das ganze Land ausgedehnt. Ermöglicht wurde der Ausbau der rede durch die schon erwähnten Infrastrukturmaßnahmen per Sendemasten und Satellit durch die Militärregierung, die Globos Aufstieg damit indirekt subventionierten (Kehl 1986: 188-190). Die einzige Fernsehanstalt, die Rede Globo wirklich hätte gefährlich werden können, war TV Excelsior und wurde im Vorfeld ausgeschaltet (Tupi zog als network, wie erwähnt, erst fünf Jahre nach Globo nach). Rede Globo war damit schnell ohne Konkurrenz und baute seine Position zum de facto Monopol aus. Die Scharnierfunktion von Poyares zwischen Globo und Militärregierung lässt jedoch vermuten, dass Rede Globo weitere Funktionen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Militärregimes zukamen. Immerhin schuldete Marinho den Generälen einen Gefallen. Regierungskritische Berichterstattungen waren daher von Rede Globo nicht zu erwarten. Berüchtigt ist das Zitat des dritten Generals im Präsidentschaftsamt, Emilio Garrastazu Médici (19691974), in der er die beruhigende Wirkung der Fernsehnachrichten preist: Ich fühle mich glücklich, jeden Abend, wenn ich den Fernseher anmache, um die Nachrichten zu sehen. Während über Streiks, Agitationen, Attentate und Konflikte in vielen Teilen der Welt berichtet wird, marschiert Brasilien friedvoll in Richtung Entwicklung. Das ist, als ob ich nach dem Arbeitstag ein Beruhigungsmittel einnähme.62 62 „Sinto-me feliz, todas as noites, quando ligo a televisão para assistir ao jornal. Enquanto as notícias dão conta de greves, agitações, atentados e conflitos em várias partes do mundo, o Brasil marcha em paz, rumo ao desenvolvimento. É como se eu

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Das Zitat spricht in fataler Weise an, was zum Hauptkritikpunkt des Fernsehens in Brasilien wurde: ein „Beruhigungsmittel“ für die Zuschauer zu sein, das eine Art harmonisches Disneyland vorgaukelt, um die Menschen von den eigentlichen Konflikten abzulenken, d.h. von politischer Unterdrückung und sozialer Ausbeutun. Um so gravierender wirkt das Zitat, wenn bedacht wird, dass Médicis Regierung die brutalste aller Militärregierungen war (Fausto 1999: 292). Rede Globo erscheint daher als „Sprachrohr“ und „Propagandakanal“ der Regierung (293). Als „Beruhigungsmittel“ entfremdet das Fernsehen die Menschen und versetzt sie in einen Zustand der Betäubung, indem es sie über den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft belügt. Diese Entfremdungskritik am Fernsehen bezieht sich somit auf den diskursiven Aspekt des Mediums, auf seine Botschaften. Dementsprechend vermittelt das Medium eine Fantasiewirklichkeit, die die Bewusstwerdung des Zuschauers verhindert. Ideologiekritische Analysen, denen ein diskursiv verstandener Entfremdungsbegriff zugrunde liegt, überwiegen in der Forschung. Als zentraler Untersuchungsgegenstand bieten sich die von Médici so gerühmten Nachrichten an. Ein Beispiel ist Elisabeth Carvalhos Untersuchung der Fernsehnachrichten der siebziger Jahre. Darin zeigt sie die Inhaltsleere des Jornal Nacional von Rede Globo auf, wie die Wirklichkeit zurecht gerückt und Informationen verwässert wurden (Carvalho 1980: 34). Selbstredend kam keine Redaktion an den Zensurbestimmungen vorbei, die die Regierung Médici 1970 ein weiteres Mal verschärft hatte, und die nun einen Normenkatalog vorsahen (o.A. 1970b).63 Carvalho weist aber insbesondere darauf hin, dass sich der TV-Journalismus von Rede Globo auch nach Lockerung der Zensur Ende der siebziger Jahre nicht dem „Realen, dem Alltagsleben des Brasilianers“ angenähert habe. 1978 habe Marinho persönlich die Ausstrahlung einer Reportage über einen Streik der Metallarbeiter in São Paulo untersagt, die im Sender bereits gebilligt worden war. Damit sei der Sender noch konservativer als die Militärregierung selbst, und seine Nachrichten haben mit den „realen Problemen des Volkes“ nichts zu tun (Carvalho 1980: 37). Darüber hinaus beschreibt die Autorin die eigentliche Botschaft von Globos Jornal Nacional: Dies sei das ästhetische Format der Sendung, das alles Hässliche, Kranke, Elende vom Bildschirm verbannt und ein Fantasievolk präsentiert, das „schön und gut ernährt“ ist. Die Botschaft der Sendung ist damit der Fortschritt des Landes und der nationalistische Stolz über den erwachten Riesen des Brasil Grande, der aus der Unterentwicklung ausbricht und sich anschickt, in den Club der entwickelten Länder einzutreten (33).

tomasse um tranquilizante, após um dia de trabalho“ (Emilio Garrastazu Médici, 22.03.1973, zitiert nach Carvalho 1980: 31). 63 Für Fernsehjournalisten konnte die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung tödlich enden, wie der berüchtigte Fall von Vladimir Herzog zeigt. Herzog wurde im September 1975 Leiter der Abteilung Journalismus im Kultursender TV Cultura des öffentlichen Senders des Bundesstaates São Paulo (der Sender wird von der Stiftung Padre Anchieta betrieben). Er vertrat einen investigativen Journalismus, wurde jedoch sofort als Kommunist denunziert und Ende Oktober zu Tode gefoltert (Carvalho 1980: 43).

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Carvalhos Analyse liefert wichtige Stichpunkte für die Diskussion über Rede Globo. Zunächst ist der Fortschrittsdiskurs von Globo aufzugreifen, der Genugtuung und Zuversicht verbreiten soll angesichts der autoritären Umwandlung Brasiliens in ein entwickeltes Großbrasilien. Zweifelsohne soll das Fernsehen als erweiterte Öffentlichkeitsarbeit der Militärregierung seinen Beitrag zu diesem Umbau der Gesellschaft beitragen, als ob die Tele-Suggestion das militärische Modernisierungsversprechen Realität werden lasse. Hier geht es um mehr als nur einen Gefallen, den Marinho den Militärs schuldet. Hier geht es um koinzidierende Gesellschaftsprojekte. Marinho, so lässt sich folgern, betreibt mit seinem Medienimperium Politik, die trotz der fundamentalen Affinität zur Militärregierung nicht in allen Punkten mit ihr übereinstimmen muss. Dies ist die grundlegende Kritik von Herz, der Rede Globo als Instrument von Marinhos Machtwillen interpretiert. Zur Unterstützung seiner These zitiert er Marinho, der in einem Interview freimütig einräumt, den Telejournalismus persönlich genau zu kontrollieren.64 Der Sender übermittle zwar die „notwendigen Informationen“, aber „unsere Meinungen sind auf die eine oder andere Art abhängig von meinem Charakter, von meinen Überzeugungen und von meinem Patriotismus.“65 Marinho gibt in dem Interview zu, die Meinungsmacht, die Rede Globo angesichts seiner absoluten Quotendominanz ausübt, gesellschaftspolitisch einzusetzen: Ja, ich nutze diese Macht [...] aber immer patriotisch, im Versuch, die Dinge zu korrigieren, auf der Suche nach Auswegen für das Land und seine Bundesstaaten. Wir wünschten uns ausreichend Macht, um alles in Ordnung zu bringen, was in Brasilien nicht funktioniert. Dem widmen wir alle unsere Kräfte.66

Dinge, die Marinho glaubte, korrigieren zu müssen, sind u.a. Ergebnisse demokratischer Wahlen. Ein Beispiel sind die Gouverneurswahlen der Bundesstaaten von 1982. Damals untersagte die Konzernspitze den zuständigen Nachrichtenredakteuren, über die (letztlich gescheiterten) Manipulationsversuche der Wahlergebnisse in Rio de Janeiro zu berichten. Bei der Stimmauszählung sollte der Kandidat der Militärs, Moreira Franco, bevorzugt und ein Triumph des Linkspopulisten Leonel Brizola verhindert werden (Herz 1987: 13-16). Zu korrigieren war für Marinho auch eine Tendenz der Wählerschaft, bei den Präsidentschaftswahlen 1989 – fünf Jahre nach Beendigung der Militärdiktatur – für den Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) Luís Inácio Lula da Silva zu stimmen. Das Fernsehduell zwischen ihm und Fernando Collor wurde von Rede Globo entsprechend aufbereitet, was sogar den langjährigen Chefredakteur des Telejournalismus von Globo, Armando Nogueira, aufbrachte, der anschließend seinen Hut nahm (vgl. Nogueira 2001: 38-39). 64 Armando Nogueira, der Leiter des Telejournalismus bei Globo bestätigte 2001 die Oberaufsicht Marinhos über alle Fernsehnachrichten (Nogueira 2001: 37). 65 „Nós fornecemos todas as informações necessárias, mas nossas opiniões são, de uma maneira ou de outra, dependentes do meu caráter, das minhas convicções e do meu patriotismo“ (Roberto Marinho zitiert nach Herz 1987: 24). 66 „Sim, eu uso esse poder [...] mas sempre de uma maneira patriótica, tentando corrigir as coisas, procurando caminhos para o país e seus estados. Nós gostaríamos de ter poder suficiente para consertar tudo o que não funciona no Brasil. A isso dedicamos todas as nossas forças“ (Roberto Marinho zitiert nach Herz 1987: 25).

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Solche Ereignisse bekräftigen den Streit, den die Kritiker mit Rede Globo ausfechten. Im Sinne der Theorie der Unterentwicklung ist „Realität“ das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Sendeanstalt und des Mediums. Etwas präziser gefasst, ist die „brasilianische Realität“ das propium, an dessen Übereinstimmungsgrad das Fernsehen gemessen wird. Sie erscheint als die Heimstätte, deren Annäherung den Zuschauer zu sich führt, oder deren Entfernung ihn sich selbst fremd macht (zugunsten des transnationalen Kapitals und seiner Verbündeten im Land). Auf dem Kriterium der nationalen Wirklichkeit beruht der (berechtigte) Manipulationsvorwurf, der Globo seit seiner Gründung begleitet. Nachdem sich TV Globo aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit Ende der sechziger Jahre aus dem Vertrag mit Time-Life löste und die Investitionen zurückzahlte,67 entfiel zwar das Argument der fremden Kontrolle über die televisuelle Bewusstseinsfabrik. Aber der Ausbau des Senders nach US-amerikanischem Vorbild war dann bereits eine vollendete Tatsache.68 Nun stellt sich jedoch eine Frage: Was passiert, wenn sich TV Globo der „brasilianischen Wirklichkeit“ zuwendet und sie auf dem Bildschirm zulässt? In Übereinstimmung mit der Theorie der Unterentwicklung (und mit ihrer Fortentwicklung als Dependenztheorie) ruht die Entfremdungskritik auf der diskursiven Oberfläche des Mediums. Fallen die anti-emanzipatorischen Botschaften weg, gerät die Entfremdungskritik ins Wanken. Lediglich Muniz Sodré sieht das Problem des Fernsehens tiefgründiger als eine Umkehr der Kommunikationsstrukturen, die für ihn grundsätzlich dialogisch sind. Das Fernsehen aber ist aus seiner Sicht monologisch, unterbricht den gegenseitigen Austausch und zwingt den TV-Zuschauern die Botschaft der Sender auf, ohne ihnen Widerrede zu gestatten. So entstehe zum ersten Mal in der Geschichte des Okzidents eine Situation eines „absoluten Monopols des Diskurses“. Das Fernsehen kommuniziert nicht, es unterwirft, denn es lässt keine Antwort zu (Sodré in Avancini/Pontes/Sodré 1976: 124).69 Angesprochen ist damit die (frühe) Theorie der Massenmedien, die die Leibpräsenz der face-toface-Kommunikation unausgesprochen als eigentliche Kommunikation voraussetzt. Damit verbunden ist eine Metaphysik des Bewusstseins, die die Kommunikation als Transmissionsriemen erscheinen lässt. Demzufolge gebietet das Bewusstsein des Sender nicht nur über den Sinn seiner Aussage sondern auch über das Bewusstsein des Empfängers, dem nichts anderes übrigbleibt, als den empfangenen Sinn aufzunehmen und ihn an die Stelle des ‚eigenen‘ Sinns zu setzen. Sodré hat diese Argumentation 1975 auf einer Podiumsdiskussion formuliert, an der außerdem die TV-Regisseure Paulo Pontes und Walter Avancini teilnahmen. Avancini kritisierte in dieser Debatte, das Fernsehen als „Er67 Anfang der siebziger Jahre zogen sich die US-amerikanischen Medienunternehmen aus den meisten ihrer aktiven Engagements in Lateinamerika zurück und verlegten sich auf den Programmexport in diese Region (Sinclair 1999: 15-16). 68 Das US-amerikanische Modell strukturiert TV Globo. Dies betrifft nicht nur die Markteroberungsstrategien sondern auch Format und Ästhetik der Sendesegmente. So war der unumstrittene Maßstab des Telejournalismus von Anfang an das US-Fernsehen (vgl. Nogueira 2001: 37). 69 Sodré entwickelt diesen Gedankengang in seinem späteren Buch O monopólio da fala: função e linguagem da televisão no Brasil (1984).

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gebnis einer Transplantation“ anzusehen und nicht als das, was es „in Wirklichkeit“ sei: „das Ergebnis einer brasilianischen Infrastruktur. Wer das Fernsehen macht, das sind wir“. Er widerspricht damit der Vorstellung, das Medium stelle einen Fremdkörper in Brasilien dar. Stattdessen sei das Medium von „uns allen“ aktiv zu gestalten und in den Dienst der gesamten Gesellschaft zu stellen. D.h. dass es nicht nur einem Unternehmen dienen darf. Es darf auch nicht nur die Mehrheit abbilden. Es muss das gesamte Land wiedergeben, dann kann es auch zum Antrieb gesellschaftlichen Wandels werden: Es [das Fernsehen] soll nicht einfach die Mehrheit abbilden sondern auch die Minderheiten, es soll alles abbilden, was es in diesem unseren Brasilien gibt. Von da an kann es wirksam werden. Vom Moment an, an dem es unsere Wirklichkeit abbildet, an dem es unsere Probleme verbreitet, unsere Konflikte, unseren Alltag, kann es ein beschleunigendes Element im Übergang von einem Stadium in das nächste [...] werden.70

Das Fernsehen erhält somit eine fundamentale Aufgabe in der Entwicklung Brasiliens: Wieder ist es die Forderung nach der Ausrichtung an der „brasilianischen Wirklichkeit“, die an das Medium gestellt wird, aber indem es zu einer Konfrontation mit dieser Realität führt, unterstützt es das Land bei der Überwindung seiner Probleme. Carvalho deutet in ihrer Analyse des Telejournalismus von Globo auch an, dass ausgerechnet Nachrichten am realitätsfernsten seien, andere Genres im selben Sender sich dagegen offener zeigten. Das Problem der Realitätsentfremdung gestaltet sich daher etwas vielschichtiger, als es auf Anhieb erscheinen mag. Auch Santuza Naves Ribeiro und Isaura Botelho weisen in einem weiteren Artikel über das brasilianische Fernsehen in den siebziger Jahren auf die – immer diskursiv verstandene – Ambivalenz des Mediums hin. Sie schätzen es als „hybrid“ ein und meinen damit, dass es ebenso „progressive“ wie „reaktionäre“ Diskurse überträgt. Während die TV-Nachrichten „nationale Geschehnisse“ verschweigen, greifen andere Genres „drängende Themen der brasilianischen Wirklichkeit“ auf. Vor allem innerhalb Rede Globos tun sich Spannungen auf zwischen der „ideologia do dono“ (der „Ideologie des Eigentümers“) und den Ansprüchen des heterogenen Publikums, die sich angesichts einer ab Mitte der siebziger Jahre nachlassenden Zensur auch im Programm wiederfinden (Ribeiro/Botelho 1980a: 85-87). Angesprochen sind damit die fiktionalen Serien, die Telenovelas und die Kurzserien. Insbesondere die Telenovelas übernehmen damit eine fundamentale Funktion für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Mediums. Dies sei an dieser Stelle lediglich angemerkt und wird im Folgekapitel ausgeführt. Zunächst soll einem weiteren Stichwort Carvalhos nachgegangen werden, das auch für die Telenovelas wichtig ist, dem des ästhetischen Formats. Damit hängt die bildtechnische Professionalität zusammen, die Rede Globo 70 „Ela [a televisão] não deve simplesmente retratar uma maioria, mas também as minorias, deve retratar tudo que possa existir nesse nosso Brasil. A partir daí, passará a ser atuante. A partir do momento em que retrate a nossa realidade, em que vulgarize os nossos problemas, os nossos conflitos, o nosso dia-a-dia, passará a existir como elemento acelerador da passagem de um estágio a outro [...]“ (Avancini in Avancini/ Pontes/Sodré 1976: 127).

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zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Globo übernahm praktisch das Fernsehmodell von TV Excelsior (Costa 1986: 166). Gemeint ist nicht nur das network-Prinzip sondern auch das Programmgitter, das Globo perfektioniert hat. Entscheidend ist, dass Globo in der Nachfolge von TV Excelsior die Gestaltung des Programms zu seinem Schwerpunkt gemacht hat – und diese übrigens nie wieder aus der Hand gegeben hat, etwa an unabhängige oder ausgelagerte Produktionsfirmen. Globo produziert fast sein gesamtes Programm selbst. D.h., dass das Unternehmen auch die Sponsoren aus der Programmproduktion verdrängt hat und nicht mehr Sendeplätze vermietet, sondern die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Auf diese richtet sich der riesige Produktionsapparat des Senders aus. Mit einer eigenen Marktforschungsabteilung beispielsweise versucht Globo Publikumstendenzen zu erfassen und frühzeitig darauf zu reagieren. Globos Hegemonie seit den 70er Jahren beruht im Grunde nicht auf der Überzahl von Sendern und Retransmissionsstationen. Globo setzte sich gegen die heftige Konkurrenz von Tupi und anderen Sendern durch, indem sich der Sender auf sein einheitliches Programm konzentrierte (Caparelli/Santos 2002: 98). Dies unterscheidet Globo grundsätzlich von Televisa, das seine Dominanz einer jahrzehntelang konkurrenzlosen Sendergruppe verdankt, deren Einzelsender das Publikum unter sich aufteilen.71 Globo hat das Programmdispositiv, das Excelsior in Brasilien eingeführt hat, perfektioniert, indem es seinen ganzen Ehrgeiz daran setzte, das Gitter mit einer Sogkraft auszustatten, die die Zuschauer nicht mehr sich selbst überlassen sollte. Globo setzt dabei nicht nur auf bestimmte Gattungen (speziell auf die Telenovela) sondern auch auf eine durchgängige Formatierung der Sendungen als technisch hochwertige Bilder. In diesem Sinn ist Globos Ansinnen ein „wesentlich technisches, wesentlich ästhetisches“ (Ribeiro/Botelho 1980b: 78). Gemeint ist, was sich in der brasilianischen Öffentlichkeit als padrão Globo de qualidade eingebürgert hat, als Globos Qualitätsstandard. Dieser technische Bildstandard kennzeichnet sich durch Makellosigkeit und den Einsatz immer neuester Technik, die dem Bild besondere Effekte verleiht, wie sie z.B. in den aufwändigen Eröffnungssequenzen der einzelnen Sendungen zum Ausdruck kommen. Globo bemüht sich, sein Bild immer durchgängig im gesamten Programm auf dem je neuesten internationalen Stand der Technik zu gestalten. Metz hatte in der Technik bekanntlich den eigentlichen Fetisch des Kinos erkannt. Der Fetisch verweist auf den Mangel, auf die Abwesenheit, die für das Kino-Dispositiv charakteristisch sind, und überträgt die Begierde nach dem Abwesenden auf sich selbst. Diese Funktion des Fetischs übernimmt im Kino die Technik, die die Abwesenheit nicht nur des Signifikats sondern auch des Signifikanten ermöglicht, indem sie ihn verdeckt. Die Technik begründet die Kluft zwischen Anwesenheit und Abwesenheit und macht sich stellvertretend für das Abwesende (und in Ergänzung zum voyeuristischen Begehren) zum Objekt der Schaulust (Metz 1975: 51-55). In diesem Sinn versucht der padrão Globo de 71 Ähnlich wie Televisa ist Globo jedoch ein riesiges Konzernimperium, das über hundert Firmen gebietet, die mit Verlagen, Radiosendern, einer Zeitung, einer Plattenfirma, einer Presseagentur u.a. fast die gesamte Palette der Kulturindustrie abdecken. Dazu kommen etliche weitere Investitionen, wie z.B. große Ländereien (Melo 1988: 21-22).

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qualidade, Kino in Bildschirmformat zu sein. Globo versucht in Anlehnung an das Kino, durch ein technisch aufwändiges Bild, den Zuschauer fetischistisch an den Bildschirm zu bannen. Mit dieser Bildästhetik versucht sich Globo, von allen tatsächlichen und möglichen Konkurrenten abzusetzen. Globo hat dabei keine Kosten gescheut. Die Zentralisierung der Produktion in Rio de Janeiro kam dieser Strategie zugute, und ermöglichte es, die Kostenersparnis, die sich aus der Ausstrahlung eines einzigen Programms für das gesamte Land (statt mehrerer lokaler Programme) ergab, für die technische Aufrüstung des Programms zu nutzen. Tatsächlich hat sich Marinho nach eigenen Angaben vierzehn Jahre lang bei den Gewinnentnahmen zurückgehalten und während dieses Zeitraums alle Gewinne in Rede Globo reinvestiert (Kehl 1986: 177). Den Aufbau dieses Produktionsapparates überließ Marinho hochbegabten Fernsehleuten wie Boni (Produktionsdirektion) und Walter Clark (Programmdirektion). Der Dritte im Bunde war Joseph Wallach (Finanzdirektion), den Time-Life geschickt hatte, und der später von Globo übernommen wurde. Dieses Führungsteam erhielt vom dono freie Hand für die Gestaltung des Programms und die Leitung des Senders (Wallach 2000: 123). Der Verdienst insbesondere von Boni und Clark ist es, dass Rede Globo den Anspruch nach einer „Hollywood brasileira“ eingelöst hat.72 Sie sorgten dafür, dass Rede Globo nicht nur Bewusstseins- sondern auch Traumfabrik wurde. Boni weist darauf hin, dass die vielzitierte „Gewohnheit“, in die sich das Programm bei den Zuschauern verwandeln sollte und verwandelt hat, nicht nur auf der Gitterstruktur des Programms beruht, sondern auch auf „Zuneigung“ („afeto“): „Der Zuschauer gewöhnt sich daran, Fernsehen zu schauen, weil er Zuneigung dazu entwickelt.“73 In dieser „Zuneigung“ kommt die fetischistische Schaulust zum Ausdruck. „Ein modernes Fernsehen für ein nicht so modernes Land“, so umschreibt Maria Rita Kehl Globos Strategie (173). Der postkoloniale Kontext der „Unterentwicklung“ intensiviert den Fetischismus der Technik im TVBild. Das moderne Bild verdeckt den Mangel an (einem modernen) Brasilien und entzieht es – als schlichtes Bild – dem Zuschauer zugleich. Auf eigentümliche Weise wuchert die technische Fortschrittlichkeit des Fernsehbildes in der Peripherie mit dem sozio-skopophilen Verlangen nach abwesendem Fortschritt. Es kommen jedoch noch andere Dinge in der von Boni angesprochenen „Zuneigung“ zum Ausdruck. Der Sender richtet sich – das ist zumindest sein Anspruch – strikt an den Zuschauern aus, um langfristig ihre Zuneigung und ihr Vertrautsein zu gewinnen. Dies kann im Rahmen der „Unterentwicklung“ nicht nur durch den Techno-Fetischismus gelingen sondern vor allem durch Brasilianität. Globo weicht dem Vorwurf der nationalen Entfremdung als 72 Diese Bezeichnung ist für Rede Globo schon völlig geläufig geworden. Die Wochenzeitschrift Veja nannte sie beispielsweise schon 1976 so (o.A. 1976: 87). Der Telenovela-Historiker Mauro Alencar bringt mit seinem Buch A Hollywood brasileira. Panorama da telenovela no Brasil auf den Punkt, dass sich Globos Kino-Fiktion der Telenovela verdankt, worauf im Folgenden einzugehen sein wird (Alencar 2002). 73 „Na relação do hábito passa a existir também a afetividade. O espectador fica habituado a ver televisão porque passa a ter afeto por ela“ (Boni zitiert nach Kehl 1986: 186).

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Helfer des US-amerikanischen Kulturimperialismus aus, indem der Sender sein Programm fast ausschließlich aus „brasilianischen“ Sendesegmenten zusammensetzt, die er selber produziert. Im Kampf gegen die „consciência enlatada“ sendet Globo nur wenige Dosen-Produktionen aus dem Ausland (d.h. aus den USA).74 Auch in diesem Sinne präsentiert sich der Sender als Hollywood brasileira, das technisch anspruchsvolle, brasilianische TV-Welten produziert. Das wichtigste „brasilianische“ Genre ist die Telenovela.75 Der Erfolg scheint Rede Globo recht zu geben. Seit Anfang der siebziger Jahre dominiert der Sender die Einschaltquoten. 1982 erreichte Globo 99% aller Haushalte mit Fernsehgerät (Fox 1997: 60). Diese befinden sich zu knapp 70% in den Städten (Melo 1988: 21).76 Bis zu 75% von den Zuschauern brachte der Sender damals in der Hauptsendezeit zwischen 20 und 22 Uhr dazu, sein Programm zu wählen (Fox 1997: 60). Zwanzig Jahre später fiel Globos Quote (zwischen 18 und 24 Uhr) auf 61% und wahrte damit einen gewaltigen Abstand zum nächsten Konkurrenten SBT, der auf 20% des Publikums auf diesen Sendeplätzen kam. Globos Durchschnittsquote lag bei 53%, der nächstplatzierte Sender SBT bei 25% (IP 2000: 128). Globos Beinahe-Monopol schien selbst den Militärs nicht ganz geheuer zu sein, und sie förderten die Entstehung zweier neuer Sender nach dem Zusammenbruch von Rede Tupi 1980. Rede Manchete und Sistema Brasileiro de Televisão (SBT) erhielten eine Lizenz (Caparelli/Santos 2002: 78). Die Skepsis des Militärregimes gegenüber Rede Globo war, wie sich 1984 zeigte, durchaus berechtigt, denn den anschwellenden öffentlichen Druck bekam auch Rede Globo zu spüren. In Großdemonstrationen forderten Hunderttausende, den ersten zivilen Präsidenten seit 20 Jahren in Direktwahlen zu bestimmen („diretas já“). Globo schwieg diese Proteste so lange tot, bis der Sender selbst zum Gegenstand der Empörung wurde.77 Rede Globo wechselte plötzlich die Seiten und unterstützte den Oppositionskandidaten in der Präsidentschaftswahl, die trotz der Proteste vom Kongress gewählt wurde. Dieser Kandidat, Tancredo Neves, setzte sich durch und bestimmte (kurz bevor er plötzlich starb) einen Telekommunikationsminister (Antônio Carlos Magalhães), der Globo genehm war. Die Demokratisierung der Politik führte nicht zu einer Demokratisierung des Fernsehens. Antônio Carlos Magalhães erneuerte alte Konzessionen und nutzte die Lizenzvergabe zum politischen 74 Ende der achtziger Jahre sendete Rede Globo ein tägliches Programm von 21 Stunden, von denen fast alle selbst produziert wurden, darunter vor allem Telenovelas und minisséries, journalistische Sendungen, Shows und Sport. Ausnahmen bilden Import-Sendungen wie Krimi- und Zeichentrickserien sowie Spielfilme, die jedoch außerhalb der prime-time-Schiene untergebracht werden (Melo 1988: 20). 75 Die (unten zu klärende) Frage drängt sich auf, was für ein Brasilien Globo sendet. 76 Nachdem sich die Land-Stadt-Emigration besonders in den fünfziger und sechziger Jahren verschärft hatte (jährliche Wachstumsrate der Städte in den 50er Jahren: 5,5%, in den 60ern: 4,8%, in den 70ern: 4,1%), lebten 1980 bereits 67,6% der Bevölkerung in den Städten (Oliveira/Roberts 1994: 317). 77 Einer der Slogans auf den Demonstrationen war: „Das Volk ist nicht dämlich, nieder mit Rede Globo“ („O povo não é bobo, abaixo a Rede Globo“). Zur größten Protestkundgebung der diretas-já-Bewegung s. den Bericht der Folha de São Paulo vom 17.04.1984 (Online-Dokument auf http://almanaque.folha.uol.com.br/brasil_17abr 1984.htm, zuletzt aufgesucht: 23.04.2010).

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Machterhalt der Regierung. Radio- u. TV-Lizenzen mutierten zu einer „politischen Währung“ und konnten gegen Unterstützung der Regierungspolitik erkauft werden. In der Amtszeit der ersten Zivilregierung unter José Sarney (1985-1990) erhielten 91 Parlamentarier im Gegenzug für ihre Regierungstreue Rundfunklizenzen. Die Zahl der Parlamentarier mit Sendelizenzen wuchs von 55 auf 146, das sind 26,1% der 559 Abgeordneten. Der Minister und der Präsident gewährten auch sich selbst Lizenzen. Coronelismo eletrônico wird diese unmittelbare Instrumentalisierung des Rundfunks durch lokale Politiker genannt (81-83). Globo jedenfalls arrangierte sich schnell mit den neuen Machthabern und war stets auf der Seite der Regierung (gegen TV Globo gab es auch keine Regierung). Ab den neunziger Jahren verliert Globo Marktanteile an seinen Mitbewerber SBT. Die Verluste sind zwar marginal, für den Fast-Monopolisten jedoch alarmierend. SBT nämlich konkurriert erst gar nicht mit dem Qualitätsstandard von Globo sondern im Gegenteil mit einer „Ästhetik des Grotesken“, die insbesondere die unteren Einkommensschichten anspricht. Dies ist der Schwachpunkt von Rede Globo, denn um diese Zuschauerschichten bemüht sich der Sender am Wenigsten (103-104).

5.2 Fernsehen in Mexiko 5.2.1 R ADIO

UND

P OSREVOLUCIÓN

Experimentiert wurde mit dem Fernsehen in Mexiko zur gleichen Zeit wie etwa in Deutschland, Großbritannien oder USA, also schon zu Beginn der dreißiger Jahre. 1931 wurden erste Fernsehübertragungen durchgeführt, die noch auf dem mechanischen Bildverarbeitungsverfahren der Nipkow-Scheibe beruhten. Finanziert wurden diese Versuche von der nachrevolutionären Regierung, bzw. vom Partido Nacional Revolucionario (PNR). Die (Staats-) Partei hatte großes Interesse an dem neuen Medium, das sie für ihre propagandistischen Zwecke einzusetzen gedachte (Mejía Barquera 1998: 20-21).78 Der PNR erwog zunächst, seine elektronische Präsenz, die er mit dem Radio initiiert hatte, auf eine televisuelle Basis zu stellen. Zu berücksichtigen ist, dass das Radio in Mexiko ein Phänomen der posrevolución war. Der aus der Mexikanischen Revolution hervorgegangene Einparteienstaat hatte großes Interesse an dem drahtlosen Medium. Es sollte staatliches Handeln legitimieren, aber auch zu Bildungszwecken eingesetzt werden. 1923 richtete die Regierung eine Radio-Abteilung innerhalb des Ministeriums für Kommunikation und öffentliche Arbeiten (Secretaría de Comunicaciones y Obras Públicas) ein. 1924 gründete das Bildungsministerium (Secretaría de la Educación Pública) den Sender CYE (später CZE), aus dem später Radio Educación hervorging. Plutarco Elías Calles ließ seine erste Regierungsansprache als Präsident von CYE übertragen. 1930 rief der Partido Nacional Revolucionario einen eigenen Parteisender ins Leben, XEFO, auch genannt „Radio Na-

78 Zur ‚Urgeschichte‘ des mexikanischen Fernsehens siehe auch Hernández Lomelí (1995).

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cional de México“ (Toussaint 1998: 77 und Romo 1991: 18).79 Zugleich aber wurde eine Reihe von privaten Sendern gegründet, meist durch Zeitungsverleger.80 Diese gestalteten eine Programmmischung aus Musik und Zeitungsnachrichten. Von Anfang an finanzierten sie sich durch Werbung. Trotz des staatlichen Interesses am Medium setzte sich sehr schnell das kommerzielle Betriebsmodell durch. Der Staat sah offenbar keine Alternative zur Werbefinanzierung des Radios. Allerdings nutzte die Regierung die privaten Sender und verpflichtete sie 1937, wöchentlich eine Regierungssendung auszustrahlen, „La hora nacional“. Zuvor hatte sie sich 1926 mit dem Gesetz der Elektrischen Kommunikation (Ley de comunicaciones eléctricas) die Vergabe der Betriebslizenzen gesichert. Auch der Parteisender XEFO musste sich seine Einnahmen größtenteils mit Werbung verdienen. Das bedeutet, dass XEFO nicht als reiner Informations- oder PropagandaSender konzipiert wurde sondern auch als Unterhaltungsradio. Die Anstalt war beispielsweise die erste, die Radionovelas ausstrahlte. Die wichtigste Aufgabe von XEFO bestand somit darin, dem rein privatwirtschaftlichen Radio die Stirn zu bieten (Berrueco García 2006: 85). Der wichtigste Privatsender nahm im selben Jahr wie das „Radio Nacional“ seinen Betrieb auf (1930). Es handelt sich um XEW. Der Sender wurde von Emilio Azcárraga Vidaurreta, dem Bruder von Raúl Azcárraga Vidaurreta (Inhaber von Casa del Radio), gegründet und ist übrigens heute noch in Betrieb. XEW legte den Grundstein für die weitere Entwicklung des gesamten Rundfunks in Mexiko: Gemeint ist nicht nur der Triumph des kommerziellen Modells sondern v.a. der zielstrebige Ausbau der Sendeanstalten zu landesweiten networks. XEW betrieb den Aufbau der Senderkette nicht allein sondern war im Grunde ein Ableger des National Broadcasting System (NBC) in Mexiko.81 1938 gründete Azcárraga Vidaurreta den Sender XEQ, gliederte ihn CBS an und baute eine zweite Senderkette auf. 1941 ging er mit Clemente Serna Martínez zusammen, der den größten Sender in Monterrey besaß, und gründete mit ihm Radio Programas de Méxiko (RPM). Ein Jahr später bildete RPM einen verschalteten Verbund von sechzig Radiostationen im ganzen Land – die Hälfte aller damaligen Radiosender. Azcárraga Vidaurretas Ziel war jedoch nicht nur der nationale Markt. Seine Strategie war transnational ausgerichtet und sah einen hispanoamerikanischen Sender79 Entstanden ist das Radio in Mexiko schon 1921 (ein Jahr nach den ersten Übertragungen in Pittsburgh) mit verschiedenen, fast gleichzeitigen Amateurübertragungen. Im gleichen Jahr entsteht die Liga Nacional de Radio in Mexiko-Stadt, die sich im Folgejahr in Liga Central Mexicana de Radio umbenannte. 1923 wurden die Sender 1-J und JH gegründet. Letztere wurde vom Kriegs- und Marine-Ministerium übernommen und war neun Monate auf Sendung. Die Liga unterbreitet dem Präsidenten Vorschläge zur gesetzlichen Regelung des Radios und organisiert die erste RadioMesse (Feria del radio) (Romo 1991: 16-17). 80 1923 wurde CYL von El Universal ilustrado und der Casa del Radio ins Leben gerufen. Letztere war im Besitz von Raúl Azcárraga Vidaurreta. Im selben Jahr gründete auch der Zeitungsverlag El Mundo einen Sender, ebenso der von Excélsior (Romo 1991: 17-18). 81 Emilio Azcárraga war ursprünglich Leiter von México Music Co., eine Filiale von RCA, die das US-network NBC betrieb. Über México Music Co. hielt RCA anfangs 87,5% der Anteile von XEW (Toussaint 1998: 77-79 und Berrueco García 2006: 85).

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verbund vor. 1945 besaß RPM Sender in elf Ländern in Mittel- und Südamerika sowie in der Karibik (Hayes 2000: 69-70). XEW wurde zur „Voz de la América Latina desde México“ erklärt (Berrueco García 2006 : 85). Wie sich zeigt, hat sich in Mexiko das kommerzielle Rundfunk-network im Gegensatz zu Brasilien schon während der Radio-Ära durchgesetzt. Dazu gehört auch die Ausschaltung staatlicher Konkurrenz. 1946 wurde XEFO mit seiner Lizenz dem Radiounternehmer Francisco Aguirre verkauft. Die Privatisierung des Parteisenders fand schon im ersten Amtsjahr von Miguél Alemán Valdés (1946-1952) statt, dem ersten zivilen Präsidenten im postrevolutionären Mexiko. Sie ist bezeichnend für die marktwirtschaftliche Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei, die sich seit 1946 übrigens Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) nennt. Die Industrialisierungspolitik von Alemán Valdés sorgte zwar für erhöhtes Wirtschaftswachstum, kam aber in erster Linie den Unternehmern zugute, insbesondere solchen, die dem Präsidenten nahe standen. Er selbst hielt sich mit unternehmerischen Tätigkeiten nicht zurück, worauf noch einzugehen sein wird. Einer der Unternehmer, der sich der besonderen Gunst des Präsidenten erfreute, war Emilio Azcárraga Vidaurreta (Escalante Gonzalbo 2009: 278). Ein herausragendes Beispiel von Alemán Valdés’ unternehmerfreundlicher Politik ist der Rückzug des Staates aus dem Radiobetrieb, der damit der Privatinitiative (v.a. RPM) überlassen wurde (vgl. Fox 1997: 38).

5.2.2 F ERNSEHEN

UND

P OSGUERRA

In Alemán Valdés’ Regierungszeit fiel auch die Einführung des Fernsehens. Zunächst wurden verschiedene Optionen geprüft und die Entwicklung nationaler technischer Lösungen gefördert. Dafür unterstützten die Revolutionspartei und auch Azcárraga Vidaurreta den Elektronikingenieur Guillermo González Camarena, der schon 1934 eine eigene vollelektronische Kamera gebaut hatte. 1940 meldete er gar das erste Farbfernsehpatent der Welt an. Seit 1946 führte er erste öffentliche Fernsehübertragungen durch, ab 1949 in Farbe. Als er im Januar 1950 die Konzession zum Betrieb eines Fernsehsenders (Canal 5) erhielt, rüstete er diesen mit der von ihm entwickelten Technik aus und ging im August desselben Jahres regelmäßig auf Sendung. Allerdings war er der Einzige, der nicht (vollständig) auf importierte Gerätschaften zurückgriff, denn die beiden anderen Sender, die im selben Jahr gegründet wurden, übernahmen die technischen Ausrüstungen der US-Konzerne RCA bzw. General Electric/Dumont. Es handelt sich dabei zum Einen um den Zeitungsunternehmer Rómulo O’Farrill, der zuvor (1947) den Radiosender XEX gegründet hatte. Mit der Übertragung der Rede des Präsidenten Alemán Valdés an die Nation (Informe) nahm O’Farrills Sender Canal 4 seinen Betrieb im September 1950 auf. Zum Anderen handelt es sich um Emilio Azcárraga Vidaurreta und seinen Canal 2, der im März 1951 auf Sendung ging. Die Entscheidung, dass es sich bei dem nun entstehenden Fernsehsystem um ein rein kommerzielles handeln sollte, fiel Ende der vierziger Jahre. 1947 wurden González Camarena und der Schriftsteller Salvador Novo gemeinsam in die USA und nach Europa geschickt, um verschiedene TV-Systeme zu 169

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prüfen und dem Präsidenten eine Empfehlung auszusprechen. Dies taten sie jedoch nicht, sondern übergaben eine zweiteilige Expertise, in der einerseits das öffentlich-rechtliche System beispielsweise der BBC gelobt wird (Novo) und andererseits das kommerzielle der USA (González Camarena). Alemán Valdés entschied sich schließlich für das US-Modell (Mejía Barquera 1998: 20-28 und Toussaint 1998: 81). Wie Jenaro Villamil kommentiert, handelte es sich bei der Kommission von Novo und González Camarena letztlich um ein politisches Manöver, das die Option zugunsten des kommerziellen Fernsehsystems legitimieren sollte (Villamil 2005: 18-20). Dabei stellen sich einige Fragen: Warum werden eigene technische Entwicklungen erst gefördert, später aber nicht angewandt? Wenn dies u.a. daran liegen sollte, dass die engen Geschäftsbeziehungen zur US-amerikanischen Rundfunkindustrie wie im Falle Azcárraga Vidaurretas dafür keinen Raum ließen, bleibt zu fragen, warum sich das kommerzielle Modell des US-Fernsehens in einer Einparteienherrschaft durchsetzen konnte, die am Rundfunk zur Ausdehnung ihrer Macht äußerst interessiert war. Warum enthält sich ein autoritärer Staat, der sich zuvor intensiv in der Radiophonie engagiert hatte, nun plötzlich der neuen propagandistischen Möglichkeiten des Fernsehens? Warum fördert er erst aktiv die Entwicklung des Mediums, um sich dann zurückzuziehen und beste Geschäftsbedingungen für die Privatinitiative zu schaffen? Der Fernsehwissenschaftler Guillermo Orozco entwickelt hierzu die Hypothese, dass sich die Partei spätestens in der Amtsperiode von Alemán Valdés vollständig von den Grundsätzen der Revolution entfernt hatte, um sich nun einer unternehmensfreundlichen Förderung der wirtschaftlichen Privatinitiative zu verschreiben. Noch unter der Regierung des national-progressiven Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río (1934-1940) wurde nicht nur die staatliche Präsenz im Radio (z.B. während der „Hora nacional“) ausgebaut sondern auch mexikanische Ansätze zur Fernsehentwicklung gefördert (etwa durch die finanzielle Unterstützung der Arbeiten von González Camarena) (vgl. Villamil 2005: 16). Der erwähnte Rückzug des Staates aus dem Radiobetrieb unter Miguel Alemán deutet bereits darauf hin, dass die öffentliche Hand auch das Fernsehen vollständig der Privatwirtschaft überantworten würde. Offensichtlich hat dies auch damit zu tun, dass der Präsident am Fernsehgeschäft persönlich ein starkes Interesse hatte. Nach Beendigung seines sexenio stieg Alemán Valdés selbst als Anteilseigner in das TV-Business ein (Orozco 2002: 209-210). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, wie sie die Regierung von Lázaro Cárdenas (beispielsweise im Bereich der Agrarreform oder der Verstaatlichung der Erdölindustrie) betrieb, schon unmittelbar von der Nachfolgeregierung unter Ávila Camacho (1940-1946) zurückgenommen wurde. Aus dem beständigen revolutionären Kampf wurde nun ein „Erbe“, das es friedlich zu hegen galt. Héctor Aguilar Camín und Lorenzo Meyer bezeichnen dies als die „große Wende“ der „revolutionären Regierungen“ nach Cárdenas: Die Revolution sollte nun durch Wirtschaftswachstum und allgemeinen Wohlstand fortgeführt werden. Eingelöst werden sollte das Prosperitätsversprechen durch eine Industriepolitik, die – wie auch in Brasilien – die einheimische Wirtschaft durch Importsubstitutionen zu entwickeln hatte (Camín/Meyer 2010: 191193). Wie sich im brasilianisch-mexikanischen Vergleich zeigt, wiederholt sich im Grunde das Muster der konservativen Modernisierung, wenngleich 170

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die Rahmenbedingungen im einzelnen sehr unterschiedlich sind. Zu diesen Bedingungen zählen nicht nur die „revolutionären Regierungen“, die ihr Handeln als Etappe im historischen Prozess fortschreitender Gerechtigkeit ausgeben. Zu ihnen gehört auch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der Mexiko in ein Bündnis mit dem Land führte, das kurz zuvor noch als wichtigste Bedrohung der nationalen Souveränität galt. Auch nach Kriegsende wurde die Anbindung an den mächtigen Nachbarn nicht aufgehoben. Nationale Emanzipation wurde nun zum wirtschaftlichen Entwicklungsziel, denn nur die Industrialisierung des Landes – so der offizielle Diskurs seit 1940 – ermögliche den Ausbruch aus der Unterentwicklung, der erst die volle nationale Unabhängigkeit gewährleiste. Die Industrialisierung jedoch erforderte die Partnerschaft mit den USA (195, 198). Wie im Falle anderer autoritärer Regimes in Lateinamerika wurde die Begünstigung der großen Unternehmen mit dem Argument gerechtfertigt, dass Wohlstand, um ihn zu verteilen, erst einmal geschaffen werden müsse. Allerdings wurde der Verteilung des so erzielten Vermögens keine Fristen gesetzt, wie beiden genannten Historiker schreiben. Aus mangelndem Interesse seitens der Politiker und Unternehmer kam es nicht mehr zum zweiten Teil des Versprechens, die Bevölkerung am zuvor akkumulierten Kapital teilhaben zu lassen. In der Folge ging mit dem Industrialisierungsschub eine Einkommenskonzentration einher, die de facto zu einer Umverteilung von unten nach oben führte (191-199).82

5.2.3 D AS F ERNSEHMONOPOL T ELEVISA Das enge Kriegsbündnis mit der Weltmacht schaffte Wunder in der Wirtschaft, wenngleich vergängliche. Es trug auch wesentlich zur Grundlegung des mexikanischen Fernsehens bei. Wie bereits erwähnt, setzte sich das USamerikanische Fernsehsystem mit seiner technischen Normierung vollständig durch. Die finanziellen Bedingungen des Fernsehens waren in der Gründungsphase schwierig, denn 1951 existierten gerade einmal 5000 Empfangsgeräte im ganzen Land (in den USA waren es zu diesem Zeitpunkt schon 82 Während des „mexikanischen Wirtschaftswunders“ zwischen 1940 und 1960 wuchs die Wirtschaft um durchschnittlich 6% jährlich. Aber das Ergebnis widersprach vollständig der offiziellen Rhetorik von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Autonomie. 1950 betrug der Anteil der ärmeren Hälfte der Bevölkerung 19% am Gesamteinkommen der Volkswirtschaft. Bis 1975 fiel dieser Anteil auf 13%. Im Gegenzug bezog das reichste Fünftel der Bevölkerung 1950 60% des zur Verfügung stehenden Einkommens. 1975 waren es über 62%. Der Großteil des Kapitals und der Technologie der mexikanischen Industrialisierung stammte aus den USA. In der Folge wurden 60 bis 70 % des mexikanischen Außenhandels in der Nachkriegszeit mit den USA abgewickelt (Camín/Meyer 2010: 194-195). Der Roman La región más transparente (Landschaft in klarem Licht) von Carlos Fuentes aus dem Jahr 1958 stellt die Herrschaft des Fortschrittsdogmas in der mexikanischen Gesellschaft der vierziger und fünfziger Jahre heraus, mit dessen Hilfe sich eine neue unternehmerische Bourgeoise die Machtpositionen der alten Agrar-Oligarchie sicherte, gegen die sich die Revolution einmal gewandt hatte (Fuentes 2005).

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zehn Millionen). Fernsehen war wie in Brasilien in der kaufkraftarmen Bevölkerung ein großer Luxus und für die Betreiber ein finanzieller Ruin, da sich kaum Werbekunden fanden. Die Strategie, ein maximales Publikum zu erreichen, bestand neben der Popularisierung der Apparate darin, nach USMuster möglichst schnell ein network in Mexiko aufzubauen und eine landesweite Zuhörerschaft zu gewinnen. Mit diesem Projekt starteten nun gleich drei Bewerber gleichzeitig. Im folgenden zeigt sich, wie das mexikanische Fernsehen vom Modell des Großen Nachbarn signifikant abwich. Aus der Sicht vor allem eines TVUnternehmers musste es darum gehen, wenn nicht gar die Konkurrenten so wenigstens die Konkurrenzbedingungen auszuschalten. Azcárraga Vidaurreta übertrug die Strategie, mit der er schon im Radiogeschäft triumphierte, auf das Fernsehen. 1954 verleibte er sich den Canal 5 von González Camarena ein. Ein Jahr später fusionierten die Unternehmen von Azcárraga Vidaurreta und O’Farrill und bildeten Telesistema Mexicano (TSM). So existierte nur noch ein einziger kommerzieller Fernsehanbieter in Mexiko, der von den Familien Azcárraga und O’Farrill bestimmt wurde. Er wurde unverzüglich zu einer landesweiten Senderkette ausgebaut (Mejía Barquera 1998: 28-31).83 1959 sendet TSM bereits in 20 der 31 mexikanischen Bundesstaaten. 1968 erreicht das Telesistema alle Bundesstaaten (Orozco 2007a: 52). Bis heute blieben die drei Kanäle erhalten, teilen das Publikum unter sich auf und erwecken den Anschein von Sendervielfalt. Die Regierung hatte keine Einwände gegen die Monopolbildung sondern betrieb sie sogar aktiv (Orozco 2002: 208). Zwar schaltete sich der Staat immer wieder mit eigenen Sendern in den Fernsehmarkt ein und gründete beispielsweise 1959 den Kultursender Canal 11, der noch heute vom Instituto Politécnico Nacional betrieben wird. Er hatte aber nie ein Interesse daran, ein öffentlich-rechtliches Gegengewicht zu TSM zu schaffen (211). Bei aller wirtschaftlicher und politischer Strategie existierte jedoch noch keine klare Programm-Idee. Das Fernsehen verkaufte Sendezeit, nicht Werbezeit an Kunden, die also mittels Werbeagenturen ihre Sendungen selber produzierten. Das Fernsehen entsprach damit wie in Brasilien dem Modell der toll broadcasting station des Radios. Weder die Radiosender zuvor noch später die Fernsehstationen verkauften einzelne Sendungen sondern nur den Rahmen, den die Kunden selber ausfüllten. Für die Gattungen, mit anderen Worten, waren die Werbekunden und ihre Agenturen zuständig. Diese waren dieselben wie im Radio, und sie orientierten sich an den bewährten Formaten Nachrichten, Sportberichterstattungen, Musiksendungen etc. Das neue Medium übernahm die gesamte Struktur des Radios mit seinen Kreativen und Technikern. Da zu Beginn aufgrund mangelnder Speichermöglichkeiten fast alles live gesendet wurde, konnten aber die radiophonen Seriendramen der Radionovela zunächst nicht transponiert werden, deren Live-Produktion für das mexikanische Fernsehen zu aufwändig gewesen wäre.84 Die meisten Werbekunden (insbesondere die transnational agierenden Hygienemittelhersteller) hatten jedoch nicht nur bereits vorgegeben, welche Gattungen vom 83 Präsident des Konsortiums wurde Emilio Azcárraga Vidaurreta, Vizepräsident Rómulo O’Farrill. 84 Die einzige TV-Speichermöglichkeit bot bisher das bereits erwähnte TV-Filmverfahren, das jedoch teuer und minderer Qualität war.

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Radio zu senden waren, sondern auch die Formierungsphase des Fernsehens in den USA mitgestaltet. Sie entschieden sich daher zunächst wie in den vierziger Jahren in den USA auf das Theater zurückzugreifen und Einzeldramen, die teleteatros, im Studio aufzuführen und zugleich zu senden. Diese Sendereihen versahen sie mit ihrem eigenen Markennamen, wie im Fall des Teatro Colgate. Das Theatergenre entsprach auch den kulturellen Ansprüchen des vermögenden Publikums, das sich die teuren Fernsehgeräte leisten konnte. Dies änderte sich durch die Popularisierung des Mediums und die Einführung des Videotapes 1958/1959, das den Sendern ermöglichte, im großen Stil vorzuproduzieren. Schon kurz zuvor, 1958, lancierte Colgate-Palmolive die erste Telenovela, Senda prohibida, und ließ wegen des großen Publikumserfolges nicht mehr von dem neuen Genre ab (vgl. Maza 1999: 12-14). Zeitversetztes Senden von Videoaufnahmen bedeutet auch, dass nun Einzelsendungen unter den Sendeanstalten zirkulieren können, dass also Programminhalte der großen US-Fernsehketten z.B. aus den USA eingekauft, dass aber auch Sendungen ins Ausland verkauft werden können (vgl. Toussaint 1998: 82). Mit der Videotechnik steigt daher der Anteil der enlatados aus den USA im mexikanischen Fernsehen sprunghaft an. Hinzuzufügen ist jedoch, dass der Programmexport schon zuvor systematisch betrieben wurde, denn das Konsortium TSM gründete im Jahr seiner Entstehung, 1955, eine eigene Abteilung zur auswärtigen Programmvermarktung, die Teleprogramas de México. Bei der frühen, konsequenten Ausrichtung auf den lateinamerikanischen Markt folgte Azcárraga Vidaurreta nicht nur den mexikanischen Kino-Exporten sondern wiederholte die Expansion seines Radiosenders XEW in Hispanoamerika. Hier gab es bereits ein Publikum für mexikanische Melodramen (Noriega/Leach 1978: 17 und Fernández/Paxman 2000: 134). Dem Radio folgte TSM jedoch nicht nur Richtung Süden sondern auch nördlich des Río Bravo. 1961 wurde Spanish International Communication Corporation (SICC) gegründet. Unter diesem Dach wurde ausgehend von einem ersten Sender in San Antonio, Texas, ein Verbund von Sendern in verschiedenen Städten in den USA aufgebaut, der das Programm von TSM ausstrahlte. Die Vermarktung des TSM-Programms in den USA übernahm Spanish International Network (SIN). Wie zuvor mit dem Radio sollten die mexikanischen Einwanderer in den USA angesprochen werden. Damit wurde der Grundstein für die erste spanischsprachige TV-Kette in den USA gelegt (Sinclair 1999: 97-98; Mejía Barquera 1998: 37). Oberste Priorität aber besaß zunächst der Ausbau von TSM zu einem nationalen Netzwerk, das in der Lage war, das gesamte mexikanische Territorium abzudecken und so den Werbekunden ein größtmögliches Publikum für ihre zentral produzierten Sendungen anzubieten. Zur Umsetzung dieses Ziels wurde ein landesweites Netz von Relaisstationen bzw. angegliederten Sendern aufgebaut. Es entstanden also im ganzen Land Sendestationen, die aber dazu verpflichtet wurden, das Programm von TSM aus dem Distrito Federal zu übertragen. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistete der Staat Mitte der sechziger Jahre mit der Errichtung eines Kurzwellensendernetzes, der Red Federal de Microondas, das nun per Satellit angesteuert wurde. Das Ziel war, die Olympischen Spiele von 1968 nicht nur weltweit sondern v.a. im gesamten eigenen Land zu übertragen. Den Vorzug beim Ausbau zu einem „nationalen“ Sender erhielt dabei der ursprünglich von Azcárraga Vidaurreta gegründete Canal 2 (Mejía Barquera 1998: 32-36 und Toussaint 1998: 83). Seit 173

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1936 (und bis heute) lösen die sportlichen Großereignisse der Olympischen Spiele sowie der Fußballweltmeisterschaft Entwicklungsschübe des Fernsehens aus, indem sie eine weltweite jetztzeitige Seh-Lust erwecken (sollen). Neben der (zunächst potentiellen) Erfassung des gesamten Landes durch Canal 2 führte TSM 1968 die Farbübertragung ein. González Camarena hatte seine Technik des Farbfernsehens zu einem System entwickelt, das er Sistema Mexicano de Televisión a Colores nannte. 1963 führte er eine erfolgreiche Farbsendung auf dem von ihm gegründeten Canal 5 durch. Damit war die Praktikabilität seines Farbsystems unter Beweis gestellt. Den Behörden teilte er mit, dass Farbfernsehgeräte mit seiner Farbtechnik in zwei Jahren in Serienproduktion gehen könnten. Dies wäre wesentlich preisgünstiger als die Einführung der US-amerikanischen Farbnorm (NTSC), die das Ministerium für Kommunikation und Transport gerade prüfte. Geräte, die auf der Grundlage seiner Norm in Mexiko hergestellt würden, kosteten, so der Ingenieur, nur die Hälfte der NTSC-Empfänger, die aus den USA eingeführt werden müssten. Zur Entscheidung zugunsten seines Systems kam es aber dennoch nicht. González Camarena starb 1965 bei einem Autounfall, und der Einfluss der US-Fernsehindustrie erwies sich als unüberwindlich. 1967 initiierte TSM die NTSC-Norm in Mexiko mit einer Farbübertragung der jährlichen Rede an die Nation des Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz. Außer den USA waren weltweit nur Japan und Kanada bei der Einführung eines landesweiten Farbfernsehens schneller als TSM (Mejía Barquera 1998: 43-45). Die neueste Technik unverzüglich einzusetzen und einen der (technisch) weltweit modernsten Fernsehsender aufzubauen, war eine Strategie, die nicht nur darauf abzielte, den heimischen Markt zu sichern sondern auch eine grenzenüberschreitende Vormachtstellung zu erringen. Indem TSM, wie angedeutet, 1968 dazu über ging, in Farbe zu produzieren, hängte es lateinamerikanische Konkurrenten wie Rede Globo und den venezolanischen RCTV weit ab, die erst 1972 nachzogen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich TSM zum wichtigsten Produktionszentrum spanischsprachiger Fernsehsendungen entwickelt. Der inländische Fernsehboom der sechziger Jahre vervielfachte das mexikanische Publikum. 1968 scharten sich bereits zwei Millionen Haushalte um je ein Fernsehgerät. Voraussetzung hierfür war auch eine Neuausrichtung des Programms. Angesichts der zunehmenden Fesselung der Zuschauer durch die Telenovela begann TSM, sich auf dieses Format auszurichten. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verdoppelte sich nahezu der Sendeanteil des Genres am Gesamtprogramm und sprang von zwei auf dreieinhalb Stunden täglich (die vormittäglichen Reprisen älterer Serien nicht miteingerechnet). TSM wandelte sich langsam zur „Telenovelafabrik“. Der Zuwachs des Publikums rekrutierte sich immer stärker aus einkommensschwächeren Schichten, deren Gattungspräferenz der Telenovela galt – und darauf stellte sich das TV-Konsortium bedingungslos ein. Für die Industrialisierung der Telenovela-Produktion nach Maßgabe maximaler Kostenesparnis und Beschleunigung des Aufnahmeprozesses war eine technische Erfindung aus dem Jahr 1951 entscheidend, die damals dazu diente, die Produktion der live übertragenen teleteatros zu erleichtern: Gemeint ist der apuntador, ein kleines akustisches Empfangsgerät, das am Ohr der Schauspieler angebracht wurde, und über das ihnen der Text eingeflüstert wurde. Der apuntador ersparte den Schauspielern das Auswendiglernen ihres Textes und den Produzenten viel Zeit. Selbstredend wurde so Quantität und nicht Qualität gewon174

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nen, denn zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Rolle kamen die Schauspieler nicht mehr, aber das war das Ziel von TSM. Auch konvergierten die zu produzierenden Serien immer stärker zur Grundformel der Cenicienta, der Aschenbrödel-Geschichte, deren Prototyp 1966 auf Canal 2 gesendet wurde. María Isabel heißt die Serie, die alle bisherigen Publikumsrekorde einstellte. Sie transponierte den zuvor bereits sehr populären gleichnamigen bebilderten Heftroman (historieta) der Reihe Lágrimas y Risas von Yolanda Vargas Dulché: Ein armes Indio-Mädchen gelangt mit einem Baby auf dem Arm nach Mexiko-Stadt, wo sie eine Arbeit als Hausangestellte annimmt und ohne Unterlass schikaniert wird – zu Unrecht, denn ihre Ehre ist unbefleckt, das Kind ist nicht ihr leibliches. Doch in ihrer Tugendhaftigkeit lässt sie sich nicht beirren, ihre Liebe erweist sich als stärker, und der soziale Aufstieg glückt. Die Serie markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Gattung: Sie bescherte dem Genre einen Popularitätsschub und hob ihre Einschaltquote um 25% an. María Isabel schuf ein neues Publikum auf Canal 2, das Zuschauerinnen disparater Gesellschaftsschichten – señoras sowie sirvientas – gleichermaßen und gleichzeitig vor den Bildschirm zog. Mit María Isabel war ein Modell gefunden, das von nun an vom Unternehmen bis heute unaufhörlich recycelt und neu aufgelegt wird. Die Serie bildet ein ideales Geschäftsmodell für das Fernsehen, denn sie zeigt, wie mit minimalem Aufwand ein maximaler Ertrag zu erwirtschaften ist: Worauf es ankommt, ist (scheinbar) allein das Melodrama, die Geschichte von permanenter Erniedrigung und unausweichlichem Leid der Tugendhaften, die der Bosheit der Welt ausgeliefert sind, letztlich aber aufgrund einer transzendentalen Gerechtigkeit obsiegen. Alles andere – Beleuchtung, Szenario, Ausstattung, narrative Komplexität von Drehbuch und Kameraführung – kann als zweitrangig erachtet und als unnötige Kostenfaktoren vernachlässigt werden. Allein die Visualisierung von Leid und Affekt zählt – und die ist den Schauspielern kostengünstig einzuflüstern (vgl. Fernández/Paxman 2000: 121-127). Voraussetzung für die zunehmende Ausrichtung des Konsortiums auf die Telenovelaproduktion war auch ein Generationswechsel in der Führung – der im toll-broadcasting des Radios groß gewordene Emilio Azcárraga Vidaurreta wurde in der Präsidentschaft von TSM von seinem Sohn Emilio Azcárraga Milmo abgelöst. Dieser folgte einem aktuellen Trend des US-Fernsehens und machte das Unternehmen angesichts der Publikumsakzeptanz des Telenovelaprogramms von den Zwischeninstanzen der Produktionsfirmen und Werbeagenturen unabhängig. In der Konsequenz entstand ein vertikalisierter TV-Konzern, der in einer streng hierarchischen Organisation alle Aktivitäten des TV-Geschäfts unter einem Firmendach integrierte. Nun vermietete das Fernsehen keine Sendeplätze mehr sondern verkaufte Werbezeit in Sendungen nach Maßgabe ihrer Einschaltquote. Aus Kunden, die ihre eigene Sendung produzierten und sie dementsprechend benannten (Su diario Nescafé) wurden nun Sponsoren. Damit übernahm der Konzern die vollständige Kontrolle über sein Programm. Er konnte so auch das Profil seiner einzelnen Kanäle schärfen, um divergente Publikumssegmente zu erfassen. Canal 2 wurde schwerpunktmäßig zum Telenovela-Sender, auf dem auch die

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wichtigsten Nachrichtensendungen liefen.85 Canal 5 erhielt ein Jugendprogramm, das überwiegend aus US-Serien bestand. Canal 4 bot ein gemischtes Programm (135-136). Zurück zum Jahr 1968. Es ist ein Schicksalsjahr in der Zeitgeschichte Mexikos und des mexikanischen Fernsehens. Trotz seines Geschäftserfolges taten sich auch Risiken für TSM auf, die nicht nur von den sich zuspitzenden gesellschaftlichen Konflikten ausgingen (und in der Matanza de Tlatelolco eskalierten) sondern auch aus dem Fernsehmarkt selbst entstanden: Konkurrenz erschien auf dem Bildschirm. 1968 nahm Canal 8 seinen Betrieb auf, der vom Kinoproduzenten Manuel Barbachano Ponce überwiegend mit einem Filmprogramm betrieben wurde. 1970 konnte der Sender vierzehn Sendestationen angliedern und nannte sich nun Telecadena Mexicana. Der Wettbewerb mit TSM war jedoch ruinös, und Barbachano Ponce überließ das Kommando dem bisherigen Anteilseigner Grupo Monterrey, der aus der Telecadena die Televisión Independiente de México (TIM) machte. Aber auch das finanzstarke Industriekonsortium aus Monterrey konnte sich gegenüber der Übermacht von TSM mit seinen drei landesweiten Kanälen nicht behaupten und willigte nach hohen Verlusten 1972 in Verhandlungen ein (Toussaint 1998: 84-85). Mit dem Wohlwollen des Präsidenten Luis Echeverría (1970-1976) kamen TSM und TIM überein, ihre Anstrengungen unter einem Dach zusammenzulegen und gemeinsam in einem neuen Konzern aufzugehen: 1973 nahm Televisión Vía Satélite (Televisa) den Betrieb auf (Orozco 2002: 218 und Mejía Barquera 1998: 48-50).86 Was war passiert? Vielleicht nicht ohne Zufall ergibt sich im Moment der gesellschaftlichen Erschütterung nach Tlatelolco die Möglichkeit einer Öffnung des mexikanischen Fernsehmarktes und der Entwicklung einer Alternative zum eskapistischen Zerstreuungs-Modell. Mit der Fusion von TSM und TIM wurde diese historische Chance jedoch vertan und das mexikanische Fernsehmonopol besiegelt Wie konnte es dazu kommen, und warum unternahm der Staat nichts dagegen? Orozco bezeichnet es als traurige Besonderheit des Fernsehens in Mexiko im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen TV-Systemen, dass ein halbes Jahrhundert lang der perfekten Diktatur des PRI eine dictadura televisiva Televisas entsprach und sich beide gegenseitig stützten. Das „mexikanische Paradox“ bestehe darin, dass das Fernsehen an sich nicht staatlich, sondern privat betrieben wurde, aber vollständig der Regierung und (bis zu ihrer Abwahl 2000) der Partei ergeben war (Orozco 2002: 203-204, 211). Eine symbiotische Beziehung zwischen PRI und TSM/Televisa wahrte von Anbeginn an die Interessen beider Seiten. Eine Radiokette mit der Konzession zum Betrieb eines Fernsehsenders wendet zwar das kommerzielle Modell US-amerikanischer Vorläufer (NBC) konsequent an und übernimmt ihre Ausstattungen u.a. zum Nachteil mexikanischer technischer Ansätze und wirtschaftlicher Möglichkeiten. Im Unterschied zum 85 Auf Canal 2 liefen beispielsweise die berüchtigten Abendnachrichten 24 Horas, die 27 Jahre lang (bis 1998) von Jacobo Zabludovsky moderiert wurden. 86 75% der Anteile von Televisa fielen an TSM, 25% an TIM. Als Präsident des neuen Konzerns wurde Emilio Azcárraga Milmo ernannt, als Vizepräsident Alejandro Sada des Grupo Monterrey. Als das Konsortium aus Monterrey 1982 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, verkaufte sie ihren Anteil an TSM, das nun Azcárraga Milmo vollständig kontrollierte (Mejía Barquera 1998: 50-51).

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US-Modell und bei aller Apologie des Marktes schaltet TSM/Televisa jedoch den Wettbewerb durch den Zusammenschluss mit den Konkurrenten aus und sichert sich dabei stets die Kontrolle über die Fusion. Der Staat begünstigt das Unternehmen durch vorteilhafte Konzessionen, Steuererleichterungen und umfangreichen Käufen von Werbezeiten.87 Darüber hinaus protegiert er die Monopolbildung des Konzerns, ohne dass dafür im Gegenzug öffentliche Aufgaben wie Bildung und Information wahrgenommen würden. So erlaubt er dem Unternehmen, seinen Gewinn durch kostengünstigste Unterhaltungsangebote zu maximieren und sich ungeniert zu bereichern. Televisa setzt dabei Schritt für Schritt seine langfristige transnationale Strategie um und steigt zu einem der größten Medienunternehmen der Welt auf.88 Der Staat hingegen wurde siebzig Jahre lang von einer Partei beherrscht, die ebenfalls ein großes Interesse am Fernsehmonopol hatte, das sicherstellte, das das Fernsehen keine missliebige Berichte über Politik und Gesellschaft sendet. Für die Partei handelte es sich um eine ausgesprochen elegante Lösung, da sie keine Zensur ausüben musste, sondern diese vom Fernsehen vorweggenommen wurde. Sie konnte sich jederzeit auf die Unterstützung von Televisa verlassen, zumal in Krisen wie dem Massaker von Tlatelolco oder in Wahlkampfzeiten. Emilio Azcárraga Milmo, der sich öffentlich gerne als „Soldat des PRI“ (zitiert nach Toussaint 1998: 113) bezeichnete, brachte die Einstellung seines Unternehmens zur Politik folgendermaßen auf den Punkt: „Bei Televisa sind wir alle treue Anhänger des PRI, und wem das nicht passt, der kann gehen“.89 Freilich war die Beziehung zwischen dem PRI und Televisa nicht 87 Zu diesen staatlichen Begünstigungen siehe ausführlich Toussaint 1998: 108-113. 88 Televisa hat neben dem Fernsehen und dem Radio im Laufe der Jahrzehnte ein weit verzweigtes Netz von Unternehmen in Mexiko in den Bereichen Printmedien (Tageszeitungen, Zeitschriften, Buchverlage), Plattenfirmen, Videovermarktung, Kinoproduktion, Kinosäle, Kabelfernsehen, Fußballclubs, Fußballstadien, Konzertveranstaltungen, Reklametafeln usw. aufgebaut. Televisa verkauft nicht nur seine Produktionen weltweit. Das Unternehmen hat seine spanischsprachige TV-Kette SIN in den USA zum landesweiten network Univisión ausgebaut, bei dem es allerdings aus rechtlichen Gründen nur Minderheitenanteilseigner ist, aber das die Vermarktung seines Programms beim spanischsprachigen Publikum in den USA sicherstellt. Zudem hat sich Televisa in verschiedene lateinamerikanische Fernsehmärkte eingekauft und kontrolliert dort Sender, die seine Programminhalte ausstrahlen. Sein Satellitensender Galavisión strahlt sein Programm fast weltweit aus. Es besitzt die Hälfte der Anteile am Satellitensystem Panamsat, mit dem 98% der Weltbevölkerung erreicht werden kann. Außerdem ist es Anteilseigner am internationalen Satellitenfernsehen Sky (Toussaint 1998: 98-102; Mejía Barquera 1998: 55-61). 89 „En Televisa somos priistas y el que no lo sea, que se vaya“ (Emilio Azcárraga Milmo, zitiert nach Orozco 2002: 213). Orozco verwendet zur Beschreibung des Zusammenspiels von politischer, wirtschaftlicher und kultureller Macht in Mexiko den Begriff der „familia revolucionaria“ (216). Dieses Bündnis der gesellschaftlichen Eliten der posrevolución kommt auch in der personellen Verstrickung von PRI und Televisa zum Ausdruck: Miguel Alemán Valdés beteiligte sich als Präsident a.D., wie angedeutet, finanziell an TSM. Seinem Sohn Miguel Alemán Velasco wurde in den sechziger Jahren eine Führungsposition im Unternehmen eingeräumt. Erst 1991 übrigens legte Televisa offen, dass die Familie Alemán mit 18% der Anteile am Konzern beteiligt war (Fernández/Paxman 2000: 130). Erst zu Beginn der neunziger Jahre beginnt Televisa,

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immer ohne Spannungen. Die Regierungen von Díaz Ordaz (1964-1970) und die seines Nachfolgers Echeverría äußerten gelegentlich ihre Unzufriedenheit über das reine Zerstreuungsprogramm und forderten Sendungen, die an Gefühle nationaler Einheit und Identität appellierten. Darauf reagierte der Konzern vorübergehend mit der Produktion einiger „telenovelas históricas“ zur Geschichte Mexikos im 19. Jh. und während der Revolution, worauf noch zu kommen sein wird (Fernández/Paxman 2000: 128-134). Es stellt sich die Frage, wie die Monopolbildung des mexikanischen Fernsehens möglich war. Auch unter den Bedingungen eines autoritären Regimes bestand Rechtfertigungsbedarf. Es zeigt sich interessanterweise, dass die Legitimation des Fernsehmonopols auf dem Diskurs der Unterentwicklung aufsitzt. In einer gemeinsamen Erklärung von TSM und TIM zur Fusion heißt es zunächst, dass mit dem neuen Senderverbund Unterhaltung und Kultur bzw. Bildung mit einander versöhnt werden sollen. Entscheidend jedoch scheint das Argument zu sein, dass der zukünftige Fernsehkonzern seine Programme zu 70% aus mexikanischen Produktionen zusammenstellen wird. Damit steht er im Dienst der nationalen Kultur und tritt – wie sich von selbst versteht – der kulturellen Fremdbestimmung entgegentreten.90 Miguel Alemán Velasco, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender Konzernleiter, greift zudem die Demokratieforderung auf und stellt das neue Unternehmen Televisa als pluralistisches Fernsehmodell dar, das „geeignet ist für ein Land aus der Dritten Welt, das sich entwickelt“. Die einzelnen Sender innerhalb des Verbundes, so Alemán, gewährleisten die „Entscheidungsvielfalt, die kennzeichnend ist für eine demokratische Struktur“. Kein gesellschaftlicher Sektor werde ausgegrenzt: Canal 4 spreche die urbanen Bevölkerungsgruppen in der Metropolitanregion an, Canal 2 richte sich an die Mittelschichten, die sich den „traditionellen Werten der mexikanischen Familie“ verpflichtet fühlen, Canal 5 stelle ein „Fenster zur Welt“ dar und Canal 8 setze das Land mit seinen Regionen in Verbindung. Darüber hinaus dienten Canal 11 und 13 der Bildung und intellektuellen Ansprüchen (Miguel Alemán Velasco, zit. nach Hernández Lomelí 2007b: 130).91 Wie die Folgeentwicklung jedoch zeigt, erdrückt nicht zuletzt der Zwangscharakter dieser korporativistischen Sichtweise die tele-demokratischen Ansätze des Senderverbunds. sich langsam aus der „familia revolucionaria“ zu lösen und kauft die Anteile der Familie Alemán zurück. Mit dem Ausscheiden Miguel Alemán Velascos wird das Ende des ‚Priismus‘ Televisas eingeleitet, um sich auf die Regierung des PAN ab 2000 unter Vicente Fox einzustellen (vgl. Orozco 2002: 233). Diesem Prozess ging u.a. ein Generationswechsel in der Führung Televisas voraus: Nach dem Tod Emilio Azcárraga Milmos 1997 übernahm sein Sohn Emilio Azcárraga Jean die Konzernleitung. 90 „Las medidas tomadas por TSM y TIM harán también que Televisa [alcance] una producción mexicana de más de 70% en sus programaciones con los consiguientes beneficios para productores, actores, músicos y escritores nacionales. Esta modalidad provocará, al mismo tiempo, un estímulo al genio creativo mexicano“ (TSM und TIM in einer gemeinsamen Erklärung vom 08.01.1973, zitiert nach Hernández Lomelí 2007b: 129). 91 „[...] cada uno [de los canales] adopta un ámbito que le permite el cumplimiento de diversas funciones, ni se excluye a ningún sector; se mantiene la pluralidad de opciones distintiva de una estructura democrática“ (Miguel Alemán Velasco, zitiert nach Hernández Lomelí 2007b: 130).

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Trotz des weitverzweigten Mediennetzes, mit dem Televisa die mexikanische Gesellschaft überzieht, bleibt das Fernsehen das Herz des Unternehmens. Hierbei ist bis heute Canal 2 das Flagschiff, das die höchsten Einschaltquoten erzielt.92 Auf diesen Sender konzentriert sich der allergrößte Anteil der Konzerninvestitionen. Canal 2 ist der Sender mit dem höchsten Anteil an Eigenproduktionen (siehe Hernández Lomelí 2007b: 131). Das verdeutlicht, dass die Telenovelas den Kern des Geschäfts und der Macht von Televisa bilden, da dieses Genre die stärksten Bindungen der Zuschauer an den Bildschirm zuwege bringt. Diese Bindungen werden im weiteren Verlauf der Arbeit detailliert aufgegriffen und untersucht. An dieser Stelle soll nur kurz angedeutet werden, welches Konzept die Verantwortlichen von Televisa allgemein mit dem Medium und speziell mit der Telenovela nach eigenen Aussagen verbinden. So erklärte der Konzernchef Azcárraga Milmo 1993, dass politische Themen in seinem Fernsehen nichts zu suchen hätten, denn dieses diene vor allem der Unterhaltung.93 Diese eminent politische Haltung, Politik aus dem Fernsehen auszuschließen, begründete er mit dem Elend der mexikanischen Bevölkerung, deren Aufheiterung durch Unterhaltung er dem Fernsehen zur Aufgabe machte: Mexiko ist ein Land einer sehr geschundenen Klasse, die niemals aufhört, geschunden zu werden. Für das Fernsehen ist es eine Pflicht, diesen Menschen Unterhaltung zu bringen und sie aus ihrer traurigen Wirklichkeit und ihrer schwierigen Zukunft zu reißen. Die Mittelschicht, die untere Mittelschicht, die obere Mittelschicht. Die Reichen, wie ich, sind keine Kunden, denn wir Reichen kaufen einen Dreck.94

Eine erniedrigende Sicht auf das Publikum kommt hier zum Ausdruck, derzufolge die mexikanischen Bevölkerung perspektivlos in der Misere versinkt. Zuschauer schienen für Azcárraga Milmo reflexionslose Elendsgestalten zu sein, die Ablenkung von ihren Problemen, und keine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit suchen. Das Einzige, was Fernsehen in dieser absoluten Ausweglosigkeit zu tun vermag, ist Trost zu spenden. In bezug auf die Telenovela vertrat der einflussreiche Telenovela-Produzenten bei Televisa, Valentín Pimstein, der u.a. auch für María Isabel verantwortlich war, die Meinung, das Genre diene dazu, einem ungebildeten Publikum zur Flucht aus dem Alltag in eine Welt zu verhelfen, in der es Hoffnung gibt, und in der sich das Glück am Ende verwirklicht (Fernández/Paxman 2000: 126-128). In diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, dass aus den Äußerungen Azcárraga Milmos und Pimsteins nicht nur Ignoranz gegenüber dem Publikum

92 2005 kam Canal 2, el canal líder, auf 30,3% Einschaltquote (Orozco/Hernández/ Huizar 2007: 42). 93 „El poder y la política están fuera de nuestra compañía. Estamos en el negocio del entretenimiento, de la información, y podemos educar, pero fundamentalmente entretener“ (Emilio Azcárraga Milmo, zitiert nach Toussaint 1998: 114). 94 „México es un país de una clase muy jodida, que no va a salir de jodida. Para la televisión es una obligación llevar diversión a esa gente y sacarla de su triste realidad y de su futuro difícil. La clase media, la media baja, la media alta. Los ricos, como yo, no somos clientes, porque los ricos no compramos ni madre“ (Emilio Azcárraga Milmo, zitiert nach Toussaint 1998: 114).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

sondern letztlich auch gegenüber dem Medium und seines Hauptgenres der Telenovela spricht. Aber zunächst sind noch letzte Ergänzungen zu den Konturen der Television in Mexiko hinzuzufügen. Dazu sei ein weiteres Mal zum Jahr 1968 zurückgekehrt. In diesem Jahr nahm außer Canal 8 ein weiterer neuer Sender seinen Betrieb auf. Es handelt sich um Canal 13, dessen Konzession der ebenfalls dem PRI nahestehende Radiounternehmer Francisco Aguirre erhielt, der, wie erwähnt, in den vierziger Jahren den Parteisender XEFO übernommen hatte. Canal 13 beschränkte sich darauf, meist US-amerikanische Filme auszustrahlen. Pläne Anfang der siebziger Jahre, das Programm auszuweiten, wurden nie umgesetzt. In diesem Moment drängte der Präsident Echeverría darauf, einen staatlichen Sender einzurichten, woraufhin eine staatliche Bank 1972 die Anteile an Canal 13 übernahm, und Aguirre den Sender verließ. Nun mischte sich der Staat unmittelbar in das Fernsehen ein, aber ohne einen genauen Plan zu besitzen, wie der Sender ausgestaltet werden sollte. Fest stand nur, dass Televisa keine Konkurrenz gemacht werden sollte. Die Folge war, dass Canal 13 unbestimmt zwischen kommerzieller Unterhaltung und seriöser Information sowie kulturellem Anspruch schwankte. 1983 wurde er mit dem Instituto Mexicano de Televisión (Imevisión) unter diesem Namen zusammengeschlossen. Hinzu kam 1985 ein weiterer Sender, Canal 7 (Olmos 1998: 99-119). 1993 schließlich wurde Imevisión unter dem Präsidenten Carlos Salinas de Gortari versteigert. Kurioserweise ging der Zuschlag an den Unternehmer, der überhaupt keine Erfahrungen im Medienbetrieb aufweisen konnte, obwohl dies eigentlich Voraussetzung war. Es handelt sich um Ricardo Salinas Pliego, den Präsidenten des Elektronikkonzerns Elektra und Möbelherstellers Salinas y Rocha. Mitbietende Familien, die seit Jahrzehnten im Mediengeschäft tätig waren, gingen leer aus. Offiziell war das wesentlich höhere Gebot von Salinas Pliego im Vergleich zu seinen Mitbewerbern ausschlaggebend. Anschließende Enthüllungen über finanzielle Transaktionen zwischen dem Bruder des Präsidenten, Raul Salinas de Gortari, dem kriminelle Aktivitäten (darunter auch Mord) angelastet werden, und Salinas Pliego kurz vor und nach der Versteigerung stellten den korrekten Verlauf der Versteigerung in Frage. Jedenfalls entstand so mit den Kanälen 13 und 7 ein neuer Fernsehkonzern namens TV Azteca. Diesmal kam es nicht zu einer Fusion mit Televisa, sondern zum Ende des jahrzehntelangen Monopols von Televisa. Stattdessen entstand ein Duopol. TV Azteca und Televisa entsprechen sich jedoch und koexistieren, wie sich zeigt, in Interessensgemeinschaft. Auch TV Azteca unterstützte den PRI und seine Führungsfiguren bekundeten öffentlich ihre Verehrung des Präsidenten Salinas de Gortari. Wie Televisa gibt TV Azteca vor, das Fernsehen vollständig zu depolitisieren und gänzlich in den Dienst der Unterhaltung zu stellen.95 Tatsächlich aber machen beide TV-Unternehmen in einzelnen, geradezu konzertierten Aktionen in Wahlkampfperioden Front gegen die Kandidaten der Mitte-links-Partei PRD (Orozco 2002: 234). In kleinerem Maßstab wiederholt TV Azteca im Grunde die Entwicklung zum weitverzweigten transnationalen Medienkonzern spanischer Sprache, die von Televisa vorge95 „No queremos hacer de la televisión un vehículo político. Nuestro proyecto es tener una televisión de diversión“ (José Ignacio Suárez Vázquez, der zweite Mann von TV Azteca, zitiert nach Toussaint: 1998: 146).

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Fernsehen in Lateinamerika

geben ist.96 Auch in der Wahl der Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen, ahmt TV Azteca Televisa nach: Wichtigste Gattung ist die Telenovela. Hier setzt der Konzern, wie genauer zu untersuchen sein wird, zunächst neue Akzente. (235).

5.2.4 F ERNSEHEN

UND

M ODERNE

IN

M EXIKO

Die privatwirtschaftlichen und staatlichen Anstrengungen, mit dem mexikanischen Fernsehen die Spitze der technischen Entwicklung einzunehmen, verstehen sich nicht zuletzt aus dem Modernisierungsanspruch des Landes. Wie auch in Brasilien kreist die Debatte über die Moderne in Mexiko in erster Linie um die Unterentwicklung. Eine mexikanische Kritik der Moderne stellt sich daher tendenziell als Kritik am Modernisierungsprozess und seinem Scheitern dar. Einer der wichtigsten Intellektuellen, die sich mit dem Problem der Moderne in Mexiko auseinandergesetzt haben, ist Octavio Paz. Es stellt eines der Hauptanliegen des essayistischen Werkes des Schriftstellers dar.97 Sehr charakteristisch für die mexikanische Auseinandersetzung mit der Moderne ist der Gegensatz zu den USA: „Sie sind das Bild all desjenigen, was wir nicht sind“, heißt es in Bezug das Nachbarland in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „El espejo indiscreto“ („Der indiskrete Spiegel“).98 Gemeint ist, dass die USA die Moderne verkörpern, die Mexiko seit der Unabhängigkeit anstrebt und nie vollständig erreicht hat. Das unabhängige Mexiko wird von der „Sehnsucht nach Modernität“ bzw. von der „Sehnsucht nach Fortschritt“ bewegt. Was also seit dem frühen 19. Jh. Liberale, Positivisten und Sozialisten einte, war das Modernisierungsprojekt. Gerungen wurde um die Ausgestaltung dieses Projekts in der Auseinandersetzung mit dem großen Nachbarland (Paz 1989: 14-15). Im Vergleich mit den USA versucht nun Paz zu zeigen, warum dieses Projekt weitgehend gescheitert ist. Mexiko, so der Schriftsteller, musste (im Gegensatz mit den USA) um der Modernisierung willen sich selbst und seine Vergangenheit verneinen: seine hierarchischen Traditionen des kolonialen Kastensystems sowie der klerikalen Orthodoxie, die über Jahrhunderte das Vize-Königreich Nueva España prägten. Diese autoritären Hinterlassenschaften zu leugnen, konnte nicht gelingen. Das Ergebnis ist die Fortdauer autoritärer Strukturen. Der Liberalismus des 19. Jh. scheiterte bei der Einführung der Republik und endete in der Diktatur. Die Mexikanische Revolution wurde von einer politischen Bürokratie im Bündnis mit einer von den USA abhängigen „kapitalisti-

96 TV Azteca baute ein nationales Netzwerk von Sendestationen auf. Darüber hinaus kaufte sich das Unternehmen in Fußballvereine ein. 1996 gründete es seine eigene Plattenfirma. Im gleichen Jahr beschloss es eine Partnerschaft mit dem zweiten großen spanischsprachigen TV-network in den USA, Telemundo, mit dem Zweck gemeinsamer Programmproduktionen und –verwertungen. Zudem exportiert TV Azteca seine TV-Produktionen (Toussaint: 1998: 134-136 und 141-143). 97 Zum Stellenwert der Moderne in der Essayistik von Paz siehe Xavier Rodríguez Ledesma (2000: 127). In diesem Aufsatz findet sich auch ein kurzer Aufriss, wie Paz’ Moderne-Konzept diskutiert und kritisiert wurde (138-139). 98 „Son la imagen de todo lo que no somos“ (Paz 1989a: 11).

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schen Klasse“ beschlagnahmt (27-28). Der Staat, mit anderen Worten, riss die Modernisierung an sich – aber er modernisierte sich selbst nicht (Paz 1989b: 53). Mexiko fand den Eingang in die Moderne nicht, verlor sich selbst jedoch bei dieser Suche: „Wir sind immer noch nicht modern, aber seitdem sind wir auf der Suche nach uns selbst.“99 Dieser retrospektive Aspekt erscheint im Zusammenhang mit der brasilianischen Diskussion um die Moderne sehr interessant: Paz bekräftigt den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Identität, versteht letztere aber nicht als projektives Ergebnis emanzipativer Entwicklung sondern als kritische Aussöhnung zwischen Modernisierungsanspruch und (vor-)kolonialer Vergangenheit. Mexiko, mit anderen Worten, ist in dem Sinne kein Land der Zukunft, als dass es sein Wesen in Verheißungen des Bevorstehenden fände, sondern ein Land, dessen Gegenwart sich unablässig mit der Vergangenheit vermengt. Paz entwirft ein Kulturmodell, in dem sich Mexiko als Schichtung historischer Zeiten darstellt. Die Vergangenheit besteht aus vielen Vergangenheiten, und sie nicht vergangen: „es sind viele (Vergangenheiten), alle sind lebendig und streiten immerfort in unserem Innern.“100 Mexiko muss also ausgehend von seiner Geschichte einen „eigenen Weg in die Moderne“ einschlagen (Paz 1989b: 53-54). Wie ist aber ein „eigenes Modernisierungsmodell“ vorstellbar? Paz tut sich zunächst schwer, eine Antwort darauf zu finden, wie mit der Vergangenheit zu leben ist, ohne sich in ihre Gefangenschaft zu begeben. Die Vergangenheit ist in ihrer Hinterlassenschaft anzunehmen, aber sie ist zu kritisieren – wozu jedoch Mexiko aufgrund seiner gegenreformatorischen Prägung bisher nicht in der Lage war (Paz 1989a: 29). Was hat diese Modernisierungskritik mit dem Fernsehen zu tun? Sehr viel, wie Octavio Paz in einem Essay über Fernsehen aus dem Jahre 1979 zeigt. In „Televisión: cultura y diversidad“ („Fernsehen: Kultur und Vielfalt“) kritisiert er den Begriff der Moderne und widerspricht dem uniformisierenden Anspruch der „Zivilisation der Wissenschaft und der Technik“, die Welt in einer Industriegesellschaft zu vereinen. Im Fortbestand der Traditionen und in der Koexistenz mehrerer historischer Zeiten in einer pluralen Gegenwart zeige sich die kulturelle Verschiedenartigkeit der Gesellschaft am 99 100

„[...] todavía no somos modernos pero desde entonces andamos en busca de nosotros mismos“ (Paz 1989a: 17). „Hago mal en usar el singular cuando hablo de nuestro pasado: son muchos, todos están vivos y todos pelean continuamente en nuestro interior“ (Paz 1989a: 28). In dem nicht-linearen Geschichtsmodell von Octavio Paz kündigt sich die kritische Dimension seiner Diskussion der Moderne an. Am Verständnis der Geschichte wird die Moderne als Tradition der Zukunft selbst zum Gegenstand der Kritik. Dabei geht es letztlich darum, das Fortschrittskonzept zu hinterfragen: „Fortschritt wohin und wofür?“ („¿progreso hacia dónde y para qué?“). Diese Fragen weisen auf verschiedene krisenhafte Entwicklungen in den USA (wie die Widersprüche zwischen Demokratie, Herrschaft des Geldes und imperiale Außenpolitik) (Paz 1989a: 3032). Paz schwenkt an diesem Punkt weitgehend in die Kulturkritik ein und prangert die moralische „Krankheit des Okzidents“ an, dessen Fortschrittsdogma lediglich den tatsächlichen Stillstand verschleiert, in dem sich die entwickelten Gesellschaften befinden: „Die Zukunft wurde zur Region des Entsetzens und die Gegenwart hat sich in eine Wüste verwandelt“ („El futuro se ha vuelto la región del horror y el presente se ha convertido en un desierto“, Paz: 1989b: 55).

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Ende des 20. Jh.: „Wir kehren zur Vielfalt zurück.“101 In diesem Kontext kulturellen Pluralismus’ sieht Paz die zentrale Aufgabe des Fernsehens darin, einen Kommunikationsprozess anzustrengen, der die Gesellschaft mit sich selbst und mit anderen Gesellschaften in Verständigung setzt. Notwendig ist also nicht ein Fernsehen, sondern viele. Notwendig ist die televisionäre Vielfalt für die Demokratie, die auf kommunikativem Austausch beruht. Das Fernsehen kann den innergesellschaftlichen Dialog möglich machen und den demokratischen Verständigungsprozess zwischen den Bevölkerungsgruppen fördern. Ein solches Fernsehen wird sich in den Dienst der Kritik stellen. Das Fernsehen kann aber auch Demokratie zerstören, die gesellschaftliche Kommunikation unterbinden und dem Autoritarismus dienen (Paz 1989c: 171). Demokratie ist, so lässt sich folgern, eine notwendige Voraussetzung für eine Modernisierung, die, wie oben angedeutet, ihren eigenen Weg geht: Erst der demokratische Austausch kann die bestehenden Differenzen in der Gesellschaft aushandeln und so eine Entwicklung in Gang setzen, die von einer kritischen Auseinandersetzung mit den historischen Vermächtnissen ausgeht. Das Fernsehen kann daher einen entscheidenden Beitrag zur einer demokratischen Modernisierung leisten – es kann diesen Prozess jedoch auch blockieren und die historische Unterdrückung der pluralen Gesellschaft fortsetzen. Weiter geht Paz nicht. Er macht nicht deutlich, dass sich das mexikanische Fernsehen für die zweite Option entschieden hat. Dennoch geht aus seiner Argumentation eine Grundtendenz der mexikanischen Fernsehdebatte hervor: In der Monopolstruktur und im Bündnis mit der Regierung äußert sich das Demokratiedefizit des Fernsehen. Es scheitert an seiner Modernisierungsaufgabe, die heterogene Gesellschaft mit sich selbst in einen kritischen Dialog zu versetzen, der nachhaltige Wege aus der Unterentwicklung aufzeigen könnte. Eines von vielen Beispielen ist das Buch La televisión que nos gobierna (Das Fernsehen, das uns regiert) von Jenaro Villamil. Bereits der Titel zeigt den Demokratiemangel des mexikanischen Fernsehens auf. Jedoch macht der Autor deutlich, dass es sich nicht um Ideologiekritik handelt. Denn das Grundproblem des Mediums ist nicht Manipulation sondern Konzentration. In seiner Monopolbildung – so Villamil – zeigt sich das „anti-demokratische Antlitz“ des Fernsehens in Mexiko.102 Unter der „mexikanischen Formel“ des Mediums versteht der Fernsehforscher neben der Monopolbildung die Unterwerfung des Fernsehens unter die PRI-Regierungen. Letzteres geschieht zu beider Nutzen, weswegen es an Transparenz im Verhältnis zwischen Fernsehen und Politik mangelt, etwa bei der Vergabe und Verlängerung von Lizenzen (Villamil 2005: 21-24). Villamil arbeitet heraus, dass sich das Medium spätestens seit der historischen Abwahl des PRI im Jahr 2000 nicht mehr dem jeweiligen Präsidenten unterordnet. Wenn sich dieser in Wahlen durchsetzen muss, kommt dem Fernsehen eine entscheidende Mittlerrolle zu, die es immer stärker nutzt, um das Verhältnis umzukehren und um sich nun den Präsidenten gefügig zu machen. Damit erhebt sich das Medium zur obersten Macht in der Gesellschaft (50). 101 102

„Regresamos a la diversidad. Éste es uno de los pocos signos positivos de este terrible fin de siglo“ (Paz 1989c : 170). „La clave de la televisión no está en la manipulación sino en la concentración [...] La concentración es el rostro más antidemocrático del modelo televisivo mexicano“ (Villamil 2005: 11).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Wie zu schließen ist, unterscheidet sich die Diskussion über das Medium in Mexiko in Tendenz und Akzentsetzung deutlich von der in Brasilien: Nicht primär die Repräsentation des Eigenen steht auf dem Spiel sondern der kommunikative Austausch einer in sich gespaltenen Gesellschaft. Vom Fernsehen wird in erster Linie nicht emanzipative Entwicklung verlangt sondern demokratische Modernisierung. In Brasilien antwortet das Medium auf die gesellschaftlichen Anforderungen nach Realismus, in Mexiko missachtet es das Bedürfnis nach Pluralismus. In einem Land wird es selbst zum Symbol nationaler Identität, im anderen zum Hindernis von demokratischer Entwicklung.

5.2.5 N OTIZEN

ZUR

R EDE

ÜBER DAS

F ERNSEHEN

IN

M EXIKO

Die Weigerung des mexikanischen Fernsehens, auf die gesellschaftlichen Anforderungen nach demokratischer Vielfalt einzugehen, die ihm im Modernisierungsprozess zukamen, bestimmt nicht nur die Tendenz der meisten Untersuchungen über das Medium in diesem Land. Sie ist – so die These – auch der Grund für das gesellschaftliche Unbehagen, das vom Fernsehen in Mexiko ausgeht. Darauf wird im Laufe der Untersuchung immer wieder zurückzukommen sein. Die mexikanische Debatte über das Fernsehen nimmt gerne (eher indirekte) Anleihen an der Kulturkritik am Medium, wie sie etwa Postman formuliert hat. Es zeigt sich aber, dass hier die Unzufriedenheit über das Nullmedium aus einem völlig anderen historischen Kontext hervorgeht, als dies in Europa und Nordamerika der Fall ist. Nicht Bedrohung des Bestehenden (Buchkultur) steht auf dem Spiel sondern die Gefährdung des Kommenden (Entwicklung). Dies bedeutet, dass sich die (meist beißende) Kritik am mexikanischen Fernsehen weniger auf das Medium als solches richtet sondern auf die Art und Weise, wie es in diesem Land zur Anwendung und Ausgestaltung gekommen ist. Das Unbehagen am Televisa-Fernsehen (TV-Azteca eingeschlossen) drückt sich u.a. im Begriff der caja idiota (idiotischer Kasten) aus. Ein Beispiel ist eine Glosse von Fedro Carlos Guillén, die eben diesen Ausdruck zum Titel und Gegenstand hat. Das Fernsehen erscheint in dieser crónica als Verdummungsinstrument, das eben nicht der Bildung der Zuschauer dient sondern allein dem Geschäft. Hintergrund ist die Geringschätzung der Zuschauer durch die Fernsehmacher, die auf die bereits zitierten Aussagen von Emilio Azcárraga über das Land der Geschundenen anspielen. Die Pioniere dieser Sauerei haben verstanden, was es von Anfang an zu verstehen gilt: Das Fernsehen ist ein Geschäft und keine Bildungsanstrengung. Indem sie dies beherzigten, haben sie auch ausgemacht, dass die enorme Mehrheit der Zuschauer Volltrottel sind, und infolgedessen haben sie Ansätze entwickelt, diesen Appetit nach Schwachsinn zu stillen.103

103

„Los pioneros de esta madre entendieron lo que hay que entender desde el inicio: la televisión es un negocio y no un esfuerzo educativo. Con ello en mente identificaron también que la enorme mayoría de los televidentes son pendejísimos

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Fernsehen in Lateinamerika

Guillén geht kurz das Programm von Canal 2 an einem Werktag im September 2009 durch und findet darin eine „unendliche Quelle intellektuellen Elends“: insgesamt acht Telenovelas, unzählige Tratsch- und trash-Shows sowie Nachrichten, die lediglich über dasjenige berichten, was die eigenen Interessen der dueños nicht beeinträchtigt, und die daher alles anderem als der Information dienen (Guillén 2009). Wie sich zeigt, spielt auch in diesem Diskurs die Telenovela eine wichtige Rolle. An ihr macht sich die Wertschätzung des Mediums fest. Da diese negativ ist, erscheint die Telenovela jedoch nur als eine Gattung neben einer Reihe anderer, von der sie sich nicht qualitativ unterscheidet. Das genannte Unbehagen am Fernsehen drückt sich jedoch indirekt auch in dem umgekehrt proportionalen Verhältnis zwischen Größe und Macht und der wissenschaftlichen Analyse des Mediums aus. Gemeint ist, dass angesichts der enormen gesellschaftlichen und politischen Bedeutung vergleichsweise wenig über das Fernsehen in Mexiko gearbeitet wird. Ein Beispiel ist das fünfzigjährige Jubiläum, das ganz anders als in Brasilien, kaum zu nennenswerten Publikationen führte. Somos, eine Zeitschrift des Televisakonzerns, gab im Dezember 2000 eine Sondernummer 50 años de televisión mexicana heraus. Zu nennen wäre ansonsten lediglich die biographisch geprägte Fernsehgeschichte La televisión en México. 1950-2000 von Gonzalo Castellot, die übrigens schon 1999 erschien. Castellots Buch ist, genau genommen, keine Geschichte des Mediums sondern eine Erzählung von Anekdoten aus dem Umfeld der Fernsehmacher, zu denen der Autor selbst zählt. Francisco Hernández Lomelí ordnet diese Publikation der „heroischen Geschichtsschreibung“ des mexikanischen Fernsehens zu, die die Pionierleistungen der großen Fernsehunternehmer herausstellen. Diesen Typus der mexikanischen Fernsehgeschichtsschreibung unterscheidet Hernández Lomelí von zwei weiteren, die er die „Strukturgeschichte“ und die „hybride Geschichte“ nennt. Lomelí ist damit der Erste, der sich systematisch mit dem kritischen Diskurs über das mexikanische Fernsehen auseinander setzt. Auf die „Strukturgeschichte“ wurde in den obigen Ausführungen bereits eingegangen: Sie untersucht kritisch das „symbiotische Verhältnis“ zwischen Fernsehen und Staat, das zur doppelten Diktatur von PRI-Regierung und Televisa (TV-Azteca einbezogen) führte. Wie der Autor ausführt, handelt es sich hierbei um das häufigste Analysemodell der mexikanischen Fernsehentwicklung.104 Die „hybriden Geschichten“ beziehen die Ergebnisse der beiden erstgenannten Ansätze ein und gehen über sie hinaus. Sie nehmen insbesondere Abstand von den medienpolitischen Frontstellungen, die mit der „heroischen Geschichte“ (die affirmativen Darstellungen) und mit der „Strukturgeschichte“ (die Anti-Televisa-Haltungen) einhergehen.105 Lomelí plädiert in diesem „hybriden“ Sinne für differenzierte Untersuchungen, die Abstand nehmen von deterministischen Sichtweisen des Mediums und seines histo-

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y, en consecuencia, generaron propuestas para saciar este apetito por la imbecilidad“ (Guillén 2009). Wichtigste Arbeiten der „Strukturgeschichte“ des mexikanischen Fernsehens sind nach Hernández Lomelí u.a. Toussaint (1998), Orozco (2002) und Trejo Delarbre (1988). Lomelí nennt hierzu Mejía Barquera (1998) und (Fernández/Paxman 2000).

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rischen Wandels (Hernández Lomelí 2007a).106 Im Ansatz von Hernández Lomelí zeichnen sich, mit anderen Worten, erstmals explizit Möglichkeiten ab, das Medium auch in Mexiko nicht nur im Klammerverhältnis zum Modernisierungsprozess zu betrachten und somit über den Horizont der Moderne hinauszugehen.

5.3 Fernsehkultur Im Gegensatz zu Brasilien wurden in Mexiko schon in den vierziger Jahren landesweite Radionetzwerke aufgebaut. In Brasilien sendete dagegen Rádio Nacional sein Programm in das ganze Land auf Kurzwelle. Das Radio unternahm daher erste Versuche, gemeinsame Anknüpfungskontexte über die räumlichen und sozialen Binnendistanzen der Länder hinweg zu herzustellen und ein nationales Publikum zu kreieren. Jedoch zeigt ein Blick auf die Zahlen, dass diese Radio-Nation allenfalls ein Fragment der Gesamtbevölkerung darstellt. 1950 gab es in Mexiko nicht mehr als zwei Millionen Radiogeräte, die sich zudem in den Städten konzentrieren (Hayes 2000: 33). Ähnlich war die Situation, wie schon erwähnt, in Brasilien. Die Aufgabe, die Gesellschaft als ganze zu erfassen, übernimmt das Fernsehen, das neben dem Gehör auch den Blick ködert. Dies war jedoch ein jahrzehntelanger Prozess. Anfang der siebziger Jahre macht die Ausdehnung des Mediums in Brasilien einen großen Sprung und kommt auf über fünf Millionen Empfangsgeräte, die sich jedoch zu 75% auf die „Achse“ Rio – São Paulo konzentrieren. Damit verfügen über 40% der urbanen Bevölkerung über ein Gerät (zehn Jahre zuvor waren es lediglich 9,5%). 70% des Publikums stammt aus unteren Einkommensschichten, was die Popularisierung des Mediums deutlich macht (Simões 1986: 86-92 und Fausto 1999: 293). Knapp dreißig Jahre später verfügen über 90,5% aller Haushalte in Brasilien ein Fernsehgerät. Dass aber nur 49% ein Telefon besitzen, zeigt, dass sich der Prozess der Modernisierung zwar fortgesetzt, aber längst nicht die Gesamtbevölkerung erreicht hat. Lediglich das Fernsehen tut dies. Über einen PC verfügen Ende der neunziger Jahre lediglich 13,7%, Internetanschluss haben nur 4,5% (IP 2000: 424). Dem entspricht die Situation in Mexiko: Zur gleichen Zeit, also 2000, findet sich in 96% aller mexikanischen Haushalte ein Fernsehgerät, aber nur in 50% von ihnen ein Telefon. Computer gibt es nur in 7,2% der Haushalte, Internetzugang in 5,8% (452). Das bedeutet, fast „alle“ sehen in Brasilien und Mexiko fern, aber interaktiv miteinander kommunizieren kann per Telefon nur die Hälfte der Bevölkerung und per Internet nur ein Bruchteil. Das bedeutet, dass die beiden Länder in Bezug auf die innergesellschaftliche Kommunikation am Tropf des Fernsehens hängen und als solche lediglich empfangen. Austauschen können sie sich intern nicht und wenn die Mattscheibe schwarz ist, wird die Mehrheit der Bevölkerung von der Gesellschaft abgeschaltet.

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Wie wenig die Entwicklung des mexikanischen Fernsehens vorherbestimmt war, zeigt Lomelí in seiner Untersuchung der Entstehung des Mediums aus unternehmerischer Sicht (Hernández Lomelí 2002).

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Fernsehen in Lateinamerika

Die Zugehörigkeit und die – wenn auch rein empfangende – Teilhabe an der Gesellschaft und ihrer Mit-Teilung ist an den Rundfunk gebunden. Dieses Szenario, dass also jenseits des Fernsehens der Großteil der Bevölkerung in diesen Ländern von der Gesellschaft vergessen wird,107 macht die strukturelle Bedeutung des Mediums deutlich. Unter diesen Umständen kann kein einheitlicher Massenmensch auftreten, wie er Ortega y Gasset vorschwebte oder wie es Peter Sloterdijk weiterhin beunruhigt.108 Eine „totale Mitte“ kann es in einer postkolonialen Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung permanent durch eine Minderheit von der Moderne ausgeschlossen wird, nicht geben. Von einer „Unterbietung des Menschen durch den Menschen“ (Sloterdijk 2000: 66) kann kaum die Rede sein, wo das moderne Menschsein der ausgegrenzten Mehrheit nie eine Heimstätte war, von der sie sich entfremden könnte. Nicht zufällig spielt das Problem der Entfremdung als Folge von Vermassung in der brasilianischen Fernsehkritik kaum eine Rolle. Sie setzt das nationale Bewusstsein voraus, das die Unterentwicklung den Brasilianern entzieht, was ihnen die Möglichkeit raubt, die Verelendung der Bevölkerung aufzuheben. Aber auch dieses Denken ist letztlich metaphysisch, wie überhaupt jegliches Entfremdungsdenken, das ein eigentliches Menschsein ungesagt setzt. Das Fernsehen ersetzt keine Gesellschaft aktiver Subjekte durch eine passiver Zuschauer. Es vertreibt die Menschen in Lateinamerika nicht aus einer kulturellen Heimat (beispielsweise der bewusstseinstiftenden Typografie), da diese für die allermeisten nie gegeben war. Es entsteht eine Kultur, die nicht auf der Grundlage der Buchkultur entstanden ist und in ihr daher keinen Maßstab finden kann. Sie verdient, dieser kritisch gegenüber gestellt zu werden, aber sie setzt zu ihrer Konzeption eine Zäsur im typografisch geprägten Denken voraus. Wie schwierig dies ist, zeigt der paradoxe Begriff der audiovisuellen Alphabetisierung, der das Neue im verneinenden Rückgriff auf das Vertraute ambivalent anzudeuten versucht. Das Fernsehen stellt in Lateinamerika einen kulturellen Einschnitt dar, der in Europa und Nordamerika allenfalls erahnt werden kann. Es schafft gesamtgesellschaftlich erstmals einen kulturellen Anknüpfungsraum. Dies ist nicht das Schlimmste der Entfremdung. Das Schlimme aber ist die Alternativlosigkeit und der damit einhergehende Verlust an der offenen Vielzahl anderer gesellschaftlicher Möglichkeiten und Perspektiven. Was ist das für eine Kultur, die unter diesen Umständen entsteht? Die Frage verweist auf die Gattungen und soll im Hinblick auf die Telenovela 107

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Zum Problem, dass in Lateinamerika ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung „vergessen“ bzw. ausgegrenzt wird, siehe Los olvidados von Luis Buñuel (1950). Der Film bezieht sich auf die sich selbst überlassenen Kinder und Jugendlichen von Mexiko-Stadt. Peter Sloterdijk übernimmt (ohne den Autor zu nennen) Ortega y Gassets Gegensatz zwischen Elitemensch und regrediertem Massenmenschen und überträgt ihn auf das „postmoderne Massenpublikum“, das nur noch „Horizontaldifferenzen“ zulässt, aber keine „Vertikaldifferenzen“. Das verachtete Massenpublikum verachtet die Verachter der Elite und akzeptiert nur noch Differenzen, die „keinen Unterschied“ machen: „Differenzierte Indifferenz ist das formale Geheimnis der Masse und ihrer Kultur, die eine totale Mitte organisiert“ (Sloterdijk 2000: 8687).

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diskutiert werden. Das Medium weckt eine Sehnsucht des Brasilien-Sehens bzw. des Mexiko-Sehens. Seit einem halben Jahrhundert strahlt es – je sehr unterschiedlich – Brasilien und Mexiko in die Finsternis der Unterentwicklung. Es setzt der abgründigen Abwesenheit der Gemeinschaft die unaufhörliche Seh-Sucht der Nation entgegen. Das Fernsehen ist ein Versprechen, das nie aufhört, sich einzulösen. Was gibt die Telenovela dieser Seh-Sucht zu sehen? Die Zäsur der Television ist kein Einschlag sondern ein allmähliches Einsickern. Jahrzehnte braucht das televisionäre Dispositiv, um sich zu konstituieren. Dieses lange Suchen des Mediums nach seiner Gattung ist nachzuzeichnen. Auf die Mit-Teilungslosigkeit der Gesellschaft antwortet die Telenovela mit einem narrativen Exzess. Das Erzählen der Gattung muss daher in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken. Aber unter welchen medialen Bedingungen erzählt das Genre? Welchen Freiraum gewährt es, welche Zwänge erlegt es ihm auf? Und: Was erzählt die Telenovela so lange? Wie sehen und hören die Zuschauer die Erzählung? Welche Wirklichkeit gelangt mit der Telenovela in fast jedes Heim, und welcher Art ist diese Wirklichkeit? Was für ein Wir konstituiert sich im Anblick der Gattung?

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6. Geschichte: Nichts ist so alt wie die Telenovela von gestern

6.1 Archä Archäologie ologie der Telenovela Eine Archäologie der Telenovela verweist auf eine ganze Reihe von Gattungen, an die sie anknüpft, die sie fortführt, und mit denen sie bricht. Das Genre entsteht aus einer Vielzahl intermedialer und interkultureller Passagen, in der verschiedene Gattungen ihren Verknüpfungskontext in der Transposition auf ein anderes Medium oder einen anderen Kulturraum zwar fortbilden, dabei aber von der Performanz des Mediums oder den jeweiligen soziokulturellen Voraussetzungen rekonfiguriert werden, wodurch neue Gattungen entstehen. Auf die „Ursprünge“ der Telenovela in der Radionovela, der soap opera, dem Feuilletonroman und schließlich dem Melodrama ist immer wieder verwiesen worden. Jedoch übersieht die Suche nach den Ursprüngen leicht die Diskontinuitäten, die mit den intermedialen Übergängen zwangsläufig verbunden sind. Sie verkennt daher die Eigenheit der Telenovela und ihre partikuläre performative An/Ordnung des Zuschauers. Die Suche nach Ursprüngen bewegt sich leichtfertig auf der Ebene der Narration. Auf dieser Ebene scheint sich in ca. 170 Jahren erstaunlich wenig getan zu haben: Die kitschige Gefühlsduselei, die ehemals romantische Ideologie der Liebe und der Bovarismus, d.h. der evasive Konsum leidenschaftsregierter und käuflicher Fantasiewelten (siehe Madame Bovary), bestimmen die Erzählung, seit 1836 der erste Feuilletonroman in Frankreich veröffentlich wurde (vgl. Costa 2000: 10-11). Dazu liefert das Melodrama den Terror des Bösen, der das irdische Glück bzw. die den sozialen Aufstieg befördernde Heirat der armen jungen Frau mit dem Prinzen immer wieder stört und hinauszögert, bis es am Ende von der Übermacht der Liebe besiegt wird. Erzählt werden die affekthascherischen Geschichten durch spannungssteigernde Unterbrechungen zeitversetzt veröffentlichter Kapitel. All dies findet sich im Feuilletonroman, all dies findet sich in der Telenovela, weswegen die Telenovela schnell als dessen „legitime Nachfolgerin als populäres fiktionales Genre“ erklärt ist (11). Ortiz weist jedoch in bezug auf Brasilien darauf hin, dass der Feuilletonroman aufgrund der mangelnden Ausbildung eines Kulturmarktes in diesem Land, pointiert formuliert, zwar populär aber nie popular war. Er war also zweifelsohne beliebt, wurde aber lediglich von einer sehr schmalen urbanen Schicht konsumiert. Die Beliebtheit dieses literarischen Genres habe zudem

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schon Mitte der 1880er Jahre nachgelassen.1 Daraus folgt eine Lücke, ein „langes Interregnum“, nach dem das Genre erst wieder Anfang der vierziger Jahre auftaucht, diesmal als serialisierte Radioerzählung. Die Radionovela geht jedoch auf die US-amerikanische soap opera zurück, die in den USA entwickelt wurde und dort, wie schon erwähnt, Anfang der dreißiger Jahre auf Sendung ging. Die day-time series sind wie geschaffen und wurden dazu geschaffen, das Hausfrauenpublikum während der Depression zum Konsum industrialisierter Hygieneartikel anzuregen. Was gut für die USA ist, musste auch gut für Kuba sein, wo US-amerikanische Unternehmen ihre Strategien für weitere Expansionen testeten. So entstand Mitte der dreißiger Jahre die Radionovela: Sie übernahm von der soap die Ausrichtung auf ein primär weibliches Konsumentenpublikum, suchte sich jedoch in der kubanischen Kultur zu verwurzeln und machte das Melodrama im narrativen Schema stark. „Wahrscheinlich“ griff man dabei auf eine auf ein weibliches Lesepublikum spezialisierte Literatur zurück. So taucht der Feuilletonroman in der Kontinuität der Gattungsvorgeschichte wieder auf. Aus der US-amerikanischen soap opera wurde die lateinamerikanische Radionovela. Das Experiment glückte, Colgate-Palmolive und Gessy Lever verkauften mit der „fórmula latina“ ihre Produkte in ganz Lateinamerika (Ortiz 1991: 17-25). In Brasilien kam das Genre 1941 an, als die großen Werbeagenturen Lintas (arbeitete für Gessy Lever) und Standard Propaganda (arbeitete für Colgate-Palmolive) ihre Radioabteilung eröffneten und die transnationalen Unternehmen lokale Sponsoren aus dem Programm verdrängten. Die Agenturen operierten lateinamerikaweit und kümmern sich selbst um die Produktion der Serien. Sie verfügen über die meist in Kuba verfassten Skripte und entscheiden darüber, welcher Text wo vertont wird. Der Erfolg der Gattung in Brasilien war schnell und groß. Zwischen 1943 und 1945 sendete Rádio Nacional 116 Serien mit insgesamt 2985 Kapiteln. In dem Maße, wie sich die Radioempfänger verbilligen, wird die Radionovela zu einem „effektiv popularen“ Genre, „was mit seinem Vorfahren, dem Feuilletonroman, nicht passiert war“ (27). Nun entstehen auch brasilianische Schreibstätten mit der Folge, dass Rádio Nacional in den vierziger und fünfziger Jahren 828 Radionovelas brasilianischer Autoren ausstrahlt. „So sammelt sich ein know how in bezug auf die melodramatische Literatur an, das später auf das Fernsehen übertragen wird“ (28). Ortiz macht jedoch deutlich, dass die Radionovela für die Telenovela zwar Modell war, aber auch „Barrieren“ schuf, da die Visualisierung der Radionovelas die im Radio ausgebildeten Produktionsteams vor Probleme stellte. Die Schauspieler beispielsweise, die früher ihre Rolle allein mit der Stimme interpretierten, mussten erst lernen, das Gewicht der Stimme zu reduzieren und überhaupt die Rollen auswendig zu lernen (28-29). So ist die Vorgeschichte der Telenovela schnell erzählt. Medien und Gattungen dieser Zeit reduzieren sich auf die Vorbereitung der Telenovela – 1

Zum Feuilletonroman in Frankreich siehe Neuschäfer/Fritz-El Ahmad/Walter (1986) und Meyer (1996), die auch den brasilianischen Feuilletonroman umfassend untersucht und dabei zu ganz anderen Ergebnissen gelangt als Ortiz. Meyer zeigt, dass der Feuilletonroman in Brasilien bis ins erste Drittel des 20. Jh. sehr populär war (359-385). Jedoch kommt sie auch zu dem Schluss, die Telenovela sei lediglich eine »Übersetzung« des Feuilletonromans, der ihr die narrativen Leitlinien vorgegeben habe (387). Zum hispanoamerikanischen Feuilletonroman siehe Barros-Lémez (1992).

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diese erscheint als Verlängerung dessen, was es schon gab, auf dem Bildschirm. Die Zäsur der Television, die diese intermedialen Passagen begründen, kann nicht in den Blick geraten (wenngleich wichtige Anhaltspunkte in dieser ‚Vorgeschichte’ auftauchen). Nur auf den ersten Blick wiederholt sich das scheinbar Immergleiche des Melodramas in den verschiedenen medialen ‚Spielarten’. Kurioserweise begnügt sich die Forschung (meist) mit dieser vorschnellen Betrachtungsweise. Wie das offensichtliche Beispiel der mexikanischen Passage des Melodramas vom cine mexicano zum Fernsehen zeigt (und in den letzten Kapiteln ausgeführt wird), wandelt sich nicht nur das Erzählen im neuen Medium sondern auch das Erzählte von Grund auf. Mit anderen Worten richtet der Medienwechsel auch die Narration völlig neu aus, ganz zu schweigen vom Bruch in der performativen Dimension des Erzählens. Das Fernsehen nimmt, wie oben beschrieben, weite Teile der Übertragungsräume anderer moderner Medien ein und übernimmt ihre enunziativen Funktionen. Aufgrund der sozialen Eingrenzung der Typografie, des Kinos, des Theaters u.a. kommt der Television hier eine noch dominantere Position in der Medienkultur zu wie in Europa und Nordamerika. Innerhalb des lateinamerikanischen Fernsehens wiederum herrscht das Genre der Telenovela unangefochten vor. Es besetzt seit den sechziger Jahren auf den quotenstärksten Sendern wie Rede Globo in Brasilien oder Canal 2 in Mexiko die wichtigste Programmschiene des Mediums, die prime time. Als hegemonische Gattung des hegemonischen Mediums dominiert die Gattung in der lateinamerikanischen Medienkultur, weil die Menschen hier, wie Avancini erläutert, schlicht keinen Zugang zu anderen Formen der Unterhaltung finden: Die sogenannten horizontalisierten Sendungen in der prime time sind typisch für wirtschaftlich unterentwickelte Länder, wo dem Großteil der Bevölkerung die Voraussetzungen fehlen, seine Unterhaltung zu diversifizieren. In den USA und in Europa geschieht das nicht, weil die Menschen sich nicht von einer solchen Sendestruktur versklaven lassen wollen und die ökonomischen Möglichkeiten haben, Unterhaltung und Kultur zu diversifizieren.2

Das hier zu diskutierende Problem ist jedoch nicht nur die Hegemonie als solche, also die Macht der Gattung über die Verkettung der Aussagen in diesen Kulturen. Um diese Macht zu verstehen, zu konturieren und damit eingrenzen zu können, geht es darum, ihre historische Inkommensurabilität zu vergegenwärtigen. Es dreht sich darum, die kulturelle Umwälzung zu veranschaulichen, die dieser Macht vorausgeht. Ein neues Medium ist – dies lehrt die Rede von der medialen Zäsur – nicht schlicht eine weitere Übertragungsform, die sich zu bereits bestehenden hinzugesellt. Ein neues Medium ist das „radikal Neue“, Unvorstellbare und Erschütternde. Flusser beschreibt das Aufkommen der technischen Bilder als eine „kulturelle Revolution“, die alles 2

„As chamadas programações horizontais em horários nobres são típicas de países economicamente subdesenvolvidos, onde grande parte da população não tem condições de diversificar seu entretenimento. Nos Estados Unidos e na Europa isto não acontece, porque as pessoas não querem ficar escravas deste tipo de programação, tendo possibilidade econômica de diversificar o entretenimento e a cultura“ (Avancini 1991: 148).

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umstürzt, was bisher galt, und ein neues Dasein hervorbringt mit „neuen Kategorien des Erkennens, Wertens und Erlebens“ (Flusser 2000: 49). In Lateinamerika ist von einer Zäsur der Television auszugehen, da erst und nur das Fernsehen die kulturelle Funktion einnimmt, die die Typografie in den Kulturen Europas und Nordamerikas innehatte vor dem ‚Einbruch‘ der Audiovision mit Kino, Radio, Fernsehen und Computer. Gemeint ist die gesellschaftsweite mediale Ausdehnung eines enunziativen Anknüpfungsraumes. Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht die Telenovela. Die Städter in den Ballungszentren Rio de Janeiro / São Paulo sehen sie ebenso wie Indios im Amazonas, die zur Sendezeit erst einen Generator anwerfen müssen, der den Strom für das Empfangsgerät liefert.3 In Mexiko ist dies nicht grundsätzlich anders, so der mexikanische TV-Produzent Epigmenio Ibarra: „Die Telenovela hat den Charakter der Mexikaner geprägt, sie hat die intimsten Fasern berührt.“4 Nicht in der vermeintlichen Gleichschaltung der Zuschauer zeigt sich die Macht der Telenovela. Denn die abgründigen sozialen Differenzen, denen sich ihre Hegemonie verdankt, wird sie nie aufheben können. Ihre Macht erwächst aus diesem Mangel an Gattungsalternativen. Für Postman beruht die Dominanz des Fernsehens darin, dass es das Wissen einer Gesellschaft über sich selbst und über die Welt bestimmt, da die Mehrzahl der Menschen Wissen im Fernsehen suchen. Damit überträgt das Fernsehen die Welt nicht nur. Für die meisten Menschen nimmt die Welt die Form des Fernsehens an (Postman 1986: 92). Postman setzt jedoch nicht zum „Sprung“ in das Neue der flimmernden Bilder an und wagt nicht das »Entsetzen«, zu dem die alphabetisch undenkbare Technoimagination herausfordert (vgl. Flusser 2000: 227-231). Stattdessen zeigt er die Entfremdung der Kultur von ihrer alphabetischen Heimat an und beschreibt die Verleugnung ihres Wesens in der Verbannung des „Inhalts“ durch das Bild, das sich im unterhaltenden „visuellen Interesse“ erschöpft (Postman 1986: 92). Der kulturelle Umbruch des Fernsehens in Lateinamerika wird umso deutlicher, wenn bedacht wird, dass hier nicht nur primär dieses Medium bestimmt, was Gesellschaft und Welt ist sondern in herausragendem Maße eine einzige Gattung. Der Mangel an Gattungsalternativen umschreibt die Situation der peripheren Moderne.5 Er verhindert die Herausbildung von Informationsgesellschaften, wie sie in Europa mit dem Buchdruck entstanden sind, der Infor3

Maristella do Valle berichtet beispielsweise in der Folha de São Paulo von der Indiogemeinschaft von Terra Preta am Rio Negro, die die Telenovela Terra nostra (1999-2000) regelmäßig sahen. Von der Stromnetz ausgeschlossen zu sein und in einer abgeschiedenen Zwischenzone zwischen autochthoner Gemeinschaft und brasilianischer Gesellschaft zu leben, ist noch lange kein Grund, nicht täglich das Melodrama der italienischen Einwanderung in São Paulo in der ersten Hälfte des 20. Jh. zu schauen, das die Serie erzählte (Valle 1999).

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„Estoy diciendo que la telenovela ha moldeado el carácter de los mexicanos, que ha tocado las fibras más íntimas“ (Ibarra 2000: 126).

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„Ethnographische“ Rezeptionsforschungen wie z.B. die von Ana Uribe, die drei Familien in Colima beim Telenovela-Sehen zugesehen hat bestätigen, dass die Familien Telenovela-Familien sind, die einen sehr engen Bezug zum Fernsehen und zur Telenovela pflegen, aber einen nur „minimalen“ Kontakt mit Printmedien und mit dem Kino unterhalten (Uribe 1998: 274).

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mationen nicht nur vervielfältigte sondern auch über Marktmechanismen zirkulieren ließ. In der peripheren Moderne wird Schriftwissen nur partiell vergesellschaftet, denn Buchpublikationen erreichen nur eine Teilöffentlichkeit. Typografische Genres werden von schmalen Schichten monopolisiert und einem Großteil der Bevölkerung vorenthalten. Das per se öffentliche typografische Wissen wird wieder zum „Geheimnis“ (vgl. Giesecke 2002: 97-98). Gesellschaftsweite Öffentlichkeit schrumpft somit auf nur wenige Diskursgenres zusammen, unter denen die Telenovela hervortritt. Die koexistierende typografische Öffentlichkeit mit ihrer Gattungsvielfalt beschränkt sich auf soziale Sektoren, die absolut gesehen umfangreich sind, aber einer alphabetfernen Bevölkerungsmehrheit gegenüberstehen. Aus diesem Grund kommen der Telenovela notwendig soziale Funktionen zu, die über den Bereich der Unterhaltung hinausgehen und in die von Information und gesellschaftlicher Reflexion eindringen, was ihre immense gesellschaftliche Bedeutung ausmacht. Die Grenzen des Genres tun sich in der Monopolisierung ihrer Enunziation durch die Fernsehsender auf, wodurch Anknüpfungen nicht prinzipiell ausgeschlossen, jedoch auf andere Medien verwiesen sind, die an der televisuellen Öffentlichkeit meist nicht mehr teilhaben. Videosphäre (televisuelle Öffentlichkeit) bedeutet das, was Flusser als „Amphitheaterdiskurs“ bezeichnet: Ein zentraler Sender betreibt über einen „Kanal“ Rund(funk)sendungen von Informationen an Empfänger, die sich kreisförmig um ihn anordnen, aber selber nicht senden können (Flusser 2000: 27). Dass diese Situation nicht »höllisch« sein muss (223), liegt daran, dass Kommunikation kein Bewusstseinstransport ist, sondern sich in der „Sphäre der Zeichen, in ihrer Materialität aufhält und eben darin ihre Produktivität entfaltet“ (Waldenfels 1980: 163). Auch wenn die Empfänger eines Amphitheaterdiskurses kaum Sendemöglichkeiten in der Videosphäre besitzen, führt der Empfang nicht zwangsläufig zur „totalen Vereinsamung und Sinnlosigkeit des Lebens“ (Flusser 2000: 223-224). Auch die Hegemonie einer Gattung kann nicht alle Gattungen unterdrücken. Die Hegemonie der Telenovela in der Videosphäre bedeutet jedoch, dass sie im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses steht. Laura Graziela Gomes nennt die brasilianische Telenovela in Anlehnung an Pierre Bourdieu eine „obligatorische Problematik“ bzw. einen „Dissens im Konsens“. Gemeint ist, dass die Gattung für Brasilien einen unvermeidlichen Gegenstand privater und öffentlicher Auseinandersetzung im Sinne ebenso von Ablehnung wie von Zustimmung darstellt (Gomes 1998: 12, 19). Angesichts der politischen und ökonomischen Bedingungen des Fernsehens unterliegt die Gattung grundsätzlich einer rigiden Kontrolle und vielfältigen Pressionen seitens der Politik (mittels expliziter Zensur oder ‚sanften‘ Drucks), seitens der ideologia do dono und vor allem seiner Gewinnerzielungsabsichten. Als hegemonische Gattung gilt ihr die besondere Aufmerksamkeit von Interessengruppen (z.B. der katholischen Kirche aber auch von Menschenrechtsgruppen) und typografischer Teilöffentlichkeiten. Insbesondere in diesen Teilöffentlichkeiten machen sich die Bedingungen der „Unterentwicklung“ und die kritischen Forderungen nach emanzipativer Modernisierung bemerkbar. Die Telenovela setzt also weder den Feuilletonroman einfach fort, der als Literatur über sein soziokulturelles Inseldasein nicht hinauskam. Wie Jesús 193

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Martín-Barbero zeigt, überwand der Feuilletonroman jedoch die sozialen Grenzen der Lesekompetenz in Lateinamerika. In einer intermedialen Passage oralisierte sich dieses Romangenre. In Argentinien beispielsweise knüpfen zunächst einzelne Romane in gauchesker Manier an der poesía de los gauchos der payadores an, also an den Liedern der Wandersänger, die die Rinderhirten (Gauchos) zum Gegenstand hatten.6 Diese Feuilletonromane wiederum werden im circo criollo Ende des 19. Jh. dramatisiert. An diese dramatischen Formen knüpft später das radioteatro an. Über den Umweg der popularen Dramatisierung wird der Feuilletonroman auf das Radio übertragen. Ende des 19. Jh. wird der Feuilletonroman in kubanischen Tabakfabriken oralisiert, indem er den Arbeitern vorgelesen wird. Diese Praxis endete erst in den dreißiger Jahren, als das Radio die Erzählung von Fortsetzungsgeschichten übernahm (Martín-Barbero 1992: 55-57). Die Gattungspassage des Feuilletonromans wird bereits durch die Etymologie der spanischen Bezeichnungen Radionovela bzw. Telenovela angezeigt, die ins Portugiesische übernommen wurden. Im Deutschen würde das so viel wie Radiobzw. Teleroman bedeuten. Deutlich wird, dass der Feuilletonroman einen Anknüpfungskontext bildet, der sich nur über mehrere mediale Brüche fortsetzt. Worin besteht dieser Kontext? In der Serialisierung des Melodramas. Die nach den Revolutionswirren um 1800 in Frankreich entstandene Theatergattung des Melodramas antwortet auf Bedürfnisse des Publikums, die terreur zugunsten einer „glücklichen Zukunft“ zu überwinden. Sie entfaltet ihre „Appelstruktur“ in der „Weckung von Zuschauerängsten“, die über den Text hinaus dramatisch und musikalisch emphatisiert werden. Die Angst ist Ergebnis der grundlosen Verfolgung der Tugend durch das grundsätzlich Böse. Sie wird – am Ende – durch die Bestrafung der bösen Figuren und Rettung der apriorisch guten aufgelöst (Gumbrecht 1979). Der Feuilletonroman greift das Verfolgungs- und Erlösungsmotiv des Melodramas auf, überträgt die melodramatische Inszenierung der Angst jedoch nicht nur auf das (mehr oder weniger) stille Leseerlebnis – und popularisiert es so – sondert zerlegt und verästelt es in unzählige (mehr oder weniger) zusammenhängende Kapitel. Diese Zerstückelung des Melodrams macht den Lese-Terror nicht nur für Niedrigeinkommen erschwinglich. Sie ergänzt sie durch einen eigentümlichen Suspense-Effekt, der in der erwartungsstiftenden Unterbrechung der Erzählung entsteht. Über den Feuilletonroman gelangt das Melodrama folglich nach Lateinamerika, durch seine Oralisierung und Dramatisierung popularisiert es sich. Das bedeutet, dass das Melodrama nicht per se lateinamerikanisch ist (falls es so etwas gibt), sondern Ergebnis einer interkulturellen Passage. Das bedeutet auch, dass das lateinamerikanische Melodrama nicht dasselbe wie in Europa ist, sondern das Resultat von intermedialen Passagen, die die Gattung völlig verändern. Ebenso wenig übersetzt die Telenovela die soap opera, die sich bis heute auf ein vornehmlich weibliches Tagespublikum beschränkt und selbst dabei nur ein Genre unter vielen ist. In der interkulturelle Passage ist die Umstellung des endlosen Erzählmodus auf ein finales Narrationsschema mit Beginn, (langem) Mittelteil und Schluss mehr als eine Variation des Genres. Mit dem 6

Zur nationalen Stilisierung der Gauchos durch den género gauchesco siehe Ludmer (1987). Berg (1999: 56-70) und Schäffauer (1998: 126-132) arbeiten hierbei insbesondere die Rolle der literarischen Oralität bzw. der scriptOralität heraus.

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kubanischen Rückgriff auf die gestreckte, unterbrochene, aber abgeschlossene Erzählstruktur des Feuilletonromans erhält die Radionovela und später die Telenovela eine völlig andere kulturelle Funktion.7 Radionovela und Telenovela stellen abgeschlossene Aussagen dar und sind daher in ihrem diskursiven und personellen Repertoire prinzipiell äußerst flexibel und vielseitig. Das öffnet sie gegenüber anderen Gattungen und dem gesellschaftlichen Themenspektrum. Gleichzeitig ist jedoch ein diskursiver Rahmen vorgegeben, das serielle Melodrama, das aufgrund seiner narrativen Grundstruktur des moralischen Konflikts zwar thematisch polyvalent, aber zugleich auf ein glückliches Ende festgelegt ist. Die Telenovela bebildert auch nicht die Radionovela, deren Reichweite meist an den Rändern des urbanen Lebens endete. Im Gegensatz zu diesen seriellen Melodramen taucht erstmals die Telenovela in das ‚Meer‘ ‘der zutiefst fremden Nicht-Moderne. Und: Warum verlor die Radionovela zumindest in Brasilien – im Gegenteil zu Mexiko, wo sie heute noch ausgestrahlt wird8 – mit der Konsolidierung des Fernsehens ihre Sendeplätze? Zweifelsohne liegt das daran, dass die Sponsoren und ihre Werbeagenturen (in den sechziger Jahren) in das neue Medium überwechselten. Das Problem ist jedoch vielschichtiger. Die Telenovela entfaltet eine andere Performanz als die Radionovela. In der Übertragung der Telenovela wird das televisuelle Dispositiv wirksam, dessen skopophiler SubjektReiz nicht nur das Ohr sondern auch das Auge ansaugt.9 Die Fortbildung des Anknüpfungskontextes des seriellen und nicht-seriellen Melodramas über die medialen Grenzen hinweg ist kein Kontinuum. Sie vollzieht sich als ein Abbrechen und ein Neu-Ansetzen. Die Analyse der Hegemonie der Telenovela ist immer schon kritisch. Aber sie belässt es nicht bei der Anklage der Verdrängung anderer Gattungen und dem überlegenen Aufzeigen der Grenzen des Affektgenres. Sie fragt nach den Gründen, die diese Hegemonie zulassen und lässt sich auf das Schlimme der Gattung ein.

6.2 Wider die „Mexikanisierung“: die Geschichte der Telenovela in Brasilien Im ersten Telenovela-Jahr 1951 ging mit Sua vida me pertence (Tupi) nur eine Telenovela auf Sendung. Im Jahr darauf waren es auf den Sendern in São Paulo bereits zwölf. In Anlehnung an das Radio wurden die Telenovelas paulistanas bis 1954 hauptsächlich von brasilianischen (Radionovela-)Autoren geschrieben wie J. Silvestre oder José Castellar. Unter den Telenovelas befinden sich auch Transpositionen romantischer Romane von José de Alen7

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Mit Hans Ulrich Gumbrecht erschließt sich der Sinn einer Gattung aus ihrer gesellschaftlichen Funktion. Nur aus dieser Funktion und dem vielzitierten »Sitz im Leben« erklärt sich ihr „Publikumserfolg“ (Gumbrecht 1979: 336, 344). Zur Radionovela auf dem Quotenführer XEW des Azcárraga-Imperiums siehe o.A. (2000a). Zur Radionovela in Lateinamerika siehe Schäffauer (o.D.: 279-287) und insbesondere seine Analyse von Mario Vargas Llosas’ intermedialer Verschränkung von Roman und Radionovela-Skript, die die epochemachende Bedeutung des Radiogenres nicht ohne Ironie aufarbeitet.

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car und Machado de Assis. Ab 1954, so zeigt Ortiz, ging die Telenovela in São Paulo dazu über, erst populäre Texte des europäischen/US-amerkanischen Literaturkanons wie Oliver Twist zu transponieren und später in zunehmendem Maße Kinoerfolge wie Gone With the Wind (Ortiz 1991: 30-39). Wie schon angedeutet, dominierten in der Frühphase zwar Liebesmelodramen, jedoch machten sich schon in den fünfziger Jahren einzelne Serien in Rio de Janeiro daran, zumindest Ausschnitte der „brasilianische Realität“ darzustellen. Das Beispiel von Aparecida Menezes wurde bereits genannt. Ähnlich suchte auch die Autorin Ilza Silveira einen Bezug zum „wirklichen Leben“ in ihren Telenovelas (Klagsbrunn/Resende/Lins/Rapp 1991: 61). Daraus folgt, dass die Telenovela in Brasilien bereits in ihrem ersten Jahrzehnt mit unterschiedlichen intermedialen Gattungspassagen experimentierte. Bis zum Start der ersten telenovela diária 1963 wurden in São Paulo 164 Serien ausgestrahlt. Wie Ortiz feststellt, wurden dort im selben Zeitraum 1890 teleteatros gesendet. Das zeigt das Übergewicht des Prestigegenres an, das zwar nicht serialisiert war und so auf mehr Einzelproduktionen kam, die jedoch von ihrer Länge (durchschnittlich zwei Stunden) im Schnitt sechs (zwanzig minütigen) Telenovelakapiteln entsprachen. Die Telenovela wurde zudem nur unregelmäßig in das Programm aufgenommen. Während die teleteatros mit einer invarianten Frequenz (wöchentlich oder zweiwöchentlich) gesendet wurden, folgte nach dem Ende einer Telenovela meist erst einmal ein anderes Format, bis nach unbestimmter Zeit wieder eine neue Telenovela ins Programm kam. Die Telenovela hatte damit keine Programmpriorität und wurde unregelmäßig gesendet. Dennoch richtete sich die Suche nach einem „brasilianischen“ TV-Format bereits in der Frühphase auch auf sie, wenngleich zunächst andere Genres (wie das teleteatro) bevorzugt wurden. Ende der fünfziger Jahre setzte die schon angedeutete US-amerikanisierende Tendenz ein (Programmimport und zunehmende Einflussnahme der großen transnationalen Werbeagenturen und ihrer Sponsoren). Zugleich interessieren sich im Zuge der Verbilligung der Fernsehgeräte die neuen Zuschauergruppen aus den bildungsfernen Schichten weniger für teleteatros und mehr für Telenovelas. Dem beugte sich auch TV Excelsior trotz seiner nationalistischen Ausrichtung. In Zusammenarbeit mit Colgate-Palmolive und orientiert sich der Sender, wie oben ausgeführt, am argentinischen Modell, horizontalisiert die Telenovela und macht sie zur Grundlage des Programms. In Ermangelung ausreichenden Eigenkapitals waren die brasilianischen Sender auf die Sponsoren und ihre Agenturen angewiesen, die ihr Erfolgsmodell der Radionovela im Fernsehen wiederholen wollten und über ihre Niederlassungen in den einzelnen Ländern lateinamerikaweit Drehbücher verteilten und produzierten. Das Genre wurde folglich geradezu ausgetauscht. Die Ansätze, realitätsnahe Serien zu entwickeln, fielen und Ungnade und wurden durch ein Modell ersetzt, das in Argentinien schon publikumserprobt war, und das sich am radiophonen Liebesmelodram re-orientierte. Die neue alte Seifenformel funktionierte auch in Brasilien. Bereits 1964 berichten die Printmedien von einer neuen „mania nacional“. Von einer „Epidemie“ ist die Rede, einer „angenehmen Krankheit“, die die gesamte Familie vor dem Bildschirm versammelt und das Abendessen auf einen telenovelafreien Zeitpunkt verlegt (zitiert nach Borelli/Ramos 1991: 59). Symptomatisch war die bereits erwähnte Videoversion von O direito de nascer (El derecho de nacer) 1964/65, die in der Auffassung von Régis Car196

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doso die Erfolgsserie der „melodramatischen Telenovelas“ einleitete (Régis Cardoso 1991: 166). O direito de nascer – ursprünglich eine kubanische Radionovela aus dem Jahr 194810 – wird erzähltechnisch von dem für den Feuilletonroman typischen Motiv des Geheimnisses (die verdeckte Familienidentität der Protagonistin oder des Protagonisten) organisiert. Das Geheimnis bildet den Spannungsbogen, welcher der serialisierten Erzählung Zusammenhalt verleiht. Es entsteht zu Beginn der Erzählung und endet naturgemäß erst ganz am Ende. Im Fall von O direito de nascer ist es die Identität des unehelichen Enkels eines tyrannischen Gutsbesitzers. Als dieser das Leben des Kindes bedroht, flüchtet eine Hausangestellte mit dem Kind und zieht es unter falschem Namen auf. Als junger Mann studiert er Medizin, wird Arzt, kommt in Kontakt mit seinem Großvater und rettet dessen Leben. Als schließlich seine wahre Identität aufgedeckt wird, sieht der Tyrann seine Fehler ein, versöhnt sich mit dem Helden und lässt die Liebeshochzeit mit dessen Dame des Herzens zu. Die Telenovela endete mit Großkundgebungen in rappelvollen Sportsstadien,11 in denen die Schauspieler frenetisch von den Fans bejubelt wurden. Eine Schauspielerin fiel gar angesichts des Trubels in Ohnmacht (Fernandes 1994: 50-51). Das Genre wächst von anfangs zwanzig Minuten auf eine halbstündige Sendung pro Kapitel an und wird zum unausweichlichen Bestandteil des Programms in allen Sendern. Die gesamte Konkurrenz folgt dem Beispiel von TV Excelsior und zieht mit „horizontalen“ (täglichen) Telenovelas nach. In der Folge fliegen die Prestigesendungen aus dem Programm: TV Excelsior verabschiedet sich trotz seines kulturellen Anspruches schon 1963 von Teatro9 und Teatro 63. TV Tupi setzt ein Jahr später Grande teatro Tupi ab. TV de vanguarda nimmt dieser Sender 1967 aus dem Programm. Die beste Sendezeit am Abend, während der bisher Informationssendungen und Filme gezeigt wurden, wird nun von der Telenovela besetzt, die diesen Programmplatz bis heute nicht aufgab (Borelli/Ramos 1991: 63). Wie schon erwähnt, produzierten die Sponsoren mit ihren Agenturen vornehmlich kubanische, argentinische oder mexikanische Skripte. Brasilianische Drehbücher ließen sie in dem Maße zu, wie sie sich am „folhetim melodramático“ orientierten (69). So entsteht ein Szenario, das zwar für alle Beteiligten (Sender, Agenturen und Sponsoren) äußerst rentabel war, aber ein kulturelles Unbehagen hervorrief und die Imperialismuskritik gegen sich aufbrachte. Während TV Globo bei seiner Gründung 1965 zunächst auf den Trend aufspringt und neben Shows vornehmlich kubanische und mexikanische Telenovelas überträgt, regen sich Tendenzen in anderen Sendern, das – unvermeidliche und kurioserweise per se unwidersprochene – Genre auf die „brasilianische Realität“ abzustimmen. Dies war nicht so einfach, wie Avancini, einer der Protagonisten dieser Tendenz, bemerkt. Avancini bezeichnet sich selbst als eine Art „Autoren-Regisseur“ und stellt sich damit wie selbst10 Zu El derecho de nacer von Félix Caignet siehe insbesondere die crónica von Vicente Leñero „El derecho de llorar“ (Leñero 1981), auf die am Ende der Studie zurückzukommen ist. 11 Die Telenovela wurde, wie schon angemerkt, in São Paulo (Tupi) und in Rio de Janeiro (TV Rio) ausgestrahlt. Das jeweilige tape wurde erst in São Paulo gesendet, nach Rio geschickt und am Folgetag in Rio übertragen. In beiden Städten ereignet sich die besagten Schlusskundgebungen.

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verständlich auf die Ebene eines Kinoregisseurs, was wiederum das Bestreben des brasilianischen Fernsehens unterstreicht, im Grunde etwas Anderes zu sein, nämlich Kino (Avancini 2001: 325).12 Als ehemaliges Mitglied des Partido Comunista Brasileiro war er einer der Gründer der Gewerkschaft der Radio- und Fernseharbeiter Anfang der sechziger Jahre. Nach dem Militärputsch tauchte er kurz unter, bis er 1965 die Regie der Telenovelas von Ivani Ribeiro bei TV Excelsior übernahm (328). Wie schon angedeutet, versuchte er damals zusammen mit der Drehbuchautorin, die Telenovelahandlungen zumindest in Brasilien zu beheimaten. Die kommunistische Partei sowie eine Reihe von ihr nahestehenden bzw. ihr angehörenden Radionovela- und Telenovelaautoren (z.B. Walter George Durst)13 haben ihn nach eigenen Angaben dahingehend geprägt, sein Schaffen auf soziale Probleme und die „brasilianische Identität“ auszurichten (324). Avancini erscheint damit als eine der treibenden Kräfte innerhalb des brasilianischen Fernsehens, das Medium bzw. seine fiktionalen Genres (d.h. Telenovelas und Mehrteiler, die minisséries) in den Dienst der emanzipativen Modernisierung zu stellen. Dies scheiterte zunächst an den Agenten des Imperialismus (die transnationalen Sponsoren und die Werbefirmen), die über die Produktion der Telenovelas bestimmten. Wie bereits erwähnt, weigerten sie sich, Berührungspunkte zwischen der Telenovela-Erzählung und dem „Realen“ zuzulassen. Sie ließen sich von einer „rein kommerziellen Sicht“ leiten, nach der nur die brasilienfernen Fantasiewelten den gewünschten Gewinn garantierten. Mexicanização ist das Stichwort, das das Problem der Gattung damals (und noch heute) bezeichnet (324325). 1968 gelang schließlich der Durchbruch mit Beto Rockfeller (Tupi). Diese Telenovela führte einen pikaresken Helden ein, ein junger Schuhverkäufer, der sich mit seinem gefälschten Nachnamen als Millionär ausgibt und in den oberen Gesellschaftskreisen verkehrt. Gleichzeitig jedoch führt er sein Leben im bairro, im Milieu der unteren Mittelschicht weiter. Aus diesem Doppelleben und Versteckspiel entstehen zahllose Komplikationen, zumal er in beiden „Welten“ eine intime Beziehung eingeht. Die Kritik ist bis 12 Avancini ist fraglos eine der herausragenden Figuren unter den brasilianischen TVMachern. Kaum einem anderen Regisseur ist es gelungen, wie er auf die Gestaltung der aufzunehmenden Serien Einfluss zu nehmen und als TV-Schöpfer in Erscheinung zu treten (eines seiner bekanntesten ‚Werke‘ ist die Videoverfilmung des Romans Grande sertão: veredas von João Guimarães Rosa als Mehrteiler zum zwanzigjährigen Jubiläum von Rede Globo 1985. TV-Regisseure sind ansonsten meist Aufnahmeorganisatoren, die im rationalisierten Produktionsprozess kaum kreativen Spielraum besitzen. „Autoren“ gibt es jedoch, wie auszuführen sein wird, auch im brasilianischen Fernsehen. Festzuhalten bleibt an diesem Punkt, dass einzelne TelenovelaMacher über den schon angedeuteten Anspruch einer Hollywood brasileira hinausgehen und das Autorenkino der nouvelle-Vague bzw. des cinema novo mit ihren Serien im Sinn haben. 13 Walter George Durst schrieb das Drehbuch zu Grande sertão: veredas, wie auch die Skripte einer Reihe Literaturtranspositionen, so z.B. Gabriela, eine Telenovela auf der Grundlage des Romans von Jorge Amado (Rede Globo 1975). Schon im Radio übertrug er Kinofilme und passte sie in der Sendung Cinema em casa dem radiophonen Format an. Später war er verantwortlich für die vielgerühmten Theateradaptationen in TV de vanguarda (Tupi) (Simões 1986: 29-30 und Fernandes 1994: 420).

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heute von der Serie begeistert: Beto Rockfeller „modernisiere“ die Gattung und räume mit den Fantasiewelten (mit der Entfremdung) des Genres auf. Nicht nur „erneuere“ die Serie die Erzählweise durch Oralität, also durch Dialoge in der Umgangssprache.14 Mit der Einführung eines nicht mehr nur tadellosen „Anti-Helden“ restrukturiere sie auch den Plot und rücke die Erzählung näher an die „pessoas comuns“, an die gewöhnlichen Menschen. Auch sei den Schauspielern mehr künstlerische Freiheit überlassen worden, indem die starre Kamera ihnen nicht mehr ihre Bewegungen vorschrieb (Fernandes 1994: 116-117). Tupi wusste den Publikumserfolg von Beto Rockfeller nicht zu nutzen, und kam mit späteren Produktionen nicht mehr an den neuen Maßstab heran. Aber Rede Globo. Dieser Sender richtete in der Folge seine TelenovelaAbteilung völlig neu aus. Damit beginnt die eigentliche Erfolgsgeschichte des Senders. Diese Geschichte gleicht selbst einem Melodrama, in dem das Gute – das Nationale – beständig vom Bösen der mexikanischen Entfremdung bedroht wird. Die grande vilã, die Schurkin, in diesem Melodram ist zunächst eine kubanische Telenovela-Autorin namens Gloria Magadan. Wahrscheinlich ist sie eine der meistgehassten Figuren in der Geschichtsschreibung der brasilianischen Telenovela.15 Magadan leitete die TelenovelaAbteilung von Rede Globo in den sechziger Jahren, nachdem sie dreißig Jahre für Colgate-Palmolive gearbeitet hatte (Clark 1980: 33). Boni, der später mit dem padrão Globo de qualidade für die makellose HollywoodÄsthetik des Senders sorgte, bezeichnet sie als „eine Art Göttin des Jardim Botânico [der Stadtteil, in dem der Sender angesiedelt ist]. Niemand traute sich, ihr zu widersprechen.“ Sie widersetzte sich der „Brasilianisierung“ des Programms, die einigen Leuten innerhalb des Senders betrieben wurde. „Sie mochte nur Dinge wie der Scheich von Agadir [eine ihrer Telenovelas], und war verrückt nach der irrealen Handlungen von Die wahnsinnige Königin, die sich in Mexiko abspielte.“16 Dias Gomes erzählt, dass Magadan den Vorschlag, man könne die Telenovela-Handlung auch in Brasilien spielen lassen und müsse sie nicht unbedingt nach Arabien oder Spanien verlegen, mit Entsetzen abgelehnt habe: Es ist unmöglich, eine Telenovela in Brasilien zu schreiben, weil Brasilien kein romantisches Land ist. Schauen sie, ein Galan, der João da Silva heißt, das geht doch nicht! Der Galan muss Ricardo Montalbán oder so etwas heißen, so etwas richtig Schönes.17 14 Zum Zusammenhang zwischen Oralität und Identität als ein aus dem 19. Jh. Stammendes literarisches Problem siehe Berg (1999) und Schäffauer (1998). 15 Ismael Fernandes beispielsweise bezeichnet die „Herrschaft“ Magadans als „andauerndes Beharren auf dem schlechten Geschmack“ (Fernandes 1994: 129). 16 „Glória Magadan era uma espécie de deusa do Jardim Botânico. Ninguém se atrevia a contrariá-la. Pensei que poderia convencê-la a se ajustar à nova realidade da emissora, mas estava enganado. Ela só gostava de coisas como Sheik de Agadir (novela que ela produziu para a Globo), tinha paixão pelo enredo irreal de A rainha louca, cuja trama transcorria no México“ (Sobrinho 2001: 48). 17 „Não há possibilidade de escrever uma telenovela no Brasil, porque o Brasil não é um país romântico. Veja bem, um galã chamado João da Silva, não dá! O galã tem que se chamar Ricardo Montalbán, uma coisa assim, bem bonita“ (Gloria Magadan, zitiert nach Gomes 1991: 174).

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Legende oder nicht, diese Erzählung von Dias Gomes macht deutlich, dass Globos Telenovelas zu dieser Zeit als Inbegriff der Entfremdung galten. „Folhetim exótico“ (exotischer TV-Feuilletonroman) nennt Samara Campadelli Globos erste Telenovela-Produktion. Damit meint sie nicht nur die strikte Ausrichtung am affekthascherischen Feuilletonroman sondern insbesondere die exotischen Settings in fernen Ländern und extravagante, exzentrische Charaktere. Magadans erste Telenovela war eine Übertragung des (Fortsetzungs-)Romans Le comte de Monte-Cristo von Alexandre Dumas mit dem Titel Eu compro esta mulher (Ich kaufe diese Frau) (Campadelli 1987: 32). O sheik de Agadir (Der Scheich von Agadir) (1966) war ebenfalls eine Romanadaptation, und zwar von Taras Bulba (Nikolai Gogol). Die Geschichte spielt in der Sahara und handelt von einer Dreiecksbeziehung zwischen einem Scheich, einer Französin und einem französischen Offizier (Fernandes 1994: 82). Diese Serien kamen übrigens ganz gut beim Publikum an, wie Régis Cardoso einräumt (Régis Cardoso 2001: 300). Warum wandte sich dann Globo von dem Erfolgsrezept ab? Zu denken ist in diesem Zusammenhang an den heftigen Gegenwind durch die parlamentarische Untersuchungskommission und durch die Meinungsmache der konkurrierenden Medienunternehmen (allen voran der Associados) wegen des „escândalo Time-Life“, der Globo in dieser Zeit entgegenwehte. Es liegt daher nahe, dass die öffentlichen Vorwürfe, mit dem „Imperialismus“ zu paktieren, dazu beitrugen, die Weichen zu stellen, vom „barrocken, richtig alten, mittelalterlichen Stil, Telenovelas zu machen“ (ibidem) abzulassen, um der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gleichzeitig kündigte Globo den Vertrag mit Time-Life. Magadan musste gehen, um den Weg für „modernere“ Telenovelas frei zu machen, die sich an der „brasilianischen Realität“ orientierten (Sobrinho 2001: 49). Ersetzt wurde sie durch Janete Clair, die zuvor Radionovelas geschrieben hatte. Sie wurde in den siebziger Jahren zur Starautorin des Senders. Etwas später kam ihr Mann, Dias Gomes, zu Globo. Dias Gomes war, wie schon erwähnt, Theaterautor, von dem u.a. das sozialkritische Stück O pagador de promessas (1960) stammt, aus dem zwei Jahre später unter der Regie von Anselmo Duarte auch ein Kinofilm gemacht wurde, der 1963 in Cannes ausgezeichnet wurde. Als Anhänger des Partido Comunista Brasileiro war Gomes nach einer Reise nach Moskau in den fünfziger Jahren auf eine „schwarze Liste“ in einer Art antikommunistischer „Hexenjagd“ geraten und verlor seine damalige Anstellung beim Radio. Mitte der sechziger Jahre wurden seine Stücke O berço do herói und A invasão verboten. 1969 wurde er von Boni zu Rede Globo gerufen (Gomes 2001: 83-87). Dias Gomes war der prominenteste engagierte Künstler, der zu Globo kam, aber er war nicht der einzige.18 Andere folgten, z.B. Lauro César Muniz oder Jorge de Andrade, ebenfalls sozialkritische Theaterautoren. Avancini übrigens stieß 1972 dazu. Mehr als Aushängeschilder dienten sie dem Zweck, das zu vollziehen, was einhellig in Öffentlichkeit und Forschung als „Brasilianisierung“ der Telenovela bezeichnet wird. Dabei wird meist übersehen, dass Globo in der 18 Der Theaterforscher Anatol Rosenfeld bezeichnet Dias Gomes in seinem Buch über das moderne brasilianische Theater als einen der „herausragenden Autoren des zeitgenössischen brasilianischen Theaters“ (Rosenfeld 1982: 58). Fast die Hälfte des Buches ist Dias Gomes gewidmet (55-100).

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brasilianischen Ausrichtung der Telenovela in Thematik und Stil das televisionäre Kulturprojekt von TV Excelsior übernahm und zum Durchbruch verhalf. Außerdem wird außer Acht gelassen, dass Globo die brasilianische Tradition des Genres aus der Frühphase des Mediums wiederaufnahm, die in den sechziger Jahren unterbrochen wurde. Globo hat das Fernsehen nicht allein „brasilianisiert“. Der Sender hat sich den gesellschaftlichen Erwartungen nach emanzipativer Modernisierung angepasst, und zwar erst in einem zweiten ‚Anlauf‘. Tatsächlich bedeutete die Darstellung Brasiliens in den Telenovelas einen höheren Produktionsaufwand, sie bescherte jedoch eine Reihe entscheidender Vorteile. Zum Einen stimmte die Quote, wodurch sich die „brasilianische Produktion“ bereits auszahlte, was Marinho selber zugab (zitiert nach Kehl 1986: 185). Zum Anderen konnten die Militärs an der televisionären Konstruktion nationaler Identität nur größtes Interesse haben. Eines ihrer wichtigsten Anliegen war just die „nationale Integration“, deretwegen sie das Medium und speziell Rede Globo förderten. „Nationale Integration“ diente nicht nur der Erschließung eines landesweiten Konsumgütermarktes und der Kontrolle über das immense Territorium (militärische Verlustängste bezogen sich insbesondere auf Amazonien) sondern auch dem Aufbau der „Nation“ als Voraussetzung für ein Brasil grande der Zukunft. In diesem Sinne lag dem Militärregime auch an der „Kultur“ und formulierte 1976 einen Plano Nacional de Cultura, der „kulturelle Entwicklung“ im Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des Landes sah (171-173). Daher galt die Zensur nicht zuletzt der forcierten Hebung des kulturellen Niveaus. Auch das autoritäre Regime in Mexiko mahnte, wie noch zu zeigen ist, in den sechziger Jahren – vorsichtig – mehr „Kultur“ gegenüber Televisa an. So richtete Rede Globo auf Druck des Regimes eine Telenovela-Schiene um 18 Uhr ein, auf der dann die sogenannten „novelas educativas“ liefen. Diese wandten sich an ein kindliches/jugendliches Publikum und adaptierten eine Reihe von literarischen Werken (Borelli/Ramos 1991: 87-88). Die Zensur richtete sich jedoch zwangläufig auch gegen missliebige Brasilienbilder. Die Telenovelas von Dias Gomes wurden mehrmals davon betroffen. Manchmal wurden einzelne Passagen oder punktuelle Ausdrücke gestrichen, manchmal wurde auch eine ganze Telenovela verboten. Dies war 1975 der Fall bei Gomes’ Serie Roque Santeiro. Die Telenovela übertrug das verbotene Stück O berço do herói auf das Fernsehen. Da die Produktion schon weit fortgeschritten war, ist eine solche Zensurmaßnahme für den Sender desaströs, denn mit ihr gehen die bereits entstandenen Kosten verloren. Nach Gomes’ eigenen Aussagen verlangten die Militärs im Zusammenhang mit dem Verbot von Roque santeiro seine Entlassung, Globo habe sich jedoch geweigert. Überhaupt habe Globo gegenüber dem Druck des Regimes nicht nachgegeben, gegen Mitarbeiter wegen ihrer politischen Haltungen vorzugehen (Gomes 2001: 92).19 Ärger gab es mit der Zensur fast dauernd, was 19 Dias Gomes unterstreicht, dass Marinho trotz seiner Unterstützung gegenüber dem Militärregime seine Mitarbeiter immer geschützt habe. Gleich einem Friedrich dem Großen des Fernsehens zählte für ihn nicht die politische Gesinnung sondern die Leistung eines Angestellten: „Essa ressalva tem de ser feita. Apesar de apoiar o regime, doutor Roberto nunca cedeu. Para ele, em se tratando de trabalho, não importava se o sujeito era comunista ou não, importava se trabalhava bem ou não“ (Gomes

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die Fernsehleute von Globo in der Suche nach Abgrenzung vom Regime immer gerne betonen. Diese Probleme weisen darauf hin, dass die Interessen der Militärs und des Senders im einzelnen nicht immer übereinstimmten. Dem Regime wurde Rede Globo zu mächtig, und der Sender ließ sich ungern sein image und noch weniger seine Geschäfte verderben. Zehn Jahre später übrigens, nach dem Ende der Diktatur, hat Globo Roque santeiro neu produziert und gesendet. Mit der Serie feierte der Sender sich und Brasilien im Zeitalter der Neuen Republik (vgl. Gomes 1998: 37). Es erscheint unter den Bedingungen der peripheren Moderne nur konsequent, wenn in der brasilianischen Debatte um die Telenovela die Begriffe des abrasileiramento und der modernização synonym gebraucht werden.20 Das bedeutet, dass sich in Brasilien eine eigene (Sub-)Gattung entwickelt hat, eben die brasilianische Telenovela, die sich dem „kubanisch-mexikanischen Standard“ gegenüberstellt (Melo 1988: 26).21 Wie gestaltet sich nun die Modernität der brasilianischen Telenovela konkret? Dabei ist darauf zu verweisen, dass Globo 1970 drei Telenovela-Schienen in seinem Abendprogramm verankerte. Damit war im Grunde eine Unterteilung des Genres in zunächst drei Untergattungen verbunden: Um 19 Uhr (novela das sete) wurden teils Literaturübertragungen gesendet, teils humoristische Telenovelas. Die novela das oito um 20 Uhr (später gegen 21 Uhr) war das Flaggschiff das Hauses und sprach das große Publikum an in einer noch zu erörternden Mischung aus Liebe, Intrigen, Mysterien, „Realität“, Abenteuer und action. Die Telenovela um 22 Uhr wandte sich mit sozialkritischen Erzählungen an ein Publikum mit Bildungsanspruch. So ergibt sich ein dreigeteiltes Schema aus Vorabendunterhaltung, prime-time-Telenovela und Prestigeserie. 1975 wurde das Schema, wie schon erwähnt, um einen neuen Sendeplatz um 18 Uhr (novela das seis) erweitert, auf den die didaktischen Telenovelas für Kinder und Jugendliche verlegt wurden, die den Forderungen seitens des Regimes nach Verbreitung „nationaler Kultur“ genüge leisten sollten.22 In der Folge differenzierte sich die novela das sete immer weiter zur „novela-comédia“, einer farceartigen, parodistischen Lustspielvariante der Telenovela. 1979 wurde die 22-Uhr-Schiene gestrichen, auf die 1982 die minisséries folgten. Das sind Kurzserien von im Schnitt 30 Kapiteln, die literarische Werke 2001: 92). Diese Art der politischen Toleranz würde Herz zumindest für den Telejournalismus nicht gelten lassen, was er mit der Entlassung des Journalisten Luís Carlos Cabral belegt, der – offensichtlich ohne zu wissen, dass es sich um eine Order Marinhos handelte – Globos Manipulationsversuche bei der Gouverneurswahl von 1982 zu verhindern suchte (Herz 1987: 13-14). Régis Cardoso berichtet übrigens von der Verhaftung bzw. dem Verschwinden eines Schauspielers von Rede Globo 1968 (Régis Cardoso 2001: 302). 20 Der Begriff des „abrasileiramento“ ist in der Forschung ein Allgemeinplatz. Als Beispiele unter vielen seien Borelli/Ramos (1991: 92-96) und Fadul (1993) genannt. „Modernização“ ist das Stichwort zur Bezeichnung des Genres bei Costa (2000: 12). 21 Ismael Fernandes bezeichnet die Telenovela als eine „von Grund auf brasilianische Kunst“, die den „drastischen Bruch mit den bisher geprägten Formeln“ zur Voraussetzung hatte (Fernandes 1994: 105). 22 Auf dieser Sendeschiene wurde beispielsweise Escrava Isaura (1976-1977) gesendet, die den gleichnamigen Roman von Bernardo Guimarães aus dem 19. Jh. adaptierte. Escrava Isaura wurde später zum weltweiten Exportschlager.

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transponieren (z.B. Grande sertão: veredas), sozialkritische Themen aufgreifen und allgemein experimentellen Charakter haben. Die minisséries sind das Prestigeprodukt des Senders, das mit kinematografischem Aufwand aufgenommen wird (Borelli/Ramos 1991: 90 und Melo 1988: 32-33).23 Ein Ehepaar hat (zumindest den Text der) brasilianischen Telenovela in den siebziger Jahren entscheidend geprägt: Janete Clair und Dias Gomes. Sie war für die 20-Uhr-Schiene zuständig, er schrieb Telenovelas für den Sendeplatz um 22 Uhr. Zwischen 1968 und 1973 stammten alle novelas das oito von Janete Clair. D.h. dass sie fünf Jahre lang ohne Unterbrechung sieben Serien hintereinander für Rede Globo schrieb. Mit Véu de noiva (1969) begann die neue, „brasilianische“ Post-Magadan-Phase von Globos Telenovelas. Véu de noiva war eine Übertragung von Clairs Radionovela Vende-se um véu de noiva. Die Serie wurde als Telenovela angekündigt, in der „alles geschieht wie im wirklichen Leben. Die Telenovela der Wahrheit“ („Em Véu de noiva tudo acontece como na vida real. A novela verdade“). Die Wahrheit ist ein Galan, der nun kein europäischer Prinz mehr ist sondern ein schneidiger brasilianischer Formel-1-Pilot. Das wirkliche Leben besteht aus einer mocinha, einer ungewöhnlich hübschen und unschuldigen „gewöhnlichen“ jungen Frau, die vor dem Altar feststellt, dass ihr Bräutigam sie mit ihrer Schwester betrügt. Ihre anschließende Leidenschaft für einen Rennfahrer sorgt dafür, dass sich die Handlung nicht mehr in räumlich und zeitlich entlegenen Welten stattfindet sondern im Umkreis des schicken Motorsportzirkus. Der Soundtrack besteht nun aus brasilianischen Popsongs (Xexéo 1996: 70-71, Fernandes 1994: 135-136). Die Folgeserie Irmãos coragem (1970-1971) erzählt die Geschichte von drei Brüdern in einer fiktiven Kleinstadt im Landesinneren (Goiás) und ihren Kampf gegen einen coronel, einen Patriarchen, der die Stadt beherrscht. Es geht um geraubte Diamanten, eine Indianerin, eine schizophrene Frau mit drei Persönlichkeiten und schließlich um Fußball, denn einer der Brüder ist Fußballer. Irmãos coragem ist eine Art western im Telenovela-Format und erzielte höhere Einschaltquoten als die gleichzeitig übertragene Fußballweltmeisterschaft (Xexéo 1996: 72, Fernandes 1994: 142-143). Das bedeutet, dass es der Serie mit der Einbeziehungen von actionund abenteuerbezogenen Erzählelementen gelang, ein familiäres Publikum anzusprechen, das sich ebenso aus Frauen wie Männern zusammensetzt. Spätestens von diesem Zeitpunkt an entfeminisiert sich das Genre, und weibliche und männliche Zuschauer halten sich quantitativ die Waage (Borelli/Ramos 1991: 100). Nach O homem que deve morrer (1971) und Meu primeiro baile (1972) folgt Selva de pedra (1972-1973), deren Thema – wie der Titel anzeigt – die „Wildnis“ der Großstadt ist, und was sie mit den Menschen macht. Clair schrieb Selva de pedra nach der Vorlage des Romans An American Tragedy von Theodore Dreiser, der 1931 und 1951 von Hollywood verfilmt wurde. Im Buch und im Kino versucht der aus armen Verhältnissen stammende Protagonist im Unternehmen eines Onkels aufzusteigen. In diesem Umfeld verliebt er sich in eine reiche junge Frau. Er hatte jedoch schon eine Beziehung mit einer Arbeiterin, die von ihm schwanger ist. Um seinen sozialen Aufstieg nicht zu gefährden, beschließt er, sie umzubringen. Dazu kommt es nicht, aber er wird trotzdem auf dem elektrischen Stuhl hingerich23 Siehe hierzu z.B. Schäffauers Analyse von Mulher (1998) (auch Schäffauer o.D.: 287296).

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tet. Clair wollte daraus eine Dreiecksbeziehung machen, in der der Protagonist zuerst die Arbeiterin heiratet und sich dann in die Millionärin verliebt. Er arrangiert einen Autounfall, in der seine Frau umkommen sollte. Im Anschluss heiratet er die reiche Frau. Die erste Frau stirbt aber nicht, was er nicht mitbekommt. Sie verlässt das Land und gibt sich nach ihrer Rückkehr als eine verstorbene Schwester aus, um ihre Rache einzufädeln. Mit der Zensur war diese Version allerdings nicht zu machen. Dass der Mann seine Frau umbringen möchte, störte die Zensur nicht, dass er allerdings – unwissentlich – in Bigamie lebte, das war eindeutig zu viel. Mitten im Produktionsprozess musste die novela komplett umgeschrieben werden. In der neuen Version erschien der Protagonist zur zweiten Hochzeit schlicht nicht. Von nun an schworen sich zwei Frauen Rache an dem Helden: die eine wegen versuchten Mordes, die andere wegen versuchter Heirat. Am Ende, als die erste Frau ihre wahre Identität zu erkennen gab, erzielte die Serie eine Einschaltquote von 100%. Bei der Quotenmessung fand sich offensichtlich niemand, der das Kapitel verpassen wollte (Xexéo 1996: 72-74, Fernandes 1994: 157-159). Spätestens ab diesem Zeitpunkt war Clair nossa senhora das oito (Xexéo 1996: 79), die Herrin über die 20-Uhr-Schiene – sowohl im Fernsehen wie im Heim der Zuschauer. Auch ihre späteren Telenovelas erreichten geradezu stalinistische Einschaltquoten mit durchschnittlich knapp 80% (75). Sie behauptete Globos Hegemonie auf dem 20-Uhr-Sendeplatz (91). Clair schrieb bis zu ihrem Tod 1983 fast jedes Jahr eine novela das oito, nun jedoch nicht mehr jede. Ab Mitte der siebziger Jahre hatte Globo ein Pool von Autoren aufgebaut, die sich abwechselten, darunter Lauro César Muniz und Clairs ‚Meisterschüler‘ Gilberto Braga (117). Das andere wichtige Gattungsmodell der Globo-Telenovela wurde von Clairs Ehemann, Dias Gomes, geprägt. Dias Gomes schrieb von 1970 bis 1979 Drehbücher für die Telenovelas auf dem Sendeplatz um 22 Uhr. Wie er selbst sagt, ging es ihm in Verão vermelho (Roter Sommer) (1970) zunächst darum, die Telenovela thematisch zu erneuern und sie auf eine „sehr brasilianische Thematik mit sehr brasilianischen Figuren“ auszurichten. Verão vermelho spielte in Bahia und handelte von Scheidung, Eltern-Kind-Beziehungen, Agrarreform u.a. Mit seiner zweiten novela auf dem Sendeplatz, Assim na terra como no céu (Wie auf der Erde so im Himmel) (1970-1971), habe er dann versucht, die Gattung auch formal zu neu zu gestalten. Während das Erzähltempo der Telenovelas von Magadan sehr langsam gewesen sei und lediglich auf neun Szenen pro Kapitel kamen, sei er nun dazu übergangen, das Tempo zu beschleunigen und kürzere Szenen zu schreiben. So kamen seine Telenovela auf 30 bis 40 Szenen je Kapitel und erhielt einen „dynamischeren, kinematografischeren Rhythmus“ (Gomes 1991: 174). O bem amado (Der allseits Beliebte) (1973) wurde emblematisch für die Programmschiene und zu einem Aushängeschild des Senders. Nicht nur war dies die erste Telenovela in Farbe sondern auch die erste, die exportiert wurde. Insbesondere aber entsprach sie dem Wunsch, die Telenovela zu einer kritischen Erzählform mit ästhetischem Niveau zu entwickeln. Die Serie ist eine Satire der diktatorischen Verhältnisse geht auf Dias’ Bühnenstück Odorico, o bemamado zurück. Schauplatz ist die fiktive Kleinstadt Sucupira, in der der autoritäre Bürgermeister Odorico Paraguaçu sich in den Kopf gesetzt hat, einen Friedhof einzuweihen. Das Problem nur ist, dass niemand in dem Städtchen stirbt. Mit allen Mitteln versucht der Bürgermeister seinem Ziel näher zu 204

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kommen, doch nichts passiert. Der Apotheker versucht mehrmals vergeblich, sich umzubringen, eine Schießerei auf dem Platz bringt nichts, noch nicht einmal das Eintreffen eines cangaceiro matador, eines Auftragmörders, führt zu Ergebnissen. Der einzige, der (im letzten) Kapitel stirbt, ist Odorico selbst (Fernandes 1994: 167-158). Die Eheleute Clair & Gomes sind die wichtigsten Repräsentanten dessen, was Gomes selbst als „thematische und formale Revolution“ der Telenovela bezeichnet (wobei er andere Theaterautoren wie Lauro César Muniz und Jorge de Andrade einbezieht), die ihr ihre heutige Form verleihe – in der sie jedoch auch erstarrt sei (Gomes 1991: 175). Das Ehepaar und ihre Telenovelas zeigen zugleich auch eine Spannung innerhalb des Genres an, das sich zwischen „grande público“ (Clair)24 und „arte dramática popular“ (Gomes 1991: 176) bewegt. So standen Clairs Telenovelas immer wieder im Zentrum der Kritik an Rede Globo, die ihre Serien als eskapistisch, übertrieben romantisch und zu wenig realistisch verriss. Immer wieder wurde der novelista vorgeworfen, den Zuschauern vor der sozio-politischen Realität die Augen zu verschließen, sie dieser gegenüber zu entfremden und letztlich die Macht der Militärs zu stützen (Xexéo 1996: 102104). Selbst ihr Mann betont die „romantische“ Tendenz in Clairs Telenovelas, obgleich sie brasilianische Themen behandelt habe (Gomes 2001: 90). Das bedeutet, dass das Gespenst Magadan immer noch durch die Gattung geistert: Der Durchbruch zur „Realität“ bzw. zum Eigentlichen und zum Nicht-Entfremdenden der Nation erweist sich trotz „Brasilianität“ als zähes Unternehmen. Das dramalhão hat sich in der Gattung verbarrikadiert.25 Das oben Genannte bedeutet auch, dass sich innerhalb des Genres ein Gegensatz zwischen „Romantik“ und „Realismus“ abzeichnet. Es handelt sich um zwei gattungsinterne Pole, hinter denen sich gegenläufige narrative Haltungen sammeln: Auf der einen Seite steht die Schöpfung einer Welt, die vom Gefühl, von der Fantasie und von der Überlegenheit der erotischen Liebe regiert wird, die sich über irdische Widrigkeiten hinwegsetzt. In dieser Welt stehen sich Gut und Böse deutlich gegenüber. Auf der anderen Seite steht eine Welt, die der romantischen Welt widerspricht. Sie entsteht hinter dem Schleier der romantischen Sichtweise, den die realistische Sichtweise hebt. In ihrem Anliegen ist sie nicht weniger moralisch. Dieser Gegensatz zwischen romantischer und realistischer Welt lässt sich als ein Gattungskonflikt innerhalb der Telenovela beschreiben, der sich auch innerhalb einer einzelnen Serie wiederfindet. Es handelt sich um den Widerstreit zwischen der Tradition des sentimentalen Feuilletonromans und der Sehnsucht, Hollywood-Kino zu sein. Der sentimentale Feuilletonroman serialisiert das Melodrama im Modus des Exzess der großen Affekte von Liebe, Leidenschaft, Hass, Neid, Begehren, Gier, Leid und Wahnsinn. Marlyse 24 „Alles, was ich will, ist eine gute Geschichte zu erzählen. Auf eine einfache, direkte, populäre Art und Weise. Meine Verantwortung, meine Verpflichtung gilt dem großen Publikum. Ich schreibe für Millionen von Zuschauern“ („Tudo o que eu quero é contar uma boa história. De uma maneira simples, direta, popular. Minha responsabilidade, meu compromisso é com o grande público. Escrevo para milhões de espectadores“, Janete Clair zitiert nach Xexéo 1996: 103). 25 Der Begriff dramalhão (übertriebenes Melodrama) steht für das abstrakte, wirklichkeitsferne, mexikanische Melodrama.

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Meyer teilt die Geschichte des französischen Feuilletonromans in drei Phasen ein und kennzeichnet den sentimentalen Feuilletonroman als den des letzten Abschnitts zwischen 1871-1914. „Dramen des Lebens“ wurden diese Fortsetzungsromane genannt, was für Meyer so viel bedeutet, wie „nur ein bisschen Unglück ist Blödsinn“ („desgraça pouca é bobagem“). Ohne Maß und ohne Kohärenz reihen sich je nach Zeitung durchschnittlich 125 oder 170 Kapitel voller Schicksalsschläge. Inbegriff des schlechten Geschmacks, Emblem der „illegitimen Erzählung“, wird das Genre jedoch vom großen, bildungsfernen Publikum gerne konsumiert. Wie die Autorin hervorhebt, baut auch die Telenovela auf dieser Erzählform auf. Aus diesem Genre stammt die mexicanização, wie Meyer selbst nicht zufällig anmerkt (Meyer 1996: 231235). Exotische Welten, in denen das Gute und das Böse ohne Rücksicht auf Wahrscheinlichkeiten konkreter Realitäten regieren. „Es ist nicht plausibel, aber es wäre wunderschön“ begründete Clair einmal einen Vorschlag für die Gestaltung einer Szene in Sinal de alerta, über die Dias Gomes, der Autor der Serie, mit dem Dichter Ferreira Gullar gerade diskutierte. Clair mischt sich ein: „Was denkt ihr denn? Kümmert euch einen Scheiß um den Realismus [...] Das Publikum wird begeistert sein.“26 Ein „modernes“ Melodrama in kompakter Erzählform, das ein unbegrenztes Spektrum an konkreten Themen einer weiterhin moralischen Welt aufzugreifen vermag, ist der Hollywood-Film. Er ist das Gegenmodell, das den Exzessen des Affekts „Realismus“, Wahrscheinlichkeit und psychologische Kohärenz entgegensetzt. Seine Technizität und Wahrnehmungsfülle ruft primäre sowie sekundäre Identifikationsprozesse hervor und fesselt ein riesiges Publikum. Es steht paradigmatisch für eine „entwickelte“ Kulturindustrie. Hollywood ist mehr als die Summe seiner Filme, es ist ein System, das, wie André Bazin bemerkte, einen „klassischen“ Filmstil hervorgebracht hat. Hollywoods Filme verdanken sich, so führt David Bordwell den Gedanken der filmischen Klassizität weiter, einer „weitgehend kohärenten ästhetischen Tradition, die die individuelle Schöpfung stützt“ (Bordwell 1985: 4). Den classical style umreißt Bordwell als ein Set von narrativen Normen, die vorsehen, dass der Film in erster Linie eine Geschichte erzählt, und wie er sie erzählt. Er erzählt sie „realistisch“, und das ebenso im aristotelischen Sinn, indem er sich der Wahrscheinlichkeit unterwirft, sowie auch im naturalistischen Sinn, indem er sich in Treue gegenüber den historischen Tatsachen verpflichtet. In der Bildkomposition wird nichts dem Zufall überlassen, jedes Detail ist der umfassenden psychologischen Kohärenz der Geschichte unterworfen. „Realistisch“ ist die Erzählweise auch im Hinblick auf die Herstellung narrativer Kontinuität und auf die Verbergung des Erzählvorgangs. Die filmische Geschichte muss leicht verständlich sein und darf den Zuschauer nicht verwirren. Sie muss ihn zudem emotional ansprechen und sich derart über soziale und nationale Grenzen hinwegsetzen (3). An die Stelle von sukzessive aneinander gereihten Handlungen moralischer Archetypen, in denen sich der Kampf zwischen Gut und Böse austrägt, tritt im classical style eine charakterzentrierte, psychologische Kausalität, die die Geschichte auf ein narratives Ziel ausrichtet (13).

26 „Não é plausível, mas ia ser lindo. O que é que vocês estão pensando? Mandem o realismo à merda [...] O público vai adorar“ (Janete Clair zitiert nach Xexéo 1996: 99).

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Emanzipative Modernisierung verlangt von der Telenovela zwangsläufig eine realistische Erzählweise, die die „Wirklichkeit“ hinter dem Schleier mexikanischer Bewusstseinsfabrikationen aufdeckt. Unter den Bedingungen der Kulturindustrie bietet sich hierzu das Modell des klassischen Stils Hollywoods an. Dass eine solche Entfremdungskritik – wie jeder Realismus – die Existenz einer vorgängigen Realität voraussetzt, nämlich die brasilianische, liegt auf der Hand. Die Konsequenzen dieser Auffassungen für das Problem der Wirklichkeit sind noch zu analysieren. Zunächst aber ist darauf hinzuweisen, dass der Zwiespalt zwischen Sentimentalismus und Realismus konstitutiv für die brasilianische Telenovela seit den siebziger Jahren ist. Bis heute prägt sie dieser gattungsinterne Konflikt. Dieser Konflikt beherrschte, wie bereits erwähnt, die Beziehung zwischen den Telenovela-Programmschienen bei Globo. Die Umwandlung der 22-Uhr-Schiene in einen (unregelmäßigen) Sendeplatz für minisséries bedeutet keine Auslagerung des filmischen Realismus auf die Kurzserie. Sie ist ein experimentelles Format, das auf die Telenovela rückwirkt. Sie erhöht im Gegenteil den „realistischen“ Druck auf die novela das oito, nicht zuletzt, weil das Telenovela-Programm in den neunziger Jahren um eine Kinderschiene um 17 Uhr erweitert wurde, was Globos Telenovelas weiter ausdifferenziert, zugleich aber die Flaggschiff-Funktion des 20-Uhr-Formats bekräftigt. Der angesprochene Konflikt (de-)strukturiert jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, die einzelnen Serien selbst. Hinzu kommt, dass er das brasilianische Fernsehen als ganzes durchzieht. An Telenovelas kommt im brasilianischen Fernsehen kaum ein Sender vorbei,27 aber keiner hatte – bislang – die Möglichkeiten, es mit den „Qualitäts“-Produktionen von Globo aufzunehmen. TV-Manchete beispielsweise hat einige Anläufe gestartet, es Globo gleichzutun, konnte den Produktionsaufwand jedoch nicht dauerhaft aufrecht erhalten.28 Andere Sender versuchten es erst gar nicht und optierten von vorne herein für die weniger anspruchsvolle Variante der sentimentalen Telenovela. Diesen Weg schlug vor allem Sistema Brasileiro de Televisão (SBT) ein und ging dazu über, mexikanische Telenovelas zu importieren und auszustrahlen oder Serien nach der „mexikanischen“ Formel zu produzieren (Borelli/Ramos 1991: 106-107). Das mexikanische dramalhão war wieder da. Bei Globo stagniere die Telenovela seit den 80er Jahren, nachdem sie sich als brasilianische Gattung konsolidiert habe, so die Meinung von Dias Gomes. Neue Wegen habe man angesichts des Erfolges des Genres nicht mehr gesucht sondern wiederhole lediglich die damals entwickelte „Formel“. Das habe zu Abnutzungserscheinungen geführt. Ende der neunziger Jahre glichen sich die globalen Serien aneinander an, ohne dass auf formaler oder 27 TV Manchete versuchte zunächst Anfang der achtziger Jahre, auf das Genre zu verzichten, musste aber bald einlenken. Wie der Schriftsteller Carlos Heitor Cony bemerkt, der minisséries für den Sender schrieb, machte Manchete die Erkenntnis, dass „man kein network mit dem Anspruch errichten konnte, im nationalen Leben mitzureden, ohne über den populären Appeal zu verfügen, der von der Telenovela ausgeht“ („Não se podia fazer uma rede de televisão com ambições a ter uma expressão grande na vida nacional se não tivesse os apelos populares que a novela está dando“, Carlos Heitor Cony zitiert nach Ortiz/Ramos 1991: 112). 28 1998 geriet Manchete jedoch in eine schwere Finanzkrise und wurde im Jahr darauf verkauft (Brittos 1999: 109).

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thematischer Ebene Neuerungsversuche unternommen würden (Gomes 201: 97-98). Tatsächlich verloren Globos Telenovelas und sein Restprogramm insbesondere ab Mitte der neunziger Jahren kontinuierlich an Zuschauerinteresse.29 Dazu hat insbesondere die Zunahme der Konkurrenz auf dem Fernsehmarkt geführt. In den neunziger Jahren drängt eine Reihe von neuen Sendern, auf den Markt, darunter z.B. MTV. Zur gleichen Zeit treten PayTV-Anbieter auf (Globo selbst ist einer der wichtigsten), die zunehmend Zuschauer aus den oberen Einkommensschichten aus dem free TV abziehen. All dies führt dazu, dass Rede Globo zwar weiterhin dominiert, aber zunehmend Marktanteile verliert (Brittos 1999: 89, 104-105). Globo verteidigt zwar seine Marktführerschaft durch den uneinholbaren padrão Globo de qualidade, aber insbesondere SBT unterlief immer wieder die Strategie, indem der Sender mit sehr einfach gestrickten Serien fast genau das Gegenteil anbot. Wie bereits angedeutet, übernahm SBT den „mexikanischen melodramatischen und billigen Stil“ bei den Telenovelas und sendete beispielsweise die dritte (brasilianische) Fernsehversion von O direito de nascer (Britto 1999: 107). SBT begann schon 1982, also ein Jahr nach seiner Gründung, Telenovelas von Televisa zu senden. Im Internet rechtfertigte der Sender den Telenovela-Import geradezu als Alternative, bzw. als „andersartige dramaturgische Option mit schönen Geschichten“.30 Seitdem sendet SBT kontinuierlich mehrere „mexikanische“ Telenovelas täglich, weswegen SBT gar als „sistema mexicano de televisão“ verspottet wird.31 Auch andere Sender (Bandeirantes, CNT, Rede Mulher) strahlen mexikanische Telenovelas aus. SBT setzte zudem verstärkt auf Affektfernsehen unter sensationalistischer Zurschaustellung von Gewalt und schauderlichen KuriositätenKabinetten (z.B. in der Live-Show Programa do Ratinho). In der Folge zog auch Rede Globo mit einer „popularesken“ Ästhetik des grotesco chic nach. Während SBT fast nur mexikanische Telenovelas zeigte, reagierte Globo mit der Mexikanisierung seines eigenen Programms (Caparelli/Santos 2002: 107108). Aus der Sicht derjenigen, die Rede Globo in den siebziger Jahren groß gemacht haben (und nun z.T. aus führenden Positionen verdrängt wurden wie z.B. Boni), verlor der Sender nun seinen Qualitätsstandard.32 Hinter dieser popularisierenden Tendenz des Fernsehens steht eine makroökonomische Entwicklung, die in der Kaufkraftsteigerung der unteren Einkommensschichten durch die Bekämpfung der Inflation Mitte der neunziger Jahre ihren Ursprung hat. Diese Entwicklung hatte eine rasante Absatzsteigerung von Fernsehgeräten zur Folge. Während 1994 nur 75,7% aller Haushalte, die an die Stromversorgung angeschlossen waren, ein TV-Gerät 29 In den achtziger Jahren lag ihre Einschaltquote bei durchschnittlich 66% (Melo 1988: 20). 30 „Com um ano de emissora no ar, o SBT resolveu apostar numa opção diferente de dramaturgia, com histórias bonitas, para que a família pudesse acompanhar.“ Diese Webseite ist nicht mehr online. Sie war am 22.01.2007 auf http://www.sbt novelas.com.br/historia.htm abrufbar. 31 Siehe die Seite über novelas und Nachrichten von SBT auf http://www.flogao.com. br/novelassbt/foto/103/114118761, zuletzt aufgesucht: 03.05.2010. 32 So Régis Cardoso und auch Boni, für die das brasilianische Fernsehen, einschließlich Rede Globo, sein Niveau verloren hat (Régis Cardoso 2001: 312 und Sobrinho 2001: 51).

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besaßen, waren es 1997 bereits 92,6%.33 6,3 Millionen Haushalte erwarben in diesem Zeitraum ihren ersten Fernseher. Mit diesen „neuen Fernsehzuschauern“ verschiebt sich die Ausrichtung der TV aberta, des frei empfangbaren Fernsehens. Während, wie angedeutet, die wohlhabenden Schichten in das Bezahlfernsehen abwandern,34 gewinnen die untersten Einkommensschichten ein stärkeres Gewicht. Sie sehen auch mexikanische Telenovelas (Barelli 1998). Aus heutiger Sicht erscheint es jedoch problematisch, davon auszugehen, dass die Entwicklungen des brasilianischen Fernsehens ab Mitte der neunziger Jahre ausschließlich zu Niveauverlust und verstärkter Banalisierung führten. Die Klage der Niveauvernichtung ist so alt wie das Nullmedium selbst. Vielmehr zeigt sich, dass sich Programmangebot und Publikum diversifizierten. Wie in nachfolgenden Kapiteln ausgeführt wird, erweist sich der Vorwurf an TV Globo, seine Telenovelas zu „mexikanisieren“, bei näherem Hinsehen als nicht ganz zutreffend. Ein weiteres Beispiel ist der älteste brasilianische Sender in Betrieb, Rede Record. Nach zwei Jahrzehnten Krise wurde Record 1991 von der Igreja Universal do Reino de Deus aufgekauft, die den Sender zunächst primär zur Übertragung ihres religiösen Massenappells nutzte. Um sich im Fernsehmarkt wieder zu etablieren, setzt der Sender jedoch Mitte der neunziger Jahre verstärkt auf ein „populareskes“ Programm. Ratinho livre z.B. startete 1997 auf Record, bevor der Moderator Carlos Massa mitsamt seiner Sendung im Jahr darauf zu SBT wechselte, wo die Sendung nun Programa do Ratinho hieß. Cidade alerta ist ein weiteres Beispiel für den TV-Sensationalismus, der sich nun intensiviert.35 Zugleich aber bemüht sich Record um Seriosität und engagiert den renommierten Journalisten Boris Casoy als anchorman für die Abendnachrichten Jornal da Record. Vor allem nimmt der Sender im selben Jahr, also 1997, nach zwanzig Jahren Pause seine Produktion von Telenovelas wieder auf. Im Gegensatz zum direkten Konkurrenten SBT im Kampf um die „vice-liderança“ (hinter der weitabgeschlagenen Marktführerschaft TV Globos) sendet Record nur „nationale“ Eigenproduktionen. Darunter finden sich übrigens auch Serien mit biblischen Themen wie z.B. O desafio de Elias (Die Herausforderung von Elias) von 1997. „Nationaler Inhalt“ statt importierte Sendungen ist ein Argument, mit dem der Sender für sich wirbt und sich von SBT abzusetzen versucht: „Der zweitgrößte Produzent und Sender originellen nationalen Inhalts, doppelt so viel wie der drittplatzierte Sender“.36 Spätestens 2004 ändert Rede Record seine Strategie, orientiert sich am Modell TV Globo und setzt verstärkt auf die Kombination von Nachrichten und Telenovelas. Nicht nur Schauspieler sondern auch Drehbuchautoren werden von TV Globo abgeworben. Record ahmt die Machart von Globos Telenovelas nach. Ein Bei-

33 Davon besitzen 10% lediglich ein Schwarz-Weiß-Gerät (Barelli 1998). 34 1997 besitzen 30% der Ober- und oberen Mittelschicht Zugang zum Bezahlfernsehen (Barelli 1998). 35 Auf Ratinho livre und Cidade alterta wird noch zurückzukommen sein. 36 „Segunda maior produtora e exibidora de conteúdo nacional inédito, com 80 horas semanais, duas vezes mais que a terceira colocada“. Mit diesem Text warb Rede Record auf seiner Homepage (http://www.rederecord.com.br/home.asp zuletzt aufgesucht: 22.01.2007), die nicht mehr im Netz ist.

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spiel ist Escrava Isaura (Die Sklavin Isaura), ein Remake Globos gleichnamiger Serie aus dem Jahr 1976/1977.37

6.3 Chronik einer Nicht Nichtht-Geschichte: Telenovelas in Mexiko 6.3.1 T ELEVISA : V ON

DER

H ISTORIE

ZUR

F ORMEL

Der Topos vom gattungsinternen Gegensatz zwischen „Modernität“ und „Mexikanität“ findet sich auch außerhalb Brasiliens. Die argentinische Kommunikationswissenschaftlerin Nora Mazziotti bemüht ihn in ihrer Beschreibung mexikanischer Telenovelas (Mazziotti 1996: 47). Selbst in Mexiko findet sich die Gegenüberstellung zwischen „brasilianischen“ bzw. „modernen“ und „mexikanischen“ bzw. „melodramatischen“ Telenovelas, was darauf hindeutet, dass auch hier der soziale Sinn des Genres primär an seinem Beitrag zur Modernisierung festgemacht wird.38 Welcher Sinn kommt dann aber der Gattung zu, wenn sie diesen Beitrag nicht leistet? Den Vorwurf des Kulturimperialismus kann man der mexikanischen Telenovela im eigenen Land schlecht machen. Immerhin ist sie hier eine nationale Produktion, die sich den enlatados aus den USA entgegenstellt. Mexiko kann kaum mexikanisiert werden. Damit scheint jedoch der soziokulturelle Sinn des Genres zu enden. Es ist zwar mexikanisch, „mexikanische Realität“ ist darin jedoch meist nur schwach erkennbar. Diese Art der Mexikanisierung Mexikos ist ein Problem. Die dueños von Televisa und TV Azteca erklären, wie erwähnt, unverblümt, dass sie sich mit der Unterentwicklung Mexikos als Land der Geschundenen abfinden und das Fernsehen als Palliativ betrachten, das die notleidende Bevölkerung täglich für ein paar Stunden in eine Fantasiewelt entführt, in der sie ihr Elend (möglichst lange) vergessen können. Im Kontext der Debatte um Unterentwicklung und Dependenz kommen diese Aussagen einer zynischen Bestätigung des Entfremdungsvorwurfs gleich, das Medium werde dazu genutzt, die Menschen von der Bewusstwerdung ihrer eigentlichen Wirklichkeit abzulenken. Sie erscheinen als der explizite Beleg, dass das Fernsehen nicht dem demokratischen Kommunikationsprozess dient sondern ihn vielmehr verhindert. Der Schluss liegt nahe, dass das Fernsehen mit seiner populärsten Gattung die Herrschaft von Bürokratie und Bourgeoisie sowie das Joch der wild-kapitalistischen Ausbeutung durch endlose Zerstreuung festigt. Angesichts der Abwesenheit des Staates (im Bildungsbereich) und der allgemeinen Omnipräsenz der Telenovela hat das Genre die Rolle des »großen Erziehers« an sich gerissen, wie etwa Jorge Ramírez Pardo argu37 Siehe http://www.teledramaturgia.com.br/escr04.htm und den Wikipedia-Eintrag „Escrava Isaura (2004)“ auf http://pt.wikipedia.org/wiki/A_Escrava_Isaura_%282004%29, beide zuletzt aufgesucht: 03.05.2010. 38 Olga Bustos Romero beispielsweise verweist auf „die brasilianischen Telenovelas“ als „Beispiel“ dafür, dass sich das Genre prinzipiell dazu eignet, soziokulturelle Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen. Sie dienen als Beleg dazu, dass die Gattung der Bewusstwerdung sozialer Probleme dienen und sich somit in einen „Raum“ verwandeln kann, der „Kultur“ und „Wandel“ fördert (Bustos Romero 1994: 43-44).

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mentiert. Die „Erziehung“ der Telenovela ist jedoch zugleich „Kastration“ – educastración: Sie bringt den Zuschauern „Unterwerfung“, „Konsumismus“ und „Depolitisierung“ und rechtfertigt „Dependenz und Apathie“. An die Stelle der „Armuts-Wirklichkeit“ der Zuschauer setzt die cursinovela (die Kitsch-Telenovela) einen „idealisierten und geschminkten Traum“ und bedroht so das „nationale Sein“ (Ramírez Pardo 1990). Zu verstehen ist diese Bedrohung als eine Art Gehirnwäsche, die das Bewusstsein dieses Seins zerstört. In der Folge ist der Zorn groß über die caja idiota bzw. über die Telenovela als Verdummungsinstrument, als telenoverlas. Angesichts der Anspruchslosigkeit der Gattung und des Zynismus der Medienherrscher bleiben kaum intellektuelle Fragen offen. Aus diesem Grund ist das Genre nur spärlich Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Wenn es Untersuchungen gibt, so handelt es sich um akademische Qualifikationsarbeiten, die zum Großteil unveröffentlicht sind, wie Francisco Javier Torres Aguilera anmerkt, dessen eigene Arbeit eine – allerdings publizierte – tesis de maestría war (Torres Aguilera 1994: 27). Diese Arbeiten widmen sich entweder der Produktion der Telenovelas (vgl. Chávez Méndez 1991 und Hernández Jiménez/Lazo Guerra 1994) oder dem Verhältnis des Publikums zum Genre im weiteren Sinne bzw. dem „Erfolg“ der Telenovela wie z.B. die Arbeit von Torres Aguilera (1994). Eine Geschichte der mexikanischen Telenovela gibt es (meines Wissens) nicht. Wo sich nicht viel ändert, ist auch keine Geschichte möglich.39 Nachdem 1957 die erste Serie gesendet wurde, Telesistema Mexicano in den sechziger Jahren die Produktion selbst übernahm und das Format um 1970 endgültig festlegte, änderte der Sender (später Televisa) – dieser Eindruck drängt sich auf – bis Mitte der neunziger Jahre kaum noch etwas an der Gattung.40

39 Es gibt zweifelsohne schematische Einteilungen der Gattungsentwicklung in einzelne Etappen wie bei Orzoco (2006: 24-31 und, etwas erweitert, 2007b: 155-164). Die Kürze dieser Darstellungen bestätigen jedoch den Eindruck, dass die Forschung bisher in den über fünfzig Jahren der mexikanischen Telenovela keinen historischen Prozess erkennen konnte, der zu einem signifikativen und untersuchungswürdigen Wandel der Gattung geführt hätte. Dafür spricht u.a., dass nicht wenig zur Geschichte des Fernsehens und der Telenovela in Mexiko durch die Unternehmerbiografie El tigre. Emilio Azcárraga y su império Televisa von Cláudia Fernández und Andrew Paxman zutage gefördert wurde (2000). Hernández Lomelí unternimmt einen wichtigen Schritt und entwirft eine kurze Programmgeschichte des mexikanischen Fernsehens. So arbeitet er insbesondere heraus, wie die Telenovela zum ökonomisch wichtigsten Genre erst für TSM/Televisa und später für TV Azteca wurde (Hernández Lomelí 2007b). 40 Orozco z.B. unterscheidet fünf Entwicklungsphasen der mexikanischen Telenovela: die Anfangsphase ab 1951 mit live gesendeten Serien, die „handwerkliche“ Phase ab 1957, welche durch die Einführung des Videobandes angestoßen wurde, und die Etappe der „Industrialisierung“ von Mitte der siebziger bis Ende der achtziger Jahre, als sich Televisa als Medienimperium durchsetzte. Darauf folgt die „Transnationalisierung“ der neunziger Jahre, seit derer die Telenovela als globales Kulturprodukt auch außerhalb des spanischsprachigen Raumes erfolgreich vertrieben wird. 2000 setzte schließlich die „Merkantilisierung“ ein, in der vielfältige Formen der Produkt-

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Hierbei wird auf Aussagen von Produzenten und Drehbuchautoren verwiesen, die den Stillstand der Gattung damit begründet, dass das Genre der Unterhaltung des Publikums diene. Da sich dieses seit Anfang der siebziger Jahre nicht gewandelt habe, bestünde auch keine Notwendigkeit, an der Telenovela etwas zu verändern. Modernisierungsforderungen begegnen sie mit Behauptungen, dass „sich das Bild der Frau in den Telenovelas nicht ändern werde, weder jetzt noch im Jahr 2050.“41 Den Telenovela-Machern stehen Kritiker gegenüber, die – Bustos Romero als bestes Beispiel – sich mit diesen Plattitüden nicht abfinden und eine Brasilianisierung des Genres fordern.42 Nun, etwas differenzierter lässt sich die Geschichte der mexikanischen Telenovela dennoch rekonstruieren. Stärker noch als in Brasilien waren die ersten mexikanischen TV-Sender auf die Übertragung von wöchentlichen teleteatros ausgerichtet. In der Regel wurden europäische/nordamerikanische Klassiker übertragen, so beispielsweise die unvermeidliche Kameliendame mit den Kinostars María Félix und Jorge Negrete in den Hauptrollen. Produziert wurden die teleteatros durch die Sponsoren, die die Sendeplätze anmieteten, und den Sendungen ihren Namen gaben (z.B. Teatro Colgate auf Canal 2) (Reyes de la Maza 1999: 12-13). Dass nicht ästhetischer Anspruch sondern ökonomische Rationalität schon bei der Ausstrahlung der teleteatros im Vordergrund stand, beweist der schon erwähnte apuntador, der bereits 1951 eingesetzt wurde. Viele Schauspieler machen über den apuntador ihre erste Bekanntschaft mit dem Text, und das vor laufender und live übertragender Kamera (Klindworth 1995b: 90-91). 1952 wurde die erste Radionovela auf das mexikanische Fernsehen (Canal 2) übertragen, Ángeles de la calle von Félix Caignet. Die Sendung bestand aus einstündigen Kapiteln, die nur einmal pro Woche ausgestrahlt wurden, das jedoch drei Jahre und drei Monate lang. Ángeles de la calle galt nicht als Telenovela sondern wird von Luis Terán schlicht als „Serie“ bezeichnet (Terán 2000: 8). Telenovelas werden diese Serien erst genannt, als sie täglich gesendet wurden. 1958 richtete ColgatePalmolive auf Canal 4 die Schiene La telenovela Colgate ein, die mit Senda prohibida (Verbotener Weg) montags bis freitags um 18:30 Uhr live auf Sendung ging (Terán 2000: 8; Reyes de la Maza 1999: 14-15). In Senda prohibida geht es um die Sekretärin Nora, die eine Beziehung mit ihrem wohlhabenden Chef eine Beziehung eingeht. Dieser ist jedoch verheiratet und hat einen Sohn. Nora versucht mit allen Tricks, ihn seiner Frau auszuspannen. Sie lässt sich teure Geschenke machen, die den Mann an den Rand des Ruins treiben. Die Ehefrau rettet jedoch ihren Mann aus den Fängen der ambitionierten Sekretärin, die am Ende im Angesicht ihres Spiegelbildes und unter Tränen ihren Fehler bereut (vgl. das Internetarchiv Recordar es vivir). In ihrem Diskurs knüpft die Telenovela an das Melodrama des mexikanischen Kinos und seiner militanten Verteidigung der Institution Familie an: Für die Frau als das moralische Wesen schlechthin gibt es – zunächst – auch im Fernsehen nur zwei existentielle Alternativen. Entweder ist sie aufwerbung die narrative Dimension der Serien immer stärker in Hintergrund gedrängt habe (Orozco 2006: 24-31). 41 „La imagen de la mujer en las telenovelas no va a cambiar, ni ahora, ni en el año 2050“ (o.A. zitiert nach Bustos Romero 1994: 43). 42 Bustos Romero führt an dieser Stelle ihrer Argumentation, wie bereits erwähnt, mehrmals das Beispiel der brasilianischen Telenovelas an (1994: 43-44).

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opfernde Mutter – also Heilige – oder Prostituierte – also Zerstörerin von Familie und Gesellschaft schlechthin (Monsiváis 1994: 1521). Wie stark sich die Telenovela zu Beginn thematisch/ideologisch an das kinematographische Melodrama anlehnte, zeigt Teresa (1959), die die „verbotenen Wege“ der ersten Telenovela fortsetzt. Teresa ist ähnlich wie Nora jung, schön und ambitioniert. Aber sie schämt sich ihrer einfachen Herkunft, studiert und macht Karriere. Männer sind für sie nur Mittel zum Zweck ihres sozialen Aufstiegs. Ihre Familie – pobre pero honrada (arm aber ehrenhaft) – verstößt sie wegen ihres Frevels. Schließlich wird die Protagonistin vom Drehbuch für ihre Vergehen mit Einsamkeit bestraft (Reyes de la Maza 1999: 20-21).43 Damit knüpft die Telenovela zunächst an Filme wie La devoradora (1946) oder Mujer sin alma (1943) an, in denen María Félix femmes fatales spielte, die Männer aus Ehrgeiz zugrunde richten, am Ende jedoch scheitern. Während Anfang der fünfziger Jahre offensichtlich wenig mit Telenovelas experimentiert wurde, übernehmen die US-amerikanischen Hygienemittelproduzenten 1958 die Initiative und konstruieren das Genre mit formalen Anleihen bei der Radionovela und mit thematischen Anknüpfungen am mexikanischen Kino. Auch Canal 2 schwenkte 1960 mit La casa del odio ein. Die Serie wurde vormittags um 10:30 Uhr ausgestrahlt und adressierte damit ein reines Hausfrauenpublikum (Terán 2000: 9).44 Kurze Zeit später übernahm Telesistema das Format der Sendungen von den Sponsoren und produzierte die Serien von nun an selbst. Sehr viel früher also als in Brasilien horizontalisiert das Fernsehen in Mexiko sein Programm und nimmt es in eigene Hände. Im Gegensatz jedoch zum brasilianischen Fernsehen übernimmt es die inhaltlichen und ästhetischen Vorgaben der US-Seifenunternehmen und belässt es bei der eigenen, nationalen Produktion dieses Seifenopernmodells. Mehr als das, Telesistema ordnet diesem Gattungsmodell nach und nach alles unter und macht es sehr konsequent und frühzeitig zu einer Ware wie die Seife, die es verkaufen hilft.45 Schon angedeutet wurde, dass Telesistema Mexicano bereits 1961 eine eigene Exportfirma, Teleprogramas de México, 43 Teresa wurde 1965 übrigens von TV Tupi in Brasilien produziert (Fernandes 1994: 53). 44 Auch diese Schiene wurde von Colgate-Palmolive gesponsort, konnte jedoch den Begriff der „Telenovela“ nicht verwenden, da dieser zunächst Canal 4 vorbehalten war. Die Schiene nannte sich daher La comedia Colgate (Terán 2000: 9). Dies lässt darauf schließen, dass die einzelnen Sender nach dem Zusammenschluss einige Jahre lang nicht streng aufeinander abgestimmt waren (und sich Gattungen und gender untereinander aufteilten) sondern jeweils ein gewisses Eigenleben führen konnten. Dazu im Weiteren mehr. 45 Wie eine 1971 von der UNAM veröffentlichte Publikumsbefragung ergab, ging das Kalkül von TSM durchaus auf: Das von den Zuschauern bevorzugte Genre im Fernsehen war die Telenovela. 15% der Befragten gaben die Telenovela als ihre Lieblingsgattung an. Gefolgt wurde sie von Filmen und Musiksendungen mit je 14% der Zuschauerpräferenzen. Danach rangierte der Sport mit 13% (s. Hernández Lomelí 2007b: 127). Die Befragung lässt jedoch auch erkennen, dass die Vorlieben der mexikanischen Zuschauer breit gefächert sind. Aus dem geringen Abstand zu anderen Genres ist zu schließen, dass die Telenovela zwar das beliebteste Format ist, aber nicht an die Intensität der Schaulust heranreicht, die die Gattung in Brasilien hervorruft.

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gründete, was zeigt, dass das Unternehmen sehr früh eine Expansionsstrategie befolgte, dessen wichtigstes Vehikel die Telenovela war.46 Dazu kommt, dass sich Telesistema, wie erwähnt, Anfang der sechziger Jahre auch in die USA ausdehnte und dort mit SICC begann, eine spanischsprachige TVKette als Zweitverwerter seines Programms aufzubauen (Sinclair 1999: 9798). Daraus lässt sich schließen, dass Telesistema von Anfang an nicht nur auf den Aufbau eines landesweiten networks sondern auch auf die Eroberung des hispanoamerikanischen Marktes sowohl im Süden als auch im Norden ausgerichtet war. Unter diesen Gesichtspunkten stand nicht im Vordergrund, die Telenovela in den Dienst des nationalen Seins und seiner Wirklichkeit zu stellen. Das Publikum musste nicht überzeugt werden, es hatte durch das Monopol sowieso keine Wahl. Der Verbund von drei Sendern mit je eigenem Programm unter einem Unternehmensdach, die zumindest in der Metropolitanregion von Mexiko-Stadt zu empfangen waren, erweckte zudem den Anschein von televisionärer Vielfalt. Außerdem war man eng mit der Politik verbandelt, die sich zur Wahrung der Friedhofsstille (Tlatelolco) nicht mit TSM anlegte. Es gab keinen Willen, mit anderen Worten, aus dem Fernsehen nicht nur ein kommerzielles sondern auch ein kulturelles oder politisches Projekt zu machen. Dass jedoch auch die Erzählung betont mexikanischer Themen in anderen hispanoamerikanischen Ländern auf Interesse stoßen kann, hat das mexikanische Kino bewiesen. Tatsächlich konnte sich das mexikanische Fernsehen im Gegensatz zum brasilianischen an eine erfolgreiche nationale Kinematografie anlehnen und auf eine großartige audiovisuelle Tradition zurückgreifen. Das cine de oro war selbstredend ein Modell für die frühe mexikanische Television (vgl. auch Klindworth 1995b: 92). Die anfängliche thematische/ideologische Nähe zwischen Telenovela und mexikanischem Film wird auch daran ersichtlich, dass manche Telenovelas später verfilmt wurden, wie z.B. Senda prohibida (1959) (Reyes de la Maza: 15). Eigentlich wären mit dem mexikanischen Hollywood47 die besten Voraussetzungen gegeben gewesen, aus dem mexikanischen Fernsehen eine ästhetisch und technisch ansprechende Erzählmaschine des Nationalen zu machen. Nicht zuletzt in den Filmen von Emilio el Indio Fernández und seinem Kameramann Gabriel Figeroa verpflichtet sich das mexikanische Kino in einem „Klimax des kulturellen Nationalismus [...] die nationale Wahrheit [zu retten], die Seele und die Stimme der ländlichen und städtischen Wesen und Landschaften auszudrücken“ (Monsiváis 1994: 1517).48 Mit dem cine de oro war das humane und ästhetische Potential (sowie das Publikum) für ein televisionäres Modernisierungsprojekt gegeben. Tatsächlich bemühte sich Azcárraga Vidaurreta zu Beginn der fünfziger Jahre um eine Zusammenarbeit mit der Kinoindustrie. Wie Hernández Lomelí zeigt, hatte Azcárraga zunächst vor, 46 Ab 1960 nahm Telesistema Mexicano seine Telenovelas auf Video auf und machte sie damit zu einem versandfertigen Verkaufsprodukt (Fernández/Paxman 2000: 122). 47 Zum „Gründungsprojekt“ des mexikanischen Kinos, Hollywood zu „nationalisieren“ siehe Monsiváis (1995: 117). 48 Zur Rolle von Emilio el Indio Fernández bei der postrevolutionären Modernisierung und bei der Konstruktion nationaler Identität sowie zu den ästhetischen Verfahren seiner Filme siehe Mecke (2004).

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das Programm von Canal 2 zu einem Fünftel mit mexikanischen Filmen zu bestreiten. Der Plan scheiterte jedoch kurioserweise an Zensurbestimmungen, die die Filme als nicht geeignet für ein allgemeines Publikum erscheinen ließen (Hernández Lomelí 2007b: 119-120). Telesistema Mexicano vertikalisierte seine Produktion sehr früh, also kurz nach dem Eintreffen des videotapes. TV-Produktionen wurden – anders als in den USA – nie in die Filmstudios ausgelagert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es Telesistema auf das profitable Geschäft der Sendeinhalte abgesehen hatte, und dass das Unternehmen dieses nicht mit den Filmstudios teilen wollte, nachdem TSM es kurz zuvor den Sponsoren abgenommen hatte.49 Es ist denkbar, dass TSM daran gelegen war, das nationale Kino zu verdrängen, es inhaltlich und ästhetisch letztlich aber nur marginal zu beerben. Entscheidend ist in dieser Situation die Monopolstellung der Sendergruppe, die vermied, dass sich stärker kinematografisch ausgerichtete Alternativen auf dem Fernsehmarkt etablieren konnten. Damit hatten auch Kulturschaffende aus dem Bereich des Kinos und anderen keine Chance beim Fernsehen, es sei denn bei TSM. Jedoch hatte weder TSM und später Televisa Interesse an ihnen, noch diese an dem Sender. Offenbar gab es Ansätze hierzu mit einem Ansinnen, Anfang der sechziger Jahre renommierte Schriftsteller wie Carlos Fuentes als Drehbuchautoren zu gewinnen, jedoch scheiterte dieser Ansatz schließlich an der Profitausrichtung des Senders (Bustos Romero 1994: 42). Televisa war augenscheinlich in der Regel nicht gewillt, den Aufwand seiner Produktionen über das notwendige Minimum zu steigern. Unter den Kulturschaffenden dagegen war und ist es „peinlich“, für TSM/Televisa zu arbeiten (Klindworth 1995b: 95). Zweifellos gab es auch personelle und konzeptionelle Anknüpfungen an das Kino, wenngleich sie nicht alle von Dauer waren. Die wichtigste Figur in diesem Kontext ist Ernesto Alonso. Alonso hatte bis 1955 in 19 Filmen mitgespielt, u.a. als Hauptdarsteller in Ensayo de un crimen (1955) von Luis Buñuel. Nach eigenen Angaben lud ihn Emilio Azcárraga Vidaurreta 1959 ein, Telenovelas zu produzieren (Orozco 2000). Von 1960 bis 2006 produzierte er 158 Telenovelas.50 Vor allem seine Produktionen der sechziger Jahre brachten ihm den Beinamen El señor telenovelas ein. Alonso gilt als der Schöpfer der „telenovelas históricas“. Mit diesen Serien beanspruchte Telesistema Mexicano, die kulturnationalistische Nachfolge des cine de oro anzutreten. Ereignisse und Personen der mexikanischen Geschichte wurden zum Gegenstand der Serien gemacht.. Mexiko war das Thema. Schon 1959 wurde geradezu in personeller Kontinuität mit dem cine de la revolución eine miniserie namens Aquí viene Pancho Villa mit Pedro Armendáriz in der Hauptrolle ausgestrahlt (Reyes de la Maza 1999: 42). Die erste „telenovela histórica“ – in Regie und Produktion von Alonso – war Sor Juana Inés de la Cruz und erzählte Leben und (vor allem) Leid der Barockdichterin Sor Juana. Daran knüpfte sich eine Reihe von Epochen49 Warum Kino und Television in Mexiko auch in der Produktion nie zusammengingen, und welche Folgen sich daraus ergaben, wäre jedoch näher zu untersuchen. 50 Siehe hierzu und zu seiner Gesamtfilmografie nicht nur als Produzent sondern auch als Regisseur und Schauspieler den Eintrag „Ernesto Alonso“ in der Internet Movie Database (IMDb) (http://us.imdb.com/name/nm0022172/, zuletzt aufgesucht 04.05.2010).

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melodramen an, unter denen zunächst Maximiliano y Carlota für Wirbel sorgte. Die Serie dreht sich um den Habsburger Maximiliano, der 1864 von Napoleon III. als Kaiser von Mexiko inthronisiert wurde, sowie um seine Gemahlin Carlota Amalia. Maximiliano unterlag militärisch dem mexikanischem Widerstand unter der Führung des liberalen Benito Juárez und wurde 1867 hingerichtet. Thema von Maximiliano y Carlota waren jedoch nicht politische Umstände der nationalen Souveränität und des einsetzenden liberalen Reformprozesses sondern allein die tragisch-romantische Liebesgeschichte zwischen dem kaiserlichen Paar. Der Bösewicht dieses Melodramas war daher der große Nationalheld Benito Juárez, der zwar die französische Fremdherrschaft beendete und als Präsident Staat und Gesellschaft reformierte, aber das romantische Glück der hocharistokratischen Helden zerstörte. Das konnte der Staatspartei PRI und insbesondere dem Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz nicht gefallen. Unverzüglich beschwerte er sich bei TSM, und Maximiliano y Carlota wurde vorzeitig abgesetzt. Der Konzern versprach mit La tormenta (1967) Besserung und eine politisch korrekte Version. In La tormenta steigt ein Indio zum General in Benito Juárez’ Streitkräften auf, heiratet eine Aristokratin und dient dem späteren Diktator Porfirio Díaz. Die drei Kinder jedoch widersetzen sich in der Folge und ergreifen schließlich Partei für die Revolution. Miguel Alemán Velasco produzierte die Serie. Als Sohn des ehemaligen Präsidenten Miguel Alemán Valdés hatte er beste Beziehungen zum PRI und war zugleich in einer Führungsposition bei TSM, nachdem sein Vater in das Konsortium eingestiegen war. La tormenta war die bisher teuerste Produktion des mexikanischen Fernsehens und kostete wegen der vielen Außenaufnahmen sechs Mal so viel wie eine gewöhnliche Telenovela. Ihre Kosten wurden jedoch zur Hälfte vom Staat übernommen. Das Anliegen der Regierung war sehr klar: Sie wollte angesichts der Unzufriedenheit in der Bevölkerung das Fernsehen dazu benutzen, die Zuschauer auf die Linie der Partei bzw. auf das Dogma der fortschreitenden, parteigestützten mexikanischen „Revolution“ einzuschwören. Zur Stärkung der nationalen Einheit legte der Sender in jenem Jahr mit Los caudillos nach, die den Unabhängigkeitskrieg zum Gegenstand hatte. 1969 kam dann La constitución, die den Zeitraum zwischen 1900 und 1917 behandelte, also die letzten Jahre der Diktatur von Porfirio Díaz und die heroische Phase der Revolution. Für die Besetzung der weiblichen Hauptrolle gewannen die beiden Produzenten Ernesto Alonso und Miguel Alemán Velasco sogar die Kinodiva María Félix.51 Jedoch blieb die gewünschte Einschaltquote aus, und Azcárraga Milmo hatte erst einmal genug von den teuren Produktionen, in denen er offensichtlich wenig Sinn sah. Wahrscheinlich bestand zunächst auch keine politische Notwendigkeit mehr dazu, jedenfalls wurden keine „telenovelas históricas“ mehr gesendet, bis die Regierung dies drei Jahre später wieder forderte (Fernández/Paxman 2000: 128-134).52 51 Wie sie in ihrer Autobiografie schreibt, beendete La Doña ihre Karriere mit La constitución (Félix 2002: 209-210). 52 Noch während der sechziger Jahre wurden weitere „telenovelas históricas“ gesendet, wie z.B. Leyendas de México (1968), die erste Farbtelenovela, die dem Sender im Kontext der Olympischen Spiele kulturelles Prestige verleihen sollte. Zu den einzelnen Telenovelas siehe u.a. Recordar es vivir und Reyes de la Maza (1999: 42-45 und 4851).

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Das bedeutet, dass die Epochenserien nicht gänzlich abgeschafft wurden, aber auch, dass sie keinem kohärenten kulturellen Projekt des Senders entsprachen. Vielmehr zeigt sich dieses Untergenre als politischer Kompromiss. Zum Einen musste es wohl mit öffentlichen Geldern subventioniert werden, zum Anderen gehorchte es auch innerhalb des Senders politischen Zielsetzungen, für die beispielsweise Miguel Alemán Velasco eintrat. Besonders er unterstützte die „telenovelas históricas“, aber dass er eher zur Politik denn zur Fernsehkultur neigte, zeigt, dass er später den Sender verließ und sich für den PRI in den Senat wählen ließ (später zum Gouverneur von Veracruz). Bei den „telenovelas históricas“ geht es um die Inszenierung nationaler Identität, die sich – in der ideologischen Linie des PRI – am Dogma der erfolgreichen Mexikanischen Revolution ausrichtet (Unabhängigkeit und andere kompatible Ereignisse eingeschlossen). Unter diesen Vorzeichen kann es sich nicht um kritische, pluralistische Auseinandersetzungen mit dem Nationalen handeln sondern nur um seine Affirmation, die abweichende Ansätze im Gegenteil zu ersticken trachten.53 Ein spezielles kulturelles Projekt ist hinter diesen Telenovelas auch deshalb nicht zu erkennen, weil neben Alemán Velasco die andere treibende Kraft, Ernesto Alonso, gleichzeitig und in weitaus größerer Anzahl Telenovelas im traditionellen Stil produzierte, so etwa die unausweichliche El derecho de nacer (1966), die, wie erwähnt, schon in Brasilien für einen (vornationalen) Telenovela-Boom gesorgt hatte. Alonso stand also keineswegs für eine umfassende Nationalisierung der Telenovela im kritischen Sinne. Auch zeigt sich in seiner Person, dass TSM zwar Anknüpfungspunkte am cine de oro suchte, aber nicht beabsichtigte, dieses im Bildschirmformat umund fortzusetzen. Alonso war Filmschauspieler gewesen, aber auch diese Erfahrung scheint er nur in beschränktem Ausmaß auf das neue Medium übertragen zu haben, wenn man an die gängige Praxis des apuntador denkt. Wie schon angedeutet, geht mit der Popularisierung des Fernsehens in den sechziger Jahren auch die stets wachsende Dominanz der Telenovela einher. Am Ende des Jahrzehnts haben sich nicht nur die Fernsehzuschauer vervielfacht sondern auch die Sendezeiten der Telenovela (3,5 Stunden pro Tag im Jahr 1969 – die Reprisen alter Serien am Vormittag nicht mitgerechnet). Zu diesem Zeitpunkt war TSM längst eine „fábrica de telenovelas“. Selbst die politischen Instrumentierungen ordneten sich hierbei der (ebenso politischen) Maxime der Gewinnmaximierung unter. Wichtig war für TSM Quantität und nicht Qualität. Um Einwände von „Puristen“ und vom gebildeten Publikum scherte sich TSM/Televisa nicht (Fernández/Paxman 2000: 121-123). Während der Sender in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mit den Epochentelenovelas punktuell die kulturnationalistischen Gelüste der Politik befriedigte, erarbeitete er gleichzeitig eine Formel, die zugleich billig sowie quotenwirksam war und zudem politisch unbedenklich erschien: Es handelt sich um das bereits erwähnte Aschenbrödelmärchen. Das kinematografische 53 Hinzugefügt sei, dass Televisa auch in den siebziger Jahren vereinzelt Telenovelas produzierte und sendete, die sich vom dominanten Unterhaltungsmodell abzusetzen versuchten. Es handelt sich um die sogenannten telenovelas de contenido social, die in pädagogischer Absicht soziale Themen wie etwa die Bedeutung der Familienplanung aufwarfen (siehe Hernández Lomelí 2007b: 132).

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Drama der Anfangszeit spricht mit der Bedrohung der Familie durch die schöne und junge, aber eben unmoralische Frau ein weibliches bürgerliches Publikum an (aus dem das Publikum damals bestand) und thematisiert die davon abzuleitende Rolle der Frau in der Gesellschaft. In dem Maße, wie sich die Zuschauerinnenschaft verstärkt aus unteren Einkommensschichten rekrutiert, schwenkt die Gattung in das (komplementäre) ideologische Gegenteil. Aus der Antagonistin wird eine Protagonistin, die weiterhin schön und jung, aber nun auch gut ist. Sie ist nicht mehr ambitioniert (d.h. aktiv). Ein moderner Prinz verliebt sich in sie, und sie wird für die zahllosen Erniedrigungen, die ihr bevorstehen, letztendlich mit dem irdischen Glück (erotische Liebe und viel Geld) belohnt.54 Die Industrialisierung des Märchens vom sozialen Aufstieg verdankt sich insbesondere dem Produzenten Valentín Pimstein. Seine eskapistischen Vorstellungen vom Fernsehen entsprachen denen der Azcárragas: „Ich träume von einer besseren Welt. Aber was kann ich tun? Was ich tun kann, ist, dass abends, wenn du zu Bett gehst, dich meine Fernsehsendung ruhig schlafen lässt.“55 Mit geradezu zynischer Unverblümtheit wird in dieser (und anderen) Äußerungen die Betäubungsfunktion des Fernsehens angesichts der Lebensumstände der Zuschauer ausgesprochen. Gleichzeitig wird die Wirkmächtigkeit des Mediums geleugnet und bekräftigt: An den sozialen Verhältnissen verändert das mexikanische Fernsehen nichts. Der Gattungsschwenk zu einer Fantasiewelt, in der die Geschundenen für ihr Leid entlohnt werden (vorausgesetzt, sie bleiben ‚unschuldig‘), geht mit einem Wechsel der Vorlagen einher: Statt dem cine de oro steht nun, wie schon erwähnt, die historieta Pate. Nachdem María Isabel 1966 auf Canal 2 mit einer Einschaltquote von 54% einen Publikumsrekord einstellte, war nichts mehr wie früher im mexikanischen Fernsehen: Die Telenovela steigerte generell ihre Einschaltquote um ein Viertel. Mit María Isabel schuf Pimstein einen „ästhetischen Präzedenzfall“, von dem sich ein Großteil der nachfolgenden Telenovela-Produktion ableitete. Für Pimstein stand das Publikum fest: Aufgrund seiner Ungebildetheit konnte es diesem Unterschichtenpublikum nicht auf Raffinessen in Form und Inhalt ankommen, sondern allein auf die emotionale Identifikation mit der Heldin, mit ihrem Leid sowie mit ihrem Glauben an die Jungfrau (von Guadalupe) und an die Liebe. Die Emphase der schaugestellten Gefühle in Großaufnahme reichte dem Produzenten aus. In Bezugnahme auf die primitiven Kulissen beispielsweise bezeichnet Epigmenio Ibarra die „Lustlosigkeit“, mit der Televisa seine Telenovelas seit Jahrzehnten gestaltet, als „televisión de cartón“ („Fernsehen aus Pappe“) (Ibarra 2000: 125). Allein auf das Aussehen der Schauspielerinnen wurde Wert gelegt: Sie mussten dem „europäischen“ Typ entsprechen und meist blond und hellhäutig sein (auch wenn sie, wie im Falle von María Isabel indigene Figuren darzustellen hatten). Dies entsprach auch den Vorlieben von Azcárraga Milmo, der sich immer stärker 54 Vollständig ersetzt wird die devoradora jedoch durch die cenicienta nicht, wie Rubí (1968) unter Beweis stellt. Die Protagonistin dieser Serie benutzt die Männer auf ihrem Weg nach oben und wirft sie dann weg. Weil das so unwiderstehlich schlimm ist, gab es 2004 ein gleichnamiges remake (siehe das Internetarchiv Alma Latina). 55 „Sueño con un mundo mejor, pero ¿qué es lo que puedo hacer yo? Lo que puedo hacer, es que en la noche, cuando te vas a acostar, mi programa de televisión te haga dormir tranquilo“ (Valentín Pimstein zitiert nach Fernández/Paxman 2000: 125).

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in das casting einmischte. Pimstein wurde zu einer „fuerza comercial“, der die vermeintliche Anspruchslosigkeit des Publikums systematisch ausnutzte, um mit minimalem Produktionsaufwand eine höchstmögliche Quote zu erreichen. Das bedeutete nicht nur Reduktion der Produktion auf Mittel, die die einfachsten Affekte reizen sollen, sondern auch Beschränkung des Drehbuchs auf einfache Variationen des cenicienta-Motivs. Pimstein machte die Telenovelas von Televisa zu „billigen, trivialen und repetitiven“ Produkten (Fernández/Paxman 2000: 125-128). Daraus zu schließen, dass dies „das Publikum so wollte“ (128) hat rein rechtfertigenden Charakter. Zweifelsfrei genießt das Genre eine Vorliebe bei Großteilen des Publikums. Eine solche Behauptung übersieht jedoch zumindest den Mangel an Alternativen. Andere Telenovelas ließ TSM meist nicht zu. TSM schaltete auch eine interne Gattungskonkurrenz sehr bald aus. Nachdem der Konzern Anfang der sechziger Jahre dazu übergegangen war, sein Programm selbst zu produzieren, spezialisierte er die Sender nach Gattungen, um auf diese Weise das Publikum je nach Gattungspräferenz zu segmentieren und insgesamt an den Konzern zu binden. Demnach eliminierte er Mitte der sechziger Jahre die florierende Telenovelaproduktion auf Canal 4, der, wie angedeutet, als erster Telenovelas gesendet hatte. Das Genre wurde nun ganz auf Canal 2 konzentriert (Klindworth 1995a: 64-65). Durch die Fusion mit Televisión Independiente de México (TIM) zu Televisa wurde 1973 auch die Telenovelakonkurrenz von Canal 8 ausgeschaltet. Canal 2 war im übrigen der einzige Kanal, der zu einem landesweiten network ausgebaut wurde. Außer Canal 2 hat allein Canal 5 hat eine ausgedehnte Reichweite, ist jedoch spezialisiert auf Kinder und Jugendliche mit den entsprechenden Genres. Canal 4 wurde auf die zona metropolitana, den Einzugsbereich von Mexiko-Stadt, begrenzt, um US-Serien, Filme u.ä. zu übertragen. Die einzige Sender außerhalb Televisas, der Telenovelas sendete, war der staatliche Canal 13 (siehe Klindworth 1995a: 66). Aufgrund seiner chronischen Instabilität konnte der Sender jedoch keine langfristige und nachhaltige Strategie entwickeln, wie dem Monopol von Televisa zu begegnen ist. Indem Canal 7 und Canal 13 eine Alternative darstellten, die nur scheinbar eine war, legitimierten sie letztlich Televisas Hegemonie (Sinclair 1999 38). Dieser entsprach landesweit eine Herrschaft von Canal 2, wie eine Untersuchung in Colima zeigt. Noch 1987 waren in Colima, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, lediglich fünf Sender zu empfangen, darunter Canal 2, Canal 5, die beiden damals staatlichen Sender von Imevisión, Canal 13 und Canal 7, sowie eine lokale Anstalt. Tatsächlich aber sahen 78% der Zuschauer von Colima Canal 2 (González 1998: 55-58). Das Beispiel verdeutlicht, dass auch in Mexiko die Telenovela die wichtigste Fernsehgattung ist. Die staatliche Fernsehen Imevisión konnte sich der Gattung nicht verweigern und plante wohl die Produktion eigener Serien. Imevisión sendete sporadisch Telenovelas unabhängiger Produzenten sowie ausländische Produktionen, übrigens auch von Rede Globo (Torres Aguilera 1994: 13-14). Wie zu zeigen ist, kam später TV-Azteca ebenso wenig am Genre vorbei. Faktisch ist die Telenovela von TSM/Televisa weitgehend ohne Alternative. Pimstein entwickelte hierzu das Geschäftsmodell, das immer wieder neu aufgelegt wurde. Einige Beispiele: 1977 produzierte Pimstein Rina. Rina ist eine junge, buckelige Blumenverkäuferin, die für ihre Geschwister und ihren alkoholsüchtigen Vater sorgt. Ihre Mutter hat die Familie verlassen, als die 219

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Kinder klein waren. Don Leopoldo ist ein alter, kranker und steinreicher Mann, der sich nicht damit abfinden kann, dass mit seinem Todesfall das Vermögen an seine ungeliebten Erben übergehen soll. Diese sind seine Schwägerin Rafaela und deren Sohn, Carlos Augusto. Da wird er auf Rina aufmerksam. Kurzerhand schlägt er ihr vor, ihn zu heiraten, um ihn beerben zu können. Rinas Vater stirbt zu dieser Zeit gerade, also willigt sie ein. Kurze Zeit später stirbt Don Leopoldo und vererbt Rina das gesamte Vermögen. Aber Rafaela gibt so schnell nicht auf und instruiert ihren Sohn Carlos Augusto, Rina zu heiraten. Rina liebt Carlos Augusto und sagt ja. Nun beginnt Rinas Leidensweg erst richtig, denn Carlos Augusto verachtet sie, und Rafaela versucht, sie in den Wahnsinn zu treiben, um des Vermögen vollständig zu bemächtigen. Rinas Liebe ist jedoch stärker und kriegt auch Carlos Augusto herum. Kein Fehler war es dabei übrigens, sich den Buckel wegoperieren und sich in eine Schönheit verwandeln zu lassen. Zehn Jahre später, 1987, produziert Pimstein Rosa salvaje. Die burschikose Rosa wächst in armen Verhältnissen auf. Zufällig begegnet sie dem reichen Ricardo, in den sie sich sofort verliebt. – Wie es jedoch in diesem dramón weitergeht, ist in nachfolgenden Kapiteln dieser Arbeit nachzulesen, in der die Serie detalliert untersucht wird. 1992 beginnt mit einem remake von Rina die María-„Trilogie“ (von Pimstein zumindest koproduziert), in der die Schauspielerin und Sängerin Thalía die Hauptrollen spielt. In María Mercedes ist es die gleichnamige junge Frau, die sich und ihre Geschwister durchschlägt. Der Vater: alkoholsüchtig, die Mutter: verschollen. Der alte, reiche Mann ist nun Santiago del Olmo, der sein Erbe nicht der geldgierigen Schwiegertochter Malvina überlassen will. María Mercedes kann sich anschließend in den Sohn von Malvina, Jorge Luis, verlieben. Zwei Jahre später heißt Thalía Marimar in der gleichnamigen Telenovela, die La venganza (1977, auch von Pimstein) neu aufbrüht. Marimar lebt unter sehr armen Bedingungen bei ihren Großeltern. Oft haben sie nichts zu essen. Marimar stiehlt Lebensmittel in der nahgelegenen Hacienda Ibañez. Sie wird erwischt, hat aber Gelegenheit, sich in Sergio, den Sohn des Hauses, zu verlieben. Um sich wegen Erbstreitigkeiten an seiner Familie zu rächen, beschließt Sergio, das „schmutzige Mädchen vom Strand“ zu heiraten. Von den Hintergründen weiß jedoch Marimar zunächst nichts. Was sie auch nicht weiß, ist, dass sie in Wirklichkeit einen schwerreichen Vater hat, der sie sucht, und mit dessen Vermögen (er stirbt bald) sie sich für die Erniedrigungen bei den Ibañez revanchieren kann. 1995 ist Thalía schließlich die junge Straßenkehrerin María, die bei ihrer Patentante aufwächst. Auch María la del Barrio ist ein refrito (ein remake), und zwar von Los ricos también lloran (1979, koproduziert von Pimstein). Die Patentante stirbt, und unter Vermittlung des Priesters gelangt María in die Obhut des reichen Don Fernando. Sie verliebt sich in dessen Sohn Luis Fernando, hat aber in ihrer Schwiegermutter Victoria und in der Cousine von Luis Fernando, Soraya, mächtige Feindinnen (vgl. Alma Latina; Recordar es vivir). War eine wiederverwertbare narrative Grundformel gefunden, musste nur noch die Produktion standardisiert und Kosten gesenkt werden. In den sechziger Jahren hatten viele Serien eine Ausstrahlungsdauer von nur einer Woche. Andere waren zwischen 30 bis 90 Folgen lang. In den siebziger Jahren wurden die Serien erheblich gestreckt und die Anzahl der Folgen vervielfacht, um die Rentabilität des investierten Kapitals zu steigern. Produktionen mit über 300 Kapiteln waren die Regel. Erst in den achtziger Jahren 220

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schrumpfte die Erzähldauer, weil das Publikumsinteresse nur selten über ein Jahr lang aufrecht zu erhalten war. Seitdem kommen Televisas Telenovelas auf 140 bis 200 Episoden (Klindworth 1995b: 92-93). Gleichzeitig wurde die Länge der einzelnen Kapitel von anfänglichen 15 Minuten auf einstündige Sendungen zu Beginn der neunziger Jahre ausgedehnt. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre werden die Telenovelas abends zwischen 17 und 20 Uhr gesendet, sowie vormittags zwischen 9:30 und 10 Uhr (97). Die wenigen Beispiele (die Reihe könnte lange fortgesetzt werden) lassen erkennen, dass sich Pimsteins Telenovelas mit dem Affektappeal des Melodramas begnügen und jahrzehntelang gänzlich ohne Originalität in Erzählung und Erzählweise auskommen. Was immer wieder als distinktives Merkmal „mexikanischer“ Telenovelas bezeichnet wird, dass sie die Erzählung auf das Melodrama beschränken (z.B. Mazziotti 1993: 27; Costa 2000: 9), meint emotive Erregung mit einfachsten audiovisuellen Mitteln. Übersehen wird dabei häufig, dass eine Telenovela immer melodramatisch ist, weil sie ohne das Erzählmuster des Melodramas nicht funktionierte. „Modernisierende“ Telenovelas wie die von Rede Globo unterscheiden sich dadurch, dass sie das serialisierte Melodrama mit anderen Genres kreuzen, etwa mit dem classical style des Hollywood-Films.56 Die Gegenüberstellung der „mexikanischen“ und der „brasilianischen“ Telenovelas zeigt eine kuriose gegenläufige Tendenz: In vielerlei Hinsicht war das mexikanische Fernsehen dem brasilianischen zunächst um einige Jahre voraus: Es hatte nicht nur einen technologischen Vorsprung57 sondern auch einen konzeptionellen: TSM baute Jahre vor Globo ein network auf und begann über ein Jahrzehnt früher mit der Expansion ins Ausland.58 Die Gründe dieses doppelten Vorsprungs wurden bereits genannt (network-Tradition des Radios und enge Partnerschaft mit den US-amerikanischen Ketten). Anzunehmen ist, dass die Sponsoren aus den USA mit Hilfe der TSM-Telenovelas in Lateinamerika, einschließlich Brasilien, expandierten, insbesondere nachdem mit der Revolution 1959 der private Rundfunk auf Kuba zusammenbrach, wo die broadcasting companies aus dem Norden stark investiert waren.59 In der Folge wurde die Gattung in Mexiko 56 Claudius Armbruster sieht in der Tendenz zur Gattungsmischung der brasilianischen Telenovela in Anspielung auf die brasilianische Avantgarde-Bewegung der antropofagia einen „phagischen Diskurs“ des Genres (Armbruster 1995: 39). 57 Die erste mexikanische Telenovela in Farbe (Leyendas de México, 1968), wurde beispielsweise fünf Jahre vor der ersten brasilianischen Farbtelenovela (O bem amado) gesendet. 58 Während O bem amado die erste Telenovela war, die Globo ins Ausland verkaufte, exportierte TSM, wie angedeutet, seine Serien schon seit Anfang der sechziger Jahre und war seit dieser Zeit direkt in den USA engagiert, die allgemein erst in den Neunzigern als großer Telenovela-Markt erkannt wurden. 59 Ein Teil der kubanischen Rundfunkmacher ging mit ihrem Kapital ins Exil nach Argentinien, wo sie – gemeinsam mit dem Engagement aller großer US-Ketten – für einen starken Entwicklungsschub des einheimischen Fernsehens sorgten, der wie im erwähnten Fall von TV Excelsior u.a. auf Brasilien rückwirkte. Ein emblematisches Beispiel ist der Radio- und Fernsehunternehmer Goar Mestre, der 1959 nach Argentinien auswanderte und im Jahr darauf zusammen mit CBS und Time-Life den Sender Canal 13 gründete. Die Verstaatlichung der Sender durch Juan Domingo Perón 1974

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vergleichsweise früh als Grundlage des Programmgitters entwickelt. Die Gattung war daher in Mexiko nicht fremd, denn von hier ging die Entwicklung der lateinamerikanischen Telenovela in den sechziger Jahren maßgeblich aus. Es sei zusammenfassend kurz auf die gegenläufigen Entwicklungen in Mexiko und Brasilien hingewiesen: Im Gegensatz zur Telenovela in Brasilien war in den sechziger Jahren das Genre in Mexiko nicht zuletzt aufgrund der kinematografischen Tradition u.a. auf (regimetreue) Inszenierungen nationaler Identität ausgerichtet. In den siebziger Jahren wurde dann zugunsten der cenicienta-Formel vom Kulturnationalismus Abstand genommen. Beinahe invers hierzu verlief die Entwicklung in Brasilien. Während in den sechziger Jahren das reine Melodrama ohne nationale Bezüge überwog, ging das Genre gegen Ende des Jahrzehnts dazu über, sich im doppelten Sinne zu nationalisieren (eigene Scripts über die eigene Realität). Auch Kritik an dieser Wirklichkeit war nicht ausgeschlossen. Wie kam es zu diesen ungleichen Entwicklungen? Bei aller Analogie der politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen (Dependenz, Bündnis mit den USA, autoritäre Regimes, Medienmonopole) waren die spezifischen historischen Konstellationen und Umstände im Einzelfall unterschiedlich. Dazu gehört u.a., dass Rede Globo seine Ressourcen auf einen für brasilianische Verhältnisse fast uneinholbaren Qualitätsvorsprung verwendet hat, um einem einzigen TV-Sender eine monopolartige Dominanz zu verschaffen. Auch TSM/Televisa investierte viel Geld in den technischen Vorsprung. Jedoch zielte dieser von Beginn an auf eine lateinamerikanische Dominanz. Die inländische Konkurrenz wurde durch Fusionen und Aneignungen unmittelbar aus dem Weg geräumt. Für das Ansehen Televisas nicht nur bei Kulturschaffenden und Intellektuellen war die systematische Ausschaltung aller demokratischen Ansätze verheerend. Nach Ansicht von Epigmenio Ibarra ist gar der radikale Gegensatz zwischen Fernsehen und Intellektuellen für das Medium in Mexiko kennzeichnend. Für Intellektuelle ist das Fernsehen lediglich die caja idiota (Ibarra 2000: 120). Insbesondere in den siebziger Jahren wurde dem Sender vorgeworfen, die Menschen mit endlosen Märchenerzählungen von ihrer Wirklichkeit abzulenken und zu entfremden. Wie Gisela Klindworth schreibt, wurde diese Entfremdungskritik in jener Zeit „zum Standard in jedem Gespräch über Telenovelas“. Televisa pflegte sich mit dem Argument zu verteidigen, die Telenovelas seien keine Beeinflussung im Sinne fremder Werte sondern reine Unterhaltung, die sich im Gegenteil für den familiären und nationalen Zusammenhalt einsetze. Canal 2 pries sich gerne als „Familienkanal“ an, der „die Werte, die Traditionen und den Respekt der Familie fördert.“60 In diesem paternalistischen Sinne sucht Televisa die Zuschauer vorgeblich von ‚Gefahren‘ abzuhalten, indem ‚Schädliches‘ einfach verund die Militärdiktatur ab 1976 führten das argentinische Fernsehen jedoch in eine tiefe, jahrzehntelange Krise, wodurch es seine lateinamerikanische Vorrangstellung verlor. Televisa hatte keine spanischsprachige Konkurrenz mehr (vgl. zur Geschichte des argentinischen Fernsehen Michael/Mongi 2002). 60 „Es el canal familiar de Televisa, promueve los valores, las tradiciones y el respeto de la familia“ (Selbstdarstellung von Canal 2 auf seinem Internetportal [http://www.televisa.com/] vom Dezember 2006, die jedoch mittlerweile vom Netz genommen wurde).

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drängt wird. Drogen beispielsweise werden nicht beim Namen genannt sondern als „gefährliche Substanz“ umschrieben. Lange Zeit rauchten und tranken die Figuren nicht. Auf Partys tranken sie Kaffee (Ibarra 2000: 125). Im Endeffekt, so Klindworth, sind die Meinungen über das Genre zumindest gespalten. Daher ist die Telenovela in Mexiko, mit anderen Worten, zwar ein zentrales Thema, das jedoch äußerst kontrovers und strittig ist. Die Autorin bezeichnet dies als den „Telenovela-Streit“, der die Rezeption des Genres maßgeblich prägt (Klindworth 1995b: 96). Erst Ende der achtziger Jahre ließ sich der Konzern auf inhaltliche Diversifizierungen und filmästhetische Erzählformen ein, nicht zuletzt mit Blick auf das spanischsprachige Publikum in den USA, dem der Konzern seit dieser Zeit Priorität einräumt. Nun gilt es, nach Alter und Geschlecht differenzierte Zuschauerschaften anzusprechen. Nachmittags und abends werden Serien gesendet, die auf Hausfrauen, Kinder und Jugendliche zugeschnitten sind. Abends kommen dagegen Telenovelas, die in Anlehnung an US-Serien wie Dallas, Dynasty mit Krimielementen, action-Szenen und Erotik ein verstärkt männliches Publikum ansprechen sollen (97).61 Wie bereits angedeutet, erkennt Orozco für die neunziger Jahre einen Gattungstrend hin zur „Transnationalisierung“. An den Erzählformen des Genres ändert sich wenig. Was sich jedoch wandelt, sind die internationalen Vermarktungsformen der Telenovela, die nicht mehr nur als fertige Produktion gehandelt wird. Nun kann auch lediglich die Idee zu einer Serie oder ihr Drehbuch eingekauft und vor Ort neu produziert werden. Die Telenovela erhält einen Internationalisierungsschub und konkurriert weltweit mit TV-Serien aus Nordamerika und Europa. In den Jahren ab 2000 dagegen beschleunigt sich das Erzähltempo, die Anzahl der Szenen pro Kapitel vervielfacht sich von 12 bis 14 auf ca. 50. Außerdem vermehren sich die Handlungsstränge. Die Erzählung wird nicht nur schneller sondern bricht stärker in alternierende Handlungen auf. Wie Orozco bemerkt, dient dies dazu, Produktwerbung in die Handlung zu integrieren und Konsumreize in die Erzählung einzubetten. Daher begreift der Autor diese Phase der Formatentwicklung als „Merkantilisierung“, da es nun nur noch um Kaufanreize ginge (Orozco 2007b: 158-161).62 Bezeichnend scheint, dass die Telenovela in Mexiko über die Jahrzehnte kontinuierlich an Zuschauergunst verloren hat. Es zeigt sich, dass sich das rating der Gattung seit den sechziger Jahren mehr als halbiert hat. Erzielte 61 Der Anspruch von Televisa ist, das weltweit führende spanischsprachige Medienunternehmen zu sein („Visión: ser la empresa líder de medios de habla hispana en el mundo“, Internetdarstellung auf http://www.televisa.com/quienes/, zuletzt aufgesucht: 04.05.2010). 62 Zur Erfassung und Untersuchung neuester Tendenzen in der iberoamerikanischen Fernsehfiktion haben sich Wissenschaftler aus neun Ländern (Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Portugal, Spanien, USA und Venezuela) im Jahre 2005 zum Observatorio iberoamericano de ficción televisiva (OBITEL) (Iberoamerikanische Beobachtungswarte für Fernsehfiktion) zusammengeschlossen. OBITEL analysiert nicht nur Jahr für Jahr das Verhältnis der einzelnen fiktionalen TV-Formate zum Gesamtprogramm der verschiedenen Sender in den jeweiligen Ländern. OBITEL untersucht die fiktionalen Genres auch hinsichtlich von Inhalt und Form. Die Ergebnisse werden in einem Anuario (Jahrbuch) veröffentlicht (z.B. Orozco/Lopes 2009. Siehe zum OBITEL auch Orozco/Hernández/Huizar 2007).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

beispielsweise María Isabel im Jahre 1966 landesweit eine Quote von 53,6%, kommen auch die beliebtesten Serien ca. vierzig Jahre später nicht mehr über 25% (148). Die beliebteste Telenovela 2008, beispielsweise, war Fuego en la sangre, die Televisa nach einem kolumbianischen Drehbuch produziert hatte. Sie kam auf ein rating von 12,79%. Ihr market share betrug jedoch 42,07%. Damit zeigt die Serie, dass die Telenovela weiterhin zu den wichtigsten Genres des Fernsehens zählt, denn sie kann fast die Hälfte der Werbeeinnahmen für sich beanspruchen. 78% des Volumens fiktionaler Sendungen, die das mexikanische Fernsehen 2008 produzierte, waren Telenovelas. Aber alternative Formate wie sog. series oder dramatizados finden verstärkt Eingang in das Programm und machten in jenem Jahr 13% des in Mexiko aufgenommenen und ausgestrahlten fiktionalen Programms aus (Orozco, Hernández, Huizar 2009: 264-266).

6.3.2 A RGOS

UND DIE

B RASILIANISIERUNG

DER

T ELENOVELA

Während sich Mitte der neunziger Jahre die (immer gegenwärtige) Tendenz zur mexicanização des Genres in Brasilien verschärft, geschieht in Mexiko genau das Gegenteil. Cristiane Costa erkennt in der (anfänglichen) Konkurrenz Televisas durch TV Azteca ein Trend zur „abrasileirização“. Damit meint sie, dass Themen der Gegenwartsgesellschaft wie Drogenhandel, Korruption oder Unterdrückung der Frau kritischen Eingang in das Genre fanden. Zugleich seien das ästhetische Niveau angehoben und renommierte Schauspieler des Kinos und des Theaters für die Telenovela gewonnen worden. Der apuntador sei verbannt worden. Drehbücher seien von Autoren mit einem progressiven politischen Hintergrund geschrieben und mit gesellschaftskritischen Akzenten versehen worden. Mit Strategien also, wie sie schon Rede Globo zur Gewinnung der Zuschauergunst angewandt hat, versuche TV Azteca, sich gegen Televisa zu behaupten. Dem Sender sei es gelungen, dass sich erstmals die intellektuelle Elite Mexikos für das Genre interessiere (Costa 2000: 9, 65 und Terrán 2000: 48). Die erste der telenovelas de ruptura war Nada personal (1996). Unter der Regie des Theater- und Kinoregisseurs Antonio Serrano setzt Nada personal mit der Ermordung eines Politikers und seiner 13 Jahre alten Tochter. Das Opfer stand kurz vor seiner Ernennung zum Generalstaatsanwalt und wurde durch den Polizeichef umgebracht, der mit ihm eng befreundet war – „nichts Persönliches, mein Freund, nichts Persönliches“. Die Serie spielt dabei auf die Attentate auf den Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio und auf den Präsidenten des PRI, Francisco Ruiz Massieu, an, die beide 1994 getötet wurden. In der Telenovela überlebt eine Tochter des ermordeten Politikers, Camila, den Anschlag. Sie wird von dem Journalisten Luis Mario gerettet. Luis Marios Halbbruder, Alfonso Carbajal, ist Polizeiinspektor und wird mit der Aufklärung des Falles beauftragt. Beide verlieben sich in Camila. Jedoch häufen sich Anzeichen, dass Camila in den Drogenhandel verwickelt ist. Die beiden Brüder versuchen, Camilas Unschuld zu beweisen, während der Mörder ihres Vaters danach trachtet, sie aus dem Weg zu räumen. Im Jahr darauf, 1997, wurde TV Azetcas größter Erfolg bei Publikum und Kritik gesendet. Es handelt sich um Mirada de mujer. Die Regie führte 224

Nichts ist so alt wie die Telenovela von gestern

wieder Antonio Serrano. María Inés heißt die Heldin der Serie, aber sie ist keine junge Frau auf der Suche nach dem Prinzen oder einem unbekannten Millionenerbe sondern eine fünfzigjährige Dame der oberen Mittelschicht, die nach 27 Jahren Aufopferung für Ehemann und Kinder feststellt, dass ihr Leben nicht das ist, was sie sich vorgestellt hat. Ihr Mann, Ignacio San Millán, hat eine Geliebte, die halb so alt ist wie sie. Die Kinder haben sich von ihr abgewandt. Und ihre Mutter, Mamalena, lässt keine Gelegenheit verstreichen, sie für den Zerfall der Familie verantwortlich zu machen. Da begegnet sie Alejandro Salas, dem alleinerziehenden Vater, Journalisten und Gutmenschen. María Inés und Alejandro gehen eine Beziehung ein, die nicht nur wegen ihres außerehelichen Charakters für unaufhörliche Konflikte sorgt. Diese Beziehung ist insbesondere deshalb ein Skandal, weil Alejandro zwanzig Jahre jünger ist als sie. Gleichzeitig präsentierte die Serie Problemthemen wie AIDS, Untreue, Rassismus und Vergewaltigung. Angekündigt als eine Art mexikanische novela verdade, nämlich als ein „Spiegel“ der Gesellschaft, greift sie den melodramatischen Realismus auf, mit dem Globo schon 27 Jahre zuvor geworben hatte. Tatsächlich löste die Serie eine immense Debatte über die Rolle der Frau in der mexikanischen Gesellschaft aus, und die Figur María Inés wurde als Vorreiterin für die Befreiung der Frau aus dem Joch des machismo gefeiert oder angefeindet.63 Was unter den Bedingungen des kinematografischen Realismus und Postrealismus als trivial erscheint, ist unter denen des cenicienta-Monopols geradezu eine Sensation, ein Skandal. Das wird nicht zuletzt durch die Folgeserie, Tentaciones (1998), deutlich, die aufgrund des vehementen Protestes der katholischen Kirche sowie von katholischen Laiengruppen vorzeitig abgesetzt werden musste, nachdem Publikum und Werbekunden absprangen. In Tentaciones handelt es sich um einen Priester, Gabriel, der sich in eine Frau verliebt. Dies allein war für die katholische Kirche Grund genug, gegen die Serie Sturm zu laufen. Rückblickend erinnert der Skandal an die mexikanische Verfilmung von Eça de Queirós’ O crime do padre Amaro (1875) als El crimen del padre Amaro (2002) durch Carlos Carrera. Einige mexikanische Bischöfe sowie ultrakonservative Gruppen wie Pro Vida forderten das Verbot oder zumindest den Boykott des Films, weil er die Kirche verunglimpfe und den moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft zerstöre (Henriques/Montaña 2002). Genutzt haben die Aufrufe an die „wahrhaftigen Katholiken“ nichts, im Gegenteil, der Film wurde zu einem der erfolgreichsten Filme des mexikanischen Kinos.64 Tentaciones war jedoch nicht nur eine Vorwegnahme dieses Skandals auf dem Bild63 So wandte sich beispielsweise die selbsternannte Confederación Nacional de Consejeros de Instituciones de la República Mexicana an TV Azteca mit der Forderung, die Sendung der Telenovela einzustellen, da sie die „mexikanischen Herzen pervertiere“ und „gegen die guten Gebräuche und Werte der Mexikaner verstoße, die in diesen Momenten bekräftigt werden sollen” (zitiert nach González Ruiz 2001). Was die konservativen Gruppen so störte, war – wie schon mehr als ein Jahrhundert zuvor im Prozess um Madame Bovary – nicht nur die außereheliche Beziehung der Protagonistin sondern insbesondere die Erzählperspektive, die die Handlung aus der Sicht der Protagonistin zu erzählen schien (ibidem). 64 Monsiváis hat in einem noch zu veröffentlichenden Essay ein veritables Dossier zum Kreuzzug der Kirchenvertreter gegen den Film zusammengestellt (Monsiváis o.D.). Zu einer Besprechung des Films siehe auch Carro (2003).

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schirm, er vermischte zugleich Elemente von O crime do padre Amaro mit denen eines anderen Romans von Eça de Queirós, nämlich von Os Maias (1888). Os Maias erzählt eine Inzestgeschichte, die Liebe zweier Geschwister, die von ihrer Verwandtschaft lange nichts wissen. Denn die Frau, in die sich Gabriel in Tentaciones verliebt, Julia, ist in Wirklichkeit seine Schwester. Die Mexikanische Bischofskonferenz sprach sich gegen die Telenovela aus und eine Laiengruppe, die sich „Damas de blanco“ nannte, schaltete eine Anzeigenkampagne in den mexikanischen Tageszeitungen, in der sie den sozialen Sittenverfall anprangerte und gegen die Serie mobil machte (Costa 2000: 74-76).65 Was der literarische Realismus bereits Ende des 19. Jh. leistete, dafür brauchen die audiovisuellen Medien über ein Jahrhundert länger? Eine Betrachtung des Falles auf rein textueller Ebene mag zu solch einer Schlussfolgerung führen. Wo aber die Literatur aufgrund ihres soziokulturellen Inseldaseins nie die Möglichkeit hatte, ihre realistischen/naturalistischen Enthüllungen gesellschaftlicher Missstände einem breiten Publikum zugänglich zu machen, da können erst der Film und vor allem das Fernsehen „Tabus brechen“ bzw. modernisieren. Sie wiederholen daher nicht, was die Literatur vermeintlich längst vorweg nahm. Der Widerstand derjenigen, die sich zur Rettung der moralischen Integrität der Gesellschaft berufen fühlen, wird nun umso heftiger auf den Plan gerufen, weil insbesondere das Fernsehen keine Rücksichten auf soziale Grenzen sowie Schichtungen nimmt, keine spezifischen Bildungskompetenzen voraussetzt und (mittlerweile) fast alle Haushalte in ihrem Intimbezirk erreicht. Man könnte – fast wie die Retter der Werte – annehmen, dass die Mehrheit der Zuschauer auf die Zerstörung traditioneller Weltbilder medial kaum vorbereitet war. Dass dies im Grunde ein Trugschluss ist, wird noch zu zeigen sein. Die Empörung über den televisionären Realismus verkennt zudem das mediale Geschehen als einen stimulusresponse-Mechanismus. Das Ausmaß der Aufregung zeigt jedoch, wie schwach die innergesellschaftliche Auseinandersetzung über Werte und Wirklichkeit bislang war, und welche soziale Funktion der Telenovela – als Leitgattung – hierbei zukommt. Die Fälle machen jedoch auf die Eigenart der Modernisierung aufmerksam, die sich auf der Grundlage von Spielfilm und Telenovela vollzieht. Sie lässt sich mit dem angedeuteten Reiz-ReaktionsSchema nicht erfassen, verweist nichtsdestotrotz auf den gezielten Reiz-Charakter dieses Realismus. Die hier angesprochene Modernisierung der Werte ist eine andere als die des realistischen Romans. Der literarische Realismus schrieb gegen die gesellschaftszersetzende Verführungsmacht der (romantischen) Literatur selbst an. Insbesondere der Telenovela-Realismus verdankt seine Bannkraft jedoch nicht nur seiner scheinbaren Spiegelfunktion sondern seiner skopophilen Schlüsselloch-Simulation.66 Die ungleiche Verbindung 65 Siehe hierzu auch González Ruiz (2001). Edgar González Ruiz verweist zudem auf die Unión Nacional de Padres de Familia und ihre Versuche, aufgrund des drohenden Zöllibatbruches ein Verbot von Tentaciones zu erreichen. Zu den einzelnen Telenovelas siehe Alma latina. 66 So präsentierte TV Azteca beispielsweise Mirada de mujer nicht nur als herzzerreißenden „Spiegel“ sondern explizit als „Schlüsselloch“: „Das ist Mirada de Mujer. Eine intime Geschichte, bei der niemand von uns die Gelegenheite hatte, durch das »Schlüsselloch« zu sehen. Mirada de Mujer ist anders, ist aktuell, ist zerreißend wie es

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Nichts ist so alt wie die Telenovela von gestern

von Spielfilmrealismus und voyeuristischem Telenovela-Dispositiv entfesseln Schau- und Hörtriebe, die der realistische Roman – ähnlich wie der postrealistische Film – reflexiv untergräbt. Abschließend hinzuzufügen ist, dass dieser Telenovela-Realismus zwar von TV Azteca ausgestrahlt, aber nicht produziert wurde. TV Azteca beauftragte die unabhängige Produktionsfirma Argos mit der Aufnahme dieser Telenovelas. Der Kriegsreporter Epigmenio Ibarra und der ehemalige Betreiber eines Revolutionssenders Hernán Vera taten sich nach ihrer Rückkehr aus dem Bürgerkrieg von El Salvador mit dem ehemaligen Direktor der Tageszeitung La Jornada, Carlos Payán, zusammen und gründeten Argos. Es ging ihnen zunächst darum (Kittler hätte hieran seine Freude), in die Praxis umzusetzen, „was uns der Krieg gelehrt hatte, die Art des Sehens, die uns der Krieg beigebracht hatte“ und die „sehr zurückgebliebene, sehr anachronistische“ Form des Fernsehjournalismus in Mexiko aufzubrechen. Damit ist die Bewegung nicht nur der Bilder sondern auch der Kamera gemeint, die nicht mehr souverän das Geschehen einfängt, sondern sich diesem unterwirft. Die so eingefangene Bewegung sollte durch eine linear ordnende Bildermontage im Anschluss nicht aufgehoben werden. Ihrem Ansatz liegt mit anderen Worten die Auffassung zugrunde, dass „Realität“ primär ein „ästhetisches“ Problem darstellt (Ibarra 2000: 115). Nach mehreren Dokumentarfilmen und journalistischen Beiträgen u.a. über den Konflikt in Chiapas und Subcomandante Marcos beauftragte sie Ricardo Salinas, der Präsident von TV Azteca, einen Entwurf für eine Krimiserie zu fertigen. Als Salinas diesen las, habe er geantwortet: „Das ist sehr gut, aber macht eine Telenovela daraus“ (zitiert nach Ibarra 2000: 118). So übertrugen sie ihren periodismo de conflicto, ihren Konfliktjournalismus, auf die Telenovela, denn in einem Land, in dem „niemand liest“, ist diese Gattung die einzige, die „Millionen von Menschen versammelt“.67 Im Vergleich zum Film gelte die Telenovela zwar als minderwertig, aber sie habe ganz andere Möglichkeiten: Sie werde von sehr viel mehr Menschen gesehen und biete die Chance, die Menschen zu bilden und zu fördern sowie Dinge zu bewegen.68 Das Modell, das ihnen für eine solche engagierte Telenovela vorschwebte, war die „brasilianische“ Telenovela von Rede Globo mit der „Natürlichkeit der Schauspieler, dem Realismus der Regie, der Beleuchtung, dem Mangel an Make-up, der Kraft nur ein Spiegel sein kann“ („Esto es Mirada de Mujer. Una historia íntima que ninguno de nosotros había tenido la oportunidad de mirar desde el »ojo de la cerradura«. Mirada de Mujer es distinta, es actual, es lacerante como sólo puede serlo un espejo.“) (Lange Zeit war dieser Werbetext der Serie auf der Homepage von TV Azteca [http://www.tvazteca.com/] aufzurufen, so noch Ende 2006. Mittlerweile findet er sich auf Fanseiten wie http://argosnovelas.tripod.com/miradademujer/, zuletzt aufgesucht: 04.05.2010). 67 „En México nadie lee; en México la gente se nutre de lo que ve en la televisión; la educación sentimental de nuestra gente se produce en televisión; la televisión está en todas partes. Tenemos que incorporar buenos escritores, buenos actores, buenos directores para la realización de telenovelas. ¿Por qué?, porque es el único género que convoca a millones de personas“ (Ibarra 2000: 118). 68 „Pero además una telenovela es un camino ideal para hacer película, es un método de aprendizaje, es una forma de promocionar a la gente, de llegar a lo más profundo, de entrar en el lado de la actuación“ (Ibarra 2000: 119).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

der Geschichten“ (ibidem). Dabei geht es darum, das Fernsehen „ernst zu nehmen“, als sei es Kino. Auch hier ist das Ziel, das Land mittels des kinematografischen Realismus im Fernsehen sich selbst nahe zu bringen: „Wir wollen ein Fernsehen, das sich unterscheidet, denn ein Land unterscheidet sich nicht, wenn es kein Fernsehen besitzt, das anders ist.“69 In einem Land, dem nur das Fernsehen zur allgemeinen Bildung zur Verfügung steht, müsse das Medium nun seine Verantwortung übernehmen und dürfe die Menschen nicht weiter zugunsten eigenen Profitstrebens vernachlässigen. Also: Fernsehen dient nicht der Flucht aus der „Realität“ sondern soll deren Spiegel sein – ein „Spiegel um zu sehen, was im Land geschieht“ (120-121). Selbstredend ist die Frage, welche „Wirklichkeiten“ mit dieser Art von (kriegerischem) Realismus „gespiegelt“ bzw. konstituiert werden. Vorläufig festzuhalten ist jedoch der gewaltige Modernisierungsdrang, der durch die Zertrümmerung der paternalistischen Traumwelten aus Pappe freigesetzt wird. Dieser Modernisierungsanspruch manifestiert sich insbesondere im Respekt gegenüber dem Publikum. Nach vierzig Jahren werden die Zuschauer nicht mehr als Realitätsflüchtlinge angesehen, denen man egal was vorsetzen kann: „Wir wollen den Menschen sagen, dass wir davon ausgehen, dass die Menschen nicht von Prinzen auf weißen Pferden träumen.“70 Nun sollen die Zuschauer ernst genommen und ein Fernsehen gemacht werden, dass sie gerne sehen, aber das sie „verdienen“ (127). 1999 endet jedoch die Zusammenarbeit zwischen Argos und TV Azteca. Der Sender schwenkt komplett auf das Televisa-Modell ein und produziert alle Serien selbst. Die Brasilianisierung der Telenovela war nur eine Episode. Argos beliefert nun bis 2006 den spanischsprachigen US-Sender Telemundo mit einer Reihe von series und Telenovelas. Vereinbarungen mit anderen Medienunternehmen in und außerhalb Mexikos folgen. Pläne eines eigenen Fernsehkanals (Canal 46) innerhalb des Anbieters von Kabelfernsehen Cablevisión (ein Unternehmen von Televisa) scheitern 2002. 2008 arbeitet Argos wieder mit TV Azteca zusammen und produziert drei Telenovelas, die jedoch nicht an den brasilianischen Ansätzen der neunziger Jahre anknüpfen.71 TV Azteca hat Abstand davon genommen, Televisa durch alternative Telenovelas die Stirn zu bieten. Der (Doppel-)Sender bekräftigt das lateinamerikanische Fernsehmodell, nationale bzw. eigene Produktionen dem Programmimport zu bevorzugen. Dies bedeutet in erster Linie, das Programm v.a. im horario estelar auf selbst produzierte Telenovela auszurichten. Nach Aussagen von Salinas Pliego ist das wichtigste Anliegen von TV Azteca, „Telenovelas in großen Mengen zu produzieren und sie in Mexiko und in der Welt zu verteilen“ (Salinas Pliego, zitiert nach Hernández Lomelí 2007b: 135). Als TV Azteca 1993 an den Start ging, kam das TV-Unternehmen auf eine Einschaltquote von 6%. 1997, als Mirada de mujer ausgestrahlt wurde, kletterte die Quote auf 35%. Seitdem, so Hernández Lomelí, liegt sie bei ca. 30% (134). 69 „Queremos hacer una televisión distinta porque un país distinto no lo es si no tiene una televisión diferente“ (Ibarra 2000: 119). 70 „Le queremos decir a la gente que partimos del principio de que la gente no sueña con príncipes en caballos blancos“ (Ibarra 2000: 126). 71 Siehe die Selbstdarstellung von Argos im Internet unter http://www.argoscomunicacion.com/, zuletzt aufgesucht: 05.05.2010.

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7. Produktion: Nichts ist so billig wie eine Telenovela

7.1 Die Telenovela, das unausweichliche Genre Der brasilianische Sender TV Manchete beabsichtigte zunächst bei Aufnahme seines Betriebs Anfang der achtziger Jahre, auf die Telenovela zu verzichten. Schnell holte er jedoch die Gattung ins Programm, um auf dem Fernsehmarkt bestehen zu können. Das Beispiel macht die „Unausweichlichkeit“ des Genres deutlich. Fernsehen in Brasilien war zumindest noch in den achtziger Jahren ohne die Telenovela nicht realisierbar (Ortiz/Ramos 1991: 112). Gleiches gilt auch für das mexikanische Fernsehen, wie das Beispiel der beiden staatlichen Sender von Imevisión zeigt, die auf Werbeeinnahmen angewiesen waren. Aus der Sicht der Sendeanstalten ist der Grund hierfür völlig klar: Keine Gattung ist so beliebt – und keine ist so rentabel (112). Die Anfangsinvestitionen sind sehr hoch, aber bereits nach wenigen Wochen1 sind die Kosten eingeholt – für die gesamte Serie. D.h. nach etwa drei Monaten wirft die Gattung nur noch Gewinn ab. Der ist hoch, wenn bedacht wird, dass eine Telenovela ebenso in Brasilien sechs bis acht, in Mexiko bis zu zehn Monate lang gesendet wird. Diese Erzähldauer verdankt sich allein dem Rentabilitätsdenken der Fernsehunternehmer (Xexéo 1996: 97). Die Informationen über die Produktionskosten gehen deutlich auseinander. In Bezug auf Globos Telenovelas gehen Ortiz/Ramos für Ende der achtziger Jahre von US$ 10.000 bis 15.000 pro Kapitel aus. Caparelli/Santos und Elisabeth Braunschweig geben dagegen für Mitte der achtziger Jahre Ziffern an, die doppelt so hoch sind: US$ 20.000 bis 30.000 (Caparelli/Santos 2002: 97 und Braunschweig 1995: 79). José Marques de Melo veranschlagt US$ 105.000 je Episode (Melo 1988: 30). Diesen Betrag setzen Caparelli/Santos erst für das Jahr 2000 an – sie gehen von einem Anstieg der Produktionskosten pro Kapitel bis zu diesem Jahr auf eine Größenordnung zwischen US$ 80.000 und US$ 100.000 aus (Caparelli/Santos 2002: 97).2 Im Grunde kann nicht überraschen, dass die Zahlen auseinandergehen, da zum Einen der Sender kaum ein Interesse daran haben wird, sich in die Bücher sehen zu lassen. Zum Anderen sind die Serien nicht alle gleich teuer sondern 1

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Nach Ortiz/Ramos zahlt sich eine Telenovela in Brasilien nach zwei Monaten Laufzeit aus, nach Xexéo benötigt eine Serie dazu drei Monate (Ortiz/Ramos 1991: 115, Xexéo 1996: 97). Orozco geht noch 2007 von dieser Größenordnung von Globos Kosten pro Kapitel aus (Orozco 2007b: 146).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

unterscheiden sich – je nach Sendeplatz – in ihrem Produktionsaufwand. Außerdem ist unklar, auf welcher Bemessungsgrundlage die Zahlen zustande kommen (was ist das spezifische Budget einer Serie – was ist an den laufenden Fixkosten des Senders anteilig?). Wie dem auch sei, Konsens herrscht darüber, dass sich eine Telenovela nach ca. drei Monaten bereits auszahle. Hierzu geben Ortiz/Ramos genauere Angaben: 1988 kosteten 30 Sekunden Werbung während eines Werbeblocks der novela das oito bei Globo US$ 19.800. Wenn man bedenkt, dass jedes Kapitel insgesamt mit bis ca. 15 Minuten Werbung durchsetzt ist, dann kommt auf der Grundlage des von Ortiz/Ramos angegebenen Tarifs eine Summe von knapp US$ 600.000 zusammen. Auch bei Produktionskosten von ca. US$ 100.000 wäre das immer noch das Sechsfache. Dazu kommt das product placing bei TV Globo, das nicht nur die Regel ist sondern sich zudem immer weiter ausgebreitet hat. Die Schleichwerbung ist ein riesiges Geschäft: eine halbe Minute Schleichwerbung kostet bis zu 30% mehr als eine ganze Minute offene Werbung im Werbeblock. Nach offiziellen Angaben des Unternehmens wurden in einer novela von Globo in den achtziger Jahren insgesamt 120 bis 130 product placements durchgeführt, also ungefähr eine Schleichwerbung pro Kapitel. Tatsächlich waren es sehr viel mehr. Das bedeutet, dass die Werbung, die ein Kapitel verpackt, um ein Vielfaches teurer ist als das Kapitel selbst. Eigenproduktionen können nur Bestand haben, wenn sie sehr profitabel sind. Ansonsten werden sie von den Importserien aus den USA (und Mexiko) verdrängt, denn diese sind extrem billig: Sie kosteten Ende der achtziger Jahre pro Episode zwischen US$ 6.000 und 10.000 pro Episode. Diese Preise beziehen sich nur auf Brasilien. In Mexiko lagen sie bei US$ 3000 bis 5000 für dasselbe Kapitel.3 Zu solchen Preisen können einheimische Sendungen nicht produziert werden, und das ist auch der Zweck der Dumping-Preispolitik. Der einzige Ausweg ist ein hochrentables Produkt wie die Telenovela, die zudem für höhere Einschaltquoten sorgt als die enlatados (Ortiz/Ramos 1991: 114-117). Everett Rogers und Livia Antola bezeichnen das Genre denn auch als eine „lateinamerikanische Erfolgsgeschichte“, die die Übermacht der US-amerikanischen TV-Produktion in ihre Schranken gewiesen habe (Rogers/Antola 1985). Die oben zitierten Angaben über Kosten und Preise sind zweifelsohne veraltet und schwanken stark. Jedoch kommt es für die vorliegende Argumentation in dieser Hinsicht nicht auf Genauigkeit an, sondern auf die Relation Kosten – Einnahmen. Unklar sind ebenfalls die Angaben über die Kostenstruktur bei Televisa. Melo nimmt an, dass Televisas Telenovelas vierzehnmal billiger sind als die von TV Globo (Melo 1988: 30). Wie Jorge González schreibt, kostete ein Televisa-Kapitel 1987 US$ 7.500 (González 1998: 38). Klindworth beziffert die Produktionskosten pro Kapitel für 1991 mit umgerechnet DM 27.000, also in etwa US$ 18.000 (Klindworth 1995a: 79). Für Braunschweig liegen die Kosten Televisas pro Episode 1991 zwischen $US 10.000 und 14.000 (Braunschweig 1995: 80). Gomez jedoch geht für die 2000er Jahre von Kapitelkosten in Höhe von US$ 70.000 aus. Bei TV Azteca lägen die Ausgaben jedoch bei US$ 40.000 pro Folge (Orozco 2007b: 147). Der Vergleich mit den Kosten von Globo wird auch dadurch erschwert, dass ein TelevisaKapitel in den achtziger Jahren meist 30 Minuten dauerte, während die 3

In Peru fielen sie auf US$ 990 bis 1200 (Ortiz/Ramos 1991: 116).

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Globo-Episoden zu dieser Zeit schon 45 Minuten lang waren. Erst Anfang der neunziger Jahre stellte Televisa auf einstündige Telenovelas um (die jedoch aufgrund der Werbeunterbrechung wie bei TV Globo nur auf maximal 45 Minuten kommen) (vgl. Klindworth 1995a: 66). Televisa ist bekannt dafür, seine Zahlen gegenüber der Öffentlichkeit unter Verschluss zu halten (Fernández 1994: 8), daher können genaue Angaben über die Kosten-Einnahme-Beziehung kaum erwartet werden. Angesichts der Tatsache, dass der Konzern Anfang der neunziger Jahre 80% des gesamten TV-Werbebudgets des Landes vereinnahmte (6), wird deutlich, dass die Rentabilität von Televisas Telenovelas ähnlich hoch ist wie die von TV Globo, wenn nicht noch höher.4 Wie hoch die Zahlen im Einzelnen auch tatsächlich sein mögen – festzuhalten bleibt, dass Televisas Produktionskosten weit unter denen von TV Globo liegen. Beide Produktionsmodelle sind jedoch extrem rentabel. Der Vollständigkeit halber sei zudem darauf hingewiesen, dass sich der Ertrag der Telenovelas mit den Werbeeinnahmen noch nicht erschöpft. Eine erfolgreiche Telenovela erwirtschaftet einschließlich der Reprisen einen dreifachen Gewinn im Inland und spielt zusätzlich einen dreifachen Betrag der Produktionskosten im Ausland ein. Mirada de mujer, z.B. ist auf einen Produktzyklus von zwölf Jahren ausgerichtet und wird in dieser Zeit etliche Male wiederholt (Ibarra 2000: 128-129). Wie schon ausgeführt, ist Televisa schon in den sechziger Jahren dazu übergangen, die Telenovelas systematisch in Hispanoamerika und in den USA zu vermarkten. Globo folgte erst Mitte der siebziger Jahre und begann, die portugiesischsprachigen Märkte in Portugal und im lusophonen Afrika zu erobern. Dann wurden die Serien nach Hispanoamerika exportiert, wobei sich insbesondere Argentinien und Mexiko als schwer zugängliche Märkte erwiesen. In Mexiko wurde die erste Telenovela von Globo erst 1987 ausgestrahlt, ohne großen Erfolg (Melo 1988: 41). Ab den achtziger Jahren waren Globos Telenovelas jedoch auch insbesondere in Italien sehr erfolgreich,5 ebenso wie in damaligen Ostblockländern wie Sowjetunion, Polen, Jugoslawien und in China. 2001 exportierte TV Globo Serien in 130 verschiedene Länder (Caparelli/Santos 2002: 96; Braunschweig 1995: 80; Melo 1988: 39-48; Ortiz/Ramos 1991: 118-119). Televisa ist TV Globo im Export jedoch mit seiner strategischen Ausrichtung auf Hispanoamerika und die USA überlegen und erzielte 2000 fast einen vierfachen Exportgewinn (US$ 138 Millionen) gegenüber TV Globo (mit US$ 35 Millionen) (Caparelli/Santos 2002: 97). Für 2005 geht Hernández Lomelí von einem Televisa-Gesamterlös von über drei Milliarden US-Dollar aus (Hernández Lomelí 2007b: 135). Angesichts dieser Gewinnmarge erklärt sich, weshalb die Sender die Produktion frühzeitig vertikalisierten, riesige Studioanlagen bauten und die ‚Melkkuh‘ nicht an unabhängige Produktionsfirmen aus der Hand geben, um auf diese Weise über die gesamte Vermarktungs4

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Wie Gomez schreibt, kostete in den 2000er Jahren ein Spot von 20 Sekunden im horario estelar zwischen 21 und 22 Uhr bei einer Televisa-Telenovela knapp 350.000 mexikanische Pesos. Bei drei Werbeblöcken à je 20 Spots errechnet der Fernsehwissenschaftler einen Erlös von ca. 20 Millionen mexikanischen Pesos pro Kapitel einer solchen Serie. Das macht fast zwei Millionen US-Dollar (Gómez 2007b: 147-148). TV Globos Versuch, 1985 mittels des Kaufs von TV Montecarlo auf dem italienischen Markt Fuß zu fassen, wurde neun Jahre später unter hohen Verlusten aufgegeben. Siehe hierzu Caparelli/Santos (2002: 95-96).

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kette der Gattung zu verfügen. Bei TV Globo brachten sie Anfang der neunziger Jahre 40% des Gewinns ein. Als Folge der Vertikalisierung produziert Globo 80% seines Programms selbst, die großen US-networks dagegen tun dies nur zu 20% (Braunschweig 1995: 67-68). Televisa ist weltweit der größte Produzent spanischsprachiger Fernsehprogramme (Hernández Lomelí 2007b: 136). 2005 produzierte das Unternehmen 63% aller Sendungen, die es auf seinen verschiedenen Sendern ausstrahlte. Das Programm vom Quotenführer Canal 2 produzierte Televisa fast vollständig selbst (Orozco/ Hernández/Huizar 2007: 42).

7.2 TV Globo: die Fiktion der Autorschaft Warum Globo so viel mehr Geld für seine Telenovelas ausgibt, scheint klar: Der padrão Globo de qualidade hat seinen Preis. Der Fernsehrealismus ist aufwendig. Dazu gehört nicht nur eine Vielzahl von Außenaufnahmen, die sich mittlerweile auch zunehmend in Televisas Telenovelas finden. Dazu gehört zunächst ein höherer Kreativitätsanspruch an das Personal, insbesondere an die Drehbuchautoren und an die Schauspieler. Während Televisa, wie noch ausgeführt wird, meist nur Texte adaptiert, also Vorlagen (ältere Telenovelas oder Filme) übernimmt und anpasst, werden die Drehbücher bei TV Globo meist (nicht immer) neu geschrieben. Die Anforderungen an das Drehbuch sind enorm, da die Geschichte wesentlich über den Erfolg der Serie entscheidet. Aus diesem Grund kommt den Drehbuchautoren eine besondere Bedeutung im Produktionsprozess zu. Unbestritten ist, dass sie auf „Formeln“ zurückgreifen, d.h. auf das Erzählschema des Melodramas mit seinem Affektappell. Dieses Erzählschema muss jedoch immer wieder neu mit „brasilianischen“ Themen kombiniert werden. Zudem besteht die Handlung nicht nur aus der Interaktion der Protagonisten mit ein paar Nebenfiguren sondern aus einer Multiplotstruktur, in der mehrere Handlungsstränge parallel verlaufen, die sich untereinander abwechseln, so dass es sein kann, dass manche Nebenplots den Hauptplot längere Zeit verdrängen. Dies ist deshalb wichtig, weil die Serie über etwa sechs bis acht Monate lang die Aufmerksamkeit des Publikums halten und daher abwechslungsreich sein muss. Nur wenige Autoren sind trotz des narrativen Schematismus in der Lage, diesen Anforderungen nachzukommen. Globo hält daher die anerkanntesten Drehbuchautoren unter Vertrag, unabhängig davon, ob sie an einem konkreten Drehbuch arbeiten oder nicht. Tatsächlich haben die Autoren den größten kreativen Spielraum in der sehr engen Produktionsschablone der Telenovelas. Sie haben am ehesten die Möglichkeit, in der industrialisierten Fertigungslinie dem Serienprodukt der Serie schöpferische Originalität einzuhauchen. Ortiz/Ramos beschreiben die Versuche von Globos Autoren, ihren Text vor der Standardisierung der Produktionsmaschinerie zu bewahren, etwa, wie Walter George Durst es tat, das Skript bis in die letzten Details auszuformulieren, um die Produktion weitestmöglich festzulegen. Mit derartigen Strategien versuchen sie, der „Depersonalisierung“ der industriellen Fertigung zu entgehen und so ihre individuelle Autorschaft zu bewahren (Ortiz/Ramos 1991: 168169).

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Der Vergleich zu Televisas Produktionsprozess, in dem der Autor völlig verschwindet, und der Produzent die entscheidende Figur ist, zeigt jedoch, dass die herausragende Bedeutung des Autors Teil des Systems, bzw. des „Qualitätsstandards“ ist. Es ist geradezu die Aufgabe des Autors, das Produkt in ein Werk zu verwandeln, es mit Originalitätsmarkern auszustatten und so dem Eindruck der Rationalisierung der Produktion entgegenzuwirken. Dem entspricht das Marketing des Senders, der seine Telenovelas als „Werke“ von bestimmten Autoren anpreist. Ein Beispiel unter vielen ist die von Juli 2006 bis März 2007 ausgestrahlte novela das oito, die sich als „novela de Manoel Carlos“ präsentiert.6 Manoel Carlos erscheint als Autor der Serie im weiteren Sinne, also nicht nur als Drehbuchautor sondern als Schöpfer eines Werkes, das sich übrigens Páginas da vida nennt (Seiten des Lebens, wobei mit „Seiten“ „Buchseiten“ gemeint sind). Páginas da vida ist „von Manoel Carlos“. „Geschrieben“ wurden ihre insgesamt 203 Kapitel aber „von Manoel Carlos und Fausto Galvão“, wie aus den credits in zweiter Zeile hervorgeht. Globos Rede von der Autorschaft rückt die Telenovela in die Nähe der Literatur (oder in die des Theaters) und beansprucht damit kulturellen, wenn nicht gar künstlerischen Gehalt. Globos Telenovelas inszenieren sich als Text, der zu Deutungen einlädt und dessen szenische Umsetzung ästhetische Erlebnisse vermitteln. Sie sollen Aussagen zu bestimmten gesellschaftlichen Themen machen bzw. Probleme diskutieren, wie z.B. die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen Gebrechen in Páginas da vida. Hier geht es um Zwillinge, deren alleinstehende Mutter bei der Geburt stirbt, und von denen ein Kind mit dem Down-Syndrom auf die Welt kommt. Die Großmutter will dieses Baby nicht, gibt es zur Adoption frei, und erklärt nach außen, es habe die Geburt nicht überlebt. Außerdem kommen Figuren vor, die unter Anorexie oder Aids leiden.7 Die Telenovela als Roman über Schatten- und Sonnenseiten des Lebens nimmt in Anspruch, die Rolle der Literatur im 19. Jh. als großes Sittengemälde der Gesellschaft zu übernehmen.8 Genau genommen, 6

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Mit „Uma novela de Manoel Carlos“ beginnt die Eröffnungssequenz der Serie, noch bevor die Namen der Hauptdarsteller erscheinen, auf die alle anderen folgen (siehe das vídeo de abertura auf YouTube (http://www.youtube.com/watch?v=_otv3SrZMlQ, zuletzt aufgesucht: 22.05.2010). Auch die credits auf der Homepage der Serie beginnen mit „Uma novela de Manoel Carlos“ http://paginasdavida.globo.com/Novela/Paginasdavida/0,,IA0-5683,00.html, zuletzt aufgesucht 22.05.2010). Siehe die „Synopse“ von Páginas da vida auf dem Telenovela-Portal teledramaturgia (http://www.teledramaturgia.com.br/paginass.htm, zuletzt aufgesucht 22.05.2010). Siehe auch die offizielle Hompage der Serie (http://paginasdavida.globo.com/, zuletzt aufgesucht 22.05.2010), die nicht nur stage- und backstage-Informationen bietet, sondern auch zu Debatten über „Deficiência, preconceito e discriminação“ („Körperliche Behinderung, Vorurteil und Diskriminierung“) auffordern. Der Roman als komplexes Abbild der Gesellschaft, so beispielsweise fordert ihn 1870 Benito Pérez Galdós in Spanien. Für ihn bildet der „große Roman“ einen „vielgestaltigen und vielfältigen Körper“, der zugleich „vollständig, gegliedert und einheitlich ist, wie die Gesellschaft selbst“ (Galdós 1972: 124). Zeitgleich schrieb übrigens auch Machado de Assis, der als einer der bedeutendsten brasilianischen Schriftsteller gilt. Er wird meist dem Realismus zugerechnet, was, wie die neuere Forschung zeigt, der Komplexität seiner Schreibweise nicht gerecht wird (vgl. Krause o.D.). Wie dem auch sei, symptomatisch für das oben angedeutete literarische Begehren der Telenovela ist

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

reklamiert sie die gesellschaftliche Rolle, die die Literatur in Brasilien nie hatte. Sie suggeriert den Zuschauern zu lesen, wenn sie fernsehen. Im Sinne der Autorschaft knüpft die „brasilianische“ Telenovela an die Literatur (d.h. an den realistischen Roman) an und nicht an das Kino, das in seinem künstlerischen Anspruch den Regisseur als schöpferisches Zentrum stilisiert. Der Telenovela-Regisseur ist dem Drehbuchautor nachgeordnet und genießt einen sehr viel geringeren gestalterischen Spielraum. Zum Einen hat er nur einen sehr begrenzten Einfluss auf das Drehbuch, zum Anderen lässt der rapide Produktionsprozess, wie noch zu sehen sein wird, kaum Freiraum für individuelle Akzente.9 Der Aspekt des literarisch-kinematografisch-televisionären Realismus’ wird noch zu problematisieren sein. An dieser Stelle soll lediglich angemerkt werden, dass das, was man eine mediale Sehnsucht nach dem Anderen bezeichnen könnte, der brasilianischen Telenovela zutiefst zu eigen ist. In ihr meldet sich der Anspruch, anstelle von Literatur und Film zu sprechen und die sozialen Funktionen zu übernehmen, die ihnen ihr postkoloniales Inseldasein verwehrt. Diese Ambivalenz, zugleich Literatur und Film sein zu wollen, macht umso deutlicher, dass die Telenovela weder das Eine noch das Andere ist (und sich selbst dabei geradezu leugnet). Der Wunsch Literatur zu sein, ist ein Begehren nach Überwindung von Unterentwicklung, nicht nur, weil die Buchkultur für die Informationsgesellschaft und ihren vielfältigen Entwicklungspotentialen steht, sondern weil Literatur in den emergenten Gesellschaften Lateinamerikas immer auch zum sozialen Privileg gemacht wird und damit nicht nur in der Sicht der Ausgeschlossenen ein ‚besseres‘ Leben in der Mittelschicht konnotiert. Ohne Zweifel klingt hierin die literarische Tradition des Feuilletonromans an, die im Verlangen der Telenovela, ein großer (realistischer) Gesellschaftsroman zu sein, nur oberflächlich verdeckt wird. Jedoch ist die Telenovela noch nicht einmal Literatur im Sinne des Fortsetzungsromans. Das Genre und seine soziale Funktion entstehen just aus der Abwesenheit bzw. aus der Eingrenzung von Literatur. Für die Telenovela ist die Literatur der Fetisch, der den Mangel verdeckt, dem sie sich verdankt. Die Fiktion der literarischen Autorschaft ist umfassend, denn weder ist die Telenovela Literatur, noch ist im Grunde der Drehbuchautor Autor seines eigenes Drehbuches. Das Drehbuch wird längst von einer Autorenequipe verfasst, in der ein Chefautor die Gesamtidee entwickelt, aber einzelne Partien und Dialoge an untergeordnete Autoren abgibt. Daher erscheint, wie schon angemerkt, in den credits von Páginas da vida an zweiter Stelle „[novela] escrita por Manoel Carlos, Fausto Galvão“. Die Aufteilung der Schreibarbeit auf ein Team liegt am gewaltigen Schreibaufwand. Nicht nur müssen ca. 200 Kapitel mit je 38 Seiten (à 35 Zeilen) geschrieben werden, sondern dazu in einem äußerst engen Zeitrahmen. Der Produktionsbeginn, der nach der Prüfung der sogenannten

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die Bezeichnung von Manuel Carlos als der „Machado de Assis der Teledramaturgie“ durch Mauro Alencar (zitiert nach dem Bericht „Autor é o Machado de Assis da teledramaturgia, diz especialista“ vom 29.06.2006 auf http://g1.globo.com/, zuletzt aufgesucht am 26.05.2010). Für Alencar ist die Telenovela folglich Literatur – aber sie ist auch Kino, wie sein schon erwähntes Buch suggeriert (Alencar 2002). Eine Ausnahme dieser Regel ist, wie schon ausgeführt, Avancini, die sich immer auch in die Verfassung des Drehbuches einmischte.

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Nichts ist so billig wie eine Telenovela

„Synopse“, dem Exposé des Drehbuchs, einsetzt, geht dem Start der Ausstrahlung nur um ca. zwei Monate voraus (Ortiz/Ramos 1991: 134; Braunschweig 1995: 72). Der unter Vertrag stehende Chefautor legt ein Konzept für eine Telenovela vor, das von einem Expertengremium in Abstimmung mit der Konzernleitung geprüft wird. Wird es angenommen, fällt der Startschuss für die Produktionskette (Ortiz/Ramos 1991: 132; Braunschweig 1995: 69-70). Nun muss der Autor mit seinem Team das Drehbuch schreiben. Da aber die Serie schon zwei Monate später auf Sendung geht, hat er nur einen kurzen Vorsprung vor Produktion und Ausstrahlung. Das Drehbuch ist, mit anderen Worten, nicht abgeschlossen, weder vor Produktionsbeginn noch vor Ausstrahlungsstart. D.h. das Drehbuch wird noch während der Ausstrahlung weiter geschrieben. Für die Autoren bedeutet das, dass sie während sechs bis acht Monate (oder gar länger) jeden Tag ein Kapitel schreiben müssen. Für Dias Gomes ist das eher eine athletische Kraftanstrengung als ein kreativer Prozess: Das ist keine künstlerische Leistung, das ist eine sportliche Leistung. Die wichtigste Eigenschaft eines Telenovela-Autors ist seine körperliche Fitness, denn du musst neun Monate lang zwanzig Blätter pro Tag schreiben, ohne einen einzigen Tag auszusetzen, ohne Anrecht krank zu werden, zu diskutieren, Kopfweh zu haben. Man muss wirklich ein Athlet sein. Also, man muss körperlich sehr fit sein. Ein bisschen Talent hilft, aber das ist nicht wesentlich.10

7.3 StudioStudio- und Starsystem Wird das Exposé für das Drehbuch angenommen, beginnt die Vorproduktion. Während der Autor die Figuren entwickelt, beginnt der Chefregisseur mit der Organisation der Produktion. Die beiden sprechen sich ab, auch bei der Auswahl der Schauspieler sowie bei der Gestaltung der Bühnenbilder und der Kostümierung. Oftmals schreiben die Autoren Rollen für bestimmte Schauspieler oder wünschen sich die Zusammenarbeit mit bestimmten Regisseuren, jedoch ist ungewiss, ob sie sie ‚bekommen‘ (Ortiz/Ramos 1991: 137; Braunschweig 70). Sobald die Produktion beginnt, übernimmt der Chefregisseur alle Entscheidungen, und der Autor zieht sich zur Niederschrift der Kapitel zurück. Ebenso wie der Autor arbeitet auch das Produktionsteam im Akkord. Die Produktion ist wie das studio system im frühen Hollywood organisiert: Die Entscheidungsprozesse sind hierarchisiert, und der Aufnahmevorgang verläuft arbeitsteilig. Dem Chefregisseur unterstehen mehrere Regisseure, die für die Umsetzung des Textes zuständig sind. Spielraum haben sie außer den Kameraeinstellungen kaum, deshalb können sie auch kein persönliches Profil entwickeln. Aufgenommen wird nicht in chronologischer Reihenfolge son10 „Não é um feito artístico, é um feito esportivo. A maior qualidade de um autor é o preparo físico, porque você passa nove meses tendo que escrever vinte e tantas laudas por dia, sem falhar um dia, sem ter direito a ficar doente, a ter uma discussão, uma dor de cabeça. É preciso ser realmente um atleta. Então, tem que haver um grande preparo físico. Um pouquinho de talento ajuda, mas não é essencial“ (Gomes 1991: 178).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

dern nach Maßgabe optimaler Ausnutzung der Ressourcen. Das Ziel ist die Beschleunigung des Aufnahmeprozesses. Pro Woche müssen sechs Kapitel aufgenommen werden, jeden Tag also eines. Die einzelnen Szenen können nicht erarbeitet werden sondern werden höchstens viermal geprobt (Braunschweig 1995: 72). Die Frustration der Beteiligten, insbesondere der Schauspieler, bezieht sich, wie Ortiz/Ramos feststellen, nicht an sich auf das Fernsehen sondern auf die gnadenlosen Arbeitsbedingungen, die im Gegensatz zu Theater und Kino Kreativität und Reflexivität nicht zulassen (Ortiz/Ramos 1991: 156). In Beschleunigung und Zerstückelung des Aufnahmevorgangs unterscheidet sich TV Globo nicht von Televisa. Jedoch arbeiten die Schauspieler nicht mit einem apuntador. Das hat Globo immer abgelehnt. Die Schauspieler lernen ihren Text auswendig. Sie, vor allem die Hauptdarsteller, bilden – zusammen mit dem Chefautor – die herausragenden Individuen, denen der Konzern nicht zuletzt durch cross promotions in angegliederten Printmedien (z.B. die Telenovela-Zeitschrift Contigo) eine Art künstlerische Aura zu verleihen sucht. Hier geht es um ein star system nach dem Vorbild Hollywoods (Ortiz/Ramos 1991: 180-181). Der Sinn der Stars liegt im Grunde darin, den Schauspielern eine neue, bestenfalls lebenslängliche Rolle als Lichtgestalt auf den Leib zu schneidern, die in das dunkle ‚Meer‘ der Zuschauer strahlen soll. Die Stars dienen den Alltagsmenschen als Projektionsflächen für unerfüllbare Wünsche und Sehnsüchte nach Glück und Glanz. Sie ziehen individuelle und kollektive Identifikationsprozesse auf sich, wie z.B. Tarcísio Meira und Glória Meneses, die jahrzehntelang das brasilianische Traumpaar schlechthin spielten und auch in Wirklichkeit verheiratet sind, oder Regina Duarte, die Anfang der siebziger Jahre als „namoradinha do Brasil“, als „Schwarm Brasiliens“, berühmt wurde. Alle drei spielen übrigens, mittlerweile teils in hohem Alter, in Páginas da vida mit. Mit den Stars, vor allem mit den Stars, versucht das Fernsehen, Kino zu sein. Das Fernsehen produziert hier die Stars, die in den USA aus dem Kino hervorgehen und im Grenzbereich von Fiktion und Wirklichkeit einen Olymp nationaler Übermenschen konstituieren, in denen sich das Land voller Begierde spiegeln zu können vermeint. Stars sind per se Mangelware und eines der höchsten Güter des Senders. Wie die Autoren bindet TV Globo die Stars mit langfristigen Verträgen, achtet darauf, dass sie nicht zu häufig auf dem Bildschirm erscheinen, bezahlt sie auch, wenn sie pausieren und verhindert vor allem, dass sie vor die Kameras der Konkurrenz treten (Ortiz/Ramos 1991: 138).

7.4 Filmischer Realismus Auch Televisa sucht über die Abkürzung des star systems die Nähe zu Hollywood. Der Konzern hat dem Telenovela-Sender Canal 2 den Beinamen „El canal de las estrellas“ gegeben. Wie in Brasilien promoten konzerneigene Fernseh- und Telenovelazeitschriften (Tele Guía, TVNotas) die hauseigenen Stars und Sternchen. TV Atzeca tut dasselbe für seine Schauspieler mit Konkurrenzheftchen (Mi Guía, TV y novelas). Wie schon ausgeführt, hält sich Televisa jedoch beim kinematografischen Realismus zurück. Der filmische Realismus, wie TV Globo und Argos ihn auf die Telenovela anwenden, ver236

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sucht den literarischen Real-Effekt videotechnisch umzusetzen und „Wirklichkeit“ ikonisch d.h. scheinbar unmittelbar zu referieren. Der Real-Effekt besteht aus der Anhäufung „unnützer Details“, die sich scheinbar dysfunktional zur Erzählung verhalten, d.h. dem Fortgang der Handlung an sich nicht dienlich sind. Diese Details haben rein beschreibenden Charakter und scheinen nichts kommunizieren zu wollen. Sie wollen nur das Reale sein, denn sie sind so kontingent und bedeutungslos wie das Reale. Wie das Reale haben sie nur den Zweck zu sein. Barthes macht jedoch deutlich, dass diese Zeichen nur scheinbar ihren Zeichencharakter unter der Ausschließung des Signifikats und unter dem Zusammenfall von Signifikant und Referent aufheben: Die „referentielle Illusion“ besteht darin, dass sie nicht denotieren sondern konnotieren – nämlich das Reale. Sie sind nicht das Reale, sie bedeuten es (Barthes 1984). Welchen Zweck hat der Real-Effekt in der Telenovela? „Brasilianische“ Details konnotieren brasilianische Wirklichkeit. Der padrão Globo de qualidade ist eine Realismus-Norm: Alles muss ‚stimmen‘, ‚echt‘ sein, um den Wahrscheinlichkeitscharakter der Darstellung zu garantieren und die Glaubwürdigkeit der Brasilianität des Abgebildeten aufrecht zu erhalten. Régis Cardoso beispielsweise erinnert daran, wie er von Boni gerügt wurde, weil er aus produktionsökonomischen Gründen auf die Aufnahme eines Details verzichtete. Es ging um einen Autounfall, der aufgrund einer Ampelschaltung zustande kam. Cardoso verzichtete auf das Bild der Ampel, weil die Figuren das Geschehen verbalisierten. Boni jedoch bestand auf der visuellen Information, die Ampel musste aufgenommen werden: „Nein, das Visuelle fehlt, es ist wichtig, dem Publikum die visuelle Information zu geben“.11 Zur Herstellung der realistischen Wahrscheinlichkeit arbeiten in der Produktion immer produtores de arte mit, deren Aufgabe es ist, auf der Grundlage spezifischer Recherchen sicherzustellen, dass die Szenen (Handlungen, Sprechweisen, Kulissen etc.) so dargestellt werden, wie sie „wirklich“ sind. Ortiz/Ramos machen darauf aufmerksam, dass der Realismus ein hohes Maß an Außenaufnahmen erfordert. So werden Realitätsmarker, beispielsweise Aufnahmen der Stadt Rio de Janeiro, in die Erzählung eingebunden. Gleichzeitig bietet die Ausgestaltung des Details bzw. die Außenaufnahmen eine hervorragende Gelegenheit, Werbeprodukte unterzubringen, etwa Supermärkte oder Autos (Ortiz/Ramos 1991: 139-140). Zu schlussfolgern ist, dass der filmische Realismus und sein Wahrscheinlichkeitsprinzip nicht nur der Brasilianisierung des Dargestellten dient. Der eigentliche Reiz dieses Realismus geht vielmehr vom Fetisch der Technik aus, auf dem er beruht. Der technische Aufwand, das Bild mit Markern brasilianischer Realität auszufüllen, ist enorm – und das fasziniert den Zuschauer und soll in ihm einen amour de la télévision wecken (vgl. Metz 1975: 53). Es ist unwichtig, ob die Zuschauer glauben, dass es sich bei den Telenovelas wirklich um Brasilien handelt, oder nicht. Womöglich werden sie auf einer ganz anderen Ebene davon überzeugt, dass das, was sie sehen, für Brasilien wahrscheinlich ist.12 Die Zuschauer reizt vielleicht insbesondere, inwieweit Globo sich bemüht, die Wirklichkeit 11 „Não, falta o visual, é importante dar ao público a informação visual“ (Boni zitiert nach Régis Cardoso 2001: 303). 12 Gemeint ist nicht zuletzt die „brasilianische“ Begeisterung über die Brasilianität der Telenovela, wie im Weiteren auszuführen sein wird.

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nachzustellen und nachzubauen. Jeder weiß, dass die meisten Szenen nicht in der ‚Wirklichkeit‘ sondern in Globos riesiger Telenovela-Stadt in Jacarepaguá bei Rio de Janeiro aufgenommen wurden. Der Reiz entsteht also im Perfektionsgrad der Re-Konstruktion. Nicht die Wirklichkeit interessiert, sondern ihre technische Suggestion.

7.5 Die Debatte um das „offene“ Drehbuch Der Autor – um die Argumentation über die Autorschaft wieder aufzugreifen – gibt mit Produktionsbeginn seinen Text aus der Hand und hat im Folgenden keinen Einfluss mehr darauf, was mit ihm geschieht. Er hat auch keine Zeit, sich darum zu kümmern. D.h., dass die Serie offensichtlich nur zum Teil von ihm hervorgebracht und geprägt wird. Nicht nur das Verfassen des Textes ist weitgehend standardisiert und arbeitsteilig organisiert, die audiovisuelle Umsetzung ist fast automatisiert. Produktionsroutinen und unzählige beschränkte Einzelbeiträge bestimmen das Ergebnis. Ein weiterer, viel diskutierter Aspekt kommt hinzu, der die Autorschaft einschränkt: Der Autor und seine Koautoren geben kein abgeschlossenes Skript ab sondern schreiben noch während Produktion und Ausstrahlung daran weiter. In der Regel haben sie einen Vorsprung von 10 bis 15 Kapiteln vor der Produktion, die wiederum einen recht kurzen Vorsprung vor der Sendung besitzt (Ortiz/Ramos 1991: 152). Schreiben, aufnehmen und senden finden gleichzeitig statt, um auf das Publikum reagieren zu können. Das bedeutet, dass die Zuschauer in gewisser Weise Einfluss auf den Verlauf der Handlungen nehmen können. Wie geschieht das? TV Globo untersucht sehr genau die Haltung des Publikums und greift dafür nicht nur auf das unabhängige Marktforschungsunternehmen IBOPE zurück sondern hat eine eigene Forschungsabteilung eingerichtet, die das Publikum in Einkommensschichten aufteilt und für jede ein möglichst genaues Vorliebenprofil erstellt. So versucht der Sender, die einzelnen Schichten möglichst präzise anzusprechen. Auf diese Profile werden die Drehbücher abgestimmt. Vor allem aber richtet die Abteilung pro Telenovela drei Gruppendiskussionen mit 200 Frauen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten aus den Großräumen Rio de Janeiro und São Paulo ein, die nach dem 18. Kapitel über den Beginn einer Serie diskutieren: über ihre Verständlichkeit, die Figuren, die Beziehungen etc. Nach dem 36. Kapitel diskutieren die Frauen über die Leistung der Schauspieler, wie die Figuren ankommen, wer mit wem..., und inwieweit Kulissen, Ton- und Lichttechnik überzeugen. Und schließlich sprechen sie nach dem 54. Kapitel darüber, wer wen heiraten, und wie die Geschichte ausgehen wird (Icaza Sanchez 2000). Diese Erhebungen können über das Schicksal einer Figur entscheiden: Sie können eine Figur aufwerten und sie weiter entfalten lassen oder sie regelrecht zum Tode verurteilen. TV Globo versucht, mit dieser Erforschung der Zuschauermeinung, den Haltungen und Vorstellungen des Publikums möglichst zu entsprechen. Dies macht den telenovelista zu einem „falschen Demiurgen“, dem selbst über seinen noch zu schreibenden Text eine vollständige Kontrolle fehlt: Aber nicht nur das Publikum schreibt mit, auch die Konzernleitung und bis Mitte der achtziger Jahre die Zensur (Campadelli 1987: 15). Zu ergänzen wären pressure groups, die auch auf den Text Ein238

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fluss zu nehmen suchen. In den Worten von Janete Clair ist das Verfassen des Telenovela-Drehbuchs ein processo do enquanto, ein beweglicher, offener „Prozess des Währenddessen“ (16). Die „Offenheit“ der Telenovela ist Gegenstand einer Forschungskontroverse. Auf der einen Seite gelten äußere Einflüsse wie Publikumsreaktionen, aktuelle öffentliche Ereignisse oder die Rollenauslegung der Schauspieler als Merkmale eines „offenes Kunstwerkes“ (Klagsbrunn 1993: 21-23). Auf der anderen Seite wird Umberto Ecos Konzept des offenen Kunstwerks, das die polysemische Struktur der Avantgardeliteratur beschreibt, als völlig unzutreffend für die Telenovelas zurückgewiesen. Dass die Serie nach und nach und unter dem Eindruck der Zuschauerreaktionen geschrieben werden, bedeute nicht, dass sie nicht einem vorher festgelegten „Schema“ gehorche. Für Laura Gomes handelt es sich bei dem Genre nicht um einen offenen sondern um einen persuasiven Diskurs. Vor allem aber stützt gerade der Einbezug des Publikums Gomes’ These, dass die Telenovelas ein „Modell sozialer Ordnung“ bilden, das der brasilianischen Gesellschaft zugrunde liegt. Aus diesem Grund sei der Handlungsverlauf letztlich vorgegeben (Gomes 1998: 21-33). Hinzuzufügen wäre, dass, wie der Werkbegriff in Frage zu stellen ist. Wie der Poststrukturalismus gezeigt hat, ist er selbst für literarische Texte irreführend. Im Kontext der Fernsehindustrie macht er überhaupt keinen Sinn. So gut auch einzelne Serien gemacht sind, sie sind in ihrer Fertigstellung das Ergebnis einer Gemeinschaftsleistung, ganz abgesehen von den industrialisierten Produktionsroutinen und von der Anknüpfung an die Vor-Gabe der Gattung. Gomes’ Argument, dass die Telenovela von einem in der kollektiven Psyche verankerten Skript mitgeschrieben und festgelegt wird, ist interessant. Aber schon auf der sehr viel bescheideneren Ebene der Gattungsanalyse macht die Vorstellung der Telenovela als offenes Werk keinen Sinn. Jede Serie entspricht dem Anknüpfungskontext der Gattung, jede Serie ist zwangsläufig eine Telenovela. Dies bedeutet nicht, wie zu zeigen ist, dass einzelne Serien einen interessanten Spielraum ausloten. Tatsächlich schließt die Publikumsbeteiligung – wenn sie tatsächlich so stattfindet, wie Globos Marketing dies behauptet – die Vieldeutigkeit der Erzählung, indem die Interpretation einer mehrheitlichen Zuschauergruppe das Interpretierte festschreibt und damit abweichende Deutungen und Erzählungen ausschließt. Braunschweig berichtet von der Serie O dono do mundo, die so, wie der Autor Gilberto Braga sie Anfang der neunziger Jahre angelegt hatte, im Konzern, bei der Kritik und den oberen Einkommensschichten sehr gut ankam, von den unteren Schichten aber abgelehnt wurde, und deshalb ab dem 30. Kapitel umgeschrieben werden musste. Braunschweig macht auch darauf aufmerksam, dass die Meinung, die sich in solchen Publikumsreaktionen kundtut, durch verschiedene Faktoren selbst gelenkt ist. Zu diesen Faktoren macht die Autorin nur wenige Angaben und erwähnt lediglich die cross promotion der Telenovela in Printmedien und im Radio und deren Projektionen zu möglichen Handlungsverläufen (Braunschweig 1995: 75-77). Stärker als die Lenkung der Zuschauermeinung durch die Printmedien erscheint die Tatsache, dass die Zuschauer die Gattung kennen. Sie wissen, wie eine Serie ausgeht. Die „Offenheit“ des Drehbuchs bestätigt, dass die Gattung in den Zuschauern stattfindet. Die Gattung schließt das Drehbuch. Einzelelemente (insbesondere einzelne Figuren und einzelne Plots) können jedoch, das wird in nachfolgenden Kapi239

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teln gezeigt, durch die Publikumsbeteiligung beeinflusst werden. Der Sinn der Rede des „offenen“ Drehbuchs ist offensichtlich, die imaginative Mit-Erzählung der Zuschauer zu steigern und sie in die Erzählung hineinzusaugen. Der padrão Globo de qualidade ist zwar ein „Qualitätsstandard“, aber er ist v.a. ein Produktionsstandard, der sicherstellt, dass alle Produkte seinen Vorgaben genüge leisten. Dies – „Standardisierung und Serienproduktion“ – ist just das Merkmal der Kulturindustrie, wie Adorno und Horkheimer sie verstanden. Gemeint ist damit der Schematismus der Herstellung auch von Kulturgütern, die in der Folge in „Immergleichheit“ verkümmern (Horkheimer/Adorno 1998). Dass dieser Produktionsschematismus auch zwangsläufig zu einer Schematisierung von Wahrnehmung und Denken führen muss, geht jedoch offensichtlich auf ein sehr instrumentelles Verständnis von Kommunikation zurück. Eine Revision des Kommunikationsbegriffes ändert jedoch nichts am Befund der Industrialisierung der Kulturgüter. Das Ergebnis muss nicht unausweichlich die Entmündigung der Zuschauer bedeuten, aber wohl die Uniformisierung des Produkts, die die Fiktion der Autorschaft kaum entkräften kann. Rede Globos Telenovela langweilen letztlich wegen ihrer gleich bleibenden Machart. Sie sind immer technisch perfektioniert, immer „realistisch“ (gelegentlich ein wenig Fantastik und Wunderbares inbegriffen), immer ein großes Gemälde, immer schön, manchmal provozierend, niemals hässlich, immer brasilianisch usw.

7.6 Televisa: Wer hat Angst vor dem Autor? Immer mexikanisch sind Televisas Telenovelas. Sie verzichten auf den Aufwand des filmischen Realismus und auf die Fiktion der Autorschaft. Sie verzichten überhaupt auf allen Aufwand. Der Drehbuchautor spielt kaum eine Rolle. Die wichtige Figur ist bei Televisa der Produzent. Bezeichnenderweise findet sich diese Bezeichnung bei TV Globo gar nicht. Es gibt nur einen diretor geral, einen Chefregisseur, der selber die wichtigsten Kapitel, also Anfang und Ende aufnimmt, den Rest delegiert und für die Produktion insgesamt verantwortlich ist. Als Regisseur hat er als Chef der Produktion direkten Anteil an der Gestaltung. Bei Televisa nicht. Produktionschef ist der productor, der Produzent. Er trägt die Verantwortung und trifft die Entscheidungen. In der Entwicklungsgeschichte von Televisas Telenovelas tauchen keine Drehbuchautoren (und selbstredend keine Regisseure) als Gestalter des Genres auf sondern die beiden genannten Produzenten Valentín Pimstein und Ernesto Alonso. Sie sind die großen Aushängeschilder der mexikanischen Telenovela. Aber der Produzent schreibt nicht (wer tut das eigentlich bei Televisa?), er dirigiert weder Kamera noch Schauspieler (tut der Regisseur), und er montiert nicht (tut der Cutter). Er beauftragt und beaufsichtigt, kurz, er koordiniert und überwacht das Produktionsgeschehen. Überspitzt formuliert: Wenn der Produzent der ‚Kreative‘ ist, gibt es im Grunde keine ‚Kreativen‘ bei Televisa. Wie die Beispiele von Pimstein und Alonso zeigen, haben die Produzenten einigen Ermessensspielraum und setzen Akzente. Der Gestaltungsspielraum des Produzenten besteht in der Entscheidungsmacht über die Serien, für deren Herstellung er verantwortlich ist. Er kreiert nicht selbst 240

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sondern beauftragt andere mit der Kreation. In der Produktion hat er die „Macht“ (Chávez Méndez 1991: 18-19). Er untersteht direkt der Konzernleitung und verantwortet vor ihr die Herstellung der Serie. Er verwaltet das Budget, das jene der Produktion zur Verfügung stellt (44). Der Produzent ist, mit anderen Worten, der Manager der Telenovela. Im Abspann von Rosa salvaje (1986) beispielsweise erscheint schlicht als einziges: „Producción de Valentín Pimstein“ (Rosa salvaje 1986). Wenn der Produzent also als Gestalter inszeniert wird, heißt das mit anderen Worten, dass es bei Televisas Serien tatsächlich nicht um Gestaltung geht sondern um Management. Die Rückendeckung der Konzernleitung vorausgesetzt, entscheidet der Produzent, was für eine Telenovela gemacht wird. Das bedeutet, dass von ihm auch die Idee für das Drehbuch ausgeht. Wie Guadalupe Chávez Méndez in ihrer „ethnografischen Erforschung“ der Produktionsabläufe bei Televisa beobachtet, beauftragt der Produzent den Drehbuchautor mit der Herstellung eines bestimmten Skriptes. Jedenfalls war dies der Fall bei der Produktion von Morir para vivir im Jahr 1989. Hier gab die Produzentin Ana Martín den guionistas Fernanda Villeli und Edmundo Baez ein bestimmtes Skript in Auftrag. Aber es handelte sich bei diesem Auftrag nicht um einen selbständigen Text sondern, wie Chávez Méndez berichtet, um die Adaptation eines Filmdrehbuchs, das von Félix Caignet stammt (53). Tatsächlich aber hat Caignet das Filmskript nicht geschrieben sondern einen Roman, der wiederum von Agustín Delgado in das Drehbuch für den mexikanischen Film Morir para vivir (1955) umgewandelt wurde.13 Nun ist unklar, ob Villeli und Baez den Roman oder das Filmdrehbuch zur Vorlage hatten. Wie dem auch sei, die beiden werden in der Produktionskette der Serie zu bloßen Zulieferern, von denen weder die ursprüngliche Idee noch die Ausgangshandlung stammt. Sie sind keine Autoren sondern schlicht Umschreiber. Weder der Name von Villeli noch der von Baez tauchen in den credits auf, die sich im Internet zu der Telenovela finden. Hier erscheint nur Caignet mit dem Zusatz „original story“ (siehe Alma Latina aber auch IMDb). Jedenfalls bestand ihre Arbeit darin, die „zentralen Ideen“ der ursprünglichen Geschichte aufzugreifen und zusätzliche Figuren und Episoden zu erfinden, um die Handlung auf 160 Kapitel zu strecken (Chávez Méndez 1991: 53-54). Anzumerken ist, dass Morir para vivir eine Ausnahmeproduktion darstellt. Sie fällt in eine Zeit, in der Azcárraga in den USA tätig war und Alemán Velasco die Entscheidungen über die Telenovela-Produktion überließ. Dieser wollte das ästhetische Niveau der Telenovelas anheben und stattete einige Produktionen mit höherem Budget und besseren Produktionsbedingungen aus (Klindworth 1995a: 68). So erhielt das Team von Morir para vivir beispielsweise neun Monate für die Vorproduktion anstatt der sonst üblichen ein bis eineinhalb Monate (Chávez Méndez 1991: 52). Für diese Produktion wurden extra der Kinoregisseur Benjamin Cann und der Bühnenbildner Gabriel Pascal vom Instituto Nacional de Bellas Artes ange-

13 Siehe zum Film Morir para vivir den Guía cinematográfica 1955. Cine en Cuba. Online-Dokument (http://www.guije.com/cine/guia55/morir/index.htm, zuletzt aufgesucht 22.05.2010).

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stellt (Klindworth 1995a: 68). Trotz dieser Bemühungen um „Qualität“ wurde dennoch noch nicht einmal ein originelles Drehbuch geschrieben.14 Wie Hernández Jiménez und Lazo Guerra schreiben, ist die Auftragsarbeit der guionistas der Normalfall. Der Produzent tritt an die Drehbuchautoren heran.15 Dass sie selber ein Drehbuch vorschlagen, ist die Ausnahme, die hohes Ansehen und ein starkes Vertrauensverhältnis mit dem Produzenten voraussetzen (Hernández Jiménez/Lazo Guerra 1994: 48-49). In den credits der Eröffnungssequenz von Rosa salvaje beispielsweise splittert das Drehbuch in drei völlig unterschiedliche Schreibfunktionen auf: Das „argumento“ („Thema“) ist von Abel Santa Cruz, die „idea original“ („ursprüngliche Idee“) von Inés Rodana und das „libreto“ („Libretto“) von Carlos Romero (Rosa salvaje 1986). Schon die ‚barocken‘ Bezeichnungen machen deutlich: Niemand hat das Skript geschaffen. Der, der es geschrieben hat, hatte die Idee dazu nicht. Wer die Idee dazu hatte, die hatte das Thema dazu nicht. Eindeutig ist nur: „Productor: Valentín Pimstein“ (ibidem). Der Drehbuchautor Cuahtémoc Blanco bezeichnet das Drehbuch als „Auftragsprodukt“ (Blanco 1994: 86). Ein guionista muss jedoch einen Auftrag schon deshalb nicht zwangsläufig annehmen, wenn er ihm nicht zusagt, weil er von Televisa nicht angestellt wird. Er arbeitet auf Honorarbasis (Hernández Jiménez/Lazo Guerra 1994: 49). Der guionista bei Televisa hat also einen völlig anderen Status als der autor von TV Globo. Er hat auch eine gänzlich andere Aufgabe: Er soll nicht schöpferisch tätig sein und die Telenovela in Literatur verwandeln. Bei Televisa ist, mit anderen Worten, keine „Autorschaft“ gefragt. Das überrascht schon deshalb nicht, weil Pimstein – als Produktionsmanager – die mexikanischen Telenovelas frühzeitig weitgehend auf die cenicienta-Formel festlegte, die immer wieder neu aufgelegt wurde und wird. Aber wenn nicht das Aschenbrödelmärchen recycelt wird, dann sind es andere Vorlagen: Feuilletonromane, Radionovelas, Filme, historietas. Wenn das nicht hilft, gibt es ein refrito einer älteren Telenovela (vgl. Klindworth 1995a: 80). Daraus folgt, dass die Drehbucharbeit im Wesentlichen aus Anpassen und Umschreiben besteht. Dass dies weiterhin Programm bei Televisa ist, zeigt die „superproducción“, die von Juli 2006 bis Januar 2007 auf Canal 2 um 21 Uhr gesendet wurde. Mundo de fieras (Welt der Raubtiere) erscheint als Adaptation einer „Originalgeschichte“ von Ligia Lezama, Marissa Garrido, Alberto Migré und Liliana Abud, so die Präsentation auf der Homepage.16 Hinter die14 Als Azcárraga die Zügel von Televisa nach seiner Rückkehr wieder in die Hand nahm, machte er die Budgeterhöhungen wieder rückgängig, weil der Gewinn zurückgegangen sei (Klindworth 1995a: 79). 15 Klindworth berichtet demgegenüber, dass die Produzenten nur bis Ende der achtziger Jahre die Drehbücher aussuchen konnten. Seitdem liege die Entscheidung bei der Abteilung „Recursos literarios“, der Textprüfung. Nun beauftrage diese Abteilung das Verfassen von Skripten in Absprache mit der Konzernleitung (Klindworth 1995a: 80). Anzunehmen ist, dass, wie Klindworth einräumt, die Regelung in Televisa uneinheitlich ist, dass Produzenten mit mehr Erfahrung und Rückhalt in der Konzernspitze (insbesondere Alonso und Pimstein, die noch über das Jahr 2000 hinaus aktiv waren) mehr Spielraum haben als jüngere. 16 Auf http://www.esmas.com/mundodefieras/produccion/, zuletzt aufgesucht 22.05. 2010.

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ser kuriosen Angabe verbirgt sich in Wirklichkeit eine „mezcolanza“, ein wilder Mix drei verschiedener Vorlagen, in der das venezolanische Original Mundo de fieras (1971) von Ligia Lezama mit Pasión y poder (1989) von der Mexikanerin Marissa Garrido und Rolando Rivas Taxista (1972) vom argentinischen Altmeister Alberto Migré unter Federführung von Liliana Abud vermischt wird.17 Von Televisas Ableger in den USA, Univisión, auf dem Mundo de fieras gute zwei Monate später angelaufen war (am 03.10.06), wird der Produzent Salvador Mejía als Gestalter der Serie dargestellt.18 Sehr originell ist die Geschichte jedenfalls nicht, denn sie handelt von den beiden Zwillingen Gabriel und Demián, die früh voneinander getrennt wurden. Gabriel, der Gute, ist in reichen Verhältnissen aufgewachsen, und Demián, der Böse, in ärmlichen. Wegen seiner Benachteiligung durch das Schicksal hasst der Böse den Guten und versucht, ihn zu zerstören. Wie schurkisch Demián ist, zeigt seine schwarze Augenklappe, die schon das Biest Catalina Creel in Cuna de los lobos (Höhle der Wölfe) (1986/1987) trug. Als ob das nicht reichte, verfolgt ein Trio verführerischer Schurkinnen – Joselyn, Miriam und Karen – alle, die Liebe und Glück suchen. Was ist das Besondere an dieser Serie? Gemäß offizieller Darstellung, das Immergleiche: Ein Plot voller fantastischer Wendungen und Geheimnisse, die nach und nach enthüllt werden, wird Zuschauer unterschiedlicher Generationen begeistern. „Mundo de Fieras“ wird sein Publikum in eine Welt tauchen, in der die Grausamkeit und der Hass von allen Richtungen aus angreifen. Gebannt wird das Publikum sehen, wie die Liebe kämpft, die Dunkelheit zu durchqueren und schließlich ans Licht zu gelangen.19

Es scheint geradezu, als ob Televisa um jeden Preis vermeide, originelle Geschichten zu erzählen. Sehr viel stärker als bei den brasilianischen Telenovelas ist das Skript bei Televisa der standardisierten Serienproduktion der Telenovelas unterworfen. Die Rationalisierung des Herstellungsprozesses und die Schablonisierung des Serienproduktes Serie sind kaum zu übertreffen. 17 Siehe La Vanguardia vom 08.20.2006 (auf http://foro.telenovela-world.com/~diane/ mundodefieras/News.HTM, zuletzt aufgesucht: 22.05.2010). 18 „Unter der Leitung von Salvador Mejía Alejandre, dem herausragenden Chefproduzenten von großen Erfolgen wie »La madrasta«, »Inocente de ti« und »Mariana de la noche«, bricht »Mundo de fieras« mit den Schemata innerhalb des populären Formats der Telenovela.“ („Bajo la dirección de Salvador Mejía Alejandre, el destacado productor ejecutivo de grandes éxitos como »La madrastra«, »Inocente de ti« y »Mariana de la noche«, »Mundo de fieras« rompe esquemas dentro del popular formato de las novelas“) (http://www.univision.net/corp/es/pr/Miami_270920062.html, zuletzt aufgesucht 22.05.2010). 19 „Con una trama llena de giros fascinantes y secretos que van revelándose, la cual atraerá a televidentes de varias generaciones, »Mundo de fieras« sumergirá a su audiencia en un mundo donde la crueldad y el odio atacan desde todas las direcciones y la mantendrá cautivada viendo cómo el amor lucha por atravesar la oscuridad y finalmente salir a la luz“ (http://www.univision.net/corp/es/pr/Miami_27092006 2.html, zuletzt aufgesucht 22.05.2010). Einblicke in die Handlung der Serie bietet die „sinopsis“ auf ihrer Homepage von Canal 2 (http://www.esmas.com/mundodefieras/ sinopsis/, zuletzt aufgesucht 22.05.2010).

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Woher kommt aber diese fast systematische Eliminierung kreativer Restbestände im Produktionsablauf? Bestimmend ist zunächst die monopolistische Kostenaversion der Konzernführung. Außerdem gibt es zumindest noch in den neunziger Jahren eine staatliche Zensur, die die Bevölkerung vor „Aufrufen zur Gewalt, Anstiftung zu Verbrechen oder der Apologie von Lastern, sprach- und sittenverfremdenden Inhalten, Panikmache, Anregung zu Nikotin- und Alkoholgenuß“ bewahrt (zitiert nach Klindworth 1995a: 54). Schließlich kommt Televisas Selbstzensur hinzu, die auf den konservativen Moralismus der dueños zurückgeht, und das Unternehmen durchdringt. An erster Stelle steht hier die Apologie der „mexikanischen Familie“ als Grundlage nationaler Einheit, die Themen wie Homosexualität und Abtreibung auf den Index setzt. Auf den Index kommt des weiteren alles, was die soziale Hierarchie in Frage stellt.20 Exekutiert wird die Zensur durch Entlassung der betreffenden Mitarbeiter. Dies kann ohne Rücksicht auf Verluste auch populäre Sendungmachende treffen und führt zur vorsorglichen Anpassung vieler Mitarbeiter an die Ideologie der Konzernspitze (86-88). Dies verschärft die ohnehin engen narrativen Grenzen des melodrama-a-la-mexicana. Für Cauhtémoc Blanco beispielsweise bedeutet das Verfassen eines TelenovelaDrehbuchs, mit einer Reihe von „Beschränkungen“ umgehen zu müssen. Die „wahrhaftige Kreativität“ liege gar darin, mit den „Beschränkungen“ bestmöglich zurechtzukommen.21 Er bezieht dies auf die Rahmenbedingungen des Genres, die eine Liebesgeschichte unabdingbar machen. Blanco verweist jedoch insbesondere auf das Gebot, die »öffentliche Moral« zu wahren: In diesem Sinn weißt du, dass die Geschichte von vorneherein und grundsätzlich eine Liebesgeschichte sein muss; dass sie das respektieren muss, was, selbst wenn es sehr heikel und seltsam klingen mag, die „öffentliche Moral“ ist, du darfst sie nicht verletzen; du weißt, du musst dich in bezug auf die Sprache mäßigen, du musst dich mäßigen in bezug auf Fragen, die dieser Moral entgegenstehen.22

Gesetzt werden diese „Grenzen“ von zwei Seiten: vom Produzenten und von der Dirección de Recursos Literarios, der Abteilung für Textkontrolle (wörtlich: Leitung für literarische Ressourcen). Sie bestimmen über das Drehbuch. 20 Klindworth berichtet beispielsweise von einem Telenovelaprojekt bei Televisa über AIDS, das von internationalen Organisationen in Auftrag gegeben wurde. Es begann 1990 und stellte Homosexualität und Bisexualität als selbstverständliche Lebensformen sowie eine an AIDS erkrankte Hausfrau dar. „Die Produktion wurde eingestellt“. Die Autorin schildert auch den Fall der Serie Quinceañera (1988), in der ein Bankangestellter Geld raubt, das er dringend benötigt. Jedoch durfte nicht erwähnt werden, dass ihm die Bank zuvor einen Kredit verweigerte. Stattdessen musste persönliches Versagen der Figur als Erklärung für die Tat herhalten (Klindworth 1995a: 86). 21 „La creatividad verdadera consiste en poder bailar mejor dentro de estas limitaciones“ (Blanco 1994: 90). 22 „En este sentido, sabes que de antemano es una historia fundamentalmente amorosa; que tiene que respetar lo que, aunque suene muy escabroso y extraño, es la »moral pública«, no puedes agredirla; sabes que no puedes excederte en el lenguaje, no puedes excederte en cuestiones que atenten en contra de esta moral“ (Blanco 1994: 87).

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Nichts ist so billig wie eine Telenovela

Wie Blanco betont, genießt insbesondere der Produzent „absolute Macht darüber, was produziert wird.“ Das bedeutet, der Drehbuchautor hat im Produktionsprozess überhaupt kein Stimmrecht. Der Produzent kann mit dem Skript machen, was er will: Wenn er [der Produzent] Lust hat, kann er sich in die Geschichte einmischen, kann sie verändern, kann sie kürzen, verlängern usw., oder er kann sie auch respektieren. Er kann auf ihr herumtanzen, er kann sie ausspucken oder streicheln. Das hängt vom Produzenten ab und inwieweit ihm die Geschichte gefällt, wie verständnisvoll er ist.23

Es gibt eine Menge Formeln und Vorlagen, aber es gibt kein sicheres Rezept für den Erfolg einer Serie. Aus rentabilitätsorientierten wie aus ideologischen Gründen vertraut Televisa nicht im Mindesten der kreativen Kraft des Erzählens sondern setzt ausschließlich auf den Produzenten und sein Gespür. Die Ansichten darüber, was erfolgversprechend ist, gehen, wie Klindworth aufzeigt, völlig auseinander (Klindworth 1995a: 72). Als sicherste Methode gilt daher: Bewährtes wiederholen. Die Produzenten interessieren sich dabei nur eingeschränkt für das Publikum. Die Dirección de Recursos Literarios misst die Einschaltquoten und führt Publikumsbefragungen durch, deren Ergebnisse den Produzenten zugeführt werden. Sie versuchen so in erster Linie herauszubekommen, worauf das Publikum am Stärksten anspricht. Allerdings wird die Zuschauerbefragung nicht systematisch wie bei TV Globo durchgeführt. Televisa hat keine eigene Abteilung für diesen Zweck. Mit spezifischen Forschungen werden externe Institute beauftragt (71-72). Die Zuschauerbefragung steht nicht im Mittelpunkt, weil die Produktion vor Sendebeginn in den meisten Fällen abgeschlossen ist. Nur Pimstein führte die Produktion zeitnah an die Ausstrahlung heran und betrieb intensive Publikumsforschungen, um auf Neigungen der Zuschauer reagieren zu können (90). Dass ein Produzent das Drehbuch gegenüber den Reaktionen des Publikums öffnet, die anderen aber nicht, veranschaulicht, dass Televisa offensichtlich über keine einheitliche Linie verfügt, wie sie ihre Telenovelas an den Zuschauer ausrichten soll. Dem Anschein nach überlässt sie dies den persönlichen Kriterien der Produzenten. Die bewegen sich innerhalb des bewährten Formenpools. Im Grunde lässt sich diese sehr anspruchslose Strategie auf die Grundhaltung zurückführen, dass die Zuschauer für Televisa eigentlich kein Geheimnis darstellen sondern immer schon durchschaut werden als Elende, denen Trost gespendet wird. Vor so einem Publikum muss man sich nicht fragen, was es will, sondern wie man es am Besten (und Billigsten) erlöst. Eine universale Richtlinie gibt die Konzernleitung daher neben dem cenicienta-Schema aus: „hübsche Gesichter“. Als Voraussetzung für den Erfolg wird das Aussehen der Schauspieler gesehen. Die Besetzung der Hauptrollen ist Chefsache: sie muss „zu 100%“ von der Unternehmensspitze genehmigt werden. Oftmals stehen die Hauptdarsteller schon vor dem Verfassen des Drehbuchs fest. Dabei handelt es sich in der Regel um junge Personen, die 23 „Si se le da la gana [al productor], puede meterse con la historia, puede modificarla, acortarla, alargarla, etc. o respetarla. Puede bailar encima de ella, puede escupirla o acariciarla. Depende del productor y qué tanto le guste la historia, qué tan comprensivo sea“ (Blanco 1994: 91).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

gar keine Schauspieler sondern im Moment sehr populär sein müssen (69). Auch dem Diktat des hübschen Gesichts also ordnet sich das Drehbuch unter, das unter diesen Umständen lediglich dazu dient, Publikumslieblinge oder Schönheiten zur Schau zu stellen. Dabei handelt es sich oft um Sänger und Sängerinnen. Gesangs- und Schönheitswettbewerbe sind für Televisa auch eine gute Gelegenheit, um nach neuen Sternchen zu fahnden. Verónica Castro wurde z.B. auf diese Weise entdeckt. Eine andere oft genutzte Möglichkeit, in das Ensemble aufgenommen zu werden, sind Beziehungen. Auf das schauspielerische Talent und Können kommt es weniger an. Seit Mitte der achtziger Jahre verfolgt Televisa die Zielvorgabe, zumindest 15% des Ensembles mit professionellen Schauspielern zu besetzen (75-76).24 Das Schauspielern ist auch deshalb nicht so wichtig, weil Televisa systematisch mit dem apuntador arbeitet. Er beschleunigt die Akkordarbeit der Produktion nicht nur erheblich. Mit ihm entfallen meist auch die Proben, so dass auf Anhieb aufgenommen werden kann. Über das Hörgerät flüstert der „encargado del apuntador“, der Souffleur, nicht nur den Text ein sondern auch die Bewegungsabläufe. Zwischen den Szenen erhalten sie Anweisungen vom Regisseur. Oftmals haben die Schauspieler ihren Text zuvor nie gelesen (71). (Fast) das gesamte „kreative Personal“ ist für Televisa jederzeit austauschbar. Anstatt die besten Kräfte, wie Globo dies tut, möglichst langfristig an den Sender zu binden, vergibt Televisa nur zeitlich befristete Verträge. Das betrifft ebenso Schauspieler wie Regisseure und Produzenten. (Drehbuchautoren kommen, wie erwähnt, nicht einmal in den Genuss kurzfristiger Anstellungen.) So wird nicht nur der Konkurrenzdruck unter den Künstlern erhöht, sondern auch deren Abhängigkeit gegenüber dem Konzern (78-79). Zu erklären ist diese Personalpolitik nicht nur durch eine offensichtliche Geringschätzung gegenüber den Künstlern sondern auch durch eine tiefe Skepsis und Abwehrhaltung gegenüber ihrem kreativen Wirken.

24 So ist etwa eine der Hauptattraktionen von Mundo de fieras das Ensemble, das „vollgepackt ist mit Stars“ (siehe die Selbstdarstellung der Serie auf http://www.esmas.com/mundodefieras/elenco/, zuletzt aufgesucht: 22.05.2010). Gemeint sind bekannte und schicke Leute wie etwa Edith González oder die extra aus Venezuela eingeflogene Gaby Espino. Wie die politische Wochenzeitschrift Processo urteilt, findet sich in der Geschichte der Serie nichts Neues, nur das Ensemble bietet einen gewissen Anreiz (Vértiz 2006).

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8. Narration: Wer alles auf einmal erzählt, verpasst das Beste daran

8.1 Folhetim eletrônico: serielles Erzählen Im Hinblick auf Televisas Tendenz, das Immergleiche zu reproduzieren, überrascht es kaum, dass dem Fernsehen in der Regel wenig Kreativität zugetraut wird. Stattdessen wird das Medium gerne als gigantische Wiederverwertungsmaschine gesehen, die sich darauf beschränkt, zu wiederholen, was anderswo geschaffen wurde. Beatriz Sarlo beispielsweise versteht das Fernsehen als „reciclaje de géneros“, als ein Gattungsrecycling. Das verheißt nichts Gutes, denn das Fernsehen schnappt alles auf, macht alles gleich und entwertet es. Selbst das Bild geht in der grenzenlosen und allgegenwärtigen Televisualisierung der Kultur verloren (Sarlo 1994). Eine solche Kulturkritik des Fernsehens nimmt immerhin zur Kenntnis, dass das Medium Gegebenes nicht schlicht von Neuem überträgt, sorgt sich jedoch um die destruktive Wirkung der Fernsehübertragung. Meist wird dem Fernsehen nicht zugebilligt, etwas Neues zu schaffen in der Lage zu sein. Sogar für den Meister der sozialkritischen Telenovela in Brasilien, Dias Gomes, hat das Fernsehen nichts hervorgebracht, was das Radio nicht schon vorweggenommen hätte: „Das Fernsehen hat gar nichts erfunden. Es gab Radionovelas, Sondersendungen, Shows, Humorsendungen, Radionachrichten. Selbst heute noch ist all das, was wir im Fernsehen sehen, im Radio schon da gewesen.“1 Die Telenovela ist demnach die Fortsetzung der Radionovela. Andere sehen die Telenovela als Neuauflage des Feuilletonromans. Die Auffassung ist so weit verbreitet, dass sich das – etwas abwertende – Synonym des folhetim eletrônico, des elektronischen Feuilletonromans, in Brasilien eingebürgert hat (Campadelli 1987: 20). Gemeint ist die Serialisierung des Melodramas, die die Telenovela (ebenso wie die Radionovela) dem Feuilletonroman verdankt. Der Feuilletonroman ist die Gattung, die das literarische Erzählen mit industriellen Produktionsformen vereinbart und es in ein Massenprodukt verwandelt. In der Folge wird es zum Organisationsprinzip der Massenkultur, auf das alle Massenmedien (Typografie, Kino, Hörfunk, Fernsehen, Internet) in ihren Gattungen zurückgreifen (Hayward 1997: 1-3). Dabei erfindet der Fortsetzungsroman das serielle Prinzip nicht, das schon Urformen des Erzählens strukturiert, wie 1

„A TV não inventou nada. Havia novelas, especiais, shows, humorísticos, radiojornais. Ainda hoje, aliás, tudo que a gente vê na televisão existiu no rádio“ (Gomes 2001: 91).

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z.B. Tausendundeine Nacht. Werner Faulstich bezeichnet das Serielle gar als ein Produktionsprinzip der Kunst allgemein, das sich auch in nicht-narrativen Künsten wie etwa in der seriellen Musik findet, die das begrenzte Tonmaterial variierend aufeinander folgen lässt. Auch die Lyrik weist in der wiederholenden Anordnung lautlichen Materials serielle Merkmale auf. Zugleich ist das Serielle Inbegriff der Industrialisierung mit dem Übergang von der Manufaktur zur maschinellen Serienproduktion. Das Serielle greift jedoch über die Produktionsweise hinaus auf die Industriegesellschaft selbst über und beschreibt deren Lebensweisen, die von alltagsbildenden, wiederkehrenden Abläufen gekennzeichnet sind (vgl. Faulstich 1994: 49-50). Was hat es mit der seriellen Erzählweise auf sich? Sie kennzeichnet sich durch regelmäßiges Abbrechen und Wiederkehren des Erzählens, durch die Wiedererkennbarkeit des Erzählten und durch die Abhängigkeit der Einzelfolgen von einem Gesamtzusammenhang (Giesenfeld 1994: 2). Entscheidend ist, dass Serialität nicht nur das Erzählen, den Aussagevorgang, organisiert sondern auch den Rezeptionsvorgang. Das bedeutet, dass Serialität die Rezeption zeitlich an/ordnet und insofern auf ein entsprechendes mediales Dispositiv angewiesen ist. Sie koppelt nicht nur Aussage- und Rezeptionsvorgang, wie alle Rundfunk- und Aufführmedien es tun. Vielmehr setzt sie diese Koppelung voraus, um den Lektürevorgang abzubrechen und ihn in der Folgeausgabe wieder aufzunehmen. Alles Erzählen bzw. Rezipieren ist ein Vorgang, ein Ablauf, eine Inanspruchnahme von Zeit. Serielles Erzählen jedoch kombiniert Erzählzeit mit Nicht-Erzählzeit, es führt Aussage- und Rezeptionspausen in den Vollzug des Erzählens/Rezipierens ein. Es unterbricht, schiebt auf, vertagt. Das Eigentümliche am seriellen Erzählen ist jedoch, dass es in gewissem Maße auch die aussagefreie Zeit beansprucht. Serialität macht die Erzählpause zu einer eigenartigen Zwischen-Zeit. Diese Zwischen-Zeit suspendiert den Erzählvorgang vorübergehend, kann sich jedoch nicht völlig gegen ihn abschotten und lässt sich von ihm in Abwesenheit kontaminieren. Im Ergebnis wird das Erzählen in jener Zwischen-Zeit zwar angehalten, aber es ruht nicht vollständig. Ohne, dass erzählt wird, setzt sich ein Rezeptionsvorgang fort. Das Rezipieren in der Erzählpause ist ein sonderbares NichtRezipieren, das selber erzählt. In der Zwischen-Zeit der Aussagepause wandelt sich das Lesen in Erzählen, indem es auf der Ebene der Projektion die Erzählung fortspinnt. Zumindest ist dies eine Möglichkeit, die der Serialität innewohnt. Der Fortsetzungsroman des 19. Jh. ist ein literarisches Phänomen, das rezeptionsästhetisches Interesse weckt. Wolfgang Iser fragte sich beispielsweise, warum das Lesepublikum jener Zeit oftmals die Fortsetzungsform eines Romans seiner Buchform unabhängig von ökonomischen Vorteilen vorzog. Seine Antwort ist, dass der Fortsetzungsroman besondere „Leerstellen“ produziert und die Leser in spezieller Weise aktiviert. Er bezieht sich darauf, dass Serialität nicht nur den Aussagevorgang organisiert sondern auch in die Aussage eingreift. Sie unterbricht den Aussagevorgang nicht nur, sondern seine Unterbrechung setzt Spannungsmomente der Aussage voraus. Dadurch, dass den Lesern Informationen über Fortgang der Erzählung vorenthalten werden, entsteht ein Suspense-Effekt, der sie in ihrer Erwartung auf die Fortsetzung der Erzählung zu eigenen Vorstellungen über deren Fortführung anregt. Die Leser werden auf diese Weise zu Mitautoren. Das Ziel des seriellen Erzählens ist, die Leser zu eigenen „Kompositionsleistungen“ anzustiften. 248

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Dazu stehen ihr neben dem Suspense-Effekt weitere Mittel zur Verfügung wie die Einführung neuer Personen und neuer Handlungsstränge, die den Leser vor die Frage stellen, wie die bisher erzählte Geschichte mit den neuen Elementen zusammengeht. Der „Reiz“ der Fortsetzungslektüre besteht also darin, „unausformulierte Anschlüsse selber herzustellen“. Aus diesem Grund, so Iser, entfaltet der Fortsetzungsroman eine eigentümliche „Suggestivwirkung“, derzufolge der Feuilletonroman einen „anderen Eindruck“ als der Buchroman hinterlässt (Iser 1994: 236-237). Trotz textueller Identität differieren die beiden Romanformen. Ihre Differenz ist medial zu fassen bzw. auf ihre unterschiedliche mediale Performanz zurückzuführen. Die Einführung jener Zwischen-Zeit, in der sich Narration und Rezeption vermengen, ist das, was Schäffauer in bezug auf die Telenovela als „Ästhetik in der Zeit“ bezeichnet, die der „Ästhetik der Zeit“ des (Buch-)Romans gegenübersteht (Schäffauer o.D.: 321-325). Die „Extension in der Zeit“ (322) hat der Erzählvorgang der Telenovela vom Feuilletonroman übernommen. Bei TV Globo währt die Erzähldauer einer Serie bis zu acht Monaten. Das bedeutet, dass eine Geschichte in über 190 Kapiteln erzählt werden muss.2 Televisa sendet seit den achtziger Jahren Telenovelas mit 140 bis 200 Kapiteln, was zwischen sieben und zehn Monate dauert (Klindworth 1995b: 9293).3 Zu beachten ist, dass Globos Telenovelas auch den Samstag in Anspruch nehmen, also an sechs Tagen in der Woche ausgestrahlt werden, während Televisa den Zuschauern Samstag und Sonntag Telenovelafrei gibt. Wie schon ausgeführt, ist das televisionäre Dispositiv aufgrund seines Programmcharakters auf Serialität ausgerichtet. Anders ausgedrückt, wird die mediale Performanz der Telenovela u.a. in ihrer seriellen Erzählweise kenntlich. Nicht zuletzt die Rede von der „Unausweichlichkeit“ der Telenovela verweist auf die gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium. Das Medium bzw. sein kommerzieller Betrieb ist für die Dauer des Erzählvorgangs der Telenovela verantwortlich: Nach drei Monaten wirft die Serie nur noch Gewinn ab, aber nach sechs Monaten verlieren die Zuschauer das Interesse. Eine Reihe grundlegender Konsequenzen folgen hieraus für die TelenovelaNarration: Die mediale Dehnung des Erzählvorgangs bläht die Aussage auf: In etwa 190 Kapitel (oder mehr) à 45 Minuten müssen erzählt werden, das macht zusammengerechnet (mind.) 142,5 Stunden oder fast sechs volle Tage. Tausende Scriptseiten müssen verfasst werden. Dass die Aussage 189 Mal unterbrochen wird, ist auch ein Problem für den scriptwriter. Er muss die Narration in 190 Episoden parzellieren, die je mit einem Schnitt enden, damit der Rezeptionsvorgang auch in der Unterbrechung nicht aussetzt und am Folgeabend neu einsetzen kann. Die 190 Erzählfragmente müssen auf eine Weise miteinander verknüpft werden, dass das Ende einer Episode die Zuschauererwartung auf die Folgeepisode weckt. Dieser Suspense-Effekt wird durch die Verbindung von Spannungsaufbau und Schnitt erzielt, auch cliff hanger oder gancho genannt. Die Erzählung kann also nicht einfach nach 45 Minuten aussetzen sondern muss auf ihren Fortgang neugierig machen. Besonders intensiv muss der Suspense-Effekt am Ende des Freitagskapitels 2 3

Dies ist z.B. der Fall von Por amor (1997-1998), die im Folgenden untersucht wird. Mundo de fieras beispielsweise ist auf eine Länge von 200 Kapiteln angelegt, so der Produzent Mejía Alejandre (Mejía Alejandre 2006). Allerdings sind die Kapitel nur eine halbe Stunde lang.

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(Televisa) oder des Samstagskapitels (TV Globo) sein, so dass die Zuschauer (in der Fantasie der Telenovela-Macher) dem Montagabend entgegenfiebern, wenn es endlich wieder weitergeht mit der Telenovela. Damit jedoch nicht genug: Nicht nur die werktäglichen Kapitel fragmentieren die Erzählung. Sie zerfällt auch kapitelintern in vier Einzelsegmente. Diese werden durch die drei Werbeblöcke voneinander getrennt, die jede Episode unterbrechen. Damit die Zuschauer ‚dranbleiben‘, muss jedes Kapitel segmentiert und mit internen cliff hangers durchsetzt werden. Im Endeffekt muss die Erzählung insgesamt auf drei verschiedenen Erzählzeit-Ebenen parzelliert bzw. mit Erwartungsspannung durchzogen werden: auf der kapitelübergreifenden Ebene der Ausstrahlungswoche, auf dem Episoden-Niveau des Einzelkapitels und auf der kapitelinternen Ebene des Segments (vgl. Campadelli 1987: 21). Darüber hinaus muss ein Gesamtspannungsbogen die Erzählung als Ganze überwölben. Wie aber so lange und so viel zusammenhängend erzählen? Dies ist die größte Herausforderung an die Drehbuchautoren. Nach 60 Kapiteln sind die Geschichten in der Regel erzählt (21-22). Wie dann mehr als dreimal so lange weitermachen? Hierzu gibt es einige Strategien: Zunächst wird das zu Erzählende erzählend ständig hinausgeschoben und verzögert. Dazu ist Füllstoff nötig, den Redundanzen und Wiederholungen liefern können (TelevisaModell). Als Alternative bietet sich an, die Handlung aufzusplitten in eine Haupthandlung und eine Reihe von Nebenhandlungen (Globo-Modell). Daraus entsteht ein komplexes Handlungsgeflecht verschiedener Plots, die parallel nebeneinander herlaufen, sich berühren, überlappen, wieder trennen usw. In dieser Multiplotstruktur wechseln sich die Einzelplots ab, so dass die Haupthandlung nicht selten tagelang von den Bildschirmen verschwindet, und die Nebenhandlungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Das bedeutet, dass die Erzählung von einer Vielzahl von Figuren bevölkert wird. Bei Globo sind es mindestens um die vierzig (je nach Autor unterschiedlich), dazu kommen zig Statisten. Die Homepage von Páginas da vida zählt beispielsweise 84 Figuren namentlich auf, die die Serie bevölkern.4 Der Realismus von Globos Telenovelas erfordert ein derart großes Figurenarsenal, um möglichst viele Themen und gesellschaftliche Aspekte aufgreifen zu können. Zugleich darf die Unterhaltung entsprechend dem „Qualitätsstandard“ nicht langweilig werden, weswegen sich die Autoren so viele Parallelgeschichten wie möglich einfallen lassen müssen. Erwartungsgemäß sind die Anforderungen an den guión bei Televisa auch in dieser Hinsicht weniger ambitioniert. Das Ensemble von Mundo de fieras besteht aus weniger als halb so vielen Figuren, d.h. aus 37 Charakteren.5 Wie lang die Serienerzählung auch ist, aufgrund des schematischen Handlungsmusters sowie der Gattungskompetenz der Zuschauer hat niemand im Publikum Zweifel am Ausgang der Serie: Egal was, es endet immer glücklich. Das bedeutet, dass es in der Erzählung nicht um das Was sondern nur um das Wie gehen kann. Daher muss das Erzählmuster beständig variiert werden. Weil das alles trotzdem nur wenig hilft, und nach drei Monaten alles 4 5

Auf http://paginasdavida.globo.com/Novela/Paginasdavida/0,,5756,00.html, zuletzt aufgesucht: 26.05.2010. Siehe http://www.esmas.com/mundodefieras/elenco/, zuletzt aufgesucht: 26.05. 2010.

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erzählt ist, hat sich Janete Clair folgende Lösung einfallen lassen: Bis zum 80. Kapitel mussten alle Konflikte gelöst werden. Ab dem 81. Kapitel waren ihrer Ansicht nach – so stellt es ihr Biograf Arthur Xexéo dar – völlig neue Konflikte zu erfinden, was praktisch auf eine neue Telenovela hinauslief (Xexéo 1996: 97). Wie wird die Mono- bzw. Multiplotstruktur jedoch konkret umgesetzt? Hierzu sei auf zwei Beispiele verwiesen, auf Televisas Rosa Salvaje (Die wilde Rose) und auf Globos Por amor (Aus Liebe). Rosa Salvaje wurde von Juli 1987 bis März 1988 ausgestrahlt, und kam auf 199 Episoden. Por amor wurde zehn Jahre später vom 03.10.1997 bis zum 23.05.1998 in 190 Kapiteln gesendet. Rosa salvaje ist eine Produktion von Valentín Pimstein. Sie entspricht der cenicienta-Formel und gilt als eine der erfolgreichsten mexikanischen Telenovelas im In- und Ausland überhaupt (Terán 2000: 35).6 Por amor erscheint im Kontext der vorliegenden vergleichenden Untersuchung nicht zuletzt deshalb als interessant, weil sie unmittelbar in die fernsehkulturelle Debatte um die mexicanização platziert und seitens der Kritik als „dramalhão“, als „Appell an die traditionelle Formel der telenovela latina“ verrissen wurde.7 Wie noch zu zeigen sein wird, spiegelt sich diese Debatte in der Serie selbst wieder. „Autor“ von Por amor ist Manoel Carlos, der auch Páginas da vida „schrieb“.

8.2 Rosa salvaje und die Monoplotstruktur Rosa salvaje erzählt, wie bereits angedeutet, die Geschichte der ungebildeten, ungenierten und selbstbewussten Rosa aus einer ciudad perdida, einem Armenviertel einer unbestimmten Großstadt. Ihre Welt besteht aus dem einfachen Häuschen ihrer Pflegemutter Tomasa und aus den Jungs des Viertels, mit denen sie Fußball spielt und allerlei Lausbubenstreiche unternimmt. Sie bekommen z.B. Appetit auf die Pflaumen, die auf dem Anwesen der vornehmen Familie der Linares gedeihen. Wer die verbotenen Früchte stiehlt, ist Rosa. Und sie wird erwischt. Die beiden Schwestern Dulcina und Cándida Linares wollen sogleich die Polizei rufen, aber ihr eleganter Bruder Ricardo ist amüsiert und beeindruckt von der Unverblümtheit und Spontaneität der „Wilden“ und lässt sie anschließend laufen. Sie begegnen sich ein zweites Mal, und er lädt sie zum Essen in die Küche ein. Dafür gibt es ein flüchtiges Küsschen. Kurze Zeit später geschieht das Wunder, und Ricardo heiratet

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Rosa salvaje wurde übrigens als Die wilde Rose auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, allerdings mit halbierter Kapitelanzahl (99 Episoden). Sie wurde von November 1990 bis Mai 1991 auf RTL gezeigt und wenige Monate später auf demselben Sender wiederholt (August 1991 bis Januar 1992) Eine zweite Reprise fand von Mai bis Oktober 2008 auf Passion statt (siehe http://www.kabeleins.de/serien_shows/serienlexikon/ergebnisse/index.php/serial/details/3621, zuletzt aufgesucht: 26.05.2010). So der Aufmacher auf der Titelseite der wöchentlichen Fernsehbeilage TV Folha der sehr seriösen Tageszeitung Folha de São Paulo zum Aufakt von Por amor am 12.12.1997. „Novela latina“ heißt auch der Artikel von Mariana Scalzo über Por amor in der Beilage (Scalzo 1997).

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Rosa, nicht zuletzt um seine Schwestern zu ärgern. Für Rosa ist die Eheschließung mit dem Galan nicht der Beginn der Erfüllung aller Wünsche sondern der Auftakt zu einem fast unendlichen Martyrium. In der Villa der Linares erwarten sie die beiden giftigen Schwestern und deren Verbündete. Dies ist an erster Stelle deren Freundin Leonela Villareal, eine junge Dame aus bestem Hause. Sie beansprucht Ricardo für sich und hat hierzu die volle Unterstützung von Dulcina und Cándida. Außerdem können sie auf Leopoldina rechnen, die klatschsüchtige und missgünstige Haushälterin. (Schwachen) Beistand kann Rosa allenfalls vom verständnisvollen, ‚aber‘ querschnittsgelähmten Zwillingsbruder Ricardos, Rogelio, und vom Gärtner erwarten. Die Fraktion der Antagonistinnen machen der Heldin das Leben zur Hölle. Als sie es nicht mehr aushält, kehrt sie zu ihrem alten Heim in der ciudad perdida zurück und sucht bei Tomasa Trost. Ricardo kann sie besänftigen und zur Rückkehr in die Villa bewegen. Irgendwann läuft das Fass über, Rosa hat genug, schickt alle auf den Mond und verlässt ihn. Trotzig und kämpferisch beschließt sie, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie krempelt die Ärmel hoch und beginnt, sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen, z.B. indem sie Süßigkeiten an Autofahrer auf der Straße verkauft oder in einer cantina, einer Bar, arbeitet. Viele Kapitel später nähern sich die beiden Protagonisten wieder aneinander an, verreisen und erleben jetzt erst eine ungetrübte Liebesromanze. Lange kann das jedoch nicht gut gehen, denn Leonela schlägt zurück, spinnt eine Intrige, bringt die beiden auseinander und gewinnt den Schönling für sich: Ricardo unterschreibt nun auch die Scheidungsunterlagen, die Rosa schon viel früher unterzeichnet hatte. Die Scheidung ist rechtskräftig und Ricardo heiratet Leonela. Der Tiefpunkt ist erreicht. Während der alles dominierenden Haupthandlung, in der es zwischen den Liebenden hin und her geht, entwickeln sich nur wenige und marginale Nebenhandlungen. Deren Figuren sind zudem auf die Kernfiguren bezogen. Die einzige Nebenhandlung, die sich lange Zeit fast berührungslos parallel zum Konflikt Protagonisten – Antagonisten hinzieht, ist die der Suche der reichen Paulette nach ihrer Tochter, die sie nach ihrer Geburt weggeben musste, weil ihre Eltern die Liaison mit dem Vater des Kindes nicht billigten. Dieses Kind ist, wie sich allmählich (und nicht gerade überraschend) herausstellt, Rosa. Paulette nähert sich zwar zeitweise dem Umkreis von Rosa an – ebenso an die Linares wie an Tomasa –, aber das Drehbuch spart sich die triumphale Wiedervereinigung von wahrer, also leiblicher Mutter und Tochter für einen späten Zeitpunkt des Erzählvorgangs auf. Die Zuschauer müssen lange warten, bis sich diese beiden Handlungsstränge endlich kreuzen. Zuvor hat nach langen Quälereien und wenigen Lichtblicken zunächst das Desaster, also der Sieg der Rivalin, einzutreten. Erst danach kommt wunderbare Hilfe durch die leibliche Mutter: Sie macht aus der mittlerweile leidgeprüften, aber ungebrochenen ñera, der Proletin, eine Dame der Gesellschaft. Sie setzt sie als Erbin ein und überträgt ihr die Firmengeschäfte. Jetzt vervollständigt sich die Figur Rosa. Sie erhält, was ihr immer fehlte: Klasse. Ihre Chance kommt, als eine weitere Parallelgeschichte ihren verhängnisvollen Verlauf nimmt. Diese dreht sich um den Familienanwalt licenciado Robles. Zunächst verliebt sich Cándida in den Anwalt und wird schwanger. Heiraten will der licenciado aber unter keinen Umständen. Das deckt sich mit den Interessen von Dulcina, die Robles für sich will. Sie wird zur Furie, als sie von Cándidas Schwangerschaft erfährt und scheucht sie eines Nachts aus 252

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dem Bett durch das Haus, bis das Opfer die Treppe hinunter stürzt und das Kind verliert. Dulcina macht nun gemeinsame Sache mit Robles, heiratet ihn und überweist das Familienvermögen auf sein Konto. Dann bringt sie ihn um. Sie geht aber leer aus, weil sich herausstellt, dass ihre Ehe ungültig war. Robles war schon verheiratet gewesen, weswegen die echte Witwe das Vermögen erbt. Die Linares sind bankrott. Jetzt mündet der Nebenplot in den Hauptplot ein, denn Gläubigerin der verschuldeten Linares ist – wer sonst? – Rosa in ihrer neuen Funktion als Geschäftsfrau. Mit Großmut erlässt sie Dulcina die Schulden der Familie, verlangt aber von ihr, dass sie auf Knien um Verzeihung bittet. Weiß vor Wut tut Dulcina, was von ihr verlangt wird. Aber sie schwört Rache. Der Zuschauer kann sich auf einiges gefasst machen, zumal Dulcina erfährt, dass Rosa von Ricardo schwanger ist. Zunächst heuert sie einen Verbrecher an, der Rosa in eine Falle lockt. Die Heldin wird in einem verlassenen Haus gefangen gehalten, aber bevor Dulcina sie eigenhändig erschießen kann, lässt die gedungene Bewacherin Rosa aus Mitleid laufen. Ricardo weiß von seiner Vaterschaft nichts und hat übrigens langsam die Nase voll von der verwöhnten und kapriziösen Leonela. Er sehnt sich nach seiner ‚einfachen aber authentischen‘ Rosa und will sich wieder scheiden lassen. Muss er nicht, denn Leonela lässt sich von Dulcina anstiften, Rosa beim Verlassen der Schwangerschaftsuntersuchung mit dem Auto zu überfahren. Das gelingt zwar, aber Leonela baut im Anschluss einen Unfall und schlittert mit ihrem Wagen auf Bahngleise, auf denen sich der Wagen verkeilt. Die Erwartungen der Zuschauer werden nicht enttäuscht: Ein Güterzug kommt angerast und erfasst das Auto. Der Wagen explodiert samt Insassin. Rosa und der Embryo dagegen überleben das Attentat unbeschadet. Nachdem die Heldin das Anwesen der Linares der Robles-Witwe abkauft, um es Ricardo zu schenken, verliert Dulcina restlos den Verstand und macht Anstalten, die Villa in Brand zu setzen. Leopoldina versucht vergeblich, sie davon abzubringen. Sie versucht zu fliehen und schüttet dabei Dulcina Säure ins Gesicht. Retten kann die Haushälterin sich dadurch nicht, denn Dulcina hatte noch einen Schuss frei und tötet sie. Das Biest erhält jedoch seine Strafe: Mit einem furchtbar entstellten Gesicht und in hellem Wahnsinn wird sie in die Krankenabteilung des Frauengefängnisses eingeliefert. Jetzt steht dem Eheglück von Rosa und Ricardo endgültig nichts mehr im Wege, denn die zehn Monate Sendezeit sind um. Höchste Zeit für einen neuen Konflikt.

8.2.1 K ONZENTRISCHE F IGURENRINGE Eine Plotanalyse von Rosa salvaje ergibt zunächst eine konzentrische Figurenkonstellation: Den Kern des Handlungsgeflechts bilden die beiden Helden Rosa und Ricardo und die beiden Chef-Schurkinnen Dulcina und Leonela. Um sie herum gruppieren sich drei Figurenringe, die letztlich immer auf sie bezogen bleiben. Der erste und innerste Figurenring, der den Kern umgibt, besteht aus Paulette, Cándida, Roble, Rogelio, Linda und Tomasa. Sie stehen in unmittelbarer Interaktion mit den Kernfiguren, entwickeln jedoch zum Teil eigene Plots, die nach langer Laufzeit schließlich auf den Hauptplot einschwenken oder immer von ihm abhängig bleiben. 253

Telenovelas und kulturelle Zäsur

Der wichtigste dieser sekundären Plots ist die Tochter-Suche von Paulette, die nur deshalb vom Kernplot abgeschottet bleibt, um die Erwartung auf die Plotverschmelzung zu dehnen und zu steigern. Als nächstes ist der Robles-Plot zu nennen, der durch die Figuren immer im direkten Kontakt zur Haupthandlung steht, diese aber erst spät kreuzt, nämlich als Dulcina versucht, sich durch die Liaison mit dem Anwalt des Familienvermögens zu bemächtigen. Auf der untersten Stufe der Nebenplots findet sich der RogelioLinda-Plot. Dieser Handlungsstrang spiegelt den Hauptplot auf marginale Weise. Rogelio ist die zurückhaltende und verständnisvolle Version von Ricardo (die Figuren werden von demselben Schauspieler gespielt), Linda die nüchterne und besonnene Ausgabe von Rosa. Rogelio durchschaut angewidert das Spiel seiner Schwestern. Als Einflüsterer, Mäßiger und Vermittler von Ricardo und Rosa steht er direkt am Rand des Kernbereichs der Erzählung. Jedoch ist ihm ein gewisses Eigenleben vergönnt, wenngleich dies eine Art (fast) reibungsloses Schattengeschick der großen Helden ist. Rosas Freundin Linda aus dem suburbio wird als Krankenpflegerin für Rogelio eingestellt. Das reizt zwar den Zorn von Dulcina, die nicht noch eine pelada aus dem gemeinen Volk, noch ein Aschenbrödel im Haus ertragen will. Linda fliegt wieder aus der Villa, aber Rogelios Krankheit heilt dennoch und diese Liebe gedeiht gegen alle Widerstände. Linda ist zudem eine wichtige Helferin Rosas. Sie verschafft ihr den Job in der cantina. Sie vermittelt das entscheidende Rendezvous zwischen Rosa und Ricardo nach langer Trennung (aber vor der Scheidung). Nur gerecht, dass die Gutmenschen Linda und Rogelio – am Ende – mit der Ehe belohnt werden. Eine wichtige Figur direkt am Rand des Kerngeschehens ist Tomasa. Nach Ricardo ist sie die wichtigste Bezugsperson von Rosa (bevor Paulette in deren Leben eintritt). Trotz des privilegierten Zugangs zur Heldin muss die Figur jedoch immer matt und farblos bleiben. Ihre primäre Funktion, ist, von Rosa geliebt zu werden. Ihre eigenen Gefühle sind jedoch seltsam unscheinbar, ein Eigenleben ist ihr nicht vergönnt. Dies erklärt sich dadurch, dass sie nicht die ‚echte‘ Mutter ist. Konflikte innerhalb des ‚grünen Bereichs‘ der guten Figuren sind aber in der Telenovela nicht erwünscht. Also zeigt die Figur keine allzu starken Gefühle gegenüber Rosa, dem Ziehkind, das sie ja freudig an die reiche Übermutter abtreten muss, ohne, dass jemand damit Probleme haben könnte. Ohne Eigenleben ist außerdem die Haushälterin Leopoldina, die ständig herumspioniert, die Gespräche der Protagonisten belauscht und diese an die Antagonistinnen verrät. Der zweite Figurenring reiht sich um den zentrumsnahen ersten Kreis und liegt näher an der Peripherie als am Kerngeschehen. Er setzt sich aus Helfern, Gesprächspartnern oder Kommentatoren zusammen, die auf die Figuren des Zentrums oder des ersten Ringes bezogen sind. Zu nennen sind zunächst der Gärtner der Linares, der immer auf der Seite Rosas steht, und die Mutter von Paulette. Sie vertraut dieser kurz vor dem Tod und von Gewissensbissen geplagt, wichtige – aber nicht vollständige – Informationen über Rosa an. Auf der anderen Seite gruppiert sich eine Handvoll Figuren um Rosa. Sie kommentieren das Geschehen untereinander, geben Ratschläge. Ein Beispiel ist der Unternehmer Ángel, ein Freund von Ricardo. Auf dessen Betreiben und mit dessen Geld stellt Ángel Rosa in seinem Geschäft ein. Über ihn lässt Ricardo Rosa indirekte Unterstützung zukommen, nachdem sie sich trennen. 254

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Die Figuren des ersten Ringes sind mittlere Rollen, die des zweiten Ringes reine Nebenrollen. Die Peripherie bilden sehr kleine Nebenrollen, die nur vereinzelt, episodisch oder einmalig auftreten, und die Statisten, die schlicht Kulisse bilden. Darunter sind der Chauffeur der Linares, die Nachbarjungs in der ciudad perdida einige andere. Zusammenfassend bedeutet das, dass Kern- und Nebenhandlungen mit einem Personal von zehn Figuren auskommen. Darum reihen sich etwa gleich viele Nebenfiguren. Die Plotstruktur ist daher mehr als überschaubar und bietet kaum Abwechslung bzw. Erholung von den vielen Wendungen des Hauptkonflikts. Sie ist sehr hierarchisch und ordnet alles Handeln der Kernhandlung und ihrem Primärraum der Linares-Villa unter. Der Kernplot verästelt sich minimal in den Sekundärräumen der ciudad perdida, Leonelas Apartment u.a. Die wenigen Schauplätze strukturieren das Handlungsschema auf einfache Weise: Das Epizentrum des Konflikts ist das Linares-Haus. Ihm stehen der Tomasa-, der Paulette- und der Leonela-Raum gegenüber. Während nur die guten Figuren den Schauplatz der Armut betreten (auch der Gärtner, beispielsweise, besucht einmal Tomasa), halten sich nur die bösen in Leonelas Luxuswohnung auf. Paulettes Villa ist ein Syntheseraum, in dem auch die Reichen gut sind. Er ist die Alternative zwischen dem Gegensatz arm und reich, ein Vorbote des final feliz. Von hier aus (nicht ohne einige Male herausgerissen und schlimmen Bedrohungen ausgesetzt zu werden) startet Rosa ihren endgültigen Triumph im Linares-Schauplatz. Alle Handlungsstränge werden letztlich von den Kernfiguren und ihrem Antagonismus beherrscht, alle Schauplätze werden schließlich von ihnen besetzt. Die Räumlichkeiten bieten lediglich Gruppierungen und Ordnungen im allgegenwärtigen Dauerkonflikt. Das bedeutet, dass der Gesamtplot nicht durch Schichtungen oder Parallelschaltungen von Einzelgeschichten auf unterschiedlichen Schauplätzen den erforderlichen Erzählstoff produziert sondern von einer einzigen Handlung, die von wenigen Marginalplots gerahmt wird, und die an nur wenigen Orten stattfindet. Der Kernplot trägt folglich nicht nur die Erzählung sondern füllt sie auch fast völlig aus. Nun stellt sich die Frage, wie mit diesem einzigen Plot 199 Kapitel bestritten werden können. Dazu muss jedoch erst geklärt werden, wie der Erzählverlauf der Telenovela grundsätzlich organisiert ist.

8.2.2 D AUERERZÄHLUNG

UND

E REIGNISENTZUG

Klindworth erörtert den Gesamthandlungsaufbau der Telenovela als ein DreiPhasen-Schema. Die Erzählung konstruiert zu Beginn ein Gleichgewicht, das alsbald erschüttert wird. Darauf folgt ein langes Krisensyntagma. Kurz vor Schluss wird der Krisenzustand bewältigt und das Gleichgewicht wieder hergestellt. In der ersten Phase also werden die Grundlagen des Konflikts gelegt. Der Konflikt bricht zwischen dem dreißigsten und dem fünfzigsten Kapitel aus. In der zweiten Phase versuchen die Protagonisten, die Krise zu bewältigen, und die Antagonisten versuchen, sie zu verfestigen. Erst in der dritten Phase dreißig Kapitel vor Schluss gewinnen die Protagonisten die Oberhand (Klindworth 1995a: 116).

255

Telenovelas und kulturelle Zäsur

Ich stimme mit der Einteilung der Gesamterzählung in drei Phasen überein. Allerdings ergibt sich aus meinen Beobachtungen, dass Anfangs- und Schlussphase wesentlich kürzer sind. Im Falle von Rosa Salvaje wird der Konflikt bis ca. zum 17. Kapitel konstruiert. Dies ist der Moment der ersten Eheschließung von Rosa und Ricardo, die nur auf dem Standesamt stattfindet. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Ordnung aufgebaut, das Gleichgewicht hergestellt, in denen sich die Protagonisten finden. Jedoch ist diese Ordnung brüchig, dieses Gleichgewicht ist instabil. Sie sind nur flüchtige Erscheinungen, die schon im Augenblick ihres prekären Zustandekommens bedroht sind. Bereits der steife Empfang des Brautpaars in der Linares-Villa ist für Rosa ein Spießrutenlauf der Erniedrigungen. Der Übermacht ihrer Feindinnen ist sie bis zum 195. Kapitel nicht gewachsen, als Dulcina mit verätztem Gesicht von der Polizei abgeführt wird. Deren vom Wahnsinn befeuerter Versuch, das Haus in Brand zu stecken, ist das schaurige Finale. Es leitet den endgültigen Sieg Rosas, die zweite – diesmal kirchliche – Trauung mit Ricardo und den grandiosen Einzug in den Linares-Pallast ein. Anders gewendet, dauert im Beispiel Rosa salvaje die Vorbereitungsphase gute drei Wochen und die Auflösungsphase lediglich eine Woche. Zieht man von den 199 Kapiteln der Serie siebzehn für den Beginn und fünf für das Ende ab, bleiben 177 Kapitel für die zweite Phase. Daraus gibt sich, dass die Krise bzw. der Konflikt knapp 90% der Serie ausmachen und über fast neun von zehn Monaten andauert. Diese Beobachtung deckt sich im übrigen mit Angaben zur Telenovela von TV Globo: Bei Janete Clair beispielsweise, musste der erste Kuss des Protagonistenpaares bis zum 16. Kapitel stattfinden, sonst entwickle der Zuschauer kein Interesse für die Handlung (Xexéo 1996: 94). Die Anfangsphase bis zur Herstellung des ersten, instabilen Gleichgewichts, auf den dann das lange Krisensyntagma folgen kann, darf also nicht einmal drei Wochen dauern. Nach drei Wochen muss der Konflikt beginnen, sonst springen die Zuschauer ab bzw. gar nicht erst auf. Dem entspricht auch die Darstellung von Ortiz/Ramos, die darauf hinweisen, dass die Anfangsphase von strategischer Bedeutung für die Telenovela ist. Aus diesem Grund werde sie mit besonderer Sorgfalt produziert. Diese Startphase umfasse die ersten zwanzig Kapitel. Ortiz/Ramos verweisen darauf, dass die Telenovela mit einer „Boeing“ verglichen wird. Gleich einem solchen Großflugzeug sei es besonders schwierig, die Telenovela on air zu bringen. Ist dies aber geschafft, müsse man nur noch Kurs halten (Ortiz/Ramos 1991: 137). Damit die Telenovela „abheben“ kann, müssen die Voraussetzungen für den Konflikt geschaffen sein, der sie von seinem Ausbruch an trägt. Anfang und Schluss bilden folglich den Spannungsbogen, auf den jedes Erzählsegment in der zweiten Phase ausgerichtet ist: die definitive Herstellung der Ordnung, die zu Beginn nur als vorübergehender Schwebezustand auftauchte. Die oben gestellte Frage, wie der Kernplot bei Rosa salvaje allein das immense Erzählvolumen ausfüllt, präzisiert sich: Wenn die Krise keine Unterbrechung findet oder von anderen Handlungssträngen zeitweise überlagert wird, muss sie Stoff für ca. 177 Kapitel bieten. Wie macht der Hauptplot das unter Aufrechterhaltung des Gesamtspannungsbogens? Die Erzählung verwendet mehrere Strategien: Sie füllt die (Haupt)Handlung mit Hindernissen an, die die Herstellung der gewünschten Ordnung der Vereinigung des Protagonistenpaares beständig verzögern. Die Erzählung kann also den Konflikt nicht geradlinig entwickeln, ihn einem Hö256

Wer alles auf einmal erzählt, verpasst das Beste daran

hepunkt zuführen und darauf einen Wendepunkt folgen lassen. Bis zum Wendepunkt muss viel (Erzähl-)Zeit vergehen. Also folgt eine Erzählschleife auf die nächste (vgl. Klindworth 1995a: 82). Die Erzählschleifen strecken die Narration und machen aus der Krisenphase vor Auflösung des Konflikts eine andauernde Anhäufung von Rückschlägen der Protagonisten. Nach jedem Rückschlag erholen sich die Protagonisten, bis sie von Neuem unterliegen. Die Rückschläge und Erholungen wiederholen sich jedoch nicht einfach sondern variieren. Rosa verlässt kurzzeitig die Linares-Villa, kehrt zurück, verlässt sie wieder, kehrt nochmals wieder, zieht dann aber später auf Dauer aus. Nun geht sie arbeiten, neue Schauplätze erscheinen. Neue sekundäre Figuren, etwa die Salonbesitzerin, treten auf. Dann nähert sich das Paar erneut an, diesmal jedoch nicht bei den Linares, sondern auf einer Reise. Darauf folgt die Scheidung und Heirat Ricardos mit Leonela. Nun wird Rosa durch Paulette gestärkt und hat eine ganz neue Position. Aber die Gefährdungen verschärfen sich mit den beiden Mordversuchen drastisch. Mit der Alternation von Rückschlägen und Erholungen sowie deren Variationen allein ist es jedoch nicht getan. Sie erzeugen auf die Dauer nicht ausreichend Spannung. Sie wären auch sehr produktions- und ideenaufwendig. Die nächste Strategie lautet daher: In den Schleifen die einzelnen Ereignisse so lange es geht hinauszögern. Das heißt, dass die Ereignisse sich abzeichnen, aber sehr, sehr langsam aufgebaut werden. So streckt sich die Erzählung im Tief, denn bis es zu einem Handlungshoch kommt, dauert es. Auf das kurze Auf erfolgt jedoch sehr schnell ein neues Ab. Als die Krise nach der anfänglichen Heirat ausbricht, dauert es, bis Ricardo voll hinter Rosa stellt, denn auch ihm ist die „Wilde“ ziemlich peinlich. Bis er diesen Schritt tut, muss Rosa erst eine Unmenge von Erniedrigungen und Gemeinheiten einstecken, irgendwann verzweifelt das Anwesen verlassen und dann lange warten, bis er schließlich zu ihr kommt. Aber er kommt und überzeugt sie von seinen Gefühlen. Alles ist gut, aber nur für kurze Zeit, denn kaum zurück bei den Linares, setzt eine Intrige nach der anderen ein. So geht es weiter. Bis eine veränderte Situation eintritt, dauert es ein jedes Mal. Sie kündigt sich an, aber auch nicht auf einmal sondern nach und nach an, denn die Figuren reden und reden, sprechen aber nie alles aus. D.h. die Zuschauer erfahren nur langsam, was passieren wird. Irgendwann wissen sie, dass etwas passieren wird, oder gar was passieren wird – aber sie wissen nicht genau, wie es geschieht. Spannung entsteht, denn sie erwarten das Ereignis. Hier greift die Strategie der Nebenhandlungen, die einerseits dazu dienen, neue Schleifen einzufädeln, wie etwa Cándidas Schwangerschaft. Bis die ärztliche Schwangerschaftsdiagnose vorliegt, vergeht natürlich einige Zeit, seitdem sich erste Anzeichen bemerkbar machen (Übelkeit, Ängste). Anderseits dienen die Nebenhandlungen dazu, langsam neue Situationen in der Haupthandlung herbeizuführen. So der Raub des Linares-Vermögens durch Roble und Dulcina, der zum Bankrott der Familie führt und Rosas Position stärkt. Bestes Beispiel ist jedoch der Paulette-Plot, der schon zu Beginn der Serie einsetzt, nichtsdestoweniger über 150 Kapitel braucht, bis die wahre Mutter die lange, lange gesuchte Tochter unter Tränen in die Arme schließen kann. Den Zuschauern wird erst allmählich nahe gelegt, dass Rosa die verlorene Tochter ist, die Paulette sucht. Aufgrund ihrer Gattungskompetenz werden sie jedoch schnell erkennen, worum es sich handelt: um ein Geheimnis, von dem nur wenige Figuren wis257

Telenovelas und kulturelle Zäsur

sen, am allerwenigsten diejenige, die es betrifft. Auch erkennen sie, welcher Art das Geheimnis ist: Das Geheimnis birgt die wahre Verwandtschaftsbeziehung der Protagonistin. Die Blutsbeziehung ist deshalb so wichtig, weil sie die vorrangige soziale Identität eines Individuums bzw. seine eigentliche Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht verbürgt. Diese soziale Identität ist in einer von extremen Gegensätzen der gesellschaftlichen Schichten primordial. Das Geheimnis um die verdeckte soziale Identität, um die verborgene Eltern-Kind-Beziehung ist ein ‚Dauerbrenner‘ des seriellen Melodramas. Martín-Barbero bezeichnet das Melodrama in diesem Sinne als „drama del reconocimiento“, das unentwegt um die Aufdeckung von sozialen Identitäten kreist. (Martín-Barbero/Muñoz 1992: 27). Spätestens seit den berühmten Mystères de Paris (1842/1843) von Eugène Sue und dem Geheimnis um die (adlige) Abstammung der armen, verfolgten Fleur-de-Marie kommen weder Feuilletonroman noch Radionovela noch Telenovela ohne dieses Geheimnis aus. Bestes Beispiel ist El derecho de nacer. Auf diskursiver Ebene ist es eines der durchsichtigsten Klischees. Auf narrativer Ebene ist es eine der wichtigsten Erzählstrategien. Denn bezogen auf die Erzählsituation ist das Geheimnis kein Geheimnis sondern ein Wissen, das Leser, Hörer, Zuschauer mit dem Skript teilen. Es ist ihr großes Privileg gegenüber den ahnungslosen Figuren. Als Vorauswissen ist das wichtigste Mittel, um Erwartung und damit Spannung zu erzeugen. Zurück zu Rosa salvaje: Nachdem durch die Figuren verbalisiert wurde, dass es sich bei der gesuchten Tochter um Rosa handelt, scheut die Erzählung auch vor den abstrusesten Umständen nicht zurück, um die Begegnung hinauszuschieben. Paulette und ihre Angestellte bringen ein Großteil der 150 Kapitel damit, auf der Suche nach der Tochter mehr oder weniger ziellos durch die Großstadt zu fahren... Eines nachts finden sie tatsächlich Tomasa auf der Straße. Paulette erkennt sie sofort wieder, denn Tomasa war die Angestellte im Elternhaus von Paulette, der das Baby anvertraut wurde. Eigentlich stand der Mutter-Tochter-Begegnung damit nichts mehr im Wege, wäre nur Tomasa nicht zuvor überfallen, ausgeraubt und am Kopf verletzt worden. Die Diagnose des Arztes: Gedächtnisverlust! Es lässt sich schlussfolgern, dass die Dauererzählung von Rosa salvaje – verblüffend oder nicht – im Grunde kaum Ereignisse konstruiert. Sie vermeidet Ereignisse. Sie ist darauf ausgerichtet, Erwartungen von Ereignissen aufzubauen. Die Telenovela erzeugt keine Spannung durch das, was passiert. Sie erzeugt Spannung dadurch, was noch nicht passiert. Das heißt, dass sie die Handlungen aus dem Bildschirm in die Vorstellung der Zuschauer auslagert. Auf den Aspekt des Wissens der Zuschauer wurde bereits gelegentlich von rezeptionsorientierten Telenovela-Forschungen hingewiesen. Jorge González z.B. spricht den Zuschauerreiz an, in ein Geheimnis eingeweiht zu sein, das die Figuren nicht kennen. Damit haben sie ihnen Wissen voraus, was geschehen wird und erhalten das Gefühl, in die Handlung involviert zu sein. Auf diese Weise haben die Telenovelas plötzlich etwas mit dem „wirklichen Leben“ der Zuschauer zu tun (González 1998a: 65-66). Mehr zu wissen als die Figuren, ist ein Effekt, den die Telenovela mit vielen Erzählformen teilt. Was sie jedoch besonders kennzeichnet, ist, dass die Telenovela durch das Vorauswissen beständig Erwartungshaltungen bei den Zuschauern weckt. Ausschlaggebend ist daher nicht allein das Wissen über den Fortgang der Erzählung sondern der Übergang der Erzählung in die Vorstellung der Zuschauer, 258

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während sie auf den Fortgang nicht nur der Handlung sondern insbesondere der Erzählung selbst warten. Gemeint ist die Zwischen-Zeit zwischen den Erzählsequenzen, in denen die Telenovela – wie schon andere Seriengenre vor ihr – in den Zuschauern zu ‚arbeiten‘ beginnt. In dem Moment, in dem die Telenovela in jener Zwischen-Zeit nicht erzählt und die Zuschauer zum imaginativen Weitererzählen verleitet, kriecht sie in deren Leben hinein. Nun begleitet sie sie, wenn sie sie nicht schauen. So gesehen, findet die Telenovela nicht statt, wenn sie auf dem Bildschirm erscheint, sondern wenn sie von ihm wieder verschwindet. Zutiefst befremdlich mutet jedoch an, dass Rosa salvaje nichts Anderes bietet außer dem Erwartungsaufbau über den Fortgang der Erzählung des Zentralkonflikts. Zusatzreize zum Kernplot bietet die Erzählung so gut wie nicht. Die Erwartung wird nicht differenziert oder zusätzlich durch vieldeutige Fährten angespornt. Nie muss sie sich in Frage stellen. Nie wird die Erwartungshaltung erschüttert. Nie werden die Zuschauer im Unklaren darüber gelassen, worauf die Erzählung hinaus will. Im Gegenteil, die Erzählung ist ein Exzess an Eindeutigkeit. Die Erzählung lässt keine Gelegenheit aus, um die Zuschauer in ihrer Erwartungshaltung zu vergewissern. Enttäuschen wird sie sie nie, aber bestätigen wird sie sie – so lange es geht – ebenso wenig. An der Bestätigung der Erwartung besteht letztlich kein Zweifel, aber sie tritt und tritt nicht ein. Sie wird den Zuschauern unaufhörlich vorenthalten. Bei allem Exzess werden die Zuschauer einem Entbehrungsprozess ausgesetzt. Unentwegt wird aufgeschoben, was versprochen wird. Das Genre ist ein Syntagma von cliff hangers. Ständig wird etwas angekündigt, dessen Eintritt unaufhörlich hinausgezögert wird. Tritt es schließlich ein, kündigt sich sogleich die nächste Entbehrung an. Die Gattung bestürmt die Zuschauer mit der Deutlichkeit ihrer Bedeutung – und entzieht ihnen zugleich die Bestätigung des Angedeuteten. Der Bestätigungsentzug ist die wichtigste Strategie von Rosa salvaje, um die Spannung aufrecht zu halten. Dazu scheint ihr jedes Mittel recht zu sein, sei es noch so konstruiert wie der Gedächtnisverlust von Tomasa. Schon Janete Clair lehrte, dass eine novela nicht plausibel sein müsse. Televisas Telenovela jedenfalls scheint, so unplausibel wie möglich zu erzählen – eine Erzählung wider alle Wahrscheinlichkeit, nur darauf aus, die Erwartungen der Zuschauer zu verlängern. Warum dies ausreicht, um ein großes Publikum zu binden, ist – wie in den letzten Kapiteln auszuführen sein wird – mit einer Analyse auf der Erzählebene nicht mehr zu erklären.

8.3 Por amor und die Multiplotstruktur Helena und Eduarda sind Mutter und Tochter. Das Drehbuch will es, dass sie gleichzeitig schwanger werden und die Kinder ungefähr zur gleichen Zeit zur Welt kommen sollen. Dass die Geburten (fast) gleichzeitig stattfinden, ist jedoch völlig plausibel, wie sich die Figuren bemühen klarzustellen: Mit einem Kaiserschnitt kann man den genauen Entbindungstermin selbst festlegen. Für Eduarda – (bisher) Helenas einziges Kind – ist es die erste Geburt. Während bei Helenas Entbindung alles reibungslos verläuft, treten bei Eduarda jedoch Komplikationen auf, weswegen ihre Gebärmutter entfernt werden muss. Das bedeutet, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann. Noch in derselben 259

Telenovelas und kulturelle Zäsur

Nacht, während Eduarda schläft, stirbt ihr Kind. In einer Szene, deren Dramatik definitiv nicht zu steigern ist (Gewitter, Stromausfall u.a.), überredet Helena den diensthabenden Arzt, César, ihr eigenes Neugeborenes gegen das soeben verstorbene Baby von Eduarda auszutauschen. Die Zuschauer von Por amor sehen, wozu eine Mutter aus Liebe fähig ist: Sie opfert ihr eigenes Mutterglück dem ihrer Tochter. Ihrer Tochter opfert sie jedoch auch das Vaterglück und das Kindesglück. Diese „Liebe“ motiviert das, was die Erwartungen der Zuschauer acht Monate lang anreizt: die „Lüge“. Die Lüge verschleiert die familiäre Identität des Neugeborenen und setzt das grundlegende Geheimnis in die Telenovela-Welt, mit dessen Aufdeckung nicht bis kurz vor Erzählende gerechnet werden darf. Eine novela latina, wie die Folha de São Paulo stichelt? Zweifelsohne – was sollte es sonst sein? Aber etwas passt nicht ganz, schon in bezug auf den Tausch der Babys. Das Geheimnis erscheint in Por amor als „Lüge“. Es entsteht aus einem Akt der Liebe und Selbstopferung – so weit stimmt das Motiv mit der Geheimnistradition des seriellen Melodramas überein. Auch ist gattungskonform, dass Helena die Tat in ihrem Tagebuch festhält. Dies ist das sichere Zeichen, dass die Wahrheit ans Licht kommen wird (wann?), denn unfehlbar wird jemand Unbefugtes (wer?) Helenas Tagebuch lesen (was passiert dann?). Mehr braucht das serielle Melodrama nicht, denn von nun an erwarten die Zuschauer die Aufdeckung des Geheimnisses. In Por amor aber wird der Tausch zugleich als „Lüge“ bezeichnet, gegen die sich der verantwortliche Arzt César zuerst heftig sträubt. Er verdankt jedoch Helena seine ärztliche Existenz, ist ihr auch emotional verbunden und liebt insgeheim Eduarda, also gibt er nach. Die Verhüllung der familiären Identität ist zwar melodramatisch, aber die Serie setzt sie nicht einfach als unabwendbares Schicksal (also als Konsequenz eines gesellschaftlichen Normverstoßes oder als Folge unvereinbarer Klassengegensätze). Por amor motiviert die zentrale Tat als Ergebnis von Liebe. Damit öffnet sie jedoch die Gattung für gattungsinkonforme Hinterfragungen und problematisiert den Ausgangspunkt der Erzählung als das, was er in Wirklichkeit ebenso ist: eine Lüge. Por amor ist eine Liebes-Telenovela, das indiziert bereits der Titel. Aber sie macht die Liebe zu einem Problem und wirft Fragen danach auf, wozu Liebe wirklich führt. Das geht so weit, dass sogar das unverzichtbare Happy End in Gefahr gerät, wenn sich nämlich (am Ende) herausstellt, dass Eduardas Mutterglück auf einer Lüge beruhte. Mit anderen Worten, die Serie ist insofern realistisch, als sie Anstalten macht, das Melodrama zu hinterfragen, dem sie sich verdankt. Realismus ist der Begriff, der die Machart und den immensen Produktionsaufwand dieser Telenovela beschreibt. Sie setzt sich aus 71 Figuren und Nebenfiguren zusammen, Hunderte von Statisten kommen hinzu. Sie zählt 152 Bühnenbilder, 19 Drehorte außerhalb Globos Telenovela-Stadt (Projac), zwei davon außerhalb von Rio de Janeiro. Innerhalb des Projac wurde ein Straßenzug in Niterói (Nachbarstadt von Rio de Janeiro) und ein idyllisches Wohnviertel nachgebaut. Eine der verschiedenen Figurengruppen besteht aus einer neureichen Familie und ihren Freunden. Dieses Ambiente der emergentes, die nicht in einem der traditionellen besseren Vierteln der zona sul Rio de Janeiros wohnen, sondern in der rezenten Barra da Tijuca, nahm sich die Telenovela beispielsweise vor, „realistisch“ wiederzugeben, wozu verschiedene Studien durchgeführt wurden, um zu ermitteln, wie man sich in diesen Kreisen gibt und kleidet. Eine andere Figur, Márcia, ist Töpferin. Für 260

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sie wurde nicht nur eine eigene Werkstatt auf dem set gebaut. Die Schauspielerin musste zudem einen zweimonatigen Töpferkurs machen. Mit den Worten der art director Ana Maria de Magalhães: „Da dies eine sehr realistische Telenovela ist, müssen wir auf alle Details achten, nichts darf unwahrscheinlich sein.“8 Was bedeutet das für die Erzählstruktur? TV Globo gliedert eine Telenovela in „núcleos“, in Figurenkerne. Es handelt sich um Figurengruppen, die sich nebeneinander anordnen und in unterschiedlicher Nähe-Distanz-Verhältnissen zu den Protagonisten – Antagonistinnen (nur Frauen) stehen. Die brasilianische Telenovela im Falle von Por amor entwickelt keine zentripetale sondern eher eine zentrifugale Erzähldynamik. Im Falle von Por amor gibt es elf verschiedene Gruppen.9 Im Vergleich zu Rosa salvaje handelt es sich nicht nur um eine Vervielfältigung des Figuren- und Schauplatzarsenals sondern auch um eine Komplexitätssteigerung der Handlungsstruktur. Die Figurengruppen sind nicht konzentrisch um die Protagonisten angeordnet, sondern bewegen sich in ganz unterschiedlichen Nähe- und Distanz-Verhältnissen zu ihnen. Aus den einzelnen Figurengruppen und in deren Überschneidung entspringen verschiedene Handlungsstränge, die zwar mehr oder weniger stark mit den Protagonisten zu tun haben, aber in ihrer Zielrichtung nicht auf die Verwirklichung bzw. auf die Störung deren Glücks geeicht sind, sondern auf ihr eigenes. Es handelt sich also um echte Parallelhandlungen, die nicht von einem Zentrum orchestriert werden, in das sie früher oder später übergehen. Das bedeutet nicht, dass die Handlungsstränge von einander abgeschottet wären. In der Regel haben, wie schon angedeutet, die meisten Figuren mehr oder weniger Kontakt zu den Protagonisten. Darüber hinaus aber interagieren die Figuren unterschiedlicher Parallelhandlungen auch untereinander. Das heißt, sie reden miteinander und kommentieren das Geschehen, aber nicht nur ihr eigenes sondern präferentiell das der anderen Plots. Dadurch entsteht ein vielgliedriges Handlungsgeflecht, das räumlich in die Breite und zeitlich – darum dreht es sich – in die Länge geht. Das Geflecht wird nur linear erzählt, d.h. die Narration verschachtelt sukzessive die verschiedenen Handlungsstränge. Das geschieht, indem die einzelnen Plots stückchenweise und abwechselnd erzählt werden. So springt die Erzählung ständig zwischen den verschiedenen Plots hin und her. Der Hauptplot steuert daher nicht nur die Nebenplots nicht, er beherrscht auch die Erzählzeit nicht. Ebenso wie alle anderen Plots wird auch er zerstückelt und muss immer wieder den Parallelplots weichen. Über weite Strecken verschwindet er sogar ganz. Der so erzielte Effekt ist klar: Die Erzählung produziert Unmengen Er-

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„Como esta é uma novela muito realista, temos que cuidar de todos os detalhes, nada pode ser inverossímil“ (Ana Maria de Magalhães auf der damaligen Homepage von Por amor auf dem Portal von Rede Globo [http://www.redeglobo.com.br], die jedoch nicht mehr online ist. Sie wurde am 22.11.1997 zuletzt aufgesucht). Die núcleos sind die wichtigste Information der sinopse, des Exposés der Serie. Die sinopse wurde während der Ausstrahlung von Por amor im Internet auf www.redeglobo.com.br veröffentlicht. Unterschiedliche Varianten der Synopse und weitere Informationen, etwa zu den Schauspielern finden sich weiterhin auf den Telenovelabzw. TV-Portalen www.teledramaturgia.com.br und www.telehistoria.com.br (zuletzt aufgesucht: 26.05.2010).

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zählstoff und Abwechslung, indem sie ständig Parzellen verschiedener Plots in das Syntagma ein- und ausschaltet. Eine Erzählkette setzt sich aus Paradigmen zusammen, die in der Telenovela aus Szenen bestehen. Im Schnitt zählt ein Kapitel von Por amor 20 Szenen, deren Länge unterschiedlich ist. Dabei wird entweder ein Plot im Verlauf mehrerer Szenen erzählt, was eine ganze Sequenz, also bis zur nächsten Werbepause dauern kann. Oder aber die Erzählung springt szenenweise von einem Plotintervall zum nächsten. Indem sich die Erzählung in alternierende Suberzählungen untergliedert, ergibt sich ein weiterer Serialisierungsgrad der Erzählung: Nicht nur wird die Erzählung durch den horizontalen Programmplatz des Genres kapitelweise unterbrochen und innerhalb eines Kapitels durch drei Werbeeinschübe in vier Sequenzen getrennt. Eine Sequenz unterteilt sich wiederum durchschnittlich in sechs Szenen. Die Szenen einer Sequenz können in ihrer Abfolge einen einzigen Plot erzählen. In der Regel aber wechseln sich mehrere Plots innerhalb einer Sequenz ab. Die Erzählung erzählt auf diese Weise einen Plot eine oder mehrere Szenen lang, schaltet dann aber eine oder mehrere Szenen anderer Plots, ganze Sequenzen oder Kapitel dazwischen, bis sie damit fortfährt. Durch die Aufspaltung der Erzählung in Untererzählungen unterbricht sich die Erzählung erzählend selbst. Dadurch mulitipliziert sie nicht nur den Erzählentzug sondern auch den mit ihr verbundenen Suspense-Effekt. Die Erwartungshaltung der Zuschauer richtet sich nach und nach auf eine Vielzahl von Erzähl-Enden aus und wird von ständigen Erzählbrüchen gereizt. Mit dieser komplexen Plotserie umgeht TV Globo das Problem, die erwarteten Ereignisse innerhalb des Plots immer wieder hinauszuschieben und dann schließlich auf unwahrscheinliche Mittel zurückgreifen zu müssen, die durch nichts als durch den medienbedingten Erzählaufschub zu rechtfertigen sind. Das heißt, dass die Einzelplots weitgehend realistisch erzählen können, ohne darauf angewiesen zu sein, plotinterne Verzögerungen zu konstruieren. Daraus folgt nicht, dass sich die Ereignisse innerhalb der Plots häuften. Es gibt ein beliebtes Mittel, Erzählzeit zu füllen, aber dennoch zumindest für minimale Abwechslung zu sorgen, und dabei innerhalb des realistischen Rahmens der Wahrscheinlichkeit zu verbleiben: Gemeint ist das Figurengespräch über das Handlungsgeschehen. Die Figuren unterhalten sich dabei nicht nur darüber, was in ihrem eigenen Plot passiert, sondern auch, was in anderen geschieht.10 So entsteht zwar Redundanz, aber auch ein Mindestmaß an Devianz, denn die Figuren geben dabei Kommentare und Einschätzungen ab und fügen dem schon Erzählten ihre Sichtweise hinzu. Sie verbalisieren somit, wie sie selbst mit den Dingen umgehen, und was sie von den Handlungen anderer Figuren halten. Aus diesem Grund bringen die Figuren den Großteil ihres Erzähllebens damit zu reden und zu reden.

10 Die Figuren reden über alles innerhalb des erzählten Universums der Serie, nur nicht über dieses Erzählen selbst. Por amor erzählt, wie zu zeigen ist, über die Gattung, aber nicht über sich als Serie. Der Illusionismus ist der Gattung heilig. Über die Telenovela an sich verlieren die Figuren ab und zu ein Wort (nicht mehr), wenn z.B. eine Figur (Lídia) mit der anderen (Orestes) schimpft, weil sie ihretwegen ihre „novela“ nicht sehen konnte. Das ist kein Selbstbezug sondern die Festschreibung der Telenovela als Wirklichkeit und Normalität.

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Daraus folgt, dass der Handlungsfortgang äußerst kleinschrittig ist. Auch bei Globos Telenovelas dauert es, bis etwas passiert. Der Unterschied zu Televisa ist, dass der Erzählung durch die Plotwechsel immer etwas ‚dazwischen‘ kommt, und dass das Geschehen während seines Geschehens durch die Figurengespräche immer wieder neu gewendet wird. Die Figuren besprechen nicht nur, was geschehen ist, sondern auch, was geschehen wird. Daher gibt es auch bei den Telenovelas von TV Globo nur wenige Überraschungen. Im Gegenteil – bestimmend ist auch hier das Prinzip der Geschehensankündigung. Die Erzählung vollzieht sich, indem sie den Zuschauern die Ereignisse ankündigt und dann vorenthält. Die Ereignisankündigungen springen gar aus dem Erzähltext heraus und bilden diverse Paratexte.11 Jedes Kapitel beginnt bei TV Globo mit der Rückschau einer Schlüsselszene des letzten Kapitels. Das heißt, dass noch vor die invariable Eröffnungssequenz mit den Namen der Stars eine Szene oder zumindest ein kurzer Ausschnitt aus der Vortagsepisode geschaltet wird, der die Erinnerung der Zuschauer auffrischt und – während des vídeo de abertura – die Erwartung auf das Kommende auffrischt. Nach dem Ende des Kapitels folgt ein weiterer Paratext: „as cenas dos próximos capítulos“, eine Art Vorschau auf das, was die Zuschauer am nächsten Ausstrahlungstag erwartet. Damit aber nicht genug. Auf die spezialisierten, an den Konzern angeschlossenen Printorgane wie die Telenovela-Zeitschrift Contigo! wurde schon hingewiesen. Diese erscheint wöchentlich und betreibt nicht nur Starkult sondern liefert dem meist weiblichen Lesepublikum auch Informationen über den Fortlauf der Handlungen. Leser müssen aber nicht unbedingt zu diesen Zeitschriften greifen, um sich darüber zu informieren, was in den einzelnen Folgen einer Woche in der Telenovela passiert. In den Wochenendausgaben der Tageszeitungen erscheinen die „resumos“, die Zusammenfassungen, der Kapitel der kommenden Woche. Große Zeitungen wie Folha de São Paulo, O Estado de São Paulo, Jornal do Brasil und natürlich das konzerneigene Blatt O Globo bringen am Wochenende Fernsehbeilagen heraus, in denen neben den Zusammenfassungen Hintergrundberichte (nicht nur) zu den Telenovelas und Interviews mit Schauspielern veröffentlicht werden. Die großen „Geheimnisse“ jedoch dürfen auch vorab nicht enthüllt – sondern nur angekündigt werden.12 Die seriösen Blätter beschränken sich jedoch nicht nur auf 11 Zum Begriff der Paratextualität siehe Genette (1982: 10). 12 So erklärt der „Autor“ Manoel Carlos beispielsweise einer Reporterin von Contigo! in einem Interview, dass seine novelas nicht durch „Enthüllungen“ durch die Presse über den Fortlauf der Handlung beeinträchtigt würden. Er schreibe keine Telenovelas im Stil eines Kriminalromans – wie andere „Autoren“ das tun. Daher verlören Zuschauer das Interesse an einem Kapitel nicht, wenn bereits in den Printmedien darüber berichtet wurde, im Gegenteil: „Ich habe nie eine novela gemacht, in dem das Publikum herausfinden muss, wer XY umgebracht hat, wie Sílvio [de Abreu] in A próxima vítima [Das nächste Opfer]. Aber die Tatsache, dass du in deiner Zeitschrift erzählst, dass in meinem nächsten Kapitel eine Figur sterben wird, stört überhaupt nicht. Ich meine, es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand ein Kapitel nicht mehr ansieht, weil er darüber gelesen hat. Nicht zuletzt, weil eine Szene zu sehen ganz anders ist, als sie in einer Zeitschrift zu lesen. Je mehr Bekanntmachungen, umso besser. Die novela muss auf das Coverblatt von Zeitschriften.“ („Nunca fiz uma novela em que o público tem de descobrir quem matou fulano, como o Sílvio em A próxima vítima. Mas o fato de

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Programminformationen zur Telenovela sondern machen das Genre – die vorliegende Arbeit stützt sich auf eine Vielzahl von Presseberichten – gerne zum Gegenstand ihrer eigenen Berichterstattung, schreiben über „Hintergründe“ sowie über Zuschauerverhalten und interviewen beteiligte Akteure. Globos narrative Telenovela-Architektur versucht, aus der Not der Erzählstreckung – im Prinzip – eine Tugend zu machen: Die systematische Entschleunigung der Handlungen und der Ereignisse bremsen das erzählte Geschehen fast auf die Echtzeit des Erzählgeschehens herunter. Erzählte Zeit und Erzählzeit nähern sich an. Por amor wurde acht Monate lang ausgestrahlt. Das erzählte Geschehen in der Serie dauert knapp zwei Jahre, strafft jedoch im ersten Erzählviertel das erste erzählte Jahr, um das zweite dicht an das restliche halbe Erzähljahr heranzuführen. Dadurch werden die Figuren für die Zuschauer zu einer Art Nachbarn in der Zeit, mit denen sie den Verlauf der Zeit teilen. Die Zwischen-Zeiten zwischen den Erzählfolgen ziehen die Zuschauer in das Erzählen hinein. Tendenziell bilden sie in ihrer Summe darüber hinaus mehr als nur eine Fiktion in der Zeit. Sie bilden eine Fiktion der Zeit. Indem die Zuschauer diese Zeit miterzählen, werden sie zu Mitautoren von etwas, was sich wie in Echtzeit vollzieht: Das Leben der Zuschauer und die Telenovela gehen ineinander über, denn die Mitautorschaft jener Zeit-Nachbarn verschwimmt mit der Mitautorschaft des eigenen Lebens. Der Fiktion der Zeit dient ein weiteres Erzählmittel: Wie bereits erwähnt, ist das Drehbuch zu Beginn der Ausstrahlung längst nicht abgeschlossen und hat nur wenige Kapitel Vorsprung vor der Sendung. Diese „Offenheit“ des Drehbuchs dient nicht nur dazu, die Erzählung gegebenenfalls an die Vorstellungen einer Zuschauermehrheit heranführen zu können. Sie dient auch dazu, die erzählte Zeit an die Zeit der Rezeption anzunähern. Die Vorweihnachts- und Weihnachtszeit während der Ausstrahlung von Por amor taucht in der Serie wieder auf, denn auch die Figuren freuen sich auf Weihnachten, treffen Vorbereitungen und feiern schließlich das Fest in ihren Familien – zeitgleich mit den Zuschauern. Dieser Effekt hätte zweifelsohne auch durch die exakte Planung eines „geschlossenen“ Drehbuchs erzielt werden können. Die „Offenheit“ des Drehbuchs erlaubt aber, unvorhersehbare aktuelle Themen aufzugreifen, in die Erzählung einzuarbeiten und so Aktualitätsmarker zu setzen. So diskutieren die Figuren immer wieder Gesetzesvorhaben der brasilianischen Regierung, die zum Zeitpunkt der Ausstrahlung in den Kongress eingebracht wurden. An diesem Vorgehen verdeutlicht sich nicht nur die Meinungsmacht der Telenovela sondern insbesondere ihre Strategie, erzählte Zeit, Erzählzeit und Rezeptionszeit zur Deckung zu bringen.

você contar em sua revista que no meu próximo capítulo um personagem vai morrer não atrapalha em nada. Acho improvável que o cara desista de ver um capítulo porque já leu sobre ele. Até porque assistir à cena é muito diferente do que lê-la na revista. Quanto mais divulgação, melhor. A novela precisa de capa de revista“ (Carlos 1997: 38). Was Carlos damit u.a. anspricht, ist, dass die Telenovela versucht, über das Medium Fernsehen hinauszugehen und den Zuschauern von möglichst vielen Medien aus aufzulauern. Vor allem aber kommt hier das Bestreben zum Ausdruck, die Gattung der Fiktion zu überschreiten und in die der Nicht-Fiktion überzugehen, indem sie zum Gegenstand des öffentlichen Interesses wird, über das andere Medien berichten.

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Durch das Reden der Figuren über eigenes und fremdes Geschehen entsteht zudem eine eigentümliche Erfahrung von Welt. Die Bekanntschaft der Figuren nicht nur unterschiedlicher núcleos sondern auch verschiedener Plots vernäht die Subnarrationen miteinander, so dass bei den Zuschauern der Eindruck entsteht, dass sich das Erzählte zwar in plurale Geschichten auffächert, aber nicht auseinander fällt, sondern dass alles irgendwie miteinander zusammenhängt – fast wie im ‚richtigen‘ Leben. Wie schon mehrmals erwähnt, ist diese Telenovela-Welt Brasilien. Jeder núcleo steht in diesem Sinne für ein bestimmtes Gesellschaftssegment. In der Summe konstituieren sie in nicht nur in ihrer Vielfalt sondern insbesondere in ihrer Schichtendifferenz die brasilianische Gesellschaft.

8.3.1 D AS

SOZIALE

U NIVERSUM

DER NÚCLEOS

Zur Veranschaulichung der Multiplotstruktur seien kurz zumindest einige der núcleos vorgestellt. In einem zweiten Schritt sollen einige der aus ihnen hervorgehenden Handlungsstränge untersucht werden. Die wichtigste Figurengruppe in Por amor ist die von Helena und ihrer Familie, die der oberen Mittelschicht angehören. Die Kernfamilie besteht aus Helena und Eduarda. Helena betreibt ein Dekorationsstudio und steht damit für den freiberuflichen Mittelstand. Mutter und Tochter wohnen in einem stilvollen, aber nicht luxuriösen Hochhaus. Zum núcleo gehören Helenas Schwester Virgínia mit ihrem Mann Rafael und zwei Kindern. Mit „No prédio de Helena“ („Im Hochhaus von Helena“) benennt die sinopse die Nachbarn von Helena. Dabei handelt es sich um die Familie von Sirléia. Sirléia, eine ehemalige Vize-Schönheitskönigin, ist mit Nestor verheiratet, einem Beamten im höheren Dienst. Der núcleo „der Reichen“ wird von der Familie der Barros Mota gebildet. Mittelpunkt dieser Figurengruppe ist Branca, die Gebieterin über die Familienvilla. Ihr Mann, Arnaldo, ist Inhaber eines großen Bauunternehmens. Der älteste Sohn, Marcelo, ist eine der wichtigsten Führungskräfte des väterlichen Unternehmens und wird von seiner Mutter gegenüber seinen beiden Geschwistern, Milena und Leonardo, offen bevorzugt. Milena hat einen eigenen Kopf und lässt sich von ihrer Mutter nicht in ihr Leben hineinreden. Leonardo ist ein schüchterner Typ und leidet unter der ständigen Zurückweisung seiner Mutter. Dann gibt es den núcleo der „emergentes“, der Neureichen, der von der Familie der Trajanos gebildet wird, und sich um Meg, die Mutter von Laura und Natalia, gruppiert. Ihr Mann, Manoel Trajano, genannt Trajano, hat eine Supermarktkette hochgezogen. Sie leben in einer etwas kitschigen Luxusvilla. Die Barros Mota und die Trajanos sind eng befreundet. Zum núcleo gehören noch Rose, eine Freundin von Meg, und Simone, eine Freundin von Laura. „Na Vila Santa Rita de Cássia“ („In der Vila Santa Rita de Cássia“) heißt ein umfangreicher núcleo, der sich aus mehreren Kleingruppen zusammensetzt. Die Vila Santa Rita de Cássia ist eine Kleinstadtidylle in der schicken zona sul von Rio de Janeiro (die Stadtteile Copacabana, Ipanema, Leblon, Gávea, São Conrado, Barra da Tijuca). Hier befindet sich das Dekorationsstudio von Helena. Hier lebt und arbeitet auch der Restaurantbesitzer Wilson. Seine Lebensgefährtin Márcia ist Afrobrasilianerin – das wird, weil nicht 265

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selbstverständlich in der Telenovela, extra hervorgehoben. Sie ist die erwähnte Töpferin und hat ein eigenes Atelier. In der strengen sozialen Hierarchie, die die Telenovela nachbildet, macht die Vila im Grunde keinen Sinn. Für sich genommen, entspricht der Lebensstandard der Figuren eher kleinbürgerlichen bis freischaffenden Existenzen. In der adretten hochhäuserfreien und verkehrsberuhigten Kleinstadtfiktion der Vila entblößt TV Globos Realismusobsession verräterische Risse. Ein solches unbesorgtes Habitat kann es in der geografischen und sozialen Topografie Rio de Janeiros nicht geben, schon gar nicht in der zona sul. Wenn es solche adretten Wohnviertel in Rio gibt, dann handelt es sich um Hochsicherheitssperrbezirke, in denen sich die Mittel- und Oberschichten verschanzen. Hier zeigt sich, dass der Realismus das Zeichengeschehen nicht abschafft und das Signifikat in der Relation Signifikant – Referent nicht überspringt, sondern stattdessen bekräftigt. Der Realismus bedeutet und ist zu deuten: Sinn macht die „Abbildung“ des (klein-)bürgerlichen Lebens in der Vila nur in der Deutung als Metapher. Dies betrifft insbesondere den Realismus der Darstellung der unteren Gesellschaftsschichten. Als „Niterói“ bezeichnet die sinopse die Familie von Orestes und Lídia, die mit ihren Kindern Nando und Sandrinha in Niterói leben. Aus der aristokratischen Sicht der besseren Gesellschaft der zona sul, in denen die oben genannten Figurengruppen zu Hause sind, bedeutet das auf der Nordseite der Bahia da Guanabara gelegene Niterói von vorneherein eine soziale Deklassierung. Die Familie von Orestes und Lídia gelten damit in der Telenovela als arme Leute, obwohl Lídia ihren eigenen Friseursalon mit einigen Angestellten führt und Nando Hubschrauberpilot ist. Nando ist Lídias Sohn aus erster Ehe. Sandrinha ist das gemeinsame Kind von Lídia und Orestes. Orestes war in erster Ehe mit Helena verheiratet und ist der Vater von Eduarda. Er ist die Gutmütigkeit in Person, leidet aber unter Alkoholsucht und ist beruflich gescheitert. Eduarda ekelt sich vor ihm, und das bricht ihm das Herz. Außer den Familiengruppen, die jeweils einen bestimmten gesellschaftlichen Stand vertreten, gibt es vier Berufsgruppen. Sie alle bestehen aus Einzelfiguren, die über ihre Arbeit und nicht über ihre Familie oder über ihren Stadtteil definiert werden, in dem sie leben. Auch sie differenzieren sich untereinander je nach sozialem Stand. Als „profissionais“ („Fachleute“) gelten nur die Besserverdienenden. Allein diesen Berufstätigen wird vom Drehbuch ein Eigenleben eingeräumt. Darunter befindet sich der kinderlose Witwer Atílio. Er ist der Stararchitekt im Bauunternehmen der Barros Mota. Ebenfalls zur Konzernleitung dieses Unternehmens gehört Isabel. Zu den „profissionais“ zählt auch Flávia. Sie ist die Helenas Partnerin im Dekorationsstudio. Die „Hausangestellten“ bilden im Exposé der Telenovela eine eigene Gruppe. Auch sie arbeiten in den verschiedenen Familien und üben mehr als Statistenfunktionen aus. Sie haben meist am Leben der Familie teil, der sie dienen, und geben immer wieder Kommentare dazu ab. Unabhängig von der Dienstfamilie haben sie keine Funktion. Sie gehören den Unterschichten an, sind aber einzig auf die Mittel- und Oberschicht bezogen, was zeigt, dass den unteren Gesellschaftsschichten als solche in der Telenovela nur ein Randdasein zugebilligt wird. Dies gilt auch für die Gruppe der Sekretärinnen und für die der drei Angestellten in Lídias Friseursalon in Niterói, die mit Lídia

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das Geschehen in ihrer und in anderen Familien (aber nicht in ihren eigenen) bereden.

8.3.2 D AS L ABYRINTH

DER

P LOTS

Die Plots ergeben sich aus den Figurenkreisen und ihren Überlappungen. Die überwölbende Klammer der einzelnen Plots bildet nicht die Haupthandlung sondern das allgemeine Thema der Serie: die Liebe, oder was die Menschen aus Liebe zu tun in der Lage sind. Jeder Einzelplot liefert mit anderen Worten seinen eigenen Beitrag zum Thema. Der Hauptplot ist an das Geheimnis gebunden, das gibt das serielle Melodrama vor. Aber schon stellen sich Fragen: Wer ist eigentlich die Protagonistin? Bei Rosa salvaje wie im ‚klassischen‘ Serienmelodrama ist es das weggegebene Kind, das sich gleich einem elenden Entlein zum vornehmen Schwan wandelt, wenn es zu seiner eigentlichen Identität zurückfindet. Bei Por amor aber geht es nicht um das vertauschte Kind sondern um den Kindestausch selbst. Aber wer ist die Heldin? Die Mutter oder die Tochter? Kann eine Lügnerin Heldin sein und das Gute verkörpern? Kann die Belogene eine Heldin sein, wenn sich ihre Mutter für sie aufopfert? Beide haben „große“ Liebesbeziehungen, die im Laufe der Serie fast scheitern, und auf deren Erfüllung die Gattung die Zuschauererwartung ausrichtet. Helena verliebt sich auf einer Reise nach Venedig – romantisch soll das setting sein – in den reifen Charmeur Atílio (der Stararchitekt im Unternehmen Barros Mota). Von ihm wird das Kind sein, das sie weggibt. Eduarda liebt den reichen Marcelo Barros Mota abgöttisch. Sie heiraten noch in der ersten Sendewoche von Por amor (nicht ohne jedoch schon die erste Krise durchgemacht zu haben).13 Der erste Kuss zwischen Helena und Atílio ereignet sich erst weitere fünf Kapitel später.14 Damit ist klar, dass es besser nicht werden kann. Die Anfangsphase der Serie ist abgeschlossen, und die Traumpaarkonstellation steht. Was folgt, sind 172 Kapitel voller Krisen.15 Im Grunde aber besteht kein Zweifel daran, wer die „großen“ Helden sind: Helena und Atílio. Das wissen die Zuschauer von vorneherein, weil ihre Rollen an erster Stelle die Namensliste der Schauspieler in den credits anführt. Die Schauspieler dieser Rollen sind offensichtlich die Hauptdarsteller. Die credits bestätigen damit nur, was die Zuschauer ohnehin schon wissen, denn die Schauspieler von Helena und Atílio, Regina Duarte und Antônio Fagundes, gehören zu den Topstars des Globo-Systems. Regina Duarte ist hierbei noch wichtiger als Antônio Fagundes, denn sie galt schon Anfang der siebziger Jahre, wie erwähnt, als „namoradinha do Brasil“, als „Schwarm Brasiliens“. Wenn die beiden nicht die Hauptrollen spielten, müsste dies extra erklärt werden. Andererseits wissen die Zuschauer auch – das haben Vorankündigungen des Senders und spezialisierte und nicht-spezialisierte Presse im Vorfeld deutlich gemacht –, dass Eduarda von Gabriela Duarte gespielt wird. Sie ist

13 Die Hochzeit wird im fünften Kapitel der Serie, am 17.10.97 ausgestrahlt. 14 Im zehnten Kapitel, das am 23.10.97 gesendet wurde. 15 Von den 190 Kapitel der Serie ziehen sich zur Bestimmung der Haupterzählphase die zwölf Anfangskapitel sowie die sechs Schlusskapitel der letzten Sendewoche ab.

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die Tochter von Regina Duarte. Mutter und Tochter spielen sich demnach in der Telenovela selbst – das zumindest suggeriert das casting. Die gezielte Überschneidung von Rollenfiktion und Schauspielerwirklichkeit weckt das Interesse und die Neugierde der Zuschauer, echte Familienbeziehungen zu sehen. Diese Art der Vermengung von Realität und Fiktion ist die Funktion des Studio-Systems, das sich TV Globo von Hollywood abschaute.16 Dies lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Beziehung zwischen Helena und Eduarda und wertet die Tochterfigur auf. Allerdings wird Eduarda von Anfang an als problematischer Charakter gezeichnet: Sie selbst nennt sich immer wieder „unsicher“, ihre Mutter bezeichnet sie als „sensibel“, und für die meisten anderen Figuren ist sie schlicht „uma menina mimada“, „ein verwöhntes Ding“. Ihr Vater Orestes ist ihr so peinlich, dass sie seinen Anblick nicht ertragen kann. Sie neigt zu hysterischen Szenen, wenn sie mit Dingen nicht zurechtkommt. Ihr Leben richtet Eduarda ganz darauf aus, es ihrem Mann recht zu machen. Sie ist extrem eifersüchtig und lässt sich durch ihre Rivalin Laura Trajano leicht ins Bockshorn jagen. Laura ist Marcelos Ex-Freundin. Sie hat ihren ‚Anspruch‘ auf Marcelo nie aufgegeben und versucht mit allen Mitteln, ihn zurückzuerobern. Marcelo ist ein selbsterklärter machista, rücksichtslos und kompromisslos im Beruflichen wie im Privaten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er aus einer schwerreichen Familie stammt und zudem von seiner Mutter vergöttert wird. Auch Eduardas verwöhnter und unsicherer Charakter fällt auf ihre Mutter zurück, die selbst immer wieder eingesteht, Eduarda zu sehr beschützen und alles von ihr fern halten zu wollen. Schmerzliche Tatsachen enthält sie ihr grundsätzlich vor. Eduarda bemerkt jedoch diese Art der Bevormundung und reagiert mit nahezu hysterischen Allüren der Selbstbestätigung. Die Zuschauer jedenfalls konnten gespannt sein, was passiert, wenn Eduarda erfährt, dass ihre Mutter ihr nicht zutraut, die harte Wirklichkeit des Kindverlustes verkraften zu können... Beide, Mutter und Tochter, stehen jeweils vor großen Gefährdungen ihrer großen Liebe. Mächtige Antagonistinnen treten auf. Beide haben es mit Branca zu tun, die zentrale Figur der Serie. Branca bildet den tatsächlichen Dreh- und Angelpunkt der Erzählung. Schön, reich, intrigant, sie ist die grande vilã, die große Schurkin der Geschichte. Ihre Lust, andere zu erniedrigen und zu demütigen, bekommen alle ab, die niederen Standes sind, aber insbesondere auch ihr eigener Sohn Leonardo, für den sie nichts übrig hat. Eduarda ist ihrer Meinung nach für Marcelo nicht gut genug. In erster Linie aber muss sich Eduarda mit Laura auseinandersetzen, die mit allen Tricks versucht, Marcelo zurückzuerobern. Brancas Hauptfeindschaft wiederum gilt Helena. Branca setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um Atílio und Helena auseinander zu bringen. Nicht zuletzt durch Beobachtungen mehrerer außen stehender Figuren erfahren die Zuschauer, warum Branca die Beziehung zwischen Helena und Atílio verhindern will: Sie liebt Atílio und kann es nicht akzeptieren, dass er mit einer anderen Frau zusammen ist. So deutet sich an, dass auch sie aus Liebe handelt. 16 Erinnert sei lediglich an die Verfilmung des Theaterstücks Who’s Afraid of Virginia Woolf von Edward Albee durch Mike Nichols im Jahre 1966. Das sich selbst zerfleischende Ehepaar Martha und George wurde von dem realen Ehepaar Liz Taylor und Richard Burton gespielt, das ja als das »einzige Königspaar Amerikas« galt (siehe Wolf 1995).

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Der Hauptplot besteht also im Grunde aus zwei Handlungssträngen: aus der Liebesgeschichte von Helena und Atílio, der Branca gegenübersteht, und aus der Liebesgeschichte von Eduarda und Marcelo, die Laura und auch Branca zu verhindern suchen. Es fallen jedoch zwei Besonderheiten in bezug auf das serielle Melodrama auf: Das große Geheimnis entsteht nicht aus einer Tat, die chronologisch am Anfang des Erzählten steht, und meist nur flüchtige Erwähnung findet. In Rosa salvaje etwa wird nur in kurzen (schwarzweiß gehaltenen) flash backs angedeutet, wie der Vater von Rosa durch ihren Großvater ermordet wurde und Rosa als Baby einer Bediensteten anvertraut werden musste. Das ist klassisch, bzw. von El derecho de nacer abgeschrieben. Das Geheimnis wird in einen Vor-Handlungszeitraum ausgelagert und in keiner Weise problematisiert. So verheimlicht Tomasa zwar nicht, dass sie nur die Pflegemutter von Rosa ist, sie sagt ihr aber nie, woher sie eigentlich stammt. Diese Lüge wird an keiner Stelle thematisiert. Es ist keine Lüge. In Por amor steht das Zustandekommen des Geheimnisses im Zentrum. Es ereignet sich mitten in der erzählten Zeit bzw. zwei Monate nach Sendebeginn.17 Zuvor mussten erst Helena und Atílio heiraten, und beide Frauen mussten schwanger werden. Dem Geheimnis kommt damit eine ganz eigene narrative Funktion zu. Selbstredend dient es dem Spannungsaufbau, denn ständig dreht es sich darum, ob, d.h. wann jemand dahinter kommt und das schon erwähnte Tagebuch von Helena liest. Außerdem gibt es Mitwisser. Zum Einen ist dies César, der Arzt. Zum Anderen, Virgínia, die Schwester, der Helena das Geheimnis anvertraut. Schließlich liest Orestes, Helenas ExMann, das Tagebuch. Helena kann zwar alle zum Stillschweigen verpflichten, aber das Geheimnis erweist sich als größtes Hindernis für die Liebesbeziehung mit Atílio. Atílio stößt mehrmals auf das Tagebuch, liest es jedoch aus Respekt vor der Autorin nicht (er ist ein edler Charakter). Aber er merkt, dass Helena ihm etwas verheimlicht. Daraus wird eine Krise, die die Beziehung scheitern lässt, denn Helena zieht es vor, auch Atílio zu ‚opfern‘, um Eduarda zu ‚retten‘. Er verlässt sie. Selbstredend vergeht zwischen dem ersten Mal, als Atílio nichtsahnend Helenas Tagebuch in den Händen hält, und dem Bruch zwischen den beiden viel Erzählzeit, in denen sich sein Verdacht langsam steigert. Fast drei Sendemonate dauert das.18 Was also der Schurkin Branca nicht gelingt, vollbringt Helenas eigene Tat, die Lüge: Sie bringt die beiden Helden auseinander. Nachdem sich Helena ihm im letzten Kapitel offenbaren musste, verurteilt er sie – „Você não sabe amar“ („Du kannst nicht lieben“) – gibt ihr jedoch eine Chance, bevor er aufbricht: „mas pode aprender“ („aber du kannst es lernen“). Nach einem Sprung in der erzählten Zeit kehrt er zu ihr zurück. Ihre Wiederannäherung ist jedoch behutsam und wie unter Vorbehalt. Auch Eduarda und Marcelo scheitern eher an sich selbst denn an den Machenschaften von Laura und Branca. Zwar tun diese das Ihrige, um Konflikte zwischen den beiden auszukosten und zu verschärfen. Die Konflikte entstehen aber nicht als Folge von Intrigen sondern als Ergebnis von Charakterschwächen des jungen Paars. Beide sind hitzköpfig, besitzergreifend, egozentrisch. Schon kurze Zeit nach der Geburt wird Eduarda das sexistische 17 Das Kapitel mit der Nacht der Geburten und des Tauschs der Babys wird am 10.12.1997 gesendet. 18 Im Kapitel vom 12.03.1998 trennt sich Atílio von Helena.

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und herrschsüchtige Gehabe Marcelos zu viel. Nun stellt sich heraus, dass sie auf Marcelos Drängen hin aufhörte zu studieren, weil er der Ansicht war, dass die Aufgabe der Frauen sei, sich ausschließlich um Haushalt und Familie zu kümmern. Nicht zuletzt entzündet sich der Streit an der Rolle Helenas, die Marcelo – nicht ohne von seiner Mutter darin aufgestachelt worden zu sein – am Liebsten ganz aus dem Leben Eduardas entfernt sehen möchte. Schließlich trennen sie sich. Eduarda gewinnt Selbständigkeit, will selbst ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie reift, wird ausgeglichener, weniger überdreht. Aber auch Marcelo macht eine Entwicklung durch. In ihrer Trennung werden sie sich ihrer Liebe zum Anderen bewusst und finden langsam und nach vielen Prüfungen zueinander. Angegliedert ist diesem Doppelplot eine Reihe von Figuren, die zum Teil auf ihn beschränkt sind, zum Teil jedoch gleichzeitig einen eigenen Handlungsstrang entwickeln. Im Folgenden sollen zumindest einige der Nebenplots exemplarisch vorgestellt werden. Zu zeigen ist insbesondere, inwieweit sie sich von den beiden Mainplots entfernen. Helenas Ex-Mann Orestes z.B. kommt eine wichtige Funktion in den Mainplots zu. Er kennt, wie erwähnt, das Geheimnis des Babytauschs und er stört als Alkoholiker immer wieder Eduardas Selbstverständnis, zur upper clas zu gehören. Er hofft beispielsweise vergeblich, zu Eduardas Hochzeit eingeladen zu werden. Angetrunken geht er trotzdem zur Trauung, fällt unangenehm auf und wird von den Bediensteten der Barros Mota zusammengeschlagen. Der Vorfall veranschaulicht nicht nur Eduardas Realitätsverleugnung sondern auch die Brutalität, mit der die Standesgrenzen markiert werden. Dass diese quer durch die Kernfamilie führen, ist ein beliebtes melodramatisches Motiv. Die Figur hat jedoch unabhängig von Helena und Eduarda ein Eigenleben. Hier geht es in erster Linie um seine Trinksucht und die Verzweiflung seiner Frau Lídia, die immer wieder drauf und dran ist, ihn zu verlassen angesichts seiner Unfähigkeit, das Problem trotz tausender Beteuerungen in den Griff zu bekommen. Was ihn am Ende (wahrscheinlich) rettet, ist die unbedingte Liebe von Sandrinha. Das Mädchen ist die Letzte, die noch Vertrauen zu ihm hat, und die schließlich darüber wacht, dass Orestes keinen Alkohol mehr anrührt. Sie begleitet ihn am Ende zu den Anonymen Alkoholikern. Völlig unabhängig von den Hauptplots ist die Geschichte von Nando und Milena. Nando ist Lídias Sohn aus erster Ehe. Milena ist die Tochter von Branca und Arnaldo. Sie bilden die dritte große Liebesbeziehung in der Serie. Beide Mütter sind gegen die Liaison. Lídia erwartet von den Reichen nichts Gutes. Zu recht, denn vor allem für Branca ist Nando aufgrund seines niederen Standes völlig inakzeptabel. Branca ist damit auch die Widersacherin des dritten Heldenpaares. Als sie erfährt, dass die beiden heimlich heiraten wollen, spinnt sie in bester melodramatischer Tradition eine hinterlistige Intrige, die Nando zu Unrecht ins Gefängnis bringt. Bis Unterstützer-Figuren wie Brancas Hausangestellte Zilá, Milenas Bruder Leonardo und andere die Verschwörung aufdecken, vergeht einige Zeit. Am Schluss heiraten Nando und Milena, aller Klassengegensätze zum Trotz. Weitere Figurenkerne und ihre Plots bewegen sich am Rande von Helenas Universum. Exemplarisch zu erwähnen ist der Erzählstrang von Helenas Nachbarfamilie. Sirléias Gatte Nestor versucht, mit karikaturesken Tobsuchtsanfällen jegliche Männerkontakte seiner koketten Tochter Catarina zu 270

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verhindern und scheitert dabei selbstredend auf der ganzen Linie. Der Parallelplot hat aufheiternde Funktion, soll aber auch den Patriarchalismus in der brasilianischen Gesellschaft bloßstellen. Ein weiterer sozialkritischer Parallelplot in Helenas Umfeld ist die Beziehung zwischen Márcia und Wilson. Das Thema dieses Plots ist Rassismus: Márcia ist schwarz, Wilson ist schwedischer Abstammung und ganz weiß. Márcia möchte gerne ein Kind, aber Wilson ist strikt dagegen, weil er kein Kind dunkler Hautfarbe möchte. Zweimal musste Márcia schon abtreiben. Als sie ein drittes Mal schwanger wird, beschließt sie, das Kind zu behalten. In engem oder weiten Kontakt zu Branca stehen einige Figuren, aus deren Interaktionen weitere Handlungsstränge hervorgehen. Stellvertretend sei ihre eigene Ehe mit Arnaldo, dem Bauunternehmer, genannt. Dieser Plot zeigt die verbrecherischen Machenschaften der Oberschicht auf. Branca und Arnaldo führen eine Interessensgemeinschaft: Eine Fassade gesellschaftlicher Konventionen soll ihre Habgier verbergen, denn gemeinsam haben sie, wie sich am Ende herausstellt, zig Millionen Dollar Schwarzgelder ins Ausland geschafft. Keiner gibt sich Illusionen hin: Nur das Geld hält sie zusammen. Arnaldo ist ein Frauenheld, der bald eine Affäre mit der Chefsekretärin der Firma eingeht. Diese will sich jedoch für die ewigen Erniedrigungen von Branca rächen und fordert von Arnaldo immer teuere Geschenke wie wertvollen Schmuck und ein Apartment. Da sie alle Unregelmäßigkeiten in der Firma registriert hat, kann sie sich selbst gegen Branca durchsetzen und transferiert letztlich einen Großteil des besagten Schwarzgeldes auf eigene Konten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich aus den elf núcleos zwei Hauptplots und insgesamt elf Nebenstränge ergeben, von denen nicht alle hier erwähnt wurden und nur einer bis zum Ende direkt abhängig vom Helenaplot bleibt. Alle anderen machen sich früher oder später von den Haupterzählungen los oder sind von vorneherein selbständig. Der Aufwand, die Plots lediglich zu beschreiben, ist bereits enorm. Er verweist darauf, wie komplex und plural die Erzählstruktur von Por amor ist, die all diese Handlungsstränge gleichzeitig erzählt und miteinander verstrickt. Zweifelsohne sind nicht alle gleichberechtigt, und manche erhalten nur wenig Raum. Andererseits rahmen zwar die Hauptplots (insbesondere der Helenaplot) das Ganze, aber sie dominieren die Erzählung nicht durchgehend. Sie (nicht unbedingt ihre Figuren) treten im Gegenteil immer wieder für längere Zeit in den Hintergrund und lassen den Parallelplots den Vorzug. Dabei ist der Milena-Nando-Plot besonders wichtig, aber auch der Orestes-Lídia-Strang. Über weite Strecken der Erzählung, wird die Helena-Erzählung zur Nebensache. Abschließend bleibt lediglich zu ergänzen, wie eigentlich die Hauptplots enden. Es wurde schon angedeutet, dass das Geheimnis im letzten Kapitel gelüftet wird, und dass Atílio Helenas Tat heftig verurteilt, da er sich nichts sehnlicher als ein Kind gewünscht hatte, und sie ihm das einzige Kind nahm, das er hatte. Nach der Auseinandersetzung mit Helena sucht er seinen Jungen bei Eduarda und Marcelo auf, die schon alles wissen, denn Eduarda hatte das Tagebuch ihrer Mutter zufällig in die Hand bekommen und darin zu lesen begonnen, bis sie erfuhr, was in der Nacht der Geburten tatsächlich geschah. Eduarda fleht Atílio an, ihr das Kind nicht wegzunehmen. Das tut er nicht, aber er verlangt, dass das Kind die „Wahrheit“ erfährt. So wird das Kind – der Bruder – bei Eduarda aufwachsen. Die Wiederannäherung Atílios an He271

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lena und das Schlussbild, in dem das Kind zwischen den beiden Paaren hinund herwechselt, legen nahe, dass das Kind bei allen Vieren aufwachsen wird. Voraussetzung für dieses Ende war eine überraschende Wende wenige Kapitel zuvor. Gemeint ist, dass Atílio schon vorher zu einem Kind gekommen war. In einem Streit wirft Branca Arnaldo an den Kopf, dass nicht alle Kinder von ihm seien. Marcelo sei in Wirklichkeit der Sohn von Atílio. Nun wird klar, warum Branca Marcelo immer so drastisch bevorzugte, denn in ihm wähnte sie die Verkörperung ihrer Liebe zu Atílio. Ein Vaterschaftstest jedoch bringt die Wahrheit ans Licht: Atílio ist nicht Vater von Marcelo sondern von Leonardo. In der Folge wenden sich alle von Branca ab: Arnaldo trennt sich von ihr, die drei Kinder sind außer Haus und auch Marcelo hat von ihr genug. Sie wartet darauf, dass er sie mit seiner Familie besuchen kommt, aber das tut er nicht. Nichtsdestoweniger verbittert Branca nicht. Sie weiß auch aus dieser Situation noch das Beste zu machen. Zum ersten Mal unterhält sie sich mit ihrem Dienstmädchen Zilá, anstatt sie zu demütigen. Sie sagt ihr, sie soll sich auch einen Martini einschenken und sich zu ihr setzen, um ein wenig zu plaudern.

8.4 Der Diskurs des Melodramas 8.4.1 R ESAKRALISIERUNG

UND TERREUR

Peter Brooks hat gezeigt, dass das Melodrama als narrative Strategie zu verstehen ist, die Welt zu resakralisieren. Die Gattung entstand in der historischen Krise der Französischen Revolution, in der der langanhaltende Prozess der Desakralisierung seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Die Revolution zerstörte mit der traditionellen Gesellschaftsordnung auch das Sakrale, auf dem diese Ordnung beruhte. Auf Erden wurde das Sakrale von Kirche und Krone repräsentiert, die der vernunftbegründeten Organisation der Gesellschaft im Weg standen. In diesem Sinne bringt das Melodrama Ängste angesichts einer Schönen Neuen Welt zum Ausdruck, in der die herkömmlichen und theologischen Gesellschaftsnormen den sozialen Zusammenhalt nicht mehr garantierten. Der einstmals organisch entstandene und hierarchische Zusammenhalt der Gesellschaft verlor seine Gültigkeit. Das Melodrama steht für den Drang nach einer Resakralisierung der Welt, und es bekräftigt die Existenz eines moralischen Universums, das sich jedoch nur noch im menschlichen Handeln äußert. Daher ist der Sinn des Melodramas, auf die großen moralischen Kräfte aufmerksam zu machen, die hinter der Oberflächenrealität wirken. Wie Brooks betont, ist das Melodrama nicht schlicht ein moralistisches Drama sondern „das Drama der Moralität“ selbst, das verzweifelt versucht, die abgebrochene Verbindung zum Sakralen wiederherzustellen und in dieser Absicht geradezu obsessiv zu zeigen versucht, dass die Realität nur eine Maske des moralischen Kosmos ist, in dem das Gute und das Böse um die Oberherrschaft ringen. Sein Zweck ist, deutlich zu machen, dass Gesten und Dinge des sozialen Lebens nicht für sich stehen sondern den fundamental moralischen Sinn des Menschen bedeuten. In diesem Sinne ist das Sichtbare des Menschen nur Metapher der höheren moralischen Ordnung. 272

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So sind Leid und Chaos nicht einfach gegeben sondern Ausdruck eines Bösen, dessen Existenz notwendig darauf verweist, dass ihm das Gute entgegensteht. Daher der vielzitierte ästhetische Exzess des Melodramas, denn Übertreibung und Polarisierung sollen das Spirituelle in einer Welt deutlich machen, die ihre göttliche Sinngebung verloren hat. Mit der Überzeichnung der Moralität eines Charakters versucht das Melodrama, einen postsakralen menschlichen Sinn zu beschwören. Leid und Willkür triumphieren nur scheinbar in der Welt und werden als das Böse letztlich vom Guten niedergerungen (Brooks 1976: 1-23). Für Martín-Barbero bildet das Melodrama eine „tiefe Ader“ der kollektiven Vorstellungswelt in Lateinamerika. Es begründet seiner Ansicht nach das „historische Gedächtnis“ dieses Kontinents. Die Gattung vermittelt zwischen der Massenkultur und der Popularkultur, zwischen den Massenmedien und den lateinamerikanischen Mediennutzern.19 Auch für Monsiváis formt das Melodrama wie kein anderes Genre die innerste Vorstellungskraft der Menschen in Lateinamerika: Von allen Gattungen der Popularkultur, der ländlichen oder städtischen, hat keine die Kraft des Melodramas: innere Sprache oder intime Sprache der Gesellschaften, der Familien und der Menschen.20

Das Publikum, so ist Monsiváis zu verstehen, macht aus den industriekulturellen Melodramen urbane Popularkulturen, denn das Publikum verwandelt sich das Melodrama als transmediale Schule seines Gefühlslebens an: Ihm entnimmt es über zwei Jahrhunderte lang Anweisungen, wie in den Städten zu leiden ist, wo hier Gut und Böse verortet sind, welche Muster im Amourösen und beim Familienstreit zu befolgen sind, welche Ausdrücke und Gesten man wie zu platzieren hat, wenn die Grenzen des Leids definitiv überschritten sind. Kurz, vom Melodrama lernt das Publikum, modern zu sein bzw. wie unter städtischen und entsakralisierten Bedingungen das Gute und das Böse zum Vorschein kommen. Die wichtigste Lektion jedoch: „Schlimmer noch als die Bitterkeiten des Lebens ist, wenn sie von keiner Technik aufbereitet und festgehalten werden.“21 Wenn das Melodrama eine kollektive Empfindsamkeit im Publikum ausbildet und diesem Leid- und Schmerzposen beibringt (Monsiváis 2004: 24), dann kann es nicht, wie Martín-Barbero vorschlägt, als anachronistische Tradition angesehen werden, die dem Publikum erlaubt, sich in der Moderne der Massenmedien wiederzuerkennen. Das Melodrama ist kein prä-moderner Rest, in dem sich die Zuschauer bei ihrem Eintritt in die Moderne spiegeln und wiedererkennen. Im Gegenteil ist das Melodrama, wie Brooks es andeutet, Ausdruck der Moderne. In ihm artiku19 „En forma de tango o de telenovela, de »cine mexicano« o de crónica roja, el melodrama trabaja una veta profunda del imaginario colectivo, y no hay acceso posible a la memoria histórica que no pase por ese imaginario“ (Martín-Barbero/Oroz 1992: 27-28; siehe auch Martín-Barbero 1987: 243-244). 20 „De todos los géneros de la cultura popular, rural o urbana, ninguno tiene la fuerza del melodrama, lenguaje interior o lenguaje íntimo de las sociedades, las familias y las personas“ (Monsiváis 2004: 19). 21 „Uno es el mensaje: son aún más amargas las contrariedades de la vida si ninguna tecnología las promueve o registra“ (Monsiváis 2004: 19).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

liert sich das Bedürfnis nach fundamentaler Sinngebung und Orientierung angesichts der schlagartigen Zertrümmerung einer organisch gewachsenen Werteordnung. Die forcierte Modernisierung Lateinamerikas im 20. Jh., die teils rücksichtslos zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit ging und traditionelle Lebensweisen zerstörte, schafft eine solche Situation. Andererseits gleicht die Verletzung von Werteordnungen in einem bis heute von Eroberung und Plünderung geprägten Kontinent einem Dauerzustand. Religions- und Kulturverlust sind für viele Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika prägend nicht erst seit der Moderne. Im Kontext ununterbrochener sozialer Ausgrenzung kann dem Melodrama die Funktion zufallen, missachtete Sehnsüchte nach der Vergewisserung eines unvordenklichen moralischen Sinns hinter einer zerstörerischen Wirklichkeit zu bündeln. Mit Brooks läge der Sinn des Melodramas in der Beschwörung der Existenz eines moralischen Weltregimes. Gumbrecht erkennt jedoch in Brooks Ansatz nur ideologische Funktionen des Melodramas, also Vorgaben, wie die Welt zu interpretieren ist. Was Gumbrecht herausarbeitet, ist just die „Appellstruktur“ der (Theater-)Gattung des Melodramas. Wie bereits angedeutet, zeigt der Autor, dass die emphatische Wirkungsästhetik des Genres nicht nur auf die unmissverständliche Verdeutlichung des moralischen Antagonismus ausgerichtet ist, sondern auch auf die Weckung von Zuschauerangst. Mit der Inszenierung der terreur, so Gumbrecht, zielt das Melodrama auf Affektwirkungen bei den Zuschauern. In dem es bei den Zuschauern Angst erzeugt und sie wieder davon erlöst, verwirklicht es seine soziale Funktion, die revolutionäre terreur fiktiv zu überwinden (Gumbrecht 1979). Das Interessante an Gumbrechts Ansatz ist, dass es auf das aufmerksam macht, was man einen performativen Aspekt des Melodramas bezeichnen könnte. Gemeint ist, dass dem Melodrama auf diese Weise nicht nur diskursive Funktionen zugeschrieben werden, sondern Affektappelle, die zusätzlich zur Aussage im Aussagen eigene Sinnpotentiale entfalten. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil eine Analyse nur der diskursiven Ebene der Gattung kaum erklären kann, worin die soziale Funktion des Melodramas angesichts einer allbekannten Aussage eigentlich besteht. Wie schon herausgearbeitet wurde, besteht der Reiz des serialisierten Melodramas sicherlich darin, die Zuschauer und Leser nicht nur in die Erzählung sondern in das Erzählen hineinzuziehen. Aber warum gerade diese Erzählung und immer nur diese Erzählung?

8.4.2 D AS L EID

UND DAS

G UTE

IN DER

T ELENOVELA

Die soziale Funktion der Telenovela ist selbstredend eine völlig andere als die des melodramatischen Revolutionstheaters. Die soziokulturellen Kontexte sind offensichtlich völlig unterschiedlich. Es ist daher von vorneherein anzunehmen, dass die Appellstruktur der Telenovela unabhängig von ihrer medialen Performanz eine andere ist als die des genannten Theatergenres. Ein Blick auf die Telenovela zeigt, dass der Affektappell der Telenovela nicht auf Angst ausgerichtet ist, sondern auf Leid. Die vielbeschworene „Rhetorik des Exzesses“ ist ebenso wenig wie das Genre selbst ein „Anachronismus“ (Martín-Barbero 1992a: 50) sondern modern (aber nie modernistisch). Die 274

Wer alles auf einmal erzählt, verpasst das Beste daran

moralistische Überzeichnung der Melodramafiguren mag dem Unvermögen oder dem Unwillen der Macher geschuldet sein, mit Raffinesse zu arbeiten. Sie wird dadurch nichtsdestoweniger sinnlos, denn sie erfüllt einen Zweck: das Mit-Leid der Zuschauer zu erregen. Die „Rhetorik des Exzesses“ steigert Leid zur kosmischen Katastrophe, in der das Gute durch das Böse unterdrückt wird. Die Unbarmherzigkeit des Bösen und die Schutzlosigkeit des Guten invadieren den Affekthaushalt der Zuschauer und treiben ihn zur Mobilmachung im Kampf gegen das Ungeheuerliche und Unerträgliche. Auch hier wieder liegt der Sinn – nicht das Manko – des Melodramas just in seiner Eindeutigkeit, denn nicht zu Verständnis bemüht es die Zuschauer sondern zu klarem emotionalem Engagement.22 Die Übertreibung lässt den Zuschauern kein emotives Rückzugsgebiet sondern zwingt sie, Partei für die Unschuld zu ergreifen (oder sich vom Bildschirm abzuwenden), weil sich hinter ihrem Leid die tiefere Bedeutung der verletzten kosmischen Ordnung verbirgt. Interessanterweise ist dieser Aspekt der Telenovela-Forschung bisher völlig entgangen. Die Telenovela zeichnet nicht das Bild einer heilen Welt. Ganz im Gegenteil verwendet sie all ihre melodramatische Maßlosigkeit darauf, den Zuschauern den letzten Zweifel darüber auszuräumen, dass die irdische Welt nicht heil ist. In der Telenovela-Wirklichkeit herrscht nicht das Gute sondern das Böse, nicht die Tugendhaften haben die Oberhand sondern die Schurken. Damit will die Gattung jedoch nur verdeutlichen, dass diese Welt nicht das ist, was sie scheint, nämlich Chaos, sondern dass sie nur verkehrt ist und der eigentlichen, verdeckten moralischen Ordnung widerspricht. Am Ende wird diese höhere Ordnung wiederhergestellt, weil es so sein muss, und die Welt sonst keinen Sinn machte. Diese Handlungselemente sind apriorisch gesetzt, sie müssen nicht hergeleitet werden, die Schurken sind böse, weil es das Böse gibt, und die Tugendhaften sind gut, weil es das Gute gibt. Ihre Existenz ist unvordenklich. Der Sinn dieser moralischen Ordnung ist just, dass sie nicht zu begründen ist. Sie ist irreduzibel: postsakral. Statt hergeleitet zu werden, muss dem Sinn zum Durchbruch durch die dünne Oberfläche des Chaos verholfen werden. Hierzu dient die extreme Emphase der Darstellungsmittel. Die Welt erscheint als Chaos, weil in ihr die Guten unterliegen, und die Bösen immer schlauer und schneller sind. Gleichzeitig bezeugt der Exzess von Gemeinheit und Leid, dass dies nicht sein darf, weil es einen tieferen Sinn des Universums gibt, der sich am Ende durchsetzen wird. Wie schon angedeutet, kann der mexikanischen Telenovela bei der audiovisuellen Umsetzung des Melodramas das cine mexicano Modell stehen, das sich seinerseits am Theatermelodrama des 19. Jh. anlehnt. Wie Monsiváis schildert, säkularisiert das filmische (und theatrale) Melodrama den Glauben und lässt Christus im Leid und im Opfer der Heldin wiederkehren – aber ohne den Heiligen Geist:

22 Gewöhnung oder Bedürfnis oder beides – die Zuschauer (besonders die Zuschauerinnen) erwarten an erster Stelle Moral von der Telenovela. Das ergab, wie Klindworth berichtet, eine Umfrage unter Telenovela-Zuschauern in Colima, Mexiko. „Moralische Unterweisung“ ist die Anforderung, die die meisten Zuschauer (Frauen zu 35,2%, Männer zu 21,5%) an das Genre stellen. Als zweites rangieren gefühlsbezogene Themen (20,2% der Frauen, 16,2% der Männer verlangen dies) (Klindworth 1995a: 297298).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur Der Glaube wird unter einer Prämisse verbreitet: Eine oder mehrere Figuren des Werkes oder der filmischen Erzählung ersetzen Christus und sterben für die Sünde aller. Und wer sich vom Schicksal der Figur nicht erschüttern lässt, ist ein Apostat. Ohne das Schema vom Christus am Kreuze formiert sich das Familienmelodram nicht in seiner nachdrücklichsten Gattungsform. Aber dieser Christus ist ein Christus in der Welt, er ist im Gleichklang mit der Säkularisierung der traditionellen Dramen und der Allgegenwart der Entsprechungen von Hölle und Himmel.23

Während die Figuren vormachen, dass das Leid Sinn macht, läutert das kathartische Mit-Leid den Affekthaushalt der Zuschauer und vergewissert sie als erlösungsfähige Wesen (vgl. Monsiváis 2004: 20).24 Das televisuelle Melodrama steht nun vor der Aufgabe, die Zuschauer über Monate mit-leiden zu lassen. Wenn dies – im Gegensatz zum filmischen Melodrama – auf Kosten der kathartischen Wirkung geht, so kann die Telenovela jedoch auf das Mit-Erzählen der Zuschauer bauen. In diesem Sinne erklären sich Televisas cenicienta-Erzählungen im Grunde als Inszenierungen einer scheinbar sinnlosen Welt, die von Leid regiert wird. Das Aschenbrödel ist die Verkörperung des Guten schlechthin, das unerbittlicher und unentwegter Unterdrückung ausgesetzt wird. Rosa in Rosa salvaje ist Dulcina und Leonela, den obersten Herrscherinnen in der erzählten Welt der Telenovela, völlig ausgeliefert. Rosas Tollpatschigkeit und Naivität lässt sie über weite Strecken der Erzählung in jede Falle tappen, die ihr die Schurkinnen stellen. Dass sie in die Fallen tappt, ist auch Ausdruck ihrer Wahrhaftigkeit, denn sie weiß sich nicht zu verstellen. Rosa wird von echten Gefühlen, von aufrichtiger Liebe geleitet. Daher können sie Dulcina und Leonela regelmäßig so lange provozieren, bis sie ihr Gefühl nicht mehr kontrollieren kann, und sich ihre Eifersucht und Wut Bahn schafft. Rosa ist ohne Falsch, und deshalb hat sie schon verloren. Sie erkennt die Falschheit ihrer Feindinnen nicht und hält für bare Münze, was ihr präsentiert wird. Ihre Welt ist ehrlich, und darum muss sie scheitern. Ihre Liebe ist authentisch, und deshalb ist sie verletzbar. Ihre Feindinnen jedoch täuschen Gefühle nur vor, um bestimmte Ziele (Status, Geld) zu verfolgen. Aus diesen Gründen wird Rosa leichtes Opfer von Intrige und Manipulation. In dieser Welt hat die Heldin keine Chance. Es handelt sich um eine Welt voll Lüge und Gier, die jedoch nach außen in Glanz und Glamour erstrahlt. Bewohner und Einrichtung des Linares-Anwesen erinnern in Vornehmheit und Eleganz an einen französischen Hofstaat des 18. Jh. Die Antagonistinnen sind schön, das engelhafte Gesicht von Leonela wurde schon erwähnt. Dulcina trägt die Süße in ihrem Namen. Jedoch ist dies alles Schein, hinter dem sich die hässliche Fratze des Bösen verbirgt. Die edlen Manieren sind steifes und künstliches Gehabe, das allein schon Falschheit und Dekadenz ankündigt. Die 23 „La fe se divulga bajo una premisa: uno o varios de los personajes de la obra o del relato fílmico sustituyen a Cristo y mueren por los pecados de todos. Y quien no se conmueve ante el destino del personaje es un apóstata. Sin el esquema de Cristo en la cruz no surge el melodrama familiar en su género más vigoroso, pero ya es un Cristo en el mundo, al ritmo de la secularización de los dramas tradicionales y de lo ubicuo de las equivalencias del Infierno y el Cielo“ (Monsiváis 2004: 21). 24 Zum ideologischen Gehalt des Melodramas (sein Diskurs nationaler Identität) und zu seiner kino-ästhetischen Inszenierung im cine mexicano siehe Berg (2004b).

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Façon, die die feinen Damen wahren, verbergen nur unwillig Kälte und Grausamkeit. Rosa ist mit ihrer Einfachheit und Spontaneität ständig in der Defensive. Sie ist eingeschüchtert, das verrät ihr scheuer Blick, ihre geduckte Haltung, ihr leises Drucksen, ihr verzweifeltes Aufbrausen, als sie schon mit dem Rücken zur Wand steht und damit ihre Niederlagen besiegelt. Obgleich völlig wehrlos, wird Rosa von den Damen nicht geschont. Unerbittlich suchen sie ihren Schmerz und erhöhen jedes Mal die Dosis, ohne dabei auch vor Verbrechen nicht zurückzuschrecken. Gegen diese Herzlosigkeit ist Rosa machtlos und muss das Feld räumen. All dies ist nicht plausibel, muss es auch nicht sein, denn es ist immer schon begründet im Antagonismus der moralischen Kräfte. Deswegen unternimmt Ricardo beispielsweise nichts, er lässt die Antagonistinnen frei gewähren, weswegen sich gattungsunkundige Zuschauer fragen mögen, was eigentlich seine Motivation ist. Für das melodrama-a-la-mexicana ist das jedoch irrelevant, denn der Held ist lediglich das Gut, um das Protagonistin und Antagonistinnen ringen. Aber worin genau liegt der Schmerz, der Rosa zugefügt wird, was macht sie leiden? Was trifft sie so, dass sie ihre große Liebe aufgibt und das Vertrauen verliert? Wie erzeugen die Schurkinnen Leid, das auch auf die Zuschauer überspringt? Die Gesellschaft, der Rosa nicht gewachsen ist, ist die Gesellschaft, in der die Reichen regieren. Ihre vernichtende Waffe ist die Erniedrigung und Demütigung. Für die feinen Damen ist Rosa einfach nur „esa salvaje“, „diese Wilde“. Rosa ist arm, das ist ein existentieller Makel in einer Welt, in der eine raffgierige Plutokratie herrscht, die sich aristokratisch gibt. Rosa ist ungebildet, sie ist Analphabetin, sie hat keinen Geschmack, sie hat keine Manieren, sie kann nicht mit Messer und Gabel essen, sie wischt sich ihre Hände am Tischtuch ab. Der Empfang, zu deren Anlass sie der besseren Gesellschaft weniger vorgestellt als vorgeführt wird, ist für die Antagonistinnen eine köstliche Gelegenheit, Rosa zu martern. Sie stecken sie in ein unmögliches Kleid, gegen das sie sich nicht zu wehren in der Lage ist, und das allein sie bereits der Lächerlichkeit preisgibt. Rosa kann nicht mit Stöckelschuhen laufen, muss es aber nun und kippt ständig um. Sie kann sich nicht ausdrücken, denn ihre Sprache ist plebejische Umgangssprache und deklassiert sie im Raum der gewählten Diktion. Das ist Ricardo unangenehm, und er überlässt es Dulcina, sie den Gästen vorzustellen. Bevor er aus dem Saal eilt, rutscht Rosa ein flehentliches „¡oh, no!“ über die Lippen, das peinlich zum Ausdruck bringt, dass sie regelrecht Angst vor den Gästen hat. Diese lachen sie ungeniert aus. In dieser Welt hat keiner Mitleid mit ihr, gleich einem getriebenen Tier mit traurigen Augen muss sie einen Schlag nach dem anderen einstecken. Mitleid haben nur die Zuschauer, die dem wiederholten Schmerz Rosas ausgesetzt sind. Diese Quälereien werden nicht angedeutet sondern mit Nahaufnahmen der grausamen Täterinnengrinsen wie des Schmerzblicks des Opfers breit ausgemalt. Weh tun soll es, nicht nur der Protagonistin sondern auch den Zuschauern. Was tut weh? Das Gute und das Böse mögen abstrakte Begriffe sein, aber der Schmerz ist sehr konkret. Der kosmische Antagonismus kleidet sich in Verachtung und Heimsuchung der Unterprivilegierten durch die Überprivilegieten. Nicht nur besitzen einige wenige fast alles und die meisten fast nichts. Außerdem quälen die Reichen die Armen, indem sie sie als Halbmenschen – Wilde – herabwürdigen, die zwar von ihrer Statur her Menschen sind, von ih277

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rer Lebensweise jedoch den Tieren näher stehen. Eine Gesellschaft, die das zulässt, ist eine Klassengesellschaft, die die einzelnen Schichten von einander abgrenzt und Überschreitungen der Klassengrenzen verbietet. Klassenzugehörigkeit ist Schicksal und gesellt Gleiches zu Gleichem. Bei aller Metaphorizität der Aussage, bei den Klassengegensätzen wird Televisa sehr konkret: Nichts in der Darstellung ist so realistisch wie die Ausgestaltung des Palastes der Linares auf der einen und dem Häuschen in der ciudad perdida auf der anderen Seite. Im Palast trinkt man aus kunstvoll geschliffenen Kristallgläsern, im Häuschen von Tomasa gibt es zwischen den wenigen Räumen noch nicht einmal Türen, nur Vorhänge. Das Milieu der Unterprivilegierten so krude darzustellen, ist sich demgegenüber beispielsweise TV Globo zu schade. Das passt nicht zum padrão. Nicht, dass das Leid der sozialen Diskriminierung in den brasilianischen Telenovelas nicht auch dazu gehörte. Aber die unteren Klassen sind zu hässlich, als dass sie mit Globos Hochglanzästhetik vereinbar wären. Televisa jedoch kümmert sich nicht um ästhetische Fragen, sondern nur darum, die Zuschauer mit Leid zu bedrängen. Dass die Erniedrigungen und straflosen Verbrechen der Oberschichten zwar (Telenovela-)Wirklichkeit sind, aber nicht sein dürfen, macht die Überzeichnung der Täterinnen als hinterlistige und grausame Schurkinnen sowie des Opfers als wehrlose und authentische Heldin deutlich. Vor allem Dulcina scheint den Schmerz anderer richtiggehend zu genießen. Sie gibt sich nicht mit dem Ziel zufrieden, die ungewollte Schwägerin loszuwerden. Womit die Telenovela die Zuschauer bedrängt, ist das Übermaß an Grausamkeit, das weit über das Ziel hinauszuschießen scheint und die Gemeinheiten in einen Selbstzweck verwandeln. Die Zuschauer können nicht anders als zu sehen, dass Dulcina verletzt, um zu verletzen, und daran Gefallen findet. Als Dulcina wegen des Tötungsversuchs der Geliebten von Robles kurzzeitig in eine Massenzelle eines Frauengefängnisses kommt, beleidigt sie unverzüglich die Insassinnen und behauptet, sie sei etwas „Besseres“. An dieser Provokation und dem diabolischen Lächeln lässt sich ablesen, dass sie es darauf anlegt zu verletzen. Sie fürchtet die Reaktion der Insassinnen nicht, im Gegenteil, sie reizt die Anführerin der Zelle zu einem Kampf, um sie auch physisch zu verunstalten. Sie zerkratzt ihr das Gesucht, als hätte sie Krallen an den Fingern. Die Kamera serviert den Zuschauern das zerschundene und blutende Gesicht der Gegnerin in Nahaufnahme. Dulcina selbst triumphiert unversehrt und macht einmal mehr die überwältigende Macht des Bösen deutlich, die sie verkörpert. An Eindeutigkeit ist die Telenovela nicht zu übertreffen: Dulcina steht für das Böse schlechthin. Der Triumph ihrer maßlosen Gemeinheit verstößt permanent gegen die höhere Werteordnung, was das Gute langfristig nicht dulden kann. Aus diesem Grund ist die Telenovela an sich nicht gesellschaftskritisch, denn sie prangert Missstände nicht an sondern insistiert darauf, dass auf das Böse unweigerlich das Gute folgt. Um Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen geht es dem Genre nicht sondern um eine Werteorientierung der Leidenden: Obwohl in der Welt Leid und Unterdrückung triumphieren, existiert das Postsakrale, das Gute schlechthin, die höhere Gerechtigkeit: Sie werden das Böse und Schlechte zurückdrängen. Das Postsakrale hüllt sich in Menschliches, ist selbst jedoch nicht menschlich. Nicht auf die Aufhebung der Klassengesellschaft, nicht also auf den sozialen Ausgleich, auch nicht auf die Ahndung der Verbrechen durch Strafverfolgung und Justiz will die Gat278

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tung hinaus. Nicht der Mensch ist hier das handelnde Subjekt. Nicht der Wandel der sozialen Verhältnisse ist das Ansinnen des Genres, erst recht kein ‚Bewusstsein‘ (das wäre im Hause Televisas ein echtes Wunder). Das Telenovela-Melodram drängt den Zuschauern (ob sie wollen, oder nicht) einen Glauben an eine bessere Welt auf. Allerdings werden die Zuschauer dabei nicht auf ein kompensierendes Jenseits vertröstet. Die bessere Welt ist ganz von dieser Welt. Was auf dem Spiel steht, ist zwar vom christlichen Geist durchdrungen, nicht aber vom göttlichen. Auch das Melodrama kann Gott nicht wiederauferstehen lassen. Eben deshalb ist es modern. Die bessere Welt des Melodramas ist im Grunde ein übermenschliches, aber nicht außerweltliches Hybrid. Im weltlichen Glauben, den das Genre verbreitet, werden das Gute und das Böse mit Majuskeln geschrieben. Sie sind die Subjekte der Geschichte (auch mit Majuskel). Zwar taucht la Guadalupana, die „mexikanische“ Jungfrau von Guadalupe, in Rosa salvaje auf, und nicht zu selten. Rosa ruft sie beispielsweise immer wieder um Hilfe. Jedoch ist es an keiner Stelle die Jungfrau, die im Geschehen interveniert. Das Gute interveniert (am Ende), das nichtsdestoweniger mehr ist als der beste Mensch. Aus dem unterdrückten Opfer wird am Ende der Telenovela eine Gegenspielerin zu Dulcina auf Augenhöhe. Bezeichnenderweise besteht Rosas Rache lediglich darin, Dulcina dazu zu zwingen, sich auf Knien zu entschuldigen und die Demütigungen zurückzunehmen und sich selbst zu erniedrigen. Das erklärt, dass das melodramatische Leid nicht aus Elend und Armut besteht, sondern aus Erniedrigung. Ansonsten wäre die Telenovela schon mit der Einsetzung Rosas als Universalerbin von Paulette zu Ende. Paulette findet Rosa im 154. Kapitel wieder – erlöst sie damit jedoch noch nicht von ihrem Leid. Denn zu diesem Sendezeitpunkt hat das Drehbuch noch eine Menge – d.h. gut ein Viertel der Erzählung – mit den Zuschauern vor. Vom Leid erlöst werden kann Rosa erst, wenn sie nicht mehr verachtet wird. In diesem Sinne ist die Telenovela ein „drama del reconocimiento“, ein „Anerkennungsdrama“, wie Martín-Barbero will. Daher verlangt Rosa von Dulcina, als sie sie durch die Schuldscheine in der Hand hält, nichts als Symbolik: Sie will ‚lediglich‘ einen Kniefall, der in diesem Kontext jedoch nicht nur Rache (die Erniedrigte erniedrigt die Erniedrigerin) bedeutet sondern im Grunde die Anerkennung Rosas Ebenbürtigkeit (ebengebürtig sind Protagonistin und Antagonistin ja, wie sich mittlerweile herausgestellt hat). Das melodramatische Heil ist vollkommen irdisch – aber im Grunde besteht es nicht (allein) aus der Aufhebung von Armut und der Verwirklichung heterosexuellen Liebesglücks oder der Aufdeckung ‚wahrer‘ Familienidentitäten. Vor allem besteht dieses Heil aus der Aufhebung des deklassierenden und menschenverachtenden Stigmas der Armut. Dulcina wird von ihrem Klassenhass nicht ablassen, denn den Kniefall leistet sie erst, als es gar nicht mehr anders geht, und die Polizei schon vor der Tür steht, und sie leistet ihn schäumend vor Wut sowie unter Androhung schlimmer Vergeltung. Sie wird vom Guten letztlich niedergerungen, aber nicht besiegt, denn ihr Hass treibt sie schließlich in den Wahnsinn. Käme es dabei nur auf Rosa an, wäre Dulcina nicht niederzuringen, denn mit den Waffen der Bösen (Heimtücke, Brutalität) kann die Tugend nicht kämpfen. Das Gute als Gutes geht über die Leistungsfähigkeit der individuellen Tugend hinaus und überkommt das Geschehen mit glücklicher Fügung (Rosa und der Embryo überleben das Attentat mit dem Auto; Dulcina verliert am Ende den Verstand). 279

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Daraus lässt sich schließen, dass die soziale Funktion der Telenovela dadurch begründet ist, dass sie die Existenz des Guten in einer Welt beschwört, die dem Anschein nach sinnlos ist, weil in dieser Welt dem Leid offenbar kein Einhalt geboten werden kann. Dieses Leid vollzieht sich im Hass und in der Herabwürdigung der Bevölkerung durch die Klasse der Reichen, deren Willkür keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Mit ständigen Peinigungen der Armen durch die Reichen sucht die Telenovela, einen Leidenseffekt bei den Zuschauern zu erzeugen. Die Zuschauer leiden mit, weil die Pein der Opfer grundlos ist und nicht gesühnt wird. Die zügellosen und aufreizenden Gemeinheiten springen die Zuschauer förmlich an, so dass sie (sich entweder über die unfreiwillige Komik des Exzesses lustig machen oder) irgendwann nach Gerechtigkeit verlangen – die ihnen aber über ungefähr 195 Kapitel lang vorenthalten wird. Das Ziel ist, den Affekt der Zuschauer zu erregen und sie mitleiden zu lassen. Am Ende wird dieses Mit-Leid überwunden, und die scheinbar ungerechte Welt erhält doch noch einen Sinn.

8.4.3 D IE

REALISTISCHE

W ELT

DER

T ELENOVELA

Der Leid-Diskurs und seine Performanz bilden die Grundlage der holzschnittartigen Televisa-Ästhetik. Televisa nutzt den metaphorischen Aussagemodus des Melodramas aus und bietet den Zuschauern stets nur simpelste Affektreize. In der Leidwelt des Melodramas ist nichts wie es scheint, nichts steht für sich selbst als Selbstzweck, nichts ist real, denn die Realität ist selbst nur Maske. Alles ist Bedeutung des tieferen Sinns. Das trifft sich gut für Televisas Produktionsmaschinerie, die sich auf allergröbste Darstellungsformen beschränken kann, da es nie um das Dargestellte an sich geht sondern um dessen einfache Bedeutung (gut oder böse). Was die Schauspieler spielen, muss auf die Zuschauer nicht überzeugend (wahrscheinlich) wirken sondern ist von diesen zu deuten. Dafür reichen Schablonen, denn das Künstliche und schlecht Gemachte behindert die metaphorische Aussage nicht. So stört es prinzipiell nicht, dass die Schauspieler den Text nur nachsprechen, den sie ins Ohr geflüstert bekommen. Televisa ist sich sogar nicht zu schade, eine der Hauptdarstellerinnen mitten in Rosa salvaje auszutauschen. Die Darstellerin von Leonela, Edith González, wird mitten in der Produktion durch Felicia Mercado ausgewechselt, ohne dass an der Rolle das Geringste verändert worden wäre. Als sähen die Zuschauer ein Amateurtheater!! Die Schauspielerinnen sehen sich noch nicht einmal ähnlich! Sie sind lediglich beide blond, groß und schlank und eignen sich daher, im mexikanischen Kontext das Aristokratische zu bedeuten. Televisa versucht erst gar nicht, die Zuschauer in eine ästhetische Illusion zu hüllen, denn um Illusion geht es dem Konzern nicht, sondern um krude Dekodifikation. Diese Mexikanität ist für TV Globo das Schlechte schlechthin. Schon Anfang der siebziger Jahre lernen Globos Schauspieler „naturalistisch“ zu agieren, d.h. beispielsweise Handlungen durchzuführen (etwa ein Baby wickeln) und dabei den Text nicht anzuhalten sondern währenddessen weiterzusprechen (vgl. Duarte 2000: 254). Demgegenüber deklamieren Televisas Schauspieler den Text, meist den Blick ins Unendliche gerichtet... Bei Televisas Telenovelas – den literaturfreien Erzählungen – sehen die Zuschauer 280

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förmlich den Text (im Gegensatz zu den Schauspielern, die ihn nur hören und dann sprechen). TV Globo inszeniert demgegenüber eine Illusionswelt, in der Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen (sollen).25 Die ästhetische Illusion wird durch den Realismus auf den Höhepunkt getrieben, der durch die schon erwähnte „referentielle Illusion“ den Fiktionscharakter auszublenden scheint (Barthes 1984b: 186). Der Realismus geht damit über die „Erlebnisillusion“ hinaus, die den Rezipienten in eine fiktive Welt eintauchen lässt und in ihr „rezentriert“ (Wolf 1998: 229). Roman Jakobson hatte bereits auf die Relativität des Realismusbegriffs hingewiesen und deutlich gemacht, dass die allgemeine Verwendung des Begriffs einen Wahrscheinlichkeitsbruch postuliert. Der Realismus setzt daher eine vorgängige Wahrscheinlichkeitsnorm voraus, die er als inadäquat und wirklichkeitsverkennend im Namen einer neuen, wirklichkeitserkennenden Wahrscheinlichkeit ablehnt (Jakobson 1979: 131-134). Wogegen Globos deklarierter Realismus rebelliert, ist mehr als offenkundig: gegen die mexikanischen Telenovelas, bzw. gegen ihren metaphorischen Wirklichkeitsbegriff und den (kostengünstigen) Verweis auf eine höhere moralische Weltordnung. Was bedeutet dies für Globos Wahrscheinlichkeitsnorm? Zunächst ist zu bemerken, dass sich Globo an den classical style Hollywoods bzw. an den historischen Realismus und seinen referentiellen Illusionismus anlehnt. Dies wurde oben bereits ausgeführt. Da TV Globo jedoch an das Genre der Telenovelas gebunden ist, kommt es ohne das serielle Melodrama nicht aus. Denn sein Versuch, die Welt zu resakralisieren, bildet das narrative Rückgrat der Gattung. Wie soll die Erzählung ohne den melodramatischen Dauerspannungsbogen des Großkonflikts zwischen Gut und Böse auf die 160 bis 200 Kapitel kommen, die der Profit verlangt? Kann sich die Gattung selbst leugnen? Inwieweit erfindet Globo die Telenovela neu? Por amor ist ein exzellentes Beispiel, um diese Fragen zu diskutieren. Auch Globos Telenovelas sind primär darauf ausgerichtet, Affektwirkungen bei den Zuschauern hervorzurufen. Wie bereits erörtert, sind das Thema von Por amor zunächst die Liebe und die Hindernisse, die ihr im Weg stehen. Das bedeutet, dass sich die einzelnen Liebesbeziehungen der Charaktere erst anbahnen (kurze Anfangsphase), dann jedoch (in der langen Mittelphase) schweren Belastungen und Krisen unterzogen werden, die bis zu (vorläufigen) Abbrüchen der Verhältnisse führen. Erst in der sehr kurzen Schlussphase werden die Beziehungen wieder hergestellt. Damit ist klar, dass auch in den brasilianischen Telenovelas das Leid im Mittelpunkt steht, und das Genre darauf ausgerichtet ist, die Zuschauer in Mit-Leidenschaft zu ziehen. Auch in Por amor gibt es also das Gute (das Liebesglück) und das Böse (die Störung des Glücks). Die Frage ist jedoch, welche Gestalt Gut und Böse annehmen. 8.4.3.1 Die köstliche Schurkin

Wie bereits angedeutet, gibt es auch in Por amor eine grande vilã, eine groß(artig)e Schurkin. Branca ist die große Erniedrigerin, vor der fast nie-

25 Nicht zuletzt die Schauspieler verirren sich in dieser Welt. So diskutiert Regina Duarte beispielsweise rückblickend ihre Mühe, zwischen sich selbst und ihren Rollen zu unterscheiden (Duarte 2000: 254).

281

Telenovelas und kulturelle Zäsur

mand sicher ist. An ihrer Figur macht sich der Klassenhass und sein Affektappell in Por amor fest, was zeigt, dass diese auch für die brasilianischen Telenovelas konstitutiv sind. Unentwegt demütigt sie ihre eigene Tochter, Milena, aber ganz besonders das „hässliche Entlein“ Leonardo. In seiner Gegenwart erzählt sie, er sei ein ungewolltes Kind einer unerwünschten Schwangerschaft, sie hätte ihn lieber abtreiben sollen. Nie erhält Leonardo eine Geste der Zuneigung oder Wertschätzung, was er auch tut und sagt, wird von ihr scharf zensiert oder lächerlich gemacht. Geradezu überbordend ist dagegen ihre Hingabe zum erstgeborenen Marcelo, der alles doppelt erhält. Das Bildsyntagma der Erzählung zeigt gewöhnlich erst die übersteigerte Zuwendung Brancas zu Marcelo, während Leonardo in der Szene daneben steht und von der Mutter völlig ignoriert wird, und anschließend Leonardos traurigen Gesichtsausdruck, der die Mühe zeigt, diesen alltäglichen Schlag einzustecken. Noch als per DNA-Test herauskommt, dass nicht Marcelo, sondern Leonardo der leibliche Sohn von Atílio ist, und dass Branca all die Jahre irrte, als sie Marcelo Atílio zuschrieb, und ihn deshalb vor den anderen beiden Kindern vorzog, weigert sie sich, dieser Tatsache ins Auge zu sehen und nennt Leonardo weiterhin eine „Strafe“. Gesteigert wird dieses Leid durch den Opferlammcharakter Leonardos, der alles still und ohne Widerspruch erträgt und im Gegensatz zum darling Marcelo zur Stelle ist, wenn Branca jemanden braucht. Wie jedoch begleitende Presseberichte die Figur zu Ausstrahlungsbeginn vorstellen, handelt es sich nicht um eine Schurkin im mexikanischen Sinne, sondern um eine „perversa diferente“, eine „Perverse, die anders ist“ (Cezimbra 1997). Der Drehbuchautor Manoel Carlos nennt sie eine „tirana gostosa“, eine „köstliche Tyrannin“ (zitiert nach Cezimbra 1997). Bereits erwähnt wurde, dass Branca die Verhältnisse von Helena und Atílio sowie von Marcelo und Eduarda zwar stört, aber nicht zu zerstören in der Lage ist. Ihre Macht ist begrenzt. Die angesprochenen Figuren zerstören ihre Beziehungen selbst (um sie später wieder aufzubauen). Damit wandelt sich das Weltbild im Vergleich zur mexikanischen Telenovela von Grund auf. Das Gute und das Böse sind keine höheren Mächte mehr, die den tieferen Sinn des oberflächlichen Geschehens bilden. Die brasilianischen Telenovelas sind realistisch in dem Sinne, als bei ihnen das erzählte Geschehen auf sich selbst verweist und nicht auf eine andere Bedeutungsebene. Die Figuren verkörpern daher keine höheren Kräfte mehr. Sie wandeln sich in Charaktere, deren Handeln von ihrer Persönlichkeit begründet wird und sich psychologisch motiviert. In dem Maße, in dem sich die Telenovela von der Vorstellung einer höheren Weltordnung emanzipiert, rückt die Wirklichkeit in den Fokus. Nun sprechen die Dinge für sich selbst, nun kann die Erzählung „Probleme“ erörtern, „Themen“ besprechen. Branca ist brillant – nicht allmächtig. Sie ist herrschsüchtig und liebt es, ihre Mitmenschen zu demütigen und zu quälen, vor allem, wenn sie ihr nicht an Schlagfertigkeit und Dreistigkeit gewachsen sind (das ist eigentlich niemand). Sie produziert eine Reihe leidender Opfer. Es gibt jedoch Charaktere, die ihr Niederlagen zufügen. Isabel, die Chefsekretärin im Unternehmen, beispielsweise gelingt es, wie angedeutet, sich für „all die Unverschämtheiten, die sie [Branca] mir angetan hat“ zu rächen (Kapitel vom 24.01.1998). Der Branca-Charakter ist jedoch ein zentrales Bindeglied zum traditionellen Melodrama. An die Schurkinnenfigur erinnern insbesondere jene Ma282

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chenschaften, die das Verhältnis zwischen Milena und Nando mit einer geradezu klassischen Intrige hintertreiben. Der gesamte Plot ist der mexikanischen Telenovela weitgehend verpflichtet: ebenso Milena wie Nando sind makellose Figuren, deren Liebesbeziehung aufgrund des Klassenhasses der Schurkin durch eine Intrige gestört wird. Branca bringt Nando ins Gefängnis, indem sie jemanden bezahlt, der ihm Rauschgift unterschiebt, weil sie den Hubschrauberpilot aus Niterói als nicht gut genug für ihre Tochter erachtet. Diese Intrige produziert bitterliches Leid, bei beiden Figuren. Die reiche Milena ist nicht das Gut, mit dem gute Held für sein Leid belohnt wird sondern ein Charakter mit eigenen Gefühlen. Branca scheitert jedoch auch in diesem Fall, denn ihr Ansinnen war es, dass ihre Tochter bald auf andere Gedanken kommt, wenn Nando erst einmal weggesperrt ist. In einer mexikanischen Telenovela wäre dies der Fall, und Milena würde sich gattungsgemäß einem Rivalen zuwenden und der Macht der Schurkin unterliegen. Nicht so in Por amor, wo die Liebenden zwar getrennt werden, ihre Liebe dadurch aber nur gestärkt wird. Der Plot zeigt auch, dass Realismus keine Abkehr vom Affektappell der Telenovela bedeutet. Auch Por amor ist voller Schmerz, jedoch ist dies Herzschmerz, den die Liebe hervorruft, nicht die Macht des Bösen. Es ist nicht die Ungerechtigkeit an sich, die die Zuschauer anspringt, sondern die Gefühlsfülle der Charaktere, die individualisiert aus der jeweiligen Figurenpersönlichkeit herausquillt. Schmerz kann dadurch in verschiedenste Facetten aufgefächert werden. Denn nicht nur die Liebenden leiden ihn sondern auch die an sie angegliederten Charaktere, insbesondere Nandos Familie. Seine Mutter, Lídia, weint und weint fast durchgehend während der zwei Sendemonate (von Anfang Februar bis Anfang April 1998), die Nando im Gefängnis zubringt. Lídia hat übrigens in ihrem núcleo das am stärksten ausgeprägte Klassenbewusstsein und leidet vom Moment an, an dem sie von Nandos Liaison mit der reichen Milena erfährt. Wenn sie sich gerade keine Sorgen um ihren Sohn macht, dann um ihren Ehemann Orestes. Dabei leidet sie nicht nur unter seinem Alkoholproblem, sondern auch an den Erniedrigungen, die er durch Eduarda erfährt. Ein Höhepunkt des Figuren- und Zuschauerleids ist die erste Gerichtsverhandlung Nandos. Nando, das vollkommene Opfer, beteuert in einer herzzerreißenden Rede seinen Glauben an die Justiz sowie sein Leid, unschuldig eingesperrt zu sein. Zumindest den anderen Charakteren zerreißt es das Herz: Mit sentimentaler Hintergrundmusik schildert er langsam und teils unter Tränen, dass er „leidet“: „Ich leide und mache viele Menschen leiden, die ich sehr liebe, und von denen ich sicher bin, dass sie mich auch sehr lieben, Menschen, die dieses Leid genauso wenig verdienen“.26 Dann zählt er alle einzeln (und langsam) auf, und das tränenüberströmte Gesicht der im Gerichtssaal Anwesenden wird eingeblendet: Lídia, Orestes, Milena und die Freunde (Sandrinha wird genannt, ist aber nicht zugegen). Alle weinen, und Nando entschuldigt sich beim Richter: „Entschuldigen sie die Emotionen, aber es ist einfach sehr schwierig für mich, diese Ungerechtigkeit auszuhalten“. Dann fährt er fort, von seiner „saudade“ zu sprechen, von seiner Sehn26 „Estou sofrendo, fazendo muita gente sofrer, gente que amo muito e que tenho certeza me ama muito também, gente que não merece esse sofrimento“ (Por amor, Kapitel vom 23.03.1998).

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sucht nach Freiheit, er der Pilot, der immer „frei wie ein Vogel“ war. Als er mit den Worten schließt, dass er lieber tot sei als weiterhin eingesperrt zu bleiben, da ist die Klimax erreicht, und Lídia fällt in Ohnmacht. Die Szene dauert dreieinhalb Minuten. Nach dem Werbeblock geht es weiter, und es scheint, als habe in der Zwischenzeit selbst der Richter geweint. Als Nando abgeführt wird, stürzt sich Lídia, die mittlerweile wieder zu sich gekommen ist, auf ihn, um ihn verzweifelt zu umarmen – in Zeitlupe, denn das ist dramatischer und wird von den Zuschauern nicht so leicht verpasst. Natürlich wird sie von allen möglichen Leuten, nicht zuletzt vom Wachpersonal zurückgehalten. Sie klammert sich mit einem Aufschrei an die Beine ihres Sohnes, und muss geradezu weggezerrt werden. Auch Milena eilt hinzu, um Nando einen letzten Kuss zu schenken, bevor er ins Gefängnis zurückgeführt wird. Das alles dauert wieder zwei Minuten. Zu Hause angelangt, sehen die Zuschauer, wie das Leid von Lídia und Orestes weitergeht, die verzweifelte Mutter, der ohnmächtige Stiefvater, der ihr gut zuredet. Womit die brasilianische Telenovela die Zuschauer bedrängt, ist kein Exzess an Grausamkeit sondern ein Übermaß an Gefühl. Realistisch ist die Darstellung dieser Emotionen und ihre psychologische Herleitung. Melodramatisch ist der Exzess an Fülle und Intensität in der Darstellung des Gefühls. Der Leid-Effekt der Zuschauer entsteht, anders ausgedrückt, nicht durch die Übermacht des Bösen sondern durch die Emotionalität der Erzählung. Die Zuschauer werden Branca und ihren Kommentaren dankbar gewesen sein, als sie noch im selben Kapitel von ihrer Komplizin Rose erfährt, wie die Verhandlung verlaufen ist: Branca:

Rose: Branca:

Ein Verhör mit einer Ohnmachtszene! Mein Gott im Himmel, was für Emotionen. Eine Mutter, die sich die Haare ausreißt, eine Freundin, die heult. Ich hätte nie gedacht, dass diese Art von Anhörung so unterhaltsam ist! Das war wie im Kino. Kino Klasse C. Diese Filmchen, die im Fernsehen um drei Uhr nachts laufen. Aber sag mal: Wie kommt diese Friseurin eigentlich dazu, sich von Niterói aufzumachen, um dann in Rio de Janeiro in Ohnmacht zu fallen?! Ha, ha, ha!27

Branca zieht verdeckt die Strippen des Geschehens, aber ausgerechnet sie ist es, die aus der Rolle fällt und sich über das Melodrama lustig macht. Ihr Lachen ist nicht nur zynisches Auslachen der Opfer. Sie belustigt sich darüber hinaus über die Szene und ihren Gefühlsexzess. Mit ihr macht sich Por amor über sich selbst lustig und legt die Lächerlichkeit des Affektappells der Telenovela bloß.

27 „Branca: Um interrogatório com cena de desmaio! Meu Deus do céu, que emoção. Mãe que descabela, namorada aos prantos. Nunca pensei que esse tipo de audiência fosse tão divertido! Rose: Parecia cinema. Branca: Cinema classe C. Esses filmecos que passam às três horas da madrugada. Mas me explica uma coisa: como é que essa cabelereira sai de Niterói para desmaiar no Rio de Janeiro?! Ha, ha, ha!“ (Por amor, Kapitel vom 23.03. 1998).

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Allerdings hält dieses schurkische Gelächter über Fülle und Intensität des Leids nicht lange an, denn vier Sendetage später erreicht das Melodrama einen erneuten Höhepunkt mit der Verurteilung Nandos zu drei Jahren Haft. Damit aber nicht genug: Gleichzeitig wird Sandrinha überfahren und kommt schwerverletzt ins Krankenhaus! Mehr Elternleid ist selten: Der Sohn wird verurteilt, die Tochter schwebt in Lebensgefahr. Das sah auch der Schriftsteller Ignácio de Loyola Brandão so, für den das Kapitel etwas zu viel des Leids war. Am 05.04.1998 veröffentlicht er eine crônica in der Tageszeitung O Estado de São Paulo, in der er von einer „overdose“, einer „Überdosis“ spricht.28 Er traf, wie er schreibt, am Vortag die Schauspielerin von Lídia, Regina Braga, seine ehemalige Schwägerin. »Du trägst das gesamte Leid der Welt« rief er ihr zu. »In einer Woche hört mein Leid auf«, habe sie ihm zur Beruhigung geantwortet. Wie gut, denn, wie er ironisch schreibt, die niedergedrückte Stimmung der Familie von Orestes sei für die Zuschauer und für ihn einfach nicht mehr zu ertragen.29 Brandão überlegt (nicht weniger ironisch), dass Manoel Carlos – wie er selbst! – früher ein Liebhaber der „wunderbaren mexikanischen dramalhões“ gewesen sein müsse, „in denen einfach alles passiert. Ich vergesse nie, wie Ninon Sevilla in einem Film ihren Sohn in den Müll wirft. Zum Gänsehaut-Kriegen!“30 Warum taucht Por amor in dieser crônica auf? In „Uma manhã de quarta em São Paulo“ („Ein Mittwoch Vormittag in São Paulo“) – so der Titel der crônica – skizziert der Erzähler mit wenigen Bildern das gestresste und be28 „Ein Sohn im Gefängnis und eine Tochter im Krankenhaus, am selben Tag, das ist eine Überdosis“ („Um filho na cadeia e uma filha no hospital, no mesmo dia, é overdose“) (Brandão 1998). Zum Hybridcharakter der brasilianischen crônica, einem literarischen Kurzgenre, das in Tageszeitungen erscheint und den journalistischen Kommentar mit literarischen Erzählstrategien durchsetzt (und erschüttert), siehe Nezis (2003) und (2004). 29 „»Está carregando todo o sofrimento do mundo«, brinquei. [...] Regina tranquilizoume: »Daqui a uma semana acaba meu sofrimento!« Não sei se podia revelar. Mas imagino que muitos estejam, como eu, agoniados com o baixo astral que envolveu a família de Orestes (Paulo José, comovente)“ (Brandão 1998). 30 „Manoel Carlos deve ter sido – como eu – cultor dos maravilhosos dramalhões mexicanos, em que acontecia de tudo. Nunca me esqueço que, em um filme, Ninon Sevilla jogou o filho no lixo. De arrepiar!“ (Brandão 1998). Brandãos ironische Spitze macht u.a. deutlich, dass die brasilianische Assoziation von Melodrama und Mexikanität im Grunde durch die mexikanischen Telenovelas nur aktualisiert wurden und auf die Rezeption des mexikanischen cine de oro in Brasilien zurückgeht. Hierzu hat übrigens der cinema-novo-Regisseur Nelson Pereira dos Santos einen interessanten Film gedreht, Cinema de lágrimas (1995). Der Spielfilm geht von einer wissenschaftlichen Studie über das filmische Melodrama des argentinischen und mexikanischen Kinos aus, nämlich von Silvia Oroz’ Melodrama. O cinema de lágrimas da América Latina (1992). In dem Film fährt der Protagonist Ricardo Ferreira, ein berühmter Theaterschauspieler (gespielt vom tatsächlich berühmten Telenovela-Schauspieler Raul Cortez), zur Filmoteca de la UNAM in Mexiko-Stadt, um sich dort die Melodramen anzusehen, die seine Mutter gesehen hatte. Er ist auf der Suche nach dem Film, den seine Mutter gesehen haben muss, bevor sie sich umbrachte (Cinema de lágrimas 1995). Zum kinematografischen Kontext von Cinema de lágrimas, im lateinamerikanischen Film das filmische Melodrama zu erörtern siehe Avellar (2001: 83-84).

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ängstigende urbane Leben in der Megalopole São Paulo, das den Menschen eher einem permanenten Wagnis gleicht. Obgleich zunächst belustigend, verleiht der Gesamtkontext der crônica der Erwähnung von Por amor einen neuen Sinn: Neben anderen Stress-Faktoren (Verkehr, Gewalt, Krankheiten usw.) modelliert die Leid-Emphase der Telenovela das Leid-Wesen der Großstadtbewohner. Auch wenn sich Branca nun etwas zurückhält, so hört die Figur dennoch nicht auf, die melodramatische Erzählstrategie der novela selbst zu entlarven. Bevor sie sich zur zweiten Gerichtsverhandlung und zur Urteilsverkündung aufmacht, der sie dann zusammen mit Rose witzelnd beiwohnt, kommentiert sie bestens gelaunt ihr Outfit mit ihrer Freundin, während ihre Tochter mit den Nerven fast am Ende ist. Branca, die Blonde, erscheint komplett in Schwarz gekleidet. Selbstironisch verkündet sie, sie habe sich einen „wunderschönen Titel“ für sich ausgedacht: „Branca, toda de negro“ („Branca [die Weiße], ganz in schwarz“). Milena meint, ob sie es nicht etwas übertrieben habe. Darauf die Schurkin: Schwarz ist die ideale Farbe, um zu einer Gerichtsverhandlung zu gehen. In den alten Filmen – ich habe einen mit Bette Davis gesehen, in dem sie vor Gericht genau so erschien, wie ich gekleidet bin. Der Unterschied ist, dass sie einen Hut mit einem schwarzen Schleier trug, der ihr das Gesicht verhüllte. Hinreißend!31

Der Selbstbezug der Figur zur filmischen Star-Schurkin Bette Davis ist ironisch, nicht zynisch. Sie spielt mit ihrer Bosheit, sie inszeniert ihre Inszenierung und distanziert sich dadurch von ihr. Manoel Carlos hatte selbst angekündigt, dass er seine Schurkin an Bette Davis anlehnen wolle,32 aber die Selbstreferenz der Figur deckt das Melodrama auf, dem sie verpflichtet ist, und entfernt sich auf diese Art von ihm. Brancas Dienstmädchen Zilá, die von den Machenschaften der patroa, der Hausherrin, ahnt und empathisch mit Milena leidet, hat für Brancas Ausführungen zu ihrer Garderobe nichts übrig und entgegnet ihr, sie sähe eher aus, als ginge sie auf eine Totenmesse. Darauf kontert die Schurkin mit oratorischer Perfektion, während sie ihren Lippenstift in die schwarzen Chanel-Handtasche versenkt: „Zilá! Zilá! Zilá! Wenn du nur das Mindeste von Eleganz verstündest, meine Liebe, dann wärest du jetzt wohl nicht hier und würdest meine Gläser putzen, oder?“33 Ihre ganze Erscheinung ist für die Zuschauer genüsslich, nicht bedrohlich. Sie spricht aus, was die anderen Figuren entweder nicht sehen oder sich nicht auszusprechen getrauen. Sie gibt die „guten“ Charaktere der Lächerlichkeit preis. „Die Netten sind einen Dreck wert!“ lehrt sie.34 Sie entlarvt das 31 „O negro é a cor ideal para ir a um julgamento. Nos velhos filmes – eu vi um da Bette Davis, em que ela aparece num tribunal assim como eu estou. A diferença é que ela usava um chapeuzinho com um véu negro cobrindo o rosto. Um charme, viu!“ (Por amor, Kapitel vom 26.03.1998). 32 „Ich gab Branca etwas von Bette Davis, die Referenz-Schurkin für alle Schauspielerinnen“ („Dei a Branca um pouco de Bette Davis, referência de vilã para todas as atrizes“) (Manoel Carlos zitiert nach Valladares 1998). 33 „Zilá! Zilá! Zilá! Se você entendesse tanto de elegância, meu bem, não ia estar aqui, lavando os meus copos, não é não?“ (Por amor, Kapitel vom 26.03.1998). 34 „Os simpáticos não valem porcaria nenhuma!“ (Por amor, Kapitel vom 22.05.1998).

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Hohle, Gestellte, das Falsche der „Guten“ – das ist das eigentlich Schurkische an ihr. Dieses Schurkische lebt sicherlich davon, dass sie sich den Tabubruch herausnimmt, was immer schon die Faszination des Schurken ausmachte (nicht umsonst sind die Schurken die eigentlichen Protagonisten35). Es bezieht seine Kraft jedoch insbesondere davon, das Tabu des Guten zu verletzen und die große Erzählung selbst zu unterlaufen, und das kann nur verbrecherisch sein. So lässt Branca keine Gelegenheit aus, Leonardo ob seiner stillen „Wahrheitsaugen“ anzufahren, die er doch bitte von ihr abwenden möge. Eine ständige Pein für den Gepeinigten... Aber: recht hat sie, denn das permanente Märtyrertum ist einfach nur langweilig.36 Dies alles bezieht sich jedoch in erster Linie auf einen Nebenplot! Wie bereits ausgeführt, scheitert Branca vor allem in den Hauptplots. Auf Hochtouren kommt sie eigentlich erst in dem Milena-Nando-Parallelstrang. Was sich in bezug auf die Hauptplots jedoch am Ende herausstellt, ist, dass sie Atílio immer geliebt hat, bis zum Ende. So erscheint sie letztlich als ein Mensch aus Fleisch und Blut, und nicht als Hülle des übermenschlichen Bösen. Am Ende erklärt sich ihr Charakter. Sie hatte noch während ihrer Ehe mit Arnaldo eine feste Beziehung mit Atílio, ungefähr zwölf Jahre vor der erzählten Zeit. Dies stellt sich erst im Kapitel vom 15.05.98 heraus, also gut eine Woche vor Schluss (23.05.98). Atílio, der Gute, bescheinigt, dass dies eine „große Liebe“ war. Wer zu Atílio eine so innige, gegenseitige Beziehung hatte, kann einfach nicht böse sein. Dieser Liebe jedoch ordnete sie alles Andere unter, nicht nur ihre Ehe sondern auch die Kinder, von denen sie annahm, Frucht dieser Ehe zu sein. Sie erniedrigt den letztgeborenen Leonardo nicht einfach aus boshaftem, unbegründeten Hass, sondern weil sie annahm, er sei der Sohn Arnaldos, von dem sie kein Kind mehr wollte. Die psychologischen Begründungen ihres Handelns rechtfertigen sie nicht, sondern machen deutlich, dass sie zu sehr geliebt hat. Sie erhält am Ende auch – gattungsgemäß – ihre Strafe: Sie wird verlassen (keiner liebt sie). Selbst Rose, ihre Komplizin, ist fort und „schröpft“ nun Arnaldo. Das Motiv der Familienidentität und ‚wahren‘, d.h. leiblichen Vaterschaft könnte melodramatischer nicht sein, doch entmelodramatisiert es sich in Por amor an dieser Stelle, da es, wie bereits erwähnt, lediglich durch wenige Andeutungen Brancas vage angekündigt war. Es war zwar ein Geheimnis der 35 „Der Schurke behält die Energie und die Liebe des Publikums ein, und die edlen und guten Figuren stehen herum, als seien sie lediglich Aufhänger, Gelegenheiten für ein noch erfinderischeres und erheiternderes Verbrechen“ („El villano retiene la energia y el amor del público, y los personajes nobles y bondadosos están allí como pretextos, oportunidades de un crimen aún más ingenioso e hilarante“ (Monsiváis 1996: 279). 36 Eine köstliche Szene ist beispielsweise die, in der sie sich der Beweisstücke bemächtigt, die sie im Falle Nandos belasten, und die sich in Händen der Trajanos befinden: Sie platzt mitten in das Gespräch des Ehepaars, die gerade darüber beratschlagten, wie sie sich jetzt Branca gegenüber verhalten sollten, wo sie wissen, dass sie in die Intrige gegen Nando verwickelt ist. Branca entdeckt die belastenden Fotos auf dem Sofatisch und kassiert sie angesichts der verdutzten Trajanos mit einer kecken Bemerkung zu Rose ein, die auf den Bildern zu sehen ist, wie sie einem Handlanger Geld übergibt: „Ah, die Fotos! Rose hatte kein Make-up. Geschieht ihr recht!“ („Ah, as fotos! A Rose estava sem maquiagem. Bem feito!“) (Por amor, Kapitel vom 01.04. 1998).

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Schurkin, ein Wissen, das sie allen anderen Figuren voraus hatte, und das ihr Macht verlieh. Aber es war ein falsches Geheimnis. Branca, die immer alles wissen müsste, wäre sie eine villana como el melodrama manda (eine Schurkin, wie das Melodrama es vorsieht), irrte in der Vaterschaft ihrer Söhne. Das Motiv der Familienidentität scheint die Tradition des seriellen Melodramas zu bestätigen, hat aber in dieser Telenovela die realistische Funktion, das Figurenverhalten von innen heraus zu explizieren. Das zeigt, dass Por amor im Grunde als eine Telenovela über die Telenovela verstanden werden kann. Por amor entwickelt beständig Erzählstrategien, die an die mexikanische Telenovela erinnern, angefangen bei dem scheinbar sentimentalen Liebesdrama. Alsgleich hintergeht es jedoch diese Gattung und wendet die Erzählung in den brasilianischen Realismus. Unentwegt zitiert diese Telenovela das dramalhão und setzt sich dann von ihm ab. Dabei negiert sie nicht einfach das metaphorische Melodrama, um es ein für alle Male abzulehnen. Im Gegenteil bleibt sie die ganze Erzählzeit über dicht an ihm dran und spielt mit ihm. Es gibt eine großartige Schurkin, die eigentlich keine ist, sondern eine liebende Frau. Sie erhält am Ende ‚ihre Strafe‘, aber sie macht etwas völlig Anderes daraus. Das Drehbuch macht sie nicht wie eine Dulcina durch Wahnsinn unschädlich sondern noch weniger böse. Branca erkennt sehr wohl, dass sie von allen verlassen wird, also legt sie ihren Standesdünkel ab, wendet sich ihrem Dienstmädchen Zilá zu und fordert sie auf, von sich zu erzählen. Gleichzeitig beginnt sie, ihr damenhaftes Benehmen beizubringen, und teilt damit ihr wichtigstes Gut mir ihr (jenes Gut, das sich Rosa in Rosa salvaje erst nach viel Leid aneignen konnte): das Wissen und das Gespür in bezug darauf, was Klasse ist. Zilá, die Randfigur, wird damit zur einzigen cenicienta von Por amor. Wenn in einer postkolonialen Klassengesellschaft erst einmal etwas von Eleganz versteht, muss nicht mehr anderer Leute Gläser putzen.

8.4.3.2 Diese Heldin ist ein Monster!

Marcelinho heißt Helenas Kind, das sie ihrer Tochter Eduarda gab. Das Kind ist der Schlüssel für ihre Beziehung zu Atílio. Wie bereits ausgeführt, spannt das Geheimnis der verdeckten Familienidentität den globalen Erwartungsbogen des seriellen Melodramas. Mit dem Geheimnis um die Identität Marcelinhos knüpft Por amor jedoch nur scheinbar am traditionellen Melodrama an. Denn das Geheimnis wird zum Gegenstand der Erzählung und bildet nicht länger die gattungsgegebene Voraussetzung des (langen) Erzählens. Das Geheimnis wird, wie schon angedeutet, problematisiert und als das in Frage gestellt, was es „wirklich“ ist, eine Lüge. Die Gattung indes interessiert dies nicht, weil die verdeckte Familienidentität aus dem hässlichen Entlein einen vornehmen Schwan zu machen erlaubt, und daher immer eine Aschenbrödel-Enthüllung parat hält. Tomasas Schweigen bedingt erst die Zuschauererwartung, dass Rosa a) überhaupt von edler Abstammung ist und b) irgendwann ihren ‚wahren‘ Platz einnehmen wird. Diese Enthüllungen müssen in die Erzählzeit fallen, denn sie sind konstitutiv für die Erscheinung des Guten im seriellen Melodrama. Das Gute äußert sich in Rosa und unterstützt sie durch die Aufdeckung des Geheimnisses im Kampf gegen das Böse. Das Geheimnis wird damit zum Trumpf des Guten – und ist daher zwangsläufig auch gut. 288

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Realistisch ist dies alles nicht, soll es auch nicht sein. Realistisch aber soll Por amor sein. Eine realistische Telenovela läuft damit in letzter Konsequenz darauf hinaus zu veranschaulichen, inwieweit das Melodrama der Wirklichkeit widerspricht. An diesem Punkt vor allem zeigt sich die metagenerische Dimension von Por amor. Denn Por amor diskutiert den Grundpfeiler des seriellen Melodramas. Der Reiz dieser Telenovela besteht gerade darin, die mexikanische Telenovela zu dekonstruieren, ohne sie jedoch gänzlich durch etwas Neues ersetzen zu wollen (oder zu können). Das Spiel mit der Gattung besteht eben darin, sie einerseits zu demontieren, andererseits jedoch auf sie angewiesen zu sein und nicht ohne sie zu können. Wie kommt es zu diesem postmodernen Spiel im Trivialmedium Fernsehen in einem Land der sogenannten Dritten Welt? Wie bereits dargelegt, ist das Fernsehen (insbesondere) unter den lateinamerikanischen Bedingungen der Unterentwicklung zwar ein Trivial- aber auch ein Primärmedium. Wichtiger aber noch ist die urbane Popularkultur, die sich ausgehend vom seriellen Melodrama im 19. und 20. Jahrhundert in Lateinamerika entwickelt hat. Träger dieser Kultur sind nicht die Massenmedien sondern das Publikum, das sich im Laufe von anderthalb Jahrhunderten eine Gattungskompetenz angeeignet hat, die es ihm erlaubt, die postmodernen Hinterfragungen der durchgängig modernen Telenovela-Aussage zu goutieren: Szenen der peripheren Postmoderne, wie Sarlo es formulieren könnte (es aber nicht tut). Por amor handelt in seinem Hauptplot davon, wie es in Wirklichkeit dazu kommt, dass eine Abstammungsidentität verhüllt wird, und welche Folgen dies hat. Für Helena ist Eduardas Fehlgeburt geradezu tragisch – sie konnte in dieser Situation nur scheitern und schuldig werden: Wie sollte sie im reifen Alter mit ihrem Baby froh werden angesichts des Leids ihrer jungen Tochter, die von der Erfahrung der leiblichen Mutterschaft ausgeschlossen ist? Wie sollte sie andererseits ohne ihr eigenes Kind froh werden und dabei Atílio das Vaterglück nehmen? Dieses Dilemma kostet Por amor weidlich aus, denn für eine Telenovela ist eine solche Situation ideal: Sie garantiert Leid im Übermaß. Helena entscheidet sich spontan für das zweite Unglück, denn sie ist davon überzeugt, dass Eduarda mit der Wahrheit nicht zurecht käme. Weil sie Eduarda liebt, belügt sie sie und ihre Mitmenschen.37 Wenn der historische Realismus in der Literatur schon nicht auf die Moral verzichten wollte,38 so erst recht nicht die Telenovela. Der Unterschied zur mexikanischen Telenovela ist, dass die brasilianische kein Drama der Moralität mehr ist, sondern ein moralistisches Drama. Es geht nun nicht mehr um die Existenz des Guten in einer Welt die sinnlos erscheint, sondern um 37 Anders gewendet: Weil sie ihr Kind liebt, gibt sie das andere weg. Das Schicksal dieses zweiten Kindes spielt in der Serie fast keine Rolle. Dies zeigt, wie unwahrscheinlich (absurd) die brasilianische Telenovela im Vergleich zu anderen Gattungen ist. Ihr Realismus bleibt immer auf das Melodrama bezogen und macht nur in diesem Bezug Sinn. 38 Eça de Queirós beispielsweise wendet 1871 sich in seiner conferência do Cassino, als sich die portugiesischen Realisten zu einem programmatischen Vortragszyklus einfanden, ausdrücklich gegen eine l’art-pour-l’art-Konzeption der Literatur. Stattdessen ist der Realismus für ihn eine Literatur, die von einem moralischen Prinzip geleitet wird, bzw. die sich „Gerechtigkeit und Wahrheit“ verpflichtet (Queirós 1994: 93).

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moralische Werte, die zwar stärker säkularisiert sind, aber nichtsdestoweniger die Nachfolge des Sakralen antreten. Gemeint ist ein Wertebündel, in dessen Zentrum die Liebe steht, zu dessen Umkreis aber Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit gehören. Das bedeutet, dass Liebe ohne Wahrheit nicht ‚gedeihen‘ kann. Liebe, die mit der Lüge paktiert, muss unweigerlich scheitern. Denn dass die Wahrheit zwangsläufig ans Licht geraten muss, gehört zu den moralistischen Grundvoraussetzungen auch der realistischen Telenovela, die darin die postsakrale Dimension ihrer Werte offenbart. Virgínia und Orestes, beide wissend, beschwören unabhängig voneinander Helena, den Kindestausch aufzudecken, da die Wahrheit so oder so herauskommen werde. Beide halten Helena vor, ein „Verbrechen“ begangen zu haben. Als Helena ihre Schwester Virgínia im Kapitel vom 26.01.98 in das Geheimnis einweiht, wirft diese ihr entsetzt vor, „Gott zu spielen“. Ähnlich reagiert Orestes, als er seiner Ex-Frau im Kapitel vom 24.03.98 sagt, er habe ihr Tagebuch kurz zuvor gelesen. Unabhängig voneinander bezeichnen ebenso Virgínia wie Orestes den Tausch der Babys als „Verbrechen“. Helena verteidigt dagegen ihre Tat als einen Akt der Liebe. Sie habe ihre Tochter „gerettet“, sie habe einen „Fehler berichtigt“, denn „das Schicksal hätte nicht so grausam zu meiner Tochter sein können“: Ich weiß, was sie alles durchgemacht hat, was sie geplant, was sie erträumt hat. Ich weiß, was sie alles erlitten hat, die Traurigkeit, die Frustrationen. Sie hätte das nicht ertragen. Ich weiß, dass sie das nicht ertragen hätte.39

Für Helena hat sich alles dieser Mutterliebe zu Eduarda unterzuordnen: ihr eigenes Leben, das von Atílio und das ihres gemeinsamen Kindes. Angesprochen auf Atílio, der sich nichts sehnlicher wünschte als ein Kind, antwortet sie, dass ihre Tochter wichtiger sei als er. „Es gibt nichts, es gibt absolut nichts, was ich nicht tun könnte aus Liebe zu einem Kind.“40 In Bezug auf Marcelinho bekräftigt sie, die Tat sei keine „Grausamkeit“, wie Orestes sagt, so lange ihm niemand davon erzähle. Helenas Ansicht nach soll die Tat für immer verborgen bleiben. Virgínia musste ihr schwören, das Geheimnis zu wahren, bevor sie sie einweihte. Ihren Ex-Mann Orestes versuchte sie, mit allen Mitteln unter Druck zu setzen, nichts zu verraten. Die beiden, Virgínia und Orestes, bringen offensichtlich den Standpunkt zum Ausdruck, den die Erzählung privilegiert. Sie sind entsetzt und erschüttert. Virgínia schlägt Helena gar. Sie leugnen, jeweils auf ihre Art, dass es sich hierbei wirklich um Liebe handelt. Virgínia wirft ihrer Schwester vor, die Tochter „über Gut und Böse, über alle zu stellen.“ „Wie kannst du glau-

39 „Eu corregi um erro. O destino não podia ter sido tão cruel com a minha filha. Eu sei tudo o que ela viveu, que ela planejou, que ela sonhou. E sei também tudo o que ela sofreu, as tristezas, as frustrações. Ela não ia poder suportar. Eu sei que não“ (Por amor, Kapitel vom 25.03.1998). 40 „Mas a minha filha conta mais do que ele [Atílio]! [...] Não há nada, não há absolutamente nada que eu não possa fazer por amor a um filho“ (Por amor, Kapitel vom 26.01.1998).

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ben, dass das eine Art von Liebe ist, Helena, um Gottes Willen?!“41 Was sie Mutterliebe nenne, sei ein Unheil, das Atílio das Herz breche und Césars Leben zerstört habe. Orestes entgegnet Helena, Eduarda nicht zu „beschützen“ sondern zu „belügen“: „Du vergehst dich am Leben, du vergehst dich am Willen Gottes.“42 Eine Lüge könne niemals etwas Gutes bewirken. Was sie getan habe, sei zudem eine „Grausamkeit“ an Marcelinho, der das Recht habe, „zu wissen, wer er in Wahrheit ist“. Wahnwitzig sei es anzunehmen, dass ich ihre Tat für immer geheim halten lassen werde. Das „Leben“ werde dafür sorgen, dass die Wahrheit doch ans Licht komme. Beide Auseinandersetzungen sind heftig, aber insbesondere im Streit mit Orestes lässt Helena Charakterzüge erkennen, die bestätigen, dass das, was sie Mutterliebe nennt, im Grunde eine Obsession ist, die keine Rücksichten kennt. Sie, die, wie ihre Schwester sagt, immer so vernünftig war, immer für alle da war und keiner Fliege etwas zu Leide tun zu können schien, beschimpft Orestes als jemand, der als Vater gescheitert sei, auf den nie Verlass gewesen sei, der trinke und selber lüge. Indem sie gezielt auf seine offensichtlichen Schwächen zielt, versucht sie, ihn klein zu kriegen und zum Schweigen zu bringen. Hier zeigt sie eine Härte und Brutalität, die zu ihrer Erscheinung als Heldin nicht passen wollen. Dies erinnert an die Szene des Babytauschs selbst, und wie sie César unter Druck setzt, seinen Widerstand aufzugeben. Sie fordert eine schlechterdings klientelistische Loyalität von ihm ein, da nun der Moment gekommen sei, sich erkenntlich zu zeigen für die Gunst und Unterstützung, die er immer von ihr erhalten habe. Damit nutzt sie die patriarchalischen (in diesem Fall matriarchalischen) Klassenbeziehungen der brasilianischen Gesellschaft für ihre Zwecke aus, denn schon ihr Vater unterstützte seine Eltern, und sie förderte César in seinem Medizinstudium. Aus all dem wird deutlich, durch und durch gut kann dieser Charakter nicht sein. Was Helena stark macht, ist natürlich nicht Hass. Sie ist keine Antagonistin. Ihre Stärke ist jedoch zugleich ihre Schwäche und Grund ihres Scheiterns sowie des von ihr gestifteten Übels. Es ist ihre Mutterliebe, die, wie sie gegenüber Virgínia selbst zugibt, „exzessiv“ ist. Aufgrund dieser übermäßigen Liebe setzt sie sich insbesondere über Césars Leid komplett hinweg.43 Die Szene, in der sie Virgínia ins Vertrauen zieht, endet mit deren Vorwurf, sie habe Césars Leben ruiniert. Helena antwortet darauf nicht. Aber die Erzählung tut dies, denn sie macht einen Schnitt und springt zu César, der wegen des Babytauschs gebrochen am Fenster steht und in den Regen stiert. „Aber das ist absurd. Diese Frau ist ein Monster!“ entrutscht es Lídia, als ihr

41 „Como é que você pode botar a sua filha acima do bem e do mal, acima de todos? [...] Como é que você acha que isso é uma forma de amor, Helena, pelo amor de Deus?!“ (Por amor, Kapitel vom 26.01.1998). 42 „Mas você não está protegendo. Você está mentindo. Você está traspassando com a própria vida, você está traspassando com a vontade de Deus“ (Por amor, Kapitel vom 25.03.1998). 43 Helena setzt sich auch, wie oben angedeutet, komplett über das Baby Marcelinho hinweg. Was ist mit dieser Mutterliebe? Logisch ist das nicht, muss es auch nicht sein, denn es geht nur darum, zu zeigen, wie unsinnig die Geheimniserzählung des dramalhão ist.

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Orestes von Helenas Tat erzählt. Er hatte Helena angekündigt, dass er dieses Geheimnis mit seiner Frau teilen müsse. Insbesondere aber ist es, wie schon angedeutet, nicht das Böse, das Helena von Atílio trennt sondern ihre eigene Obsession. Sie führt zur unlösbaren Krise (er trennt sich von ihr). Ganz dick kommt es am Ende, im letzten Kapitel, als Helena Atílio gegenüber das Geheimnis aufdecken muss. Nun bündelt sich die Anklage der Figur in der Rede Atílios, der das, was sie „Liebe“ nennt, als „kriminell, unmenschlich, grausam“ verurteilt. Nun trifft sie seine ganze Wut darüber, dass sie seinen Sohn „umgebracht“ und ihre Liebe zu Eduarda über seine Liebe zum Neugeborenen gestellt hat. Du hast gesagt, das du das aus Liebe getan hast. Nicht aus Liebe zu mir, nicht zu unserem Sohn, nicht zu Eduarda, nicht zu dir selbst. Du hast gehandelt, als seiest du ein grausamer, egoistischer Gott, der den Lauf eines Lebens unterbrechen, Schicksale ändern und das Leid doch beenden kann, und der unberührbar über dem Guten und dem Bösen schwebt. Du unglückliche, unglückliche, die du dachtest, Liebe zu schenken und nur Schmerz und Leid unter uns ausgeteilt hast.44

Wie schon angedeutet, ist das Ende halbwegs glücklich, Atílio kehrt zu Helena zurück, Marcelinho bleibt bei Eduarda und Marcelo, soll aber erfahren, wer seine leiblichen Eltern sind. Ein triumphales Happy End ist dies dennoch nicht, denn die beiden Paare erscheinen als deutlich gezeichnet. Sie tragen ihre Blessuren in die projektive Nachzeit der Erzählung. Eduarda und Marcelo verlieren ihr Kind, auch wenn es bei ihnen bleibt. Wie die Schlusseinstellung der Serie nahe legt, wird das Kind zwischen Pflege- und leiblichen Eltern stehen. Eduarda und Marcelo scheinen das zu verkraften, aber die Hochglanzidylle der sorglosen und glücklichen Kleinfamilie hat einen deutlichen Kratzer abbekommen. Die Wiederannäherung zwischen Atílio und Helena wiederum erscheint sehr verhalten. Sie finden wieder zu einander, aber vom ursprünglichen Überschwung der Gefühle ist nicht viel übrig geblieben. Eine gewisse Distanz ist im Umgang zwischen den beiden unverkennbar. Sie macht deutlich, dass die Helenas Lüge nicht vergessen ist. Sie erhalten die leibliche Elternschaft Marcelinhos zurück, aber dennoch wird es nicht ihr Kind. Realistische Figuren, d.h. „Charakteranatomien“ (Queirós 1994: 93), sind weder wirklich gut noch böse, ihre Handlungen können es sein. So wenig Branca ein böser Mensch ist, so wenig ist Helena ein guter. Die beiden Charaktere nähern sich gar an. Sie entsprechen sich. Sie unterliegen im Grunde den gleichen Obsessionen für ihre Kinder. Wie Helena, so stellt auch Branca ihre Mutterliebe zu Marcelo über alles und über alle, sogar und vor allem über ihre anderen beiden Kinder. Die beiden Obsessionen unterscheiden sich lediglich in ihrer Entstehung und Ursache. Die beiden Frauen begegnen sich nicht zuletzt in Atílio, weniger als Rivalinnen, als vielmehr in ihrer gemeinsamen Neigung und Veranlagung: Sie lieben denselben Mann. 44 „Você disse que fez isso por amor. Não foi por mim, nem pelo nosso filho, nem pela Eduarda nem por você. Agiu como se fosse um deus cruel, egoísta que pode interromper o percurso de uma vida, mudar destinos, e pode acabar com o sofrimento, sim, e pairar intocável acima do bem e do mal. Infeliz, infeliz de você que pensou dar amor e só distribui dor e sofrimento entre nós“ (Por amor, Kapitel vom 23.05.1998).

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Por amor hintergeht das serielle Melodrama mit einer Schurkin, die gut ist und einer Heldin, die böse ist. Dass die Serie jedoch ausgerechnet Regina Duarte die Hauptheldin mit „monströsen“ Charakterzügen spielen lässt, zeigt, dass sie nicht nur mit der mexikanischen Telenovela spielt, sondern auch mit der brasilianischen selbst. Dieser Schluss liegt deshalb nahe, weil Regina Duarte immer die Star-Heldin war, die als solche bzw. als namoradinha do Brasil von ‚ganz Brasilien geliebt‘ wurde. Por amor subvertiert auch den immer guten und süßen brasilianischen Star.45

8.4.3.3 Eine lange große Erzählung Dennoch bleibt Por amor eine Telenovela. Die Auseinandersetzung mit dem dramalhão ist selbst melodramatisch. Kein novelão, aber dennoch novela. Der Realismus der Telenovela löst die Metaphorizität der Erzählung ab und distanziert sich von der Moralität der übergeordneten moralischen Weltordnung. Stattdessen erklärt die brasilianische Telenovela das Handeln der Figuren und beurteilt sie nach moralistischen Maßstäben, die nicht weniger postsakrale Werte darstellen: Liebe, Wahrheit, Freiheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Toleranz. In der Rede von der Liebe bündelt sich das Versprechen eines höheren Seins, das das Menschliche nicht verlässt, sondern in dem der Mensch sich in seinem Menschsein transzendiert. Die Rede von der Wahrheit ist der Grund allen Essentialismus und der Präsuppositionen über die Existenz eines Echten, Richtigen, Sicheren. Das Argument der Freiheit bekräftigt die Zuversicht, dass sich der Mensch – so er auf sich gestellt und seiner Fesseln entledigt ist – unweigerlich entfaltet und sein Leid überwindet (und sich nicht in seines Mitmenschen Wolf verwandelt). Der Glaube an die Freiheit ist das Sinnbild des Glaubens an die Zukunft. Menschlichkeit und Gerechtigkeit ergänzen den Zentralwert der Freiheit und stehen für eine Form des Zusammenlebens ein, die die Würde des je Anderen umfassend wahrt. Insbesondere Gleichberechtigung und Toleranz bestätigen das Subjekt, dessen Axiomatik dem Wertereigen zugrunde liegt. Gleichberechtigung und Toleranz bekräftigen die Unhintergehbarkeit des Individuums. Die Werte summieren sich zum großen Projekt der Moderne: die Zukunft als Verheißung des Guten. Mit ihrer Redefinition des Postsakralen erneuert die brasilianische Telenovela ihre Modernität und erweist sich nicht nur als eine lange, sondern auch als große Erzählung.46 Dies kann nicht überraschen, wenn daran erinnert wird, dass Emanzipation – das Versprechen der Moderne auf einen Begriff gebracht – die soziokulturellen Bedingungen der brasilianischen Telenovela waren und weiterhin sind. Die brasilianische Telenovela muss sich – das beweist die abschätzige Kritik an Por amor als „novela latina“ – von der Mexikanität emanzipieren. Tatsächlich erweist sich

45 Regina Duarte hatte das namoradinha-Image schon Mitte der siebziger Jahre als Zwangsjacke empfunden, die sie schauspielerisch festlegte. Sie suchte sich davon im Theater und insbesondere mit der sozialkritischen minissérie Malu mulher (1978). In einer Telenovela jedoch spielte sie immer die Heldin (Duarte 2000: 255). 46 Die großen Erzählungen sind Diskurse der Emanzipation und legitimieren sich durch eine noch zu realisierende Zukunft. Sie konstituieren das, was Lyotard als ein wesentliches Charakteristikum der Moderne ansieht: das Projekt (Lyotard 1979: 7-8).

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Por amor mit seinem Unterlaufen des dramalhão als emanzipative Telenovela par excellence.

8.4.3.4 Das Leid am Melodrama

Por amor scheint die Liebe in bester realistischer Tradition zu kritisieren. Offensichtlich ist jedoch, dass sie nur den Exzess der Liebe, die falsch verstandene Liebe kritisiert und die „wahre“ – man könnte sagen: aufgeklärte – Liebe verteidigt. Man könnte meinen, dass sie alsbald in das Melodrama zurückfällt, denn sie setzt ihre diskursive Kritik an der Liebe mit einer performativen Emotionalität um, die den Telenovela-Realismus vom literarischen Realismus des 19. Jh. bei allen Anleihen weit von sich weist. Gemeint ist, dass der historische Realismus gegen die Romantik und die mit ihr verbundene „Apotheose des Gefühls“ rebellierte (Queirós 1994: 93). Por amor lehnt sich jedoch nicht gegen das Gefühl auf. Sie rebelliert höchstens gegen das exzessive Gefühl. Das scheint ‚wenig‘, ist es jedoch bei genauerer Betrachtung nicht, denn zumindest auf diskursiver Ebene sucht die Telenovela nach Maß – und distanziert sich einmal mehr vom traditionellen, mexikanischen Melodrama. Im konkreten Fall geht es um Maßhaltung in bezug auf die Mutterliebe, auf die mütterliche Opferbereitschaft. Es geht um das Umschlagen der Mutterliebe in Besessenheit, um das Umschlagen des mütterlichen Opfers in ein Verbrechen. Im Kontext der Gattung des Melodramas ist das nicht wenig Rebellion: Im mexikanischen Melodrama ist das Motiv der aufopferungsvollen Mutterliebe die Voraussetzung für das gattungskonstitutive Märtyrerbild der Mutter. Diese Mutterfigur ist just die postsakrale Inkarnation der Heiligen, für die das Irdische nichts ist und der Himmel alles, die das Leben für ihr Kind hinwirft, um im Nachleben alles zu erhalten. Aber um welches Melodrama handelt es sich hier? Zweifelsohne spielt diese Opfermutter auch in mexikanischen Telenovelas eine Rolle. Sie ist jedoch zentral im „mexikanischen Kino“, in der die Mutter immer wieder auf das Kind verzichtet, damit es ein besseres Leben erhält und sozial aufsteigt. Ein Beispiel ist Las abandonadas (1944) von Emilio Fernández mit Dolores del Río in der entsagenden Mutterrolle (vgl. Oroz 1992: 50-51).47 Manoel Carlos muss das cine mexicano tatsächlich gut kennen, wie Ignácio de Loyola Brandão vermutet, wenn er die Geschichte einer Mutter erzählt, die auf ihr Kind verzichtet. Mit dem Unterschied jedoch, dass er das Opfermotiv nicht bekräftigt sondern entkräftet. Helena ist in der novela die melodramatische Figur schlechthin, und sie ist der Gegenstand der realistischen Rebellion. Die realistische Welt von Por amor: die außermenschliche Oberherrschaft von Gut und Böse über die Welt ist „absurd“ und „monströs“. Diese realistische Welt ist eine Welt, die nach Liebe, Wahrheit, Freiheit, Menschlichkeit usw. strebt, und der Obsession und Lüge im Weg stehen. Im Weg steht das mexikanische Melodrama, das Liebe in Besessenheit verkehrt und damit Unfreiheit und Grausamkeit hervorruft. Das exzessive Gefühl erlöst nicht sondern schadet. Es missachtet die Wahrheit und das Individuum, von dem es Besitz ergreift, und verursacht Leid. In je abgewandelter Form ma-

47 Zur Mutterrolle im cine mexicano siehe auch Monsiváis (1994a: 1521).

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chen Helena, Branca, Eduarda, Marcelo u.a. diese schmerzlichen Erfahrungen. Die brasilianische Telenovela ist jedoch Pharmakon und Toxikum zugleich. Sie wendet sich gegen den Exzess, aber ohne den melodramatischen Affektappell kommt auch sie nicht aus. Por amor kritisiert den Exzess, aber geradezu in exzessiver Form. Der Exzess verursacht Leid – und damit ist die Telenovela wieder zurück im Melodrama. Was Helena tut, ist zwar nicht mehr gut, sondern schlecht (wenn auch nicht böse), aber doch zu verlockend, um von der Erzählung nicht in den verschiedensten Schattierungen ausgekostet zu werden. Das bedeutet: Auch die realistische Telenovela erspart ihren Zuschauern nicht das Leid. Sie modernisiert es. Nun leiden die Zuschauer – sehr melodramatisch – am Melodrama selbst. Dies machen bereits die leidenschaftlichen Aussprachen über das Geheimnis zwischen Helena und Virgínia bzw. Orestes deutlich. Diese Szenen sind symptomatisch dafür, wie die Serie die Zuschauer emotional aufstachelt: Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren werden Halbnah- bis Großaufnahmen der Figuren (also Einstellungen, die in ihrem Ausschnitt zwischen Oberkörper bis ausschließlich Kopf variieren) gezeigt, so dass diese frontal auf dem Bildschirm zu sehen sind. Die Zuschauer sollen den Eindruck gewinnen, sie stünden ihnen direkt gegenüber. So ist die volle schauspielerische Gestik und Mimik im Grunde nicht auf den Mitspieler, die Mitspielerin gerichtet sondern auf die Kamera bzw. die Zuschauer. Musik ist immer dabei: Sie unterstreicht die Dramatik der Szene. Die Dramatik entsteht aus der Figurenrede und verlängert sich vor allem in der Körpersprache der Darsteller. Hierin ist die brasilianische Telenovela ganz Telenovela und unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der mexikanischen, die im Prinzip genauso verfährt. In den genannten Szenen wird die Ungeheuerlichkeit (bzw. die melodramatische Unwahrscheinlichkeit) von Helenas Tat diskursiv und expressiv entfaltet: Virgínia und Orestes übertragen das Entsetzen direkt auf den Bildschirm, von dem es die Zuschauer auf- und übernehmen sollen. Sie veranschaulichen, dass die Figuren in erster Linie Gefühlskatalysatoren sind: Ihr körperlicher Gefühlsausdruck (Stimme, Mimik, Gestik, Bewegung) soll Affektzustände bei den Zuschauern auslösen. In diesem Fall ist es der Schock, die Erschütterung des emotiven Stoffwechselsystems angesichts einer unvorstellbaren Tat und die Auslotung der Abgründe dieser Tat: die Konsequenzen für alle Betroffenen. Zuallererst sind die Telenovela-Figuren Gefühlsträger. Figuren, die nicht fühlen bzw. ihr Gefühl nicht zeigen, sind nicht vorstellbar. Sie wären völlig dysfunktional, es sei denn, gerade dies wäre ihre Funktion (dann wären sie ‚verdächtig‘). Helena ist natürlich die zentrale Leid-Figur. Sie bringt das Leid, die Wut und Trauer eines Menschen zum Ausdruck, der nur zwischen zwei extremen Schmerz-Szenarien wählen konnte. Gerade das Ungewöhnliche, Unvorstellbare, Unwahrscheinliche – das Besondere – der Tat stimuliert den melodramatischen Affektappell, sobald sich die Zuschauer erst einmal darauf einlassen. Helenas Geheimnis täuscht die mexikanische Scheinhaftigkeit der Wirklichkeit an, um dann diese geleugnete Wirklichkeit als alternativlos zu bekräftigen. Aber jene Wirklichkeit ist weiterhin eine Wirklichkeit der Affekte. Helenas Geheimnis widerspricht dem melodramatischen Versprechen der besseren Wirklichkeit und invertiert es zur Erwartung des Desasters. So wird es zu dem Quell von Leid, von dem die Telenovela lebt. Vom Augenblick 295

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des Tauschs der Neugeborenen und –gestorbenen beginnt das Leid der Heldin. Es ist selbstverschuldet, aber nicht minder tief. Trauer und Sehnsucht umhüllt Helena von nun an, wenn sie Marcelinho sieht. Marcelinho verweigert Eduardas Brust und nimmt nur Helenas – er erkennt seine leibliche Mutter, die darüber nur noch trauriger wird und bestenfalls die Zuschauer mit ihr. Atílio leidet unter dem Tod seines Sohnes. Die Zuschauer leiden seinen Schmerz, wenn er sich an Marcelinho freut, weil sie wissen, dass ihn nur ein Geheimnis von seinem Vaterglück – für ihn „a felicidade suprema“ („das höchste Glück“) – trennt. Dann die Krise der Beziehung zwischen den Liebenden. Auf der einen Seite die ungläubige und fassungslose Rebellion gegenüber dem Schweigen der Geliebte, auf der anderen Seite die stille Trauer über die Unabwendbarkeit des Verlustes. Helena verliert Atílio zwei Sendemonate vor Schluss. Das heißt, dass sie in dieser Erzählzeitspanne ganz besonders leiden wird. Denn Atílio wendet sich sogleich einer anderen Frau zu, Flávia, Helenas beruflicher Partnerin. Nun kommt die Eifersucht zu den Qualen der Protagonistin hinzu.

8.4.3.5 Der RealReal-Affekt

So viel Verlust und Leid ist kaum zu ertragen, auch für die Zuschauer nicht, daher verschwindet der Plot über weite Strecken und weicht dem mehr oder weniger zeitgleich wiedererstarkten Gegenglück von Eduarda und Marcelo. Neues Leid kommt in diesem Erzählzeitraum mit Nandos Inhaftierung dazu. Und neue Freude und Erleichterung treten mit seiner Freilassung und der Wiedervereinigung mit Freundin und Familie ein. Daneben und parallel dazu sorgen weitere Plots für Abwechslung wie der von Márcia und Wilson, in dem die Telenovela die viel zitierten sozialen Probleme aufgreift, in diesem Fall den Rassismus. Im Rahmen emotionaler Performanz greift das realistische Melodrama sehr konkrete Konflikte auf und kann Gesellschaftskritik formulieren, da es ihm im Gegensatz zum metaphorischen Melodrama nicht um die Welt hinter der Wirklichkeit sondern um die Welt „realer“ Affekte geht. Das heißt gleichzeitig auch, dass gesellschaftliche Probleme nur im Rahmen des Affektappells angegangen werden. So zeigt Por amor, dass das Rassismusproblem nicht aus der Welt ist, wenn der Anstoß zur Ablehnung entfällt (das gemeinsame Kind ist nicht schwarz), sondern dass er einer mentalen Struktur gleichkommt und jederzeit neu ausbrechen kann (Wilson will kein zweites Kind und will auch nicht heiraten). Márcia weiß das, deshalb gibt sie sich nicht zufrieden sondern verlangt volle Anerkennung (schwarzes Kind und Ehe). Aber Por amor demonstriert auch, wozu die Liebe fähig ist: Sie versöhnt die Gegensätze, so auch die von Márcia und Wilson, und macht tolerant. Nicht nur gibt Wilson nach, auch Márcia lässt sich angesichts der Liebe des Vaters zum Kind erweichen und gibt ihm eine Chance. Infolgedessen kommt es im letzten Kapitel zur Trauung durch einen schwarzen Priester. Der Plot zeigt, dass die explizite Gesellschaftskritik der Telenovela auf ein Happy End bzw. auf eine Befriedung der Konflikte hinaus läuft.48 Ob ideologia do dono oder nicht, TV 48 Andere brasilianische Telenovelas stellen Gesellschaftsprobleme in den Mittelpunkt, wie etwa O rei do gado (1996/1997). Das globale Thema dieser Serie, sind die Land-

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Globos Telenovelas sind in dieser Hinsicht nicht nur moralistisch sondern auch didaktisch und räumen den Figuren Vorbildfunktionen ein. Neben dem Márcia-Wilson-Plot gibt es ohne Zweifel eine Reihe weiterer gesellschaftskritischer Aspekte, darunter das Schwarzgeld der Barros Mota auf Schweizer Konten, das sie dem Unternehmen entzogen. So soll die Korruption der Elite aufgezeigt werden, die nicht an der Entwicklung des Landes interessiert ist (nicht einmal an der ihrer eigenen Unternehmen), der Volkswirtschaft das dringend nötige Kapital entzieht und ins Ausland schafft. Dies ist jedoch innerhalb der novela ein Randgeschehen, und man kann es dem sympathischen Arnaldo letztlich auch nicht recht verübeln. Affektwirkung, nicht Gesellschaftskritik ist die primäre soziale Funktion auch der brasilianischen Telenovela. Im Vordergrund steht das Leid, das die Zuschauer mit der Telenovela mit-leiden, und nicht immer ganz – auch das zeigt Por amor – überwinden. Realismus in der Telenovela bedeutet jedoch, dass dieses Mit-Leiden differenziert wird, plausibel wird, auf das Konkrete der Gesellschaft bezogen bleibt. Angestiftet wird das Mit-Leiden durch realistische Figuren-Affekte, nicht durch den Antagonismus zwischen dem Guten und dem Bösen. In Por amor springt die Zuschauer vielfältiges Leid an. Das Hauptleid in Verbindung mit dem Marcelinho-Opfer wurde bereits umrissen. Es verästelt sich in unterschiedliche Leidformen: Die Mutter entbehrt (opfert) ihr Kind, der Vater verliert sein (bis dato) einziges Kind, die Liebenden verlieren sich, der Arzt zerbricht (fast) am Verrat an seinem Beruf. Bereits angedeutet wurden ebenfalls die verschiedenen Formen des Leids, das im Niterói-núcleo entsteht. Diese Figurengruppe bildet das zweite große Leid-Zentrum der novela. Das Leid, das von hier ausgeht, ist ganz anderer Art als das, das vom Kindesopfer provoziert wird. An erster Stelle steht der Klassenhass, der für die Telenovela, auch für die brasilianische, konstitutiv ist. Schon die Anordnung der núcleos nach sozialen Klassen zeigt an, dass die Telenovela auf die Klassenstruktur der brasilianischen Gesellschaft ausgerichtet ist. Als reines Mittelschicht-Milieu wird der Niterói-núcleo doppelt herabgewürdigt, denn indem er als arm gilt, es aber nicht ist, wird nicht nur die Klassendifferenz zur Oberschicht betont sondern zudem der Mittelschichtstatus geleugnet. Charakteristisch für die realistischen Affekte sind die konkreten Umstände des Leids. Bereits veranschaulicht wurde der LeidExzess dieses Plots an der Beschreibung der Szenen der Gerichtsverhandlungen. Der Klassenhass lastet auf den Individuen als eine drastische und sehr konkrete Einschränkung ihrer Freiheit. Darüber hinaus ist der Niterói-núcleo als Mittelschicht-Milieu Schauplatz der Alltagssorgen. Arbeit, Müdigkeit bei Lídia, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus bei Orestes und das Leid, das letzterer bei Lídia und Sandrinha auslösen, der Autounfall Sandrinhas und viele andere Leidformen mehr. Damit natürlich nicht genug, Por amor hat mehr Leid zu bieten, das kaum alles aufgezählt werden kann. Nur angedeutet seien die Affekte, die zum anfänglichen Scheitern der Eduarda-Marcelo-Beziehung führen. Dann das für die Zuschauer kaum zu ertragene Dauerleid Leonardos. So zeigt sich, wie die brasilianische Telenovela das „Reale“ erzählt, nämlich als Affektlosen und der Landkonflikt in Brasilien. Ein anderes unter vielen Beispielen ist Xica da Silva (1997) von TV Manchete, in der die Unterdrückung der afrikanischen Sklaven während der brasilianischen Kolonialzeit zum Erzählgegenstand gemacht wird.

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impuls. Alles „Reale“, Konkrete wird im Telenovela-Realismus vom Affekt durchdrungen bzw. strukturiert. Ohne Affekt erzählt die Telenovela kaum etwas. Sie macht aus dem literarischen Real-Effekt (Barthes) einen televisionären Real-Affekt. Immer geht es um den Affektausdruck der Schauspieler, unterstützt durch Nah- und Großeinstellungen, Schuss-Gegenschuss-Montage, musikalische Untermalung. Diese Erzählmittel dienen dazu, Affekte bei den Zuschauern zu provozieren. Allerdings hält die Multiplotstruktur nicht nur Abwechslung unter verschiedenen Leidformen parat sondern auch Entspannungs- und Erholungseffekte. Gemeint sind nicht nur Glücksszenen, wie sie etwa Eduarda und Marcelo nach ihrer Wiederannäherung erleben, sondern auch Plots, die von Komik geprägt sind, wie z.B. der Plot der Nachbarn von Helena. Die brasilianische Telenovela, mit anderen Worten, bietet eine plurale Affektwelt, in der Emotionen von den unterschiedlichsten „realen“ Umständen provoziert werden. Wenn, wie angedeutet, in der Affektwirkung ihre primäre soziale Funktion begründet (und intendiert) ist, so bedeutet das, dass ihr erster sozialer Sinn darin besteht, die Zuschauer der Erfahrung von Leid auszusetzen und sie durch die Aufhebung vom Leid davon wieder zu erlösen. Eine solche Funktion erklärt sich unschwer aus der vielschichtigen Prekarität der von Unterentwicklung geprägten Lebensbedingungen der Zuschauer.49 Wenn die brasilianische Telenovela darin mit der mexikanischen konform zu gehen scheint, so unterscheidet sie sich jedoch im Leid, dass sie den Zuschauern zumutet: Statt zum Leid (und dessen Aufhebung) an der Gesellschaft lädt sie zum Leid (und dessen Aufhebung) in der Gesellschaft ein. Der Unterschied ist gewichtig, denn er macht auf den zusätzlichen sozialen Sinn der brasilianischen Telenovela aufmerksam: In dem Maße, wie diese Telenovela die Affekte von „realen“ Umständen der brasilianischen Gesellschaft ausgehen lässt, beansprucht sie die Funktion der emanzipativen Modernisierung.

8.4.3.6 Die Sucht des Zeigens

Das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, die Variation der Größe des Bildausschnitts und der Schnitt sind die wichtigsten Bildmittel der Telenovela. Die Kamera bewegt sich meist nicht. Was sich bewegt, ist ihre Brennweite. Die Kamera fängt die Figuren starr ein, wenn sie vor ihr stehen. Es gibt mehrere Kameras, die verschiedene Blickrichtungen und Figurenbewegung erlauben. Dynamik und Abwechslung entstehen durch den Wechsel der Kameras bzw. der Blickrichtungen. Totalen kommen schon deshalb nicht in Frage, weil die meisten Aufnahmen im Studio gemacht werden. Es geht nicht um eine Schau, die die Sehgewohnheiten technisch sprengt, etwa durch Kamerafahrten, Montagen u.a. In diesem Sinne ist die Telenovela nicht bestrebt, Seherlebnisse zu erzeugen, die sich als kinematografisch bestimmen. Das Genre will nicht die Möglichkeiten des technischen Sehens ausloten. Es will zeigen, sichtbar machen: Gefühle, Affekte, Leid, Liebe, Freude, Schmerz im 49 Dies wird nicht zuletzt an Brandãos crônica deutlich, die nach Auswegen aus dem urbanen Leid und vor allem aus der permanenten Rede über das Leid sucht, insbesondere aus der Leid-Exzitation der Telenovela (in diesem Fall Por amor).

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Gesicht der Schauspieler. Die Telenovela wird nicht nur von talking heads sondern auch und besonders von feeling heads bevölkert. Die Figuren erscheinen meist frontal, wie im Theater. So geht kein Gesichtsausdruck verloren. Die Telenovela erzählt und zeigt. Dies mag dem Produktionsdispositiv des kommerziellen Fernsehens geschuldet sein, aber es ist zugleich zutiefst melodramatisch. Das Zeigen ist die Sucht des Melodramas: Als melodramatische Beschwörung des Postsakralen vergewissert sie die Zuschauer unaufhörlich, dass das echte Gefühl existiert. Besonders die mexikanische Telenovela macht beständig das Gute und das Böse in schriller Deutlichkeit sichtbar. Die Telenovela unterwirft das Bild der Repräsentation. Wenngleich das Genre die Möglichkeiten des Bildes nicht annähernd ausschöpft wie das Kino, so ist sie neben ihrer Geschwätzigkeit ganz Bild. Sie nutzt das Bild als Ausdrucksmittel bis zum Exzess. Hauptsächlich die brasilianische Telenovela visualisiert nicht nur Affekte im ‚realen Leben‘ sondern bringt Brasilien zur Anschauung. „Alles“ muss gezeigt werden: die schönen Landschaften, die schönen Strände, die schönen Menschen. Die brasilianische Telenovela ist eine Obsession der Vergegenwärtigung, um zu den Bildbeweis zu liefern, dass es sie wirklich gibt: die „brasilianische Wirklichkeit“. Das Genre zeigt, was die Menschen nicht sehen: das bessere Leben, den Reichtum der Reichen, den guten Geschmack, die Klasse der oberen Schichten.

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9. Rezeption: „Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“1

9.1 Noch einmal: die Frage nach der Masse Wie die Rezeptionsuntersuchungen in Colima ergeben haben, ist die Annahme von Televisas Konzernleitung irrig, dass nur Geschundene Telenovelas sähen. Telenovelas sind eine „realidad transclasista“, eine „klassenübergreifende Wirklichkeit“, so folgt aus der Untersuchung des Publikums. Selbst in Mexiko bindet sich die Gattung nicht an ein bestimmtes Publikumssegment, sondern wird durchschnittlich von 60% von Ober-, Mittel- und Unterschicht gesehen. Tatsächlich ist das Genre kein Instrument zur Indoktrinierung einkommensschwacher Schichten, wie das die Azcárragas und manche andere dueños und donos vielleicht gerne hätten. Vielmehr ergeben die Rezeptionsforschungen, dass die Telenovela Teil der Kultur ist und an den „Sorgen, Fanatasien, Ängsten und Frustrationen“ vieler unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen anknüpft. Zweifelsohne spricht das Genre vorzugsweise untere und mittlere urbane Einkommensschichten an, aber eben nicht ausschließlich. Außerdem beschränkt sich auch in Mexiko das Publikum längst nicht mehr nur auf die Zuschauerinnen, wenngleich diese häufiger Telenovelas sehen, als die Männer. 80% der Frauen und 50% der Männer schalten regelmäßig eine Telenovela ein, so die Untersuchung in Colima (González 1998a). Dass das Publikum zwangsläufig sehr heterogen ist, zeigt der Programmplatz der prime time an, der alle Altersgruppen, Männer wie Frauen und unterschiedliche Schichten vereint. Alle Altersgruppen finden sich unter dem Telenovela-Publikum. Telenovelas sehen 70 bis 75% aller unter einem Alter von dreißig Jahren, 70 bis 80% aller über vierzig, und zwischen 62 und 70% aller Dreißig- bis Vierzigjährigen (González 1998a: 59). Dies entspricht auch dem Rezeptionsprofil von TV Globos Telenovelas in Brasilien. Die brasilianischen Telenovelas steigern gar die Heterogenität des Publikums, da sie – insbesondere in der novela das oito – sehr gezielt unterschiedlichte Publikumssegmente gleichzeitig ansprechen. Diese Tendenz ist bei den Telenovelas von TV Globo zwangsläufig sehr viel ausgeprägter als bei denen von Televisa, denn TV Globo konzentriert sich auf nur ein einziges Programm und bietet konzernintern keine Alternative. Wer Globos Telenovelas nicht sehen will, muss zu anderen Sendern wechseln, und das wird TV Globo zu verhindern versuchen. Ganz anders bei Televisa: Durch den Zusammenschluss der verschiedenen Sender unter einem Dach er1

„[...] si se sufre a solas se pierde lo mejor del sufrimiento“ (Monsiváis 2004: 24).

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hielten diese ein je abweichendes Gattungsprofil, um unterschiedliche Publikumssegmente anzusprechen. Televisa teilt damit das Publikum auf die verschiedenen Programme der hauseigenen Sender auf. So könnte sich erklären, dass Televisas Telenovelas längst nicht den Popularitätsgrad erhalten wie die Serien von Globo. Die „mexikanischen“ Telenovelas müssen kein komplexes Publikum ansprechen – das muss (oder müsste) nur der Senderverbund von Televisa, zumindest im (werberelevanten) Valle de México, im Großraum der Megalopole Mexiko-Stadt. Aus Televisas Sicht mag die Monoplotstruktur seiner Telenovelas ausreichen und eine Pluralisierung der Serienerzählung unnötig erscheinen. Wem das nicht gefällt, der kann ja auf einen anderen der vier konzerneigenen Sender (oder auf einen der beiden TV-Azteca-Kanäle) umschalten. TV Globo dagegen muss versuchen, möglichst das gesamte Publikum mit nur einem Programm zu erreichen. Die Multiplotstruktur der Telenovela ist hierzu die wichtigste Strategie. Die vielen Plots dienen daher nicht nur dazu, die Erzählung zu strecken und intern durch Szenenintervalle zu serialisieren. Sie haben auch die Funktion, mit nur einer Sendung das Sehangebot zu vervielfältigen und gezielt spezifische Zuschauergruppen anzusprechen. So kommt dem Rassismus-Plot von Márcia und Wilson bei Por amor beispielsweise offensichtlich die Funktion zu, insbesondere ein afrobrasilianisches Publikum anzusprechen. Der Milena-Nando-Plot dagegen richtet sich an ein jugendliches Publikum, das sich mit dem jungen, attraktiven Paar identifizieren soll, das sich über soziale Grenzen und Bedenken der Eltern hinwegsetzt. Mit der Sandrinha-Orestes-Beziehung ist nicht zuletzt ein speziell kindliches Publikum angesprochen. Die núcleos der (Haus-)Angestellten und ihre Partizipation im Geschehen (sowie ihre Erniedrigungen) mögen u.a. ein unmittelbares Identifikationsangebot für beruflich Geringqualifizierte darstellen. Ein spezifisch männliches Publikum soll mit verschiedenen action-Szenen angesprochen werden. Außerdem gibt es zu diesem Zweck einige Gewaltszenen wie etwa die Misshandlung von Orestes im Schatten der Hochzeit von Eduarda und Marcelo. Die Liebesgeschichte der reifen Helden Helena und Atílio hat nicht zuletzt auch den Effekt, ein älteres Publikum zu adressieren, und damit die jüngeren Zuschauer nicht zu kurz kommen, wird ein zweiter Hauptplot mit der Kindesgeneration zur Seite gestellt. All diese Erzählelemente haben selbstredend darüber hinaus andere Funktionen, wie oben ausgeführt wurde. Ihre kurze – sehr unvollständige – Aufzählung an dieser Stelle soll nur verdeutlichen, wie die Multiplotstruktur erlaubt, Zuschauerappelle zu differenzieren. Offensichtlich scheint dies zu funktionieren, denn in Brasilien besteht das Telenovela-Publikum zu fast gleichen Teilen aus Frauen und Männern.2 Selbst wenn die televisionäre Modernisierung – erst – in den neunziger Jahren tatsächlich die Gesamtgesellschaft erfasst (Ausweitung des Besitzes von TV-Geräten), sind damit selbstredend längst nicht alle Bevölkerungsgruppen in der Moderne angekommen. Die nicht anders als brutal zu bezeichnende soziale Ausgrenzung der Mehrheit der Bevölkerung wurde beispielsweise in den neunziger Jahren von dem brasilianischen Schriftsteller 2

José Marques de Melo geht für die zweite Hälfte der achtziger Jahre von einer Aufteilung des Telenovela-Publikums von 49,68% Männer und 50,32% Frauen aus (Melo 1988: 21).

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und Soziologen Zuenir Ventura als „soziale Apartheid“ bezeichnet. Damit bezieht er sich stellvertretend für das gesamte Land auf die radikale soziale Zweiteilung Rio de Janeiros in Mittel- sowie Oberschicht und in die Ausgeschlossenen der favelas und der immensen zona norte (Ventura 1994). Wie soll unter solchen Bedingungen „Masse“ entstehen, also homogene Durchschnittsmenschen, die das Potential der Elitemenschen auf ein mickriges Mittelmaß herunterwürgen, wie es Ortega y Gasset sah? Sloterdijks Zuspitzung der Masse als Verachtungsbegriff scheint im lateinamerikanischen Kontext zugleich adäquat und inadäquat zu sein. Als Verachtungsbegriff seitens der Elite gegenüber den riesigen Menschenmengen scheint er durchaus angebracht. Seitens dieser Menschenmengen in Bezug auf die Eliten ist er es sicherlich nicht, denn von der psychologischen Haltung einer „Masse in uns selbst“ (Sloterdijk 2000: 95) kann in den gespaltenen Gesellschaften Lateinamerikas keine Rede sein. Das Problem der Masse ist ein Problem der Moderne, aber wo die Moderne bis heute nur unvollständig und teils gar nicht Einzug erhalten hat, kann sich die Frage nach der Masse nicht stellen. Trotzdem von Masse zu sprechen, übersieht leicht die Nicht-Homogenität der Menschenmengen und ihre abgrundtiefe Fremdheit, die als fundamentaler Mangel (an Individualität, Subjektivität, Autonomie etc.) verkannt wird. Monsiváis z.B. stellt den Dünkel der mexikanischen Eliten bloß, die sich den Begriff der Masse bei Ortega y Gasset ausborgen, um damit ihrer Verachtung gegenüber den stetig anwachsenden Menschenmengen einen intellektuell-legitimen Anstrich zu verleihen. Dank Der Rebellion der Massen (nicht dass man das Buch läse, aber man erfasst es intuitiv) verfeinert die Elite ihre Verachtung gegenüber dem Meer kupfernfarbener Angesichter, gegenüber den gelegentlichen Eindringlingen ihres visuellen Panoramas. Wie sie sich vermehren! Die demographische Fruchtbarkeit begleitet sie und erlaubt ihnen, sich in eine bedrohliche und pittoreske Lawine zu verwandeln, die die Städte mit Einförmigkeit überzieht.3

Macht aber die Immergleichheit der serienproduzierten TV-Serien das Publikum nicht zur Masse? So könnte mit Adorno und Horkheimer eingewendet werden. Sie verwandeln den Begriff der Masse, indem sie ihn von der Massenpsychologie in die Kapitalismuskritik hinüberholen und ihn nicht als psychologische Haltung sondern als Effekt der Industrialisierung der Kultur interpretieren. Die Kulturindustrie entmündigt und verdummt den Zuschauer, weil sie ihm die Strukturierung der Wahrnehmung durch die Standardisierung der Kulturproduktion vorenthalte und „den Schematismus als ersten Dienst am Kunden“ betreibe (Horkheimer/Adorno 1998: 132). Der Kapitalismus- und Kulturkritik der Autoren liegt ein Kommunikationsmodell zugrunde, das auf das Reiz-Reaktions-Schema zurückgeht. Daher stellt sich spontan die Frage, ob das Ergebnis dieser Medien notwendigerweise „Masse“ als Regression der Subjekte in einen vor-individuellen Zu3

„Gracias a La rebelión de las masas (no que se lea, sí que se intuye), la élite afina su desprecio por el mar de semblantes cobrizos, por los invasores ocasionales de su panorama visual. ¡Cómo se multiplican! La fertilidad demográfica los acompaña y les permite convertirse en el alud amenazador y pintoresco que sumerge a las ciudades en la uniformidad“ (Monsiváis 1995b: 229).

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stand der Differenzlosigkeit und Übereinstimmung sein muss. Selbst die Annahme, Massenkultur erschöpfe sich in Identität im Sinne von Immergleichheit, erklärt noch nicht, warum die Rezeption der audiovisuellen Medien zwangsläufig alle Differenz seitens der Zuhörer bzw. Zuschauer zunichte macht. Das entscheidende Argument, das Horkheimer und Adorno dazu liefern, bezieht sich auf den Film. Die Autoren führen an, dass die schnellen Bilder „die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will“ (Horkheimer/Adorno 1998: 134-135). Der Zuschauer würde so sehr von den Bildern absorbiert, dass er das Gesehene nicht reflektieren könne. Hierbei zeigt sich, dass das Subjekt auf einer imaginären Unmittelbarkeit von Denken und Sehen beruht, die die Präsenz des Auges implizit voraussetzt. Das Argument der „Vermassung“ der Zuschauer entpuppt sich somit als Aporie: Die letztlich metaphysische Präsenz des Auges (oder des Ohrs) bildet im Grunde die Voraussetzung für die Auslieferung der Zuschauer an die audiovisuellen Medien. Auf sie ist mit anderen Worten die Schlussfolgerung zurückzuführen, dass ein uniformes audiovisuelles Angebot nicht nur eine ebenso uniforme Rezeption bedingt sondern darüber hinaus die Uniformisierung der Rezipienten betreibt. Der Begriff der Masse muss deswegen nicht aufgegeben werden, als Kategorie zur Beschreibung sozialräumlicher Ballungsphänomene erscheint er weiterhin sinnvoll – jedoch nur im Kontext punktueller und temporärer Formationen und nicht als Konstruktion eines stabilen Gesellschaftssegments. Monsiváis z.B. verwendet den Begriff in seinen Chroniken über MexikoStadt, aber er tut dies primär in seinen Skizzen von Rockkonzerten mit Blick auf ihre „augenblicklich entstehenden Rituale“: „Unter den Massen ist die disziplinierteste, die sich den Eigenwillen am ehesten versagt, immer noch die des Rock.“4 Gemeint ist damit aber die moderne „Auflaufmasse“, wie es Sloterdijk formuliert (Sloterdijk 2000: 9). Was der Autor jedoch als postmoderne „programmbezogene Masse“ bezeichnet, die nicht mehr „im physischen Konvent“ entsteht sondern allein in der Rezeption des massenmedialen Programms (16), könnte als Widerspruch an sich erscheinen. Denn was die Menschen tatsächlich tun, denken oder empfinden, während sie das Fernsehprogramm (um das es immer geht) verfolgen, wüssten wahrscheinlich auch gern die Programmdirektoren. Das televisuelle Affektspektakel übt sehr wohl eine normstiftende „Diktatur der elektronischen Faszination“ aus, wie Monsiváis schreibt (Monsiváis 1995b: 16). So unterdrücken „Gattungshegemonien“, wie Lyotard argumentiert, alternative Satzverknüpfungen und sichern sich das Vorrecht zu, über das Soziale zu urteilen (Lyotard 1983: 204-205). Das Melodrama, das das 20. Jh. „absolut melodramatisch“ dominiert,5 bläut den Zuschauern ein, dass die irdische Welt nur Schein ist, und dass die Annahme des Leids an dieser Welt auf eine höhere Entlohnung hoffen kann. Über ein Jahrhundert predigt es – alternativlos – einen sentimentalen Fatalismus (vgl. Monsiváis 2004: 20). Auf das Diktat des affektiven und (bei TV-Globo) eleganten Seins wird noch 4 5

„De las masas, la más disciplinada, la más negada a lo voluntarioso, es la del rock“ (Monsiváis 1995b: 186). „Absolutamente melodramático el melodrama domina con plenitud el siglo XX“ (Monsiváis 2004: 24).

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einzugehen sein. An dieser Stelle nur die Quintessenz der Telenovela-Lehre: Ein Mensch ist Mensch, wenn seine Gefühle auf Liebe und Leid geeicht sind. Dann sind sie wahr und echt (alles Andere sind Aberrationen). Wichtiger aber noch: Die Gefühle sind nur dann authentisch, wenn sie so deutlich zum Ausdruck gebracht werden können, dass sie auch andere anstecken. Dennoch kann auch diese Diktatur nie vollständig über sein Publikum verfügen. Es entzieht sich, wie zu zeigen ist, in seinen „Ritualen des Chaos“ (Monsiváis 1995b: 16).

9.2 Das Publikum, das große Rätsel Die Anthropologie hat schon seit einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass die Rezeption der Telenovelas aufgrund des stark diversifizierten soziokulturellen Hintergrunds der Zuschauer nicht homogen sein kann. Das „Universum der brasilianischen popularen Schichten“ ist „breit, vielfältig und heterogen“. Gilberto Velho zählt hierzu – als kleine Kostprobe – neben der eigentlichen Arbeiterklasse in der Stadt und auf dem Land, Bauern, kleine Landbesitzer, bóias-frias (Wanderarbeiter), Fischer, Arbeitslose, Halbbeschäftigte, aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossene, Hausangestellte, Angestellte der öffentlichen Verwaltung, Favela-Bewohner, Bewohner der Vororte usw. usw. Hinzu kommen regionale, ethnische und religiöse Differenzen, die den Sinnstiftungsprozess der Rezeption prägen. Statt von einer Massengesellschaft ist eher von einer „komplexen Gesellschaft“ auszugehen (Velho 1994). Aufgrund der Heterogenität des Publikums ist die Kommunikationswissenschaft in Lateinamerika schon in den achtziger Jahren – siehe das Beispiel der Forschungsgruppe in Colima – dazu übergegangen, die vielfältigen Vermittlungen im Rezeptionsprozess zu untersuchen. Paradigmatisch für die Kehrtwende von der Kritik an der Kulturindustrie hin zur Rezeptionsforschung, von den Medien hin zu den Mediationen ist Martín-Barberos De los medios a las mediaciones (1987). Am Ende des Buches kommt der Autor zum Schluss, dass die Gattungen zwischen Produktion und Rezeption vermitteln, aber er entwickelt diese Einsicht nicht weiter und verweist lediglich auf die für ihn wichtigste Gattung der lateinamerikanische Kultur, das Melodrama. Im Melodrama scheint Lateinamerika seinen vollständigsten Ausdruck zu finden, in ihm „vermischt sich alles, die sozialen Strukturen mit denen des Gefühls, vieles von dem, was wir sind – machistas, Fatalisten, Abergläubige – mit dem, wovon wir träumen zu sein“.6 Das Melodrama vermittelt zwischen Kulturindustrie und Publikum, es erlaubt den Menschen, sich in den Massenmedien wiederzufinden (Martín-Barbero 1987: 243). Was damit gemeint, aber nicht ausgeführt wird, ist, dass genauso wichtig wie die Gattung das Publikum ist, ohne das die Gattung keinen Sinn machte.7 Erst durch

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„En el melodrama está todo revuelto, las estructuras sociales con las del sentimiento, mucho de lo que somos – machistas, fatalistas, supersticiosos – y de lo que soñamos ser [...]“ (Martín-Barbero 1987: 243). „So wichtig wie die Geschichte des Melodramas, wenngleich sehr viel weniger erforscht, ist die Geschichte seines Publikums in Lateinamerika“ („Tan importante como

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die Aneignungsformen durch das Publikums wird die melodramatische Produktionsformel der Kulturindustrie Teil der culturas populares urbanas. Schon Borges schrieb in bezug auf das Kriminalgenre, dass die Gattungen weniger von den Texten abhängen als vom Akt des Lesens dieser Texte. Das „ästhetische Ereignis“ entsteht im „Zusammengehen von Leser und Text“. Ohne Rezipienten kann es keine Gattung geben, denn nur in ihnen bildet sich das Gattungsgedächtnis, in dem ein Text Sinn macht: „Es ist absurd anzunehmen, dass ein Band mehr ist als ein Band. Zu existieren beginnt er erst, wenn ein Leser ihn öffnet.“8 Was macht also das Publikum mit den Telenovelas? 51% der in Colima Befragten halten die Telenovelas für ein Programm, das für die ganze Familie geeignet sei. Ebenso viele gehen davon aus, dass die Gattung die Familie zusammenbringt und vereint.9 58% sind der Auffassung, Telenovelas seien hilfreich bei der Bewältigung praktischer Probleme im Leben. 47% glauben nicht, dass die Telenovela realitätsfremde Themen behandele (und das in Bezug auf Televisas Serien!) (González 1998a: 61-63). Aus diesen Erhebungen folgt nicht zuletzt, dass die Telenovela ein Familiengenre ist. Sie entspricht in besonderer Weise dem Dispositiv des Fernsehens als Privat- und Familienmedium. Telenovela ist nicht nur, was auf dem Bildschirm flimmert sondern auch, was um den Fernseher herum passiert. Die Familie prägt die Telenovela-Rezeption. Die Telenovela beginnt nicht mit Sendebeginn eines Kapitels sondern entsteht im Familiengedächtnis der Gattung. Sie endet nicht mit dem Ausstrahlungsende des Kapitels sondern setzt sich im Familiengespräch über das Kapitel fort. Die Telenovela-Zuschauer sind – so ist der weitverbreitete Ansatz – Familienzuschauer, die das, was sie sehen, im Lichte der sozialen und kulturellen Erfahrungen einzelnen Familienmitglieder wenden, kommentieren und interpretieren (González 1998b: 176). Als Familiengenre wird die Telenovela nicht nur gesehen, sie stößt – in der Regel – auf ein Forum und wird zugleich besprochen. In Übereinstimmung mit Ana Uribes „Familienethnografie“ initiiert sich die „Kommentarkette“ schon während der Ausstrahlung. Oftmals geht sie von der Telenovela-Episode aus, um anschließend in persönliche oder familiäre Angelegenheiten überzugehen (Uribe 1998: 275). Nach Kapitelende bleibt die Telenovela im Hause Gesprächsthema: Wer die letzte Folge verpasst hat, erkundigt sich und lässt sich die „besten Momente“ berichten. Man lässt einzelne Szenen Revue passieren und kommentiert sie (270). Aber wie verläuft die Telenovela-Schau in Familie eigentlich konkret? Karla Covarrubias Cuéllar hat in einer „Feldstudie“ beobachtet, wie eine Familie in Colima fernsieht: Die Familie Velázquez besteht aus einer Hausfrau, einem Vater im Ruhestand und fünf Kindern, von denen vier studieren, während der Jüngste noch auf der Schule ist. Die Eltern sehen kurioserweise gar keine Telenovelas, dagegen alle Kinder. Die ältesten drei Kinder sehen zwei

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la historia del melodrama, aunque mucho menos estudiada, es la historia de su público en América Latina“) (Monsiváis 2004: 19). „Es absurdo suponer que un volumen sea mucho más que un volumen. Empieza a existir cuando un lector lo abre“ (Borges 1979: 66). Bemerkenswert für manche Hausfrauen, so ergab die Befragung, war insbesondere, dass die Telenovela die Ehemänner abends früher nach Hause brachte (González 1998a: 62).

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Telenovelas täglich, die anderen beiden mehr. Aber die Vorlieben sind ganz unterschiedlich. Nur die Spät-Telenovela um 21:30 Uhr wird von allen gemeinsam gesehen, sie ist aber nicht allgemein die Lieblingsserie. Zum Ablauf: Gegen 19:30 kommen die beiden Jüngsten nach Hause und sehen sich eine Telenovela an. Meist bleibt das Fernsehgerät dann eingeschaltet. Gegen 21 Uhr kommen die ältesten drei Kinder aus der Universität. Nun wird gemeinsam zu Abend gegessen, der Fernseher bleibt an. Ab 21:30 Uhr versammeln sich alle Kinder unmittelbar vor dem Fernseher, um eine Telenovela anzusehen. Die Eltern gehen auf die Veranda. Nach dem Ende der Serie setzen sich die Kinder ein wenig zu den Eltern (Covarrubias Cuéllar 1998: 288-289). González nennt die Familie allgemein eine „hermeneutische Gemeinschaft“ bzw. eine „Vergnügungsgemeinschaft“ (González 1998b: 177-178), in der Sinn und Unsinn des Gesehenen ausgehandelt wird. Das bedeutet, dass die Telenovela-Schau von einer Reihe familiärer Interaktionsprozesse bedingt ist. Die Telenovela-Schau selbst ist Ergebnis eines innerfamiliären Verhandlungsprozesses und führt dazu, dass andere Dinge eventuell nicht oder zu einem anderen Zeitpunkt verrichtet werden. Klindworth berichtet, dass Hausfrauen oft eine intensive Debatte über das Telenovela-Sehen führen. Zum Einen sind sie häufig von der Außenwelt weitgehend abgeschottet, so dass die Telenovela die u.a. Funktion hat, Gesellschaft zu leisten. Zum Anderen entstehen Konflikte, insofern als ihnen wegen der Telenovela weniger Zeit bleibt, sich um Familie und Haushalt zu kümmern (Klindworth 1995a: 198199). Das Beispiel der Velázquez-Eltern zeigt, was die Telenovela an Freizeitbeschäftigung verdrängt bzw. – wie im ihren Fall – nicht verdrängt. Sie haben den Fernseher nur für die Kinder und aufgrund ihres Drängen gekauft, schauen jedoch höchstens Nachrichten, und zwar vor dem Schlafengehen. Sie gehen ‚traditionellen‘ bzw. prä-televisuellen Unterhaltungsformen nach wie dem täglichen Plausch mit Nachbarn und Freunden. Bei ihnen ist es „Tradition“, jeden Nachmittag Besucher zu empfangen (Covarrubias Cuéllar 1998: 296). Das deutet an, dass die Familienschau der Telenovela nicht zwangsläufig eine harmonische Praxis ist und u.U. nicht von allen Familienmitgliedern gleichermaßen unterstützt wird. Die Schau unterwirft sich der Machtverteilung in der Familie.10 In sie fließen Rechtfertigungen bzw. Widerstand, Kritik, Spott, Geläster u.a. ein. Die Telenovela vereint (zumindest einzelne) Familienmitglieder und bringt sie auch in physischen Kontakt zueinander (so die Velázquez-Kinder, die sich 21:30 Uhr vor dem Bildschirm teils aneinander schmiegen und gemeinsam auf die Episode freuen. Manche sehen diese Telenovela nur deshalb, weil die anderen sie sehen [Covarrubias Cuéllar 1998: 306]). Und sie entzweit sie zugleich (jedes der Velázquez-Kinder hat seine eigene Lieblingstelenovela, die nur teilweise mit der der anderen übereinstimmt. Die Eltern sehen gar keine Telenovelas). Die Gattung regt Kommunikationsprozesse (das gemeinsame Thema) an und unterbindet andere.

10 Was das im Fall der Velázquez-Familie bedeutet, wäre interessant gewesen zu erfahren, denn leider thematisiert Covarrubias Cuéllars Studie Gegensatz zwischen den Eltern, die gar keine Telenovelas sehen, und Kindern, die täglich Serien schauen, überhaupt nicht.

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Sie stiftet dazu an, Affekte und Einsichten zu teilen und sie sich gegenseitig in Abrede zu stellen (vgl. Uribe 1998: 264). Familienschau der Telenovela bedeutet auch in der Familie zerstreute Aufmerksamkeit. Erinnert sei an die Eigenart der Fernsehzuschauer: Sie sind jene „Wesen mit einer ständig fragmentierten Aufmerksamkeit“ (Monsiváis 1996: 278). Das gilt besonders für die Familienschau, denn das Familiengeschehen hält nicht an, während die Telenovela läuft. Nicht nur telenovelabezogene Sprechakte unterbrechen die Schau, auch telenovelaunabhängige Akte und Ereignisse kommen hinzu: Während der Telenovelas werden Arbeiten im Haushalt verrichtet (spülen, kochen, bügeln, nähen, Hausaufgaben für die Schule). Man isst nebenher. Bei dem Essen läuft der Fernseher, und man unterhält sich. Kommt eine Lieblingssendung, nehmen die VelázquezKinder auch ihr Essen mit vor den Fernseher (Covarrubias Cuéllar 1998: 300). Der älteste Velázquez-Sohn beispielsweise spielt gerne Gitarre, während er Telenovelas sieht. Wenn ihn eine Szene besonders interessiert, hört er auf und hört und sieht genau hin (303). Auch denkbar: jemand schnappt sich die Fernbedienung und macht um, um zu kucken, was sonst noch läuft, das Telefon klingelt, man erzählt einem Familienmitglied, das etwas verpasst hat, was gerade passiert ist, jemand kommt zu Besuch etc., etc. Die Erzählstruktur der Telenovela selbst unterstützt das Pendeln der Aufmerksamkeit zwischen Bildschirm und Umgebung: Die Erzählung schiebt sich monatelang selbst auf und verweigert den Zuschauern die Ereignisse, in dem sie sie x-mal ankündigt und noch mal erzählt, was schon erzählt wurde. Außerdem unterbricht sich das Fernsehen innerhalb seiner Erzählintervalle selbst und bringt Werbung. Im Ergebnis schaut man bei den Telenovelas oft nur „halb hin“, schafft es aber dennoch, auf dem Laufenden zu bleiben (Covarrubias Cuéllar 1998: 303). Es wird zwar immer wieder von einer cofradía de emociones, einer Bruderschaft der Emotionen, ausgegangen (González 1998a). Das heißt aber nicht, dass es nicht auch in Mexiko ein weitverbreitetes Unbehagen an den auch dort so benannten dramones gibt, an der Immergleichheit, der Durchschaubarkeit der Handlung, der billigen Produktion, der mangelhaften Schauspielerleistung, dem Schmerzexzess, dem Gut-Böse-Manichäismus.11 Man distanziert sich von dem, was man sieht – aber man schaut trotzdem. Man urteilt über den Realitätsgehalt, über das ästhetische Niveau, man macht sich lustig. Unzufriedenheit und Verärgerung über das Genre und seine Langweiligkeit sei, so Klindworth, bei vielen Hausfrauen festzustellen. Aus Mangel an Zerstreuungsalternativen würde die Gattung dennoch weiter gesehen. Man unterhalte sich jedoch damit, „die Geschichten zu kritisieren oder sich über Einzelheiten lustig zu machen“ (Klindworth 1995a: 203-204). Monsiváis spielt auf eine solche spöttisch-zurückhaltende Zuschauerhaltung an, wenn er schreibt, dass Telenovelas schon nicht mehr (wie das filmische Melodrama) bewegen und erschüttern sondern belustigen und einen „neuen Sinn für Humor“ hervorbringen:

11 Covarrubias Cuéllar notiert, dass manche Velázquez-Kinder das Geschehen in der Telenovela sehr kritisch beurteilen und vieles lächerlich, repetitiv oder unglaubwürdig finden (Covarrubias Cuéllar 1998: 304).

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„Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“ Wenn die Familienmissgeschicke schon nicht mehr die Unglückseligkeit der Zuschauer hervorrufen, dann soll wenigstens das Spektakel der niederschmetternden Bosheit in Familie zum Glück führen.12

Wie Klindworth ausführt, existiert im Publikum in der Regel ein sehr klares Bewusstsein über die Fiktionalität der Serien. Das Zuschauerinteresse richtet sich dabei weniger auf die Flucht in eine Traumwelt als vielmehr auf den „Realitätsabgleich“. Die Zuschauer reizt es, den Übereinstimmungsgrad der Telenovela-Erzählung mit der Wirklichkeit zu überprüfen. Aufgrund ihrer Gattungskompetenz beurteilen sie die Machart einer Serie und achten verstärkt auf Details wie das Aussehen der Schauspieler, Kleidung, Kulisse. Aber auch Plotkonstruktion, Figurencharakterisierung und Schauspielerleistung werden geprüft und genüsslich im Gespräch ausdiskutiert und kritisiert (Klindworth 1995a: 211-217). Daraus folgt: Die Rezeption verleiht der Telenovela einen eigenen Sinn, mit dem – ob von den Sendern intendiert oder nicht – eine eigene soziale Funktion einhergeht. Zwar bestätigt die Rezeptionsforschung den Affektappell des Genres und dokumentiert die Reizwirkung, die er auf die Zuschauer ausübt. So die Velázquez-Tochter Fabiola: „Ich glaube, dass der Konflikt das ist, was dich anstachelt, weiter zu kucken, denn für mich konzentrieren sich da die Emotionen...“13 „Cenas emocionantes“, aufregende Szenen, interessieren auch in besonderem Maße das älteste der VelázquezKinder, César. Seine Aufmerksamkeit bannen zudem das zu entwirrende Handlungsgeflecht und der Suspense-Effekt des Geheimnisses (Covarrubias Cuéllar 1998: 303). Fabiola bekräftigt den Unterhaltungssinn des Genres, das den Menschen kostenlos frei Haus geliefert wird. Mit der Telenovela brauche man nicht mehr ins Kino zu gehen: Für mich ist die Telenovela eine Art und Weise, sich zu unterhalten, ohne große Ausgaben zu haben; außerdem ist es bequem, denn schau mal, mit ihr kannst du z.B. einen Kinogang ersetzen...14

So weit, so gut. Was die Aneignung des Genres durch die Zuschauer im Sinne einer cultura popular urbana dem Affektappell jedoch hinzufügt, ist die soziale Handlung des Redens über die Telenovela. Wie Klindworth beobachtet hat, ist eine der wichtigsten Fragen insbesondere der Zuschauerinnen, was die novela mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat (die Frage nach dem „Realitätsabgleich“). Meist wird die Frage, so die Autorin, positiv beantwortet, weil die Gattung „allgemeinste, alltägliche Erlebnisse und Gefühle“

12 „Si las desdichas familiares ya no causan la infelicidad de los espectadores, que el espectáculo de la maldad arrasadora en familia conduzca a la dicha“ (Monsiváis 1996: 279). 13 „Yo creo que el conflicto es lo que te pica a seguirlas viendo, porque para mí ahí se concentra la emoción...“ (Fabiola Velázquez zitiert nach Covarrubias Cuéllar 1998: 293). 14 „Para mí ver la telenovela es una manera de divertirse sin gastar mucho; es además cómodo, porque fíjate, por ejemplo con ella puedes sustituir una ida al cine...“ (Fabiola Velázquez zitiert nach Covarrubias Cuéllar 1998: 295).

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aufgreife (Klindworth 1995a: 209).15 Darüber diskutieren die Zuschauerinnen mit Vorliebe und „Vergnügen“ untereinander (218): man fachsimpelt, urteilt, kritisiert, lobt, erinnert an besondere Szenen, macht sich lustig usw. – eine Bruderschaft oder besser: Schwesterschaft der Emotionen, ohne Zweifel, aber auch eine der gattungskompetenten Kritik. Und: nicht nur der Realitätsgehalt der Telenovela ist im Spiel sondern die Realität der Gesellschaft selbst, insofern als die Gattung eines der großen gesellschaftlichen Gesprächsthemen bildet: Telenovelas sehen, ist zur Gesellschaft zu gehören, zu jedweder Gesellschaft in Sicht (daher verstopften sich bei Canal 2 wegen des Kapitels von En carne propia [Am eigenen Fleisch], in dem der Zahnarzt mit seinen Berufswerkzeugen umgebracht wird, die Leitungen mit Anrufen von Zahnärzten, die gegen das protestierten, was sie als „Beleidigung“ betrachteten).16

9.3 Die Miterzählung der Zuschauer In der Zwischen-Zeit des Erzählabbruchs spinnen die Zuschauer, wie schon angedeutet, den narrativen Faden weiter. Wenn sich die Zuschauer zu MitAutoren wandeln, werden die Drehbuchautoren der „offenen“ Telenovela von TV Globo gewissermaßen zu Zuhörern. Auf die hauseigene Meinungsforschungsabteilung des Senders wurde schon hingewiesen, die akribisch das Profil einzelner Zuschauersegmente scannt. Übrigens ist das Grundkriterium für die Aufteilung des Publikums in Einzelgruppen immer ihre Klassenzugehörigkeit: So splittet TV Globo sein Publikum in vier Klassen auf (die je weiter differenziert werden), von A (höchstes Einkommen) bis D (niedrigstes Einkommen). Zusätzlich wird der kulturelle Hintergrund der einzelnen Klassen erhellt (Icaza Sanchez 2000). Das heißt: TV Globo zeichnet in seinen Serien das Bild einer Klassengesellschaft für eine Klassengesellschaft. Mit anderen Worten ist – in der ‚Philosophie‘ von TV Globo – soziale Identität in Brasilien primär Klassenzugehörigkeit. Ferner wird von der Abteilung, wie schon dargelegt, jede Telenovela drei zeitlich versetzten group discussions unterzogen, deren Ergebnisse an das Autorenteam gehen. So wird zu messen versucht, wie das Publikum auf welchen Plot und welche Figur reagiert. Was die Autoren tatsächlich damit machen, ist ein gut gehütetes Geheimnis... Die Hegemonie der Telenovela in der brasilianischen Videosphäre geht mit der Gattungskompetenz der Zuschauer einher. Sie wissen sehr genau, nicht nur wie die Erzählstrukturen des Genres funktionieren sondern auch, wie die Serien produziert werden. Die „Offenheit“ des Drehbuchs kennt man. Die Zuschauer wissen sehr genau (oder hoffen es zumindest), dass nicht nur 15 Klindworth bemerkt dabei jedoch auch, dass, je stärker die Frauen von „bürgerlichen Vorstellungen“ geprägt sind, also „eine innere Distanz zur Außenrealität“ wahren, sie umso kritischer im „Realitätsabgleich“ sind (Klindworth 1995a: 211). 16 „Ver telenovelas es pertenecer a la sociedad, a cualquier sociedad a la vista (de allí que, por el capítulo de En carne propia donde el dentista es asesinado con los instrumentos de su profesión, las líneas del canal 2 se congestionaron con llamadas de dentistas protestando por lo que consideraban »ultraje«)“ (Monsiváis 1996: 280).

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ausgewählte ‚Expertinnen‘ in den (vielleicht tatsächlich nur) legendären group discussions gehört werden. Inwieweit die Zuschauer tatsächlich Gehör finden, ist jedoch ein schwer zu erörterndes Thema. Dass sie jedoch Gehör suchen, ist offensichtlich und im vorliegenden Kontext besonders interessant. Dass die brasilianische Telenovela die Zuschauer zu Reaktionen zu reizen versucht, ist ebenso offensichtlich. In Bezug auf Por amor wird dies vom Chefautor Manoel Carlos offen ausgesprochen, wenn er im Interview, wie schon erwähnt, zu Protokoll gibt, dass die Telenovela Schlagzeilen und Titelseiten sucht. Sie bekommt sie auch, wie z.B. die zitierten Artikel in der Folha de São Paulo zu Sendebeginn der Serie zeigen. Dabei ist es im Grunde unerheblich, wie der Tenor der Schlagzeilen ausfällt (mit „novela latina“ im brasilianischen Kontext eher eine Beschimpfung). Wie diesen Artikeln zu entnehmen ist, hat Por amor die Zuschauer gereizt. Die Serie wurde mitten in die Debatten über die „Mexikanisierung“ des Fernsehens in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre platziert. Ihr Spiel mit dem dramalhão war nicht nur ein Spiel mit den Zuschauererwartungen sondern auch mit den Befürchtungen vieler, dass TV Globo dem mexikanischen Druck nachgibt. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, auf welcher Ebene sich die eigentliche Spannung dieser novela abspielte, nämlich auf einer metagenerischen. Mit Por amor eröffnete TV Globo eine ganz neue ‚Front‘ des Leids, nämlich das Leid an der Gattung. Por amor führte viele Zuschauer an den Gattungsabgrund, in dem sich die emanzipative Modernisierung ‚ihrer‘ Telenovela im mexikanischen Sentimentalismus verliert. Das tat weh, und das wurde nicht nur am Aufschrei institutionalisierter Organe der öffentlichen Meinung (z.B. Folha de São Paulo) deutlich. Der Gattungsschmerz der Zuschauer suchte sich auch andere Kanäle, oder besser: andere Medien. Gemeint ist das Internet, dessen interaktives Dispositiv zum Protestausdruck genutzt wurde. Der Stein des Anstoßes war die Figur von Eduarda im ersten Drittel der novela. Ihre anfängliche melodramatische Affektivität bzw. ihr traditionelles Frauenbild (kein Sex vor der Ehe, Ehe als Voraussetzung für frauliches Glück, Unterordnung unter die Wünsche des macho) und ihre hysterische, eifersuchtsanfällige Fixierung auf den Mann waren im Grunde ironisch überzeichnet. Sie erweisen sich als das Ergebnis der overprotection ihrer Mutter. Zunächst machte sich jedoch hauptsächlich Dünkel und Verwöhntheit an der Figur bemerkbar – „menina mimada“ („verwöhntes Ding“) war, wie schon erwähnt, das Stichwort (übrigens anderer Figuren). Offenbar wirkte diese Darstellung sehr überzeugend auf das Publikum. Einem Teil der Zuschauer jedenfalls erschien die Figur so unerträglich, dass sie sich öffentlich gegen sie aussprachen. Sie wählten das Internet, das sich in der Mitte der neunziger Jahre gerade in Brasilien zu etablieren begann. So erschien die Homepage Eu odeio a Eduarda (Ich hasse Eduarda), die den „Tod“ Eduardas vom Drehbuchautor der Serie forderte. Eduarda sei ein „dummes Ding“, das die Zuschauer mit ihren Hysterien und mit ihrer konservativen Auffassung der Rolle der Frau zur Weißglut treibe. Durch das Anklicken eines durchgestrichenen Photos von Eduarda konnte man die Figur virtuell „töten“, d.h. eine animierte Sequenz auslösen, in der ein Strichmännchen ein anderes erschoss. Daraufhin erschien die Mitteilung, man habe einen Beitrag zu einer besseren Welt geleistet. Außerdem konnte man eine Beschwerde-E-Mail an den Drehbuchautor der Telenovela schicken und die Mitteilungen anderer 311

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genervter Por Amor-Zuschauer nachlesen.17 Der ‚Todesklick‘ Eduardas zeugt von der Gattungskompetenz der Homepage-Autoren, die wussten, dass a) das Drehbuch während der Ausstrahlung nicht abgeschlossen ist und dass b) der Chefautor eine Figur „töten“ kann, wenn sie beim Publikum nicht ankommt.18 Diesen Gefallen würde ihnen Manoel Carlos niemals tun, denn ihr Protest zeigte ja, wie gut Eduarda funktionierte. Eine Kostprobe der HassSeite: Diese Zicke muss sterben!! Niemand hält dieses verwöhnte und dumme Dingchen mehr aus, das nur Schwachsinn redet. Jeden Tag geht sie uns mit ihren Attacken auf die Nerven: Ah! Ob mich Marcelo liebt? Ich will ein Baby... Seine Ex lässt mich eifersüchtig werden... Ich schreibe das ins Tagebuch... Als Jungfrau heiraten, ist toll! Ich mag meinen Papa nicht, weil er trinkt... DAS MUSS AUFHÖREN Klick hier und töte EDUARDA19

Auch Mehrfachmorde machte die Homepage möglich: „und ich will noch mal töten!“20 Die Hass-Page veranschaulicht die Kommentarverkettung, die die Telenovela in Brasilien auch intermedial auszulösen in der Lage ist. Sie wurde ziemlich populär und zählte bis zum 01.07.1998 62.959 Klicks.21 Mit ihr wurde Por amor nicht nur im Internet Thema, sondern die Page wurde selber Gegenstand vielfacher Presseberichte.22 17 Das Internet ist ein schnelllebiges Medium, wie man weiß. Die genannte Homepage ist längst nicht mehr online. Sie war unter folgender Adresse aufrufbar: www.geocities.com/Hollywood/Studio/4698/index.html (zuletzt aufgesucht: 01.07.1998). 18 Daher die Aufforderung auf der Startseite der Homepage: „Schicke jetzt gleich eine E-Mail an Manoel Carlos, den Autor von POR AMOR, und fordere den schnellstmöglichen Tod dieser BLÖDEN ZIEGE...“ („Mande agora mesmo um e-mail para o Manoel Carlos, autor da novela POR AMOR, exigindo a morte dessa CHATA o mais rápido possível...“) (www.geocities.com/ Hollywood/Studio/4698/index.html [zuletzt aufgesucht: 01.07.1998]). 19 „Esta chatinha tem que morrer!! Ninguém aguenta mais essa meninha mimada e burrinha que só fala imbecilidades. Todo dia ela nos irrita com seus ataques: Ah! Será que o Marcelo me ama? Eu quero um bebê... A ex dele fica me deixando com ciúmes... Vou escrever no diário... Casar virgem é legal! Não gosto do meu papai porque ele bebe... ISTO TEM QUE ACABAR Clique aqui para matar a EDUARDA“ (www. geocities.com/Hollywood/Studio/4698/index2.html [zuletzt aufgesucht: 01.07. 1998]). 20 „e quero Matar de novo!“ (www.geocities.com/Hollywood/Studio/4698/index3.html [zuletzt aufgesucht: 01.07.1998]). 21 So der Zähler auf www.geocities.com/Hollywood/Studio/4698/index4.html (aufgesucht am 01.07.1998). Laut IstoÉ wurde Eduarda bis Anfang Februar bereits 8000 Mal „getötet“ (Meireles 1998). 22 So berichtet z.B. das politische Wochenmagazin IstoÉ Anfang Februar 1998 über die Hass-Page und bezeichnet Por amor selbst als „folhetim interativo“ („interaktiver Feuilletonroman“) (Meireles 1998). O Estado de São Paulo informiert am 09.02.1998 über Eu odeio a Eduarda. Nach eigenen Angaben wurde dem site in ganz Brasilien 15

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„Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“

Bald erschien übrigens eine Gegen-Homepage mit dem Titel Eu adoro a Eduarda (Ich liebe Eduarda), die zur Rettung der Figur aufrief. Eduarda wird hier zur „brasilianischen Frau des neuen Jahrtausends“ erklärt, die Selbstbewusstsein zeige und sich vom Machismo ihres Mannes nicht unterkriegen lasse.23 Die Homepage lud den Besucher ein, eine E-Mail an den Autor mit der Bitte zu schicken, die Figur am Leben zu erhalten. Man konnte auch Kommentare über Eduarda veröffentlichen und der Figur virtuelle Blumen und Bonbons schicken. Hintergrund dieser Love-Page ist u.a., dass schon zuvor eine psychologische Entwicklung der Figur einsetzte, die sie zur Trennung von Marcelo sowie zur Suche nach mehr Selbständigkeit führte. Eine Kostprobe: Eine wunderbare Frau! Sie hat es geschafft! Sie akzeptierte das Fremdgehen und den dämlichen Machismo eines Ehemanns nicht, der sie dominieren wollte. Sie hat die Beschränkungen überwunden, die ihr durch eine Erziehung auferlegt wurden, die sie verwöhnte und übermäßig beschützte. Sie macht sich auf in den Kampf und zieht ihren Sohn kraft ihrer Anstrengungen und ihrer Arbeit auf. Die allzeit bereiten Machisten mögen sie – zu recht! – nicht. Aber wir wissen: Eduarda ist die brasilianische Frau des neuen Jahrtausends. WIR LIEBEN EDUARDA!!!24

Kein Wunder, dass die Love-Page nicht so gut ankam, wie ihr Hass-Pendant: Bis zum 04.05.1998 wurde sie nur 566 Mal angeklickt.25 Auch sie wurde Schlagzeile, sogar in der Folha de São Paulo (in der TV-Beilage vom 15.02.1998). Tatsächlich war das Schicksal Eduardas ein öffentliches Thema. Die Presse berichtete darüber, dass für die Figur eigentlich ein frühzeitiger Tod vorgesehen war. Just, als die Printmedien über die Pro- und Contra-sites der Figur schrieben, wurde am 07.02.1998 auch darauf hingewiesen, dass Eduarda eigentlich schon zu Beginn der Serie, also nach der Doppelgeburtsszene, wieder verschwinden sollte (Reis 1998). Manoel Carlos entschloss sich jedoch, die Figur am Leben zu erhalten und sie der schon genannten charakterlichen Entwicklung zu unterziehen. Zumindest wurde dies so in O Estado de São Paulo am 01.03.1998 dargestellt. Zu diesem Zeitpunkt ließ der Chefautor offen, was mit ihr geschieht, behielt sich aber ausdrücklich die Option vor, Presseberichte gewidmet (www.geocities.com/Hollywood/Studio/4698/votacao.html [zuletzt aufgesucht: 01.07.1998]). 23 Diese Seite ist ebenfalls nicht mehr online. Sie war unter der Adresse www.terravista. pt/ilhadomel/1559/ (zuletzt aufgesucht: 04.05.1998) zu öffnen. 24 „Maravilhosa! Ela deu a volta por cima! Ela não aceitou a traição e o machismo babaca de um marido que a queria dominar. Ela venceu as limitações impostas por uma educação que a mimou e superprotegeu. Ela está indo à luta, criando o filho com os frutos de seu esforço e trabalho. Os machistas de plantão – com razão! – não gostam dela. Mas a gente sabe: A Eduarda é a mulher brasileira do novo milênio. NÓS ADORAMOS A EDUARDA“ (www.terravista.pt/ ilhadomel/1559/ [zuletzt aufgesucht: 04.05.1998]). 25 www.terravista.pt/ ilhadomel/1559/ (aufgesucht am 04.05.1998).

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Eudarda doch noch zu „töten“ (Apolinário 1998). Alles Andere wäre ja auch nicht sehr spannend gewesen. Offensichtlich hat selbst den Autor die Wut vieler Zuschauer (oder zumindest die Kommentarkette, die von Eduarda ausgegangen ist) überrascht. Gut möglich, dass gerade der Zuschauerwunsch, Eduarda aus dem Drehbuch zu streichen, ihr Leben verlängert hat. Zumindest ist das die Ansicht von O Estado de São Paulo (Reis 1998). Wenn dies tatsächlich so war, dann haben zumindest einige tausend Zuschauer an Por amor mit-‚geschrieben‘. Beide Eduarda-Homepages ergänzen sich in ihrem Leid am Melodrama und in ihrer absolut melodramatischen Art und Weise, dies kund zu tun. Beide beharren auf einer modernisierenden Telenovela mit einem ‚modernen‘ bzw. emanzipativen Bild der Frau. Die Frauenfigur ist für das Genre zentral, denn nicht nur spricht das Genre ursprünglich, d.h. seit seinen daily-soap-Anfängen primär ein weibliches Publikum an. Zudem sah das Melodrama insbesondere im cine mexicano die Opferrolle vor allem für Frauen vor (die postsakrale Heiligen- bzw. Mutterfigur). Die Frage nach der sozialen Rolle der Frau trifft daher die Gattung ins Mark. Wenn viele Zuschauer sich daher über eine Eduarda empörten, die sich den Launen ihres Mannes zu opfern anschickte, dann empörten sie sich über das traditionelle Melodrama. Bemerkenswert ist dabei auch, dass die Figur für viele Zuschauer ein rotes Tuch war und nicht eigentlich die Telenovela. Auch die Hass-Seite bestätigt das Genre mit der Aufforderung, an dessen Erzählprozess teilzunehmen. Mit anderen Worten: Nicht Por amor stand auf der Abschussliste sondern das dramalhão in der Serie. Das bedeutet, dass es den Zuschauern im ‚ihre‘ Telenovela ging, die sie gegen das Abrutschen in ein traditionelles, da patriarchalisch geprägtes Melodrama retten wollten. Warum das Beharren auf der Gattung? Wer 1998 eine Internetseite online stellte, die es in die Schlagzeilen der Printmedien brachte, hatte in der Freizeit offensichtlich mediale Alternativen zur Hand. Das Beharren auf der Gattung spricht dafür, wie stark sich das Publikum die Gattung angeeignet und zum zentralen Bestandteil seiner Kultur gemacht hat. Bereits der Affektmodus der Anti-Eduarda-Seite (und der Pro-Eduarda-Page erst recht) macht deutlich, wie melodramatisch diese Kultur ist. Das Beispiel Por amor zeigt, dass die brasilianische Telenovela nicht allein auf dem Bildschirm, im Gattungsgedächtnis des Zuschauers oder der Zuschauerin, im familiären Raum oder in der verbalen Kommunikation mit Freunden, Bekannten stattfindet. Die brasilianische Telenovela findet intermedial statt. Sie ruft eine ausufernde Metatextualität hervor, die sie auf unterschiedlichen Medien mit- und weiter-erzählt.26 Diese Metatexte machen deutlich, dass die Telenovela längst nicht mehr nur von denen ist, die sie senden. Freilich hat auch diese Kultur ihre Grenzen. Während der Ausstrahlung von Manoel Carlos’ folgender novela das oito, Laços de família (Familienbande) im Jahr 2000 entstand z.B. wieder eine Hass-Page, die sich gegen eine junge Heldin namens Camila richtete: Eu odeio a Camila (Ich hasse Camila)27 Darüber hinaus wandte sich der Protest jedoch mit Eu odeio Laços 26 Zum Begriff der Metatextualität als Kommentarbezug eines Textes auf einen anderen siehe Genette (1982: 11). 27 Mittlerweile ist auch diese Seite nicht mehr online. Sie war auf www.geocities.com/ euodeioacamila/ zu finden (zuletzt aufgesucht: 10.04.2003).

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„Wer alleine leidet, verpasst das Beste daran“

de família (Ich hasse Laços de família) auch explizit gegen die Serie selbst.28 Wie Laura Gomes bemerkt, stellt die Telenovela bei weitem keinen Konsens in der brasilianischen Gesellschaft dar. Vielmehr herrscht Konsens über den Dissens in bezug auf die Serien. Was in dieser Gesellschaft jedoch unwahrscheinlich ist, ist gar keine Meinung zur Gattung zu haben.

28 Die Seite war auf www.euodeiolodeiolacosdefamilia.cjb.net/ zu finden (zuletzt aufgesucht: 10.04.2003).

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10. TeleTele-ImagiNation

10.1 Nationalappell Wie Berg gezeigt hat, geht das Identitätsproblem Lateinamerikas auf eine „doppelte Negation“ zurück: Zum Einen zerstörte die Conquista die präkolumbianischen Kulturen, zum Anderen verneinte die politische Unabhängigkeit die Geschichte kolonialer Herrschaft. Zurück blieb eine Pluralität von Identitäten, die auf die verschiedenen autochthonen und nicht-autochthonen, teils gebrochenen kulturellen Traditionen zurückgeht, sowie die »Leerstelle« einer gesamtgesellschaftlichen Identität, die seit dem 19. Jh. anhaltender Gegenstand sozio-politischer und kultureller Auseinandersetzung ist (Berg 1995: 80, 91). Auch die Telenovelas von Televisa übernehmen in diesem Sinne die soziale Funktion, eine gesellschaftsumfassende Identität zu vermitteln. Zwar verzichten sie aufgrund ihres metaphorischen Erzählmodus weitgehend darauf, eine spezifisch ‚mexikanische‘ Realität zu modellieren. Das ist, wie schon ausgeführt, wesentlich kostengünstiger und erleichtert außerdem die internationale Wieder- und Wiederverwertung der Serien. Dennoch kommen auch Televisas Serien zumindest ansatzweise nicht umhin, Mexikanität zum Ausdruck zu bringen. Diese Darstellungen der ‚mexikanischen‘ Gesellschaft richten jedoch zugleich einen Integrationsappell an die Zuschauer und veranlassen sie zur imaginären Teilhabe an dieser Gesellschaft. Die Gesellschaft, mit anderen Worten, wird als Gemeinschaft gestaltet, zu der sich das Publikum zugehörig fühlen soll. Wodurch aber können die Mitglieder einer komplexen und gespaltenen Gesellschaft integriert werden, von denen viele, wie die illegale Einwanderung in die USA zeigt, Mexiko fliehen, und die teilweise, wie (nicht nur) der schmutzige Krieg in Chiapas seit 1994 verdeutlicht, sogar die Waffen gegeneinander erheben? Die Antwort ist einfach, als gesellschaftsumspannende Klammer dient das Nationale. Die Sehnsucht nach der Nation in Lateinamerika ist vielfältig: Es ist die Sehnsucht nach Teilhabe in der Ausgrenzung, nach Sammlung in der gesellschaftlichen Zerklüftung, nach dem Kollektivsubjekt, das den eindringenden und eingedrungenen Imperien entgegentritt. Benedict Anderson hat herausgearbeitet, dass die Nation nicht nur ein symbolisches Konstrukt, sondern eine „imaginierte Gemeinschaft“ darstellt. Die Nation als Gemeinschaft ist notwendigerweise eine Erfindung, da Gemeinschaft – so Anderson – eine Verbindlichkeit zur Bedingung hat, die wiederum auf dem face-to-face-Kontakt der Mitglieder beruht (Anderson 1983: 15). Anderson versteht die politische Gemeinschaft als Identität, als ein Denken und/oder Gefühl der Zugehörigkeit, das die Differenzen der Mitglieder 317

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zugunsten der Einheit des gemeinschaftlichen Ganzen aufhebt. Nationale Identität, so ist Anderson zu verstehen, ist immer auf Alterität angewiesen, von der sie sich absetzt.1 Diese Alterität muss nicht, wie der Fall der Telenovela-Nationen zeigt, außerhalb der Gesellschaft stehen. Obwohl sich die Mitglieder der nationalen Gemeinschaft nicht kennen können, schreibt der Autor, betrachten sie sich als zugehörig und sind letzten Endes sogar bereit, das Nichtzugehörige zu töten bzw. sich selbst für das gemeinsame Ganze zu opfern. Dieses gemeinsame Ganze kann nur in der Vorstellungswelt seiner Mitglieder existieren, und es schöpft seine Kraft aus der Bedeutung einer „tiefen horizontalen Kameradschaft“ ihrer Mitglieder, die sich einer nationalen „Bruderschaft“ miteinander verbunden wähnen (16). Aber nicht an der mangelnden Körperpräsenz scheitert die Gemeinschaft. Das würde bedeuten, dass eine Gemeinschaft, in der Medien intervenieren, die eigentliche Gemeinschaft der Ansichtigen entfremdete. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich Gemeinschaft und Identität auf grundsätzliche Weise widersprechen. Die Gemeinschaft steht dem Subjekt entgegen, denn in ihr ist das Selbst auf die Anderen angewiesen, und wird seinerseits ein Anderer für die Anderen. Das Subjekt dagegen beansprucht Autonomie. Aber die Gemeinschaft kann ebenso wenig zu einem kollektiven Subjekt verschmelzen, denn sie schließt als Raum der Alterität die punktuelle Bündelung der Selbstidentität aus. Sie ist ein azentrisches Draußen. Woraus die Gemeinschaft besteht, so Nancy, sind Außer-sich-Seiende, die sich mitteilend entäußern (Nancy 1988: 55, 57). In der Gemeinschaft, mit anderen Worten, gehen die Menschen nicht in einander über und formen ein großes, inniges Ganzes. Gemeinschaft entsteht vielmehr aus dem mit-teilenden Dazwischenkommen. Dies macht die Zäsur der Medien deutlich, denn die mediale Mit-Teilbarkeit geht jedem Wir voraus (Tholen 2002: 8-9). ‚Mediale‘ Gemeinschaften nehmen ‚menschlichen‘ Gemeinschaften nichts, was diese nicht immer schon entbehrten. Vielmehr kommen Medien zugleich dem fundamentalen Begehren nach, die Gemeinschaft als kollektives Subjekt zu überhöhen, und stiften einen imaginären Spiegel, in dem sich ein fantasmatisches Wir abzeichnet.

10.1.1 U STEDES LOS JODIDOS Die Nation ist mehr als ein Symbol. Schließlich erwächst sie nicht allein aus dem Deutungsgeschehen, aus dem Nachvollzug des Verweisungsprozess eines Repräsentierenden auf ein Repräsentiertes. Die Nation ist vielmehr eine Spiegelsuggestion. Als symbolisches Wir setzt sie voraus, dass das Ich im Nationalsubjekt aufgeht. Als Ergebnis eines identifikatorischen SubjektEffektes ist sie immer schon an ein mediales Dispositiv gebunden. Zunächst zur Symbolisierung der Nation. Auf dieser diskursiven Ebene wird die Konstruktion des Nationalen meist von der Forschung diskutiert. So auch im Falle der Telenovela: Adriana Estill beispielsweise geht von einer „Forschungslücke“ in Bezug auf den Beitrag speziell der mexikanischen Te-

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Zur Interdependenz und Relationalität von Identität und Alterität siehe Michael/ Schäffauer (2004: 12-13).

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lenovelas zum „nation building“ aus (Estill 2001: 171).2 Diese schickt sie sich an, durch eine Analyse des Diskurses mexikanischer Telenovelas zu schließen. Ihre These ist, dass Telenovelas die Funktion der Literatur im 19. Jh. als »foundational fictions«, als »Gründungsfiktionen«, übernommen haben. Nicht zuletzt aus diesem Grund schlägt sie vor, Telenovelas als „literarischen Text und nicht nur als Massenmedientext“ zu betrachten (ibidem). Eine solche Reduktion der Telenovelas als Text ist symptomatisch für die Ausblendung ihrer medialen Performanz. Wie dem auch sei, in vager Anlehnung an Anderson versteht Estill die fiktionalen Welten der Serien als „Mikrogemeinschaften“, die die mexikanische Gesellschaft spiegeln. Aus ihrer Analyse geht hervor, dass die Telenovelas Mexikanität in erster Linie als Wertegemeinschaft darstellen. „Mexikanisch“ ist für die Serien demnach, dass Frauen vor der Alternative zwischen gut und schlecht (Prostituierte oder Heilige, Malinche oder Virgen de Guadalupe) stehen (185). „Mexikanisch“ ist auch, dass Arme im Gegensatz zu den Reichen die besseren Menschen sind (181). Außerdem wird „Mexikanität“ durch Identitätsmarker wie z.B. „typisch mexikanische“ Musik (mariachi-Musik, rancheras, boleros) angezeigt (184).3 Unklar bleibt bei solch einer Analyse jedoch, wie die Gattung eine nationale Gemeinschaftlichkeit suggeriert, die die Zuschauer als die ihre anerkennen. Vereinzelte Identitätsmarker sind hier wichtig, das Teilen von Werten ebenso, aber reicht dies aus, um ein nationales Miteinander zu evozieren? Spontan lässt sich auf diskursiver Ebene eine Antwort darauf geben: Die mexikanischen Telenovelas gestalten Klassengesellschaften, in denen (manche) 2

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Sie merkt an, dass diese Problematik in Bezug auf brasilianische Telenovelas besser untersucht sei und verweist dabei auf Fadul (1993). Dass im Gegensatz zu den tendenziell metaphorisch erzählenden mexikanischen Telenovelas die Thematisierung des Nationalen bei realistischen Telenovelas auf der Hand liegt, scheint der Autorin nicht klar zu sein. Erstaunlich ist, dass die Frage der nationalen Identität in Bezug auf die mexikanischen Telenovelas kaum gestellt wird. Wie bereits dargelegt, war sie nicht ausschlaggebend in der Entwicklungsgeschichte des Fernsehens in Mexiko – im Gegensatz zu den Forderungen nach Vielfalt und Demokratie. Dennoch war sie nicht irrelevant, wie etwa das Beispiel der Epochentelenovelas zeigt. Neben Estill bildet Uribes Studie über die Rezeption der Telenovela durch mexikanische Einwanderer in den USA und deren Nachkommen die Ausnahme. Es scheint bezeichnend, dass das nationale Element in der Telenovela-Schau im Ausland und nicht im Inland im Vordergrund steht. Auf Uribes Studie wird noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle sei kurz angemerkt, dass im Falle der Telenovela-Schau der Migranten in der Fremde die Herkunft der Serie (hecho en México) bereits ausschlaggebend für die Suggestion ihrer Mexikanität ist. Dies betrifft v.a. die Telenovela, aber auch den Großteil des Programms von spanischsprachigen Sendern in den USA wie der Televisa-kontrollierte Quotenführer Univisión (einschließlich seiner Ableger Galavisión und Telefutura) sowie Televisión Azteca, die die Produktionen ihrer mexikanischen Partnersender ausstrahlen. Übrigens kann der Herkunftsaspekt auch den gegenteiligen Effekt hervorrufen, denn die schlechte Qualität der mexikanischen Sendungen führen auch zu Abgrenzungsreaktionen und Distanzierungen. Siehe eine der Stimmen mexikanischer Zuschauer in den USA, die Uribe wiedergibt: »¡No!, no es México, ¡para nada!« (»Nein! Das ist auf gar keinen Fall Mexiko!«) (Uribe 2009: 157-171).

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Reiche das Böse verkörpern und Arme demütigen, quälen und hassen. Dieser Klassenhass scheint trotz seiner formelhaften Penetranz in den postkolonialen Klassengesellschaften pauschal Sinn zu machen.4 Im Gegensatz zu den brasilianischen Telenovelas, die das Nationale in Text, Paratext und Metatext explizit machen, erscheint der soziale Konflikt in Verbindung mit spezifischen Identitätsmarkern implizit als mexikanisch. Darunter ist vor allem die Sprache der Figuren zu nennen. Rosa in Rosa salvaje, beispielsweise, spricht ein umgangssprachliches Spanisch, das die Figur als zutiefst ‚mexikanisch‘ ausweist.5 Alles an ihrer Rede ist ‚mexikanisch‘: die Intonation, die Wendungen, die kolloquialen Verschleifungen, die begleitende Mimik und Gestik. Ihre Rede ist durchsetzt mit Interjektionen wie „órale“ („nu mal los“) und Floskeln wie „híjoles, no le saques“ („Mensch, trau dich“), „híjoles, p’us ya mero“ („Mensch, fast...“) oder „sale“ („okay“). Als sie in den Anfangskapiteln das zweite Mal die Villa der Linares betritt, wird sie von Ricardo sehr zuvorkommend begrüßt. Er will sie den entsetzten Schwestern einschließlich Gästen, die schon zu Tisch sitzen, vorstellen und stellt fest, dass er gar nicht weiß, wie sie mit Nachnamen heißt. Ziemlich eingeschüchtert stellt sie sich selbst vor: „Rosa García Montero, pa’ servir a Dios, a ustedes y a la Virgencita de Guadalupe“ („Rosa García Montero, zu Diensten Gottes, zu ihren Diensten und zu Diensten unseres lieben Jungfräuleins von Guadalupe“). Alle Anwesenden lachen über die Unbeholfene. Mit ihrem volkstümlichen Jargon versucht sie aber auch, sich aus ihrer Unbeholfenheit zu befreien. Mittlerweile verheiratet und reichlich irritiert, steckt ihr Ricardo bei Tisch (das Exerzitium der guten Manieren), sie soll gefälligst mit dem Besteck essen. Ricardo: Iss mit dem Besteck! Rosa: Ja, mit welchem denn, da wimmelt es ja nur so davon!?6

Die Telenovela wiederholt ein Verfahren der Identitätskonstruktion, das mit der „literarischen Oralität“ bzw. „scriptOralität“ schon im 19. Jh. entwickelt 4

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„Es ist ein Elend, weil sie die Armen demütigen“ – so eine von Klindworth interviewte Zuschauerin über die Handlungsstruktur in den Telenovelas (zitiert nach Klindworth 1995a: 242). Uribe bezeichnet die Sprache bzw. die mexikanische Varietät des Spanischen als wichtigstes Identifikationsangebot für Zuschauer in den USA mit mexikanischem Migrationshintergrund. Dies bezieht sich nicht nur auf die Telenovelas sondern allgemein auf die spanischsprachiger US-Sender, unter denen, wie schon angedeutet, diejenigen mit einem Programm aus Mexiko dominieren. Unter den identitätsstiftenden Erzählelementen rangieren an zweiter Stelle, so die Autorin, die Sets der in Mexiko aufgenommenen Sendungen (Uribe 2009: 172-181). Die Untersuchung Uribes zeigt daher, dass sich der Nationalappell von Televisas Telenovelas zum Großteil im mexikanischen Produktionsstandort erschöpft und kaum auf spezifische Erzählstrategien ausgreift. Dass weder die Ideen noch das Drehbuch für eine Serie einen speziellen Bezug zu Mexiko herstellen, wird nicht zuletzt durch den bereits erwähnten Trend deutlich, diese seit den neunziger Jahren zunehmend aus Argentinien, Kolumbien oder Venezuela zu übernehmen. Ricardo: Come con los cubiertos! Rosa: ¿Pero con cuál si hay un chorro?! (Rosa salvaje, 1987).

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wurde (Berg 1999 und Schäffauer 1998). Seit der Romantik werden die mündlichen Eigentümlichkeiten des in Amerika gesprochenen Spanisch und Portugiesisch immer wieder als Keime nationaler Individualität betrachtet.7 Rosas habla popular hebt sich scharf von der elaborierten Hochsprache der Linares und anderer Angehöriger der Oberschicht ab. In dem Maße, wie sie den schurkischen Reichen als Anlass dient, die Heldin als „Wilde“ zu diskriminieren, signalisiert sie den Zuschauern, dass Rosa ‚eine von uns‘ ist. Rosas Umgangssprache ist darauf aus, eine Gemeinsamkeit mit den Zuschauern zu spinnen, die sich in dieser Redeform wiedererkennen sollen.8 Verstärkt wird dieser Gemeinschaftseffekt durch den Kontrast mit der Alterität der mündlichkeitsfernen Redeweise der Oberschicht, die als künstlich und ‚unmexikanisch‘ gelten muss. Das bedeutet, dass Rosas Leid als grundsätzlich ‚mexikanisch‘ erscheint. ‚Mexikanisch‘ ist dann das ‚einfache Volk‘, und das ist gut, aber es wird von einer fremdwirkenden Macht erniedrigt und verachtet. So wird deutlich, dass die Gesellschaftsdarstellung, wie schon erwähnt, an sich kaum kritisch ist. Zwar stellt sich ‚Mexikanität‘ in der Telenovela als Leiden an der Klassengesellschaft bzw. als Verachtung der ‚mexikanischen‘ Bevölkerung durch eine neoaristokratische Oberschicht dar. Aber da das ‚Mexikanische‘ moralisch, also gut, und das ‚Unmexikanische‘ unmoralisch, also böse, ist, triumphiert das ‚mexikanische Volk‘ zwangsläufig und unausweichlich, ohne dass die sozialen Verhältnisse zu ändern sind: Die Guten werden (auch) reich, und die Bösen machen Platz. In dieser Perspektive wird die eigentliche Dimension des Leid-Appells deutlich. Die Telenovela meint nicht nur: ‚Leide mit!‘ sondern: ‚Leide wie alle guten Mexikaner!‘ Der LeidAppell weitet sich zum Gemeinschafts-Appell aus, denn das Leid der Erniedrigung erweist sich als Quintessenz des ‚Mexikanischen‘ und daher als ge7

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Schon in der Frühromantik galt die Sprache als konstitutives Merkmal der Individualität einer Nation. Für Johann Gottfried Herder beispielsweise war die Sprache ein „großer Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken“, der einer Nation eigentümlich sei. „Jede Nation hat ein eigenes Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken: dies ist ihre Nationalsprache; ein Vorrat, zu dem sie Jahrhunderte zugetragen“. Daher ist die Sprache zugleich Bedingung und Ergebnis des Denkens (und Seins) einer Nation „Jede Nation spricht also, nach dem sie denkt, und denkt, nach dem sie spricht“ (Herder 1969: 68-74). Zur Rolle der mündlichen Sprache in den nationalistischen Diskursen des 19. Jh. in Argentinien siehe Blanco (1991: 19-43), zur „nationalen Sprache“ in der brasilianischen Romantik siehe Michael (1999). Ob Übertragung von Rolle auf Schauspielerin oder nicht, die Darstellerin Verónica Castro ist nicht zuletzt deshalb so populär, weil sie, wie ein Interview von Klindworth mit einer Zuschauerin ergab, als so „menschlich“ gilt und, wie man glaubt, ‚einfache Leute‘ nicht verachtet sondern sich sogar mit ihnen unterhält: „Sie [Verónica Castro] ist sehr menschlich. Trotz ihrer Millionen ist sie sehr höflich... Eine meiner Cousinen arbeitete im Flughafen als Kellnerin. Und da kommt diese Lucia Méndez zum Essen [sic] und wenn es ihr nicht gefiel, warf sie den Teller durch die Gegend. Verónica Castro dagegen, sagt man, plaudert sogar noch mit den Straßenkehrern“ (Klindworth 1995a: 255). Das Beispiel zeigt, dass die Zuschauerinnen genau auf Überheblichkeitsallüren achten, dass aber das Augenmerk längst von der Telenovela-Fiktion weggedriftet ist zur Realität ihrer Schauspieler und Schauspielerinnen (die aber vielleicht nicht hinreichend von der Fiktion abzutrennen ist: Zwischen Castro und ihren volkstümlichein Rollen wird für die Zuschauer kaum zu unterscheiden sein).

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meinschaftsstiftend. Der Effekt ist, dass das Leid, das das Publikum vom Bildschirm aus befällt, per nationale Identifikation und Gemeinsamkeitssuggestion an den Zuschauern kleben bleibt. Die Botschaft der Telenovela lautet daher: ‚Die Mexikaner werden von den Reichen gepiesackt, und dir geht es auch so. Aber Geduld! Der Tag wird (nach zehn Monaten und 199 Kapiteln) kommen, an dem wir – ob wahrscheinlich oder nicht – ganz sicher in ihre Paläste einziehen werden. Zumindest werden wir zuschauen.‘ Ein weiterer wichtiger Nationalitätsmarker ist – das klang bereits im Zusammengang mit Rosas habla popular an – das Motiv der Virgen de Guadalupe. Die Guadalupana ist zwar als ‚mexikanische‘ Erscheinung der Mutter Gottes selbst Nationalsymbol, jedoch ‚mexikanisiert‘ ihr Abbild allein die Telenovela-Handlung noch nicht. Vielmehr ergibt sich der Effekt der ‚Mexikanität‘ dadurch, dass ihre Anbetung gezeigt wird, denn ihre Verehrung gründet die nationale Gemeinschaft, insofern als sich die Gläubigen vorstellen, ihren Glauben mit allen anderen ‚Mexikanern‘ (und nur mit ihnen) zu teilen. Wer folglich in der Telenovela die Guadalupana anbetet, ist per se ‚mexikanisch‘9 – wie schon erwähnt, ist das selbstverständlich Rosa. Vor Tomasas Hütte befindet sich eine Statue der Virgen sowie in Rosas dortigem Zimmer. Im Palast der Linares hängen dagegen einfache Kreuze, was ihren Abstand zum ‚mexikanischen‘ Volk(sglauben) markiert. Aber auch Rosas leibliche Mutter Paulette verehrt die Virgen. Das zeigt, dass nicht alle Reichen böse bzw. ‚unmexikanisch‘ sind. Das verdeutlicht auch einmal mehr, dass die Telenovela nicht die Gesellschaftsstruktur kritisiert, da nicht die soziale Ungleichheit an sich schurkisch ist. Einzelne Mitglieder der Oberschicht sind gut und ‚mexikanisch‘ bzw. nehmen (ausgewählte, besser: auserwählte) Angehörige des ‚einfachen Volkes‘ bei sich auf (allen voran Ricardo, der Galan). Rosas triumphaler Wiedereinzug in die Linaresvilla am Ende der Serie wird daher von der Guadalupana begleitet, die nun einen Stammplatz in dem Haus erhält: Die Nation hat alle Hindernisse überwunden und ergreift die Macht in der Gesellschaft (schafft aber deren Ungleichheit nicht ab). Viele Aspekte wären noch diskutieren, wie etwa die ideologische Frage, ob Rosa tatsächlich als ‚eine aus dem Volke‘ betrachtet werden kann, da sie kraft ihrer edlen Geburt im Grunde immer schon höheren Standes war, es jedoch nur nicht wusste und am Ende lediglich in die ihr angemessene soziale Heimstätte zurückkehrt. Jedoch scheint aus Sicht des Melodramas entscheidend zu sein, dass sie wegen ihrer tatsächlichen Volkstümlichkeit schikaniert wird. Dass sie von ihrer leiblichen Mutter als Generalerbin eingesetzt und in die hohe Gesellschaft aufgenommen wird, versteht sich eher als Belohnung und Unterstützung für ihren Kampf gegen die schurkischen Volkshasser. Die Botschaft lautet daher nicht: ‚Sorry, nur die dürfen in den sozialen Olymp, die in ihn hineingeboren wurden (auch wenn sie flugs darauf hinausgeworfen wurden)‘ sondern: ‚Wer weiß, wenn du wirklich tugendhaft bist und ordent9

Zum guadalupanismo als „religiosidad popular“ in Mexiko siehe die crónica „La hora de la tradición. ¡Oh consuelo del mortal!” von Monsiváis (1998: 39-52). Jenseits, aber unter Berücksichtigung des Nationalismus der Guadalupe-Verehrung, taucht der Erzähler in den Volksglauben ein: „Der blinde Glaube: Macht innerhalb der Ohnmacht der Gläubigen, die Mexikaner sind, der Mexikaner, die außerdem Gläubige sind“ („La fe ciega: potencia dentro de la impotencia de creyentes que son mexicanos, de mexicanos que además son creyentes“) (40).

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lich leidest, vielleicht tut sich ja dann doch noch eine verdeckte Verwandtschaftsbeziehung zu jemandem auf, der oder die richtig reich und mächtig ist!‘ Eines jedoch ist klar: An den Fundamenten der Gesellschaftsordnung ist nicht zu rütteln, und Abhilfe des Leids kann nur erfolgen, wenn man Beziehungen zu den Reichen herstellt, am Besten: amouröse, am Allerbesten: eheliche (aber auch diese sind noch keine Garantie). Mexiko ist eine Klassengesellschaft, aber der Affekt eröffnet Aufstiegschancen bis ganz oben. Der mächtigste Schutz ist jedoch immer noch die Familienbande. Televisa bekräftigt die patriarchalische Gesellschaftsordnung, denn Institutionen (Arbeit, Bildung, Justiz etc.) jenseits der Familie spielen keine Rolle.

10.1.1.1 „Ich bin sehr einsam mit all meinen Millionen!“

Indem die telenovela mexicana das ‚einfache Volk‘ zum Hort der Nation erklärt, knüpft sie an das cine mexicano an und setzt sich zugleich von ihm ab. Vierzig Jahre zuvor hatte das Kino die Losung Nosostros los pobres (Wir, die Armen) ausgegeben. So heißt der „Klassiker der Klassiker des Melodramas“, einer der populärsten mexikanischen Filme überhaupt (Hernández Rodríguez 1999: 117; de la Peza 1998: 17). Er wurde 1947 unter der Regie von Ismael Rodríguez gedreht. In diesem Film sieht sich das mexikanische Publikum als ‚einfaches Volk‘. Seine Welt ist der barrio, das Armeleuteviertel. Hier ist man von Natur aus fröhlich, hier herrschen Freundschaft, Tratsch und ein caló, eine Umgangssprache, die zwar der Raffinesse, nicht aber des Witzes entbehrt. Diesen „erträumten caló“ machte der Film zur nationalen Oralität, nicht umgekehrt (Monsiváis 1994b: 148). Die Helden der Armen, Pepe el Toro (gespielt von Pedro Infante) und Celia (Blanca Estela Pavón), singen eher zusammen, als dass sie miteinander redeten. Sie trällern Boleros (z.B. Amorcito corazón) im Duett als Ausdruck des lo muy nuestro, des zutiefst Unsrigen. Wenn der Vater (Pepe) seiner Tochter Chachita ein Geburtstagsständchen singt, wird er von einem Dutzend vecinos, Nachbarn, begleitet. Der barrio ist jedoch vor allem die Welt der (intakten) Moral: Wer Mutter eines unehelichen Kindes ist, darf nicht Mutter sein. Also gibt Yolanda ihre Tochter Chachita an ihren Bruder Pepe ab, der sie aufzieht (alleinerziehende Väter sind erlaubt). Sie weiß, dass sie eine Sünderin, eine Gefallene ist. Ihr Ausweg ist der Tod. Aber auch Pepe zahlt einen hohen Preis für die Schuld seiner Schwester. Yolanda steht für das Geheimnis, das ihn umgibt, denn erst am Ende erfährt man (das Publikum und die anderen Figuren), wer sie ist. Bis dahin taucht sie immer wieder als mysteriöse Gestalt auf und gefährdet so ernsthaft Pepes Beziehung mit Celia. Das Böse sucht den barrio heim, und das „Volk“ ist ihm schutzlos ausgesetzt. Paradigmatisch ist die Szene, in der Celias schurkischer Stiefvater das ganze Geld von Pepe stielt. Pepes altes Mütterchen wohnt dem Raub bei, aber sie ist gelähmt und außerdem stumm. Das Unheil nimmt seinen Lauf und Pepe wird in der Folge mehrerer Verwicklungen wegen eines Mordes verurteilt, den er nicht begangen hat. Am Ende gelingt es ihm, seine Unschuld zu beweisen, er kommt frei und kehrt in den barrio zurück, wo Celia ihm immer treu geblieben war. Eine eingeblendete Lkw-Aufschrift fasst die Lektion zum Schluss zusammen: „Man leidet, aber man lernt dazu“ („se sufre pero se aprende“). Der 323

Telenovelas und kulturelle Zäsur

Film ist das perfekte Melodrama. Aber im Gegensatz zur Telenovela bietet er keinen Ausweg aus der Armut. Das ist auch nicht nötig, denn die Armen leiden weder am Klassenhass noch an der Armut sondern an den Widrigkeiten in der Armut d.h. an den Missetaten der barrio-Schurken. Der barrio ist der geschlossene Kosmos der Nation. Die Reichen tauchen nur sporadisch in ihn ein, etwa um Celia eine Stelle als Sekretärin anzubieten und sie dann sexuell auszubeuten. Aber Montes, der Geschäftsmann, nimmt von seinem Ansinnen Abstand, als er sieht, dass Celia Pepe wirklich liebt und bereit ist, sich für ihn zu opfern (um ihn und seine kranke Mutter finanziell zu unterstützen, als er im Gefängnis ist). Montes muss die moralische Überlegenheit der „Armen“ eingestehen: „Ihr Armen seid glücklich, denn ihr habt die Liebe“ („Ustedes los pobres son felices porque tienen amor“) (Nosotros los pobres 1947).10 Lo muy nuestro bedeutet daher im Film: ‚Wir sind zwar arm und wehrlos, und wir leiden, aber wir sind die besseren Menschen‘. Schon 1948 dreht Rodríguez die Fortsetzung Ustedes los ricos (Ihr, die Reichen). Figuren, Schauspieler und Kulissen sind dieselben, nur bricht nun die Welt der Anderen in die vecindad, in den Mietsblock im Armeleuteviertel ein: Der Reiche Manuel de la Colina y Bárcena stellt fest, dass Chachita seine leibliche Tochter ist und versucht, sie für sich zu gewinnen. Er lebt kinderlos mit einer Frau, die ihn des Geldes wegen heiratete, im Palast seiner Mutter, Doña Charito. Da Chachita das einzige Enkelkind ist, beschließt die strenge Matriarchin schließlich, das Mädchen trotz seines unehelichen Status in die Familie aufzunehmen und aus ihr eine Dame der Gesellschaft zu machen. Den daraus entstehenden Konflikt zwischen den Armen und den Reichen um das Kind gewinnt jedoch Pepe, für den sich Chachita nach dramatischer Zerrissenheit entscheidet. Zuvor hatte el Toro das Geld, das Doña Charito ihm hochmütig anbietet, verächtlich ausgeschlagen. Nun kapituliert Manuel vor der moralischen Überlegenheit der barrio-Bewohner, entsagt des Reichtums und zieht in die vecindad, um sich die Liebe seiner Tochter zu verdienen. Die Widersacher Pepes sind nicht die Reichen sondern die Schurken des barrio (El Tuerto und seine Bande), die ihn im Vorgängerfilm ins Gefängnis gebracht hatten. Sie trachten ihm nach dem Leben und stecken die vecindad in Brand. Dabei stirbt Torito, der Sohn von Pepe und Celia. Das gigantische Leid der Eltern ist nicht in Worte zu fassen, aber bestens zu bebildern und zu vertonen. Bei dem Brand kommt auch Manuel ums Leben, der zuvor aber Chachita aus den Flammen rettet. Der Film endet mit dem barrio-Gang von Doña Charito. Die Matriarchin beugt sich der Welt des „großen Herzens“ und bittet demütig um Aufnahme: Doña Charito:

Ich bin sehr einsam mit all meinen Millionen, und ich bitte euch um ein erbarmungsvolles Plätzchen in eurem Herzen. Ihr seid tapfer und könnt all euer Unglück ertragen, weil ihr zusammenhaltet. Ihr Armen habt so ein großes Herz für alles. Gebt mir ein Stückchen. Ihr seid gut. Verzeihe mir Chachita.11

10 Zu Nosotros los pobres siehe auch de la Peza (1998). 11 Doña Charito: Estoy muy sola con todos mis millones y vengo a pedirles por caridad un rinconcito en su corazón. Ustedes que son valientes y que pueden soportar todas sus desgracias porque están unidos. Ustedes los pobres que tienen un corazón tan grande para todos. Denme un peda-

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Die Armen, die besseren Menschen, machen der Millionärin in der frohen Runde bereitwillig Platz und nehmen sie als eine der ihren auf, denn sie leidet aufrichtig: Pepe el Toro:

Kommen sie. Jetzt verschaffen sie sich nicht mit Pesos Eingang. Sie kommen zu uns mit Kummer und tragen das Herz in der Hand. Jetzt sind sie eine der unsrigen. Hier unter uns finden sie, was sie niemals zu kaufen vermochten. Nämlich das, was am Wertvollsten ist: Freundschaft, Zuneigung.12

Obgleich Film-Melodrama und Fernseh-Melodrama vor dem gleichen sozialen Hintergrund der Klassengesellschaft spielen, ist ihre ideologische Botschaft eine konträre: Der Film idealisiert die Armut zugleich als Fatalität und als Erlösung (vgl. Monsiváis 2000: 15). Die Armut bedeutet Pein und Leid, aber wer sie mit Würde und Anstand erträgt (pobre pero honrado, arm aber anständig) und die Finger von den Verlockungen des Geldes lässt, dem öffnet sich die irdische Glückseligkeit wahrer Liebe und Freundschaft. Geld schließt dies kategorisch aus und führt unweigerlich zu menschlicher Verödung. Wer will unter diesen Umständen schon reich sein? Die Botschaft: ‚Seid froh, dass ihr arm seid. Der Reichtum, das ist die Hölle!‘ Weder Film noch Fernsehen geht es um Sozialkritik sondern um die Aussöhnung mit den gesellschaftlichen Zuständen und um die Verheißung des Postsakralen. Aber während die Telenovela die Armen in die Welt der Reichen integriert, macht der Film genau das Gegenteil: Hier werden die Reichen von den Armen aufgenommen, und zwar erst nach leidlicher Prüfung. Auf die verkommene Welt der vornehmen Viertel, der Lomas und residenciales, pfeifen die armen aber anständigen Leute. Sollen sie doch in ihren Palästen verrotten, die Reichen! Die Nation ist und bleibt der barrio. In der Telenovela zieht die soziale Schwerkraft nach oben, nicht nach unten, das Telos ist die Villa, nicht die ciudad perdida. Armut ist hier kein Selbstzweck sondern Durchlaufstation für eine bessere Existenz, die Reichtum zur Voraussetzung hat. Denn nur wer reich ist, hat Macht, verschafft sich Respekt und macht sich los vom Leid der Erniedrigung. Was führt in der intermedialen Passage des Melodramas vom Kino zum Fernsehen zur Umkehrung in der Ideologie des Klassenverhältnisses? Warum verwirft die Telenovela die kostumbristische Idylle des barrio? Als Emblem der konservativen Modernisierung und forcierten Umwandlung des Landes in eine Konsumgesellschaft ruft die Gattung das Ende der Bescheidenheit des materiellen Begehrens aus. Geld kann nicht per se schlecht sein in einer Gesellschaft, in der der Konsum erste Bürgerpflicht (und Ausweis sozialer Zugehörigkeit) ist. Was würden sonst die Sponsoren sagen? Eine Fortsetzung zur Erörterung der Frage folgt.

12 Pepe el Toro:

cito. Ustedes son buenos. Me perdones, Chachita (Ustedes los ricos, 1948) Pásele señora. Ahora no entró usted con los pesos por delante. Entró con una pena y el corazón en la mano. ‘Ora sí es de los nuestros. Aquí entre nosotros encontrará lo que nunca ha podido comprar. Lo que más vale: amistad, cariño (Ustedes los ricos, 1948).

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Das simple, dichotomische Gesellschaftsschema und der lautstarke Nationalappell von Nosotros los pobres und seines Folgefilmes (an den der Regisseur zwei weitere Filme anknüpfte13) entfaltete übrigens enorme kulturelle Langzeitwirkungen.14 An die Strahlkraft dieses Identitätsmodells reichte das Fernsehen nie heran. An Versuchen mangelte es jedoch nicht: 1973 wurde aus Nosotros los pobres eine Telenovela gemacht, die allerdings – nach Angaben von Luis Reyes de la Maza – beim Publikum nicht ankam und vorzeitig abgesetzt wurde (de la Maza 1999: 60-61). Seitdem beschränkt sich das Fernsehen darauf, den Film (wie viele andere Filme des cine mexicano) unzählige Male auszustrahlen (de la Peza 1998: 17). Wie präsent (und umstritten) die Identitätsformel des Filmes bis heute in Mexiko ist, zeigt beispielsweise der Populismusvorwurf an den sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador im Wahlkampf des Jahres 2006. López Obrador wurde scharf kritisiert, seinen Diskurs eng an das Drehbuch von Nosotros los pobres und Ustedes los ricos anzulehnen und auf diese Weise zu „radikalisieren“.15 Interessant ist dabei, dass der Film (das Filmdoppel) zu einer Metapher des mexikanischen Klassengegensatzes wurde, die in ihrer Konfliktbedeutung weniger mit dem Kino als mit der Telenovela zu tun hat. Denn nicht im Film sind die Reichen die Bösen (hier sind sie letztlich nur die Erbarmungswürdigen) sondern in der Telenovela. Im Gegensatz zum Fernsehen aber sucht das Kino (punktuell) den Ausstieg aus dem Melodrama, um die Kehrseiten Mexikos zu erzählen. Los olvidados (Die Vergessenen) (1950) von Luis Buñuel ist der anti-melodramatische Widerspruch zur heilen Welt der Armut in Nosotros los pobres. In 13 Pepe el Toro (1952) und Nosotros los feos (1972). 14 Monsiváis bringt die Bedeutung des Films auf den Punkt: „Alle haben ihn [den Film] gesehen, er ist eine kollektive Erinnerung in einer Schutzhülle aus Ironie, und er ist unumgänglich in der sozialen Konstruktion eines Mythos, in »der Kultur der Armut« und in Umgangweisen mit der Zärtlichkeit, in Formen familiärer Hingebung und Solidarität, die nicht nur Ausgleich schafft für die schutzlose Verlassenheit sondern auch in ihr heimisch macht“ („Todos la [la película] han visto, es un recuerdo colectivo envuelto en una ironía protectora y es imprescindible en la construcción social de un mito, »la cultura de la pobreza« y su manejo de ternura, devociones familiares y solidariedad que no sólo compensa, también arraiga en el desamparo“ (Monsiváis 1994b: 144). 15 So z.B. in der Zeitung La crónica de hoy vom 31.05.2006 (es zeigt sich, dass die Filme weiter Thema sind, wenngleich man sie offensichtlich nicht mehr unbedingt ansieht, wie aus der Titelnennung hervorgeht): „Der Diskurs von Andrés Manuel López Obrador und seiner Mitstreiter beruht auf dem Drehbuch des Films von Ismael Rodríguez Nosotros los pobres y ustedes los ricos [sic]. Der Präsidentschaftskandidat des PRD [Partido Revolucionario Democrático] versuchte und versucht, die Unterschiede in der nationalen Bevölkerung als Gegensatz sozioökonomischer Schichten zu radikalisieren: die Armen und die Reichen, und er beabsichtigt, sich selbst als Kandidat des Volkes auszugeben.“ („El discurso de Andrés Manuel López Obrador y sus seguidores se basa en el guión de la película de Ismael Rodríguez Nosotros los pobres y ustedes los ricos [sic]. El candidato perredista a la Presidencia de la República ha buscado y sigue buscando radicalizar las diferencias de la población nacional por estratos socioeconómicos: los pobres y los ricos; y, pretende autoerigirse en el candidato del pueblo“) (Mares 2006).

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Buñuels barrios gibt es weder Freundschaft noch Erbarmen. Aus den anständigen einfachen Leuten werden Vergessene, die sich in ihrer Aussichtslosigkeit selbst zerfleischen. Ihr Leid fällt die Zuschauer nicht an sondern beschleicht sie irritierend, weil die strukturelle Gewalt der Gesellschaft keine identifikatorischen Anhaltspunkte zulässt. Dies ist das Leid der Verzweiflung, das die Zuschauer auch nach dem Ende nicht loslässt, denn es vergewissert sie, dass es anhält, wenn die Schluss-credits schon vorbei sind und das Licht im Saal wieder angeht (Los olvidados, 1950).

10.1.1.2 Verachten und Vergessen

Die Nationalsymbolik in der Telenovela ist rasch überschaut: Neben dem habla popular und dem guadalupanismo sticht lediglich die Musik hervor.16 Das muss schon im Großen und Ganzen genügen, um die Mexikanität des Erzählten deutlich zu machen. Mit Ausnahme des Elements der Umgangssprache, die bei Rosa salvaje durch das – für Televisa ungewöhnliche – schauspielerische Talent von Verónica Castro überzeugen kann, sind diese Elemente sehr klischeehaft, holzschnittartig und aufgesetzt. Die Telenovelas fallen in ihrer Machart sogar hinter einem Billigfilm wie Nosotros los pobres zurück.17 Mit Branca aus Por amor gesprochen, haben Televisas Telenovelas nicht einmal das ästhetische Niveau von C-movies sondern von D-, E- oder besser Z-movies.18 Televisa verweigert den Aufwand. Der Diskurs ist ebenso simpel wie die Aufnahmetechnik.19 Die weitgehend automatisierte industrielle Fertigung der Serien lässt lediglich ein paar nationale Stereotypen zu. Ansonsten muss es bei der grobschlächtigen Vereinfachung des Sozialen und dem simplen Leidschema bleiben. Televisa sendet ein dramón nach dem anderen und ändert lediglich Zutaten und Konstellationen leicht ab. Auf die Endlosverwertung der cenicienta-Formel wurde bereits verwiesen. Dennoch zwei zusätzliche Kostproben: Schon 1979 spielte Verónica Castro eine peladita in Los ricos también lloran (Die Reichen weinen auch). Auch damals war sie als Mariana eine „Wilde“ edler Abstammung, die aller-

16 Einerseits gibt es ‚mexikanische‘ Popmusik als Hintergrund zur Handlung, wie etwa der Titelsong Rosa salvaje (von der Hauptdarstellerin Verónica Castro selbst gesungen). Andererseits taucht die Musik selbst als Teil der Handlung auf, als Boleros in der cantina. 17 Nosotros los pobres war eine low-budget-Produktion und wurde nie zu einem Preis nominiert (de la Peza 1998: 17). 18 Der Begriff B-movie wurde Anfang der dreißiger Jahre von den großen Hollywoodstudios geprägt, um low-budget-Produktionen von den teuren A-movies zu unterscheiden. Später spezialisierten sich einzelne Studios als so genannte Poverty RowGesellschaften gar auf die B-movies. Der Terminus hat pejorativen Charakter, bezeichnet aber tatsächlich ein filmisches Genre, das sich knapp vier Jahrzehnte hielt, als es von dem ‚B-Medium‘ Fernsehen verdrängt wurde (French 2003). 19 Bei Szenen, die on location am helllichten Tag aufgenommen wurden, erkennt man sogar die künstliche Beleuchtung der Lichtstrahler, die die Figuren zu stark aufhellen und einen sichtbaren Schatten werfen. Hier reicht es nicht einmal zum Illusionismus. Televisa bleibt seinem Motto treu: ‚Wir senden egal was, egal wie. Das Publikum hat sowieso keine Wahl.‘

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dings in die Obhut des Millionärs Don Alberto Salvatierra aufgenommen wurde, wo sie sich in den Sohn des Hauses, Luis Alberto verliebt. Nach viel Leid heiraten sie schließlich, aber als sie ein Kind von ihm bekommt, will ein Missgeschick, ein Missverständnis, dass Luis Alberto glaubt, das Baby sei das Kind eines Anderen. Sie gibt das Kind weg, leidet von diesem Moment an jahrelang entsetzlich, bis sie am Ende ihren Jungen, Beto, wiederfindet. Als Luis Alberto drauf und dran ist, seinen eigenen Sohn unwissentlich zu erschießen, da enthüllt Mariana endlich die Wahrheit und alle sind glücklich. Schluss.20 Das Leid der ‚Mexikaner‘ am Klassenhass funktioniert auch ohne (reine) Aschenbrödelgeschichte, wie Los parientes pobres (Die armen Verwandten) aus dem Jahre 1993 zeigt. Als Ramiro Santos stirbt, hinterlässt er seiner Familie eine bankrotte Firma. Sein wohlhabender Cousin Evaristo Olmos holt die Familie zu sich, wo sie von Mitgliedern der Familie Olmos diskriminiert und erniedrigt werden. Margarita Santos, die schöne Tochter, hat die Demütigungen satt und will nur noch einen Mann, der reich ist. Aber da verliebt sie sich in Chuchu (Jesús) aus einer ciudad perdida, der ihr erst beibringt, dass es auf Geld nicht ankommt, bevor er mit einem Grundstückdeal doch noch ein paar Millionen macht (Los parientes pobres). „Spitzentechnologie, aber ein Programm wie eh und je.“21 Wie schon zitiert, macht Televisa nach Aussagen des verstorbenen Konzernlenkers Emilio Azcárraga Milmo ein Programm für die Geschundenen, die froh sein können, wenn ihnen überhaupt etwas vorgesetzt wird. Wie Monsiváis sich vorstellt, könnte die Botschaft Televisas an seine Zuschauer folgendermaßen lauten: »Jetzt sitzt du da, vor dem Gerät, weil du nirgendwo sonst hin konntest. Aber mach’ dir keine Sorgen, wir verwandeln deine Resignation in Entzücken.«22 Die eigentliche Verachtung in Verbindung mit den Telenovelas entspricht der Haltung Televisas gegenüber seinem Publikum. Für Televisa ist dieses Publikum in seinen Ansprüchen an das Fernsehen seit den fünfziger Jahren stehen geblieben, es stellt keine Anforderungen und braucht selbst auch nicht gefordert zu werden. Warum etwas ändern, wenn die Zuschauer trotzdem sehen (müssen), was ihnen gezeigt wird? Und besser und effizienter als jede Manipulation ist immer noch der Mangel an Alternativen.23 Die Unterhaltung mit dem Immergleichen depolitisiert stärker, als jede Verzerrung in den Nachrichten (vor der Televisa bekanntlich auch nie zurückgeschreckt hat). Der kulturelle Mangel an Alternativen zum Fernsehen und der fernsehinterne Mangel an Alternativen zu Televisas Telenovelas, an dem auch TV Azteca nach anfänglichen brasilianischen Vorstößen nichts geändert hat, knebelt das Genre und missachtet die Ansprüche des Publikums. Und das Publikum? Es sieht die Serien trotzdem, weint, ärgert sich, langweilt 20 Siehe zu Los ricos también lloran den gleichnamigen Eintrag auf Recordar es vivir. 21 „Tecnología de punta, programación como antes“ (Monsiváis 1997). 22 „Este habría sido su mensaje: »Estás aquí, frente al aparato, porque no pudiste ir a otro lado. No te preocupes, haremos que tu resignación se vuelva alborozo«“ (Monsiváis 1997). 23 „Der Mangel an Alternativen manipuliert von allein, und schon viel zu lange versinnbildlicht Televisa zusammen mit vielen anderen Institutionen des Landes den Mangel an Alternativen“ („La falta de alternativas manipula sola, y por demasiado tiempo Televisa, como muchas otras instituciones del país, emblematiza la falta de alternativas“) (Monsiváis 1997).

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sich, lacht, schimpft, schwatzt und vergisst sie anschließend wieder, denn so aufregend war das ja nicht: „Die Telenovela sind einige Momente... Und dann vergißt man es. Man macht weiter mit der Arbeit, mit dem Streit, was auch immer“ (eine Zuschauerin zitiert nach Klindworth 1995a: 238).

10.1.2 E LES USAM BLACK - TIE 1958 inszenierte das nationalistisch-progressive Teatro de Arena in São Paulo Gianfrancesco Guarnieris Theaterstück Eles não usam black tie.24 Es sollte eigentlich O Cruzeiro lá no alto (Das Kreuz des Südens dort oben) heißen und wurde in einem satirischen Seitenhieb auf das „bürgerliche“ Teatro Brasileiro de Comédia (TBC) und sein Publikum umbenannt. Dieser mondänen Aura setzt Eles não usam black-tie die Zwänge des Arbeiter- und favelaMilieus entgegen.25 Nachdem Leon Hirszman zusammen mit Guarnieri das Drehbuch geschrieben hatte, versetzt er die Handlung in das Jahr 1980 und in das Industriedreieck ABC in der Umgebung von São Paulo und verfilmt das Stück 1981 mit Guarnieri in der Rolle des Gewerkschaftsführers Otávio.26 Wenn Televisa in seiner kruden metaphergestützten Zuspitzung der LeidGesellschaft vor Stilisierungen der Armut mit ihren ciudades perdidas nicht zurückschreckt, so ist das unterprivilegierte Brasilien der favelas, des Proletariats und des Subproletariats für TV Globos Realismus zu viel verlangt. Was die Auseinandersetzung mit diesem Brasilien angeht, ist die brasilianische Telenovela eben doch weder Theater noch Film, von der Hungerästhetik des Traums ganz abgesehen.27 Estill hat recht, die identitätsstiftende Funktion des brasilianischen Fernsehens, insbesondere von TV Globo, ist bereits ausgiebig diskutiert worden. Jedoch bezieht sie sich auf einen Aufsatz von Anamaria Fadul (1993), der hinter das zurückfällt, was die Forschung bereits erarbeitet hatte. Fadul zählt 24 Der Titel der deutschen Übersetzung lautet Sie tragen keinen Smokingschlips (Guarnieri 1962). 25 Das Stück handelt vom jungen Arbeiter Tião (in der Erstaufführung von Guarnieri selbst gespielt), der den Streik in seiner Fabrik bricht, weil seine Freundin schwanger ist, und er Angst hat, seine Arbeit zu verlieren. Die Situation ist ausweglos, weil er sich damit in einen Gegensatz nicht nur zu seinem Vater Otávio, den Streikführer, setzt, sondern auch zu seiner Freundin, die ihn am Ende verlässt (Guarnieri 1978. Informationen zur Aufführung finden sich auf enciclopédia itaú cultural [http://www. itaucultural.org.br/aplicExternas/enciclopedia_teatro/index.cfm?fuseaction=espetacu los_biografia&cd_verbete=589, zuletzt aufgesucht: 31.05.2010]). 26 Der gleichnamige Film gewinnt in Venedig den Goldenen Löwen und in Havana Prêmio Grand Coral (siehe den Wikipedia-Eintrag „Eles não usam black-tie“ auf http://pt.wikipedia.org/wiki/Eles_n%C3%A3o_usam_black-tie_(filme), zuletzt aufgesucht: 31.05.2010). 27 Jedoch ist, wie schon angedeutet, eine dichotomische Gegenüberstellung von sozialkritischem Theater/Film und konformistischer Telenovela in Brasilien problematisch, was bereits die personelle Kontinuität der Kulturschaffenden in den verschiedenen Medien anzeigt. Guarnieri selbst beispielsweise spielte von den sechziger Jahre an bis Ende der neunziger in einer Vielzahl von Telenovelas mit.

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allerlei Telenovelamotive auf, die sie als Merkmale nationaler Identität versteht, darunter – nicht gerade überraschend – Fußball und Samba und manches andere Klischee. Für sie ist das Genre „Spiegel dieser Identitäten“ (Fadul 1993: 152), als ob die Nation dem Bildschirm tatsächlich gegenüber säße. Ginge es nur um diese Stereotypen, wären TV-Globos Telenovelas lediglich eine etwas abwechslungsreichere Variante der Televisa-Serien. Maria Rita Kehl hat dagegen schon 1986 herausgearbeitet, was für die Fernsehschaffenden und die Militärs in den sechziger und siebziger Jahren völlig klar war: Der politische Sinn TV Globos war „nationale Integration“. Wie die Autorin schreibt, verwandelt TV Globo das zutiefst gespaltene Brasilien in eine „Scheinnation“ („um arremedo de nação“). Mit seinem konsequenten Aufbau eines zunehmend flächendeckenden networks integriert der Sender das Land „auf der Ebene des Imaginären“ und setzt den Zuschauern einen vermeintlichen Spiegel als „modernes, urbanes und industrialisiertes Brasilien“ vor. Diese Tele-Nation entsteht nicht als „Volk sondern als Publikum“, genauer gesagt, als Markt in einer aufzubauenden Industriegesellschaft. Die imaginäre „Integration“ vollzieht sich daher im Ordnungsrahmen der „Wünsche, Symbole und Gewohnheiten einer Konsumgesellschaft“. Wenn das Fernsehen die Zuschauer als Konsumgemeinschaft anspricht, bedeutet das, dass es integriert und zugleich spaltet, denn, wie Kehl ausführt, bringt nur ein Drittel der Bevölkerung die erforderliche Kaufkraft für den angestrebten Konsum auf. Die anderen zwei Drittel dürfen zusehen. Um sie geht es nicht. Sie können an dieser Tele-Nation höchstens imaginär teilhaben. Eine „schizophrene Nation“ konstruiert TV Globo also, eine Nation, die zwei Drittel der Bevölkerung aus ihrer Gemeinschaft herausoperiert und auf die Zuschauerplätze verweist (Kehl 1986: 170-171). Dass die nationale Konsumintegration TV Globo und die Militärs in eine enge Interessensgemeinschaft verflocht, ist in vorangehenden Kapiteln bereits erwähnt worden. Dies ist ein Allgemeinplatz, den die Fernsehschaffenden gerne zu Protokoll gaben. Kehl zitiert eine Reihe einschlägiger Aussagen, darunter von Walter Clark, der bis 1977 Geschäftsführer und Programmchef von TV Globo war.28 Der Sender stellte sich ganz offensichtlich in den Dienst der Militärs, eine Konsumgesellschaft zu errichten. Dies, so Clark in einem Interview mit der Wochenzeitschrift Veja 1980, hat das Unternehmen groß gemacht: Globo explodierte als Frucht, als natürliche Folge des so genannten brasilianischen Wirtschaftswunders, der Regierungspolitik, die Konsumgesellschaft zu stimulieren.

28 „Dies ist die Aufgabe der Kommunikation in einem Produktivsystem: Sie hat die Bevölkerung in einen aktiven Konsumentenmarkt zu verwandeln und die Bereitschaft zum Konsum zu wecken, indem sie jedes Gut, jedes Produkt oder jede Dienstleistung dem sozialen Segment zuordnet, auf das sie ausgerichtet sind. Sie muss gleichzeitig alle Segmente erreichen, um dem Produktivmechanismus mehr Agilität einzuflößen“ („Esta é a importância maior da comunicação em um sistema produtivo: transformar a população em mercado ativo de consumo, gerando a disposição ao consumo, relacionando cada bem, produto ou serviço ao extrato social a que está destinado, atingindo simultaneamente a todos os extratos e imprimindo maio agilidade ao mecanismo produtivo“) (Clark zitiert nach Kehl 1986: 205).

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Tele-ImagiNation Damals, im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren hatte nur Globo das Potential, auf diese, sagen wir, Herausforderung zu antworten.29

Im Gegensatz zu allen anderen Sendern wurde TV Globo zwar nicht von Anfang an so doch ab 1966, nämlich als Clark engagiert wurde (der kurze Zeit später Boni dazu holte), konsequent als Marketingmaschine gedacht, bzw. als Marketing des Marketing. Clark und Boni verstanden das Fernsehen mit anderen Worten schon sehr früh nicht als ein Unternehmen wie irgend ein anderes oder als kulturelles Projekt sondern als eine Art Metawerbeagentur. Denn nicht das Fernsehen macht Werbung – es wirbt für Werbung. Im Kommerzfernsehen ist die Werbung offensichtlich die wichtigste Botschaft, aber sie ist in vertikalisierten TV-Konzernen wie TV Globo oder Televisa (mit Ausnahme der Schleichwerbung) das einzige Sendesegment, das diese nicht selbst produzieren. Nichts von dem, was diese produzieren, wird verkauft (es sei denn, es wird nach der Ausstrahlung exportiert). So gesehen, ist das Fernsehprogramm lediglich Umgebung, Umhüllung der Werbeblöcke, und die Zuschauer sind potentielle Kunden. Da macht es wenig Sinn, ein teueres Programm zu produzieren für Zuschauer, die doch nichts kaufen können. So könnte man bei Televisa denken, wo man jedoch angesichts des (Beinahe-) Monopols nicht vergisst, dass es zu den hauseigenen Programmen doch (fast) keine Alternative weder für die Zuschauer noch für die Werbekunden gibt. Bei TV Globo denkt man, man produziert für die großen urbanen Zentren, besonders für den Südosten (São Paulo und Rio de Janeiro sind der eigentliche Markt), und der Rest darf zuschauen. Dem Fernsehen als zentrales Vehikel der konservativen Modernisierung kam die soziopolitische Aufgabe zu, an der forcierten Umgestaltung Brasiliens in eine Mittelschichtgesellschaft mitzuwirken, die die nun produzierten höherwertigen Konsumgüter nachfragen sollte. So versteht sich, dass das Programm nicht nur Aufmerksamkeitshülle des Reklamekerns sein kann sondern selbst aktiv an der Konsumerziehung der Gesellschaft teilzunehmen hat. Daher bringen beispielsweise die bildschönen Heldinnen und Helden von Por amor 1997/1998 dem Publikum bei, dass zum modernen Leid einfach ein schnurloses Telefon gehört, mit dem man das Handlungsgeschehen kommentiert und wieder kommentiert. Man verheddert sich nicht mehr. Die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt mehr als die Hälfte der Bevölkerung überhaupt keinen Telefonanschluss besitzt, erhellt, dass der erklärte Realismus der brasilianischen Telenovela mehr soziale Wirklichkeit verdrängt als darstellt. Konservative Modernisierung besagt, dass in dem Neuen Schönen Brasilien für die lästige Unterentwicklung kein Platz mehr ist. Im kurzen „Wirtschaftswunder“ der Militärs hatte daher die Bevölkerungsmehrheit nichts zu suchen. Im Gegenteil, sie hatte mit der Absenkung des Mindestlohnes die Zeche zu bezahlen. Eine solche Modernisierung produziert Unterentwicklung, denn sie lehrt: Modernität ist eine Frage der Klasse. Die Botschaft lautet beispielsweise: ‚Du willst unbeschwert leben wie in einem US-amerikanischen suburb? Dann zieh’ in ein Hochsicherheits29 „A Globo explodiu como um fruto, como conseqüência natural do assim chamado milagre brasileiro, da política governamental de estimular a sociedade de consumo. Na época, a passagem dos anos 60 para os anos 70, só a Globo tinha potencial para responder, digamos, a esse desafio“ (Clark 1980: 32).

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kondominium wie Alphaville nahe São Paulo, da kann man sorglos auf den Straßen spazieren gehen, ohne um seine Wertsachen bzw. seine körperliche Unversehrtheit bangen zu müssen! Du brauchst keine Angst mehr zu haben, denn hier wird die Unterentwicklung einfach ausgesperrt!‘ Im Por amorKapitel vom 20.03.98 hat TV Globo eine Schleichwerbung untergebracht, in der Atílio aus beruflichen Gründen zusammen mit Flávia, der Geschäftspartnerin von Helena im Deko-Studio, durch den Sperrbezirk der Wohlhabenden Alphaville schlendert. Atílio spricht den Werbetext: Atílio: Wir sind hier absolut sicher in Alphaville. Ich komme mir vor wie in einem dieser Filme in jenen amerikanischen Wohnvierteln, Häuser ohne Mauern, wunderschöner Rasen, es fehlt nur der Junge, der die Zeitung mit dem Fahrrad austrägt. Flávia: Das ist für mich das ideale Leben. Atílio: Man vergisst hier geradezu São Paulo mit dem höllischen Verkehr, und es ist doch ganz nah. Hier kann man sich bis in die frühen Morgenstunden mit dem Nachbarn an der Haustüre unterhalten, ohne Angst zu haben, überfallen zu werden, und man wacht mit dem Gezwitscher der Vögel morgens auf.30

Welcher Zuschauer kann es sich leisten, in das Reichenghetto Alphaville zu ziehen? Fast niemand aus dem Publikum darf diese verbotene Stadt des Wohlstands auch nur betreten (es sei denn als Dienstpersonal). Dafür sorgen hohe Zäune, Videoüberwachung und ein Privatheer schwerbewaffneter Wachen. Wenn die Telenovela voraussetzt, dass man sich – auch wenn man es sich nicht leisten kann – einen Damm gegen die Zumutungen der Peripherie wünscht, und dass man sich nach einem Inseldasein einer idyllischen Ersten Welt inmitten eines Meeres von Verkehrschaos, Gewalt und brauner Menschen sehnt, dann kann nicht verwundern, dass, wie schon erwähnt, auch die Telenovela-Handlung um alle unschönen und unerfreulichen Gestalten und Zustände bereinigt ist. Die Unterentwicklung, an der die brasilianische Telenovela so sehr leidet, haftet ihr nichtsdestoweniger unabtrennbar wie ein Schatten an. Sie ist ihre Voraussetzung. Die Sehnsucht der oberen Gesellschaftsschichten nach einem Schutzwall gegen dieses zunehmend wütende und bedrohliche Brasilien, das jene immer schon von allen Chancen ausgrenzten, ist nicht fiktiv. Das zeigen das Beispiel Alphaville und viele andere Sperrzonen des Geldes.31 Diese doppelte Exklusion – aus den Versprechen der Moderne 30 Atílio:

Estamos absolutamente seguros aqui em Alphaville. Eu me sinto num daqueles filmes daqueles bairros americanos, casas sem muros, gramados lindos, só falta moleque passando de bicicleta atirando jornal. Flávia: Esse é meu ideal de vida. Atílio: A gente até esquece São Paulo com aquele trânsito infernal, é pertinho daqui. Dá para conversar até de madrugada com o vizinho na porta da casa sem medo de assalto, acordar com os passarinhos cantando. (Por amor, Kapitel vom 20.03.1998). 31 Siehe die Homepage der Alphaville Urbanismo S.A. (http://www.alphaville.com.br/, zuletzt aufgesucht: 31.05.2010). Der Unterschied zwischen Alphaville und anderen Zitadellengemeinschaften ist, dass es sich hierbei nicht schlicht um ein abgeriegeltes Villenviertel sondern um eine bewachte Privatstadt handelt. Alphaville besitzt eine

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(Emanzipation, Fortschritt, Gleichheit) und zudem aus dem Sichtfeld der Privilegierten – bringt das Phänomen der Unterentwicklung auf den Punkt: Auf Hunger, Entbehrung und Gewalt reagieren die, die im Überfluss leben, mit Wegsperren. Während sich aber anderswo Ghettos der Armut bilden, kennzeichnet sich die Unterentwicklung dadurch, dass sich die Wohlhabenden selbst einsperren. Die Zitadellen-Schleichwerbung passt zur brasilianischen Telenovela. Auch sie blendet das überbordende Meer der Marginalisierten und deren Lebensbedingungen einfach aus. Die Alphaville-Werbung erinnert geradezu daran, dass Brasilien doch nicht in der Ersten Welt liegt. Sehen tut man das in den Serien von TV Globo (fast) nicht. In den brasilianischen Telenovelas leben die Charaktere inmitten der Megalopole Rio de Janeiro in urbanen Idyllen wie die Vila Santa Rita de Cássia, die die Unterentwicklung tatsächlich nur als genau kontrollierte Sperrzone zulässt. Dennoch hat sich die Unterentwicklung immer schon in die TelenovelaHandlung eingeschlichen, auf die gleiche Weise, wie sie es auch in Alphaville getan hat: durch das Dienstpersonal. Es ist unverzichtbar, aber marginalisiert: Figuren, die bei Televisa das Volk bedeuten, fungieren in brasilianischen Telenovelas lediglich als realistische Ausstattung des Mittel- und Oberschichtuniversums. Sie zeigen die soziale Feinpositionierung der Familie an, der sie dienen: Hat eine Familie kein Dienstpersonal, bedeutet das, dass sie arm ist. Das ist der Fall des núcleo Niterói. Gibt es ein Dienstmädchen, das aber keine Uniform trägt und sich ungehindert über das Geschehen in der Familie äußert, also ‚zur Familie gehört‘, bedeutet das: Mittelschicht (Familie von Sirléia, Nachbarn von Helena); Dienstmädchen mit Uniform und mit Meinungsäußerung über das Geschehen in der Familie: obere Mittelschicht (Helena); Dienstmädchen mit Uniform und ohne Recht auf Meinungsäußerungen und weiteres Personal (Chauffeur, Wachleute etc.): Oberschicht (Figurenkern der „Reichen“: Familie Barros Mota). Ein von den patrões unabhängiges Leben (d.h. selbständige Plots) wird ihnen in Globos pluralen Narrationen nicht zugestanden. In der Erzählwelt des Privaten, in der die Affekte sprudeln, sieht man sie nie privat. Sie sind die Einzigen, die immer arbeiten. Außerhalb der Arbeit haben sie kein Zuhause und keine eigene Familie. Sie sind reine Satelliten, die um den Ipanema-Planeten des gehobenen Brasilien kreisen. Die Sozio-Topografie des Brasil de Ipanema endet schon im Friseursalon von Niterói. Innerhalb der oberen Schichten nimmt es Globos Realismus sehr genau, aber außerhalb der zona sul bricht dieser Realismus jäh zusammen und mutiert zur Metaphorik. Arm sind Hubschrauberpiloten und Friseursalonbesitzerinnen aus Niterói. Alles, was jenseits der sozio-topologischen Grenze liegt, ist dem padrão Globo de qualidade ästhekomplette eigene Infrastruktur mit Einkaufscenter, Ärzten, Kliniken, Apotheken, Banken, Hotels, Kinos, Schulen, sogar Universitäten. Der antiperiphere Schutzwall schließt ca. 20.000 Wohnhäuser ein. Eine eigene Schnellstraße verbindet die Zitadelle mit São Paulo und wurde übrigens nach dem Putschgeneral Castelo Branco benannt. Mittlerweile sind Ableger in einer Reihe anderer brasilianischer Städte entstanden (siehe hierzu den Wikipedia-Eintrag „Alphaville, São Paulo“ auf http://en.wikipedia. org/wiki/Alphaville,_S%C3%A3o_Paulo, zuletzt aufgesucht: 31.05.2010). Dass derartige Hochsicherheitswohnzonen keine ausschließliche Eigenart Brasiliens sind sondern sich auch in vergleichbaren Ländern wie Südafrika und den Philippinen finden, zeigt Grill (2000).

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tisch nicht zuzumuten.32 Außerdem: Die große Bevölkerungsmehrheit bleibt nicht nur mit ihren konkreten Lebensbedingungen außen vor sondern auch mit ihrem Phänotyp. Abgesehen von notorischen Ausnahme-Schwarzen und afrobrasilianischen Dienstmädchen, die allesamt nur Randfiguren darstellen, ist die Mulattengesellschaft aus der Telenovela ausgeschlossen. Ihre Helden sind alle weiß. Was Brasilien mit dem Samba feierte – die imaginäre Integration der Nachkommen der afrikanischen Sklaven – blendet die Telenovela kurzerhand aus.33 Nicht anders verfährt übrigens Televisa in seinem ausgrenzenden nation building. Von der offiziell gerühmten Mestizengesellschaft ist in den mexikanischen Telenovelas nichts zu sehen. Indígenas oder Figuren mit indigenen Zügen sind hier undenkbar. Televisas Vorgabe passt viel besser zu Globos Serien: Os ricos também choram. In den brasilianischen Telenovelas geht es nicht um das ‚Volk‘ sondern um die Gesellschaft, und die beginnt in Niterói und nicht in der Rocinha, der größten favela Brasiliens, die übrigens auch in der zona sul liegt, aber nicht dazu gehört. In dieser Leid-Gesellschaft herrscht auch der Klassenhass. Unter der Verachtung und unter den Machenschaften der Reichen leidet aber die Mittelschicht. Dennoch ist die Telenovela nicht völlig unsensibel gegenüber den Ausgeschlossenen. Auch sie sorgen für Leid-Appell. Brancas Hausangestellte Zilá muss einiges ertragen. Die Hausherrin ist kategorisch: Sie will keine „Jungen“ („filhotes“) von Zilá in ihrem Haus. „Du weißt bescheid. Wenn du schwanger wirst: raus!“34 Die Oberschicht ist das gesellschaftliche Problem. Sie unterdrückt die unteren Schichten. Und sie beutet die Gesellschaft aus, wie im Falle von Arnaldos und Brancas Schwarzgeldaffäre deutlich gemacht wird. Aber die Oberschicht hat Charme. 32 Dies bedeutet nicht, dass alle Telenovelas von TV Globo in Rio de Janeiro spielten. Im Gegenteil unterscheidet der Sender zwischen Stadt- und Land-Telenovelas und wechselt zwischen Telenovelas ab, die einmal im urbanen Milieu (meist Rio de Janeiros), ein andermal in ländlicher Umgebung angesiedelt sind. So lief vor Por amor, 1997, auf derselben Programmschiene beispielsweise die Serie A indomada (Die Ungezähmte), die in einer fiktiven Kleinstadt im Nordosten des Landes spielte. 33 Die große Ausnahme: Xica da Silva (1996-1997), die die Ausbeutung und Unterdrückung der Sklaven in der luso-brasilianischen Kolonie im 18. Jahrhundert zum Thema hatte. Aber diese Telenovela wurde nicht von Rede Globo sondern von Rede Manchete produziert und gesendet. Mit dieser Serie übertrug der Regisseur Walter Avancini (Buch: Adamo Angel) den gleichnamigen cinema-novo-Klassiker Xica da Silva (1975, Regie: Carlos Diegues) in das Telenovela-Format (Xica da Silva 1975 und 1996/1997). Die „Negation“ Afrobrasiliens in der Telenovela-Nation ist Gegenstand häufiger Kritik. Nur ein Beispiel: Muniz Sodré wirft der Telenovela vor, sie sei für die Afrobrasilianer wie der Spiegel für die Vampire: Sie sehen sich nicht darin (Muniz Sodré zitiert nach Carneiro 1999). Die Kritik bezieht sich in diesem Fall auf negative Stereotypisierungen der Afrobrasilianer im Gegensatz zur epischen Stilisierung der italienischen Einwanderer in São Paulo durch Terra nostra (1999-2000). Zum Rassismusvorwurf an dieser Serie durch afrobrasilianische Bürgerrechtsgruppen siehe Masson (2000). Zum Thema siehe insbesondere Joel Zito Araújos Studie A negação do Brasil. O negro na televisão brasileira (2000). A negação do Brasil nannte Araújo auch einen Dokumentarfilm über die televisionären Ausgrenzung der afrobrasilianischen Bevölkerung, den er 2001 drehte. 34 „Está avisada. Engravidou: rua!“ (Por amor, Kapitel vom 18.03.1998).

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Gleichzeitig erhält auch das Bild der Mittelschicht Kratzer. In einer Szene besprechen Helena und Eduarda ein Problem, das entstanden ist, weil Eduardas Dienstmädchen ihren freien Tag hatte (das ist nur einer pro Woche). Helenas Hausangestellte Tadinha wirft in das Gespräch ein, dass man doch den Hausangestellten ihren freien Tag nicht auch noch verübeln dürfe. Sofort fährt ihr Helena über den Mund: „Hör du auf zu meckern!“ („Pára de resmungar, você!“). Demgegenüber lässt sich Branca am Ende herab und fordert, wie schon erwähnt, Zilá auf, von sich zu erzählen. Bevor aber das Dienstmädchen zum Subjekt wird und sich zur Cinderella wandelt, hört die Serie (besser) auf.

10.1.2.1 Die Alternative: mundo cão Letztlich kann und will sich das Ipanema-Brasilien von TV Globo gegen das Meer der Unterprivilegierten nicht vollständig abschirmen – so lange es bitte nicht auf dem Bildschirm erscheinen soll. Dies würde die „Mittelschicht-Ästhetik“ (Avancini zitiert nach Kehl 1986: 244) der Telenovelas empfindlich stören. Das Telenovela-Brasilien ist schon deshalb an der Mittelschicht ausgerichtet, weil sich in ihr das Zielpublikum der Gattung befindet, das in der Lage ist, die in der offenen oder verdeckten Werbung angepriesenen Produkte zu kaufen (nicht nur Baugrund in Alphaville). Aus diesem Grund unterteilt TV Globo das Publikum in die schon erwähnten Einkommensklassen A bis D. In dieser Hinsicht und in der Perspektive der Abbildung des Realen grenzen TV Globos Telenovelas den Großteil der Bevölkerung aus. Als Mitte der neunziger Jahre diese Ausgeschlossenen ein stärkeres Gewicht im Publikum erhalten, sehen andere Sender, allen voran SBT und Rede Record, ihre Chance, mit einem speziell auf diese „neuen Zuschauer“ (Barelli 1998) ausgerichteten Programm TV Globo Konkurrenz zu machen. Wie schon angedeutet, ist diese „populareske“ Strategie recht erfolgreich, und TV Globo büßte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre 10% Marktanteile ein (Brittos 1999: 106). Woraus besteht dieses „populareske“ Programm, mit dem SBT und Record die Marktnische der unteren Einkommensschichten besetzen, die TV Globo vernachlässigt? Zum Einen aus mexikanischen Telenovelas. Wie in vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, sendet SBT seit 1982 täglich mehrere Televisa-Importe bzw. Lizenz-Serien. Den Auftakt bildete Os ricos também choram (Los ricos también lloran, 1979). 1991 wurde übrigens Rosa selvagem (Rosa salvaje) gezeigt. Die Ausstrahlung der „Maria-Trilogie“ mit Thalía in der Hauptrolle 1996/1997 erzielte eine ungewöhnlich hohe Quote.35

35 Siehe das „Archiv“ auf dem Internetportal von SBT. Hier wird von den 90er Jahren als „Goldenes Zeitalter“ des Senders gesprochen. Dazu gehört insbesondere die Ausstrahlung von fünf Televisa-Telenovelas zwischen 1994 und 1996 (neben der MaríaTrilogie wurden La usurpadora und Carrosel gesendet) (http://www.arquivosbt.com/2008/05/anos-90-era-de-ouro.html, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010). Marimar wurde zwei Male auf SBT wiederholt (1996 und 2004) und von CNT 2009 ein weiteres Mal gesendet. María do bairro wurde ebenfalls zwei Mal von SBT wiederholt (2004 und 2007) (siehe die Wikipedia-Einträge zu „Miramar“ und „María la del barrio“ auf http://pt.wikipedia.org, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010). Dass es eine

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2007 strahlte SBT u.a. A feia mais bela aus, ein Televisa-Remake (La fea más bella) der kolumbianischen Serie Yo soy Betty, la fea (1999-2001), das fast zeitgleich in Mexiko lief.36 Zum Anderen kommen Mitte der neunziger Jahre sensationalistische Sendungen wie Ratinho livre / Programa do Ratinho und Cidade alerta auf, die das ausschlachten, was im brasilianischen Fernsehen mundo cão genannt wird. Der Ausdruck stammt aus einer TV-Show der sechziger Jahre, in der sich die Gäste, meist Verwandte, vor Kamera und Publikum die Haare rauften. Ratinho livre / Programa do Ratinho war eine Show, in der der Moderator Ratinho (Carlos Massa) mit einem Gummischlagstock in der Hand das materielle, physische und psychologische Elend seiner Gäste (körperliche Missbildungen, Misshandlungen, Familienkonflikte etc.) ausschlachtete, die allesamt aus einkommensschwachen Schichten stammten. Dabei gebar er sich lauthals als einer von „ihnen“, klopfte obszöne Sprüche und machte gezielt grammatikalische Fehler beim Sprechen. Mit Reportagen über Lebensbedingungen in den favelas und über Missstände aller Art prangerte er – als vermeintlicher Sprecher der Millionen Mittellosen – das Versagen der Politiker und der Institutionen an und erging sich in Vorverurteilungen sowie Forderungen nach der Todesstrafe (vgl. Miceli 1998; Glüsing 1999). Cidade alerta (Stadt in Alarmbereitschaft) startete 1995 und gab sich als Nachrichtensendung aus. Es bestand aus Beiträgen über soziale Probleme in den Großstädten, insbesondere über Kriminalität und Gewalt. Meist begleiteten die Reporter Polizeieinsätze in favelas und filmten die Jagd auf Verdächtige durch die labyrinthischen Gassen der Armenviertel und deren Suche in erbärmlichen Wellblechhütten. Der geschmacklose mundo cão, den diese Sendungen zur Schau stellten, ist das genaue Gegenteil des padrão Globo de qualidade. Hier geht es um Unterentwicklung und um die bizarren Kehrseiten der Gesellschaft. Beide Sendungen wurden Ende 2006 eingestellt und starteten Anfang 2007 in neuem Format. Programa do Ratinho war in den neunziger Jahren sehr populär und rutschte zeitweise sogar auf den zweiten Rang im Zuschauer-rating hinter Globos Telenovelas (Barelli 1998). Am Ende des Jahrzehnts verlor er dann zunehmend an Einschaltquoten, nahm die aggressive Schmutzästhetik weitgehend zurück (Câmara 2001: 119), musste trotzdem öfters den Sendeplatz wechseln und landete schließlich im Nachmittagsprogramm. Die Folgesendung mit Carlos Massa alias Ratinho hieß Jornal da massa, hatte einen etwas seriöseren Anstrich (kein Schlagstock, kein groteskes Kuriositätenkabinett mehr) und stellte sich ganz in den „Dienst der Zuschauer“ (mit Aufforderungen, sich mit Beschwerden über Missstände an die Redaktion zu wenden). Wie der Titel schon anzeigt, geht es um die „Masse“, um die Ausgeschlossenen, denen Gehör verschafft werganz eigene, brasilianische Thalía-Manie gibt, bezeugen (behaupten) u.a. die FanSeiten Thalymania. Mania de gostar da Thalía (http://thalymania.iespana.es/) ThalíaBrasiL (http://www.thaliabrasil.net63.net/), beide zuletzt aufgesucht: 01.06. 2010. 36 Betty la fea wurde übrigens auch in Deutschland nachgespielt und von Sat1 als Verliebt in Berlin von Februar 2005 bis Oktober 2007 gesendet. Ursprünglich waren „nur“ 225 Folgen geplant. Aufgrund der unerwartet hohen Quote wurde die Serie auf 645 Kapitel gestreckt. (siehe den Wikipedia-Eintrag „Verliebt in Berlin“ auf http://de. wikipedia.org/wiki/Verliebt_in_Berlin, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010).

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den soll. „Eine Nachrichtensendung, die alles aufdeckt und anklagt, was im Land falsch läuft.“37 Cidade alerta wurde 2005 durch das Nachrichtenmagazin SP Record ersetzt, das nur in São Paulo ausgestrahlt wird und sich ganz auf Missstände dieser Stadt konzentriert, die aber auch über lokale Trends berichtet.38 Das geglättete Magazin hat mit der gewaltfixierten Vorgängersendung wenig zu tun. Die Beispiele veranschaulichen, dass die televisuelle Vermarktung des Elends der „Masse“ ein Zuschauerinteresse anspricht, über das sich TV Globo bisher weitgehend hinweggesetzt hat. Übrigens beschränkt sich dieses Interesse nicht auf die „Betroffenen“ sondern findet sich auch in den Klassen „A“ und „B“ (Câmara 2001: 117). Unter Druck geraten, reagiert der Quotenführer, wie schon angedeutet, mit einer Version chic des Grotesken. Er erhöht die Dosis sex and crime in den Telenovelas und macht aus dem prestigeträchtigen (aber nie unumstrittenen) Jornal nacional ein Boulevardmagazin.39 Jedoch nimmt Rede Record ein paar Jahre später deutlich Abstand von der „Popularisierung“ des Programms und bemüht sich stattdessen, dem padrão de qualidade anzunähern. Die Marktführerschaft TV Globos ging leicht zurück, aber sie ist immer noch überwältigend. Wie SBT im Internet selbst bestätigte, lag Globos Einschaltquote im Dezember 2006 im Schnitt bei 56,6%. Auf dem zweiten Platz rangierte SBT mit 19,1%. Dahinter kam Rede Record auf 13,4%.40

37 „Um telejornal que denuncia tudo o que acontece de errado no país“ (http://www.sbt. com.br/jornalismo/jornaldamassa/. Die Seite ist mittlerweile offline, weil die Sendung wieder abgesetzt wurde [zuletzt aufgesucht: 23.01.2007]). Anfang 2009 nahm Carlos Massa wieder die alte Sendung Programa do ratinho auf, die am Vorabend läuft. Die Sendung gibt sich nun als „Mischung zwischen Journalismus und Unterhaltung“, die sich jedoch für die „Rechte des Volkes“ einsetzt (http://www.sbt.com. br/ratinho/programa/, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010). 38 Siehe hierzu die Homepage der Sendung (http://www.rederecord.com.br/programas/sprecord, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010). 39 Zur Gewalt in Globos Telenovela Torre de Babel siehe Schäffauer o.D.: 325-333. In Laços de família (2000/2001) brachte der Chefautor Manoel Carlos bei einer ähnlichen Hauptthematik wie der von Por amor (eine Mutter gibt ihre Liebesbeziehung auf, um ihre schwerkranke Tochter zu retten) Szenen von Alltagsgewalt unter. So wird gezeigt, wie eine Figur bei einem Raubüberfall (assalto) brutal ermordet wird. Der exzessive Leidappell steigert sich hierbei durch die Konzentration auf den Schmerz der Tochter, die dem Verbrechen beiwohnt. Außerdem gibt es in der Serie jede Menge Erotik (vgl. Lima/Camacho 2001: 88-89). Zur Mutation des Jornal nacional als „Varietätenshow“ siehe die bittere Kritik der Wochenzeitschrift Veja (o.A. 1998). 40 http://www.sbt.com.br/, zuletzt aufgesucht: 23.01.2007. Im April 2009 war die durchschnittliche Quote von Rede Globo weiterhin dreimal so hoch sie die des Verfolgers Record, der kurz vor SBT lag (http://comentariosdatelevisao.blogspot.com/2009_04_12_archive.html, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010). Gut ein Jahr später, Ende Mai 2010 hat sich am Vorsprung Globos vor Record wenig geändert, aber SBT liegt nun weit abgeschlagen hinter Record (http://audienciadatv.wordpress.com/, zuletzt aufgesucht: 01.06.2010).

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10.1.2.2 Das WunschWunsch-Brasilien

Über die Hälfte aller Zuschauer geben demnach auch unter den Bedingungen der Diversifikation von Publikum und Fernsehen TV Globos MittelschichtBrasilien weiterhin den Vorzug. Wie erklärt sich diese Hegemonie des Schauens? Was fesselt ca. 30 Millionen Zuschauer jeden Abend an Globos novela das oito?41 Sich selbst, ihre Lebensumstände sehen sie auf dem Bildschirm jedenfalls nicht (wenn dies denn ginge). Sie werden gleichsam aus der narrativen Sperrzone der Modernität ausgeblendet. Trotz der jahrzehntelangen Bekundungen der Telenovela-Macher („telenovela verdade“) hat das Postulat der Realitätsabbildung mit der Gattung nur sehr wenig zu tun. Es setzt schließlich voraus, dass es so etwas wie die Realität Brasiliens überhaupt gibt. Ein Missverständnis ist daher auch anzunehmen, dass nur ein Teil der Gesellschaft gespiegelt wird und ein anderer Teil nicht. Dem brasilianischen Telenovela-Realismus geht es nicht darum, Brasilien abzubilden, sondern der Darstellung Plausibilität zu verleihen. Diese Darstellung ist mehr als eine Konsumgesellschaft. Es ist insofern ebenfalls ein Missverständnis davon auszugehen, dass einige Zuschauer (die „echten“ Konsumenten) vom Medium tatsächlich „integriert“ werden und andere nur „imaginär“. Der Sitz der brasilianischen Telenovela im Leben ist die Unterentwicklung, die Abwesenheit des Eigenen. Auf diese Absenz geht die Obsession der Vergegenwärtigung zurück. Die Gattung schlachtet die Irrealität Brasiliens unaufhörlich aus. Flusser, der Bodenlose, sieht die existentielle Bodenlosigkeit des Menschen im Falle Brasiliens drastisch verschärft.42 Für ihn ist der Mensch immer schon unheimisch in einer unwirtlichen und unwirklichen Natur. In den brasilianischen Städten lebt eine verlorene Menschenmenge, ein „proletarisches und subproletarisches Meer“ (Flusser 1994b: 19). Diese Menschen sind entwurzelte Wurzellose, denn sie stammen größtenteils vom Land. Jedoch die, die auf dem Land leben, haben von ihrem Land und von sich selbst keinen Besitz ergriffen, sondern taumeln in einer Art jahrhundertealter Betäubung und Heimweh (»saudade«) in den sich unendlich weit abrollenden Hochebenen wie Treibgut. (Flusser 1994b: 22)

Mit Flusser ist die Unterentwicklung nicht primär als Mangel und Manko zu verstehen sondern als abgründige Fremdheit, als eine Fremdheit nach innen und nach außen. „Fremde sind sie sich selbst und ihrer Welt“ (ibidem). Entfremdet erscheinen die Brasilianer in europäischer Perspektive. Aber, so fragt 41 In Bezug auf Laços de família (2000/2001) bemüht die Wochenzeitschrift Veja wieder den Topos der mania nacional und bezeichnet die Serie als „Telenovela, die das Land hypnotisiert“ („A novela que hipnotiza o país“). Im Artikel über Laços de familia wird gezeigt, dass das Publikum von Globos Telenovelas auf der 21 Uhr-Schiene seit Mitte der neunziger Jahre im Durchschnitt bei dreißig Millionen Zuschauer liegt. Das Publikum von Por amor bestand aus 29,4 Millionen. Das entspricht einer Quote von über 50% der eingeschalteten Geräte. Laços de amor war etwas erfolgreicher und kam kapitelweise auf knapp vierzig Millionen und eine Quote von 79% (Lima/Camacho 2001: 87). 42 Siehe hierzu auch Flussers Autobiografie (Flusser 1992a).

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Flusser, wie können diejenigen Wirklichkeit verlieren, die Wirklichkeit nie ihr eigen nennen konnten? Wenn Flusser über die Unwirklichkeit Brasiliens schreibt, dann ist damit die Unvereinbarkeit eines metaphysischen (für Flusser: europäischen) Wirklichkeitsbegriffs43 mit der brasilianischen Fremdheit gemeint. Flusser sucht nach der unwirklichen Wirklichkeit und nach der ungeschichtlichen Geschichte, also nach dem neuen Menschen. Man muss Flusser auf dieser Suche nicht folgen, seine paradoxe Selbstüberwindung des Denkens in der Auseinandersetzung des radikal Anderen erscheint jedoch als unmöglich-unverzichtbare Voraussetzung, Brasilien und Lateinamerika zu denken.44 Unterentwicklung als nicht-teleologischer Begriff versteht sich in diesem Sinne daher nicht primär als Modernitätsdefizit und Entwicklungsverbindlichkeit sondern vielmehr als Binnenschuld45 und als Verschuldung der zentralen Gläubiger gegenüber der Peripherie. Unterentwicklung bezeichnet keine Periode der Noch-nicht-Entwicklung. Unterentwicklung bedeutet einen Zustand von Entbehrung und vielfältiger historischer und sozialer Ausgrenzungen. Jenseits dessen tut sich eine unverständliche Fremdheit auf, das den Negationen entweicht. Unterentwicklung, das ist das Schlimme, das vom sich entziehenden Schlimmsten verdeckt wird. Die Telenovela versucht, aus dieser Verschuldung Kapital zu schlagen und strahlt unentwegt das Flimmern der Nation in die Bodenlosigkeit des Landes. In der Perspektive der Abbildung des Realen ist das Brasil classe média ausgrenzend. Auf der Ebene der Projektion entfaltet es einen „integrativen“ Gemeinschaftsappell. Dieser Appell geht von dem Nationalen aus, das der Telenovela-Diskurs symbolisiert. Die „Brasilianität“ haftet den Telenovelas von Rede Globo in Narration und Produktion an. Das wurde in vorangehenden Kapiteln bereits ausführlich diskutiert. Sie ist jedoch auch für die Serien von Rede Record und von TV Manchete (1981-1999) konstitutiv. Nicht immer wird dabei das Nationale so raffiniert auf eine metagenerische Ebene verwiesen wie im Falle von Por amor, in dem das Brasilianische aus dem verfremdenden Zitieren der mexikanischen Telenovela hervorgeht. Dazu kommt wie bei allen brasilianischen Telenovelas die explizite (verbale und audiovisuelle) Ansiedlung der Erzählung in einer gegebenen (oder fiktiven) lokalen Sozio-Topologie. Reiche cariocas bzw. Einwohner Rio de Janeiros wie die Barros haben beispielsweise ein Wochenendanwesen in dem Badeort Angra dos Reis (das ist wirklich chic), nehmen aber für die 43 Nämlich: Wirklichkeit ist da, „wo Geschichte abrollt“, wo also Selbstbestimmung herrscht und wo sich der letztlich Prozess der Heilsverwirklichung vollzieht (Flusser 1994b: 94-95). 44 Die Beziehung Flussers zu Brasilien wurde erst spät von der Forschung aufgegriffen. Erste Vorstöße wurden in Brasilien unternommen, u.a. von Gustavo Bernardo Krause (1998 und 2002). Zur Aufarbeitung dieser Beziehung haben insbesondere Susanne Klengel und Holger Sievers mit ihrem Sammelband einen wichtigen Beitrag geleistet (Klengel/Sievers 2009). Speziell zu Flussers Brasilienvision siehe die Beiträge von Susanne Klengel (2009) und Michael Hanke (2009) in diesem Band. Siehe hierzu auch Michael (2006b). Zur Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen der Kommunikologie und Flussers Aufenthalt in Brasilien siehe Michael (2009). 45 Siehe den argentinischen Film La deuda interna (Die Binnernschuld) von Miguel Pereira (La deuda interna 1988).

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Fahrt nicht das lästige Auto sondern den Hubschrauber (das ist plus chic). Wie hätten sich Milena und Nando auch sonst kennen lernen können? Helena wohnt im Stadtteil Leblon (bei Ipanema). Das hat Stil. Da wohnt auch Manoel Carlos, das weiß man als Zuschauer. Ihre Schwester Virgínia wohnt in Ipanema, direkt an der Uferpromenade. Das ist teurer. Die Villa der neureichen Trajanos steht in der Barra da Tijuca (hier dehnt sich das bessere Rio de Janeiro an langen Stränden nach Süden aus). Das ist protzig. Über Niterói ist schon alles gesagt. Nicht immer dient der Realismus dazu, das Melodrama zu hinterfragen, aber immer hat er die Aufgabe, das Erzählte mit dem soziotopologisch Konkreten zu verschweißen: als sei das Erzählte real, also brasilianisch. Die Erzählung wimmelt daher nur so von Brasilienmarkern, dafür sorgte eigens Ana Maria de Magalhães, art director von Por amor. Sie passte auf, dass alle Details in den Kulissen stimmen. Dass die Kostüme stimmen, war wiederum die Aufgabe der Kostümbildnerin Beth Filipecki. Das passende Sprachregister, dazu Mimik und Gestik der Figuren übernehmen die Schauspieler. Oralität, d.h. brasilianisches Portugiesisch ist selbstredend die Voraussetzung aller Figuren. Die Schauspieler differenzieren jedoch das Brasilianische mit Soziolekten und Regiolekten, um das Profil der Figuren zu schärfen. Allerdings sprechen nur Nebenfiguren einen deutlichen Regiolekt aus Rio de Janeiro, nicht aber die Hauptfiguren, denn das könnte die Zuschauer außerhalb Rios auf die Dauer irritieren. Jene sprechen eine Art brasilianische Koine, bei deren Zustandekommen der Realismus direkt in Identitätsmanagement und Marketing übergeht. Viele Details wären noch aufzuzählen,46 aber der Ansatz ist mittlerweile deutlich: Deren Stimmigkeit bezieht sich auf die sozio-topografische Verortung der Figuren. Das bedeutet, dass die Telenovela die brasilianische Gesellschaft als Mosaik konstruiert. Wie kann aber von dem notwendigen sozialen und lokalen Ausschnitt, der fast ausschließlich Mittel- und Oberschicht fokussiert, der Gemeinschaftsappell der Nation ausgehen? Die realistische Verortung der Figuren soll dem Symbolcharakter des Erzählten eine Wahrscheinlichkeit verleihen, die als „brasilianisch“ zu verstehen ist. Nationale Identität ist ein Symbolsystem, dessen Gravitationszentrum im Falle der mexikanischen Telenovelas das ‚einfache Volk‘ und bei brasilianischen die Mittelschicht ist. Die sekundäre Identifikation der Zuschauer mit Figuren (Metz 1975: 33) – die Träger der gesellschaftlichen Verortungen – wird durch die melodramatische Moralität geradezu forciert. Darüber hinaus fachen der postkoloniale Mangel an Brasilien, die historische „Leerstelle“ der Identität die Vorstellung des Gesellschaftsmosaiks der Serie als Nation an. Die nationale Identifikation findet im Wiedererkennen der dargestellten Telenovela-Gesellschaft nur seine Voraussetzung und wird vom fundamentalen Begehren nach Brasilien angestachelt. Globos Luxus-Brasilien bietet genügend Wiedererkennungsmerkmale, weswegen es so sein könnte. Die identifikatorische Teilhabe an dieser Hochglanznation entsteht aus dem Wünschen, dass dies Brasilien tatsächlich wäre. Spiegelung und Imagination sind keine Gegensätze, als sei das eine real und das andere nicht. Die Spiegelung selbst, 46 In diesem Zusammenhang wäre vor allem der sound track zu nennen. Darunter ist brasilianische Popmusik und die sehr brasilianische música popular brasileira. Die Eröffnungssequenz wird mit dem Bossa-Nova-Song Falando de amor unterlegt, ein Klassiker von Antônio Carlos Jobim.

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das lehrt Lacan, ist imaginär. Mangel und Begierde lösen die TelenovelaSpiegelung des Zuschauers aus sowie die kollektive Ausweitung seines Ichs in die Erzählung. Die stimmigen Wiedererkennungsdetails und die gleichzeitige (nicht ganz vollständige) Aussperrung der hässlichen Unterentwicklung drängen den Zuschauern Identifikationen mit diesem Wunsch-Brasilien auf. Globos Brasilien ist schöner-als-real.

10.2 Mediendispositiv und Kollektivsubjekt Symbolisch existiert die Nation schon lange, auch in Lateinamerika. Erst nur typografisch, dann auch fotografisch, fonografisch, kinematografisch, radiophon usw. Warum insistiert das Fernsehen, jenes ein weiteres Mal zu symbolisieren, was immer schon Symbol war? Die Antwort liegt auf der Hand: Die ImagiNation ist ein Medien-Effekt, daher entfaltet jedes Medium seine eigene Nation. Eine Untersuchung des nation building allein auf diskursiver Ebene scheint dagegen bei allem Konstruktivismus (explizit oder nicht) den Schluss nahe zu legen, dass sich die Diskurse schlicht wiederholen. Wenn man sich jedoch die Folgen einer Serie näher ansieht, wenn man insbesondere alle Folgen sieht, stellt sich dieser Eindruck in Frage. Es zeigt sich, dass eine behutsame Analyse selbst auf der Ebene der Narration Differenzen aufdeckt. Dennoch: Das Verständnis der Telenovela als Text tendiert dazu, das Genre als Fortsetzung literarischer (und anderer) Identitätsdiskurse zu betrachten. Im 19. Jh. begann die lateinamerikanische Literatur mit den Bauarbeiten an der Nation.47 Offensichtlich ist sie nicht ganz fertig geworden. Dann werkelte der Film an der Nation herum, bis die Telenovela anfing, sich an der Baustelle zu schaffen zu machen. Das dauert nun auch schon wieder ein halbes Jahrhundert. Nicht nur das Ausgesagte und das Aussagen jedoch sind entscheidend, auch die Aussagbarkeit: Schon für Flusser war die „Pest“ des Nationalismus eine Langzeitfolge der Typografie. Denn die Typografie nutzte nicht bestehende Nationalsprachen aus sondern erfand sie: Auf der Suche nach Ausweitung des Büchermarktes erwies sich nicht nur das Latein als zu eng sondern auch die Vernakulare, also die Sprachen ohne Standardvarietät (etwa das Hessische). Um den Buchdruck rentabel zu machen, konstruierte man einen Standard für verwandte Vernakulare: die Schriftsprache. So invertierte die Nationalsprache das Verhältnis zwischen Alphabet und gesprochener Sprache. Ursprünglich wurde das Alphabet dazu geschaffen, die gesprochenen Sprache niederzuschreiben. Nun schuf man eine Sprache, um alphabetisch drucken zu können (Flusser 2000: 144). Seitdem erfinden die technischen (Absatz-)Medien die Nation immer wieder neu. Das (radiophone) Samba-Brasilien lässt sich nicht mit dem Tele-

47 Estill bezieht sich auf die Arbeit von Doris Sommer über die „foundational fiction“ der lateinamerikanischen Literatur. Sommer führt aus, wie lateinamerikanische Romane des 19. Jh. nationale Gemeinschaften auf der Grundlage von heterosexueller Liebe und Ehe konstruieren, die die antagonischen Gesellschaftsgruppen friedlich zusammenführen (Sommer 1991: 6-12). In diesem Aspekt unterscheiden sich die Romane prinzipiell kaum von den Telenovelas.

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novela-Brasilien vergleichen. D.h. man kann sie nur miteinander vergleichen: Der Samba ist ein Beispiel, wie die Kulturindustrie die cultura popular mit Frack sowie Zylinder neu einkleidet und ihr Manieren beibringt.48 Er ist das Andere, dem, nach seiner Zähmung, gestattet wurde, sich im Ohr des Selbst einzurichten. Im samba-exaltação, im Samba nationaler Begeisterung, feiert sich die „Gesellschaft“ als Nation, weil sie das „braune Volk“ – symbolisch – auf die städtischen Bühnen und vor die Mikrofone lässt. Der Samba ist die Sonne, an der sich die Nation bräunt. Die brasilianische Telenovela dagegen bringt den Smoking – symbolisch – hinaus zum „braunen Volk“. Sie führt der Bevölkerung vor Augen, was und wer die „Gesellschaft“ ist. Sie beweist: Auch Smokingträger weinen. Mit dem Samba wird die Peripherie in das Zentrum eingelassen, mit seiner (bereits zugerichteten) Andersheit wird jedoch das Selbst ein Stück weit anders. Es hört anders, es singt anders, es tanzt anders. Die Telenovela aber zeigt dem Anderen unermüdlich das Eigene. Sie vergegenwärtigt das abwesende Zentrum in der Peripherie. Mit dem Samba als sound track darf sich das „Volk“ als zugehörig imaginieren.

10.2.1 D IE N ATION

ALS KINEMATOGRAFISCHE

K ATHARSIS

Ein Vergleich zwischen dem Film-Mexiko und dem Telenovela-Mexiko ergibt: Das filmische Mexiko wird von einer 120-minütigen Passion des Sehens entfacht, in der sich Ich- und Wir-Begehren mit der Wahrnehmung der inszenierten barrio-Welt vermengen. Die Kinogänger machen sich zum Aufmerksamkeitsbann in öffentliche Höhlen auf, in denen sie sich in Dunkelheit festsetzen, um ihr Gesichtsfeld vom grellen Breitbild-Wiederschein der Abbilder und ihr Gehör von einer ent-sprechenden Tonspur vereinnahmen zu lassen.49 Sie tauchen in ein mehr-als-reales Tal der Tränen ein, die ihr Mit-Leiden auf Spitzen weit über den Zumutungsgrenzen des Wahrscheinlichen treiben. Sie setzen sich dem imaginären Befall eines mexikanischen Leidens aus, dessen von Szene zu Szene sich unvorstellbar aufstockende Intensität des Ausdrucks alles Leid jenseits der Leinwand in den Schatten stellt. Das Lichtspiel ist ein geballtes Spektakel des melodrama-a-la-mexicana, das die Zuschauer, um sie 48 Durch die Orchestrierung des Sambas im Big-Band-Stil ab Ende der dreißiger Jahre wird dieses afrobrasilianische Musikgenre salonfähig. Es „modernisiert“ und „nationalisiert“ sich. Das Radio treibt diese Entwicklung voran, denn mit dem Orchester-Samba konnte man sich hören lassen, wie aus dem Programmheft des großen Rádio Nacional im November 1943 hervorgeht: „Nun besitzt der Samba bereits seinen endgültigen Sitz unter den populären Musikstilen der zivilisierten Völker, würdiger und eleganter Repräsentant des musikalischen Geistes unseres Volkes und besucht [...] die Heime der ganzen Welt und betritt sie mit Frack und Zylinder, als gentleman, als ein junger Mann mit Manieren“ (Agora o samba já possui o seu lugar definitivo entre as músicas populares dos povos civilizados, digno e elegante representante do espírito musical de nossa gente, indo visitar, pelas emissoras de ondas curtas da Rádio Nacional, os lares do mundo inteiro, entrando neles de casaca e cartola, gentleman, rapaz de tratamento“ [zitiert nach Saroldi/Moreira 1984: 49-50]). 49 Zu Baudrys These, dass Platons Höhlengleichnis das Kinodispositiv ansatzweise vorwegnimmt, siehe Baudry (1975: 59-60).

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Tele-ImagiNation

von ihren Bedrückungen zu entlasten, mit „Anekdoten der totalen Bedrückung“ überschüttet.50 Nicht nur Kamera, Schnitt, Schauspieler und Ton befehlen die Generalmobilmachung der Zuschaueraffekte, auch die Erzählung gewährt nur kurze Verschnaufpausen gelegentlicher Boleroeinlangen und komikspendender Wendungen des habla popular. Ein Trommelfeuer von desdichas und Schicksalsschlägen ergeht über die Zuschauer, denn man hat ja nicht ewig Zeit, und schon nach 120 Minuten müssen die Fanfaren des Guten ertönen. Man denke nur an den Strudel der Missgeschicke, in die Pepe gerät, nachdem die Zuschauer gerade erst anfingen, sich mit ihm als verliebten novio (Verlobten), liebenden (De-facto-)Vater und beliebten vecino zu identifizieren. Kaum wurde ihm das ganze Geld geraubt, das nicht seines war sondern nur die Vorauszahlung eines reichen Kunden für seine Schreinerarbeit, da knüpft die Wucherin, die er aufsucht, anstößige Bedingungen an eine Kreditvergabe. Er schlägt aus und geht, aber unmittelbar danach ermordet die Verbrecherbande die Wucherin. Wenige Erzählminuten später wird er verhaftet, dann des Mordes für schuldig erklärt und ins Gefängnis geworfen. Zurück bleiben Chachita und die stimm- und bewegungslose Großmutter, denen alles genommen wird, denn der Kunde will sein Geld zurück und lässt das bescheidene Heim mit Werkstatt komplett ausräumen. Celia will helfen, wird dabei aber beinahe Opfer sexueller Ausbeutung. Pepe gelingt die Flucht aus dem Gefängnis, die er jedoch nur nutzt, um seine sterbende Mutter im Krankenhaus zu sehen. Wenige Betten nebenan stirbt gerade seine Schwester. Zurück im Gefängnis wird er von der Verbrecherbande verfolgt, die nun auch einsitzt. Schließlich setzt er sich in einer grotesk-grausamen Schlägerei durch, sticht dem Oberschurken ein Auge aus und zwingt ihn zum Geständnis des Mordes an der Wucherin, wofür dieser sich rächen will – aber zum Glück erst im Folgefilm. Nun kommt Pepe frei, und alles ist gut (Nosotros los pobres, 1947). Wer könnte einer solchen Sturmattacke der Ungerechtigkeiten standhalten und sich dem Mit-Leiden am Martyrium des Helden verweigern? Die subjektsüchtige Schaulust nagelt den Blick an die Leinwand. Über diesen Blick ergießt sich die Kaskade von Leid- und National-Appellen und flutet das Vergessensein in der Unterentwicklung mit Suggestionen zur Sekundäridentifikation. Pepe meint: Ich bin einer von euch, ich leide für euch, leidet uneingeschränkt mit mir, und euer eigenes Leid wird dagegen verblassen. Mit 50 „[...] la naturaleza del melodrama-a-la-mexicana: para que el público no se sienta tan agobiado dénsele anécdotas del agobio total“ (Monsiváis 1994b: 148). Monsiváis arbeitet an einer Beispielszene von Ustedes los ricos sehr schön den Unterschied zwischen dem „mexikanischen“ und dem Hollywood-Melodrama heraus: Er zitiert den Regisseur Ismael Rodríguez mit seinem Hinweis, eine Szene des Films an eine Szene von Vom Winde verweht angelehnt zu haben (die Szene, als Pepe sich ähnlich wie Rhett Butler mit seinem totem Kind und seinem Kummer in eine Kammer sperrt und sie [lange] nicht mehr verlässt). Rodríguez schreibt die divergierende Interpretation der Szene durch Pedro Infante bzw. Clark Gable den unterschiedlichen „Persönlichkeiten“ der Rollen/Schauspieler (er trennt hier nicht) zu. Während Clark Gable das Leid „introvertiert“ zum Ausdruck bringt, „bordet Pedro über“. Dieses „Überborden“ ist für Monsiváis gattungsbildend: „Nur im Überborden erkennt sich das mexikanische Melodrama“ „Sólo en el desbordamiento el melodrama mexicano se reconoce“ (Monsiváis 1994b: 152).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

freundlicher Unterstützung des final feliz fällt das Leid beim Verlassen des Kinosaals kathartisch von den Zuschauern ab, denn so schlimm wie im Kino kann es nicht kommen. Über den von der Unterentwicklung gestellten Blick kann nur spekuliert werden. Er ist ein Fremdes, dessen „zugängliche Unzugänglichkeit“ als „Außer-ordentliches“ die Ordnung des Eigenen sprengt (vgl. Waldenfels 1997: 111). Warum sehen die Vergessenen Los olvidados nicht (wenn sie es könnten)? Warum ziehen sie die Versüßung der Armut vor, die ihre Entbehrungen ein weiteres Mal vergisst? An die „Fabrikation der Armut“ von Nosotros los pobres glauben, so Monsiváis, allen voran die Armen, und zwar mit einer Emphase, die weniger irrational ist, als sie von außen oder jetzt erscheint. Warum nicht einer artikulierten Version ihrer Existenz Aufmerksamkeit schenken? Warum sich nicht im urbanen Heroismus und in der urbanen Romantik spiegeln wollen, die trotz mangelnden Prestiges nicht minder entschädigend sind?51

„Die Beschränkungen angesichts der Moderne“, erklären sich ganz allgemein, wie der Autor lakonisch schreibt, mit dem Verweis auf die Geschichte des Landes: „drei Jahrhunderte lang Kolonie und ein Jahrhundert lang Schlachten um den Aufbau der Nation.“ Vor diesem Hintergrund erklärt sich das „unaufhörliche Staunen über die Wunder der Zivilisation“ (Monsiváis 1994c: 53). Die Unterentwicklung stellt im 20. Jh., wie oben ausgeführt, die Machtformation dar, die die Möglichkeit des Erscheinens von Begriffen, Themen und Gegenständen in Lateinamerika bedingt. der Diskurs der Modernisierung beispielsweise oder die Audiovision. Die Technizität der audiovisuellen Medien indiziert jenseits ihrer Aussagen Modernität. Der Kino-Blick ist daher an sich modern, unabhängig davon, was in ihm zur Anschauung gelangt. 1906 z.B. war der cinematógrafo, wie man ihn damals noch nannte, in MexikoStadt natürlich eine Sensation. Wie José Juan Tablada in einer crónica vermerkt, war zu diesem Zeitpunkt schon „ganz Mexiko“ (also der kleinste Teil der Bevölkerung) im Kinorausch: „Wie Falter, die eine Glühbirne umflattern, begeben wir uns zu dieser Lichtquelle.“52 Niemandem gelingt es, die verzückten Augen von der Leinwand abzuwenden.53 Das Unerreichbare wird plötzlich ganz nah: Das ganze Leben, jeder Traum, jede Illusion sind da, an dem mystischen und dunklen, katakombengleichen Ort; die exotischen Länder nähern sich und alle Klimate und alle

51 „Con rasgos típicos que evocan cercana o lejanamente experiencias reales, se fabrica una pobreza en la que, antes que nadie, creen los pobres, con énfasis menos irracional de lo que parece desde fuera y desde ahora. ¿Por qué no hacerle caso a una versión articulada de su existencia? ¿Por qué no querer reflejarse en el heroísmo y el romanticismo urbanos, no por faltos de prestigio menos recompensantes?“ (Monsiváis 1994b: 148). 52 „Como mariposas en torno de un foco eléctrico vamos a dar a ese nuevo foco [...]“ (Tablada 1992: 45). 53 „[...] pero nunca he mirado a nadie apertar los ojos del lienzo de proyección en uno de esos lugares de encanto y maravilla“ (Tablada 1992: 46).

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Tele-ImagiNation Landschaften gehorchen der Beschwörung; außerhalb der Zeit, dem Raum entrissen flimmern sie vor uns auf.54

Im Kino wird der Traum ein mehr-als-realer Wiederschein, bzw. der Wiederschein fällt auf den Zuschauer als mehr-als-geträumter Traum: Da sind die Landschaften, die du niemals erblickt hättest, oh, Träumer, der du niemals deinen Schlupfwinkel verlassen wirst! Da ist die Idolfrau, die Circe, die du nie getroffen hättest, oh, Poet, der du besessen bist vom verschlingenden Verlangen und von prachtvollen Chimären!55

Dass es in der Belle-époque-Gesellschaft Mexikos schon 1906 Mode war, ins Kino zu gehen, überrascht nicht. Die kolonialen und postkolonialen Eliten waren immer au courrant, was mediale Entwicklungen im Zentrum angeht.56 Interessanter ist dagegen die Leuchtwirkung der Leinwand in der fremden Dunkelheit der Vergessenen. Der Schock der abrupten und rücksichtslosen Modernisierung und der Entwurzelung aus dem ländlichen Patriarchat war (und ist es immer noch), wie in obigen Kapiteln angedeutet, gewaltig und gewalttätig, weil sich der Staat für die Folgewirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung für die Unterprivilegierten gar nicht oder nur eingeschränkt zuständig erklärt hat. Aufgabe der Kulturindustrie war es, zwischen Moderne und Popularkultur zu vermitteln. Welche Anziehungskräfte entfaltet das Kinolicht auf jene „Falter“, die in ihrem absoluten oder funktionalen Analphabetismus erstmals angestrahlt werden? Zweifellos reproduziert diese audiovisuelle Alphabetisierung die herrschende Ideologie (Fügung in die Klassengesellschaft, Apologie des Machismus, sozio-politische Disziplinierungen etc.). Wie Monsiváis jedoch bemerkt, mag zwar das „Kredo offenkundig reaktionär und klerikal“ sein, die „visuelle Übersetzung ist es jedoch nie in gleichen Maßen“ (Monsiváis 1994c: 91). Es fragt sich, welches Verlangen und welche Chimären sich in die Bilderwahrnehmung derer mischen, die von der Unterentwicklung in die Peripherie der Peripherie verbannt sind. Welcher Blick entsteht, wenn die Leinwand zeitliche, räumliche und soziale 54 „[...] toda la vida, todo el ensueño, toda la ilusión están allí, en el lugar místico y sombrío como una catacumba; los países exóticos se acercan y todos los climas y todos los paisajes obedecen al conjuro, y fuera del tiempo y arrebatados al espacio vibran rápidamente ante nosotros“ (Tablada 1992: 46). 55 „[...] allí están los paisajes que nunca habrías contemplado, ¡oh soñador que nunca saldrás de tu rincón! Allí está la mujer ídolo, la Circe que nunca hubieras encontrado, ¡oh poeta poseído de anhelos devoradores y de fastuosas quimeras!“ (Tablada 1992: 46). 56 So hat beispielsweise Irving Leonard nachgewiesen, dass die Kolonisten NeuSpaniens im 16. und 17. Jh. einen für die Buchdrucker interessanten Absatzmarkt bildeten. Frachtregister für die Bücherausfuhr belegen, dass die Lesepräferenz der Spanier in den Kolonien mit denen auf der Halbinsel übereinstimmt, dass also Neuerscheinungen (insbesondere Ritter- und Schäferromane, aber auch Ausnahmewerke wie Don Quixote) nach Übersee verschifft wurden – und zwar umgehend (Leonard 1992: 97-101). Ein anderes Beispiel: Kurz nach dem Erscheinen des ersten Feuilletonromans in Frankreich 1836 wurden dessen Übersetzungen schon in Rio de Janeiro gedruckt (Meyer 1996: 283; Tinhorão 1994: 27).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Distanzen auflöst und diesen Ausgeschlossenen die überbordende Fülle des „ganzen Lebens“ nahe legt? Die Medientechnik fungiert in diesem Kontext als doppelter Fetisch, denn sie erzeugt und verdeckt nicht nur den Mangel des Signifikanten, den die Zuschauer subjektwirksam imaginieren sondern zeugt gleichzeitig von Modernität, wo diese vorenthalten wird. Bestenfalls zu erahnen ist das durch postkoloniale Entbehrungen potenzierte Subjektbegehren und seine Aufstachelung des Imaginären in der Kinowahrnehmung. Dieser Kino-Blick zeichnet sich in der Kinobegeisterung der mexikanischen Gesellschaft ab, für die der Film 1912, wie Carlos González Peña skeptisch beobachtet, zu einem „Bedarfsartikel allerersten Ranges“ wurde, zumindest im Bereich der Unterhaltung. „Was ich aber nie sah, noch jemals sehen werde, so lange ich lebe, ist ein völlig leerer Kinematografensaal.“57 Bestes Indiz für den anhaltenden amour du cinéma ist der Boom der mexikanischen Kinoindustrie ab den dreißiger und bis in die fünfziger Jahre. Offenkundig war jedoch die Kinomanie in der ersten Hälfte des 20. Jh. kein speziell mexikanisches Phänomen. Bemerkenswert ist dennoch, dass sie sich mit ab Ende der zwanziger Jahren mit der Einführung des Tonfilms bzw. auf der Grundlage der Nationalsprache ein nationales Kino etablierte, dessen Publikum sich nicht mehr auf die bessere Gesellschaft beschränkte. An der Popularität der kinematografischen Fantasiemexikos lässt sich die Intensität des Blicks ablesen, den es nicht kümmert, dass dieses Mexiko keine Abbildung des Mexikos ist, das die Zuschauer kennen, sondern eine „realere Realität“, wie Monsiváis anmerkt. Der Blick verwandelt das Lichtspiel in einen Wunschspiegel, der nicht zeigt, „was ist, sondern was sein soll.“ Im Film erblicken die die Ausgeschlossenen ein fantasmagorisches Mehr-als-wir-Wir: So sollen wir uns vergnügen, singen, weinen, die Jungfrau anbeten wie vor der Kamera, uns in der Heiligkeit der Familie zusammenfinden, uneins sein, uns verlieben, in die Bar gehen, bei den Serenaden die Augen nur halb öffnen, im Tanzsalon tanzen, beim Flirt lächeln. Für die Seinen ist das mexikanische Kino im Grunde die Ideale Gegenwart, die Utopie, die ihren Namen aus Faulheit oder Bescheidenheit oder plötzlichem Vergessen nicht sagt.58

Der Blick macht den Reiz des Kinos aus, nicht das Gesehene. Die Anziehung wird entfacht nicht vom Realen sondern vom Imaginären. Das technische Sehen ist halluzinativ, in ihm vermengen sich Wunsch und Wahrnehmung. Es ist lustvoll, denn es erlaubt halluzinatorische Befriedigungen und lässt das Wahrgenommene als Ergebnis wunschgetriebener Vorstellungen erscheinen (Baudry 1975: 70). Darum geht es im Kino prinzipiell nicht um Realität sondern um etwas Realeres als Realität, das den Primat des Realen in der Wahrnehmung eindämmt. Der Apparat stellt nicht Wirklichkeit zur Schau sondern 57 „Pero lo que no he visto, ni veré, acaso, en mis días, es un salón de cinematógrafo absolutamente desierto“ (González Peña 1992: 62). 58 „Así debemos divertirnos, cantar, llorar, rezar ante la Virgen como ante la cámara, reunirnos en la santidad de la familia, discrepar, apasionarnos, ir a la cantina, entornar la mirada en las serenatas, bailar en el dancing, sonreír en el ligue. Para los suyos, el cine mexicano es básicamente el Presente Ideal, la utopía que no dice su nombre por flojera o modestia o súbito olvido“ (Monsiváis 1994c: 68).

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Tele-ImagiNation

deren Transfiguration (Monsiváis 1994c: 67-68). Mit anderen Worten: In den Subjekt-Wirkungen liegt die Bannkraft des apparativen Sehens. Es ist deswegen jedoch nicht subjektschädigend oder wirklichkeitsverfälschend, denn das mediale Dispositiv beruht just, wie oben ausgeführt, auf der Subjektschwäche des Menschen. Der menschlichen Wahrnehmung geht immer schon der Blick voraus, der das Sehen stellt (Lacan 1978b: 78-79), und in dem das Subjekt seine Mangelhaftigkeit imaginär zu umgehen trachtet (Tholen 2002: 88). Deshalb stört es die Zuschauer nicht zwangsläufig, dass sich das FilmMexiko als ein Mexiko aufdrängt, das nicht ihres ist, dass es ein WunschMexiko ist, das nicht unbedingt ihren Wünschen entspricht. Im Kino-Blick überblenden sich das Ideal-Mexiko der Kino-Industrie und die Wunschvorstellungen der Zuschauer und bilden ein halluzinatives Mehr-als-Mexiko. Angestachelt wird der Mexiko-Blick von permanenten National-Appellen, die in den Aufforderungen zu Sekundäridentifikationen vom Wir-Begehren der Zuschauer zehren. Dieses Blickregime etabliert sich unter dem melodramatischen Sturm von Affektreizungen. Es unterzieht die Zuschauer einer identitätsstiftenden „educación sentimental“ (Monsiváis 1994c: 88), denn das Melodrama übersetzt die Moderne in Affektzustände von Leid und Erlösung, die am Gerechtigkeitsschwund in den postkolonialen Gesellschaften ansetzen. Jeder Film verleiht dem Guten, dem Bösen, dem Schmerz, dem Unglück und dem Glück eine nationale Verkörperung. Mexikanisch ist, das lehren die Filme auf symbolischer Ebene, das echte, tiefe, wahrhaftige Leiden, das postsakrale Kompensationen erwarten kann (und doppelte Anstrengungen des Ausdrucks verlangt). Insofern sind die Filmfiguren archetypisch in ihren Affektzuständen. Die educación sentimental lehrt: Das Archetypische im Affekt ist zugleich mexikanisch und modern. Es erhebt sich aus dem Ereignis der Affektwallung und Blickreizung und vergewissert sich im nahenden, sakralisierenden Ende.

10.2.2 D IE

TELEVISIONÄRE

S CHLÜSSELLOCH -N ATION

Das Kino war jedoch immer ein urbanes Phänomen: „Bewohner der Städte zu sein und nicht samstags und sonntags ins Kino zu gehen, heißt, sich nicht mental vom idealen rancho fortzubewegen.“59 Auch, wenn das Kino bald die Provinzstädte eroberte, so erfasste erst das Fernsehen nicht nur die Städte sondern auch das Land. Auch konnte sich der kinematografische MexikoAppell nur temporär durchsetzen, also ab Anfang der dreißiger bis Mitte der fünfziger Jahre. Dem brasilianischen Kino gelang es im Kontrast zum mexikanischen nie, sich auch nur zeitweise zu stabilisieren. In Mexiko verdrängt das Fernsehen den kinematografischen Mexiko-Blick, in Brasilien konnte nur das Fernsehen einen dauerhaften Brasilien-Blick eröffnen.

59 „Ser habitante de las ciudades y no ir al cine sábados y domingos es no moverse mentalmente del rancho ideal“ (Monsiváis 1994c: 62).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

Erst der Fernsehbildschirm leuchtet daher flächendeckend und dauerhaft die analphabetische Dunkelheit aus.60 Aus diesem Grund markiert das Medium eine kulturelle Zäsur, die den Damm der Moderne gegen das Meer des Fremden unwiderruflich zum Einsturz bringt und die audiovisuelle Alphabetisierung zur primordialen kulturellen Tatsache macht. Die televisionäre Alphabetisierung ist eine ganz andere als die ‚kinematografische‘, die sie nachahmt und verdrängt. Ein neues Blickregime errichtet sich und stellt ein neues Mexiko bzw. ein neues Brasilien zur Schau – mit einem eigentümlich medialen Wirklichkeitsstatus. Der kinematografische Mexiko-Blick ist eine kaskadische Leidexzitation, die nach spätestens 120 Minuten Anspruch auf eine kathartische Erlösung erheben kann. Die Affekte, die die Zuschauer anfallen, kleiden sich mit den Versatzstücken des Archetypischen (das Lied, der Blick, die Haltung, die Sprechweise usw.), denn sie sind Vorboten des Postsakralen, das es kurz vor dem Abspann doch noch auf die Leinwand schafft. Die Dunkelheit des Kinosaals liefert die Zuschauer der Leinwandspiegelung aus. Sie müssen sich dem Widerschein des Projektionsstrahls stellen und können sich ihm nur durch drastische Maßnahmen (Schließen der Augen) verweigern. Die Öffentlichkeit macht die Schau zu einem kollektiven aber auch disziplinierenden Spektakel. Nichts davon trifft auf das Fernseh-Dispositiv zu. Die TV-Katharsis nimmt sich zehn Monate Zeit. Der Film ist Katharsis – die Telenovela ist deren Verweigerung.61 Als Trost für den Läuterungsentzug spendet das Genre den Zuschauern kathartische Sequenzen, die, tagelang angekündigt, wenn sie tatsächlich auf den Bildschirm kommen, spätestens nach zehn Minuten von der Werbung unterbrochen werden. Die Telenovela schiebt die Erlösung 189 bzw. 198 Kapitel lang auf. Ohne das Versprechen auf ein Ende des Leids könnte sie jedoch nicht sein – und wäre eine soap opera. Mit dem Aufschub der Katharsis verlagert das Genre die Auflösung des Leids in die Vorstellungswelt der Zuschauer. Die einzige Erlösung von den Leid-Appellen eines Kapitels finden die Zuschauer in der Unterbrechung am Kapitelende. Die Telenovela lässt die Zuschauer mit ihrem erregten Mit-Leid und dem Gattungsversprechen der post-sakralen End-Erlösung allein zu Hause zurück. Sie zielt darauf, ihre Zuschauer mit der Bewältigung des Leids zu beschäftigen – wenn sie nicht zu sehen ist. Die Absicht der Gattung ist, den Zwischen-Raum ihres offs zu besiedeln, und die Zuschauer zur werktäglichen Aufnahme weiterer Affektreize zu zwingen (wie geht es weiter?), mit dessen Auseinander-

60 Offenkundig ist dies eine idealisierte Betrachtungsweise, wie auch der gebannte Kino-Blick eine vielzitierte Idealisierung ist (Paech 2003: 184). Monsiváis, der einzige, der sich nicht nur für die Filme des cine mexicano interessiert sondern auch für sein Publikum, bringt auf den Punkt, wie sich dieses im Kinosaal verhielt: „Der Pöbel – da ihm alles vorenthalten wird – versagt sich nichts“ („El vulgo – una vez despojado de todo – no se priva de nada“ [Monsiváis 1994c: 60]). Das TV-Ausleuchten Brasiliens beispielsweise zieht sich über vier Jahrzehnte hin. Der Schock der Bildschirmblendung ereignet sich daher nicht schlagartig sondern nach und nach. 61 Die Telenovela ersetzt, so Monsiváis, die filmische Katharsis durch Tratsch und bringt die „ideale Struktur“ des Melodramas zum Einsturz, in der „das Glück des Unglücks alles war“: „[...]el chisme sustituye literalmente a la catarsis y se desintegra la estructura ideal donde la dicha de la desdicha lo era todo“ (Monsiváis o.D.).

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Tele-ImagiNation

setzung sie die Ödnis der Auszeit (das sogenannte Leben der Zuschauer) füllen. Als horizontales Programmgenre, das keine (auch finanziell) aufwendigen Rezeptionshandlungen erfordert, lauert die Telenovela den Zuschauern jeden (Werk-)Tag in ihrer Privatsphäre auf. Sie nistet sich dauerhaft im Zuhause der Zuschauer ein als eine der häuslichen Praktiken, die um Aufmerksamkeit konkurrieren. Das macht sie zwangsläufig zu einem NebenbeiGenre, das nicht den Aufmerksamkeitsgrad des filmischen Melodramas erwarten kann. Ihre Privatrezeption kann nicht wie die Kinoschau auf die disziplinierende Wirkung der Öffentlichkeit rechnen. Die Telenovela-Zuschauer stehen auf, gehen ans Telefon, holen sich etwas zu trinken usw., und das Genre plappert ihnen mit seinen talking heads hinterher. Wenn es schon den Blick nicht halten kann, den ihre zerstückelte Erzählform fragmentiert, den die Umgebung ständig ablenkt, und in welcher jener leicht vom Bildschirmrand abrutscht, dann versucht es wenigstens, die Hoheit über dem Geräuschpegel zu halten (ist sowieso auch billiger). Außerdem gibt es den Senderkiller, genannt Fernsteuerung, der per Knopfdruck mit dem aufregendsten Kapitel Schluss machen kann. Schlimmer noch ist der Ausknopf, der dem ganzen Geflimmere ein Ende bereiten kann (was allerdings vor Ablauf von drei bis vier Stunden statistisch völlig unwahrscheinlich ist). Auch hat die Telenovela keinen eigenen Schauraum, der allein vom Wiederschein des übergroßen Breitbildes beleuchtet wird, sondern strahlt (im besten Falle) von einem Möbelstück mitten in der guten Stube aus. Aber das ist ihre Stärke: Das Medium platziert die Gattung ins Herz der Privatsphäre der Menschen. Von hier aus versucht sie, sich die Gewohnheiten untertan zu machen, die diese Privatsphäre bestimmen. Sie strebt danach, die Menschen in diesem Raum in Zuschauer zu verwandeln. Dabei war sie immer sehr erfolgreich – das macht sie zum kulturwissenschaftlichen Problem – obgleich der Blick, den sie generiert, zerstreut (nicht nur zerstreuend) ist: Manche spielen, es wurde erwähnt, sogar ein Musikinstrument, während sie sie schauen. Der (radikale) Mangel an Alternativen, ihre permanente Lauerstellung im Zuhause und die Bequemlichkeit der Menschen (Knopfdruck genügt) sind Faktoren, die dem Programm-Medium (und dem Kontext der Unterentwicklung) zugeschrieben werden können. Ein Programm-Medium ist jedoch auch das Radio. Die Serialisierung des Melodramas und der Übergriff der Fortsetzungserzählung auf die Zwischen-Zeit der Erzählunterbrechung wurden schon erwähnt. Die so erzeugte Spannung und Erwartung in Bezug auf den Fortgang der Erzählung sind sicherlich entscheidend für die Bannkraft des Genres. Diese Bannkraft ist Werk des Erzählens und entsteht daher ebenso im Zusammenhang mit anderen Gattungen wie dem Feuilletonroman und der Radionovela. Da jedoch die Telenovela die Radionovela geradezu verdrängt hat, ist die Frage nach dem Differenzcharakter der Telenovela noch nicht geklärt. Was die Telenovela von anderen seriellen Melodramen unterscheidet, ist ihre mediale Performanz. Sie errichtet ein eigenes Blickregime. Dieses beruht auf dem voyeuristischen Dispositiv des Mediums. Die Gattung konfiguriert ein Schlüsselloch und erzeugt einen eigentümlichen Spähblick. Als ein „Fenster zur Welt“ präsentiert sich das Medium seit seiner Einführung (Elsner/Müller 1998: 396). Es ist eher ein Guckloch, das dem Betrachter Einblick in das gewährt, wovon es ihn ausschließt. Die Telenovela ist ein Schlüssel349

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loch zur fernen Nation, ein Guckfenster in das abgeriegelte Brasilville, ein Schlitz, der die verbotenen und süßen Früchte des Reichtums zu sehen gibt.62 Wie das Kino simuliert das Fernsehen nicht die Welt sondern ihre Darstellung und verweist nicht nur auf ein abwesendes Signifikat sondern entzieht zugleich den Signifikanten. So macht es das Dargestellte „unendlich begehrenswert“ (Metz 1975: 43). Fern-Sehen hat an sich etwas Voyeuristisches, da sich eine trennend-verbindende Distanz – der Blick – zwischen dem Sehenden und Gesehenen aufbaut und sich der Schautrieb entfacht. Im Gegensatz zum Film bringt die Telenovela die Nation direkt in das Zuhause der Zuschauer. Auf diese Weise schafft sie eine paradoxe Fernanwesenheit, die die Nation näher-als-nah bringt, denn die Nähe des Bildschirmbildes verdeckt und offenbart zugleich die Distanz der Nation. Diese erscheint als Schlüsselloch-Nation, die sich im Blick durch den TV-Kasten zu erkennen gibt. Die Nation exhibiert sich nur dem Zu-Schauer. Sie gibt sich ihm, und sie entzieht sich ihm, ist anwesend und fern. Im libidinösen Fernseh-Blick entzünden sich zugleich die voyeuristische Lust am Sehen wie das Begehren, über die telepräsentierten Objekte verfügen zu können (vgl. Tholen 2002: 156). Getrieben vom Wir-Mangel der postkolonialen Gesellschaft spiegeln sich die Zuschauer imaginär im elektronischen Schaukasten. In dem Maße, wie die Unterentwicklung die Nation anhaltend verneint, wuchert die Tele-ImagiNation. Was ist das für eine Tele-Nation, die sich hier zur Schau stellt? Es ist eine Nation der Opulenz. Eine Üppigkeit nationaler Affekte ergießt sich über den Bildschirm in die Mangelwelt der Ausgeschlossenen. Wahre Liebe, wahrer Schmerz, wahres Leid, wahres Glück suchen die Menschen heim. Echterals-echt sind diese Gefühlszustände, nicht gehemmt durch ein Subjekt, das nicht zu sich gelangt. Televisa lehnt sich hierbei, als sei in der Zwischenzeit nicht ein halbes Jahrhundert vergangen, und als sei sein Geschäft nicht ein anderes Medium sowie ein anderes Genre, an die Suggestionskraft der filmischen Katharsis an. Der Sender lässt seine Figuren in der televisuellen Vorzeit der Archetypik und des Schwarz-weiß-Gegensatzes zwischen arm und reich stehen. Was jedoch in 120 Minuten wirkt, entblößt sich in (über) 120 Kapiteln als Pose, die schauspielerisches Untalent nicht zu kaschieren vermag (aber was soll’s, außer gringadas läuft ja sonst nichts). TV Globo scheint dies gemerkt zu haben, holt die Figuren aus der Urzeit des Melodramas und verankert sie in den sozio-topografischen Eigentümlichkeiten der Jetzt-Zeit. Eine Nation der Subjekte, die wissen, was sie wollen, die wissen, was und wen sie wirklich lieben, die genau wissen, was und wer ihr Leid verursacht, die ihre Autonomie letzten Endes bewahren, weil ihre Affekte über jeden Zweifel erhaben sind, die im Sturm der Ungerechtigkeiten aufrecht stehen, eine solche Nation strahlt in das Meer derjenigen, die von der Last der historischen Entbehrungen niedergedrückt werden. Zugleich ist dies eine Nation des Einblicks in das Private und geradezu Alltägliche der Affekte – keine kinematografischen Nation des Anblicks des zeitlos Archetypischen. Ein Strom der privaten Üppigkeit ergießt sich durch das absperrendeaufsperrende Schlüsselloch noch in den ärmsten Haushalt, der eher auf den Kühlschrank verzichtet als auf den Guckkasten und sein unmögliches Ver62 „Der Zuschauer will durch das Schlüsselloch der Plots hindurchspähen, sich außerhalb der Orte wähnen, an denen er immer ist“ („El televidente quiere espiar por el ojo de la cerradura de las tramas, sentirse fuera de sus lugares de siempre“) (Monsiváis o.D.).

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Tele-ImagiNation

sprechen: ‚Sieh dich satt! Wenn du heute nicht satt wirst, dann sieh morgen weiter, dann übermorgen, dann überübermorgen, dann immer!‘ Dieser Bildüberfluss des nationalen Intimzentrums erreicht auch die entlegensten Ausläufer des Territoriums am Rio Negro oder in der Selva Lacandona. Die Bewohner der vielen Peripherien sehen sich nicht auf der Mattscheibe, aber sie dürfen medial dabei sein.63 Es ist insbesondere TV Globos Opulenz der Opulenz, schöne Bilder einer schönen Welt, im Blick derer sich die Tele-ImagiNation ereignet. Exzitiert von der unnahbaren Nähe der Fülle und des „idealen Lebens“ imaginieren die Zuschauer den von National-Appellen besetzten Bildschirm als Spiegel und erblicken ein Mehr-als-Brasilien. Ein Sperrzonen-Brasilien tut sich auf, das die lästige Unterentwicklung ausblendet – und doch von ihr zehrt. Televisão de cachorro, Hundefernsehen, ist eine idiomatische Wendung für den apparativen Hähnchengrill, der hinter einer Scheibe zu sehen gibt, wie sich die Hähnchen in der Ofenhitze am Spieß drehen. Der Ausdruck macht deutlich, wie das Fernsehen in Brasilien verstanden wird: als Verheißung einer Sättigung, die dem hungrigen Betrachter das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, und deren Verwirklichung ihm immer vorenthalten bleibt, denn Hunde bekommen keine Brathähnchen. So sieht auch das Ich fern, das der gleichnamige Song („Televisão de cachorro“, 1998) der Rockgruppe Pato Fu erzählt: „Was noch und was Leckereres ist da zu sehen / Das reizt meinen Gaumen immer mehr.“64 Jede Neuheit, die gesendet wird, erblickt dieses Ich wie der Hund den Fetttropfen, der sich vom Hähnchen ablöst.65 Das Ich lässt alles stehen und liegen, um nur zu schauen: Denn was da drin ist Ist alles, was ich was ich haben möchte Denn was da drin ist Ist alles, was ich nicht sein kann66

Das Ich vertut seine Zeit damit, sich nach dem zu sehnen, worauf es blickt, und übersieht, dass dieses Hähnchen nicht für seinen Verzehr bestimmt ist.67 Ein richtiger Esel aber ist sein Hund, denn der erkennt im Fernsehen gar nichts und verpasst die großartige Hühnchenwerbung.68 Schlüsselloch-Nation bedeutet jedoch auch: Die nationale Gemeinschaft, das Öffentliche, wird radikal privatisiert. Die Nation ist das Private, das man 63 Zum „medialen Dabei-Sein“ des Fernsehens siehe Elsner/Müller (1998: 399). 64 „Que mais e mais saboroso de se ver / Aguça cada vez mais meu paladar“ (Pato Fu 1998). 65 „E quando uma gotinha de óleo cai / Como uma novidade que entra no ar“ (Pato Fu 1998). 66 „Porque o que está lá dentro / É tudo o qu eu quero ter / Porque o que está lá dentro / É tudo o que eu não posso ser“ (Pato Fu 1998). 67 „Eu perco horas babando sem saber / Que se o galo morreu não foi por mim“ (Pato Fu 1998). 68 „Aber mein Hund sieht nichts im Fernsehen / Und da sehe ich, was das Tier für ein Esel ist / Der flache Bildschirm lässt ihn nicht / Die tolle Hühnchenwerbung erkennen“ („Mas meu cachorro nada vê na TV / E é aí que eu vejo o burro que o bicho é / A tela plana não deixa ele perceber / A propaganda bacana de frango“) (Pato Fu 1998).

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im Guckkasten erspäht. Das Öffentliche, das Politische sind äußerliche Randerscheinungen. Die Nation ist ein Innenraum der Affekte. Ein doppeltes Sperrzonen-Brasilien imaginieren die Zuschauer folglich: Neben dem abgeriegelten Erste-Welt-Brasilien erhalten sie Einblick in ein Privat-Brasilien, das unautorisierte Blicke verwehrt und gleichzeitig über das Schlüsselloch erlaubt. Dies ist ein Brasilien der Intimsphäre, in dem die Gefühle geborgen und gezeigt werden. Hier weinen die Reichen und die Schönen, und alles ist über das Schlüsselloch zu sehen. Audiovisuelle Alphabetisierung, mit anderen Worten, lehrt: In den nationalen Innenraum kann sich jeder hineinfühlen. Die Telenovela ist mehr als ein Schlüsselloch: Sie ist ein Schlupfloch in das Sperrgebiet der besseren Gesellschaft, der schönen Menschen, der aufrichtigen Affekte, des Wir-Ideals. Das Blickregime der Gattung eröffnet den Ein-Blick in die Welt der Anderen, die alles im Überfluss haben und trotzdem heulen. Es erschließt aber auch einen Eingang in dieses andere Wir. Das Schlüsselloch wird jeden Abend aufgemacht, von Rede Globo pünktlich um 17 Uhr, um 18 Uhr, um 19 Uhr und um 21 Uhr und von Televisa ebenso pünktlich um 17 Uhr, um 18 Uhr, um 19 Uhr, um 20:30 Uhr und um 21:30 Uhr. Nach 60 Minuten wird es jeweils ebenso pünktlich wieder geschlossen (bzw. ein neues geöffnet). Aber die Zuschauer wissen, dass das Schlüsselloch am nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder offen steht. Die Tele-Nation kommt den Zuschauern nicht nur nahe, sie kommt ihnen jeden Abend nahe. Sie brauchen nicht jedes Mal so genau hinzusehen, denn morgen ist ja auch noch ein Tag, und nichts, das wirklich wichtig wäre, wird nicht im Vorfeld und im Nachhinein x-Mal von den Figuren besprochen. Der Hunger nach der wirklicheren Wirklichkeit wird häppchenweise angefacht, aber er wirkt in der Mit-Erzählung während der Auszeit der Sendung weiter. Die Tele-Nation wandert, wie schon angedeutet, in die Vorstellungswelt der Zuschauer aus und fordert, damit sie dort bleiben kann, allabendliche Fortsetzungssplitter. Diese stechen in den Affekthaushalt der Zuschauer, dessen Wallung per Erzählstopp nicht abschwillt. Denn was die Welt der Telenovela bewegt, ist das Leid, in dem das Brasilville TV Globos und das Pappmexiko Televisas mit ‚dem dunklen Meer da draußen‘ ineinander übergehen, denn Eintrittskarte in diese Nationen ist das Leid, und diese Eintrittskarte bringen alle Zuschauer mit. Ob am Klassenhass, am Rassismus, am Unglück (z.B. Autounfall), an der sexuellen Umorientierung des Ehepartners oder am melodrama-a-lamexicana: In der Telenovela leidet man. Wer aufgrund seiner ethnischen Abstammung in seinem Leid nicht aufgezählt wird oder bestenfalls am Rande erscheint, der darf sein Leid metaphorisch als Leid der sozialen Ausgrenzung einbringen. Der Leid-Effekt der Telenovela endet nicht, wenn das Kapitel zu Ende ist, denn fast immer schließt es mit dem Triumph des Bösen und der Hoffnung auf Erlösung. Über das fortgesetzte Mit-Leiden der Zuschauer schleicht sich die Telenovela in das Leben der Zuschauer und verwandelt es in ein Warteintervall bis zur nächsten Folge. Die Schau der Gattung habitualisiert sich, und die Zuschauer schlüpfen nach und nach affektiv sowie imaginativ in die Telenovela-Welt. Die Gattung wird zur Nebenbei-Welt. Das werktägliche Kapitel dient dem Affektnachschub für das Mit-Leben im Reich der großen Gefühle. Aus dem televisionären „Phantasma des vergleichzeitigenden, raumüberwindenden Mit-DabeiSeins“ (Tholen 2002: 155) wird ein fantasmatisches Mit-Dabei-Leben. Das mediale Zeitgitter des Programms stülpt sich über die – ehemals – freie Zeit 352

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des Feierabends, in der nun Tele-Affekte zu imaginieren sind. Die TeleImagiNation des Genres ist in ihrer Wiederkehr ein Dauerzustand. Je mehr Figuren und Schauplätze die Telenovela aufbietet, desto komplexer die Nebenbei-Welt und desto stärker der Versuch, die Lebenswelt der Zuschauer zumindest strukturell in ihrer Vielschichtigkeit einzuholen und sie zugleich in ihrem Design zurückzulassen. Je weniger Figuren, desto heftiger der AffektAppell. Die imaginative Auswanderung in die Telenovela wird zudem durch Annäherung der Erzählzeit an die erzählte Zeit erleichtert. Lebenszeit und Telenovela-Zeit nähern sich an, und die Nebenbei-Welt wird zu einer Simultan-Welt. Logistische Unterstützung erhält die Telenovela-Welt von der transmedialen cross promotion der jeweiligen Serien in den Zeitungen, in Fernseh- bzw. Telenovela-Zeitschriften, im Radio und nicht zuletzt in anderen Gattungen des Fernsehens, den Nachrichten etwa.69 Das Ziel der Gattung ist eine imaginative Parallelgesellschaft. Insbesondere die realistische Telenovela versucht, mit gezielten Einverleibungen der „realen“ Welt die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu durchbrechen. Zentrales Mittel hierzu sind die Stars, in denen sich der reale Schauspieler oder die Schauspielerin mit der Rolle vermengen. Ein bereits erwähntes Beispiel ist das reale Mutter-Tochter-Verhältnis der Schauspielerinnen von Helena und Eduarda (Regina und Gabriela Duarte). Nicht nur ‚echt‘ soll dadurch die schauspielerische Leistung wirken. Wichtiger noch ist das Wissen der Zuschauer, dass hier Mutter und Tochter Mutter und Tochter spielen, ihre Bezugspunkte durcheinander geraten, und sie nicht mehr klar unterscheiden können, ob nun Regina oder Helena, Eduarda oder Gabriela sprechen (War jener Blick nicht echt? War jener Tonfall nicht authentisch? Waren das nicht eben wirklich Mutter und Tochter?). Andere Elemente sollen den Trennwall zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion einreißen und das Hinübergleiten in die parallele Plotwelt erleichtern: Die Aktualitätsmarker, die das „offene“ Drehbuch in die Erzählung einzupflanzen sich bemüht (z.B. die Figuren-Debatten über gegenwärtige Gesetzesvorhaben in der ‚realen‘ Welt) simulieren die Gleich-Zeit von Erzählter Zeit, Erzählzeit und Schauzeit. Wenn im ‚echten‘ Leben Ostern ist, dann springt im Plotleben das Osterhäschen. Deshalb ist der Illusionismus der Gattung so wichtig, er bildet mit der Vorstellung, dies sei eine Welt, in die man eintreten könne, die Grundlage für das Hinüberwechseln in jene Welt, die so komplex wie die eigene Welt ist, in der ebenso wenig passiert, und die auch rein privat ist. Zulassungsbedingung ist der Affekt, er stellt die Beziehungen zu den Bewohnern, den Figuren her. Der Übergang ist fließend: vom Wohnzimmer zum Wohnzimmer. Nur schöner ist die andere Welt.

69 Von den Zuschauern, die Klindworth in Colima befragte, gaben 55,1% an, mindestens eine Zusatzzeitschrift zu lesen (meist die allgemeine TV-Zeitschrift Tele-Guía), 28,1% der Befragten lesen Tele-Guía und TV y novelas (Klindworth 1995a: 333). Adolpho Queiroz bezeichnet die Presse als „Instrument zur Legitimierung des Fernsehens“ bzw. als „Fernsehen aus Papier“ (Queiroz 1992).

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

10.2.3 V ON

DER

L EITGATTUNG

ZUR

L EIDGATTUNG

Wiewohl sich das Genre als Flucht-Welt aus dem Leben der Zuschauer anbietet und von manchen als solche genutzt werden mag, es ersetzt die „Wirklichkeit“ der Zuschauer nicht durch eine künstliche Welt. Die Telenovela ist eine Begleit-Welt, die erst nach Serienende vom Zuschauer abfällt. Sie verschanzt sich nicht nur im Tagesablauf der Zuschauer sondern verklammert sich in deren Gedanken, Affekten und Begehren, auch wenn sie nicht auf Sendung ist. Die Gattung begleitet die Zuschauer, wie diese auch die Figuren bei ihrem Weg zum Glück begleiten (auf der kurzen Zielgeraden verlaufen sich aber die Zuschauer). Dennoch spielt sie sich nebenbei ab, wie eingangs angemerkt. Die Gattung ist Teil der häuslichen Routine und Beschäftigung neben anderen. Diese überlagert sie mal mehr, mal weniger, da die Telenovela als Gattung selbstredend in Einzelserien stattfindet, die vertikal und horizontal hintereinander gesendet werden. Die Serien ziehen die Zuschauer mehr oder weniger stark in Bann. Die obige Argumentation konstruiert offenkundig eine idealtypische Telenovela. Sie geht davon aus, dass die Gattung – wie keine andere – das Potential besitzt, das Land anzuhalten und die Menschen während ihrer Sendezeiten aus ihren Tätigkeiten herauszusaugen. Dieses Potential ist brasilianisch und wurde insbesondere von den Serien Janete Clairs mit ihren honeckeresken Einschaltquoten (bis zu 100%) in den siebziger Jahren ausgespielt. Die Telenovela zerrte im Fußball-Land Brasilien mehr Menschen vor den Fernseher als die Fußballweltmeisterschaft (Xexéo 1996: 72-75). Nach Janete Clairs Tod 1983 begleiteten Tausende trauernder Menschen den Sarg der Autorin zum Friedhof (121). Geradezu „legendär“ ist die Ausstrahlung Roque Santeiros von Dias Gomes, in der der Autor, wie schon erwähnt, sein Theaterstück O berço do herói auf das Fernsehen übertrug. 1975 wurde die Serie von den Militärs verboten, 1985 nach deren Abdanken wurde sie schließlich doch gesendet und als Auftakt der „Neuen Republik“ gefeiert (Gomes 1998: 37). Sie ist das berühmteste Beispiel der Gattung als mania nacional. Auch sie kam punktuell an die 100%-Grenze heran und wurde durchschnittlich von 43,2 Millionen Menschen gesehen, einem Drittel der Gesamtbevölkerung. Das heißt, „alle“ sahen diese Telenovela: der damalige Präsident der Republik, José Sarney, der den Schauspieler Paulo Gracindo anrief, um ihn seiner schauspielerischen Leistung zu beglückwünschen, der fortschrittliche Erzbischof von São Paulo, dom Paulo Evaristo Arns, dessen Mitarbeiterin Schwester Lourdes ihm erzählen musste, was passiert war, wenn er ein Kapitel verpasste, und sogar der – bereits zitierte – marxistische Historiker Nélson Werneck Sodré, der sich mit seiner Familie vor den Bildschirm setzte, wenn die Serie lief. So zumindest berichtete die politische Wochenzeitschrift Isto É (Castelo/Ajoz 1985). Theater, Kino und Restaurants mussten sich dem „Phänomen Roque Santeiro“ beugen – eine „nationale Hysterie“ (Gomes 1998: 38). Beispiele wie diese begründen den nationalen Mythos der Gattung, an die sie in der Gegenwart nicht mehr ganz heranreicht, wenn auch Quoten von bis zu 80% (wie im Fall von Laços de amor im Jahr 2001 [Lima/Camacho 2001: 87]) immer noch möglich, aber die Ausnahme sind. Die Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Gattung Leitgattung ist, weil kein anderes kulturelles Arte354

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fakt so weit in das Land (bis in den Regenwald) hineinreicht. Dabei diktiert sie Gesprächsthemen und Moden (die nach dem allerletzten Kapitel so alt sind wie die vergangene Telenovela), so etwa den Gebrauch von Italianismen, der von Terra nostra (1999-2000) und ihrer Darstellung der italienischen Einwanderung ausging. Sogar die spanische Zeitung El país berichtete darüber, dass unter dem Eindruck dieser Serie – egal ob auf der Straße, im Parlament oder in Anwaltskanzleien – Ausdrücke wie ecco oder è vero zu hören seien. Terra nostra hat nicht nur den Produzenten italienischer Teigwaren einen Boom beschert sondern auch den Sprachschulen, die Italienisch anbieten (Arias 1999). Contardo Calligaris räumt anlässlich dieser Serie ein, dass die Telenovelas „nicht nur in das Alltagsgespräch eindringen“ sondern auch „Affekte, Glaubensgrundsätze und Meinungen mobilisieren.“ Sie „bereichern oder erfinden sogar unsere Popularkultur“ (Calligaris 2000). Die Telenovela spült Vor-Bilder in die Haushalte, die das Selbstverständnis normieren und Werte vorgeben. Audiovisuelle Alphabetisierung bedeutet daher: Es gab eine italienische Einwanderung nach São Paulo. Sie verlief melodramatisch bzw. war mit großen Gefühlen verbunden. Und jetzt ist es gerade schick, mit italienischen Ausdrücken um sich zu werfen. Trotz allem bringt die Telenovela die Gesellschaft nicht zwangsläufig zum „Stillstand“ und versetzt sie nicht permanent in den Ausnahmezustand. Aber auch wenn es (annähernd) zu diesem Ausnahmefall kommt, ersetzt die Telenovela nicht die „Wirklichkeit“ der Zuschauer, schon gar nicht der Bevölkerung. Sie ist bestenfalls eine Zweitwelt, die sich in das Wirklichkeitsmosaik der Zuschauer hineinbohrt. Zur apokalyptischen Verbannung der „Wirklichkeit“ durch die Telenovela-Fiktion kommt es nicht (als gäbe es eine nicht-imaginierte Wirklichkeit). Aber aus der Lebenswirklichkeit der Zuschauer ist die Telenovela nicht mehr auszutreiben – sie ist nach jahrzehntelanger Ausstrahlung angewachsen, und das ist schlimm genug.70 Die Telenovela hat sich als eine Wirklichkeit in der Lebenswelt der Zuschauer festgeschraubt. Was ist das für eine Wirklichkeit? Die Telenovela-Wirklichkeit geht über die Verwischung der Grenzen des Fiktiven und Realen auf einer diskursiven Ebene hinaus. Es handelt sich um ein „kollektives Imaginäres,“ das „weder bloß real noch bloß fiktiv“ ist (Tholen 2002: 151). Diese Wirklichkeit lässt sich als habitualisiertes Passieren zwischen der imaginären Schlüssellochwelt der Telenovela und der unmittelbaren Umgebungswirklichkeit der Zuschauer beschreiben. Hierbei ist neben dem Suspense-Effekt der Mit-Erzählung und den angedeuteten Subjekt-Wirkungen mit der Distanznahme zu den Serien durch den „Realitätsabgleich“ auch ein spielerisches Element bestimmend.

70 Mit der Metapher des angewachsenen Fernsehers machen Monika Elsner und Thomas Müller deutlich, dass es „kein Zurück mehr hinter das Fernsehen“ gibt, weil sich das Medium im Bewusstsein der Zuschauer festgesetzt und ein Monopol auf die Vermittlung eines Großteils sozialen Wissens errichtet hat. In der Folge lässt sich „der angewachsene Fernseher [...] kollektiv nicht mehr abschalten, ohne daß wir fürchten müssen, halb blind zu werden. Denn: heute gibt es Segmente von Wirklichkeit, die nur deshalb wirklich (und wahr) sind, weil sie auf dem Bildschirm des Fernsehers erscheinen. Die wirkliche Wirklichkeit findet im Fernsehen statt“ (Elsner/Müller 1998: 393, 413).

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Das Spielerische erscheint unverzichtbar. Das Hinüberwechseln in die Zweitwelt der Telenovela und ihr Verlassen mögen je nach Serie unterschiedlich ausfallen, sie finden jedoch tendenziell immer statt. Denn die Programmstruktur des Mediums erlaubt den Zuschauern keine Erholung von der Gattung. Endet eine Serie, beginnt nahtlos sofort die nächste. Die Serie hat eine finale Erzählstruktur, das Programmdispositiv der Gattung nicht. Als horizontale Programmschiene ist die Telenovela endlos. Daraus folgt, dass für die einzelnen Erzählungen zwar das glückliche Ende entscheidend ist. Das Programmdispositiv der Gattung hebt es jedoch umgehend wieder auf. Es dehnt die Krise des Konflikts, wie herausgearbeitet, auf knapp 90% der zehnmonatigen Erzählung. Das postsakrale Gute, der Triumph der Gerechtigkeit wird erst in der letzten Sendewoche zugelassen, genau genommen im allerletzten Kapitel. Das Postsakrale ist das Licht am Ende des Tunnels. Dieses Licht droht jedoch angesichts der Streckungen, Verästelungen und Irrführungen des Erzähltunnels schon in einer Einzelserie immer wieder auszugehen. In der Endlosschaltung einer Serie nach der anderen verkommt es zum kurzen Blinklicht im Dunklen des aufgeblähten Schmerzes. Ohne das glückliche Ende zerfleddert die Telenovela ihre höhere moralische Weltordnung. Das Medium zerschleißt das Melodrama und vertagt das wirkliche Postsakrale auf die Apokalypse der Gattung: ihre Absetzung vom Programm. Was bleibt, ist das Leid, das zwar eine kurze Atempause der Erlösung erwarten darf, aber anschließend mit der nächsten Serie sofort als Dauerzustand zurückkehrt.71 Aus der Leitgattung wird eine Leidgattung. Das Heil verkommt in der Endloserzählung zum Appendix. Das Medium zerredet die Moderne. Der nationale Diskurs verliert sich in seinen täglichen Zerstückelungen, die am Ende nur notdürftig zusammengepappt werden, um einen Tag später schon wieder in gut 200 Erzählstückchen zu zerfallen. Die Nation zerbröselt in alltägliche Affektfragmente und teilt sich als allabendliches Dilemma mit. Von der Modernisierung bleibt lediglich unaufhörliches Leiden übrig. Mit diesen Erfahrungen sind die Zuschauer bestens vertraut. Fachmännisch und fachfraulich gleichen sie Realität und Fiktion miteinander ab. Alltag und Fiktion überlappen sich: Die Telenovela versinkt im Alltag, der Alltag ahmt die Telenovela nach.

71 Die argentinischen Militärs beispielsweise zensierten die Telenovela während ihrer Diktatur, weil ihnen das Genre zu konfliktiv war und ihrer Ansicht nach gegen die „moralischen Prinzipien der Familie“ verstieß (gegen den Import von Gewalt inszenierenden Serien aus den USA hatten sie jedoch nichts) (Ulanovsky/Itkin/Sirvén 1999: 400).

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11. Schluss: Nicht classe média sondern classe mídia

11.1 TelenovelaTelenovela-Gemeinschaft Die gemeinschaftsstiftende Funktion der Telenovela vollzieht sich jenseits ihres Geplappers über die Nation. Schon das Familiendispositiv der Telenovela macht deutlich, dass die Gattung eine häusliche Rezeptionsgemeinschaft herausbildet. Die Mit-Erzählung während der Auszeit der Sendung erweitert die unmittelbare Rezeptionsgemeinschaft um Zuschauer außerhalb der Familie, mit denen über die Gattung diskutiert wird. Angesichts des Programm-Dispositivs der Telenovela drängt sich gar das Bild einer Leidensgemeinschaft der Zuschauer auf. Darüber hinaus wird die Telenovelaschau als „nationales“ Phänomen diskutiert. Eugênio Bucci beispielsweise bescheinigt dem Fernsehen, dass es Brasilien tatsächlich „affektiv verbrüdert“ habe, über alle Differenzen und Brüche hinweg. Somit habe die „nationale Integration“ der Militärs nicht auf der Ebene des »Volkes« sondern auf der des Publikums stattgefunden. In der „imaginären Integration“ findet sich das Land trotz seiner extremen sozialen Gegensätze vor dem Fernseher, wenn es Fußball, Telenovelas und anderes schaut. Im TV-Spektakel verbrüdert sich das Land. Das Brasilien außerhalb des Fernsehens entgleitet der öffentlichen Meinung und verschwindet (Bucci 1997: 16-17). Die These, Brasilien habe nur auf der Ebene des Imaginären zur „Integration“ gefunden, verkennt, dass jedes zentrierte Wir eine mediale Suggestion voraussetzt. Schon Anderson hat auf den medialen Aspekt der ImagiNation aufmerksam gemacht.1 Der Autor problematisiert dies jedoch nicht medientheoretisch sondern postmarxistisch, wenn er in der kapitalistischen Zirkulation des Buches innerhalb eines volkssprachlichen Marktes die Voraussetzungen erkennt, die Nation zu denken (Anderson 1983: 46). Die Nation erscheint hier jedoch als Publikum, insofern sie bei der Lektüre der Zeitung entsteht, bzw. in der Vorstellung der Zeitungsleser, dass etwa zur gleichen Zeit (nicht gestern, nicht morgen) die Zugehörigen zur Nation dieselbe Ausgabe lesen. Die Nation erwächst aus der vorgestellten Gemeinschaft gleichzeitig Lesender (39). Nationale Gemeinschaftlichkeit konkretisiert sich 1

Der Zusammenhang zwischen Nation und Medium (Buchdruck) ist jedoch nicht neu. Schon Flusser hatte, wie angedeutet, Anfang der siebziger Jahre auf ihn aufmerksam gemacht (Flusser Flusser 2000: 144). Er findet sich später auch bei Giesecke (2002: 254). Zur Medialität der ImagiNation siehe Michael (2008). Zur ImagiNation siehe auch Avellar (2004), Thies (2008) und Thies/Raab (2008).

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daher als imaginäre Erfahrung einer gemeinsamen Rezeptionstätigkeit. Eine eigentümliche Gemeinschaft – nicht ganz fiktiv, nicht ganz real – formiert sich derart auf der Grundlage gemeinsamer Mediennutzung: Diese Gemeinschaft findet in der Rezeption eine nicht ausschließlich fiktive Gemeinsamkeit, aber die kollektive Realität dieser Gemeinsamkeit wiederum ist Ergebnis medialer Suggestion. Die Rede vom nationalen Publikum der Telenovela meint folglich etwas, was als kollektive Spiegelung in der Telenovela-Spiegelung zu umschreiben wäre. Das Gemeinschaftliche der Gattung ist nicht das Geschaute sondern die Schau. Die Nation wird zur Manie. Das Nationale in der Telenovela-Sucht zu verorten, ist brasilianisch. Seit Mitte der sechziger Jahre ist die brasilianische Nation nicht von der Sucht nach der Telenovela befallen sondern nimmt in dieser Manie ihre Gestalt an. Grundlage dieser Nation ist nicht die Telenovela-Schau an sich sondern die Schau der Telenovela-Schau. Diese nährt sich vom Trauerzug der Menschenmengen, die den Leichnam verehrter Drehbuchautoren und -autorinnen begleiten, von der Feier des totalen Einschaltmonopols und von der Zeugenschaft der seriösen Printmedien, die die Schau – wenn sie „spektakuläre“ Ausmaße erreicht – auf ihre Titelseiten setzt. Mania nacional ist die berauschende Wendung. So lautet der Titel der schon zitierten, ausführlichen Reportage der politischen Wochenzeitschrift Isto É über Roque santeiro im Jahr 1985 (Castello/Ajoz 1985). Sechzehn Jahre später, 2001, setzt das Konkurrenzblatt Veja die Serie Laços de família auf die Titelseite. Die Schlagzeile meint die Nation: „In den Schlingen der Telenovela“ („Nos laços da novela“) (Lima/Camacho 2001). Selbstredend ist dieses Sucht-Brasilien konstruiert, denn laut Castello/Ajoz’ eigenen Angaben kommt diese „Nation“ lediglich auf ein Drittel der Bevölkerung bzw. auf 42,3 Millionen Zuschauer, die Roque santeiro durchschnittlich sehen (Castello/Ajoz 1985). Sechzehn Jahre später schrumpft die „Nation“ auf 32 Millionen Zuschauer, also auf etwas weniger als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung (Lima/Camacho 2001: 86). In dieser Selbstfeier des Millionenpublikums als „Nation“ klingt immer auch der Triumph der Brasilianität der Gattung mit. Der Stolz gilt nicht dem Sender TV Globo, dem noch 1997 als Erbe des Militärregimes und illegitimer Herrscher Brasiliens (Präsidentenmacher) mit Misstrauen und Kritik begegnet wird (vgl. Bucci 1997: 17). Die Feier gilt ausschließlich der Gattung und seinem Publikum. In ihr kommt die Genugtuung zum Ausdruck, dass mit der „Nationalisierung“ des Genres ein Schritt in Richtung emanzipativer Modernisierung geglückt ist. Der Publikumserfolg gibt der ‚Entmexikanisierung‘ der Telenovela recht. Das Publikum begeistert sich an der Brasilianität der Gattung und bestätigt sich in dieser Begeisterung als brasilianisch. Aus diesem Grund wird die Manie gegenüber dem Genre im Grunde nicht als entfremdend sondern im Gegenteil als emanzipativ konnotiert. In der Metapher offenbart sich das kollektive Wir-Begehren, mit dem die Gattung verwachsen ist. Daraus folgt: Die Telenovela-Nation ist nicht das Brasil classe média, das die Gattung zelebriert. Die Telenovela-Nation ist ein Brasil classe mídia, 2 das

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Der Begriff classe mídia stammt von José Carlos Avellar, der damit jedoch Zuschauer unterschiedlichster Herkunft bezeichnet, die in Hollywoods audiovisueller „Sprache“ – nicht in seinen Aussagen – zusammenkommen. Imaginär emigrieren sie aus ihren

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sich als Gemeinschaft der Telenovela-Schauer imaginiert und die Mit-Teilung der Gattung als fraternisierende und differenztilgende Gemeinsamkeit halluziniert. In Mexiko zerbrach das nationale Publikum des Kinos in Leidgemeinschaften der Telenovela. Sie scheinen nun mehr unter Televisa zu leiden als unter dem andauernden Unglück der Helden in den Serien. Trotzdem: Gemeinschaftsstiftend ist hierbei – neben der Kritik und dem Spott an der Telenovela – das melodrama-a-la-mexicana und sein Appell fließbandproduzierter Affektarchetypen. Dieses Wir ist weniger national als universal (so lassen sich die Serien auch leichter exportieren). Es formiert sich in der Mit-Teilung von Sentimentalismus und Kitsch, von denen ja „alle Menschen“ mehr oder weniger angesprochen werden. Denn „alle“ besitzen von Geburt an „das heilige Recht zu weinen.“ So zumindest fingiert Vicente Leñero in einer crónica die Imagination der Leidgemeinschaft im Bannkreis des transmedialen Serienmelodrams El derecho de nacer: Das Herz aller Menschen besitzt eine Schale der Gefühlsduselei; alle sind wir – manche mehr, manche weniger, gesegnet sei Gott im Himmel! – ein wenig kitschig. Wir alle kamen auf die Welt (heroischer Musikakkord, passend zum Ende des Dramas) mit dem Recht... mit dem heiligen Recht zu weinen!3

Wie schon angedeutet, offenbart sich der Gemeinschaftseffekt mexikanischer Telenovelas nicht zuletzt in der Bedeutung der Gattung unter mexikanischen Einwanderern und deren Nachkommen in den USA. Sie wurde spätestens Anfang der neunziger Jahre überdeutlich, als die Marktforschungsfirma Nielsen Institute die spanischsprachige Bevölkerungsgruppe (mit rund 35 Millionen die zweitgrößte in den USA) als profitablen Nischenfernsehmarkt erklärte, der zudem mit hohe Wachstumsraten versprach. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits zwei spanischsprachige networks in den USA, Univisión und Telemundo. Univisión geht auf die Fernsehkette SICC/SIN zurück, die wie erwähnt, schon Anfang der sechziger Jahre von Televisa gegründet wurde. Aus rechtlichen Gründen musste Televisa in den achtziger Jahren sein Direktengagement in den USA zurückziehen und verkaufte SICC/SIN, das dann in Univisión umbenannt wurde. Univisión begann, sein Programm stärker auf die hispanoamerikanischen Migranten und deren Nachkommen auszurichten, anstatt ausschließlich wie vormals das Televisaprogramm jenseits des Río Grande zu repetieren. Die Kooperation mit Televisa blieb jedoch sehr eng (Univisión blieb Absatzkanal für Televisas Programm).4 Der Markt erschien so lukrativ, dass mit Telemundo 1986 ein spanischsprachiges Konkurrenznetwork gegründet wurde, das noch konsequenter und mit speziellen Eigen-

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Ländern in jene „virtuelle“ Welt, mit der sie sich als ihre eigentliche Heimat identifizieren (Avellar 2001: 83). „El corazón de todos los hombres tiene una cáscara de sensiblería; todos somos – quien más, quién menos, ¡bendito sea Dios! – un poco cursis. Todos nacimos (acorde musical heroico, de final de obra) con el derecho... ¡con el sagrado derecho de llorar!“ (Leñero 1981: 279). Televisa hält weiterhin 25% der Anteile an Univisión, ebenso wie der venezolanische TV-Konzern Venevisión. Die restlichen Anteile sind im Besitz eines US-Konsortiums (Rodríguez o.D.).

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produktionen den US-amerikanischen hispano-Markt anzusprechen versuchte. Das Angebot differenzierte sich weiter: 2001 gründete Univisión den Ableger Telefutura.5 Im selben Jahr folgte TV Azteca dem Vorbild Televisa und schickte sein Programm mit einem eigenen network (Azteca America) in den USA auf Sendung. Worum es also ging, war ein spanischsprachiges (Minoritäten-)Publikum in den USA. Wie häufig argumentiert wurde, galt als Voraussetzung für ein solches Publikum ein gemeinsamer Nenner, den man als latinidad identifizierte.6 Kerngattung und prime-time-Schiene dieser latino-Identität ist die Telenovela, deren Produktionen größtenteils aus Lateinamerika übernommen werden. Die Telenovela soll kulturelle Distanz zum US-mainstream-Programm herstellen. Diese ‚Rückkehr‘ des Seifengenres in die USA macht deutlich, dass intermediale und interkulturelle Passagen eine Gattung nicht unversehrt von einem Kulturkreis in den anderen und von einem Medium auf das andere transportieren sondern sie je nach Kontext und Rahmung rekonfigurieren. Gerade weil die Telenovela der soap opera widerspricht, spiegeln sich in ihnen die lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen in den USA. Just die Nicht-Übereinstimmung mit der daily soap macht die Telenovela zur imaginären Mit-Teilung einer latino-Gemeinschaft, die sich von der USMehrheitskultur absetzt. Diese Telenovela-Gemeinschaft übersteigt den territorialen Rahmen der Nation (vgl. Michael 2006a). In den USA formiert die Telenovela eine classe mídia, die bei zunehmendem Bindungsverlust zu den Auswanderungsländern ihre kulturelle Heimat weniger in der (noch weitgehend) nationalstaatlich geprägten Lebensumgebung erkennt als vielmehr audiovisuell imaginiert. Wie sich diese classe mídia jedoch ausgestaltet, scheint noch nicht ganz klar zu sein. Wird von (der Möglichkeit) einer latino-Identität des spanischsprachigen Publikums ausgegangen, dann liegen Strategien nahe, die diversen lateinamerikanischen Nationalappelle zurückzufahren. Dies betrifft primär die Varietätenfrage der spanischen Sprache und läuft auf die Erfindung eines „pan-ethnischen Spanisch“ hinaus, das in Eigenproduktionen der hispanischen US-Sender gesprochen wird, beispielsweise in den Nachrichtensendungen. Das Ziel wäre dann, die in sich gebrochenen Diaspora-Identitäten in einer übergreifenden „Pan-Latino-Identität“ aufgehen zu lassen (Downing o.D.). Es zeigt sich jedoch, dass die mexikanischen Einwanderer und ihre Nachkommen die große Mehrheit unter den lateinamerikanischen Einwanderern in den USA bilden. In Übereinstimmung mit der 2000 durchgeführten Volksbefragung stammten zu diesem Zeitpunkt knapp 60% der Migranten bzw. deren Eltern und Großeltern aus den USA. Die Mexikaner und Mexican Americans liegen damit weit vor der zweitplatzierten Einwanderergruppe aus Puerto Rico, die knapp 10% der latinos bilden. Dieses Ungleichgewicht unter den lateinamerikanischen Migranten hat zur Folge, dass die mexikanischen Fernsehinhalte bei weitem dominieren. Univisión kommt nach einer Marktrecherche von 2002 auf eine durchschnittliche Einschaltquote unter den latinos von ca. 20%, während die zweit- und drittbeliebtesten Sender, Fox und 5 6

Schon 1979 hatte es mit Galavisión das erste spanischsprachige Kabelfernsehen in den USA eingeführt (Uribe 2009: 76). Zum spanischsprachigen US-Fernsehen siehe Noriega (2000: 169-185), Gehle (2003) sowie Uribe (2004 und 2009: 73-78).

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Telemundo, nur je etwa 5% erreichen (Uribe 2009: 80-84). Bezeichnend ist, dass Telemundo seit etwa Mitte der neunziger Jahre eine eigene TelenovelaProduktion aufgenommen hat, die sich jedoch gegen die Televisa-Importe von Univisión kaum behaupten konnten. Uribe erkennt gar eine „Mexikanisierung des hispanischen Fernsehens“ in den USA (102).7 Somit wird deutlich, dass sich „panlateinamerikanische“ Telenovelas trotz anfänglicher Erwartungen nicht durchgesetzt haben (vgl. Gehle 2003: 21). Die Nation, mit anderen Worten, hat die mexikanischen Auswanderer und ihre Kinder doch nicht ganz laufen lassen. Es überrascht nicht, dass die Fernsehindustrie das Wir-Begehren der Migranten ausnutzt. Insbesondere Televisa ‚melkt‘ im (immer wichtiger werdenden) Sekundärmarkt USA die ‚Milchkuh‘ ein weiteres Mal.8 Ana Uribes Untersuchung des Fernsehkonsums von Migranten mexikanischer Herkunft in den USA macht deutlich, dass (zusammen mit den Nachrichten) die Telenovelas das wichtigste Genre der Mexican Americans sind. Vor allem aber zeigt sie, dass, wie schon angemerkt, das Interesse dieser Zuschauerinnen (es sind hier meist Frauen) insbesondere in der Mexikanität der Gattung gründet. Der Studie ist zu entnehmen, dass die Zuschauerinnen Telenovelas schauen und Mexiko sehen. Schon erwähnt wurde, dass die ImagiNation der Migrantinnen hauptsächlich vom Produktionsstandort, vom mexikanischen Spanisch und von den Szenarien in Mexiko ausgehen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass sich die ImagiNation auf medialer und nicht auf diskursiver Ebene vollzieht. Die beständig erneuerte Herkunft des Genres bzw. seiner Serien adressiert an diese Zuschauerinnen einen eigenartigen Nähe-Appell in der Ferne. Sie weckt eine Vertrautheit, die in der Auswanderung einen wachsenden Spalt des Fremdwerdens nicht ganz überbrücken kann. Um welche Art des Wiedererkennens geht es hier bei denjenigen, deren Eigenes nicht mehr ganz das Ihre ist, oder welches gar das ihrer Eltern und Großeltern ist? Welches Miteinander stellt sich ein bei denen, die nicht dabei sind oder es nie waren? Wie können diejenigen gleich sein, die anders wurden oder es schon immer waren? Die Nation wird nie ganz mit den Migranten auswandern. Etwas bleibt uneinholbar zurück, daheim. Zwischen der Heimat und dem Heim liegt eine Sehnsucht, die der Zugehörigkeit ihre Gestalt anzeigt: Die Zugehörigkeit imaginiert sich im Wiedererkennen des nicht mehr Bekannten, im Nahekommen des Abwesenden, im Überbrücken der Trennung. Wie kann aber eine Telenovela kollektive Fülle suggerieren, wenn sie das nationale Selbst auf ein paar magere Platzhalter verweist? Hier zeichnet sich der Telenovela-Blick der Migrantinnen ab: Er gibt sich in der Imagination eines Mexiko zu erkennen, das abwesend ist. Auch hier zeigt sich, dass sich in der Schau die nationale Gegenwart halluziniert: Die Gemeinschaft der Ent7

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Univisión dominiert nicht nur das spanischsprachige Fernsehen sondern stellt auch einen wichtigen Faktor im gesamten US-amerikanischen Fernsehmarkt dar: Der Sender ist das fünftgrößte network in den USA nach NBC, FOX, CBS und ABC. (Allerdings ist der Abstand zum letzten der großen Vier enorm: Das Publikum von ABC ist rund drei Mal so groß wie das von Univisión [Uribe 2009: 83]). Wie Uribe anmerkt, nutzt Televisa die Mexican Americans als wichtigsten Absatzmarkt außerhalb Mexikos. Die Daten, die sie angibt, stammen aus dem Jahr 1990, aber sie sind in ihrer Relation interessant: In diesem Jahr gingen allein in die USA ca. 50% der Programmexporte des Konzerns (Uribe 2009: 101).

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fernten imaginiert sich in der Schau der Telenovela-Schau: die nationale Teilhabe erfährt sich in der Vorstellung der gemeinsamen Schau der Telenovela, die (nur) in der Fremde als Emblem des Eigenen erscheint. Zu schauen, was alle in der Heimat schauen, ist mexikanisch. Auch und gerade in der Fremde halluziniert sich die Nation als Gemeinschaft der Schauenden des Mexikanischen. Dazu kommt, dass Univisión die Serien in der Regel fast zeitgleich wie Televisa sendet, oder nur um wenige Wochen versetzt. So sehen die Migranten dieselbe Serie (wenn auch nicht dasselbe Kapitel) zur selben Zeit wie das mexikanische Publikum. Indem sie Mexiko schauen, gehören sie zum Mexiko, das schaut. Auch dieses Mexiko ist eine classe mídia, die längst nicht territorial gebunden ist. Ihre Heimat findet sich in einer ortlosen Schau. Das Mexiko der Telenovela erscheint als classe mídia, als ein fantasmatisches Wir aus Abwesenden und Anderen.9 Mit den Migranten wandert die Telenovela nach Norden. Schlägt die Kolonie zurück? Ursprünglich als Konsumstimulator US-amerikanischer Seifenprodukte nach Lateinamerika eingeschleppt, sickert die zur Telenovela gewandelte Seifenoper mit den indocumentados in der Heimstätte des Imperiums ein. Die Kolonie macht sich ihrerseits auf, in und jenseits ihrer Grenzen das Imaginäre der Menschen zu kolonisieren. Im Gegensatz zur Supermacht tut sie dies nicht mit technisch hochgerüsteten Filmen sondern mit einem Fernsehgenre. Die Telenovela greift nach Hollywoods Sondermacht, eine deterritorialisierte classe mídia zu konstituieren – und das kostet nur einen Bruchteil.

11.2 TelenovelaTelenovela-Kultur Nach einem halben Jahrhundert audiovisueller Alphabetisierung haben die Telenovelas längst eine Kultur herausgebildet, die nun – nicht nur in den USA – als lateinamerikanisch gilt. Die Gattung ist angewachsen und bildet in weiten Bereichen des kulturellen Aussagens einen wie selbstverständlichen Anknüpfungskontext. Schon die Gattungsbezeichnung – novela – wurde in Brasilien zum Synonym für ein langwieriges Prozedere aller Art. Insbesondere die Printmedien greifen – ähnlich wie auch bezüglich des Fußballs – Begriffe aus dem Umkreis des Genres gerne auf: Neben dem Gattungsnamen selbst10 dienen Wendungen wie „próximos capítulos“ („die nächsten Kapitel“),11 „vilão“/„vilã“ („Schurke“/„Schurkin“)12 u.a. der Erläuterung nicht nur

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Allerdings ist dieses ortlose Wir schroff in sich gebrochen. Denn, wie Uribe schreibt, existiert ein scharfer Gegensatz zwischen der Telenovela-Schau von männlichen Migranten und von Migrantinnen. Die Männer lehnen das Nationale der Telenovelas tendenziell ab und empfinden die Serien aufgrund ihrer schlechten Machart eher als Schande denn als Identifikationsobjekt (Uribe 2009: 136-137). 10 Nur ein Beispiel unter vielen: Die Tageszeitung A notícia aus Joinville titelt im Jahr 2000 „Novela do mínimo continua no Congresso“ („Die Telenovela des Mindestlohns geht im Kongress weiter“) und schildert im Artikel das zähe und unabgeschlossene Ringen um die damalige Neubewertung des Mindestlohns im Kongress (o.A. 2000b). 11 Isto É veröffentlicht 2002 einen Artikel mit der Überschrift „Próximos capítulos. Novas denúncias de irregularidades complicam ainda mais a candidatura de Roseana

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politischer Sachverhalte. Angesichts der Häufigkeit der Telenovela-Metaphorik drängt sich der Eindruck auf, dass das Genre nicht nur als Erklärungshilfe fungiert sondern als Deutungsmuster gesellschaftlicher Komplexität. Die Gesellschaft, das Leben werden telenovelesk. Alles passiert/zeigt sich nach und nach in einem langwierigen und parzellierten Hin-und-Her, und dahinter steht immer ein Schurke oder eine Schurkin. Die Telenovela bildet sogar den Anknüpfungskontext für die eigentliche Geschichte Brasiliens: Die História do Brasil para principiantes (Geschichte Brasiliens für Anfänger) wird als endlose Telenovela erzählt, darauf weist bereits der Untertitel hin: De Cabral a Cardoso, 500 anos de novela (Von Cabral bis Cardoso, 500 Jahre Telenovela). Das Buch vom Schriftsteller Carlos Eduardo Novaes und vom Zeichner César Lobo stellt eine sehr brasilianische intermediale Gattungspassage dar. Es handelt sich um eine Art historiografischen Telenovela-Comic. Ein bis zwei kurze Textabsätze pro Seite schildern knapp Ereignisse und Zusammenhänge, während ein bis zwei Zeichnungen den Text karikaturesk illustrieren. Dabei zeigen die Comicbilder häufig am Rande einen Kameramann (César Lobo) und einen Regisseur (Carlos Eduardo Novaes), die die „Szene“ aufnehmen. Damit wird immer wieder angezeigt, dass sich die brasilianische Geschichte als Telenovela darstellt. Es spielt mit der audiovisuellen Alphabetisierung, denn das Buch wendet sich nicht zuletzt mit seinem Titel („für Anfänger“) an ein Publikum, das gewohnt ist, Telenovelas zu schauen und nicht zu lesen. Es ist, als wolle der Comic diesen funktionalen Analphabeten die Geschichte des Landes in Simulation desjenigen Aussagemodus nahe bringen, den sie kennen: die Telenovela. Novaes und Lobo machen die Geschichte zur Telenovela, wie auch Globos Serien hin und wieder historische Themen aufgreifen (beispielsweise Terra nostra). Es ist jedoch keine Telenovela sondern ein Buch mit Comicbildern. Die erzählerische Telenovela-Rahmung erhält daher eine besondere Funktion. Novaes hat ein Vorwort geschrieben, in dem er das Anliegen des Buches erläutert, aber von einer didaktischen Aufbereitung der Geschichte für ein Publikum, das nicht liest, ist nicht die Rede. Vielmehr formuliert der Schriftsteller eine Kritik an der offiziellen Siegergeschichtsschreibung, die ihm so fiktiv erscheint wie eine Telenovela. Das Schicksal der Sklaven und die Gräuel des Paraguaykrieges im 19. Jh. kommen in dieser Geschichte beispielsweise nicht vor. Daraus folgt, dass es dem Autor und dem Zeichner darum geht, den Fokus auf die „Besiegten“ zu richten und eine Gegengeschichte zu schreiben gegen die Mythifizierung der Nationalhelden. Zu diesem Zweck beschließen sie, „die Geschichte in ein Fernsehstudio zu bringen, Figuren aus verschiedenen Epochen miteinander zu vermischen und sie zu Schauspielern eines endlosen Riesen-Melodramas zu machen.“13 Das Sarney“ („Nächste Kapitel. Neue Vorwürfe bezüglich Unregelmäßigkeiten machen die Kandidatur von Roseana Sarney komplizierter“) (Ribeiro 2002). 12 2001 erscheint in Isto É ein Artikel mit der Überschrift „Ela continua vilã“ („Es ist weiterhin der Schurke“). Gemeint ist Speisefett und seine gesundheitsschädigenden Wirkungen (Zaché 2001). 13 „Foi a partir deste cenário mitológico que resolvemos – eu e César Lobo – levar a História para dentro de um estúdio de televisão misturando personagens de diferentes épocas, fazendo-os atores de um novelão sem fim“ (Novaes 1999: 7).

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explizite Telenovela-Format soll die vorliegende Geschichte daher von den Schulbuchdarstellungen absetzen, die verdeckt für den Staat und die Mächtigen Partei ergreifen. Es soll deutlich machen, dass die Machtlosen in dieser Geschichte nicht ausgeblendet werden. Zudem zeigt die Rahmung als endloses dramalhão an, dass die 500 Jahre von der Entdeckung bis zur Gegenwart als ausgedehnte Aneinanderreihung von Erzählschleifen erscheinen, die das Grundmotiv des Leids immer nur in neuen Wendungen präsentieren. Im Kern, so ist zu folgern, bleibt die Ausgrenzung der Machtlosen aus der Gesellschaft unangetastet. História para principiantes karikiert die Mächtigen der Geschichte (Kirche, Kolonialherrscher, Monarchen, Militärs, korrupte Politiker usw.) und demaskiert mit beißender Ironie den Ausschluss der Unterprivilegierten, die absichtlich meist als Statisten oder Zuschauer bei den Videoaufnahmen auftreten. Die Zeichnungen zeigen, wie die ‚großen Ereignisse‘ der brasilianischen Geschichte für die Telenovela aufgenommen werden. Sie stellen aber zugleich dar, dass die ‚Bevölkerung‘ im Bild nichts zu suchen hat und allenfalls am Rand des Sets auftaucht. Diese Ausgrenzung stellt sich als der eigentliche Gegenstand der geschichtskritischen Text-Bild-Erzählung dar. So nimmt die Telenovela beispielsweise den heroisierten Ausruf der nationalen Unabhängigkeit durch Dom Pedro 1822 auf und parodiert dabei das berühmte und dramatische Gemälde Independência ou morte! (Unabhängigkeit oder Tod!) von Pedro Américo aus dem Jahre 1888.14 Darauf fordert der König zu Pferde mit erhobenen Säbel und umringt von seinen ebenfalls berittenen Generälen die Loslösung von Portugal („Independência ou morte!“). Der Großmoment der brasilianischen Nationalgeschichte wird jedoch ironisch gebrochen. Auf der Zeichnung sieht man auch das um die Szene herumgruppierte Aufnahmeteam (der Regisseur: „Wiederholen, bitte!“) und den Maler Américo mit seiner Leinwand. Zugleich aber erkennt man einen schwarzen Sklaven in Ketten, der putzen muss, sowie einen ärmlichen Mulatten in Shorts und Badeschlappen, der eine Brasilienfahne schwingt und sich freut: „Jetzt wird sich mein Leben bessern!“ („Agora sim, minha vida vai melhorar!“) (Novaes/Lobo 1999: 144-145). Der Sklave deutet an, dass die brasilianische Nation, die hier heldenhaft geboren wird, nur für die weiße Oberschicht gilt. Denn die Nation hielt die Sklaverei noch 66 Jahre lang aufrecht. Der Mulatte erscheint als durchgängige Randfigur in allen Epochen der Telenovela-Comic-Geschichte und jubelt jedes Mal, dass nun alles anders wird. Das happy end bleibt jedoch aus. In der Gegenwart angekommen, bricht die Telenovela-Aufnahme kurz vor Ende des Buches ab. Der Mulatte sitzt vor einem Fernseher, auf dessen Bildschirm „The End“ erscheint. Im Text heißt es, dass das Land nach fünf Jahrhundert ein „Lehen der Eliten bleibt, die im Rhythmus ihrer Interessen auf der Verfassung herumtanzen.“ Das „einfache Volk“ jedoch „lebt weiterhin wie zu Zeiten der Kolonie, ohne Land, ohne Gesundheit, ohne Erziehung, ohne Unterkünfte, ohne Gerechtigkeit, ohne Verkehrsmittel, ohne Würde...“15 Dazu der Mulatte des Bildes, der

14 Das Gemälde ist auch bekannt als O grito do Ipiranga (Der Schrei von Ipiranga). 15 „Após cinco séculos de História, o Brasil permanece um feudo das elites que dançam sobre a Constituição no ritmo dos seus interesses [...] Guardadas as devidas proporções o povão continua vivendo nos tempos da Colônia, sem terras, sem Saúde, sem

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auf das Fernsehgerät zeigt: „Aber wir haben schon einen Farbfernseher!“ („Mas já temos uma TV em cores!“) (314). Auf der folgenden Doppelseite ist der Mulatte als Putzmann mit Eimer und Besen in der Garderobe des TVStudios zu sehen. Er sagt: „Im 21. Jahrhundert werden sich die Dinge ändern und mein Leben wird sich bessern!“16 Der Maskenbildner zeigt auf den Sessel für das Make-up vor dem Spiegel und antwortet: „... und dann darfst du hier sitzen!“17 Erst in der utopischen Zukunft werden die ‚einfachen Brasilianer‘ zu Protagonisten der Geschichte ihres Landes. Bisher sind sie nur Statisten und Zuschauer. Auf den beiden Schlussseiten des Buches erscheint ein Portugiese aus der Entdeckungszeit mit zwei Indiofrauen in einer Hängematte. Alle drei blicken entsetzt auf ein kleines Fernsehgerät. Sie sehen die aufgenommene Telenovela und schalten erschrocken per Fernsteuerung aus: „Wären wir nicht glücklicher, wenn wir nicht entdeckt worden wären?!?“18 Die brasilianische Geschichte, so ist zu folgern, ist eine Telenovela, in der die große Bevölkerungsmehrheit nichts zu suchen hat. Hätte man die Wahl, würde man diese Telenovela lieber nicht sehen. Brasilien als Telenovela bedeutet in der História von Novaes und Lobo die unaufhörliche Fortsetzung der sozialen Ausgrenzung. Das Buch ist daher eine Anti-Telenovela, die – Distanz nehmend – die Telenovela selbst sowie die soziale Marginalisierung mit beißender Ironie und oft drastischen Zeichnungen (z.B. in Bezug auf die Militärdiktatur) ins Bild setzt. Dennoch bildet die Telenovela den Referenzkontext des Erzählens, in dessen Anlehnung und Parodie die História Sinn macht. Sie bestätigt und erschüttert zugleich die Telenovela als kulturelle Leitgattung, die die Verkettung der Aussagen über das Gesellschaftliche dominiert: Das Soziale ist eine unaufhörliche Fortsetzung von Konfliktkapiteln, voller grotesker, unwahrscheinlicher und brutaler Szenen. Die Geschichte von Novaes und Lobo demonstriert die Hegemonie der Telenovela unter den sinnstiftenden Anknüpfungskontexten der brasilianischen Kultur. Diese Verknüpfungsvormacht erscheint als Ergebnis der audiovisuellen Alphabetisierung, die hauptsächlich durch diese Gattung vollzogen wurde. Das Buch belegt zugleich, dass die Telenovela auch dort, wo sie bei enunziativen Verkettungen anderer Gattungen interveniert, sich nicht reproduktiv fortsetzt, sondern dass sie im Falle intergenerischer und intermedialer Passagen zwar einen Anknüpfungsbezug herstellt, sich hierbei aber in einer Gattungsmischung veräußert. In dieser Perspektive wird deutlich, dass die Hegemonie der Telenovela (offensichtlich) nicht die totale Unterwerfung aller kulturellen Sinnstiftungen bedeutet. Dies hieße, dass die Gattung in der Lage wäre, alle anderen Sinnstiftungen anzuhalten. Vielmehr ist ihre Dominanz so zu verstehen, dass sie einerseits alternative Aussagen ausschließt, wo diese entstehen und rezipiert werden könnten (Fernsehen und Publikum privilegieren die Gattung vor allen anderen). Das erscheint als das Educação, sem Habitação, sem Justiça, sem Transportes, sem dignidade...“ (Novaes/ Lobo 1999: 314). 16 „No século XXI as coisas vão mudar e minha vida vai melhorar!“ (Novaes/Lobo 1999: 316). 17 „...e você vai poder sentar aqui!“ (Novaes/Lobo 1999: 317). 18 „Não seríamos mais felizes se não tivéssemos sido descobertos?!?“ (Novaes/Lobo 1999: 318).

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Schlimme des Genre. Andererseits ‚bindet‘ sie einen Teil der Kultur mit Anknüpfungen, die sich mit ihrer Übermacht affirmativ, kritisch oder parodistisch auseinandersetzen. Beispiele hierzu gibt es viele. Lediglich erwähnt sei an dieser Stelle die Passage der Telenovela in das Internet. Vor allem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als das Internet auch in Brasilien seine große Boomphase erlebte, tauchte eine Vielzahl von Hypertexterzählungen auf, die offensichtlich an der Telenovela anknüpften. Bezeichnend für ihre Popularität war, dass kommerzielle Onlineportale schon sehr früh diese Hyperfiktionen auf ihren Seiten anboten. Auf dem größten brasilianischen Portal UOL waren mehrere dieser Erzählungen zu finden, jedoch wurden sie von Anfang an für Bezahlkunden reserviert (ein Großteil des restlichen Portals ist frei zugänglich). Aber nicht nur kommerzielle Anbieter suchten in Anknüpfung an die Telenovela ein fiktionales Internetgenre zu entwickeln. Viele private Hypertextautoren experimentierten auf ihren Homepages und schrieben die Telenovela unter den Bedingungen der Interaktivität fort. Sie nutzten die Eigenschaft des Internets, als Nutzer zugleich Empfänger und weltweiter Sender zu sein, um ihre Telenovela zu schreiben, der Telenovela zu antworten, sie zu parodieren, zu pervertieren, zu überwinden usw. Die Ergebnisse waren höchst unterschiedlich: Manche luden die Internauten dazu ein, an der Erzählung mitzuschreiben, manche schlossen deren Mitwirkung völlig aus, manche kamen über die Anfangskapitel nie hinaus, andere erstreckten sich über zig Kapitel, manche waren nur Bild (Fotografie und Comic), andere nur Text, viele beides, andere mischten Film- und Tonsequenzen oder Computerspielelemente. Die Uneinheitlichkeit veranschaulicht die Suche nach brasilianischen Erzählformen im Internet. Was diese Ansätze in der Regel gemein hatten, ist zunächst der Bezug auf die Telenovela in ihren Gattungsselbstbezeichnungen. Die Fiktionen benannten sich als „netnovela“ (häufigste Verwendung), „netnovela“, „novelaweb“, „e-novela“, „novela interativa“, „novela da web“ oder „novela na web“. Andere hießen schlicht „novela“, „folhetim“ oder „radionovela“. Was diese Hypertexte in ihrer Diversität einte, und worin sie an der Telenovela anknüpften, ist die narrative Serialität. Alle erschienen als Fortsetzungsgeschichten, die den Erzählfluss kapitelweise unterbrachen. Darüber hinaus gingen die Netnovelas in ihrer Erzählweise völlig auseinander, insbesondere das Melodrama war kein einigendes Band. Die narrative Fragmentierung erwies sich als das Faszinosum, nicht das Postsakrale. Dabei ist es nicht entscheidend, ob eine Hyperfiktion parzellenweise ins Netz gestellt wird, oder alle Episoden gleichzeitig abruf- oder einsehbar sind. Eine ZwischenZeit des Mit-Erzählens zwischen die Erzählfragmente zu schieben, scheint eine zentrale Lektion der audiovisuellen Alphabetisierung der Telenovela gewesen zu sein, die jene eigentümliche classe mídia des Genres herausbildete. An dieser Stelle soll nicht auf Beispiele eingegangen werden. Diese wurden andernorts bereits diskutiert (Michael 2003). Die meisten Netnovelas sind mittlerweile gar nicht mehr online. Diejenigen, die derzeit noch aufzurufen sind, stammen in ihrer Mehrzahl aus der Zeit vor 2000 und kurz danach. UOL hat seine Netnovelas noch im Netz, produzierte aber seit der letzten Hyperserie A morta viva (2000) des Comiczeichners Angeli keine neuen

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mehr (bezahlpflichtig sind mittlerweile nicht mehr).19 Das bedeutet, dass die Netnovelas größtenteils ein Phänomen der Experimentierphase des Internets in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre darstellen und mit der Konsolidierung und zunehmenden Kommerzialisierung des neuen Mediums ab 2000 verschwanden bzw. an den Rand gedrängt wurden. Die Netnovelas, mit anderen Worten, machten anderen Genres Platz, die dem Dispositiv des Internets eher entsprachen, darunter insbesondere die Blogs oder die schon erwähnten Hass- bzw. Fanseiten. Der Grund für dieses Verschwinden kann in der Zeitstruktur der Serialität vermutet werden, die ihre „Ästhetik in der Zeit“ in Programmmedien entfaltet, nicht jedoch im Onlinemedium, das seine Nutzer nicht zuletzt von zeitlichen An/Ordnungen befreit. Wie dem auch sei, für die vorliegende Argumentation ist nur relevant, dass die Netnovelas in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu den populärsten Internetgenres in Brasilien gehörten.20 Dies zeigt, dass die Telenovela als angewachsene Gattung nicht nur in das neue Medium hineinragt, sondern zunächst in starkem Maße seine Sinnstiftung bedingt. Am Scheitern der Netnovela zeichnet sich jedoch der kulturelle Umbruch ab, den Computer und Internet mit ihrer telematischen Performanz des Aussagens, mit ihrer speziellen An/Ordnung der Nutzer und mit ihrer eigenartigen Gemeinschaftsstiftung herstellen. Fernsehen unter den Bedingungen der Unterentwicklung bedeutet jedoch, dass das world wide web in den Zitadellen von Wohlstand und Bildung eingehegt wird, innerhalb derer es eine telematische Revolution einleiten und den intermedialen Anknüpfungsappell der Telenovela abbrechen lässt. Ohne Schriftkompetenz und ohne die entsprechenden sozioökonomischen Voraussetzungen bleibt gesellschaftsweit der Primat der Television unangetastet. Die weltweite Computervernetzung hebt den auch binnengesellschaftlichen Gegensatz Zentrum – Peripherie nicht grundsätzlich auf, er verschiebt ihn und vertieft ihn. Das zeitliche und räumliche Entfernungen überwindende Internet führt eine neue Distanz ein: die brecha digital, die digitale Kluft.21 Selbst das Kabelfernsehen und seine Erweiterung des Zuschauerspielraums gegenüber der Diktatur des Programms kommt unter diesen Umständen nicht voran: Es kostet zwischen 20 und 40% des Mindestlohns (Caparelli/Santos 2002: 90). Die Beispiele sollen deutlich machen, dass in Lateinamerika eine classe telenovela entstanden ist, deren eigenartige Realität im Dauerchangieren zwischen der fiktiven Telenovela-Welt und den konkreten Lebensumständen zu verorten ist. Die Welt-Erzählung der Gattung als endlos gedehntes und verzweigtes Tal des Leids, dessen Erlösung sich unaufhörlich aufschiebt, drängt sich als hegemonischer Anknüpfungskontext für unterschiedlichste gesellschaftliche Aussageverkettungen auf. In diesem Sinne ist von einer Telenovela-Kultur zu sprechen. Die Wirklichkeit ihrer Gemeinschaftsimagination wird nicht zuletzt im Zusammenhang mit den mexikanischen Einwanderern in den USA und ihrer Nachkommen deutlich, wo die Telenovela ein mexika19 Die Netnovelas von UOL siehe auf www1.uol.com.br/novela/, zuletzt aufgesucht: 02.06.2010. 20 O moscovita, die erste Netnovela von UOL, war beispielsweise 1996 eines der vier Angebote des Portals, die am häufigsten aufgesucht wurden (Gomes 1996). 21 Zu diesem neuen Ausschluss und Strategien, ihn zu überwinden siehe González (2004).

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nisches Wir imaginär mit-teilt (bzw. mit-teilen soll), das sich von territorialen Grenzziehungen abkoppelt. Mit den kulturellen Verwachsungen des Genres spielen immer wieder verschiedene Chicano-Künstler in den USA, die ein interkulturelles Niemandsland zwischen den vereinnahmenden Ansprüchen ebenso des anglo-amerikanischen wie des Pan-Latino-Mainstreams konturieren. Sie zitieren die Telenovela als Zeichen der Lateinamerikanität, die sie jedoch in einer intermedialen Passage in Film und Roman parodieren oder auf einen Identitätssplitter reduzieren.22

11.3 Folge dem globalen Gl Glück ück Angemerkt sei zum Schluss, dass sich die Telenovela mittlerweile in vielfachen interkulturellen Passagen in ein globales Genre gewandelt hat. Wie man es nehmen möchte: Die Gattung entlateinamerikanisiert sich – die Gattung lateinamerikanisiert Nicht-Lateinamerika. Die Telenovela-Kultur, mit anderen Worten, globalisiert sich. Wie bereits angedeutet, wurde das Genre schon sehr früh in Länder auch außerhalb Lateinamerikas exportiert. 1975 begann mit Gabriela etwas, was immer wieder als »colonização ao revés« (»umgekehrte Kolonisierung«) bezeichnet wird (Melo 1988: 40): Es handelt sich um die TV-Transposition von Jorge Amados Roman Gabriela. Cravo e canela. Gabriela war die erste (brasilianische) Telenovela, die in Portugal gesendet wurde (1977). Bis 2000 wurden in dem ehemaligen Mutterland schätzungsweise 150 Telenovelas ausgestrahlt. José Mendes bezeichnet die jahrzehntelange Telenovela-Schau in Portugal als „um enorme Colégio Brasil“, als „eine enorme Brasilien-Schule“ (Mendes 2000: 98).23 1985 triumphierte die brasilianische Sklavin Isaura weltweit, nicht zuletzt in 22 Nur wenige Beispiele: Pochonovela. A Chicano Soap Opera (1995) ist ein halbstündiger Film des Performancekünstlers Coco Fusco, der Latino-Stereotypen parodiert (siehe http://www.thing.net/~cocofusco/subpages/videos/subpages/pochonovela/pochonovela.html, zuletzt aufgesucht: 02.06.2010). Cristina Ibarras Dirty Laundry. A Homemade Telenovela (2001) ist knapp fünfzehn Minuten lang. Der Experimentalfilm lotet interkulturelle Konflikte im Leben eines 12jährigen Mädchens aus, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen den mexikanischen Traditionen ihrer Eltern und den Prägungen der US-amerikanischen Umgebung ergeben. Die Grenzregion zwischen Ciudad Juárez in Mexico und El Paso in den USA erscheint in der Eingangssequenz beispielsweise als „Land of the telenovela“ (der Film und Informationen stehen online auf der IMDb zur Verfügung [http://www.imdb.com/ title/tt1453985/, zuletzt aufgesucht: 02.06.2010]). Der Chicana-Roman So Far From God (1994) von Ana Castillo wird immer wieder als „Chicana telenovela“ bezeichnet. Die Chicana-Autorin Sandra Cisneros tut dies beispielsweise im Klappentext des Romans. Tatsächlich jedoch dekonstruiert der Roman die Telenovela und die Suche „lateinamerikanischer“ Frauen nach dem postsakralen Glück in der Liebe, denn alle Frauen im Roman scheitern mit diesem Ansinnen (Castillo 1994). Siehe hierzu Michael (2006a), speziell zur Telenovela in Chicano-Filmen Noriega (2000: 186-189). 23 Nach der Öffnung des portugiesischen Fernsehens für kommerzielle Sender 1992 hat sich TV Globo übrigens in den Privatsender SIC eingekauft und beliefert ihn seither mit mehreren Telenovelas pro Tag (Pischke 1995: 18-19).

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kommunistischen Ländern wie Cuba, China und UdSSR. 1988 verkaufte TV Globo seine Telenovelas in 128 Länder (Melo 1988: 39, 44). Was TV Globo kann, konnte Televisa schon lange: 1986 bewies der mexikanische Sender z.B. mit Los ricos también lloran, dass „die Russen auch weinen“ (Terán 2000: 36). Die Liste der Publikumstriumphe rund um den Globus wäre lange fortzusetzen. Während jedoch Mitte der neunziger Jahre die Telenovela im europäischen Fernsehen mit Ausnahme der iberischen Halbinsel praktisch keine Rolle spielte (Meers/Biltereyst 1997), hat sich dies ein Jahrzehnt später drastisch geändert. Die osteuropäischen Länder, allen voran Russland, bilden eine starke Nachfrage nach dem Genre. Weltweit ist der Absatz der Serien sprunghaft angestiegen. Eine Untersuchung des internationalen Fernsehmarktes zeigte, dass 2005 die drei weltweit beliebtesten Fernsehsendungen aus den USA stammten. Sie brachte jedoch auch zum Vorschein, dass sich unter den top ten drei Telenovelas befanden. Die Dominanz der US-Serien besteht weiterhin, aber die Telenovela konkurriert nun mit ihnen (Junklewitz 2006). Entscheidend aber ist, dass seit wenigen Jahren immer mehr Länder ihre eigenen Telenovelas produzieren. 2004 waren das: China, Griechenland, Indien, Israel, Italien, Kroatien, Korea, Polen, Portugal, Philippinen, Quatar, Russland, Spanien, USA – und nicht zuletzt: Deutschland (Herrán 2004). Hier hat bekanntlich der öffentlich-rechtliche Sender ZDF als erster deutscher Sender 2004 mit der Telenovela den Inbegriff des Kommerzformats übernommen, noch bevor die private Konkurrenz mit SAT1 folgen konnte. Später zogen die ARD und Pro7 nach. 2006 zeigte das deutsche Fernsehen fünf Telenovelas. Aber was bedeutet der lateinamerikanische contra-flow von Fernsehinhalten? Handelt es sich um einen weiteren Aspekt jener Brasilianisierung, die zu immer mehr sozialer Ungerechtigkeit führt, wie Michael Lind es für die USA prognostiziert (Lind 1995)? Oder die die Prekarisierung der ehemals sozialversicherten Arbeitsverhältnisse im »Norden« zur Folge hat, wie Ulrich Beck annimmt (Beck 1999)? Oder geht die Globalisierung des Genres mit dem weltweiten Triumph einer brasilianischen, d.h. extremen sozialen Ungleichheit einher, von dem Frank Josef Rademacher ausgeht (Rademacher 2006)? Ganz auszuschließen sind diese Tendenzen vielleicht in der Globalisierung nicht, die – wenn es überhaupt Sinn macht, von ihr zu sprechen – die Grenzziehungen zwischen Zentrum und Peripherie zunehmend in Frage stellt und umkehrt (und neue Grenzen markiert). Es bestätigt sich jedoch auch bei dieser interkontinentalen Passage der lateinamerikanischen Gattung, dass sich die Telenovela in diesem Übergang einmal mehr entäußert und sich im neuen Kontext neu ausformt. Dies scheint auch auf diejenigen Serien zuzutreffen, die sich als deutsche Telenovelas mittlerweile im Programm festgesetzt haben. 2010 hat sich im Vergleich zu 2006 die Anzahl der ausgestrahlten Telenovelas im deutschen Fernsehen zwar wieder halbiert: Die ARD, SAT 1 und das ZDF senden nun je eine solche Serie. Diese Formate sind jedoch dem Anschein nach auf Dauer ausgerichtet. Welcher Art jedoch sind diese Sendungen? Sie werden von ihren Machern „Telenovelas“ genannt.24 Aber keine 24 Die ARD führt Rote Rosen im Programm, und der Sender betont, dass es sich dabei um eine „Telenovela“ handelt (http://www.daserste.de/roterosen/allround_dyn~uid, jhmrf373mard1iuv~cm.asp). SAT1 sendet Anna und die Liebe und bezeichnet sie

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der deutschen Telenovelas hat es je in die prime-time geschafft.25 Es ist daher deutlich, dass sie auf ein spezifisches Zuschauersegment ausgerichtet sind, nämlich auf ein weibliches Jugendpublikum. Damit geht ein alles bestimmender Sentimentalismus einher, der sich deutlich von den Konflikthandlungen der lateinamerikanischen Leidgattung abhebt. Wie sehr die deutschen Telenovelas jedoch vom Modell aus Lateinamerika abweichen, zeigt insbesondere ihre Streckung: Sie werden über Jahre ausgestrahlt und in Hunderten von Kapiteln erzählt.26 Je nach Publikumsakzeptanz dehnen die Programmdirektoren der deutschen Telenovela-Sender die Serien oder setzen sie abrupt ab. Das bedeutet, dass diese Sendungen mit der finalen Erzählstruktur nicht viel gemein haben, die bestimmend für lateinamerikanische Telenovelas ist. Die Verlängerungen der Serien um ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Kapitelzahl weist darauf hin, dass sich diese Erzählungen weitgehend von der Handlung und gar von den Figuren emanzipiert haben. Diese werden je Erzähldauer ausgetauscht und erneuert (etwa durch eine neue Staffel). Das Setting, der Schauplatz bilden den Rahmen. So wird deutlich, dass im deutschen Fernsehen etwas völlig Anderes aus der Telenovela wurde. Die deutsche Telenovela ähnelt stärker dem Erzählmodell der US-amerikanischen soaps als, wie ausgeführt, dem der lateinamerikanischen Telenovelas.27 ebenfalls als „Telenovela“ (http://www.sat1.de/annaunddieliebe/). Nicht anders hält es das ZDF und seine „Telenovela“ Hanna – Folge deinem Herzen (http://han na.zdf.de/). Alle Internetseiten wurden am 02.06.2010 zuletzt aufgesucht. 25 Die öffentlich-rechtlichen Anstalten platzieren ihre Telenovelas im Nachmittagsprogramm, so auch Rote Rosen und Hanna – Folge deinem Herzen . SAT1 verlegt seine Telenovelas auf den Vorabend, so auch im Fall von Anna und die Liebe. 26 Rote Rosen ging am 21.08.2006 an den Start und soll bis 2011 fortgesetzt werden. An dem Zeitpunkt, an dem Telenovelas in Lateinamerika in der Regel abgesetzt werden, beschloss die ARD, die Kapitelzahl zu vervielfachen, weil „die ersten 200 Kapitel der Telenovela so erfolgreich waren“. Sie wird insgesamt mindestens fünf mal so lange laufen wie eine lateinamerikanische Telenovela (http://www.daserste.de/rote rosen/allround_dyn~uid,jhmrf373mard1iuv~cm.asp, zuletzt aufgesucht: 02.06. 2010). Hanna – Folge Deinem Glück ist die zweite Staffel der Folge Deinem GlückSerie, die seit dem 02.03.2009 mit Alisa – Folge Deinem Herzen begann. Bezeichnend ist, dass Alisa... nach 240 Folgen von Hanna... abgelöst wurde, weil sie nicht erfolgreich war. Für Hanna... sind vorerst 130 Kapitel geplant, aber bei entsprechender Quote kann mehr daraus werden... (siehe den Wikipedia-Eintrag zur Serie auf http://de.wikipedia.org/wiki/Hanna_%E2%80%93_Folge_deinem_Herzen sowie die Meldung von Quotenmeter.de auf http://www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=3 9127&p3=, beide zuletzt aufgesucht: 04.06.2010). SAT1 macht im Vergleich zu den Öffentlich-Rechtlichen keinen Unterschied: Anna... wird seit dem 25.08.2008 gesendet und war zunächst auf 252 Kapitel ausgelegt. Wegen der guten Quote wurde die Serie verlängert und läuft nun schon in der dritten Staffel. Ein Ende ist 2010 zumindest nicht in Sicht (siehe den Wikipedia-Eintrag der Serie auf http://de.Wikipe dia.org/wiki/Anna_und_die_Liebe sowie die Meldung von Quotenmeter.de auf http:// www.quotenmeter.de/cms/?p1=n&p2=34894, beide zuletzt aufgesucht: 04.06. 2010). 27 Nicht zufällig gruppiert die ARD ihre Serie Rote Rosen in ein Unterhaltungsformat ein, dass sie Dailys nennt (http://www.daserste.de/dailys/, zuletzt aufgesucht: 04.06. 2010).

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Nicht classe média sondern classe mídia

Warum heißen sie aber trotzdem so? Weil sie offensichtlich auch keine soap operas sind bzw. sein sollen. Mit der deutschen Telenovela wurde eine eigentümliche Mischform kreiert, deren spezifische Funktion eigens zu untersuchen wäre. Sicherlich hat diese etwas mit televisionärer Gemeinschaftsbildung des speziellen Zielpublikums zu tun, die jedenfalls von den Sendern aufwendig forciert wird. Sie suchen ihre Telenovela-Schauerinnen crossmedial zu umzingeln mit zusätzlichen Musik-, Print-, DVD- und Internetangeboten. „Wie eine große Familie“ soll es sein und eintauchen sollen die Zuschauerinnen in die Welt von Anna, Hanna, Bianca, Julia, Tessa oder Lotta oder wer sonst gerade auf dem Programm steht.28 Inwieweit es jedoch dem Rundfunkmedium gelingen wird, das junge Publikum als TeenieTelenovela-Gemeinden einzukreisen und zu verhindern, dass es in die weitläufigen web-communities wegsickert, wird sich zeigen.

28 Eine eigene „Set-Reporterin“ verspricht, alles über die „große Familie“ und besonders über die „heißesten Gerüchte“ am Drehort von Hanna... aufzudecken (http://hanna.zdf.de/). „Tauch ein in Annas Online-Welt“ heißt es auf http://www.sat1.de/annaunddieliebe/annaswelt/annaundihrewelt/ (zuletzt aufgesucht: 04.06.2010). Dies sind nur einige der vielen Interaktivitäten, die auf die Fans lauern.

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Telenovelas und kulturelle Zäsur

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Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5

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MedienAnalysen Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte Juni 2010, 262 Seiten, Kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1191-5

Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik Juni 2010, 256 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1166-3

Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3

Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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