Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika : Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze [1. Aufl.] 9783658317515, 9783658317522

Der Sammelband liefert einen Beitrag zum Entwicklungsstand und Perspektiven zur Weiterentwicklung dualer Berufsbildungsa

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German Pages IX, 421 [431] Year 2020

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Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika : Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze [1. Aufl.]
 9783658317515, 9783658317522

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung: Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika – Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze (Dietmar Frommberger, Janis Vossiek)....Pages 1-12
Brasilien: Ein Vorreiter für die berufliche Bildung in Lateinamerika? (Waldemar Bauer)....Pages 13-72
Costa Rica: Berufsbildung im Wandel (Daniel Láscarez Smith, Fabienne-Agnes Baumann)....Pages 73-112
Kolumbien: Berufsbildung zur Überwindung des Postkonflikts? (Susanne Peters, Waldemar Bauer)....Pages 113-149
Botswana: Berufsbildungsreform und institutionelle Neuausrichtung (Janis Vossiek)....Pages 150-187
Ghana: Berufsbildungsstrukturen zwischen Angebotsvielfalt und Standardisierung (Dietmar Frommberger, Ernst Jünke, Léna Krichewsky-Wegener)....Pages 188-234
Kenia: Reformdynamik und Implementierungsstau (Fabienne-Agnes Baumann)....Pages 235-289
Namibia: Competency-based Education and Training als Lösung und Problem (Michael Gessler, Larissa Holle)....Pages 290-357
Nigeria: Niedriger Status der Berufsbildung und die Relevanz regionaler Initiativen für kooperative Ansätze (Léna Krichewsky-Wegener, Janis Vossiek)....Pages 358-389
Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika – Quo vadis duale Berufsbildung? (Dietmar Frommberger, Janis Vossiek, Larissa Holle)....Pages 390-420
Back Matter ....Pages 421-421

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Internationale Berufsbildungsforschung

Fabienne-Agnes Baumann  Dietmar Frommberger  Michael Gessler · Larissa Holle  Léna Krichewsky-Wegener  Susanne Peters · Janis Vossiek Hrsg.

Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze

Internationale Berufsbildungsforschung Reihe herausgegeben von Dietmar Frommberger, Osnabrück, Deutschland Michael Gessler, Bremen, Deutschland Matthias Pilz, Köln, Deutschland

Die Reihe ‚Internationale Berufsbildungsforschung‘ bietet einen Publikationsort für Veröffentlichungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen Berufsbildungsforschung, vergleichender Erziehungswissenschaften, Soziologie, Politologie und Ökonomie. Die Herausgeber vertreten einen weiten Fokus, der berufliche Bildung als ein kultur-, lebensphasen-, domänen- sowie institutionenübergreifendes Phänomen versteht. Die gemeinsame Schnittmenge sowie die Herausforderung besteht dabei in der Aufklärung der Wechselwirkungen zwischen Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Entsprechend dieser Ausrichtung umfasst das thematische Potenzial die Spannbreite von Mikroforschung (z.B. Unterrichtsforschung) bis Makroforschung (z.B. Bildungstransfer) und von hoch formalisierten sowie institutionalisierten Bildungsangeboten (z.B. schulische Berufsbildung) bis informellen arbeitsgebundenen Bildungsangeboten (z.B. Lernen im Arbeitsprozess). Die Monografien und Sammelbände der Reihe erscheinen in deutscher oder englischer Sprache. ​ eirat der Reihe/Editorial Advisory Board B Dr. Jim Hordern Prof. Dr. Philip Gonon University of Bath, England Universität Zürich, Schweiz Prof. Dr. Sabine Pfeiffer Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland

Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Schröder Technische Universität Dortmund, Deutschland

Prof. Dr. Zhiqun Zhao Beijing Normal University Peking, China

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15816

Fabienne-Agnes Baumann · Dietmar Frommberger · Michael Gessler · Larissa Holle · Léna Krichewsky-Wegener · Susanne Peters · Janis Vossiek (Hrsg.)

Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze

Hrsg. Fabienne-Agnes Baumann Berufs- und Wirtschaftspädagogik Universität Osnabrück Osnabrück, Deutschland

Dietmar Frommberger Berufs- und Wirtschaftspädagogik Universität Osnabrück Osnabrück, Deutschland

Michael Gessler Institut Technik und Bildung Universität Bremen Bremen, Deutschland

Larissa Holle Institut Technik und Bildung Universität Bremen Bremen, Deutschland

Léna Krichewsky-Wegener Institut für Innovation und Technik bei der VDI/VDE-IT GmbH Berlin, Deutschland

Susanne Peters Institut Technik und Bildung Universität Bremen Bremen, Deutschland

Janis Vossiek Berufs- und Wirtschaftspädagogik Universität Osnabrück Osnabrück, Deutschland Internationale Berufsbildungsforschung ISBN 978-3-658-31752-2  (eBook) ISBN 978-3-658-31751-5 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat : Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Reihenherausgebervorwort

Die Weltregionen Lateinamerika und Subsahara-Afrika gelten nicht nur wegen ihrer geopolitischen Lage als zukünftig besonders bedeutsam. Auch die schiere Größe der Landmassen, die junge und wachsende Bevölkerung sowie die trotz einiger Rückschläge bedeutsamen wirtschaftlichen Entwicklungen lassen Lateinamerika und Subsahara-Afrika neben Asien zunehmend in den weltpolitischen Fokus rücken. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass sich die international-vergleichende Berufsbildungsforschung zumindest im deutschen Sprachraum bisher vergleichsweise wenig bzw. nur sehr selektiv mit den Berufsbildungssystemen und der Berufsbildungspraxis in diesen Regionen auseinandergesetzt hat. Oftmals wurde dabei ein Schwerpunkt auf einzelne wenige Länder oder aber spezifische Fragestellungen im Kontext dieser Regionen gelegt. Ein systematischer Vergleich und die explizite Auseinandersetzung mit dualen Strukturen beruflicher Bildung unterbleib dabei weitgehend. Vor diesem Hintergrund greift der vorliegende Band ein Forschungsdesiderat fruchtbar auf und schließt somit zumindest in Teilen eine große Forschungslücke. Die Länderstudien dieses Bandes zeigen die vielfältigen Herausforderungen, aber auch die Entwicklungsmöglichkeiten dualer Berufsbildungsansätze in verschiedenen Staaten Lateinamerikas (Brasilien, Costa Rica, Kolumbien) und Sub-Sahara Afrikas (Botswana, Ghana, Kenia, Namibia, Nigeria) denn auch eindringlich auf. Für die Analysen in den Ländern wurden durchgängig identische Merkmale verwendet, um Vergleiche zwischen diesen zu ermöglichen. Die Merkmale entstammen der deutschen Berufsbildungszusammenarbeit und umfassen die Kooperation zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisa-

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Reihenherausgebervorwort

tionen und Staat, das Lernen im Arbeitsprozess, die Akzeptanz von nationalen Standards, die Qualifizierung des Berufsbildungspersonals sowie die Institutionalisierung der Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung. Diese Merkmale wurden im Strategiepapier „Berufsbildungszusammenarbeit aus einer Hand“ der Bundesregierung im Jahr 2013 erstmals veröffentlicht und dort als „Kernprinzipien“ bezeichnet. Die fünf Kernprinzipien dienen in den Beiträgen folglich auch der Identifizierung von positiven Beispielen für die Unterstützung dualer Berufsbildungsansätze oder Problemen des Auf- und Ausbaus dualer Ansätze. Der wissenschaftlich fokussierten, aber auch der praxisorientierten Leserschaft bietet der vorliegende Band nicht nur einen guten Überblick, sondern gleichzeitig auch eine Informationsbasis für eigene weiterführende Untersuchungen. Köln, im Juli 2020 Prof. Dr. Matthias Pilz Universität zu Köln

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Berufliche Bildung in Lateinamerika und SubsaharaAfrika – Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze ....................................................................................... 1 1

Zielstellung der Länderanalysen des Sammelbandes ......................... 1

2

Hintergrund des Sammelbands, Auswahl der Regionen und Länder und Art der Erhebungen ..................................................................... 6

3

Struktur der Länderstudien und des Bandes....................................... 8

Literatur ................................................................................................... 11 Brasilien: Ein Vorreiter für die berufliche Bildung in Lateinamerika? ................................................................................. 13 1

Landeskontext .................................................................................. 13

2

Berufliche Bildung ........................................................................... 23

3

Herausforderungen ........................................................................... 57

Literatur ................................................................................................... 66 Costa Rica: Berufsbildung im Wandel ................................................ 73 1

Landeskontext .................................................................................. 74

2

Berufliche Bildung ........................................................................... 84

3

Herausforderungen ......................................................................... 104

Literatur ................................................................................................. 109

VIII

Inhaltsverzeichnis

Kolumbien: Berufsbildung zur Überwindung des Postkonflikts? .. 113 1

Landeskontext ................................................................................ 113

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 121

3

Herausforderungen ......................................................................... 139

Literatur ................................................................................................. 146 Botswana: Berufsbildungsreform und institutionelle Neuausrichtung ................................................................................... 150 1

Landeskontext ................................................................................ 151

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 160

3

Herausforderungen ......................................................................... 181

Literatur ................................................................................................. 184 Ghana: Berufsbildungsstrukturen zwischen Angebotsvielfalt und Standardisierung ......................................................................... 188 1

Landeskontext ................................................................................ 188

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 195

3

Herausforderungen ......................................................................... 227

Literatur ................................................................................................. 232 Kenia: Reformdynamik und Implementierungsstau ....................... 235 1

Landeskontext ................................................................................ 236

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 244

3

Herausforderungen ......................................................................... 279

Literatur ................................................................................................. 283

Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika

IX

Namibia: Competency-based Education and Training als Lösung und Problem ........................................................................... 290 1

Landeskontext ................................................................................ 291

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 316

3

Herausforderungen ......................................................................... 349

Literatur ................................................................................................. 354 Nigeria: Niedriger Status der Berufsbildung und die Relevanz regionaler Initiativen für kooperative Ansätze................................. 358 1

Landeskontext ................................................................................ 358

2

Berufliche Bildung ......................................................................... 366

3

Herausforderungen ......................................................................... 382

Literatur ................................................................................................. 386 Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika – Quo vadis duale Berufsbildung? ........................................................ 390 1

Einleitung ....................................................................................... 390

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Vergleichende Befunde zu dualen Strukturansätzen in der Berufsbildung Lateinamerikas und Subsahara-Afrikas.................. 393

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Fazit und Forschungsausblick ........................................................ 411

Literatur ................................................................................................. 418 Autorenverzeichnis.............................................................................. 420

Einleitung: Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika – Entwicklungsstand und Herausforderungen dualer Strukturansätze Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

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Zielstellung der Länderanalysen des Sammelbandes1

Weltweit existiert eine große Vielfalt von Ansätzen beruflicher Aus- und Weiterbildung. Es überwiegen die diversen vollzeitschulischen Berufsbildungssysteme, in denen die Ablaufstrukturen und Inhalte primär durch staatliche Instanzen bestimmt werden. Akteure und Interessen des Arbeitsmarktes, beispielsweise der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, oder auch Kammerorganisationen und Wirtschaftsverbände, werden häufig nicht systematisch in die Entwicklung von Ordnungsmitteln oder in die Gestaltung von Lernprozessen einbezogen. Die Berufsbildung folgt hier einer Schullogik, betriebliche Lern- und Erfahrungsanteile werden allenfalls in Form von kurzfristigen Praktika vermittelt und sind häufig weder inhaltlich standardisiert noch durch geschultes Personal im Betrieb begleitet. Daneben gibt es in vielen Ländern sehr verschiedene Ansätze der einzelbetrieblichen Qualifizierung, die nicht oder nur geringfügig standardisiert sind und daher – in der analytischen Betrachtung von Berufsbildungsstrukturen - als informelle Qualifizierungsstrategien zu verstehen sind. Hier sind die Verknüpfungen mit solchen öffentlich-rechtlich angelegten Systemen der beruflichen Bildung sehr schwach, deren Zielsetzungen über die origi-

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Der erste Abschnitt basiert teils auf einer bereits veröffentlichten Studie (Frommberger 2019, S. 24-25).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_1

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

näre betriebliche Qualifizierungsaufgabe hinausgehen und mit gesellschaftlichen sowie sozialpolitischen Zwecksetzungen (Übergang von Schule in Arbeit und Beruf) und gesamtwirtschaftlichen Funktionen (Fachkräfteentwicklung) verbunden sind. In kooperativ bzw. kollektiv gesteuerten Berufsbildungssystemen wiederum, die nur in wenigen Ländern flächendeckend zu finden sind, existiert ein rechtlicher Rahmen zur Verbindung der betrieblichen und schulischen beruflichen Ausbildungsanteile. Ausbildung im Betrieb und Unterricht in der Berufsschule sind inhaltlich abgestimmt und aufeinander bezogen. Staat und Unternehmen fällt eine gleichermaßen gewichtige Rolle vor allem in der beruflichen Erstausbildung zu. In der Regel sind parastaatliche Akteure wie etwa Kammern sowie organisierte Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen in die Governance und Durchführung der Aus- und teilweise der Weiterbildung eingebunden. Anzumerken ist, dass diese drei skizzierten Strukturansätze der beruflichen Bildung (Staatliches Schulmodell, Einzelbetriebliches Marktmodell, Kooperatives Duales System)2 innerhalb vieler Länder auch nebeneinander existieren, wenn auch in einer unterschiedlichen Gewichtung. Ansätze unter Einbezug von Ausbildungsbetrieben, in denen die betriebliche Qualifizierung gegebenenfalls schulisch flankiert wird sind traditionell in fast allen Ländern zu finden. Doch die tatsächliche landesweite Relevanz der innerbetrieblichen Rekrutierungs- und Qualifizierungsstrategien und die individuellen Bildungswahlentscheidungen der Schulabsolventen3 für selbige ist dort häufig sehr gering. Meist bleibt die betriebliche Lehre auf kleingewerbliche Bereiche (Handwerk oder Einzelhandel) oder auf wenige Großunternehmen beschränkt, ist kaum öffentlich-rechtlich geregelt oder nur regional von Bedeutung.

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Hierzu liegen verschiedene Modelldifferenzierungen und Bezeichnungen vor, siehe zum Beispiel Greinert 2005, Busemeyer & Trampusch 2012 und Pilz 2016. Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen, sofern kein expliziter Verweis auf eine spezifische Genderbezeichnung gegeben wird.

Einleitung

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Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt von Berufsbildungssystemen liegen wesentliche Erkenntnisinteressen der international-vergleichenden Berufsbildungsforschung zum einen in der Beschreibung der politisch, ökonomisch und kulturell bedingten Genese und des Status Quo der verschiedenen nationalen Berufsbildungsstrukturen und -prinzipien respektive ausgewählter Aspekte der Berufsbildung in den betrachteten Ländern. Auf der Basis dieser länderspezifischen Analysen sind komparative Erkenntnisse zu den Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Berufsbildungsstrukturen und -merkmalen möglich. Zum anderen verfolgt die international-vergleichende Berufsbildungsforschung das Ziel, Erklärungsansätze für die festgestellten Unterschiede und Ähnlichkeiten zu entwickeln. Beschreibungs- und Erklärungswissen zu Entwicklung und Status Quo kann zudem – allerdings unter den notwendigen methodologischen Vorbehalten – Hinweise zur Weiterentwicklung der beruflichen Bildung in den nationalen Kontexten liefern, also auf mögliche Problemlösungen hindeuten. Letzteres vor allem dort wo es zum Beispiel darum geht zu klären, ob und inwieweit Ansätze dualer Berufsbildung in Ländern mit dafür schwach ausgeprägten institutionellen Voraussetzungen implementiert werden können. In diesem Verständnis setzt Problemlösungswissen, hier für die Weiterentwicklung von Berufsbildungsstrukturen, die Kenntnis und Begründung gewachsener komplexer Berufsbildungssysteme voraus. Und in diesem Sinne wird mit den vorliegenden Länderanalysen zu ausgewählten Ländern Lateinamerikas und Subsahara-Afrikas auch ein Beitrag geleistet zur Beantwortung der Fragestellung, welche Prozesse und Strukturen Reformaktivitäten in der Berufsbildung beeinflussen können, und welche davon Reformen hin zu dualer Berufsausbildung bremsen oder befördern. Mit einem Beispiel kann dieser Zusammenhang verdeutlicht werden: Die Beschreibung der nationalen Berufsbildungsstrukturen in Ghana zeigt (vgl. den Beitrag von Frommberger, Jünke & Krichewsky-Wegener in diesem Band), dass die betriebliche Beteiligung an einem öffentlich-rechtlich standardisierten System der beruflichen Erstausbildung sehr gering ist. Mögliche Erklärungsansätze hierfür liegen etwa in der mangelnden Akzeptanz,

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

oder sogar expliziten Ablehnung, staatlicher Standards für die innerbetrieblichen Qualifizierungsabsichten. Politisch gewünschte gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Nutzendimensionen spielen für die einzelbetriebliche Personalentwicklungsstrategie keine Rolle. Weiterhin gehen Ausbildungsbedarfe, die – auch aufgrund sehr heterogener und verhältnismäßig kurzer Wertschöpfungstiefen – häufig kaum über die unmittelbaren arbeitsplatznahen Trainings hinaus. Ausgehend von diesen (und weiteren) Erklärungsansätzen kann überlegt werden, mit welchen Lösungsansätzen die betriebliche Ausbildungsbeteiligung in Ghana erhöht werden könnte. Konkret könnte es mithin erfolgreich sein, für ausgewählte Wirtschaftszweige, für die eine hohe Qualifizierungstiefe und -breite erforderlich (oder wünschenswert) ist, Unterstützungsstrukturen für die Erarbeitung von anschlussfähigen Ausbildungsstandards anzubieten. Solche Ausbildungsstandards könnten aufgrund ihrer Berücksichtigung unmittelbarer betrieblicher Anforderungen auf die Akzeptanz der ökonomisch tätigen Akteure stoßen (oder gar von ihnen mitentwickelt werden) und zugleich mit überbetrieblichen und gesellschaftlichen Effekten verbunden sein. Die betriebliche Ausbildungsbeteiligung ist offensichtlich eng verbunden mit der Struktur der Berufsbildungsinstitutionen in einem Land, die wiederum Produkt fortwährend dynamischer politischer Prozesse ist. Die hierfür gewachsenen Rahmenbedingungen sind international unterschiedlich, trotz einer weit verbreiteten historischen Ausgangssituation beruflicher Bildung, die im traditionellen Verständnis einer ständischen Berufserziehung mittels Unterweisung und Sozialisation der Lehrlinge beim Lehrherrn lag (Zabeck 2006). Die tieferen Gründe für die geringe Beteiligung der Betriebe, die weltweit zu erleben ist, sind folglich in der Entwicklungsgeschichte der beruflichen Bildung zu finden und dort in Bezug auf sehr unterschiedliche interessenpolitische und ökonomische Bedingungskonstellationen (vgl. hierzu ausführlich Frommberger 2017). Über die Analyse der Weiterentwicklung dualer Strukturansätze in ausgesuchten Ländern hinaus werden mit den Beiträgen in diesem Buch auch

Einleitung

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vergleichende Erkenntnisse angezielt. Das komparative Erkenntnisinteresse ist vor allem auf die Findung solcher Ansätze und Bedingungen gerichtet, die eine Implementierung dualer Ansätze in besonderer Weise befördern (oder behindern). Wie eingangs dargestellt, sind weltweit sehr verschiedene Berufsbildungsansätze zu finden. Die in der vorliegenden Publikation verhandelte Frage zur Weiterentwicklung dualer Strukturansätze beruflicher Erstausbildung knüpft an starke politische Bestrebungen in einer Vielzahl von Ländern an, dieses spezifische Modell der beruflichen Ausbildung zu implementieren. Es scheint einen allgemeinen Konsens darüber zu geben, dass die duale bzw. kooperative Anlage der beruflichen Erstausbildung gegenüber anderen Ansätzen von Vorteil ist (vgl. Smith & Kemmis 2013). Der Lernort Betrieb und der duale Ansatz erfahren seit einigen Jahren auch eine große Aufmerksamkeit von internationalen und supranationalen Organisationen (z. B. OECD 2011, Rat der Europäischen Union 2013, ILO 2012), insbesondere vor dem Hintergrund der Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern. Standardisierungsansätze zur Einbeziehung der betrieblichen Qualifizierungsaktivitäten in ein übergeordnetes System der beruflichen Bildung können sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. So umfassen sie inhaltliche und zeitliche (didaktisch-curriculare) Regelungen (auch zum Zwecke der Kooperation mit schulischen Bildungsträgern), qualitative Anforderungen an das Ausbildungspersonal, Finanzierungsansätze, Vergabemodalitäten von Entscheidungsbefugnissen zum Beispiel an die Sozialpartner sowie Vorgehensweisen und Zuständigkeiten in Prüfungs- und Zertifizierungsangelegenheiten. Auch die Reichweite regulierender Ansätze ist vielfältig. Sie können landesweiter und gesetzlicher Natur sein, auf Branchen- und Tarifvereinbarungen beruhen oder in betrieblichen Vereinbarungen liegen (vgl. hierzu ausführlich Frommberger 2017). Die deutsche Bundesregierung hat zum Zwecke ihrer internationalen Berufsbildungskooperation fünf Kernprinzipien dualer Berufsausbildung formuliert, die handlungsleitend für die internationale Zusammenarbeit mit den Partnerländern sein sollen und – aus deutscher Sicht – einen Rahmen

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

für die dortige Weiterentwicklung dualer Berufsbildungsstrukturen darstellen können. Es handelt sich um die folgenden Kernprinzipien: a) Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Sozialpartnern und Staat; b) Lernen im Arbeitsprozess; c) Qualifiziertes Bildungspersonal; d) Akzeptanz von nationalen Standards; e) Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und -beratung (Deutscher Bundestag 2013) 4. Die fünf Kernprinzipien werden im den Band beschließenden Beitrag vertieft dargestellt und diskutiert.

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Hintergrund des Sammelbands, Auswahl der Regionen und Länder und Art der Erhebungen

Der Hintergrund zur Entstehung des Sammelbandes sind zwei Forschungsreisen nach Lateinamerika und Subsahara-Afrika, die in wechselnden Zusammensetzungen vom Autorenteam dieses Bandes durchgeführt wurden. Die Erhebungen im Ausland erfolgten im Kontext der Sondierungsphase des wissenschaftlichen Begleitprojekts zur Förderrichtlinie „Internationalisierung der Berufsbildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), wb-ibb-so5. Der Forschungsauftrag des BMBF fokussierte Auslandserhebungen in ausgewählten Ländern Lateinamerikas im Oktober 2017 sowie im Januar und Februar 2018 in ausgewählten Staaten Subsahara-Afrikas6, da beide Regionen von strategischem Interesse für die Weiterentwicklung der internationalen Berufsbildungskooperationen des BMBF waren.

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Mit der Strategie der Bundesregierung zur internationalen Berufsbildungszusammenarbeit vom Mai 2019 wurden die Bezeichnungen der fünf Kernprinzipien teils leicht angepasst. Siehe dazu auch: https://www.bmbf.de/files/137_19_Strategie_Bundesregierung.pdf Die Sondierungsphase des Projekts wurde vom 01. September 2017 bis zum 30. April 2018 vom BMBF gefördert. Für weitere Informationen zum Projekt siehe: https://wb-ibb.info/. Das Forschungsprojekt wurde für die Erhebungen vom BMBF finanziell aus Projektmitteln unterstützt (Forschungsprojekt BU-01BE17013A), wofür sich die Autoren herzlich bedanken.

Einleitung

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Die Auswahl der jeweiligen Länder erfolgte in enger Abstimmung mit dem Mittelgeber und basierte nicht vorrangig auf gängigen Methoden der analytischen Fallauswahl seitens der Forschenden, da vielmehr Fälle im Fokus standen, die für zukünftige Aktivitäten des BMBF von Interesse sein könnten. Für Lateinamerika betraf dies vor allem die Staaten der Pazifik-Allianz7 sowie Costa Rica, mit dem es seitens des BMBF seit 2016 eine Vereinbarung zur Kooperation in der Berufsbildung gibt, sowie Brasilien als wichtiges Ankerland auf dem südamerikanischen Kontinent. Die besuchten Länder Subsahara-Afrikas wurden in enger Abstimmung mit dem BMBF angesichts sozio-ökonomischer Kriterien, politischer Stabilität sowie Aktivitäten deutscher Berufsbildungsakteure als zukünftige Anknüpfungspunkte für die weitere Berufsbildungszusammenarbeit ausgewählt. Die letztlich für Lateinamerika ausgewählten Länder waren Brasilien, Costa Rica, Kolumbien sowie Chile und Peru, wobei die beiden letztgenannten Fälle in diesem Band nicht vertieft behandelt werden.8 Die für die Auslandserhebung ausgewählten Staaten Subsahara-Afrikas waren Botswana, Ghana, Kenia, Namibia und Nigeria. Die Hauptfragestellungen für die Erhebungen in den ausgewählten Fällen bezogen sich sowohl auf den Status quo der Entwicklung der Berufsbildungssysteme zum Zeitpunkt der Erhebung als auch auf deren zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten und -herausforderungen. Als analytisches Raster wurden dabei die im vorhergehenden Abschnitt aufgeführten fünf Kernprinzipien der deutschen Berufsbildungskooperation verwendet, um sowohl den Entwicklungsstand als auch die Hemmnisse für duale Strukturansätze identifizieren zu können und Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschung, aber auch für zukünftige Berufsbildungskooperationen, aufzeigen zu können.

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Mit Ausnahme Mexikos, da es hier bereits eine langjährige Kooperationsvereinbarung auf dem Feld der Berufsbildung gab. Befunde zu Chile (Gessler et al. 2018) und Peru (Angles & Gessler 2018) sind in einer kollektiven Monographie (DLR 2018) zu finden. Dort finden sich auch Kurzberichte zu den im vorliegenden Band ausführlich beschriebenen Länderfällen.

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

Die in den nächsten Kapiteln des Bandes folgenden Länderstudien zum Stand der Berufsbildung und deren Entwicklungsmöglichkeiten für duale Ansätze basieren auf einer breiten empirischen Basis. Eine Hauptquelle stellen die in den jeweiligen Fällen durchgeführten Experteninterviews, Besuche von berufsbildenden Einrichtungen sowie Gruppendiskussionen dar. In den im Band behandelten lateinamerikanischen Fällen wurden insgesamt 17 Experteninterviews durchgeführt, ferner wurde ein Ausbildungszentrum besucht sowie eine Gruppendiskussionen in Zusammenarbeit mit einer deutschen Außenhandelskammer (AHK) organisiert und durchgeführt. Für die Fälle Subsahara-Afrikas stützen sich unsere Befunde auf insgesamt 33 Experteninterviews, sechs Besuche von Ausbildungseinrichtungen sowie drei Gruppendiskussionen bei drei deutschen Außenhandelskammern. Unsere Interviewpartner haben wir dabei so ausgewählt, dass sie eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Stakeholder der beruflichen Bildung in den jeweiligen Ländern abdeckten: Unsere Experten waren dabei Firmenvertreter, Ausbildungsanbieter, Vertreter von deutschen Botschaften, Mitarbeiter der lokalen AHKs, Vertreter von für Berufsbildung verantwortlichen Ministerien, nationalen Ausbildungsbehörden und Berufsschulen sowie Berufsbildungsforscher und Repräsentanten von Arbeitgeberverbänden. Hinzu kam die Analyse von Primär- und Sekundärquellen zur Berufsbildung im entsprechenden Land. Der Zeitpunkt der Beendigung der Erhebungen und Auswertungen wird zu Beginn der jeweiligen Länderstudie in einer Fußnote deutlich gemacht.

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Struktur der Länderstudien und des Bandes

Die mit diesem Band vorgelegten Länderstudien zum Entwicklungsstand und zu den Herausforderungen bezüglich der Weiterentwicklung der Berufsbildungssysteme folgen einer ähnlichen inhaltlichen Struktur. Im ersten Abschnitt einer Länderstudie wird zunächst der Landeskontext beschrieben, wobei erst auf die politischen Rahmenbedingungen der Re-

Einleitung

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gierungsführung, der Verfasstheit staatlicher Strukturen sowie Schwerpunkte des – zum Zeitpunkt der Analyse aktuellen – Regierungsprogramms eingegangen wird. Darauffolgend werden die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschildert, was die Entwicklungen in den relevanten Wirtschaftssektoren, die Qualifikationsstruktur des Landes sowie die Qualifikationsbedarfe und -prognosen umfasst. Der nächste Abschnitt einer Länderstudie widmet sich dem Berufsbildungssystem. Diskutiert wird hier zunächst die Struktur des Gesamtbildungssystems und die Frage, auf welche Art und Weise das Berufsbildungssystem in das Gesamtbildungssystem eingebettet ist. Anschließend werden die gesetzlichen Grundlagen für die berufliche Bildung dargestellt und die Verantwortlichkeiten und maßgeblichen Akteure für die Steuerung des Berufsbildungssystems beschrieben. Vor diesem Hintergrund wird anschließend analysiert, welche Problemstellungen, Lösungsansätze und Projektinitiativen sich für die Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems identifizieren lassen, bevor zum Abschluss des Abschnitts ein Fazit zu den Bedarfen und zur Weiterentwicklung der beruflichen Ausbildung gezogen wird. Die Länderstudien schließen mit einer Diskussion der wesentlichen Herausforderungen für die Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems hin zu kooperativen bzw. dualen Berufsbildungsansätzen. Diese Herausforderungen werden dabei aus Perspektive der fünf Kernprinzipien der deutschen internationalen Berufsbildungszusammenarbeit diskutiert und eingeordnet, auch um Ansatzpunkte für zukünftige Forschungen und Entwicklungsprojekte aufzeigen zu können. Zunächst werden die Analysen der lateinamerikanischen Fälle vorgestellt. Zu Beginn beschreibt Waldemar Bauer das brasilianische Berufsbildungssystem, das durch das Zusammenwirken von öffentlichen und privaten Institutionen geprägt wird und von einer Vielzahl von Programmen und Kursen gekennzeichnet ist. Brasilien wird auch deshalb als interessanter Fall beschrieben, da die dortigen Institutionen lange als Muster für die Entwicklung der beruflichen Bildung in der Region galten. Es werden ausgewählte Besonderheiten und Herausforderungen diskutiert. Daniel Láscarez Smith

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

und Fabienne-Agnes Baumann nehmen die Wandlung des Berufsbildungssystems in Costa Rica in den Blick. Dabei werden vor allem Entwicklungen hin zu einem dualen Berufsbildungssystem beleuchtet, das in einem Prozess des sozialen Dialogs entwickelt werden soll, sowie mögliche Fallstricke auf diesem Weg. Susanne Peters und Waldemar Bauer beleuchten die Entwicklungen der Berufsbildung nach dem jüngsten Ende der Jahrzehnte währenden Gewaltkonflikte in Kolumbien. Dabei wird vor allem analysiert, welche Schritte beim Ausbau der beruflichen Bildung eine nachhaltige Qualifizierung ermöglichen könnten. Die in diesem Band vorgestellten Analysen ausgewählter Fälle in Subsahara-Afrika beginnen mit Botswana. Janis Vossiek befasst sich insbesondere mit den dortigen jüngeren Berufsbildungsreformen. Während die Berufsbildung dort jüngst an politischer Priorität gewonnen hat, zeigt sich bei der Umsetzung aktueller Reformen die große Herausforderung der Abstimmung eines dynamischen Reformprozesses, um die berufliche Bildung qualitativ zu stärken. Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener befassen sich mit der Entwicklung der beruflichen Bildung in Ghana. Dort ist das Angebot beruflicher Bildung vielfältig und qualitativ sehr unterschiedlich. Regulierung und Abstimmung stellen daher besondere Herausforderungen dar. Fabienne-Agnes Baumann analysiert anschließend, welche Reformdynamiken und Implementierungsprobleme sich für die Berufsbildung Kenias ausmachen lassen. Dabei zeigt sich einerseits, dass Berufsbildung politisch als wichtiger Reformbereich erachtet wird. Andererseits wird dessen Weiterentwicklung durch finanzielle und personelle Engpässe sowie durch die Dopplung von Zuständigkeiten verlangsamt. Das Berufsbildungssystem Namibias wird durch Michael Gessler und Larissa Holle beschrieben. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema Competency-based Education (CBET) und dessen Umsetzung in Namibia. Dabei wird aufgezeigt, wie bestimmte Aspekte der Umsetzung des CBET-Systems den Übergang von der Berufsausbildung in die Beschäftigung nicht optimal unterstützen und wie diese Herausforderung durch andere strukturelle Probleme des Landes verstärkt wird. Den Ab-

Einleitung

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schluss bildet die Länderstudie Nigeria, die von Léna Krichewsky-Wegener und Janis Vossiek vorgestellt wird. Dabei zeigt sich, dass nationale Reformen kaum zur Linderung der akuten Probleme großer Jugendarbeitslosigkeit und des Fachkräftemangels beitragen, sich auf regionaler oder lokaler Ebene aber dennoch kooperative Ansätze der Berufsbildung bewähren können. Den Abschluss des gesamten Bandes bildet der Beitrag von Dietmar Frommberger, Janis Vossiek und Larissa Holle, der in Form eines Überblicks ausgewählte Befunde der acht Länderanalysen zusammenfasst. Dabei werden aus dem Blickwinkel der fünf Kernprinzipien der deutschen internationalen Berufsbildungskooperation Entwicklungen der ausgewählten Länder in den Blick genommen, die entweder als positive Beispiele für die Unterstützung dualer Berufsbildungsansätze gefunden werden können oder die Probleme des Aufbaus dualer Ansätze verdeutlichen. Der Beitrag schließt mit der Diskussion der Befunde des Bandes und wirft neue Fragen für die zukünftige Forschung auf.

Literatur Angles, E., & Gessler, M. (2018). Sondierungsbericht zu Peru. In: DLR (Hg.), Berufsbildung International. Berufsbildung im Fokus: Afrika und Lateinamerika (S. 20–23). Bonn: DLR Projektträger. Busemeyer, M. R., & Trampusch, C. (Hrsg.). (2012). The Political Economy of Collective Skill Formation. Oxford/New York: Oxford University Press. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) (Hg.). (2018). Berufsbildung International. Berufsbildung im Fokus: Afrika und Lateinamerika. Bonn: DLR Projektträger. https://bit.ly/31klcrZ. Zugegriffen: 11. 05. 2020. Deutscher Bundestag (2013). Strategiepapier der Bundesregierung zur internationalen Berufsbildungszusammenarbeit aus einer Hand. 17. Wahlperiode, Drucksache 17/14352. https://www.bmbf.de/files/strategiepapier_der_Bundesregierung_zur_internationalen_Berufsbildungszusammenarbeit.pdf. Zugegriffen: 25.09.2018.

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Dietmar Frommberger und Janis Vossiek

Frommberger, D. (2017). Der Betrieb als Lernort in der beruflichen Bildung – Internationale Entwicklungen im Vergleich. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, 32, S. 1–20. http://www.bwpat.de/ausgabe32/frommberger_bwpat32.pdf. Zugegriffen: 11.05.2020. Frommberger, D. (2019). Wege zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung – Ein internationaler Vergleich. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Gessler, M., Barrientos Delgado, C., & Peters, S. (2018). Sondierungsbericht zu Chile. In DLR (Hg.), Berufsbildung International. Berufsbildung im Fokus: Afrika und Lateinamerika (S. 9–13). Bonn: DLR Projektträger. Greinert, W.-D. (2005). Mass vocational education and training in Europe. Classical models of the 19th century and training in England, France and Germany during the first half of the 20th. Luxemburg. Office for Offical Publications of the European Communities. International Labor Organization (ILO). (2012). Overview of Apprenticeship Systems and Issues. ILO: Geneva. http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/--ed_emp/---ifp_skills/documents/genericdocument/wcms_190188.pdf. Zugegriffen: 31.03.2017. Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD). (2011). OECD reviews of vocational education and training: Learning for jobs. Pointers for policy development. Paris. Pilz, M. (2016). Typologies in Comparative Vocational Education: Existing Models and a New Approach. Vocations and Learning, 8 (3), S. 297–314. Rat der Europäischen Union (2013). Europäische Ausbildungsallianz. Erklärung des Rates. Brüssel (14986/13). Smith, E., & Kemmis, R. B. (Hrsg.). (2013). Towards a model apprenticeship framework. A comparative analysis of national apprenticeship systems. New Dehli: International Labour Office & The World Bank. Zabeck, J. (2006). Zur Urgestalt beruflichen Lehrens und Lernens. In G. Minnameier & E, Wuttke (Hrsg.), Berufs- und wirtschaftspädagogische Grundlagenforschung. Lehr-Lern-Prozesse und Kompetenzdiagnostik. Frankfurt a. M.: Peter Lang. S. 182–190.

Brasilien: Ein Vorreiter für die berufliche Bildung in Lateinamerika? Waldemar Bauer

Abstract Das brasilianische Berufsbildungssystem ist ein interessantes Beispiel für das Zusammenwirken von öffentlichen und privaten Institutionen. Der Bund, die Bundesstaaten und die Kommunen unterhalten verschiedene technische und berufliche Schulen im öffentlichen Bereich, die eine Vielzahl von Programmen und Kursen anbieten. Im Privatsektor sind vor allem die Berufsbildungsinstitutionen im sog. S-System (Sistema S) zu nennen, die von Arbeitgeberverbänden unterhalten werden. Diese werden über eine Lohnsummensteuerabgabe der Betriebe teilfinanziert und bieten berufliche Qualifizierungs-, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie andere Dienstleistungen für Unternehmen in den einzelnen Wirtschaftssektoren an. In diesem System befindet sich der nationale Dienst für die industrielle Ausbildung SENAI, die größte Berufsbildungsinstitution in Lateinamerika. Dieses Modell war ein Muster für die berufliche Bildung in Südund Mittelamerika. Viele lateinamerikanische Länder haben ähnliche Berufsbildungsorganisationen eingerichtet. In diesem Beitrag wird das brasilianische Berufsbildungssystem vorgestellt und ausgewählte Besonderheiten und Herausforderungen beschrieben.

1

Landeskontext

Brasilien ist mit einer Fläche von ca. 8,5 Mio. qkm das fünftgrößte Land der Erde (ca. 25-mal so groß wie Deutschland) und bedeckt fast die Hälfte der Fläche Südamerikas. Die Föderative Republik Brasilen besteht aus 26 © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_2

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Waldemar Bauer

Bundesstaaten und dem Bundesdistrikt mit der Hauptstadt Brasília. Die Bundesstaaten werden zu fünf statistisch relevanten Großregionen zusammengefasst, die geographisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell große Unterschiede haben. Der Norden (Região Norte) mit den Bundesstaaten Acre, Amapá, Amazonas, Pará, Rondônia, Roraima und Tocantins umfasst rund 45 Prozent der Fläche. Diese Region ist einwohnerarm sowie infrastrukturell und industriell am wenigsten entwickelt. Der Amazonas-Regenwald, das größte Ökosystem der Erde, befindet sich dort. Der Nordosten (Região Nordeste) umfasst die Bundesstasten Alagoas, Bahia, Ceará, Maranhão, Paraíba, Pernambuco, Piauí, Rio Grande do Norte und Sergipe. Etwa ein Drittel der Brasilianer9 lebt in dieser kulturell sehr vielseitigen Region, die sehr stark geprägt ist von der portugiesischen Kolonialherrschaft und von der afrikanischen Kultur der ehemaligen Sklaven. Der Mittelwesten (Região Centro-Oeste) mit den Bundestaaten Goiás, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und dem Bundesdistrikt Brasília ist nicht besonders gut erschlossen, hat aber eine wirtschaftliche Bedeutung. Dort befinden sich viele Rohstoffe und große landwirtschaftliche Flächen. Der Südosten (Região Sudeste) mit den Bundesstaaten Espírito Santo, Minas Gerais, Rio de Janeiro und São Paulo ist der bevölkerungsstärkste Großraum. Insgesamt leben dort mehr Menschen als in jedem anderen südamerikanischen Land. Die Ballungsräume São Paulo und Rio de Janeiro sind die wirtschaftlich bedeutendsten Regionen des Landes. Der Süden (Região Sul) mit den Bundestaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul ist die kleinste Region Brasiliens und neben dem Südosten die wirtschaftsstärkste Region. Diese Bundesstaaten sind stark von europäischen Einwanderern und Kulturen geprägt.

9

Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen.

Brasilien

1.1

15

Politische Rahmenbedingungen

1.1.1 Regierung, staatliche Strukturen Brasilien ist eine föderative Republik (República Federativa do Brasil) mit einer präsidialen Regierungsform. Brasilien besteht aus 27 föderativen Einheiten (Unidades Federativas, UF), zu denen 26 Bundesstaaten (Estados) und der Bundesdistrikt (Distrito Federal, DF) mit einer Sonderrolle gehören. Die Hauptstadt Brasília sowie der Sitz der Regierung und das Parlament befinden sich im Bundesdistrikt. Das Staatsoberhaupt ist der Präsident, der für einen Zeitraum von vier Jahren direkt gewählt wird. 2010 wurde Dilma Rousseff als erste Frau zur brasilianischen Präsidentin gewählt. Im August 2016 wurde sie in ihrer zweiten Amtsperiode wegen Korruptionsvorwürfen vom Senat des Amtes enthoben. Der bis dahin als Vizepräsident amtierende Michel Temer wurde im August 2016 neuer brasilianischer Präsident. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 wurde als neuer Präsident Jair Bolsonaro gewählt. Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und der Regierungschef. Er besitzt eine weitreichende exekutive Gewalt und hohe Machtbefugnisse. Das Kabinett wird vom Präsidenten gebildet. Seit 2019 besteht es aus 22 Mitgliedern, zu denen 15 Minister, ein dem Präsidenten unterstellter Staatssekretär, der Kabinettschef, der Chef des Kabinetts für institutionelle Sicherheit, der Bundesstaatsanwalt sowie der Präsident der brasilianischen Zentralbank gehören. Die gesetzgebende Gewalt im Bund wird vom Nationalkongress (Congresso Nacional) ausgeübt. Er setzt sich aus zwei Kammern, dem Bundessenat (Senado Federal) und der Abgeordnetenkammer (Câmara dos Deputados) zusammen. Der Senat hat 81 Abgeordnete, von denen jeweils drei aus den Bundesstaaten (einschl. Bundesdistrikt) kommen. Die Senatsabgeordneten werden nach dem Mehrheitswahlrecht für eine Amtsperiode von acht Jahren gewählt. Die Abgeordnetenkammer besteht aus 513 Sitzen, deren Mitglieder nach einem Verhältniswahlrecht für eine Amtsperiode von

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vier Jahren gewählt werden. Die Verteilung der Sitze orientiert sich an den Einwohnerzahlen der Bundesstaaten (mind. 8 und max. 70 Sitze). Die 26 Bundesstaaten haben eigene Verfassungen und Gesetze, die den Grundsätzen der Bundesverfassung entsprechen müssen, sowie jeweils eine eigene Legislative. In den Bundesstaaten werden alle vier Jahre die Länderparlamente und Gouverneure gewählt. Die Bundesstaaten gliedern sich weiter in Munizipien (Municípios), der kleinsten lokalen Verwaltungseinheit wie Städte und Gemeinden. Derzeit existieren 5570 Kommunen. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Seit dem Plano Real (1994) verfolgte die brasilianische Politik eine Stabilitäts-, Marktwirtschafts- und Weltmarktorientierung. Unter dem Motto Avança Brasil hatte die brasilianische Regierung für den Zeitraum 2000 bis 2003 ein Wirtschaftsprogramm aufgelegt, in dessen Rahmen große Investitionen aus öffentlichen Mitteln getätigt wurden. Ziele waren u.a. die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, die Reduzierung des öffentlichen Defizits unter 3 Prozent des BIP und die Stabilisierung der Inflationsrate unter 2,5 Prozent. Der Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) hat diese Wirtschaftspolitik weiter ausgebaut und dabei die wirtschaftliche Entwicklung mit sozialen Ideen und Projekten zur Förderung von Benachteiligten und Beseitigung von Armut verbunden. Mehrere Programme zur Förderung des Wirtschaftswachstums (Programa de Aceleração do Crescimento, PAC I und PAC II) mit einem Volumen von rund 200 Mrd. Euro stützen diese Ziele (Figueira, 2017). Die Programme verstärkten Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere im Transport- und Energiesektor. Das zweite Konjunkturprogramm im Zeitraum 2011-2014 in der ersten Amtszeit von Dilma Rousseff hatte Schwerpunkte in den Bereichen Energie, Infrastruktur und sozialem Städtebau. Ein weiteres Programm unterstützte die Industrie durch Steuererleichterungen und finanzielle Fördermittel zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie.

Brasilien

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Die Maßnahmen der Regierung Lula führten zu einem stetigen wirtschaftlichen Wachstum, zu neuen Arbeitsplätzen und einer deutlichen Anhebung der realen Einkommen. Diese Entwicklung war von großer Bedeutung für die Bemühungen, die weit verbreitete Armut zu reduzieren und bisher benachteiligte Bevölkerungsschichten am Entwicklungsprozess zu beteiligen. Im letzten Jahrzehnt haben rund 30 Mio. Brasilianer vor allem durch das viel beachtete Programm Bolsa Familia, welches den ärmsten Bevölkerungsgruppen finanzielle Zuschüsse gewährte, die extreme Armut überwunden. Die Weltbank hat dieses Programm unterstützt und es als eines der effektivsten Sozialprogramme der Welt bewertet (The World Bank, 2019a). Das politische Programm von Temer (2016-2018) bestand im Wesentlichen aus drei Maßnahmenfeldern: eine Verfassungsänderung mit dem Ziel die Staatsausgaben zu deckeln, eine Reform der Sozialversicherung und eine Lockerung des Arbeitsrechts. Mit der Verfassungsänderung sollten die staatlichen Investitionen in allen Bereichen für 20 Jahre eingefroren werden. Dies hatte große Auswirkungen auf die Finanzierung der Bildung, das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem sowie die Energie- und Wasserversorgung. Das Arbeitsrecht sollte verändert werden, um brasilianische Unternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Dies sollte u.a. durch eine Flexibilität bei Arbeitsverträgen erfolgen, um damit Personal- und Lohnkosten zu senken. Der Präsident Bolsonaro orientiert sich an ähnlichen politischen Zielen und verfolgt eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik. Ein Ziel besteht im Abbau der Staatsverschuldung. So werden die staatlichen Ausgaben im öffentlichen Bereich, vor allem in Bildung und Wissenschaft deutlich gekürzt. Ebenso soll das Sozialsystem weiter reformiert werden. Die Bildungspolitik verursacht aktuell große Proteste im Land. Des Weiteren unterstützt er die Agrarlobby und Großgrundbesitzer, was u.a. zu einer stärkeren Abholzung und einem Abbrennen des Regenwaldes sowie zu Landenteignung führt.

18

1.2

Waldemar Bauer

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

In der folgenden Tabelle sind einige Daten zu Brasilien für die Jahre 2018 und 2017 aufgeführt: Tab. 1: Kennzahlen Brasilien

Merkmal

Wert

Landfläche Einwohner Bevölkerungsdichte Bevölkerung unter 15 Jahren Bevölkerung ab 65 Jahren Erwerbstätige (Bevölkerung 15-65 J.) Erwerbslosenquote Jugenderwerbslosenquote (< 25 J.) Bruttoinlandsprodukt [nom.] Pro-Kopf-Einkommen [nom.] Bruttowertschöpfung (Anteil am BIP in %)

8.515.770 km2 209,3 Mio. 25 Einw./km2 21,9% der Gesamtbevölkerung 8,6% der Gesamtbevölkerung 50,2% 12,3% 28,6% 1.868 Mrd. US$ 8.968 US$ Land- und Forstwirtschaft 5,5 Industrie 21,2 Dienstleistungen 73,3 Land- und Forstwirtschaft 9,3 Industrie 20,1 Dienstleistungen 70,5 1,1 % 52 3,7% -6,8% 87,9% Einfuhr 181,2 Mrd. US$ Ausfuhr 239,9 Mrd. US$ 5,4%

Erwerbstätige nach Sektoren (in %)

Wirtschaftswachstum Gini Index (in %) Inflationsrate Haushaltssaldo (in % des BIP) Staatsverschuldung (in % des BIP, brutto) Außenhandel Öffentliche Bildungsausgaben (in % des BIP, 2017)

Quellen: DESTATIS, 2018; GTAI, 2019; IBGE, 2019; ILO, 2019; The World Bank, 2019b

Brasilien

19

1.2.1 Wirtschaftssektoren Brasilien verfügt über reiche Rohstoffvorkommen, große Flächen an landwirtschaftlich nutzbarem Boden (Nutzfläche ca. 34 Prozent), eine diversifizierte Wirtschaft, einen gut entwickelten Industriesektor und eine in Bezug auf die Region relativ gute Qualifikationsstruktur. Die brasilianische Volkswirtschaft ist in den 2000er Jahren kontinuierlich gewachsen. Das durchschnittliche jährliche Wachstum betrug in dieser Dekade rund fünf Prozent. Heute belegt Brasilien den neunten Platz nach dem nominalen BIP (IMF, 2019) Die positive Entwicklung der Wirtschaftslage in Brasilien schwächte sich 2008 infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise sowie durch eine hohe Inflation leicht ab. Doch die starke Konsumorientierung und die gestiegene Kaufkraft schafften während der globalen Krise Stabilität, sodass die Auswirkung der Krise in Brasilien relativ gering waren (Figueira, 2017). Nach einem zehnjährigen starken Wirtschaftswachstum befand sich Brasilien von Ende 2014 bis 2018 in einer großen politischen und wirtschaftlichen Krise. Wesentliche Gründe für die Krise sind strukturelle Probleme wie Korruption, Bürokratie und die traditionell große Rolle des Staates in der Wirtschaft, die zusätzliche hohe Kosten, den sog. custo brasil, verursachten (Schulze, 2015). Die Korruption und Korruptionsskandale sind die beherrschenden Themen in Brasilien. Außerdem schwächten die Abwertung der Landeswährung, das Haushaltsdefizit und die Inflationsrate (2015 bei 10,7 Prozent) die Wirtschaftsleistung. Die Krise hatte aufgrund der Bedeutung der brasilianischen Volkwirtschaft (etwa die Hälfte der Wirtschaftsleistung von Südamerika) Auswirkungen auf den gesamten Subkontinent. Der primäre Sektor bestimmte historisch die wirtschaftliche Entwicklung und die politischen Machtverhältnisse, auch wenn Brasilien kein reiner Agrarstaat mehr ist. Die Landwirtschaft kann in vier große Bereiche eingeteilt werden: die traditionellen, immer noch existierenden Latifundien, die moderne, exportorientierte Agroindustrie, die binnenmarktorientierte Agrarproduktion mit meist kleineren und mittleren Familienbetrieben so-

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wie die Subsistenzlandwirtschaft (Schelling-Sprengel, 2002). Berücksichtigt man alle mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen verbundenen Aktivitäten (z.B. Produktion, Verarbeitung, Verteilung, Lagerung, Transport, landwirtschaftliche Technologien) trägt die Agroindustrie mit rund einem Viertel zum BIP und zur Beschäftigung sowie mit rund 40 Prozent zu den Exporten bei (AA, 2019). Brasilien ist der weltweit größte Produzent von Soja, Zuckerrohr und Kaffee sowie der zweitgrößte Produzent von Geflügel- und Rindfleisch. Die exportorientierte Agroindustrie ist einer der bedeutendsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftssektoren des Landes und spielt eine große Rolle bei der Sicherung der Ernährung. Deshalb wird Brasilien als eine Agrarweltmacht bezeichnet. Der Bergbau nimmt eine wichtige Stellung in der Wertschöpfung und im Export ein. Neben Erdöl (Nr. 10 der Erdölförderer in der Welt) sind die wichtigsten Rohstoffe Eisenerz (16 Prozent der Weltproduktion), Mangan, Kohle, Bauxit, Nickel, Zinn und Gold. Der Export von mineralischen Rohstoffen und Erdöl macht über ein Drittel des Anteils an den Ausfuhrgütern aus. Insgesamt sind die wichtigsten Exportmärkte China mit einem Anteil von ca. 27 Prozent, vor der EU mit ca. 18 Prozent und den USA mit ca. 12 Prozent (ebd.). Das wirtschaftliche Wachstum in den letzten beiden Dekaden wurde neben der Agroindustrie und dem extraktiven Bergbau von der Industrie getragen. Die Industrie (mit Bau und Bergbau) beschäftigt derzeit etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen und trägt rund 21 Prozent zum BIP bei. Schwerpunkte der Industrie sind Fahrzeuge und Fahrzeugteile, Fluggeräte, Chemie, Schuhe und Lederwaren, Textilien, Papier und Zellulose sowie elektronische Erzeugnisse. Die brasilianische Automobilindustrie hat sich zu einem wichtigen Wirtschaftszweig entwickelt. Brasilien ist der zehntgrößte Automobilproduzent der Welt. Fast alle internationalen Hersteller unterhalten hoch entwickelte Produktionsstätten im Land. Die Industrie war von der Krise besonders betroffen, was an der niedrigen Wettbewerbsfähigkeit und an den oben erwähnten strukturellen Faktoren lag (ebd.).

Brasilien

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Mit einem Beitrag von rund 70 Prozent des BIP ist der Dienstleistungssektor der größte Wirtschaftssektor des Landes und beschäftigt über 70 Prozent der Erwerbstätigen. Beschäftigungsschwerpunkte sind der Handel, Hotel und Gastronomie sowie die Bereiche Finanzen, Versicherungen und Immobilien. Die öffentliche Verwaltung sowie das Bildungs- und Gesundheitswesen tragen ca. 20 Prozent zum BIP bei und haben einen Beschäftigungsanteil von 17 Prozent. Bei diesen Makrodaten ist allerdings festzuhalten, dass in Brasilien eine extreme regionale Polarisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten besteht. Der Südosten und der Süden bilden im Wesentlichen die Wirtschaftskraft des Landes. In der Südost-Region sind mehr als die Hälfte der Beschäftigten und über 60 Prozent der Wertschöpfung der Industrie konzentriert, gefolgt vom Süden des Landes mit 25 Prozent der Beschäftigten und knapp 20 Prozent der Wertschöpfung. An der Spitze steht der Großraum São Paulo, in welcher über 30 Prozent des BIP erwirtschaftet wird. 1.2.2 Arbeitsmarkt und Beschäftigung Im formalen Arbeitsmarkt sind Personen beschäftigt, die einen gültigen Arbeitsausweis (Carteira de Trabalho) haben. Durch den Arbeitsausweis besteht ein Anspruch auf soziale Absicherung. Nach den Daten (Zensus PNAD) des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) gab es im Jahr 2018 in Brasilien 104 Mio. Erwerbspersonen und fast 92 Mio. Beschäftigte über 14 Jahre. In der Statistik werden ca. 62 Mio. abhängig Beschäftigte, 23 Mio. Selbstständige und 4,4 Mio. Unternehmer aufgeführt. Im privaten Sektor ist knapp die Hälfte mit 44 Mio. Personen beschäftigt, davon arbeiten etwa 11 Mio. Beschäftigte ohne gültigen Arbeitsausweis. Im öffentlichen Sektor (einschl. Militär) sind rund 11,5 Mio. Personen beschäftigt, von denen 20 Prozent ohne Arbeitsauswies tätig sind. Hinzu kommen über 6 Mio. Heimarbeiter sowie 2 Mio. familienunterstützende Dienstleister, die überwiegend keinen Arbeitsauswies haben (IBGE, 2019). Beschäftigte ohne gültigen Arbeitsausweis werden dem informellen

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Sektor zugerechnet. In einer Statistik werden 40 Mio. Personen aufgeführt, die im informellen Sektor arbeiten (IBGE, 2018b). Die meisten Beschäftigten (Stand 2018) hat der Dienstleistungssektor mit rund 44 Mio., davon sind im Handel und Reparatur 16,3 Mio. sowie in Bildung, Gesundheit und soziale Dienstleistungen (einschl. Militär) 10,5 Mio. Personen beschäftigt. Die Industrie beschäftigt knapp 12 Mio. und das Baugewerbe 6,8 Mio. Personen. In der Landwirtschaft sind 6,8 Mio. Beschäftigte (IBGE, 2019) tätig. Durch die Krise seit 2014 ist die Zahl der Arbeitslosen von etwa 7,2 Mio. auf über 10 Mio. gestiegen. Die Arbeitslosenquote betrug 2018 über 12 Prozent und hat sich damit im Vergleich zu den Jahren vor der Krise fast verdoppelt. Die Regierungen von Lula und Rousseff konnten mit ihrer Wirtschaftsund Sozialpolitik die Zahl der extrem Armen auf unter 5 Prozent senken und die Einkommensungleichheit abschwächen. Das jährliche BIP pro Einwohner hat sich zwischen 1992 und 2012 mehr als vervierfacht. Im Jahr 2018 betrug das nominale Pro-Kopf-Einkommen 8968 US$ (Nr. 73 in der Welt) und das bereinigte Pro-Kopf-Einkommen 16154 US$ (Nr. 80 in der Welt) (The World Bank, 2019b). Brasilien ist ein Land mit einer sehr ungerechten Besitz- und Einkommensverteilung, was auch der GINI-Koeffizient von 0,52 verdeutlicht. Das Einkommen hängt von dem Bildungsniveau, der Qualifikation, der Beschäftigung, dem Sektor und der Region ab. Das durchschnittliche Monatseinkommen ist zwischen 2002 und 2017 von ca. 800 R$ auf ca. 2100 R$ gestiegen (IBGE, 2018a; GTAI, 2019). Im privaten Sektor liegt es bei knapp 2000 R$ und im öffentlichen Dienst bei über 3000 R$. In der Landwirtschaft, bei personenbezogenen Dienstleistungen und in den ärmeren Regionen im Landesinneren wird in der Regel der offizielle Mindestlohn (2019: 998 R$, ca. 237 Euro) oder das Eineinhalbfache gezahlt. Personen ohne Schulabschluss verdienen ungefähr den Mindestlohn. Personen mit dem Abschluss der Grundbildung verdienen rund 1330 R$, mit dem Sekundarschulabschluss 1700 R$ und mit einem höheren Bildungsabschluss rund 4600 R$ (DIEESE, 2017; DIEESE, 2018; IBGE, 2018b; IPEA, 2018). Das mittlere Einkommen bei Ingenieuren im Maschinenbau beträgt etwa 6000

Brasilien

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R$; ein Techniker verdient in dieser Branche rund 2400 R$ im Monat (GTAI, 2018). Lehrer in den öffentlichen Primarschulen haben ebenfalls ein geringes Einkommen von etwas mehr als dem doppelten Mindestlohn. Insgesamt verdient ein knappes Viertel der brasilianischen Lohnempfänger nur den Mindestlohn und etwa zwei Drittel bis zu zwei Mindestlöhnen. Nach der Krisenzeit verzeichnet Brasilien eine leichte positive wirtschaftliche Entwicklung. In einer Bedarfserhebung für die Jahre 2017 bis 2020 wurde ein Qualifizierungsbedarf in der Industrie prognostiziert. Demnach werden insgesamt 13 Mio. Fachkräfte auf allen drei Qualifikationsniveaus benötigt, davon rund 625 Tausend mit einem höheren Bildungsabschluss, 1,8 Mio. Techniker sowie 3,3 Mio. mit einer Qualifizierungsmaßnahme von über 200 Stunden und 7,2 Mio. mit einer Qualifizierungsmaßnahme bis zu 200 Stunden (SENAI, 2016). Ein Bedarf besteht insbesondere im Baugewerbe, im Umweltbereich und im Maschinen- und Anlagenbau (CNI, 2018a).

2

Berufliche Bildung

2.1

Struktur des Bildungssystems

Das formale brasilianische Bildungssystem besteht aus vier Bereichen:10 • dem Elementarbereich (Educação Infantil) mit Krippen (Creche) für 0 bis 3-Jährige und Vorschulen (Pré-escola) für 4- bis 5-Jährige; • dem Primarbereich (Ensino Fundamental) mit der neunjährigen Grundbildung vom 1. bis 9. Schuljahr für 6- bis 14-Jährige mit zwei Abschnitten (1. bis 5. Klasse, 6 bis 10 Jahre, und 6. bis 9. Klasse, 11 bis 14 Jahre); 10

Aufgrund des hohen Alphabetisierungs- und Bildungsbedarfes gibt es zusätzlich die Modalität Bildung für Jugendliche und Erwachsene (Educação de Jovens e Adultos, EJA), die für die Grund- und Sekundarbildung sowie für die berufliche Bildung i.d.R. in Abendschulen angeboten wird.

24

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• der Sekundarbildung (Ensino Médio), die in allgemeinbildenden und beruflichen Schulen absolviert werden kann (10. bis 12. Klasse, 15 bis 17 Jahre); • dem tertiären Bildungsbereich (Ensino Superior) mit graduierten und post-graduierten Programmen an Universitäten, Universitätszentren, höheren Bildungseinrichtungen und anderen Fakultäten. In der Abbildung 1 ist das Bildungssystem in einfacher Form dargestellt. In der nachfolgenden Tabelle sind einige Daten für verschiedene Bildungsmodalitäten für das Jahr 2018 aufgeführt. Tab. 2: Schüler und Studierende, Lehrkräfte und Institutionen nach Bildungsbereichen

Bildungsbereiche Schularten Elementarbereich Vorschulen Primarbereich 1. Abschnitt 2. Abschnitt EJA Sekundarbereich Allgemeine Sekundarschulen mit integr. Technikerbildung EJA Berufliche Bildung, mittleres Niveau, alle Modalitäten Tertiärbereich Graduierten Programme Bachelor Technologe Licenciatura (Lehramt) Post-graduierten Programme

Schüler und Studierende in Mio.

Lehrkräfte in Tausend

Institutionen in Tausend

5,2 27,2 15,2 12,0 2,17 7,71 7,13 0,58 1,44

329 1400,7 762,9 763,8 156,3 513,4

103,3 128,4 112,1 62,0 25,9 28,7 27,3 2,0 9,8

1,9

129,4

8,45 5,69 1,09 1,63 0,36

397,9

58,8 121,1

Quellen: INEP, 2019a; INEP, 2019b; INEP, 2019c; Sampaio, 2019

6,5 0,2537 (199 Universitäten)

Brasilien

25

Abb. 1: Übersicht über das Bildungssystem

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BQ, 2019; INEP, 2016 und UNESCO & UNEVOC, 2018. Layout: DLR Projektträger.

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Waldemar Bauer

Der allgemeine Bildungsbereich (Educação Basica) umfasst seit 2010 zwölf Jahre bzw. mit der Vorschule 14 Jahre. 2009 wurde durch die Ergänzung Nr. 59/2009 des LDB bestimmt, dass für alle 4- bis 17-Jährigen eine allgemeine Schulpflicht besteht. Damit sind prinzipiell der Besuch der Vorschulen für 4- und 5-Jährige und der Besuch der Sekundarschulen (oder das Absolvieren einer alternativen Ausbildung) bis 17 Jahren nun verpflichtend, was aber nicht vollständig eingehalten wird. Alle Bildungsbereiche werden von öffentlichen (kostenfreien) und privaten (i.d.R. kostenpflichtigen) Schulen (einschl. Vorschulen und Hochschulen) bedient. Die öffentlichen Schulen werden vom Bund, den Bundesstaaten oder den Kommunen verwaltet und finanziert. Im privaten Bildungssektor sind sehr unterschiedliche Träger wie Kirchen, gemeinnützige Institutionen oder gewinnorientierte Unternehmen aktiv. Die kostenpflichtigen privaten Schulen haben in der Regel einen besseren Ruf. Die neunjährige Primarschule ist für alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren obligatorisch. Die Schulbesuchsquote beträgt 98 Prozent (INEP, 2019a). Die Primarbildung (Ensino Fundamental) ist in zwei Abschnitte eingeteilt. Die ersten fünf Schuljahre (Ensino Fundamental I) würde in anderen Ländern als Grundschule bezeichnet werden. In den Schulen werden die Klassen in der Regel nur von einem Lehrer in allen Fächern unterrichtet. Diese Schulen im ersten Abschnitt werden überwiegend von den Kommunen getragen (68 Prozent der Schüler). Der zweite Abschnitt [Ensino Fundamental II] der folgenden vier Schuljahre (Klassen 6 bis 9, 11 bis 14 Jahre) entspricht dem Sekundarbereich I, diese Bezeichnung ist in Brasilien jedoch nicht üblich. Hier werden die Klassen von mehreren Lehrern fächerbezogen unterrichtet. Der Schwerpunkt besteht aus einem fachlichen Wissenserwerb, der die Basis für die anschließende Sekundarbildung legt. Allgemeine Aufgabe der Primarschulen ist es, Kulturtechniken zu vermitteln (v.a. im ersten Abschnitt), die Schüler als mündige Bürger zu erziehen und sie für weiterführende Schulen oder für eine Berufsausbildung vorzubereiten (Brasil, 1996). Nach Absolvieren der Primarschule ist der Übergang in die Sekundarschule möglich. In Brasilien wird hierfür die Bezeichnung Ensino Médio,

Brasilien

27

also mittlere Bildung, verwendet. Die öffentlichen Sekundarschulen unterstehen meist den Bundesstaaten (68 Prozent, private Schulen 29 Prozent) (Sampaio, 2019). Als Ziele der Sekundarbildung werden im Bildungsgesetz und den curricularen Richtlinien, neben der Vorbereitung und Wissensvermittlung für ein Hochschulstudium, die Vorbereitung auf die Arbeitswelt und die Bildung zum Staatsbürger benannt. In den Zielen werden als Bestandteil dieser humanistischen Bildung die ethische Bildung sowie die Entwicklung einer autonomen Intellektualität und des kritischen Denkens beschrieben. Darüber hinaus wird auf die Herausbildung eines Verständnisses wissenschaftlich-technologischer Grundlagen produktiver Prozesse in Bezug auf Theorie und Praxis in jedem Fach hingewiesen (ebd.). Die Sekundarbildung wird in der Regel in drei Jahren in allgemeinbildenden, propädeutischen Schulen absolviert. Es gibt zusätzlich drei bis vier Jahre dauernde berufliche oder technische Schulen, an denen die reguläre Sekundarbildung mit einer beruflichen Ausbildung (integrierte Technikerkurse) erfolgt. Bei normalem Verlauf besuchen die Jugendlichen mit 15 Jahren die Sekundarschule und verlassen diese mit 17 Jahren.11 Die Schulbesuchsquote in diesem Bildungsbereich ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 2018 besuchten rund zwei Drittel der Jugendlichen zwischen 15 bis 17 Jahren (bereinigte Quote) eine Sekundarschule (Leal et al., 2018).12 Im nationalen Bildungsplan PNE wird als Ziel bis 2024 festgelegt, dass 85 Prozent der Jugendlichen bis 17 Jahre altersangemessen eine Sekundarschule absolvieren sollen (Brasil, 2014). Die bildungspolitischen Maßnahmen der letzten Jahre haben zu einer Verbesserung der Bildungsqualität und Chancengleichheit beigetragen, doch

11 12

In den Sekundarschulen gibt es eine hohe Wiederholungs- und Abbruchquote. Die Erfolgsquote liegt unter 60 Prozent (Sampaio, 2019). Die bereinigte Quote gibt den altersangemessenen Schulbesuch an. Insgesamt befinden sich rund 90 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren in einer Schule (INEP, 2019a). Der Mikrozensus PNAD von 2017 hat 6,9 Mio. Personen zwischen 18 und 24 Jahren (30 Prozent der Altersgruppe) erfasst, die nicht in einer Schule und Ausbildung sind oder einer Arbeitstätigkeit nachgehen (CNI, 2018b).

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werden die Bildungschancen immer noch von regionalen, sozialen, ökonomischen und ethnischen Faktoren beeinflusst (Schwartzman, 2016). Diese Unterschiede resultieren u.a. aus den Zugangsmöglichkeiten zur Bildung, finanziellen Ressourcen, Infrastruktur, Schulausstattung, Qualität des Unterrichtes und der Lehrer. Grundschulen in ländlichen und marginalisierten Gebieten sind einfach ausgestattet und es arbeitet oft nur ein Lehrer in diesen Schulen. Sekundarschulen gibt es meist nur in den Städten. Die qualitativ hochwertigen privaten Schulen sind gewöhnlich materiell und personell besser ausgestattet. Den Besuch einer privaten Schule können sich viele Kinder und Jugendliche jedoch nicht leisten.13 Die Qualität der Bildung an öffentlichen Schulen wird in Brasilien im Vergleich zu privaten Schulen schlechter bewertet (CNI, 2018b; OECD, 2015). Dies belegen nationale und internationale Studien. Beispielweise führt die UNESCO regelmäßig Analysen zur Schülerleistung der dritten und sechsten Klasse in 16 lateinamerikanischen Ländern durch (UNESCO, 2015). Die Ergebnisse für Brasilien sind im Vergleich zu vielen anderen Ländern schlechter. Ein weiterer Beleg dafür sind die Ergebnisse von PISA (OECD, 2016). Die Punktwerte der privaten Schulen liegen um über 20 Prozent über den Werten der öffentlichen Schulen (Fundação Santillana, 2016). Die Verbesserung der Qualität der Bildung waren deshalb in den letzten Jahren zentrale Ziele in Politik und Wirtschaft (CNI, 2018b). In Brasilien gibt es mehrere Anbieter in der beruflichen Bildung: im öffentlichen Bereich existieren verschiedene (berufliche) Schulen und Institute auf den drei Verwaltungsebenen Bund, Bundesstaaten und Kommunen. Zum öffentlichen Sektor gehören die neuen Bundesinstitute (Institutos

13

Das finanzielle Vermögen ist eine Voraussetzung für den Zugang zu einer höherwertigen Bildung. Kinder und Jugendliche aus Familien mit besseren Vermögensverhältnissen besuchen die besseren privaten Sekundarschulen, die den Zugang zu den öffentlichen Bundesuniversitäten erleichtern, die wiederum besser sind als die meisten privaten Universitäten oder Fakultäten. Zur Verbesserung des Zugangs zu Hochschulen und der Chancengleichheit wurden unter den Regierungen Lula und Rousseff Förder- und Stipendienprogramme (z.B. ProUni und FIES) sowie Quoten für Benachteiligte und einkommensschwache Familien eingeführt.

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Federais, IF), die technischen Schulen der Bundesstaaten (Escolas Técnicas Estaduais) sowie berufliche Schulen oder Kollegs der Kommunen. Ein großer Teil der Programme in der beruflichen Aus- und Weiterbildung wird im privaten, sektorbezogenen sog. S-System (Sistema S) angeboten.14 Das Sistema S ist ein Berufsbildungssystem, welches von den Arbeitgeberverbänden in den jeweiligen Wirtschaftssektoren getragen wird. Die Bildungseinrichtungen des Sistema S sind private Institutionen (juristische Personen des Privatrechtes), welche soziale Dienstleistungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen erbringen. Aufgrund der rechtlichen Regelwerke, des Finanzierungsmodells (Abgabe einer Lohnsummensteuer) und des Beitrags im Bildungssystem erfüllen sie parastaatliche Funktionen. Diese nationalen Dienste für Ausbildung SNA (Serviço Nacional de Aprendizagem) sind für die Industrie der SENAI (Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial), für den Dienstleistungssektor, Handel und Tourismus der SENAC (Serviço Nacional de Aprendizagem Comercial), für die Agrarwirtschaft bzw. ländlichen Regionen der SENAR (Serviço Nacional de Aprendizagem Rural) und für das Transportwesen der SENAT (Serviço Nacional de Aprendizagem do Transporte). Darüber hinaus gibt es für Kleinst- und Kleinunternehmen den SEBRAE (Serviço Brasileiro de Apoio às Micro e Pequenas Empresas) und für Kooperativen bzw. Genossenschaften ist SESCOOP (Serviço Nacional de Aprendizagem do Cooperativismo) zuständig (Schwartzman, 2016). In den öffentlichen und privaten Berufsbildungseinrichtungen auf mittlerem Niveau der Technikerbildung waren in 2018 rund 1,9 Mio. Schüler eingeschrieben, die sich zu 19 Prozent auf die Bundesinstitute, zu 38 Prozent auf die technischen Schulen der Bundesstaaten, zu 1,5 Prozent auf die beruflichen Schulen der Kommunen und zu 40 Prozent auf private Einrichtungen (v.a. Sistema S) verteilten (INEP, 2019a; Sampaio, 2019). Dies 14

Betrachtet man alle Programme und Kurse der beruflichen Bildung auf allen Niveaus, befinden sich im S-System (bzw. im privaten Sektor) die meisten Teilnehmer. Etwa drei Viertel aller Teilnehmer absolvieren (meist kostenpflichtige) Kurse der beruflichen Qualifizierung oder Fortbildung (Schwartzman, 2016).

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ergibt rechnerisch einen Anteil von über 20 Prozent von Jugendlichen, die ein Programm der beruflichen Bildung in der Sekundarstufe wählen. Der Anteil der Schüler, die einen in der Sekundarschule integrierten Technikerkurs belegen, beträgt etwa 7 Prozent.15 Dies entspricht 31 Prozent aller Technikerkurse. Der größte Teil absolviert Technikerkurse nach Abschluss der Sekundarbildung (47 Prozent). Nach Absolvieren der Primarschule können Jugendliche ab 14 Jahren eine berufliche Ausbildung (Aprendizagem) beginnen. Das Format der beruflichen Ausbildung wie die industrielle Ausbildung (Aprendizagem Industrial) war ein wesentlicher Grund für die Gründung des SENAI im Jahr 1942, als dessen zentrale Aufgabe die Qualifizierung von Jugendlichen für eine Beschäftigung in den Unternehmen der Industrie definiert worden ist. Die Unternehmen finanzieren die Institutionen des Sistema S durch eine Steuerabgabe16 und die Auszubildenden der Unternehmen erhalten dadurch eine kostenfreie Ausbildung. Die Ausbildung war ursprünglich für Kinder und Jugendliche (aus einfacheren Verhältnissen) gedacht, die damals die vierjährige Grundschule absolvierten und nicht die weiterführenden Schulen besuchten. Die berufliche Ausbildung kann heute von Absolventen der neunjährigen Grundschulen im Alter von 14 bis 24 Jahren durchgeführt werden. Die Ausbildung dauert bei den meisten Berufen zwei

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In internationalen Veröffentlichungen und Statistiken (z.B. OECD und UNESCO) werden oft geringere Werte von rund 6 Prozent aufgeführt. Vermutlich wird hier nur der Anteil der Sekundarschulen mit integrierter Technikerbildung (ISCED-Stufe 3) erfasst. Im Industriesektor müssen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten mit registrierter Arbeitserlaubnis 1 Prozent der Lohnsumme an den SENAI für die Berufsbildungsinstitutionen und 1,5 Prozent an den sozialen Dienst der Industrie (Serviço Social da Indústria, SESI) abgeben. Unternehmen im Dienstleistungssektor führen ebenfalls 1 Prozent an den SENAC und 1,5 Prozent an den sozialen Dienst des Handels (Serviço Social do Comércio, SESC) ab. Der Beitrag für den SENAR im Agrarbereich beträgt in Abhängigkeit der Unternehmensgröße und -art zwischen 0,2 und 2,5 Prozent.

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Jahre oder 1600 Stunden. Es gibt auch einjährige Berufe wie den Maschinenführer, Mechaniker für einfache Wartungsarbeiten oder Assistententätigkeiten.17 Die Jugendlichen benötigen einen Ausbildungsvertrag mit einem Mitgliedsunternehmen des nationalen bzw. regionalen Arbeitgeberverbandes der Branchen, die einen Beitrag an SENAI oder SENAC (oder die anderen Institutionen des Sistema S) abführen. Die Ausbildungsvergütung richtet sich an den gesetzlichen Mindestlohn, der pro Stunde berechnet wird. Die Arbeits- und Bildungszeiten pro Woche betragen in der Regel 20 Stunden, sodass sich monatlich ein halber Mindestlohn ergibt. Nach Verlassen der Sekundarschule ist der Übergang in den tertiären Bildungsbereich (Ensino Superior) möglich.18 Höhere Bildung wird in Brasilien an Universitäten, Universitätszentren, Fakultäten, höheren Bildungsinstituten und technologischen Bildungszentren angeboten. Der Tertiärbereich ist mittlerweile ein vertikal und institutionell äußerst diversifiziertes System mit einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen sowie von Kursen und Programmen. Im Jahr 2018 gab es 2537 Hochschulen (296 öffentliche, 199 Universitäten, davon 107 öffentliche), die ca. 38000 Programme und Kurse angeboten haben (INEP 2019a). In diesem Bildungsbereich gibt es zwei Stufen mit verschiedenen Modalitäten. Auf der ersten Stufe werden graduierten Programme (z.B. Bachelor) und auf der zweiten Stufe post-graduierten Programme wie Master und

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Als Beispiel kann die Ausbildung zum Kfz-Mechaniker in einer Bildungseinrichtung in São Paulo genannt werden. Das Programm besteht aus mündlicher und schriftlicher Kommunikation, Arbeitsplanung, Informatik, technischem Zeichnen, angewandter Mathematik, angewandten Wissenschaften, Elektrotechnik/ Elektronik, Grundlagen der Fahrzeugtechnik und angewandter Fahrzeugtechnik. Für die Aufnahme eines Studiums an den Hochschulen reicht der Abschluss der Sekundarschule nicht aus, sondern Studieninteressierte müssen Aufnahmeprüfungen ablegen. Heute berücksichtigen die meisten Hochschulen zusätzlich die Ergebnisse des nichtverpflichtenden nationalen Examens der Sekundarbildung (Examen Nacional do Ensino Médio, ENEM).

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Promotion sowie kürzere Spezialisierungskurse angeboten (DAAD, 2018; INEP, 2016; Schulze, 2018). Die meisten Programme der ersten Studienstufe (Graduação) dauern vier bis sechs Jahre und können mit zwei Abschlüssen bzw. akademischen Graden enden. Dies sind der Bachelor (Bacharelado) und das Lizenziat (Licenciatura), das ein berufsqualifizierendes Diplom für Lehrer ist. Die Mehrheit auf der graduierten Stufe studiert in Bachelor-Programmen (rund 70 Prozent).19 Seit der Reform des Bildungsgesetzes 1996 gibt es das dritte Qualifikationsniveau des Technologen (Nível Tecnólogo), der zur ersten Stufe der höheren Bildung gehört.20 Diese Bildungsgänge werden im öffentlichen Sektor u.a. von den neuen Bundesinstituten IF, von höheren Schulen oder Fakultäten der Bundesstaaten und von anderen Hochschulen angeboten. Die IF werden in Brasilien als Hochschulen klassifiziert, weshalb hier eine eindeutige Trennung eines universitären und nicht-universitären Bereiches kaum möglich ist. Darüber hinaus bieten private Bildungseinrichtungen im Sistema S (insbes. SENAI und SENAC) solche Kurse an. Im Jahr 2018 wurden 7800 Kurse angeboten, in denen rund 1 Mio. Studierende eingeschrieben waren. Diese neue Bildungsmodalität kann auch als Indikator einer zunehmenden Akademisierung der beruflichen Bildung in Brasilien gedeutet werden. Auf der zweiten Stufe im Tertiärbereich (Pós-graduação) wird zwischen lato sensu Programmen (im weiten Sinne) und stricto sensu Programmen (im engen Sinne) unterschieden. Die erste Form sind Kurse der Spezialisierung oder Vertiefung (Especialização und Aperfeiçoamento). Die zweite sind wissenschaftliche Studienprogramme, die mit dem Masterabschluss (Mestrado) oder der Promotion enden. Die reguläre Studiendauer

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Ein großer Teil absolviert Studiengänge der Rechts-, Sozial und Wirtschaftswissenschaften sowie der Erziehungswissenschaft. Die MINT-Fächer haben eine geringe Nachfrage, was auch von der brasilianischen Industrie kritisiert wird (CNI, 2018b). Ein Bachelor-Studium dauert mindestens 3000 Stunden bzw. vier Jahre; eine Ausbildung zum Technologen zwischen 1600 und 2400 Stunden bzw. zwei bis drei Jahre.

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bei diesen Programmen beträgt zwei Jahre. Die Spezialisierungskurse sind kürzer (z.B. 360 Stunden) und werden mit einem Zertifikat bescheinigt. 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Die brasilianische Verfassung (Constituição da República Federativa do Brasil) trat am 5. Oktober 1988 in Kraft. Die Entstehung und das Ergebnis spielten aufgrund der hohen Erwartungen der Gesellschaft nach einer 20jährigen Militärdiktatur eine wichtige Rolle innerhalb des Demokratisierungsprozesses des Landes. Die Entwicklung von der ursprünglichen Agrarstruktur Brasiliens zu einem industrialisierten Staat brachte andere Bedürfnisse, neue politische Akteure (z.B. Industrielle, Gewerkschaften, organisierte Landarbeiter) und den Wunsch einer stärkeren politischen Partizipation mit sich. Die Verfassung von 1988 wird als ein Meilenstein in der brasilianischen Geschichte gewürdigt. Nach Meinung internationaler Experten ist sie eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt (Lanzendorf, Huck & Schreiber-Einloft, 1996). Die Verfassung von 1988 legt einige grundlegende Ziele des Bildungssystems fest. Im Dezember 1996 wurde das Bundesgesetz über Richtlinien und Grundsätze für das nationale Bildungswesen Nr. 9.394 (Lei de Diretrizes e Bases da Educação Nacional, LDB) verabschiedet. Das Gesetz definiert allgemeine Richtlinien und Grundsätze für das komplette Bildungssystem. Im Gesetz wird Bildung als das Recht aller und die Bereitstellung von Bildung für die gesamte Bevölkerung gleichermaßen als die Pflicht des Staates und der Familie definiert. Bildung soll unter Mitwirkung der Gesellschaft gefördert werden mit dem Ziel der vollen Entwicklung der

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Person, der Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben, der Ausübung der Bürgerrechte und der Qualifizierung für die Arbeit (Brasil, 1996).21 Die berufliche Bildung (Educação Profissional) wird im LDB als eigenständig organisiertes Bildungssegment im Gesamtsystem betrachtet und im dritten Kapitel beschrieben. In Artikel 39 wird folgendes Ziel der Berufsbildung definiert: Die berufliche Bildung, einschließlich verschiedener Formen der Bildung, der Arbeit, der Wissenschaft und der Technologie, strebt danach, eine permanente Weiterentwicklung der für das Arbeitsleben relevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten sicher zu stellen. Damit orientiert sich die Rahmenvorgabe am Prinzip des lebenslangen Lernens und berücksichtigt alle Zielgruppen, also Jugendliche, Erwachsene und Beschäftigte aller Altersgruppen. Gleichzeitig garantiert das Gesetz, dass jeder Jugendliche und Erwachsene eine Zugangsmöglichkeit zur beruflichen Bildung erhält. Die Berufsbildung soll sich nach eigenen spezifischen Zielen dauerhaft weiterentwickeln und ihre Bildungsangebote flexibel nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausrichten (ebd.). Zur Strukturierung der Bildungsprogramme und zur Verbesserung der Durchlässigkeit im Bildungssystem wurden in einem Dekret (2208/1997) vertikale aufeinander aufbauende Qualifikationsstufen eingeführt. Unterschiedliche Qualifikationsmaßnahmen mit unterschiedlichem Anspruchsniveau – bis in den tertiären Bereich – können somit im System eingeordnet und zertifiziert werden (Brasil, 1997; Lanzendorf, 1999; Kooperation International, 2018). Im Einzelnen werden folgende drei Stufen bzw. Niveaus definiert: (1.) Die Grundstufe oder das Basisniveau (Nível Básico) bezieht sich auf grundlegende Formen der beruflichen Erstausbildung

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Das Bildungsgesetz wurde in der Regierungszeit von Temer reformiert. Die Veränderung im Gesetz Nr. 13.415 vom Februar 2017 betreffen insbesondere die Sekundarschulen. Für eine bessere Realitätsbeziehung und Kompetenzorientierung wurden grundlegende Wissensbereiche wie Naturwissenschaften und ihre Methodik oder Mathematik und ihre Methodik eingeführt. Diese Bereiche sollen interdisziplinär und fächerverbindend ausgestaltet werden. Die technologische und berufliche Bildung wurde ebenfalls in dieser Liste als Bereich aufgeführt. Somit wird eine gleichwertige Struktur von propädeutischen oder beruflichen Sekundarschulen (Dualismus) geschaffen.

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(Formação Inicial), der beruflichen Qualifizierung (Qualificação Profissional) und der beruflichen Fortbildung (Formação Continuada). Das Basisniveau ist für Jugendliche und Erwachsene bestimmt, die eine erste berufliche Grundbildung wie die Lehre oder eine berufliche Qualifizierung für den Eintritt in den Arbeitsmarkt absolvieren oder eine Erweiterung ihrer Fähigkeiten vornehmen oder auch für Arbeitslose, die für eine Arbeitstätigkeit vorbereitet werden. Dieser Bereich wird der non-formalen Bildung zugeordnet. (2.) Die mittlere Fachstufe oder das technische Niveau (Nível Técnico) zielt auf Jugendliche und Erwachsene, welche die dreijährige allgemeinbildende Sekundarschule entweder bereits abgeschlossen haben oder sofern es organisatorisch möglich ist, sie parallel zur Technikerausbildung besuchen. Die Technikerausbildung ist im Gegensatz zu Deutschland eine Erstausbildung. (3.) Das technologische Niveau (Nível Tecnológico) bedient die höhere (berufliche) Bildung. Neue praxisorientierte Bildungsgänge im tertiären Bereich zum Technologen im privaten und öffentlichen Sektor können für (junge) Erwachsene mit Hochschulzugangsberechtigung angeboten werden. Der Abschluss entspricht dem ersten Niveau des akademischen Hochschulsektors. Zu diesem Niveau gehören auch berufliche post-graduierten Kurse. Das LDB wurde in den folgenden Jahren durch weitere Gesetze, Dekrete und Richtlinien ergänzt und präzisiert. In dem Dekret Nr. 5.154/2004 wurden Richtlinien für die Organisation der beruflichen Bildung weiter bestimmt. Insbesondere wurden die Varianten für die Technikerausbildung festgelegt, die später in dem Gesetz Nr. 11.741/2008 zu einer Weiterentwicklung des LDB führte (MEC & SETEC, 2007). In diesem Gesetz werden Richtlinien und Grundlagen der beruflichen Bildung zur Neuausrichtung und Institutionalisierung der beruflichen Bildung im Ensino Médio, der Bildung für Jugendliche und Erwachsene (EJA) und der höheren beruflichen Bildung auf dem technologischen Niveau festgelegt (Brasil, 2008a). In Artikel 36-B werden zwei Formen für die Bildungsgänge zum Techniker auf mittlerem Niveau beschrieben, wobei ein Modell zwei Varianten zulässt. Die Technikerkurse können mit der Allgemeinbildung im Ensino

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Médio verbunden (articulada) oder sequentiell (subseqüente) organisiert werden. Für die Technikerausbildung ergeben sich daraus drei Modelle (integrativ, parallel und sequentiell): sie kann erstens integraler Bestandteil der Sekundarbildung wie beispielsweise bei den Bundesinstituten IF oder den technischen Schulen der Bundesstaaten sein (Curso Técnico Integrado). Sie kann zweitens parallel zum Besuch einer regulären Sekundarschule erfolgen. Dann absolvieren Schüler parallel zur Sekundarschule die Technikerausbildung an der gleichen Schule oder an einer anderen Schule (z.B. im S-System) (Curso Técnico Concomitante). Sie kann drittens im Anschluss an Ensino Médio absolviert werden (Curso Técnico Subseqüente) und bietet eine Alternative für eine oft schlechte Ausbildung an den Fakultäten im Tertiärbereich an. Rund die Hälfte der Personen wählt diese Variante der Technikerausbildung. Das Gesetz Nr. 11.892 vom Dezember 2008 institutionalisiert die staatlichen Bundesinstitute für Bildung, Wissenschaft und Technologie (Institutos Federais de Educação, Ciência e Tecnologia, IF) und bestimmt deren Ziele und Aufgaben. Die prinzipiellen Aufgaben bestehen im Anbieten von Programmen der beruflichen Bildung auf Techniker- und Technologenniveau sowie in der angewandten Forschung in der Berufsbildung und Technologie (Brasil, 2008b). Im Gesetz werden auch der Aufbau und die Aufgaben des Netzwerkes der Bildungsinstitute des Bundes (Rede Federal de Educação Profissional, Científica e Tecnológica) bestimmt. Im Zusammenhang mit den rechtlichen Regelungen ist der Nationale Bildungsplan (Plano Nacional de Educação, PNE) relevant. Dieser wird gemeinsam vom Bildungsministerium, dem Nationalen Bildungsrat (Conselho Nacional de Educação, CNE), der Bildungskommission der Abgeordnetenkammer sowie der Kommission für Bildung, Kultur und Sport des Bundessenats und dem Nationalen Bildungsforum entwickelt und in Form eines Gesetzes verabschiedet. Der aktuelle PNE von 2014 ist der zweite gesetzlich verabschiedete Bildungsplan, in dem nationale Ziele für den Zeitraum 2014 bis 2024 festgelegt werden. Für jede Schulform und Bildungsmodalität sowie für bestimmte Themen (Finanzierung, Verwal-

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tung, Qualität, Lehrer) werden entsprechende Ziele (insgesamt 20) definiert. Beispielweise formuliert der PNE als Zielvorgabe für die berufliche Bildung auf mittlerem Niveau eine Verdreifachung der Teilnehmer bis 2024. Demnach sollen 25 Prozent der Schüler im Sekundarbereich eine berufliche Bildung absolvieren, davon sollen mindestens 50 Prozent eine öffentliche Schule besuchen (Brasil, 2014; Dourado, 2016).22 Zur Umsetzung von Bildungsreformen sollen 7 Prozent des BIP in den Bildungssektor investiert werden. Für die Curricula gibt es in Brasilien ebenfalls relevante Dokumente. Nach Verabschiedung des LDB wurden erste curriculare Richtlinien für die Primar- und Sekundarschulen eingeführt (CNE, 1998; CNE, 2005; MEC, 2004). Im Jahr 2010 hat das Bildungsministerium neue nationale curriculare Richtlinien für die gesamte Allgemeinbildung (Diretrizes Curriculares Nacionais para a Educação Básica, DCN) entwickelt (Brasil et al., 2013). Diese Richtlinien beschreiben allgemeine Grundlagen und Prinzipien für die Curricula für die Schularten und geben eine inhaltliche Orientierung für Unterrichtsfächer. Das neuste Dokument mit normativem Charakter ist die gemeinsame nationale curriculare Basis (Base Nacional Comum Curricular, BNCC). Dort werden für alle Schularten und Fächer der Allgemeinbildung spezifische Kompetenzen formuliert. Diese bilden eine Grundlage für die Fächer und den Unterricht im Sinne von Bildungsstandards, sind aber nicht als konkrete Lehrpläne zu verstehen, die in den Bundesstaaten und Schulen entwickelt werden. Für die Bildungsgänge des Technikers auf mittlerem Niveau wurden 2012 nationale curriculare Richtlinien (Diretrizes Curriculares Nacionais para a Educação Profissional Técnica de Nível Médio) eingeführt. In den Richtlinien werden Prinzipien zur Curriculumentwicklung vorgegeben und Elemente zur Beschreibung von Curricula aufgeführt (z.B. Ausbildungsprofil,

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Zum Ausbau der beruflichen Bildung wurde im Jahr 2011 durch die Gesetze Nr. 12.513/2011 und Nr. 12.816/2013 das Programm PRONATEC (Programa Nacional de Acesso ao Ensino Técnico e Emprego) mit einem großen Finanzvolumen eingeführt (MEC, 2012).

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Zielbeschreibung, Ausstattung, Lehrerprofil, Abschluss). Zusätzlich gibt es ein nationales Verzeichnis mit zulässigen Technikerkursen (Catálogo Nacional de Cursos Técnicos, aktuelle Version 2016) (MEC, 2016a). Alle Anbieter müssen sich an diese Vorgaben halten. Wenn beispielweise SENAI einen neuen Ausbildungsgang für einen Techniker anbieten will, muss dieser im Katalog aufgeführt werden. Für Technologen gibt es vergleichbare curriculare Richtlinien und ein Verzeichnis (MEC, 2016b). Die Gesetzgebungszuständigkeit in Angelegenheiten des Arbeitsmarktes und Beschäftigung liegen nach der Verfassung grundsätzlich beim Bund (Art. 22 I CF 1988). Das Ministerium für Arbeit (Ministério do Trabalho) ist für Arbeitsgesetze und -regelungen sowie das soziale Sicherungssystem zuständig. Allerdings wurde das Arbeitsministerium in der Regierungszeit von Temer aufgelöst und die verschiedenen Bereiche anderen Ministerien zugeordnet. Einige Zuständigkeiten für den Arbeitsmarkt, die Beschäftigung und die Ausbildung liegen nun beim Wirtschaftsministerium. Die Grundlage für das Arbeitsrecht ist das Arbeitsgesetzbuch (Consolidação das Leis de Trabalho, CLT) von 1943. Im CLT werden in elf Titeln alle zentralen individual- und kollektivrechtlichen Regelungen zusammenfasst. Das CLT behandelt die Themen Arbeitsministerium, Organisation von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, arbeitsrechtliche Schutzvorschriften, Arbeitsvertrag, Kollektivverträge, Arbeitsgerichtsbarkeit, Arbeitsgerichtsverfahren, Einigungskommissionen, Verwaltungsverfahren und Bußgeld. In Artikel 429 des CLT ist festgeschrieben, dass Unternehmen mit mindestens sieben Beschäftigten eine Ausbildungsplatzquote von fünf bis 15 Prozent der Arbeitsplätze zu erfüllen haben. Die Beschäftigungspflicht von Auszubildenden für mittlere und größere Unternehmen wurde in einem eigenen Ausbildungsgesetz Nr. 10.097 (Lei da Aprendizagem) von 2000 neu geregelt (Brasil, 2000) und durch weitere Verordnungen des Arbeitsministeriums ausgestaltet. Beispielweise regelt die Verordnung 5.598/2005 die Ausbildungsverträge und der Beschluss 615/2007 führte ein nationales Verzeichnis zur Ausbildung ein. Im Ausbildungsgesetz von 2000 wurden die Altersbestimmungen neu geregelt und die Beschäftigungsquote von

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Auszubildenden der Unternehmen auf 5 Prozent festgelegt. Nach diesen Regelungen müssen Unternehmen Auszubildende im Alter zwischen 14 und 24 Jahren mit einem speziellen Arbeitsvertrag befristet für die Dauer der Ausbildung (max. 2 Jahre) in einem Beruf beschäftigen, der sich auf die brasilianische Klassifikation der Berufe (Classificação Brasileira de Ocupações, CBO) bezieht.23 Bei einigen Ausbildungsberufen (bei personen- und gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten) gibt es Ausnahmen und der Beginn der Lehre ist erst mit 18 Jahren möglich (z.B. Assistenten in Gesundheit und Pflege, Tätigkeit in Banken, Kraftfahrer). Ferner wurden Regelungen zur methodischen Ausbildung geschaffen, die mit der betrieblichen Praxis verbunden sein muss. Das System wurde für andere Einrichtungen außerhalb des S-Systems geöffnet. So können sich nun öffentliche und private Organisationen sowie zusätzliche Wirtschaftsbereiche (z.B. Banken) an der Ausbildung beteiligen. Die Regelungen zum Kinder- und Jugendstatus (Estatuto da Criança e do Adolescente, ECA) von 1990 behandeln in den Artikel 60 bis 69 ebenfalls die Ausbildung. Dort ist der Begriff „Ausbildung“ (Art. 62) definiert und ein Recht auf Ausbildung manifestiert. Diese Beschreibung enthält auch Artikel 428 des CLT. Demnach ist eine Lehre in Brasilien eine methodische, technisch-berufliche Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene, die durch theoretische und praktische Aktivitäten und durch zunehmend komplexere Aufgaben, die sich auf Aktivitäten in den Ausbildungsunternehmen beziehen, organisiert wird. Neben den fachlichen Zielen werden auch allgemeine Ziele der Ausbildung wie der sozialen, moralischen, psychischen und physischen Entwicklung der Jugendlichen beschrieben. Für die Ausbildungsberufe wurde 2012 vom Arbeitsministerium ein nationaler Katalog für die Ausbildungskurse (Catálogo Nacional de Cursos de

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Das Arbeitsministerium bzw. das Wirtschaftsministerium führt ein brasilianisches Klassifikationsverzeichnis der Berufe CBO, welches über 2600 eingetragene Berufe listet. Ferner führt es ein nationales Verzeichnis der Ausbildungskurse, das sich am CBO orientiert (MTE, 2009).

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Aprendizagem, CONAP) veröffentlicht (2017 aktualisiert) und Regelungen für das nationale Verzeichnis der Ausbildung eingeführt (MTE, 2012). Im CONAP sind die Berufsfamilien, Titel der Ausbildungsberufe mit einer Zuordnung zum CBO, Dauer der Ausbildung und andere Standards beschrieben. In der Verordnung sind einige verpflichtende Inhalte für alle Ausbildungsberufe aufgeführt, wie z.B. schriftliche und mündliche Kommunikation, mathematisch-logisches Denken, Planung und Kontrolle von Arbeitsprozessen und Gruppenarbeit, Arbeitsrecht, -sicherheit und Gesundheitsschutz. 2.2.2 Verantwortlichkeiten Das brasilianische Berufsbildungssystem ist eine Mischung aus einem schulisch-bürokratischen und einem staatlich gesteuerten Marktmodell. Zum einen existieren im brasilianischen Berufsbildungssystem berufliche Sekundarschulen in nationaler, bundesstaatlicher oder kommunaler Trägerschaft innerhalb des formalen Bildungssystems und zum anderen private Berufsbildungsinstitutionen im Sistema S, die sowohl im formalen und non-formalen Bereich Berufsbildungsmaßnahmen anbieten. Grundsätzlich steuert der Staat zwar die berufliche Bildung und gibt Rahmenbedingungen vor, allerdings beteiligt er private Einrichtungen unter den staatlichen Rahmenbedingungen. Zugleich können die privaten Einrichtungen relativ autonom agieren. Das brasilianische Bildungswesen unterliegt der Aufsicht des Bildungsministeriums (Ministério da Educação, MEC), das für die nationale Bildungspolitik zuständig ist. Die Aufgaben des MEC bestehen u.a. in der Bestimmung und Koordinierung der nationalen Bildungspolitik, der programmatischen und curricularen Unterstützung der Bildung sowie der Evaluierung und Kontrolle der Umsetzung nationaler Bildungsrichtlinien. Das Ministerium besteht aus sechs Abteilungen bzw. Sekretariaten, die für die verschiedenen Bildungsmodalitäten und Schularten (Primar-, Sekundar-, Berufs-, Tertiär-, Weiterbildung usw.) zuständig sind.

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Für die berufliche Bildung ist auf nationaler Ebene das Sekretariat für berufliche und technologische Bildung (Secretaria de Educação Profissional e Tecnológica, SETEC) des Bildungsministeriums zuständig. Im Dekret Nr. 9.005 vom März 2017 sind in Artikel 15 u.a. folgende Aufgaben des SETEC festgelegt: Planung und Koordination der nationalen Bildungsund Förderpolitik der beruflichen und technologischen Bildung in Abstimmung mit anderen gesellschaftlichen Akteuren; Förderung von Maßnahmen zur Entwicklung, zum Ausbau und zur Verbesserung der Qualität der beruflichen und technologischen Bildung; Stärkung, Finanzierung und Überwachung des öffentlichen Netzwerkes beruflicher und technischer Schulen; Entwicklung und Aktualisierung des nationalen Katalogs der Technikerkurse sowie der nationalen Kataloge der Aus- und Weiterbildungsprogramme; Förderung und Durchführung von Studien und Untersuchungen zur beruflichen und technologischen Bildung; Erarbeitung von Mechanismen zur Abstimmung des Berufsbildungssystems mit der Wirtschaft unter Berücksichtigung des quantitativen und qualitativen Bedarfes an Fachkräften sowie Erstellung von Leitlinien für die Maßnahmen zur Erweiterung und Evaluierung der beruflichen und technologischen Bildung im Einklang mit dem nationalen Bildungsplan PNE (Brasil et al., 2017). Das Bildungsministerium wird vom Nationalen Bildungsrat (Conselho Nacional de Educação, CNE) unterstützt. Der CNE wurde 1995 als integraler Bestandteil der administrativen Struktur des Bildungsministeriums geschaffen. Er besteht aus zwei Kammern für die Allgemein- und Hochschulbildung und hat neben normativen Befugnissen eine wichtige gestaltende Funktion in der nationalen Bildungspolitik. Er entwickelt u.a. nationale Bildungsstrategien und -pläne. Der CNE ist zudem mit der Evaluierung der Qualität von Unterricht auf allen Ebenen beauftragt und soll sicherstellen, dass die kostenfreie Bildung der gesamten Gesellschaft zugutekommt. Für die berufliche Bildung auf Techniker- und Technologenniveau werden ebenfalls Richtlinien vom CNE verabschiedet. Auf der Ebene der Bundesstaaten sind für die Umsetzung und Gestaltung der Bildungspolitik eigene Bildungssekretariate der Regionalregierung wie

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beispielsweise das Secretaria da Educação der Regierung São Paulos zuständig. Die Bundestaaten können auf Basis der nationalen Gesetze, Richtlinien und Vorgaben eigene Ziele, Strategien und Maßnahmen entwickeln. In vielen der 5570 brasilianischen Kommunalverwaltungen existieren spezielle Abteilungen für Bildung, die für die Umsetzung der kommunalen Bildungspolitik v.a. in Kindergärten und Grundschulen verantwortlich sind. Ferner gibt es in den Bundessaaten und in den Munizipien jeweils eigene regionale und lokale Bildungsräte. Im Bereich der beruflichen Bildung haben die Wirtschaftsorganisationen eine spezifische Kompetenz. Die Arbeitgeberverbände als private Institutionen des öffentlichen Rechts in den jeweiligen Wirtschaftssektoren unterhalten Bildungsstätten, in denen Aus- und Weiterbildung, Qualifizierung und Spezialisierung im Sistema S stattfinden. Sie erfüllen ebenfalls staatliche Funktionen. Aufgrund des Finanzierungssystems und der Rolle im Berufsbildungssystem hat der Staat gewisse Mitbestimmungsmöglichkeiten wie andersherum Organisationen des Sistema S bei der Bildungsund Beschäftigungspolitik mitwirken. 2.2.3 Akteure Die öffentlichen Schulen werden vom Bund, den Bundestaaten und den Kommunen getragen. Das betrifft auch die Berufsbildungseinrichtungen. Der Bund unterhält berufliche Bildungseinrichtungen, die dem SETEC direkt unterstehen. Diese Bundesinstitute für Bildung, Wissenschaft und Technologie (Institutos Federais de Educação, Ciência e Tecnologia, IF) sind das neuste Modell der beruflichen Bildung im öffentlichen System.24 Die Reform der letzten Jahre bezog sich im Wesentlichen auf die Weiterentwicklung dieser Bundeseinrichtungen. Auf Basis des Gesetzes Nr.

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Die formale Gründung der beruflichen Schulen des Bundes in Brasilien erfolgte im Jahr 1909 durch ein Dekret des Präsidenten Nilo Peçanha. Damals wurden 19 handwerkliche Ausbildungsschulen gegründet, die eine kostenfreie Ausbildung angeboten haben (Cunha, 2000; MEC & SETEC, 2010; Tavares, 2012). Das waren die ersten Vorläufer der heutigen Bundesinstitute.

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11.892 vom Dezember 2008 wurden in der Regierungszeit von Lula 38 IF neu gegründet oder die ehemaligen sehr gut ausgestatteten Bundestechnologiezentren (Centro Federal de Educação Tecnológica, CEFET) in IF transformiert. Im Netzwerk der Bildungseinrichtungen des Bundes für berufliche, wissenschaftliche und technologische Ausbildung gibt es nun 647 Einrichtungen, die (integrierte) Technikerkurse auf dem Sekundarniveau, höhere Bildungsprogramme (Bachelor, Licenciatura und Technologe), post-graduierten Programme sowie eine berufliche Ausbildung und Qualifizierungskurse auf dem ersten Niveau anbieten. Es werden fast 12000 Kurse in den verschiedenen Modalitäten angeboten, die über 900000 Personen belegen. Die Hälfte ist in Technikerprogrammen und fast ein Drittel in graduierten Programmen eingeschrieben. An den Bundesinstituten sind über 45000 Lehrkräfte beschäftigt (SETEC & MEC, 2019). In den einzelnen Bundesstaaten existieren technische Sekundarschulen, die von den Bundesstaaten selbst unterhalten werden und eine große Bedeutung im öffentlichen Berufsbildungssystem haben. Sie bieten je nach Region und Größe die gleichen Programme wie die Bundesinstitute IF an. Mehr als ein Drittel der Teilnehmer von Technikerkursen auf dem mittleren Niveau ist in diesen Schulen der Bundesstaaten eingeschrieben (Bundesinstitute ca. 19 Prozent). Ein Beispiel für solche Schulen in der Zuständigkeit des Bundesstaates São Paulo sind die Staatlichen Technischen Schulen (Escolas Técnicas Estaduais, ETEC) und die Technologiefakultäten (Faculdades de Tecnologia, FATEC). Die Schulen werden über das Centro Paula Souza (CPS) gesteuert. Es ist eine autonome Selbstverwaltungseinheit der Regionalregierung von São Paulo, das dem Sekretariat für wirtschaftliche Entwicklung, Wissenschaft und Innovation (Secretaria de Desenvolvimento Econômico, Ciência, Tecnologia e Inovação, SDECTI) untersteht. Im Bundesstaat São Paulo gibt es 220 Technische Schulen ETEC in 300 Munizipien (Stand 2016). Die ETEC bieten in der Regel eine reguläre schulische Sekundarbildung mit der integrierten Variante der Technikerausbildung an. In den Schulen sind insgesamt über 200000 Schüler, davon ca. 51000 Schüler in

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integrierten Technikerkursen in 38 Fachrichtungen der Industrie, Landwirtschaft, Handel und Dienstleistung eingeschrieben. In den Schulen werden auch Vorbereitungskurse und Fortbildungen (Vertiefung, Spezialisierung und Anpassung) durchgeführt. Nach den Ergebnissen von ENEM gehören acht dieser technischen Schulen zu den besten 20 öffentlichen Schulen in Brasilien (CPS, 2017). Die 66 Technologiefakultäten bieten 72 verschiedene Kurse zur Ausbildung von Technologen (ca. 78000 Schüler) auf dem höheren Niveau sowie post-graduierten Kurse an. Wie bereits erörtert, spielen die Organisationen der Wirtschaft in Brasilien eine wichtige Rolle. Einer der bedeutendsten Arbeitgeberverbände ist der Dachverband der brasilianischen Industrie (Confederação Nacional da Indústria, CNI). Er wurde am 12. August 1938 aus einem seit 1933 existierenden brasilianischen Industrieverband gegründet. Im CNI sind die 26 Industrieverbände der brasilianischen Bundesstaaten (z.B. Federação das Indústrias do Estado de São Paulo, FIESP; Federação das Indústrias do Estado do Rio de Janeiro, FIRJAN) und des Bundesdistrikts (Federação das Indústrias do Distrito Federal, FIBRA) vertreten, denen wiederum etwa 1000 Unternehmerverbände angeschlossen sind. Der CNI hat sich bereits in den 1940er Jahren um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gekümmert. 1942 wurde der Nationale Dienst für die industrielle Ausbildung, der SENAI gegründet; 1946 erfolgte die Gründung des sozialen Service für die Industrie SESI (Serviço Social da Indústria). Damit wurden wichtige Grundlagen für die Entwicklung der brasilianischen Industrie, der beruflichen Bildung und anderer sozialen Dienstleistungen geschaffen. Der CNI verfügt über eine dritte Organisation, das Instituto Euvaldo Lodi (IEL), das im Wesentlichen in der Beratung und Förderung von Unternehmen tätig ist und hierzu auch Bildungsprogramme anbietet. Analoge Arbeitgeberverbände und Strukturen gibt es im Dienstleistungssektor. Der Nationale Dachverband für den Dienstleistungssektor ist der CNC (Confederação Nacional do Comércio), der ein Zusammenschluss der einzelnen Verbände der Bundesstaaten und des Bundesdistrikts ist. Die Berufsbildungseinrichtungen heißen SENAC (Serviço Nacional de Aprendizagem Comercial) und der soziale Dienst SESC (Serviço Social do

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Comércio). Im primären Sektor heißt der Nationale Dachverband für Agrarwirtschaft und Fischerei CNA (Confederação da Agricultura e Pecuária do Brasil) und die Berufsbildungseinrichtung SENAR (Serviço Nacional de Aprendizagem Rural). Im Transportwesen ist der nationale Ausbildungsdienst SENAT (Serviço Nacional de Aprendizagem do Transporte), der einige Berufsbildungseinrichtung unterhält und der soziale Dienst der SEST (Serviço Social do Transporte). Der Nationale Dachverband der Kooperativen bzw. Genossenschaften heißt CNCOOP (Confederação Nacional das Cooperativas) und der nationale Ausbildungsdienst für Kooperativen heißt SESCOOP (Serviço Nacional de Aprendizagem do Cooperativismo). SEBRAE (Serviço Brasileiro de Apoio às Micro e Pequenas Empresas) kümmert sich um Kleinst- und Kleinunternehmen und betreibt einige Bildungsinstitute, in denen wenige Berufsbildungskurse (z.B. Entrepreneurship) angeboten werden. Insgesamt existieren etwa 3000 Berufsbildungseinrichtungen in diesem SSystem.25 SENAI und SENAC sind die größten Organisationen und bedeutendsten Anbieter der beruflichen Bildung in Brasilien. SENAI ist die größte Berufsbildungsinstitution in Lateinamerika. SENAI verfügt über moderne Bildungs- und Kompetenzzentren, die vielfältigen Service für die Industrie anbieten. Der soziale Dienst SESI übernimmt die soziale Verantwortung der Industrie und bietet viele Bildungs-, Gesundheits- und Kulturprogramme an. SESC bietet soziale Dienste und Programme im Handel und Dienstleistungssektor an. SESC unterhält u.a. Ausbildungsfirmen und pädagogische Unternehmen wie Hotels, Restaurants oder Supermärkte. Die Organisationsstrukturen der Berufsbildungsinstitutionen von SENAI und SENAC sind sehr ähnlich. Die Berufsbildungsangebote sind eng auf den betreuten Wirtschaftssektor ausgerichteten. Insofern unterschieden 25

In Brasilien gibt es ca. 3000 private und ca. 3800 öffentliche Berufsbildungsanbieter. Hinzu kommen noch knapp 2000 private und öffentliche Hochschulen, die im Tertiärbereich Berufsbildungskurse anbieten. Ferner gibt es zahlreiche Unternehmen, Berufsverbände, Gewerkschaften und andere Organisationen, die verschiedene Maßnahmen der beruflichen Bildung durchführen. Insgesamt ergeben sich so über 40000 Anbieter oder Einrichtungen der beruflichen Bildung (Schwartzman, 2016).

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sich die Angebote in den Schwerpunkten und Inhalten, doch sind die formalen Abschlüsse ähnlich, insbesondere für diejenigen, für die nationale Vorgaben (z.B. Ausbildung, Techniker, Technologe, post-graduierten Programme) existieren. Sie unterstehen den jeweiligen Dachverbänden der Arbeitgeber in den Wirtschaftssektoren und sind dezentral organisiert. In jedem Bundesstaat gibt es einen regionalen Arbeitgeberverband im jeweiligen Sektor, an den die Zentrale dieser Bildungsinstitutionen angeschlossen ist. Im jeweiligen Bundesstaat gibt es eine Regionalverwaltung, die mehrere Berufsbildungsinstitutionen und andere Einrichtungen wie Beratungs-, Technologie- und Innovationszentren betreiben. SENAI bietet verschiedene berufliche Aus- und Weiterbildungsprogramme in 28 Industriebereichen an. Dies sind erste berufliche Vorbereitungskurse, eine grundlegende industrielle Ausbildung und Qualifizierung, Technikerkurse auf dem Niveau Ensino Médio, graduierte und post-graduierte Aus- und Weiterbildungen (u.a. Technologe) sowie Vertiefungs- und Spezialisierungskurse. Es gibt Kurse für die Bereiche Automobil, Mechanik, Elektronik, Informatik, Bauwesen, Schuhe und Leder, Lebensmittel und Getränke. Der SENAI verfügt über knapp 1000 Bildungseinrichtungen, von denen 541 fest installiert (Schulen) und 425 mobil sind (SESI, 2018). Die mobilen Einheiten befinden sich auf Schiffen und LKW und werden in abgelegenen Regionen wie im Amazonasgebiet eingesetzt. Sie sind in der Regel gut ausgestattet, um eine Vielzahl von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen durchzuführen. Bei SENAI waren im Jahr 2016 insgesamt 3,4 Mio. Brasilianer in einer Qualifizierungs-, Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme eingeschrieben, davon rund 235000 in Ausbildungsprogrammen und 270000 in Technikerkursen. Die große Mehrheit nahm an Qualifizierungsmaßnahmen (1,3 Mio.) und in der Weiterbildung (1,06 Mio.) teil (SESI, 2017). Seit 1942 wurden insgesamt über 70 Mio. Personen in den festen und mobilen Einrichtungen aus- und weitergebildet (SESI, 2018). Bei SENAC waren 2016 in den verschiedenen Programmen 1,2 Mio. Personen eingeschrieben (SENAC, 2017). Hinzu kommen etwa 1 Mio. Teilnehmer in Kurzmaßnahmen wie Workshops und Seminare. Ein großer Teil

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nahm an Programmen der Erstaus- und Weiterbildung teil. Rund 95000 Personen waren in Ausbildungsprogrammen registriert und 110000 Personen absolvieren Technikerkurse. Neben der beruflichen Bildung ist der SENAI auch in der Innovation und der technologischen Entwicklung aktiv. Bis 2017 wurden 26 Institute für Innovation (Institutos SENAI de Inovação, ISI) und 61 Institute für Technologie gegründet. Die ISI unterstützen Unternehmen bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Hierzu gehört auch die Gründung von Technologieparks. Nach eigenen Angaben sind diese vergleichbar mit Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft oder das Massachusetts Institute of Technology. (SESI, 2018). In den Technologie-Instituten werden viele Dienstleistungen angeboten wie Laborarbeiten, technische Prüfungen und Beratung von Unternehmen. In den brasilianischen arbeitsrechtlichen Regelungen wird begrifflich nicht zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unterscheiden. Für beide wird der Begriff Sindicato verwendet. Im Jahr 2016 gab es 11240 Sindicatos de Trabalhadores (Arbeitnehmervereinigungen) und 5251 Sindicatos de Empregadores (Arbeitgebervereinigungen) (Campos, 2016). Gewerkschaften sind nach Berufen und geografisch organisiert. Ein Sindicato existiert in der Kommune (oder auch mehreren, bis zu einem Bundestaat). Eine Vereinigung von Gewerkschaften im Bundesstaat heißt Federação, ein Zusammenschluss solcher Vereinigungen im Bund heißt Confederação, womit sich eine Pyramidenstruktur ergibt. Darüber hinaus gibt es sog. Gewerkschaftszentralen (Centrais Sindicais) als nationale Dachorganisationen. Die größte der derzeit sieben anerkannten zentralen Gewerkschaften ist die CUT (Central Única de Trabalhadores), die rund 21 Prozent der Arbeitnehmer repräsentiert, danach folgt die Força Sindical mit rund 15 Prozent. Die brasilianischen Gewerkschaften sind Institutionen öffentlich-rechtlichen Charakters, die der Staat den Arbeitern zur geordneten und kontrollierten Mitwirkung an der Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Verfügung stellt. In definierten Regionen (zumeist eine Gemeinde) und Berufsgrup-

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pen (auf Basis der Klassifikation der Berufe CBO) können sich Berufsverbände bilden. Diese Berufsverbände dürfen den Antrag auf Anerkennung als Gewerkschaft stellen, wenn sie mehr als ein Drittel der entsprechenden Berufskategorien einer Region als Mitglieder nachweisen. Für jede Region und jede Berufskategorie wird nur eine Gewerkschaft zugelassen. Damit soll zwar ein Gewerkschaftspluralismus verhindert werden, doch die große Zahl an Gewerkschaften führt eher zu einer Vielfalt und Zersplitterung. Die Aufgaben der (zentralen) Gewerkschaften wurden zuletzt 2008 im Gesetz Nr. 11.648 beschrieben. Ganz allgemein sollen sie die Interessen der Arbeitnehmer bei Verhandlungen in Foren und Organen oder bei sozialen Dialogen vertreten. Das Gesetz beschreibt jedoch keine konkreten Handlungsfelder. Die Gewerkschaften haben in Brasilien keinen ausgewiesenen Zuständigkeitsbereich in der beruflichen Bildung, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht aktiv sind. Viele Gewerkschaften bieten ebenfalls Ausbildungskurse (meist auf dem Basisniveau) an. Darüber hinaus sind sie in verschiedenen Organen wie nationalen Räten vertreten. Die S-Organisationen werden ebenfalls von nationalen Räten sowie auf Bundestaatenebene von regionalen Räten gesteuert. In diesen Räten sind Vertreter von Gewerkschaften Mitglied. Beispielsweise hat der nationale Rat von SENAC zwei Gewerkschaftsvertreter von CUT und Força Sindical. Erwähnenswert ist die Beteiligung von Gewerkschaften an der Entwicklung von Curricula in den S-Organisationen. Der SENAI hat in den 1990er Jahren sektorale technische Komitees (Comitê Técnico Setorial) eingeführt, in denen Experten aus dem betroffenen Bereich mit SENAI Experten nach einem strukturierten Verfahren Ausbildungsprofile, Curricula und andere Dokumente (z.B. Evaluation) entwickeln. Dabei ist immer ein Experte für die Arbeitnehmer vertreten.

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Problemstellungen, Lösungsansätze und Projektinitiativen

2.3.1 Projektinitiativen im Bereich der beruflichen Bildung Eine – im internationalen Vergleich – Besonderheit des brasilianischen Berufsbildungssystems ist das Zusammenwirken von staatlichen Berufsbildungsinstitutionen und privatwirtschaftlichen Organisationen. Somit besteht das Berufsbildungssystem aus zwei Subsystemen, die durch verschiedene Regelungen in den meisten Bereichen abgestimmt sind, sich wechselseitig ergänzen und alternative Bildungsmöglichkeiten bieten. Im öffentlichen Sektor existieren die gut ausgestatten Bildungsinstitute des Bundes und die zahlreichen Institutionen der Bundesstaaten. Die kommunalen Einrichtungen ergänzen dieses System, doch spielen sie insgesamt eine untergeordnete Rolle. Im privaten Sektor sind die S-Organisationen wesentliche Träger der beruflichen Bildung, die ebenfalls auf nationaler Ebene und auf der Ebene der Bundesstaaten agieren. Durch diese Struktur ergibt sich ein vielfältiges Angebot an Kursen und Programmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung auf verschiedenen Qualifikations- und Bildungsstufen. Die mit dem Bildungsgesetz LDB eingeführten und sukzessive ausgebauten drei Qualifikationsniveaus (berufliche Grundbildung, mittlere Fach- oder Technikerbildung, höhere berufliche Bildung zum Technologen) führen zu einem Angebot, das nicht nur auf verschiedene Tätigkeiten zugeschnitten ist, sondern potenziell die Verzahnung und Durchlässigkeit des Systems fördert. Als besondere Stärke des Systems kann neben dem quantitativen Angebot die Qualität der Bundesinstitute und der Berufsbildungseinrichtungen des S-Systems genannt werden. Insbesondere SENAI und SENAC sind sehr professionell geführte Organisationen mit hochwertigen Bildungseinrichtungen. Daraus ergibt sich erstens eine starke Beteiligung der Wirtschaft an der Gestaltung der Berufsbildung. Dieses System bietet zweitens eine gute Basis für eine nationale Berufsbildungspolitik bei gleichzeitiger Dezentralisierung unter Berücksichtigung der regionalen Bedarfe. Nicht nur deshalb war insbesondere das SENAI Modell ein Muster für die Etablierung solcher Einrichtungen in fast allen Ländern in Lateinamerika.

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Die berufliche Bildung war bis zur Wirtschaftskrise ein Schwerpunkt in den politischen Programmen von Lula und Rousseff. Bereits im Jahr 1997 hat das Bildungsministerium mit einem Programm PROEP (Programa de Expansão de Educação Profissional) den Ausbau der Berufsbildung initiiert und Investitionen für berufliche Schulen zur Verfügung gestellt. Das Programm war in ein umfassendes politisches und wirtschaftliches Entwicklungsprojekt integriert (Andrade, 2005). Nach dem PROEP folgte im Jahr 2011 das Programm PRONATEC (Programa Nacional de Acesso ao Ensino Técnico e Emprego) mit einem hohen Finanzvolumen (MEC, 2012). Ziele des Programms waren der Ausbau der beruflichen Bildung auf mittlerem Niveau, die Verbesserung des Zugangs zur beruflichen Bildung und die Erhöhung der Teilnehmerzahlen. In diesem Programm wurden bis 2015 über 9 Mio. Personen finanziert und nahmen an kostenfreien Kursen zur Technikerausbildung (38 Prozent) oder Qualifizierungsmaßnahmen (62 Prozent) teil (Machado, 2015). Aufgrund der Wirtschaftskrise wurde das Finanzvolumen jedoch deutlich reduziert. Auf staatlicher Seite waren in den letzten Jahren insbesondere der Ausbau der Bundesinstitute und die Schaffung neuer Kapazitäten das strategische Ziel. Diese Vorhaben wurden durch das Programm PRONATEC gestützt. Mit dem Ausbau verbunden sind infrastrukturelle, materielle (z.B. Ausstattung), organisatorische und personelle Herausforderungen. Hier ist die Frage der Rekrutierung von Lehrkräften relevant, die überwiegend durch Fachexperten aus den wissenschaftlichen Disziplinen wie Ingenieur- und Naturwissenschaften erfolgt. In der Regel erhalten diese Experten pädagogische Fortbildungen, die selten auf Theorien und Konzepten der Berufsund Wirtschaftspädagogik fokussieren und wenig auf die Spezifika des beruflichen Lehrens und Lernens zugeschnitten sind. So gab es immer wieder einzelne Versuche spezielle Fortbildungsprogramme – auch für betriebliches Bildungspersonal – zu etablieren, die meist regional und singulär durchgeführt worden sind, was nicht zu einem kohärenten System führte. Eine der größten Herausforderungen ist somit die angemessene Ausbildung des Berufsbildungspersonals für alle Berufsbildungseinrichtungen.

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2.3.2 Duale Ansätze Die berufliche Ausbildung (Aprendizagem) wird in diesem Beitrag als dualer Ansatz diskutiert, da die gesetzlichen Grundlagen prinzipiell die Strukturen für eine duale Ausbildung schaffen, auch wenn dies in Brasilien nicht so gedeutet wird. Aufgrund der Beschäftigungspflicht müssen Betriebe Auszubildende einstellen. Die praktische Ausbildung soll laut Ausbildungsgesetz im Betrieb stattfinden und mit dem Theorieunterricht abgestimmt sein. Nach dem Bildungsgesetz muss eine Maßnahme auf der ersten Qualifikationsstufe mindestens 400 Stunden Theorieunterricht (oder 40 Prozent eines vergleichbaren Technikerkurses) umfassen und 25-50 Prozent des gesamten Ausbildungsprogramms betragen. Der Theorieunterricht (einschl. Labore und Werkstätten) findet an den Bildungseinrichtungen in den S-Organisationen oder heute auch in den Bundesinstituten und Einrichtungen der Bundestaaten oder anderen Organisationen statt. In der Regel kümmern sich die Lehrkräfte um die Organisation der betrieblichen Ausbildungspraxis. Der praktische Teil kann auch vollständig oder teilweise in Laboren stattfinden, wenn es die Spezifika des Berufes erfordern. Die größte Herausforderung der Lehre ist die mangelnde Nachfrage oder das geringe Interesse von Jugendlichen (und Eltern), da diese Bildungsmodalität eine geringe Wertschätzung besitzt. Die Arbeitsmarktchancen der Absolventen werden – obwohl nicht immer gerechtfertigt – als schlecht beurteilt und die damit verbundenen Tätigkeiten als niederwertig empfunden. In Brasilien werden höhere Bildungsabschlüsse stärker nachgefragt, sodass das Interesse an einer beruflichen Lehre und die Anzahl der Auszubildenden bis zum Jahr 2000 stark gesunken sind (Corseuil, Foguel & Gonzaga, 2016). Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Auszubildenden aufgrund der Einführung des Ausbildungsgesetzes, der aktiven Förderung und neuer Maßnahmen im Bund, den Bundestaaten und im S-System. Trotzdem ist die Gesamtzahl der Auszubildenden mit ca. 400000 gering, davon ist die Hälfte bei SENAI registriert (Corseuil et al., 2016; Fundação Abrinq, 2017; SESI, 2018).

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Der größte Bedarf in der Ausbildungspraxis bezieht sich auf die systematische Planung und Durchführung der praktischen Arbeiten in den Betrieben. Laut Verordnung ist eine Lehre in Brasilien eine methodische technische-berufliche Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene, die durch theoretische und praktische Aktivitäten sowie durch zunehmend komplexere betriebsbezogene Aufgaben organisiert wird. Die praktische Arbeit der Auszubildenden muss laut Ausbildungsgesetz begleitet und systematisch geplant werden, was aber in der Praxis selten (oder gar nicht) erfolgt. Für die praktische Ausbildung existieren keine systematischen Ausbildungspläne, sodass die Betreuer – falls vorhanden – in den Unternehmen diese – wenn überhaupt – selbst erstellen. Die Einführung von betrieblichen Ausbildungsplänen, die Etablierung von betrieblichem Ausbildungspersonal und Betreuern sowie die Einordnung der Ausbildung in ein betriebliches Personal- und Organisationsentwicklungskonzept sind deshalb die größten Notwendigkeiten im brasilianischen Ausbildungssystem. Neben den staatlichen Maßnahmen gab bzw. gibt es immer wieder Projekte zur Einführung einer Ausbildung nach einem dualen Modell, die von deutschen Organisationen und Unternehmen gestützt worden sind. An der deutschen Schule Colegio Humboldt existiert seit 1982 in Kooperation mit der Deutschen Auslandshandelskammer (AHK) eine duale Ausbildung in kaufmännischen Berufen, die in Brasilien und Deutschland anerkannt ist. Seit 2015 führt die AHK in Kooperation mit dem SENAI ein Projekt durch, bei dem eine duale Ausbildung nach deutschem Vorbild für gewerblichtechnische Berufe (Industriemechaniker und Mechatroniker) erprobt wird (Kooperation International, 2016). In der ersten Phase des Vorhabens waren drei deutsche Unternehmen beteiligt. SENAI unterstützt diesen Ansatz, meint jedoch, dass das deutsche Konzept an die brasilianischen Verhältnisse angepasst werden muss. Aus Sicht des Autors sind solche Vorhaben zu würdigen, doch werden sie vermutlich keine großen Effekte erzielen. Neben einzelnen Initiativen werden größere Förderprogramme und Imagekampagnen benötigt, um die gesellschaftliche Wertschätzung und Attraktivität der beruflichen Ausbildung in Brasilien zu erhöhen. Darüber hinaus sind strukturelle Maßnahmen notwendig, um die Berufsorientierung und

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Berufswahl zu verbessern. Hierzu könnte z.B. die Einführung neuer Unterrichtsfächer (z.B. Wirtschaft, Arbeit, Technik) in allgemeinbildenden Schulen sinnvoll sein, die stärker auf eine berufliche Ausbildung vorbereiten. 2.3.3 Projektinitiative mit Beteiligung deutscher Akteure Kooperationsbeziehungen zwischen Brasilien und Deutschland bestehen seit vielen Jahren. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Brasilien feierte 2013 ihr 50-jähriges Jubiläum, dabei war bereits frühzeitig ein Schwerpunkt die Berufsbildungszusammenarbeit. Der SENAI und das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) arbeiten seit 1998 auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung zusammen. Diese sieht neben dem Aufbau von Partnerschaften die gemeinsame Entwicklung von Curricula sowie den Informationsaustausch im Bereich der beruflichen Bildung vor. 2016 wurde eine Neuausrichtung der Zusammenarbeit zwischen dem BIBB und dem SENAI vereinbart. Die Kooperation soll nun auf Reformen des gesetzlichen Rahmens und auf den Transfer von Konzepten der dualen Ausbildung zielen. Der SENAI möchte solche Ansätze stärker in seinem Berufsbildungsangebot integrieren (BIBB, 2018). Nach bisherigem Kenntnisstand sind im Moment keine Aktivitäten geplant. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist schwerpunktmäßig in den Bereichen Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung aktiv. So gibt es in Brasilien Kooperation und Projekte zum Klimaschutz, Erhalt der Artenvielfalt und Schutz des Tropenwaldes. Hinzu kommt ein Projekt zur Förderung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz, das in der zweiten Phase auch eine Berufsbildungskomponente beinhaltete. Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH betreibt seit über 30 Jahren ein Büro in Brasilien. Die GIZ führte das oben erwähnte dreijährige Vorhaben (2015-2018) im Rahmen des Programms für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz im Auftrag des BMZ durch. Im Pro-

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gramm wurden Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Windenergie, Solarthermie, Photovoltaik und Energieeffizienz (u.a. Techniker und Spezialisierung) entwickelt und angeboten (Büdke, 2017). In der GOVET-Datenbank sind in Brasilien 13 Projekte der Berufsbildungszusammenarbeit (Stand 2019) aufgeführt, von denen zwei noch nicht beendet sind (GOVET, 2019a). Zu den Projekten gehört ein Vorhaben zur Technologieförderung und Fortbildung für Kleinbauern im biozertifizierten Sojaanbau in Paraná sowie eine Berufsbildungspartnerschaft zwischen der Handwerkskammer Ulm und dem SENAI Rondônia. Im Vorhaben wurden SENAI Einrichtungen unterstützt, Ausbilder didaktisch-methodisch fortgebildet und duale Elemente in die Ausbildung eingeführt. In einem anderen Vorhaben unterstützten die Industrie- und Handelskammer sowie Handwerkskammer Trier den SENAI und SENAC im Bundesstaat Rio Grande do Norte in der Aus- und Weiterbildung bei erneuerbaren Energien sowie im Tourismus und Hotel- und Gaststättengewerbe. Das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) hat ein Projektbüro in Brasilien und fördert Forschungs-, Entwicklungs- und Beratungsprojekte für brasilianische Unternehmen, Industrieverbände, Nichtregierungsorganisationen und staatliche Stellen im Bereich Innovationsmanagement und Technologietransfer. SENAI und das IPK haben 2012 einen Vertrag abgeschlossen. Dieser beinhaltet u.a. die Gründung neuer Technologiezentren (SESI, 2017). 2.3.4 Fazit: Bedarfe Das brasilianische Berufsbildungssystem ist ein komplexes Gebilde mit zahlreichen Akteuren und einer sehr großen Vielfalt an Berufsbildungsangeboten. Vor diesem Hintergrund ist es kaum möglich einen einzigen Bedarf für alle Institutionen und Bildungsbereiche zu identifizieren. Die verschiedenen Institutionen befinden sich in jeweils eigenen Situationen mit spezifischen Bedarfen. Hinzu kommt die politische und wirtschaftliche Krise, die zu finanziellen Reduktionen, Stagnation von Vorhaben und teilweise zu einer geringeren Handlungsfähigkeit führte.

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Aus Sicht des Autors können auf Basis von durchgeführten Interviews mit Akteuren der Berufsbildung in Brasilien und von Dokumentanalysen folgende Bedarfe genannt werden: • Weitere Förderung der beruflichen Ausbildung (Aprendizagem). Zurzeit gibt es Förderprogramme und Initiativen im Bund, den Bundesstaaten und bei den S-Organisationen (Schwartzman, 2016). Dennoch leidet die Ausbildung an einer geringen Nachfrage und Beteiligung der Unternehmen. Prinzipiell besitzt das Gesetz das Potenzial für ein duales System, aber es wird kaum eingehalten. Insofern besteht eher eine Umsetzungsherausforderung. Verschiedene Akteure (CNI, SENAI, u.a.) regen eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen an. Dabei ist jedoch unklar, welche Änderungen oder neue Regeln die Wertschätzung der Ausbildung und das Engagement der Betriebe verbessern könnten.26 Darüber hinaus werden flankierende Maßnahmen zur Akzeptanzverbesserung angeregt, wie die Einführung neuer Fächer oder Inhalte im Komplex Arbeit-Beruf-Wirtschaft-Technik und von betrieblichen Praktika in den allgemeinbildenden Schulen, eine Verbesserung der Berufsorientierung und Berufsberatung sowie Imagekampagnen. • Insgesamt kann für alle Berufsbildungseinrichtungen mit unterschiedlichen Ausprägungen der Bedarf an der Ausbildung und Rekrutierung von Berufsbildungspersonal genannt werden. Es bestehen keine eigenen Ausbildungsprogramme oder Studiengänge (bzw. erst seit kurzem). Maßnahmen in den einzelnen Subsystemen sind meist temporär und singulär. • Die öffentlichen Bildungseinrichtungen sind mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. Erstens gibt es Standards für Lehrkräfte, die jedoch

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In der Diskussion wird angeregt, den Bildungsgehalt der Ausbildung zu erhöhen und diese auf drei Jahre zu verlängern. Damit könnte sie als eine gleichwertige Alternative für die Sekundarbildung ausgestaltet werden (CNI, 2018a). Hinzu kommt ein strukturelles Problem in der Industrie. Eine Arbeitstätigkeiten in der Industrie ist erst ab 18 Jahren erlaubt, sodass Jugendliche unter 18 Jahren im Rahmen einer Ausbildung in den Unternehmen nicht aktiv sein können. Hier wäre eine gesetzliche Änderung sinnvoll.

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aufgrund der Rekrutierungsmechanismen kaum berücksichtigt werden können. Die Lehrer werden nach einem Auswahlverfahren rekrutiert. Dabei spielt die berufliche oder praktische Erfahrung keine Rolle. So sind überwiegend Akademiker oder Fachexperten als Lehrer tätig, die wenige Kompetenzen in der beruflichen Bildung haben. Zweitens bieten die Bundesinstitute nun auch eigene Programme der Lehrerbildung an, die einen geringen Fokus auf berufliche Lehr- und Lernkonzepte legen. Insofern besteht hier ein Bedarf an der Entwicklung von angemessenen Konzepten von Ausbildungsprogrammen für berufliches Bildungspersonal für alle Einrichtungen sowie an berufspädagogischer und fachdidaktischer Fortbildung von beschäftigten Lehrkräften. • Für den Bereich der betrieblichen Ausbildung trifft die gleiche Beobachtung zu. In der Regel erfolgt die Ausbildung ohne systematische Planung und Betreuung durch betriebliches Bildungspersonal. Die Förderung der Qualität der betrieblichen Ausbildung durch dezidierte Ausbildungspläne und Qualifizierung des Ausbildungspersonals sind vermutlich die größten Herausforderungen bei der Aprendizagem. • Punktuell besteht trotz der Krise ein Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften in bestimmten Produktionsbereichen und bei grünen Berufen (GOVET, 2019b). Die Einführung von Ausbildungsgängen im Bereich erneuerbarer Energien und Erhöhung des Angebotes kann unter der Voraussetzung einer weiteren Dissemination dieser Technologien als Bedarf konstatiert werden. Aktuelle Arbeitsmarktprogosen zeigen auch einen wachsenden Fachkräftebedarf (insbes. Techniker) im produzierenden Gewerbe, in der Baubranche und im IT-Sektor (CNI, 2018a; SENAI, 2016). • In Brasilien gibt es eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen, die in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Arbeitsmarkt Studien erstellen und (bildungs-)politische Beratung durchführen. Dazu gehören auch die S-Organisationen. Beispielswiese hat SENAI eine eigene Abteilung der Prognose von Beschäftigung. Dennoch wird ein Bedarf am Ausbau der Berufsbildungs- und Arbeitsforschung und eine stärkere

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Bezugnahme dieser Forschung zur Berufsbildungspolitik und -gestaltung identifiziert. Darüber hinaus kann das bestehende Potenzial intensiver in der internationalen Berufsbildungsforschung genutzt werden. • SENAI hat ein starkes Interesse an aktuellen Themen wie Industrie 4.0 und Digitalisierung und ist in diesem Zusammenhang auch an der Entwicklung neuer Berufe, der Weiterentwicklung von Curricula, an Ausstattung und an didaktischen Konzepten interessiert. Ferner besteht Interesse am weiteren Ausbau dualer Ansätze, so wie es im Projekt mit drei deutschen Unternehmen erprobt worden ist. • SENAC führt gerade einige Reformen (z.B. Entwicklung kompetenzorientierter Curricula) durch und sieht hier Unterstützungsbedarf. SENAC ist an einer Intensivierung der internationalen Kooperation interessiert. Hierzu gehört u.a. der Austausch von Lehrkräften und Auszubildenden. Andere gewünschte Themenfelder der Kooperation sind die Entwicklung von Konzepten zur Förderung der Personal- und Sozialkompetenz sowie Fremdsprachen. • Der CNI hat in einer Strategieausrichtung (2018) die Verbesserung der Qualität der Bildung, die Erhöhung der Quote der Jugendlichen in Programmen der beruflichen Bildung, die Ausweitung des Angebotes von Fernkursen, eine bessere Orientierung der Berufsbildung am Bedarf der Wirtschaft, die Einführung eines nationalen Evaluierungs- und Leistungserfassungssystems in der beruflichen Bildung (vergleichbar mit ENEM) sowie eine Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen empfohlen (CNI, 2018b).

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Herausforderungen

Die Diskussion der Herausforderungen des brasilianischen Berufsbildungssystems erfolgt auf Basis der fünf Prinzipien aus der Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für die internationale Berufsbildungszusammenarbeit (Deutscher Bundestag, 2013).

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Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Aus Sicht des Autors ist Brasilien ein gutes Beispiel für die Übernahme von Verantwortung von Staat und Wirtschaftsorganisationen in der beruflichen Bildung, die sich in manchen Bereichen in einer koordinierten Gestaltung der beruflichen Bildung äußert. Öffentliche und private Berufsbildungseinrichtungen bieten eine Vielzahl verschiedener Programme an, die Alternativen bieten, sich wechselseitig ergänzen oder sogar in Kooperation erfolgen. Das Programm PRONATEC, durch welches kostenfreie Kurse in den öffentlichen und privaten Einrichtungen angeboten werden konnten, verdeutlicht diese Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Organisationen (Tavares, 2012). In der Berufsbildungspolitik gibt es ebenfalls etablierte Strukturen und wechselseitige Mitwirkungsmöglichkeiten über verschiedene nationale und regionale Gremien und Räte. Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind in verschiedene Bildungsräte eingebunden. Vertreter von Arbeitnehmern und Ministerien sind ebenfalls in den verschiedenen Räten der Wirtschaftsorganisationen im S-System eingebunden. Die S-Organisation gestalten ihre Angebote auf Basis staatlicher Vorgaben. Forderungen des Staates, wie z.B. das Anbieten von kostenfreien Kursen in den S-Organisationen, werden in der Regel umgesetzt.27 Die Rolle der Gewerkschaften wurde oben erläutert. Sie haben insgesamt keine ausgewiesene Rolle in der Berufsbildung, doch beteiligen sie sich in verschiedenen Bereichen an der Berufsbildung (z.B. Gremien und Räte, Entwicklung von Curricula, eigene Maßnahmen und Kurse). Daraus soll jedoch nicht die Forderung abgleitet werden, dass Gewerkschaften stärker in Politik und Gestaltung der Berufsbildung eingebunden werden sollen.

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2008 wurde zwischen dem SENAC und dem Bildungs- und Arbeitsministerium vereinbart (Dekret Nr. 6.633), dass zwei Drittel der Kurse kostenfrei angeboten werden sollen. SENAC erfüllt diese Quote von 66,67 Prozent seit 2014. Die Finanzierung erfolgt teilweise über PRONATEC, Unternehmen oder über andere Quellen (z.B. eigene Programme). Bei SENAI soll eine ähnliche Quote erfüllt werden.

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Dies obliegt den eigenen politischen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen im Land. Lernen im Arbeitsprozess Lernen im Arbeitsprozess gilt allgemein als zentrales Prinzip einer hochwertigen (dualen) beruflichen Bildung. In Brasilien muss diese Strategie für die verschiedenen Bildungsmodalitäten differenziert betrachtet. Prinzipiell haben alle beruflichen Bildungsprogramme als curricularen Bestandteil (betriebliche) Praxisphasen, in denen in authentischen Kontexten Kompetenzen für die Arbeitswelt erworben werden sollen. Bei allen Technikerund Technologenprogrammen sind hierfür Praxisphasen einzuplanen. Die Dauer hängt vom spezifischen Beruf und Programm ab. Beispielsweise kann die Praxisphase bei einem dreijährigen Technologenprogramm 400 Stunden (von 2800 Stunden) dauern. Für den praktischen Teil der verschiedenen Ausbildungstypen gibt es zwei Beobachtungen. Die Praxisphasen in der Techniker- und Technologenausbildung organisieren die Berufsbildungseinrichtungen bzw. die betreuenden Lehrkräfte selbst. Die Konzepte und Qualität dieser Phasen lassen sich aufgrund fehlender systematischer Evaluationen kaum bewerten. Die einzelnen Praktika werden meist individuell bewertet, aber die Ergebnisse nicht systematisch über alle Institutionen zusammengeführt. Einzelne Berichte lassen vermuten, dass die Qualität verbesserungswürdig ist. Die zweite Beobachtung ergibt sich aus der Betrachtung der Konzepte der betrieblichen Ausbildung, die wie bereits erörtert, insgesamt entwicklungsbedürftig ist. In den relevanten Gesetzen sind wichtige Grundlagen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung gelegt, doch werden die Gesetze kaum eingehalten. Insbesondere fehlen eine systematische Organisation, Planung und Bewertung der Ausbildung. Ein betrieblicher Ausbildungsplan existiert nicht und in der Regel ist bei den meisten Unternehmen kein spezialisiertes Bildungspersonal vorhanden. Die Konzeptualisierung und Systematisierung der betrieblichen Ausbildung im Sinne des Ausbildungsgesetzes nach zunehmend komplexeren Aufgaben ist eine zentrale Herausforderung. Die Themen Planung, Durchführung und Evaluierung

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von arbeits- und handlungsorientierten Lernkonzepten können hierbei als konkrete Maßnahmen genannt werden. Neben der von vielen Organisationen genannten Empfehlung der Reformierung des Ausbildungsgesetzes bieten sich somit organisatorische und didaktische Kooperationsfelder an. Akzeptanz von nationalen Standards Im Hinblick auf das Thema Standards kann angemerkt werden, dass in Brasilien eine Vielzahl von Standards im Berufsbildungsbereich existieren. Allgemeine Ziele für die verschiedenen Bildungsmodalitäten sind bereits im Bildungsgesetz sowie in ergänzenden Verordnungen und curricularen Richtlinien festgelegt. Hierzu gehört beispielsweise folgende Beschreibung: Absolventen sollen über ein umfassendes humanistisches, naturwissenschaftliches und technisches Grundlagenwissen und darüber hinaus über wichtige soziale und personale Kompetenzen, wie Problemlöse-, Team- und Kommunikationsfähigkeit, Lernkompetenz etc. verfügen. Diese allgemeinen Bildungsziele können als Bildungsstandards gedeutet werden, die für alle Bildungsmodalitäten und Schulformen existieren. Für die Ausbildung zum Techniker und Technologen gibt es nationale curriculare Richtlinien, die einige Standards festlegen (z.B. Berufsfamilien, Berufsbezeichnungen, Berufsprofil, manchmal Aufgaben-, Funktionsund/oder Kompetenzbeschreibungen). Hier muss berücksichtigt werden, dass für die allgemeinbildenden Fächer des Sekundarbereichs ebenfalls nationale curriculare Richtlinien (mit Fächern und Themen) existieren, die ggf. durch regionale Richtlinien in den Bundesstaaten präzisiert werden. In Bezug auf die Ausbildung (Aprendizagem) wurde bereits beschrieben, dass das Arbeitsministerium bzw. Wirtschaftsministerium ein nationales Verzeichnis der Ausbildungskurse führt, das sich an dem brasilianischen Klassifikationssystem der Berufe CBO orientiert. Dort sind in Anlehnung an das CBO die Berufsfamilien, Berufsbezeichnung und andere Elemente beschrieben (z.B. Profil, Dauer). Insofern gibt es nationale Berufs- und Ausbildungsstandards. Allerdings gibt es keine konkreten Curricula oder Ausbildungspläne mit genauen Beschreibungen von Aufgaben, Kompe-

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tenzen, Fertigkeiten, Wissen, Inhalten usw. Ebenso fehlt es an einheitlichen Prüfungsstandards. Durch konkretere curriculare Vorgaben und Umsetzungshilfen kann potenziell die betriebliche Ausbildung gefördert werden. Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass solche Dokumente allein kein Anlass sein werden, das Engagement der Betriebe zu steigern, die eine stärkere Betreuung der Auszubildenden durch qualifiziertes oder neues Personal zunächst als zusätzliche Kosten deuten werden. Zumal sie an die S-Organisationen bereits durch die Lohnsummensteuerabgabe einen Beitrag leisten und damit den S-Organisationen diese Aufgabe zuschreiben. Die S-Organisationen entwickeln meist in der nationalen Einheit eigene Curricula, die sich an den nationalen Richtlinien für die Ausbildung, Techniker und Technologen orientieren. Der SENAI verwendet hierzu ein etabliertes Verfahren mit fest installierten sektoralen technischen Komitees und einer dezidierten Entwicklungsmethode (in Anlehnung an Funktionsanalysen). Die regionalen Einheiten sind jedoch autonom und können eigene Curricula entwickeln, was u.a. in São Paulo oft passiert. Dennoch findet in diesem Kontext immer ein Austausch zwischen regionalen Einheiten statt. So werden neue Programme auch anderen Regionen zur Verfügung gestellt und bei Bedarf Fortbildungen durchgeführt. Beispielhaft kann das im Bereich erneuerbarer Energien verdeutlicht werden. Die neu entwickelten Ausbildungsprogramme und Spezialisierungskurse für Techniker im Bereich Windenergie und Photovoltaik wurden nicht nur im nationalen Technikerkatalog aufgenommen, sondern SENAI bietet diese Kurse an verschiedenen Standorten an. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Das Thema qualifiziertes Berufsbildungspersonal spielt in jedem Berufsbildungssystem eine wichtige Rolle. In Brasilien wird es ebenfalls immer wieder diskutiert und als Handlungsfeld identifiziert. Die Qualität der Lehrer hat für das Bildungsministerium eine hohe Bedeutung. Im Nationalen Bildungsplan PNE werden Ziele und Strategien für die Lehrerausbildung bis 2014 definiert. Dort werden u.a. die Verbesserung der Wertschätzung der Lehrer, Erhöhung der Gehälter sowie die Sicherstellung der Lehreraus-

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und -fortbildung genannt (Brasil, 2014). Allerdings werden kaum Maßnahmen umgesetzt. Darüber hinaus führte die Wirtschaftskrise dazu, dass Bildungsinvestitionen reduziert und die Lehrergehälter kaum erhöht worden sind. Das Bildungsgesetz LDB beschreibt in Artikel 61 relevante Kompetenzen für die Fächer. Bei einer angemessenen Vermittlung zwischen Theorie und Praxis soll die praktische Erfahrung der Lehrer genutzt werden. In dem Dekret Nr. 2.208 von 1997 werden weitere Richtlinien der Lehrbildung bestimmt, die aber nicht die adäquate fachliche Ausbildung von Lehrern für berufliche und technische Schulen thematisiert. Im Dekret steht lediglich, dass die Fächer der technischen Schulen durch Lehrer, Ausbilder und Betreuer gemäß ihrer beruflich-fachlichen Erfahrung erfolgen soll (Brasil, 1997). In formaler Perspektive gelten für die Lehrkräfte an den öffentlichen Berufsbildungseinrichtungen des Bundes und der Bundesstaaten die gleichen Vorgaben wie für alle Lehrkräfte. Für die Studiengänge der Lehrerbildung, für Unterrichtsfächer und für die pädagogischen Themenbereiche wurden neue Standards entwickelt. Das MEC hat in Abstimmung mit dem CNE 2015 nationale curriculare Richtlinien für die Lehreraus- und -fortbildung (Diretrizes Curriculares Nacionais para a Formação de Professores da Educação Básica) veröffentlicht (Brasil & CNE, 2015). Die Ausbildung von Lehrern für alle öffentlichen Schulen im Primar- und Sekundarbereich (Educação Básica) muss demnach im tertiären Bereich in graduierten Programmen stattfinden (Curso de Licenciatura). Für die Studienprogramme sind zeitliche und inhaltliche Vorgaben definiert. Die Programme der Lehrbildung dauern mindestens 3200 Stunden (mind. vier Jahre). 400 Stunden sind für die Unterrichtspraxis und 400 Stunden für eine betreute Schulpraxis im Unterrichtsfach einzuplanen. Die Ausbildungsinhalte sind auf die Unterrichtsfächer oder auf interdisziplinäre Fächer zu beziehen. Diese Vorgaben gelten auch für die beruflichen Schulen und die beruflichen Fächer.

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Die neuen Bundesinstitute IF sollen – genauso wie die Vorgängerinstitute CEFET – Aus- und Fortbildungsprogramme für Berufsschullehrer einführen (Dekret Nr. 6095). Einige IF und Universitäten bieten nun grundständige Programme für die Lehrerausbildung für berufliche Sekundarschulen und pädagogische Fortbildungskurse auf dem höheren Niveau an. Allerdings gibt es nur wenige berufliche Fachrichtungen und die Studierendenzahlen sind – wie in vielen Ländern – sehr gering.28 Insofern wird der oben aufgeführte Anforderung nicht erfüllt, da es keine Konzepte der beruflichen Fachrichtungen und somit keine inhaltliche Abstimmung zwischen der Lehrerausbildung und der Lehrertätigkeit in den Berufsbildungseinrichtungen gibt. Die S-Organisation haben bei der Rekrutierung ihres Personals größere Freiräume und haben selbst zahlreiche pädagogische Maßnahmen in den letzten Jahrzehnten durchgeführt. Der SENAI hat auf Basis einer Vereinbarung mit dem Bildungsministerium bereits in den 1990er-Jahren in São Paulo ein Zentrum für die Lehrerbildung eingerichtet und ein Projekt zur Berufsschullehrerausbildung gestartet. Es wurden Kurse in den Bereichen Elektronik, Metalltechnik, Informatik und Automatisierungstechnik angeboten. Bis 2005 wurden Ingenieure und andere Akademiker für Bildungseinrichtungen des SENAI, Schulen des Netzwerkes Paula Souza und für andere Einrichtungen (einschl. Ausland, z.B. Chile, Venezuela und Mozambique) pädagogisch oder fachlich ausgebildet (Oliveira, 2008). Danach hat der SENAI aufgrund einer neuen Richtlinie und der Unsicherheit über die Konzepte der Berufsschullehrerausbildung beschlossen, diese Kurse auszusetzen und stattdessen kürzere Online-Kurse anzubieten. Darüber hinaus hat der SENAI ein eigenes pädagogisches Konzept (SENAI Didáctica), das neuen Lehrkräften in einer Fortbildung vermittelt wird.

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Im Hochschulzensus 2017 sind acht Universitäten und Bundesinstitute aufgeführt, die ein Lehramtsstudium (Licenciatura) für berufliche Schulen anbieten. Hinzu kommen mehrere Fachprogramme für einige berufliche Fachrichtungen wie Pflege und Agrarwirtschaft. Im technischen Bereich gibt es nur ein Programm für die Metalltechnik und ein Programm für die technische Bildung (INEP, 2018).

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Insgesamt führten weder die Gesetze noch die einzelnen Maßnahmen zur Etablierung von eigenen Studienprogrammen für die beruflichen Fachrichtungen. Zum einen gibt es eine Vielzahl von Fächern in diesen technischen Schulen, sodass eine Lehrerausbildung für jedes berufliche Fach kaum möglich ist. Zum anderen haben die Hochschulen kein spezifisches Interesse an dieser Lehrerbildung oder erhalten keine Unterstützung dafür (Machado, 2008). Die grundständige Ausbildung von Berufsbildungspersonal sowie berufspädagogische und fachdidaktische Fortbildungen sind deshalb immer noch Herausforderungen im brasilianischen System. Inwieweit die neuen Programme an den IF die Situation ändern wird, bleibt abzuwarten. Hinzu kommt, dass Bewerber mittels standardisierter Test- und Auswahlverfahren ausgewählt, bei denen die berufliche Erfahrung keine Rolle spielt. Dieses Vorgehen behindert die Flexibilität und Autonomie der staatlichen Berufsbildungseinrichtungen. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Forschung in den Bereichen Bildung, Berufsbildung, Qualifikation, Beschäftigung und Arbeitsmarkt findet in vielen Universitäten und Forschungsinstituten statt. Für die nationale Bildungsforschung, insbesondere dem Bildungsmonitoring, ist zuerst das Nationale Institut für Bildungsstudien und -forschung (Instituto Nacional de Estudos e Pesquisas Educacionais Anísio Teixeira, INEP), eine autonome Forschungseinrichtung des MEC, zu nennen. Das INEP führt überwiegend indikatorengestützte Datenerhebungen im gesamten Bildungssektor durch und trägt zur Entwicklung bildungspolitischer Strategien bei. Hierzu gehört das nationale Evaluationssystem der allgemeinen Bildung, das von der Alphabetisierung bis zur Sekundarbildung Leistungen und Ergebnisse sowie Entwicklungen der Bildung erhebt. Da die berufliche Bildung auf Technikerniveau ebenfalls dazu gehört, werden hier Daten (z.B. Bildungsangebote, Bildungsbeteiligung, Bildungsausgaben) erhoben. Darüber hinaus führt das INEP das nationale Examen der Sekundarbildung ENEM durch. Allerdings finden keine spezifischen Erhebungen oder Prüfungen in den beruflichen Schulen

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und Fächern statt. Die Durchführung spezifischer Datenerhebungen bzw. Tests für die berufliche Bildung wird gerade diskutiert.29 An einzelnen Universitäten existieren Berufsbildungsexperten und -forscher, die hier nur exemplarisch genannt werden können. Dabei handelt es sich überwiegend um einzelne Wissenschaftler (oder kleine Arbeitsgruppen) in erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen. Forschungsarbeiten finden dann überwiegend im Rahmen von Dissertationen oder Masterarbeiten statt.30 Insofern besteht in Brasilien ein gutes Forschungspotenzial, das aber international kaum aktiv ist und wahrgenommen wird.31 Darüber hinaus gibt es weitere Forschungsinstitute, die im Bereich Beschäftigung und Arbeitsmarkt Studien erstellen. Das Institut für angewandte ökonomische Forschung (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, IPEA) ist eine öffentlich finanzierte Forschungseinrichtung, die dem Ministerium für Planung und Entwicklung (Ministério do Planejamento, Desenvolvimento e Gestão) zugeordnet ist. Es erhebt makroökonomische Daten und führt verschiedene Studien in den Bereichen Sozialpolitik, Innovation und Infrastruktur, Regionalpolitik, Umwelt und internationale Beziehungen durch. Damit stützt es die Politik und Programme der Entwicklung Brasiliens. Hierzu gehören auch Untersuchungen zum Arbeitsmarkt, Fachkräftestrukturen und Übergänge auf den Arbeitsmarkt. Gelegentlich veröffentlicht das IPEA Studien zur beruflichen Bildung.

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Im Bereich der Kompetenzmessung und -diagnostik wären Kooperationen mit deutschen Institutionen zu diskutieren. Solche Experten oder Arbeitsgruppen gibt es beispielsweise an der Bundesuniversität Rio de Janeiro UFRJ, an der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro UERJ, an der Universität Brasilia UnB, an der Universidade Federal do Rio Grande do Norte in Kooperation mit dem Bundesinstitut IF-RN, an den Universitäten UFRS und UERGS in Rio Grande do Sul und an der Bundesuniversität in Paraná. In Brasilien gibt es ein Journal zur beruflichen und technologischen Bildung, das Revista Brasileira da Educação Profissional e Tecnológica. In dem vierteljährlich erscheinenden Journal werden Forschungsarbeiten und Aufsätze veröffentlicht. In der Liste der Herausgeber und des Beirats kann man erkennen, welche Universitäten und Hochschulen, einschließlich der Bundesinstitute, in der Berufsbildungsforschung aktiv sind.

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Das Brasilianische Institut für Geographie und Statistik (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, IBGE) ist das zentrale Forschungsinstitut zur Erhebung von Makrodaten in den verschiedensten Bereichen (Bildung, Wirtschaft usw.) und der demografischen Entwicklungen im Land. Es führt u.a. den Mikrozensus (PNAD) durch. Damit werden sozio-demografische Daten zu Bildungsbeteiligung und -abschlüssen, Qualifikationen, Beschäftigung, Einkommen usw. erhoben. Für die Berufsbildungs- und Arbeitsmarktforschung besteht ein sehr gutes Kooperationspotenzial, das von deutschen und brasilianischen Forschungsinstituten intensiver genutzt werden könnte. So sind innovative Vorhaben in der Handlungs- und Anwendungsforschung denkbar, die aktuelle Entwicklungen wie Industrie 4.0, digitale Wirtschaft, Lernen mit digitalen Medien usw. berücksichtigen. Ferner könnten Vorhaben zur Einführung dualer Ansätze bzw. die Weiterentwicklung dualer Modelle mit einer wissenschaftlichen Begleitforschung besser gestützt werden. Der SENAI hat hierzu ein Interesse artikuliert. In der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bieten sich ebenfalls Kooperationen bzw. Forschungsprojekte an. Der SENAI verfügt über eine eigene Abteilung der Prognose von Beschäftigung. Dieses Modell hat in der Region eine hohe Wertschätzung. Im Kontext von Industrie 4.0 und Digitalisierung besteht hier in Deutschland und Brasilien ein Forschungsbedarf.

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Anmerkung Der vorliegende Beitrag wurde auf Basis eines Sondierungsberichtes zu Brasilien im Zeitraum 16.10. bis 20.10.2017 erstellt. In der Studie wurden Besuche und Interviews in Brasília, São Paulo und Rio de Janeiro durchgeführt. Es wurden Gespräche mit Repräsentanten der AHK São Paulo, des SENAI São Paulo, der internationalen Abteilung des SENAI im Distrito Federal, des SENAC Departamento Nacional, dem nationalen Netzwerk der Bundesinstitute, einem Instituto Federal Brasilia IFB, der Deutschen Botschaft und der GIZ geführt. Insgesamt wurde mit 15 Personen in fünf Tagen diskutiert. Ergänzt wurden diese Daten um Gespräche, die in 2019 insbesondere mit SENAI geführt wurden. Die aus den Interviews gewonnenen Erkenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere die abschließenden Handlungsempfehlungen zu generieren. Die Analyse weiterer Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, also die politischen, wirtschaftlichen und (berufs-)bildungspolitischen Bedingungen und Entwicklung (Abschnitte 2 und 3). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit der Aussagen gewährleistet.

Costa Rica: Berufsbildung im Wandel Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Abstract Die Berufsbildung, vor allem die duale Erstausbildung, erfährt in Costa Rica gegenwärtig große Aufmerksamkeit von Politik, Wirtschaft und Vertretern von Jugend und Arbeitnehmern. Die prominente Rolle der Berufsbildung auf der politischen Agenda ist dem Fachkräftebedarf in diversen Sektoren, dem Wunsch des Ausgleichs sozio-ökonomischer Ungleichheiten und dem Ziel der wirtschaftlichen Diversifizierung auch in Zusammenhang mit einem zukünftigen OECD-Beitritt geschuldet. Zentrale Entwicklungen in Costa Rica sind derzeit die Einführung eines nationalen Qualifikationsrahmens für die berufliche Bildung sowie die Einrichtung eines nationalen Runden Tischs des sozialen Dialogs für duale Berufsbildung. Zudem wurden jüngst mehrere Gesetzesentwürfe zur Einführung einer dualen Ausbildung im Parlament eingebracht, die diverse Ebenen des Bildungssystems einbinden und von der beruflichen Erstausbildung bis zum dualen Studium reichen könnte. Zukunftsweisend für die berufliche Bildung in Costa Rica wird sein, inwieweit sich Sozialpartner und Politik auf Eckpfeiler einer dualen Berufsausbildung einigen können und wie diese mit Blick auf die Wirtschafts- und Unternehmensstruktur des Landes implementiert werden kann.32

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Der vorliegende Beitrag basiert auf einer qualitativen Erhebung auf der Basis von Expertengesprächen sowie mittels ergänzender Auswertungen von Primär- und Sekundärquellen. Siehe dazu auch die Anmerkungen am Ende des Beitrags.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_3

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Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

1

Landeskontext

1.1

Politische Rahmenbedingungen

1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Costa Rica (amtlich: República de Costa Rica) ist eine demokratische und unabhängige Republik in Zentralamerika. Die costa-ricanische Landmasse misst 51.100 Quadratkilometer. Das Land zählt eine Bevölkerung von 4.966.414 Menschen, davon sind knapp über die Hälfte, oder 51 %, Frauen (Instituto Nacional de Estadística y Censos [INEC], 2017, S.17). Costa Rica grenzt im Norden an Nicaragua und im Süden an Panama, das Land wird von Atlantik und Pazifik flankiert. Costa Rica ist in sieben Provinzen unterteilt: San José, Heredia, Cartago, Alajuela, Guanacaste, Puntarenas und Limón. Weiterhin gibt es sechs sog. sozio-ökonomische Regionen33: die Zentralregion, die zentral-pazifische Region, die Region Nord Huetar, die Region Huetar Karibik (auch Atlantik), die Region Brunca und die Region Chorotega. In der Zentralregion bzw. dem Valle Central, in der die Hauptstadt San José gelegen ist, sind etwa 70 % der Costa Ricaner zu Hause. Die Regierung Costa Ricas ist repräsentativ, sie wird vom Volk gewählt und besteht aus den drei unabhängigen Mächten Exekutive (bestehend aus dem Präsidenten, Vizepräsidenten und Ministern), Legislative (die Legislative Versammlung, die aus 57 vom Volk gewählten Abgeordneten besteht) und Judikative (bestehend aus den Richtern und Magistraten des Obersten Gerichtshofs).

33

Unterschiede der sozio-ökonomischen Regionen werden zum Beispiel dadurch deutlich, dass Differenzen in den durchschnittlichen Beschulungszeiten festzustellen sind: In der Zentralregion gingen Kinder im Jahr 2014 durchschnittlich 9,2 Jahre zur Schule, wohingegen es in der Region Nord Huetar nur 7,1 Jahre waren (Plan Nacional de Desarrollo [PND], 2014, S.31).

Costa Rica

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Präsidentschaftswahlen werden alle vier Jahre gehalten. Die letzte Wahl fand im Februar 2018 statt und mündete in eine Stichwahl zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten, dem Amtsinhaber Carlos Alvarado der Partei „Bürger-Aktion“ und dem evangelikalen Herausforderer Fabricio Alvarado. Als Sieger aus der Stichwahl ging schließlich der bisherige Präsident Carlos Alvarado hervor. Das Wirtschaftswachstum Costa Ricas im Jahr 2016 betrug 4,3 Prozent und das Haushaltsdefizit im gleichen Zeitraum 5,2 Prozent (Estado de la Nación, 2017, S. 123). Derzeit herrscht Besorgnis über die steuerliche Situation, das fiskalische Defizit und dessen mögliche Folgen für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Produktion. Costa Rica hat außerdem lokale Regierungen (Kommunen bzw. Municipalidades), d.h. Institutionen und Behörden, die einer bestimmten territorialen Abgrenzung folgen. Die lokalen Regierungen sind zuständig für die Ausführung der öffentlichen Angelegenheiten und Aufgaben, die verfassungsmäßig und rechtlich an diese Behörden delegiert wurden. Daher werden die für die Behörden zuständigen Abgeordneten ausschließlich von den Bürgern in den Kommunen gewählt. Kommunalwahlen finden alle sechs Jahre statt. Derzeit gibt es 82 Kommunen mit sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen und -dichten. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Der Nationale Entwicklungsplan (Plan Nacional de Desarrollo, PND, verabschiedet im November 2014) hat strategische Säulen, Prioritäten, Ziele, Programme und Projekte bestimmt und definiert ebenso die Beschaffenheit der öffentlichen Verwaltung, die erforderlich ist, um eine Gesellschaft zu schaffen, die auf Gerechtigkeit, Wissen, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Transparenz und nachhaltiger Entwicklung beruht (Ministerio de Planificación Nacional y Política Económica [MIDEPLAN], 2014, S.9). Im PND werden einige Schwachstellen des costa-ricanischen Bildungssystems dargelegt (MIDEPLAN, 2014, S.31-32). Neben der Beseitigung von regionalen Unterschieden in der Dauer der Grundbildung sollen die Zahl

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der Absolventen der Sekundarstufe II erhöht und Diskrepanzen zwischen Mädchen und Jungen bei der Teilnahme an der höheren Sekundarbildung verringert werden. Grundsätzlich werden Probleme bei der Qualität, dem Zugang zu Bildung und dem Bildungsangebot sowie Defizite in der Bildungsinfrastruktur festgestellt. In der Vorschulbildung herrscht ein Erziehermangel und über 50 % der Lehrer in der Sekundarstufe II sind zeitlich befristet beschäftigt. Es herrscht ein Überangebot an Bildungswegen, deren Curricula nicht akkreditiert sind. Die Verbindung zwischen dem vorhandenen Bildungsangebot mit der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung sowie der Arbeitswelt des Landes wird als zu schwach empfunden. Die Steuerung der costa-ricanischen Bildung durch das Ministerium für öffentliche Bildung (Ministerio de Educación Pública, MEP) wird als zu bürokratisch und zentralisiert bezeichnet, während der private Bildungssektor kaum überwacht wird. Mit Blick auf die o.g. Schwachstellen wird das Ziel artikuliert, 8 % des BIP34 in Bildung zu investieren (MIDEPLAN, 2014, S.31). Darüber hinaus wird vorgeschlagen, Techniker35 in Bereichen mit der größten Nachfrage aus den produktiven Sektoren auf nationaler und regionaler Ebene (MIDEPLAN, 2014, S. 106) auszubilden. Dafür sollen die Arbeitskompetenzen entwickelt werden, die für gegenwärtige und zukünftige berufliche Profile in den vom Nationalen Ausbildungsinstitut (Instituto Nacional de Aprendizaje, INA) Costa Ricas bedienten produktiven Sektoren gefordert werden (MIDEPLAN, 2014, S.117).

34 35

Im Jahr 2015 lagen die Ausgaben für Bildung bei 7,7 Prozent des BIP (INEC, 2015). Techniker oder técnico oder técnico medio bezeichnet nicht ausschließlich technische Berufe, sondern Abschlüsse in der beruflichen Bildung allgemein.

Costa Rica

1.2

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Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

1.2.1 Wirtschaftssektoren Die Wirtschafts- und Beschäftigungssektoren in Costa Rica lassen sich wie folgt aufgliedern: • Primärer Sektor: Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei. • Sekundärer Sektor: verarbeitende Industrie, Baugewerbe, Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden, Strom-, Gas-, Dampf- und Klimatechnik, Wasserversorgung, Abwasserentsorgung sowie Abfall- und Umweltmanagement. • Tertiärer Sektor: Handel und Dienstleistungen, darunter Handel und Reparatur, Transport und Lagerung, Gastgewerbe, Kredit- und Versicherungsgewerbe, Erbringung von freiberuflichen und administrativen Dienstleistungen, öffentliche Verwaltung, Bildung, Gesundheit, Information und Kommunikation, Immobilien, Kunst, Unterhaltung und Erholung, Erbringung von sonstigen Dienstleistungen und private Haushalte als Arbeitgeber. Den größten Anteil am BIP hatten im Jahr 2016 die Bereiche Gesundheit und Bildung (14,4.%), Industrie (12,1 %), Unternehmensdienstleitungen (11,6 %), Handel (9,1 %) und Immobiliendienstleistungen (8,1 %). Das stärkste Wachstum wurde in 2016 bei den Finanzdienstleistungen mit 13,8 % verzeichnet (Germany Trade and Invest [GTAI], 2017). Mittlere, kleine und Kleinstunternehmen repräsentierten 74 % der Unternehmen in Costa Rica, sie erwirtschaften über 33 % des BIP und tragen zu 25 % der Beschäftigung bei, hauptsächlich in Dienstleistungen und Handel. Von diesen Unternehmen sind 74 % in der Zentralregion angesiedelt (MIDEPLAN, 2014, S.343). Nach dem letzten Bericht des globalen Wettbewerbsindex (Global Competitiveness Index) ist Costa Rica von Platz 57 im Berichtszeitraum 20122013 auf Platz 47 für die Ausgabe 2017-2018 gestiegen. Im sog. Ease of

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Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Doing Business Index für 2018 ist Costa Rica auf Rang 61 eingeordnet worden (GTAI, 2017). Das BIP des Landes wird für 2018 auf ¢35,6 Billionen36 oder US$ 61,1 Mrd. geschätzt (GTAI, 2017). Nach den Daten aus dem Bericht zum Status der Nation von 2017 betrug der Exportanteil - nach einer starken Verlangsamung im Jahr 2015 - 42 % an der Gesamtwirtschaftsleistung im Jahr 2016. Exportiert wurden vor allem Nahrungsmittel, Mess- und Regeltechnik, Elektrotechnik, Rohstoffe und Arzneimittel (GTAI, 2017). Die Binnennachfrage schrumpfte im Jahr 2016, trotzdem machte sie immer noch 58 % der Wirtschaftsleistung aus und ist damit nach wie vor eine signifikante Quelle wirtschaftlicher Dynamik in Costa Rica. So wuchs der Konsum des Staates um 2,3 % (insgesamt 17,3 % der BIP-Verwendung in 2016 (GTAI, 2017) und der der privaten Haushalte um 4,6 % (insgesamt 63,2 % der BIP-Verwendung in 2016 (GTAI, 2017), der Anteil von staatlichen Investitionen am Gesamtwachstum der Wirtschaft stieg entsprechend zwischen 2015 und 2016 von 42 % auf 61 %. Das nominale pro-Kopf-Einkommen in Costa Rica wird für 2018 auf ¢7.092.106 oder US $12.145 geschätzt (GTAI, 2017). Die Daten des Finanzministeriums (Ministerio de Hacienda, MH) von Costa Rica vom Dezember 2017 zeigen, dass die Gesamteinnahmen des Landes ein Wachstum von 3,8 % im Vergleich zum Zeitraum Januar bis Dezember 2016 verzeichneten, jedoch stiegen die Staatsausgaben um 9,1 %. Das Finanzdefizit der zentralen Regierung belief sich so auf den Betrag von ¢2.021.101,80 Mio. was 6,2 % des BIP entsprach (MH, 2017, S.10). Laut Daten des Nationalen Instituts für Statistik und Zensus (Instituto Nacional de Estadística y Censos, INEC) aus dem vierten Quartal 2017 stand die Zahl der Erwerbspersonen bei 2.2 Mio., davon 37 % Frauen und 63 %

36

Die nationale Währung in Costa Rica heißt Colón. Ein Euro entspricht zum Zeitpunkt des Verfassens des Beitrags ¢614.

Costa Rica

79

Männer. Der Handel- und Dienstleistungssektor bzw. Tertiäre Sektor verzeichnete die größte Beschäftigungsrate mit 69 % der arbeitenden Bevölkerung, der Sekundäre Sektor hatte einen Anteil von 18 % und der Primäre Sektor von 12 % (INEC, 2017a). Tab. 1: Arbeitsmarktdaten

Allgemeine Arbeitsmarktindikatoren

Q IV 2015

Q IV 2016

Q IV 2017

Okt - Dez

Okt - Dez

Okt - Dez

Gesamtbevölkerung

4.850.933

4.909.297

4.966.414

Bevölkerung 15 Jahre oder älter

3.739.173

3.800.491

3.856.937

Erwerbspersonen

2.242.919

2.280.989

2.200.092

beschäftigt

2.027.518

2.063.366

1.995.640

erwerbslos

215.401

217.623

204.452

1.496.254

1.519.502

1.656.845

Erwerbsquote

60,0 %

60,0 %

57,0 %

Erwerbstätige

54,2 %

54,3 %

51,7 %

Nicht erwerbstätige

40,0 %

40,0 %

43,0 %

Erwerbslosenquote

9,6 %

9,5 %

9,3 %

sozialversicherungspflichtig beschäftigt

69,2 %

69,9 %

72,1 %

unterbeschäftigt (weniger als 40 Stunden/Woche)

11,6 %

9,3 %

8,0 %

Nichterwerbspersonen

Bevölkerung 15 Jahre oder älter

Erwerbstätige Bevölkerung

Quelle: eigene Ausarbeitung auf Basis von Daten des INEC (2017b, S.16)

80

Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Im vierten Quartal 2017 waren insgesamt 1.284.454 Männer und 711.186 Frauen in Costa Rica erwerbstätig. Davon sind 767.169 Männer und 409.720 Frauen einer formellen Beschäftigung nachgegangen. Die meisten Beschäftigten in der formellen Wirtschaft (männlich und weiblich) waren im Bereich primäre und sekundäre Dienstleistungen aktiv, gefolgt von Aktivitäten im sekundären Sektor und im primären Sektor (INEC, 2017a). Die informelle Beschäftigung betraf im gleichen Zeitraum etwa 819.000 Personen, davon 517.000 Männer und 302.000 Frauen (INEC, 2017a). In der informellen Wirtschaft kann statistisch unterschieden werden zwischen unabhängig Beschäftigten (417.934 in Q IV 2017), Eigenunternehmern (381.841 in Q IV 2017), Arbeitgebern (36.093 in Q IV 2017), Lohnarbeitern (262.980 in Q IV 2017), unbezahlten Hilfsarbeitern (43.629 in Q IV 2017) und Angestellten (43.715 in Q IV 2017) (INEC, 2017a). 40,8 % der informell beschäftigten Männer und 45,8 % der informell beschäftigten Frauen erhielten weniger als einen Mindestlohngehalt37 pro Monat. In der formellen Wirtschaft betraf dies nur 10,3 % der Männer und 6,7 % der Frauen (INEC, 2017a). Informell Beschäftigte haben seltener als ihre formell beschäftigten Pendants einen universitären Abschluss: 55 % der Männer und 44,8 % der Frauen in der informellen Wirtschaft hatten im vierten Quartal 2017 die Primarbildung durchlaufen oder wiesen einen niedrigeren Bildungsstand auf, im Vergleich zu 7,9 % der Männer und 12,8 % der Frauen in informeller Beschäftigung mit einem Universitätsabschluss (INEC, 2017a). In der formellen Wirtschaft weisen 22 % der Männer und 41,9 % der Frauen einen universitären Abschluss auf, über Primarbildung oder weniger verfügen hier 29,4 % der Männer und 16,1 % der Frauen (INEC, 2017a).

37

Der allgemeine Mindestlohn unabhängig von der Tätigkeit liegt für 2018 bei ¢262.298,10 oder 383,90 € (https://www.datosmacro.com/smi/costa-rica). Mindestlöhne nach Tätigkeit können beim Ministerium für Arbeit und soziale Sicherung nachgesehen werden (http://www.mtss.go.cr/temas-laborales/salarios/lista-salarios.html).

Costa Rica

81

Eine aktuelle Strategie der Teilnehmer des Runden Tischs zum Thema Informalität von Beschäftigung und Wirtschaft, der beim Ministerium für Arbeit und soziale Sicherung angesiedelt ist, sieht eine Überführung der informellen in die formelle Wirtschaft vor. Die informelle Beschäftigungsrate soll um 10 % auf 32 % bis zum Jahr 2025 gesenkt werden. Die Strategie stützt sich auf die Empfehlung Nummer 204 der Internationalen Arbeitsorganisation und vereint vier fundamentale Prinzipien: sozialer Dialog, gute Arbeit, Menschenrechte und Gendergerechtigkeit sowie Inklusion und Nicht-Diskriminierung. Um die Strategie erfolgreich umzusetzen, wurden vier Eckpfeiler mit Aktivitäten etabliert, dabei wird der beruflichen Bildung eine zentrale Rolle zugesprochen.38

38

Siehe hierzu auch: http://www.mtss.go.cr/prensa/comunic-dos/2018/febrero/cp_009_2018.html

82

Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Tab. 2: Übersicht zu Charakteristika der Erwerbstätigen in Costa Rica in formeller und informeller Beschäftigung im vierten Quartal 2017

Allgemeine Indikatoren

IV Quartal 2017 Formell

Informell

Allgemeine Informationen



Gesamtanzahl erwerbstätiger Personen (formell und informell)



Erwerbstätige Bevölkerung nach der Klassifizierung der Beschäftigung



in Prozent

1.995.640

1.176.439

819.201

59 %

41 %

1.176.439

819.201

Männer

767.169

517.285

Frauen

409.270

301.916

1.176.439

819.201

urban

945.350

536.588

ländlich

231.089

282.613

12,7 %

12,2 %

1.176.439

819.201

Soziodemographische Merkmale





Geschlecht

Wohnraum

Beschäftigung Jugendlicher (15 bis 24 Jahre) Beschäftigungssektor



Primärer Sektor

106.391

155.313



Sekundärer Sektor

220.023

164.031



Tertiärer Sektor, davon

840.178

497.760

Handel

201.876

146.656

Haushalt als Arbeitgeber

20.881

94.591

Administration, Bildung, Gesundheit

328.653

61.869

Andere Dienstleistungen

288.768

194.644

Nicht spezifiziert

9.847

2.097

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Daten des INEC (2017a)

Costa Rica

83

Nicht abgebildet werden kann derzeit, wie sich die zunehmende lateinamerikanische Binnenmigration und Flüchtlingsbewegung aufgrund politischer Konflikte (Nicaragua und Venezuela), Bandenkriminalität (u.a. El Salvador, Guatemala, Honduras) und aufgrund des Wunsches der Immigration in die Vereinigten Staaten von Amerika auf den Arbeitsmarkt Costa Ricas auswirkt. Costa Rica ist ein Transitland und Ziel für Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in der Region Zentralamerika. 1.2.2

Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen

Die aktuellste Erhebung der Bildungsniveaus der costa-ricanischen Bevölkerung (5 Jahre oder älter, insgesamt 4.639.751 Menschen) hat ergeben, dass 333.412 Menschen ohne jegliche Bildung leben. Die Primarstufe abgeschlossen hatten 1.022.936 Menschen. Zum Erhebungszeitpunkt hatten sich 564.273 Costa-Ricaner für die allgemeinbildende Sekundarstufe (Secundaria académica) entschlossen und einen Abschluss erlangt, die berufliche Sekundarstufe (Secundaria técnica) hatten 71.208 Menschen durchlaufen. Eine Hochschulbildung auf der Ebene eines Bachelors hatten 734.840 durchlaufen und einen Master oder höheren Abschluss hatten 72.525 Menschen erlangt (INEC, 2017c). Eine regelmäßige Berufsbildungsberichterstattung und Zusammenstellung von Daten sowie flächendeckende Analysen zu Fachkräfte- und Qualifizierungsbedarfen gibt es derzeit in Costa Rica noch nicht. Aus dem letzten Bericht zum Status der Bildung mit Schwerpunkt auf Berufliche Bildung aus dem Jahr 2012 können jedoch einige Informationen zur Beschäftigungslage von Absolventen und zu den am meisten frequentierten beruflichen Qualifizierungsoptionen entnommen werden. Von der Gesamtzahl der Erwerbstätigen mit einer vollständigen beruflichen Qualifikation sind mehr als die Hälfte in privaten Unternehmen beschäftigt, wobei es keine größeren Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, fast 20 % arbeiten im öffentlichen Sektor und 15 % sind selbständig. Männer sind öfter als Arbeitgeber und Selbständige beschäftigt als

84

Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Frauen, während mehr Frauen in öffentlichen Unternehmen arbeiten (Mena, 2012). Die meisten Menschen mit einer beruflichen Qualifikation sind im tertiären Sektor, d.h. im Handel und im Dienstleistungssektor beschäftigt. Gleichzeitig verzeichneten Ausbildungsangebote für die Industrie und die Landwirtschaft zwischen 2006 und 2012 einen Rückgang von 7,2 % bzw. 13,9 % der Einschreibungen. Dieser rückläufige Trend ist jedoch schon seit 1991 zu beobachten (Mena, 2012). Im Bereich Handel und Dienstleistungen konzentrierten sich die Einschreibungen auf Programme für die Bereiche Buchhaltung und Büromanagement, während die Einschreibungen im Bereich Banken und Finanzen deutlich zugenommen haben (Mena, 2012). Bei Ausbildungsprogrammen für die Industrie sind die Fachrichtungen Mechanik/Mechatronik, technisches und architektonisches Zeichnen, Elektronik und Elektrotechnik gefragt, sie machen zusammen mehr als 70 % der Einschreibungen aus. Im Agrarsektor konzentriert sich die Masse auf die Fachgebiete Agrarökologie, Viehzucht und landwirtschaftliche Produktion (Mena, 2012).

2

Berufliche Bildung

Das costa-ricanische Bildungssystem ist im Allgemeinen in einen formalen und einen nicht-formalen Bildungszweig unterteilt. Ersterer umfasst die Vorschulerziehung über eine breit gefächerte allgemeine und technische Bildung bis hin zur para-universitären und universitären bzw. akademischen Ausbildung. Der formalen Bildung wird die Technische Bildung (Educación Técnica, ET) zugeordnet. Die nicht-formale Bildung wird vom Instituto Nacional de Aprendizaje (INA) angeboten und ist in die Berufsausbildung (Formación Profesional, FP) und die capacitación unterteilt. Die capacitación umfasst z.B. Angebote zur Verbesserung der Unternehmensführung für KMU und Kleinstunternehmen. Das INA akkreditiert auch andere private Berufsbildungseinrichtungen, die Berufsausbildungsleistungen auf der Basis der Curricula des INA anbieten wollen.

Costa Rica

85

Es ist wichtig zu beachten, dass in Costa Rica im Hinblick auf das Berufsbildungssystem der Begriff Educación y Formación Técnica Profesional (EFTP) bevorzugt verwendet wird. 2.1

Struktur des Bildungssystems

Formale Bildung Die formale Bildung beginnt mit dem Zyklus der Vorschule, der in zwei Stufen unterteilt ist. Die erste Stufe ist hier Interactivo II, wo die Schüler die bis zum 15. Februar eines jeweiligen Jahres das Mindestalter von vier Jahren erreicht haben, beginnen. Die darauffolgende Stufe ist die Transición, die das Bestehen des Interactivo II erfordert. Die Vorschulerziehung ist Voraussetzung für den Eintritt in die erste Klasse der allgemeinen Grundbildung (Educación General Básica). Die allgemeine Grundbildung besteht aus drei Zyklen wobei die beiden ersten Zyklen die Grundschulbildung umfassen, somit die erste bis zur dritten Klasse und die dritte bis zur sechsten Klasse. Der dritte Zyklus ist die Sekundarstufe I von der siebten bis zur neunten Klasse. Der nächste Zyklus ist die Educación Diversificada bzw. Sekundarstufe II, von der 10. bis zur 11. Klasse. In den Bildungseinrichtungen auf dieser Stufe wählen Schüler zwischen verschiedenen Schwerpunkten: allgemeinbildend, künstlerisch, sportlich, ökologisch, Fremdsprachen u.a. Nach bestandener Abiturprüfung (Bachillerato) können die Absolventen die entsprechenden Verfahren zur Aufnahme an einer öffentlichen oder privaten Hochschule absolvieren. In den beruflichen Sekundarschulen (Colegios Técnicos) des Ministeriums für öffentliche Bildung (Ministerio de Educación Pública, MEP) absolvieren die Schüler gleichzeitig ein Angebot der Educación Diversificada und einen beruflichen Bildungsgang. Dies ermöglicht ihnen, das Abitur und den mittleren Technikergrad (Técnico Medio), also eine berufliche Qualifikation, zu erwerben, die der Stufe 4 des Nationalen Qualifikationsrahmens für Bildung und berufliche Bildung in Costa Rica (Marco Nacional

86

Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

de Cualificaciones para la Educación y Formación Técnico Profesional de Costa Rica, MNC-EFTP-CR) entspricht. Abb. 1: Struktur des Bildungssystems in Costa Rica

Quelle: eigene Darstellung auf Basis der Informationen des MEP (2018). Layout: DLR Projektträger.

Absolventen dieses Angebots wird ermöglicht, in die Arbeitswelt einzusteigen, mit einem Studium fortzufahren oder beides gleichzeitig anzugehen. Es ist zu beachten, dass in einer solchen Educación Diversificada

87

Costa Rica

Técnica (berufliche Sekundarstufe II) die Jugendlichen ein Jahr mehr als in der Educación Diversificada Academica (allgemeinbildende Sekundarstufe II), d.h. 12 Jahre, absolvieren müssen. Tab. 3: Ersteinschreibungen an den beruflichen Sekundarschulen des Ministeriums für öffentliche Bildung (MEP) in 2017

Veranstaltungszeit

Gesamt

Handel und Dienstleistungen

Industrie

Landwirtschaft

Am Tag

39.514

27.042

9.183

3.289

Am Abend

14.141

11.755

2.386

0

Gesamt

53.655

38.797

11.569

3.289

Quelle: MEP, Abteilung für Statistik (2017, S 6)

Wie aus Tabelle 3 hervorgeht, hatten sich im Jahr 2017 53.655 Lernende in einer der aktuell 58 beruflichen Fachrichtungen der drei Wirtschaftszweige eingeschrieben. Der Sektor mit der größten Anzahl der Teilnehmer umfasst Handel und Dienstleistungen mit 72,3 % der gesamten Einschreibungen, der Industriesektor macht 21,6 % und der Agrarsektor 6,1 % der gesamten Einschreibungen aus. Die Modalität, tagsüber bzw. ganztags und in Vollzeit zu lernen, wird von der Mehrheit (73,6 %) gewählt, die Abendschule (in Teilzeit) besuchen folglich noch 26,4 % der Schüler. Non-formale Bildung Das nationale Ausbildungsinstitut INA (Instituto Nacional de Aprendizaje) ist die Entität, die die Berufsausbildung auf den Stufen 1, 2 und 3 des Nationalen Qualifikationsrahmens anbietet. Die Bildungsgänge des INA sind für Personen ohne abgeschlossene allgemeine Grundausbildung (Educación General Básica, EGB), die über 15 Jahre alt sind, bestimmt. Zudem werden berufliche Programme für Personen, die die EGB abgeschlossen haben, angeboten, um ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

88

Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Das INA verfügt über 54 Ausbildungszentren im ganzen Land und bietet rund 246 Berufsbildungsprogramme an. Außerdem kooperiert INA mit den verschiedenen Unternehmenssektoren, um Weiterbildungen für Arbeitnehmer bedarfsgerecht durchzuführen. Neben dem INA gibt es weitere private Berufsbildungseinrichtungen, die verschiedene berufliche Programme auf den Stufen 1, 2 und 3 des Qualifikationsrahmens anbieten können. Sofern diese die Curricula des INA nutzen, werden sie vom INA akkreditiert. Tab. 4: Angebote des INA und Einschreibungen in den Kursen im Jahr 2016 nach Geschlecht

Art des Angebots

Anzahl Angebote

Einschreibungen Gesamt

Männer

Frauen

Gesamt

21.025

30.2422

133.893

168.529

Abgeschlossene Bildungsgänge/Programme

2.248

13.8026

58.016

80.010

Laufende Bildungsgänge/Programme

601

3.3291

18.178

15.113

Zertifizierbare Module

5.525

111.977

46.151

65.826

Technische Assistenz

2.243

10.562

6.594

3.968

Zertifizierung von beruflichen Kompetenzen

8.566

8.566

4.954

3.612

Akkreditierung

1.842

NA

NA

NA

Quelle: INA (2016)

Wie Tabelle 4 zeigt, verzeichnete INA im Jahr 2016 138.026 Einschreibungen für seine diversen Angebote. Die vom INA angebotenen Zertifizierungen entsprechen derzeit den bestehenden Qualifikationsniveaus Facharbeiter (trabajador calificado), Techniker (técnico) und spezialisierter Techniker (técnico especializado). Der Anteil der Frauen an der Gesamteinschreibungen betrug 58 %.

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Costa Rica

Mit der neuen Struktur des MNC-EFTP-CR muss die Institution nach der sog. technischen (d.h. beruflichen) Stufe 1, der technischen Stufe 2 oder der technischen Stufe 3 zertifizieren. Hochschulbildung Der Hochschulsektor setzt sich aus sog. para-universitären und universitären Ausbildungsangeboten zusammen, für beide Bereiche gibt es öffentliche sowie private Einrichtungen. Im para-universitären Bereich existieren zwei öffentliche und 22 private Einrichtungen im Land (Consejo Superior de Educación [CSE], 2018). Diese bieten eine para-universitäre Ausbildung mit Programmen von zwei bis drei Jahren an, die hinsichtlich des Bildungsniveaus zwischen der Sekundarstufe II (Educación Diversificada) und einer Hochschulbildung liegen und den Abschluss para-universitäres Diplom anbieten. Tab. 5: Einschreibungen je öffentlicher Universität und nach Geschlecht im Jahr 2017

Anzahl der Studenten Total 104.594 Universität

Absolut

Relativ

Männer

Frauen

Universidad de Costa Rica

41.118

39,30 %

48 %

52 %

Universidad Nacional

18.390

17,60 %

45,40 %

54,6 %

Instituto Tecnológico de Costa Rica

9.853

9,40 %

65,85 %

34,15 %

Universidad Estatal a Distancia

23.355

22,35 %

34,95 %

65,05 %

Universidad Técnica Nacional

11.878

11,35 %

44,65 %

53,35%

Quelle: eigene Darstellung auf Datenbasis von Conare (2017).

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Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Im Bereich der Hochschulbildung gibt es fünf öffentliche Universitäten (Consejo Nacional de Rectores [CONARE], 2018) und 54 private Universitäten (Consejo Nacional de Enseñanza Superior Universitaria Privada [CONESUP], 2018). Die Verfassung von Costa Rica legt in Artikel 84 (CSE, 2018) fest, dass öffentliche Hochschulen funktionale Unabhängigkeit haben und sich eine eigene Organisations- und Steuerungsstruktur geben können. Laut dem letzten Bericht zum Status der Bildung (2017, S. 242) beträgt die prozentuale Verteilung der Einschreibungen an öffentlichen Hochschulen 49,1 % der Studierenden und an privaten Hochschulen 50,9 % der Studierenden. 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Der Titel VII, Artikel 78, der Verfassung der Republik Costa Rica legt die Rechtsgrundlage für die Bildung in Costa Rica fest: “La educación preescolar, general básica y diversificada son obligatorias en el sistema público, gratuitas y costeadas por la Nación (...)” (1949, S.10). Das heißt, dass die Vorschule, die allgemeine Grundbildung (Grundschule und Sekundarstufe I) und die diversifizierte Bildung (Sekundarstufe II) im öffentlichen System obligatorisch und kostenlos sind und vom Staat finanziert werden. Am 8. Oktober 1951 wurde mit dem Gesetz Nr. 1362 der Oberste Bildungsrat (Consejo Superior de Educación, CSE) gegründet, die höchste Entität, die für die Leitung der Bildung im Land zuständig ist. Das Bildungsgrundgesetz von 1957 (Gesetz Nr. 2160) etabliert u.a. die grundlegenden Ziele der costa-ricanischen Bildung, die Organisation des

Costa Rica

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Bildungssystems, die Ausbildung der Lehrkräfte und regelt die privaten Bildungsangebote.39 Im Jahr 1964 wurde zudem mit dem Gesetz Nr. 3481 das Ministerium für öffentliche Bildung (MEP) geschaffen. Im ersten Artikel des Gesetzes heißt es, dass das MEP „das Organ der Exekutive im Bereich Bildung und Kultur ist, das für die Verwaltung aller Elemente zuständig ist, die diesen Bereich ausmachen“. Dieses Ministerium ist für die Umsetzung der vom Obersten Bildungsrat erlassenen Pläne, Programme und sonstigen Richtlinien zuständig. Die rechtliche Grundlage für die Berufsbildung unter der Aufsicht des MEP bildet ebenfalls das Bildungsgrundgesetz (Gesetz Nr. 2160); dessen Artikel 17 besagt, dass die technische [berufliche] Ausbildung denjenigen angeboten wird, die eine berufliche oder professionsgeleitete Laufbahn mittlerer Art für den Hochschulzugang anstreben; um in diese einmünden zu können, muss die Grundschule oder ein Teil der Sekundarstufe I abgeschlossen worden sein. Die Berufsausbildung oder Educación Técnica Profesional des MEP gilt als Teilsystem des formalen Bildungssystems und wird von der Direktion für technische Bildung und unternehmerische Fähigkeiten (Dirección de Educación Técnica y Capacidades Emprendedoras, DETCE) des Bildungsministeriums koordiniert. Die Angebote dieses Teilsystems werden in den 132 öffentlichen Colegios Técnicos sowie an fünf privaten Bildungseinrichtungen unterrichtet. Das INA ist wie erwähnt für die Förderung der Berufsausbildung (Formación Profesional) im non-formalen Bildungssektor in Costa Rica zuständig. Es wurde durch das Gesetz Nr. 3506 vom 21. Mai 1965 geschaffen. Das INA soll in allen Wirtschaftssektoren die Berufsausbildung und Weiterbildung entwickeln, um wirtschaftliches Wachstum zu unterstützen und die

39

Das Bildungsgrundgesetz wurde besonders in den 1990er Jahren aktualisiert und ergänzt, die grundsätzlichen Bestimmungen bestehen jedoch weiterhin.

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Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

Lebens- und Arbeitsbedingungen der costa-ricanischen Bevölkerung zu verbessern. Das Rektorat für Arbeitsfragen im Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit wurde am 20. April 1955 durch das Gesetz Nr. 1860 eingerichtet. In Artikel 1 dieses Gesetzes heißt es, dass das Rektorat zuständig sein wird für „[...] ‚die Verwaltung und Untersuchung aller Fragen im Zusammenhang mit der Arbeit und der sozialen Sicherung; und [das Rektorat] überwacht die Entwicklung, Verbesserung und Anwendung aller diesbezüglichen Gesetze, Verordnungen, Vereinbarungen und Entschließungen, insbesondere derjenigen, die unmittelbar auf die Herstellung und Harmonisierung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzielen, als Garantie für Ordnung und soziale Gerechtigkeit in den durch die Arbeit geschaffenen Beziehungen und denjenigen, die auf die Verbesserung der Lebensbedingungen des costa-ricanischen Volkes abzielen‘“. Im September 2015 beschloss der Präsidialrat für Innovation und Talent unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten der Republik Costa Rica die Erarbeitung eines Nationalen Qualifikationsrahmens für die berufliche Bildung (Marco Nacional de Cualificaciones para la Educación y Formación Técnico Profesional de Costa Rica, MNC-EFTP-CR). Seitdem arbeiten Beamte des Ministeriums für Arbeit und soziale Sicherung, das Ministerium für öffentliche Bildung, das INA, der nationale Rektorenrat (Consejo Nacional de Rectores, CONARE), die Vereinigung der costa-ricanischen Kammern und Assoziationen des privaten Unternehmenssektors (Unión de Costarricense de Cámaras y Asociaciones del Sector Empresarial Privado, UCCAEP) und die Vereinigung der Rektoren privater Universitäten (Unión de Rectores de las Universidades Privadas de Costa Rica, UNIRE) am Aufbau des MNC-EFTP-CR. Ziel dieses Projekts ist es, das Teilsystem der beruflichen Bildung durch die Festlegung von Deskriptoren, Lernergebnissen, Qualifikationsstandards, Dauer, Ein- und Austrittsprofilen u.a. zu regeln. Mit dem MNCEFTP-CR soll eine Artikulation zwischen den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems erreicht werden, um das Bildungsangebot auf die Nachfrage des Arbeitsmarktes auszurichten.

93

Costa Rica

Im Jahr 2017 wurde mit der Entwicklung eines Pilotplans zur Ausarbeitung nationaler Qualifikationsstandards begonnen, zunächst für Kfz-Mechaniker der Stufen 3 und 4 des MNC-EFTP-CR, dann folgen im Jahr 2018 die Stufen 1, 2, 3, 4 und 5 für den Bereich Kommunikations- und informationstechnologien. In Tabelle 6 sind die für den MNC-EFTP-CR vorgeschlagenen Qualifikationsniveaus dargestellt. Tab. 6: Qualifikationsniveaus, Ausbildungsdauer und minimale Voraussetzungen für den Zugang und Abschluss nach den Vorschlägen des Nationalen Qualifikationsrahmens für Bildung und berufliche Bildung in Costa Rica (MNC-EFTP-CR)

Qualifikationsniveau

Minimales Bildungsniveau für den Zugang

kumulierte Dauer des Bildungsgangs 400 – 700 Stunden

Minimales Bildungsniveau für den Abschluss/Titel II. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

Técnico 1

II. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

Técnico 2

II. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

1200 – 1600 Stunden

II. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

Técnico 3

III. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

2300 – 2800 Stunden

III. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

Técnico 4

III. Zyklus der allgemeinen Grundbildung

2840 Stunden

Sekundarstufe II (Educación Diversificada)

Técnico 5

Abschluss Sekundarstufe II

60 – 90 Credits

Diploma (parauniversitär)

Quelle: eigene Darstellung nach Informationen zum Nationalen Qualifikationsrahmen für die berufliche Bildung (Costa Rica, 2015)

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Daniel Láscarez Smith und Fabienne-Agnes Baumann

2.2.2 Verantwortlichkeiten Der Oberste Bildungsrat (Consejo Superior de Educación,CSE) Der Oberste Bildungsrat (CSE) ist das höchste Organ, das für die Verwaltung der formalen Bildung des Landes zuständig ist. Der CSE ist ein verfassungsrechtliches Organ mit instrumenteller Rechtspersönlichkeit und eigenem Haushalt. Der Rat ist gemäß Artikel 81 der Verfassung der Republik Costa Rica für die allgemeine Leitung des öffentlichen Bildungssektors zuständig und hat seinen Sitz in der Hauptstadt San José. Die Aufgaben des CSE werden durch das Exekutivdekret Nr. 14 näher beschrieben. Gemäß dieses Dekrets • • •

genehmigt der Rat nationale Bildungsentwicklungspläne; führt der CSE Qualitätskontrollen durch und sorgt für die harmonische Entwicklung der Bildung und ihre ständige Anpassung an die Bedürfnisse des Landes und die Erfordernisse der Zeit.

Das Ministerium für öffentliche Bildung (Ministerio de Educación Pública, MEP) Kapitel 1 des Gesetzes des Ministeriums für öffentliche Bildung Nr. 3481 legt die Befugnisse dieses Ministeriums fest. Es soll alle Elemente, die sich aus den einschlägigen Bestimmungen des Titels VII der Verfassung Costa Ricas sowie dem grundlegenden Bildungsgesetz und anderer entsprechender Gesetze und Verordnungen ergeben, verwalten. Das Ministerium überwacht außerdem die Umsetzung der Pläne, Programme und sonstigen Bestimmungen des Obersten Bildungsrats. Es koordiniert die Beziehungen der Exekutive zur Universität von Costa Rica sowie zu allen anderen Hochschulen. Weiterhin untersteht dem MEP die Koordinierung und Kontrolle der Ausbildung in allen privaten Bildungseinrichtungen sowie die administrative Überwachung aller Formen der Förderung privater Initiativen im Bildungsbereich durch den Staat. Das Ministerium ist auch das Bindeglied zwischen der Exekutive und den anderen Institutionen, die im Bildungs-

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und Kulturbereich tätig sind, sowohl auf öffentlicher als auch privater, nationaler und internationaler Ebene. Die Direktion für technische Bildung und unternehmerische Fähigkeiten (DETCE) des Ministeriums für öffentliche Bildung (MEP) koordiniert die berufliche Bildung unter Aufsicht des Ministeriums. Im Falle des Curriculums der MEP-Ausbildungseinrichtungen konsultieren nationale Berater aus den einzelnen beruflichen Fachrichtungen mit dem jeweiligen Unternehmens- bzw. Beschäftigungssektor und mit Lehrkräften der Fachrichtung um ein neues Curriculum zu entwickeln. Das Nationale Ausbildungsinstitut (Instituto Nacional de Aprendizaje, INA) Das Nationale Ausbildungsinstitut (INA) soll die Aus- und Weiterbildung in allen Produktionsbereichen fördern und die wirtschaftliche Entwicklung Costa Ricas durch Aus- und Weiterbildung, Zertifizierung und Akkreditierung unterstützen. Der Artikel 2 des Gesetzes Nr. 3506 zur Gründung des INA besagt Folgendes: „Aufgabe des INA ist es, zur wirtschaftlichen Entwicklung und Verbesserung der Lebensbedingungen der costa-ricanischen Bevölkerung durch Lehrlingsausbildung und die Ausbildung von Arbeitnehmern im Dienste der Industrie, des Bergbaus, der Landwirtschaft, der Viehzucht, des Handels und der Dienstleistungen sowie von Arbeitnehmern und Beamten des Staates und seiner autonomen und halbautonomen Institutionen beizutragen“. Die Curricula für die vom INA angebotenen Kursen werden nach den Bedürfnissen der verschiedenen Wirtschaftszweige entwickelt. In Zusammenarbeit mit diesen werden auch bereits etablierte Aus- und Weiterbildungsprogramme von Zeit zu Zeit aktualisiert. Weiterhin hat das INA ein eigenes Programm, um seine Lehrkräfte auszubilden, da diese manchmal Programme unterrichten müssen, für die es aufgrund der Inhalte und Eigenschaften der Ausbildungsgänge keine ausge-

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bildeten Lehrer gibt. Oft werden ausgebildete Fachkräfte aus dem betreffenden Gebiet eingestellt und zu einem INA-Lehrer weitergebildet. Diese Kandidaten haben nicht unbedingt eine vorherige Universitätsausbildung. 2.2.3 Akteure Neben den oben genannten Institutionen mit zentralen Verantwortlichkeiten sind weitere Akteure des costa-ricanischen Bildungssektors für die berufliche Aus- und Weiterbildung von Bedeutung. Der Nationale Rektorenrat (Consejo Nacional de Rectores, CONARE) regelt Aspekte der öffentlichen Hochschulbildung. Im Sinne der Autonomie der Universitäten koordiniert CONARE unter anderem die Implementierung des Nationalen Plans für die staatliche Hochschulbildung (Plan Nacional de Educación Superior Universitaria Estatal). Der Nationale Rat der privaten Hochschulbildung (Consejo Nacional de Enseñanza Superior Universitaria Privada, CONESUP) ist eine dem Bildungsministerium angeschlossene Einrichtung, die für die Normierung des Betriebs privater Hochschuleinrichtungen zuständig ist. Die Vereinigung der Rektoren der privaten Universitäten (Unión de Rectores de las Universidades Privadas de Costa Rica, UNIRE) ist für die Stärkung der Qualität und Abdeckung der privaten universitären Bildung in Costa Rica zuständig. Öffentliche Universitäten und ihre jeweiligen Hochschulräte können der costa-ricanischen Bevölkerung berufsbildende Programme auf verschiedenen Qualifikationsniveaus anbieten, etwa durch universitäre Stiftungen, soziale Aktionen oder Outreach-Programme. Dabei gibt es Universitäten mit einer besonders wichtigen Rolle im Bereich der beruflichen Bildung, wie die Nationale Technische Universität (Universidad Técnica Nacional, UTN). Letztere ist eine öffentliche Universität, deren verfassungsmäßiger Auftrag ihr eine grundlegende Rolle bei der beruflichen Bildung auf der Grundlage ihrer engen Beziehung zu den produktiven Sektoren der Wirtschaft zuweist. Die UTN bietet auch einen zweijährigen Lehramtsbachelor

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mit Schwerpunkt berufliche Bildung (Bachillerato en la Enseñanza de la Especialidad Técnica) an; die Mindestvoraussetzung für den Eintritt in diese Laufbahn ist ein erster Abschluss auf dem Niveau des Diplomado técnico. Der Bachelorstudiengang ermöglicht auch einen Ausstieg nach dem ersten Jahr des Programms, in diesem Fall erreichen Absolventen den Titel des Profesorado bzw. den mittleren Grad in der Lehre einer beruflichen Fachrichtung. Der Abschluss Bachillerato berechtigt zum höheren Dienst in der Lehre in den Colégios Técnicos des MEP. Die UTN bietet ebenfallsj einen Bachelorabschluss in Pädagogischer Mediation (Licenciatura en Mediación Pedagógica) an, auf den sich alle Hochschulabsolventen mit mindestens einem bereits erlangten Bachelorabschluss bewerben können und der auch für die Lehrtätigkeit in beruflichen Schulen berechtigt. Weiterhin bietet das Técnológico de Costa Rica (TEC) Absolventen der verschiedenen Universitäten einen Bachelor- und einen Master-Abschluss in Technischer Bildung, der sie berechtigt, auch als Lehrer in der Berufsbildung tätig zu sein. Die Universität INVENIO ist eine private Hochschule, die seit 2013 zusammen mit mehr als 60 führenden nationalen und internationalen Unternehmen eine duale Ausbildung im Wechsel von Theorie und Praxis durchführt. Die Vereinigung der costa-ricanischen Kammern und Assoziationen des privaten Unternehmenssektors (Unión de Costarricense de Cámaras y Asociaciones del Sector Empresarial Privado, UCCAEP) ist eine Non-Profit-Organisation, die costa-ricanische Privatunternehmen in produktiven Sektoren vertritt. Ziel ist es, durch die Entwicklung des privaten Produktionssektors und die Förderung eines verantwortungsvollen Unternehmertums zur sozioökonomischen Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit des Landes beizutragen. Die costa-ricanische Industriekammer (Cámara de Industrias de Costa Rica) zählt derzeit rund 900 Mitglieder. Die Kammer hat kürzlich mit dem INA, der Unternehmerallianz für Entwicklung (Alianza Empresarial para

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el Desarrollo, AED) und der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) eine Rahmenvereinbarung unterzeichnet, um einen Prozess der Bekanntmachung und Umsetzung der dualen Ausbildung einzuleiten (siehe Kapitel 2.3). Das Vizeministerium der Jugend (Viceministerio de Juventud) ist der politische Arm des nationalen Jugendsystems und leitet den institutionellen Rahmen in Jugendfragen. Es leitet und koordiniert die internen und externen Aktivitäten des Ministeriums für Kultur und Jugend (Ministerio de Cultura y Juventud) und stellt sicher, dass die Lenkungsfunktion des Jugendrates für die Bevölkerung zwischen 12 und 35 Jahren wahrgenommen wird. Das Vizeministerium leitet derzeit einen politischen Prozess, um strategische Maßnahmen vorzuschlagen, die auf die Beschäftigungsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen in Costa Rica abzielen. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO oder Organización Internacional del Trabajo, OIT) hat eine wichtige Rolle bei der Unterstützung verschiedener institutioneller, unternehmerischer und gewerkschaftlicher Initiativen zur Förderung der Arbeitnehmerrechte und -chancen inne. Die IAO moderiert derzeit den Runden Tisch des nationalen sozialen Dialogs für die Umsetzung der dualen Ausbildung in Costa Rica (siehe Kapitel 2.3). 2.3

Problemstellung, Lösungsansätze und Projektinitiativen

Dualisierte Berufsbildungsansätze und ausgewählte Projektinitiativen mit Beteiligung deutscher Akteure Nationaler Runder Tisch für sozialen Dialog über die duale Ausbildung Der Runde Tisch ist als Diskussionsraum für die duale Ausbildung entstanden und ein wichtiges nationales drei-Parteien-Forum, das vom Bildungsministerium einberufen wird, um ein „Modell zur Förderung der technischen und beruflichen Bildung im dualen Modus in Costa Rica" festzulegen. Dieser Dialog begann im März 2017 mit der Beteiligung der Regierung, der Wirtschaft und der Gewerkschaften. Das Regionalbüro für Zentralamerika und die Karibik der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO)

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begleitet den Prozess. Letzterer wurde zwischenzeitlich ebenfalls durch den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) im Rahmen des internationalen Projekts „Unions4VET“ unterstützt. Das Ziel des Dialogs ist es, die Leitprinzipien für die Förderung einer qualitativ hochwertigen dualen Ausbildung in Costa Rica gemeinsam festzulegen. Der Konsens soll sich in den konzeptionellen und rechtlichen Prinzipien widerspiegeln, die ein duales Ausbildungsmodell für Costa Rica definieren. Die erste Phase des Dialogprozesses wurde Anfang 2018 abgeschlossen, als die politischen Instanzen beschlossen, die bisher getroffenen Vereinbarungen mit den festgelegten Zielen zu formalisieren und a) das duale Berufsbildungsmodell in Costa Rica einzuführen, b) die Maßnahmen für die einzelnen Akteure festzulegen, um den Prozess der praktischen Umsetzung des Modells einzuleiten, c) einen Fahrplan zu erstellen, um die noch ausstehenden Vereinbarungen zu erreichen (dies sind im Wesentlichen diejenigen, die sich auf den Rechtsrahmen und das Finanzierungssystem beziehen) und d) ein Dekret auszuarbeiten, das den Vereinbarungen Nachhaltigkeit und rechtliche Grundlagen verleiht. Das Pilotprojekt „Duales Modell: Institutionalisierung einer Alternative zur Stärkung des Bildungssystems und der Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen in Costa Rica“ Dieses Vorhaben wird im Rahmen des bilateralen Abkommens zwischen Costa Rica und Deutschland zur Berufsbildungszusammenarbeit durchgeführt. Es wird in drei Phasen entwickelt: Phase 1 - Pilotplan für die duale Ausbildung: im Februar 2018 startete ein Pilot für die duale Ausbildung im Bereich KFZ-Mechatronik, implementiert vom MEP und dem INA und unterstützt durch die UTN (Universidad Técnica Nacional). Phase 2 - universitärer Lehrstuhl für die Entwicklung der technischen Ausbildung und der kaufmännischen Ausbildung: aktuell eine Plattform der

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Reflexion und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der UTN und der Universität Osnabrück.40 Phase 3 - Gestaltung eines postgradualen Studienprogramms in Berufspädagogik für eine duale Ausbildung: der Zweck des Studienangebots ist die Ausbildung von Fachkräften, die das Wissen und die Fähigkeiten erlangt haben, eine duale Ausbildung mit dem Prinzip Lernen im Arbeitsprozess zu implementieren. Das Pilotprojekt wird derzeit in vier Fachschulen umgesetzt und befindet sich im zweiten Jahr der Umsetzung. Eine Evaluierung des Projekts seitens des Bildungsministeriums (MEP) bis Ende 2018 soll die wichtigsten Zwischenergebnisse sichern, um die Möglichkeit der Umsetzung eines weiteren Pilotprojekts im Bereich Tourismus und Informationstechnologie bewerten zu können. Die Deutsch-Costaricanische Industrie- und Handelskammer (AHK) Die AHK ist seit 15 Jahren in der Unterstützung der beruflichen Bildung in Costa Rica aktiv. Sie hat durch ihre direkte Beteiligung an der Organisation von Diskussionsforen über die duale Ausbildung einen Beitrag zur nationalen Debatte geleistet. Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Diese deutsche politische Stiftung trägt seit mehreren Jahren zur Debatte über die duale Ausbildung in Costa Rica bei. Das Ziel der KAS in Bezug auf dieses Thema ist, die Vorteile und aktuellen Herausforderungen des

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Die Universität im Bundesland Niedersachsen pflegt eine enge wissenschaftliche Kooperation in Costa Rica durch das Costa Rica Zentrum, welches in San José bei CONARE sowie an der Universität Osnabrück angesiedelt ist. Seit 2015 unterstützt die Universität Osnabrück, genauer ihr Arbeitsbereich Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Initiativen in Zusammenhang mit nationalen Debatten über die Einführung eines dualen Berufsbildungssystems in Costa Rica. Im Einvernehmen mit der UTN unterstützt sie den Prozess der Schaffung und Stärkung des Lehrstuhls für die Entwicklung der technischen Bildung und Berufsausbildung, der das erste akademisch-wissenschaftliche Universitätszentrum seiner Art in Costa Rica darstellt und sich der Erforschung der Bedingungen für die Stärkung des Berufsbildungssystems durch duale Initiativen widmet.

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deutschen dualen Ausbildungsmodells bekannt zu machen, damit diese Erfahrungen Costa Rica als Referenz für den Prozess des sozialen Dialogs und bei der Entwicklung eines eigenen Modells dienen können. Die Stiftung versteht sich als Brücke zwischen den verschiedenen Akteuren, die an dualer Ausbildung interessiert sind und bündelt die Aktivitäten diverser Sektoren, um gemeinsam einen Fahrplan für ein Ausbildungsmodell zu erstellen, das der Realität in Costa Rica entspricht. Die KAS hat es sich zum Ziel gesetzt, Diskussionsräume über die duale Ausbildung und deren Umsetzung zu generieren. Die Stiftung widmet sich auch der Förderung eines Kapazitätenaufbaus in Unternehmen, damit diese ihre Rolle innerhalb der Prozesse und Verpflichtungen, die sich aus einer dualen Ausbildung ergeben, ausfüllen können. Im August 2018 startete die KAS zusammen mit dem INA, der Assoziation der Industriekammer Costa Ricas (Asociación Cámara de Industrias de Costa Rica, CICR) und der Unternehmerallianz für Entwicklung (Alianza Empresarial para el Desarrollo, AED) eine Initiative der Sensibilisierung und Schulung der Kammer (und dann ihrer 900 Mitglieder in verschiedenen Stufen) für die Implementierung der dualen Ausbildung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in Costa Rica. Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Die FES ist eine deutsche politische Stiftung, die zur Entwicklung des sozialen Dialogs und zur politischen Analyse beiträgt. Sie hat Treffen zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und weiteren Institutionen unterstützt, um die Rolle junger Menschen in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Produktion zu diskutieren. Sie ist derzeit gemeinsam mit dem Vizeministerium für Jugend involviert in Aktivitäten, die sich der Analyse menschenwürdiger Arbeit, der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, der Be-

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schäftigungsfähigkeit von Jugendlichen und der Rolle der beruflichen Bildung bei der Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit in Costa Rica widmen.41 Bedarfe In Zusammenhang mit den Reformen der letzten Jahre in Costa Rica wurden diverse Faktoren identifiziert, die die Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems erschweren. Gleichzeitig wird erkennbar, dass einige der identifizierten Handlungsbedarfe bereits erkannt und angegangen werden. Im Bericht zum Status der Bildung wurde 2013 u.a. festgestellt, dass es der Verbesserung der Ausstattung in den Ausbildungszentren und dem Ausbau der Infrastruktur bedarf. Hinsichtlich der Infrastruktur hat das MEP in den letzten Jahren bereits gehandelt und den Bau neuer Ausbildungszentren vorangetrieben, um der starken Zentralisierung der Angebote rund um die Hauptstadt San José entgegen zu wirken und so auch die Binnenmigration von ländlichen Gebieten in Regionen mit mehr beruflichen und Bildungsperspektiven zu steuern. Im Jahr 201742 haben zentrale Berufsbildungsakteure weitere Handlungsfelder identifiziert. So sollten bspw. Zertifizierungsprozesse für berufliche Kompetenzen generiert werden, inklusive der Entwicklung von Ausbildungsbausteinen und Zwischenzertifizierung für jede Ausbildungsebene, und eine Vereinfachung der Artikulation zwischen den Ebenen erfolgen. Da die berufliche Bildung bislang nur eine untergeordnete Rolle in den Bildungswegen junger Menschen in Costa Rica gespielt hat und die Berufswahl häufig nicht mit den Bedarfen des Arbeitsmarkts übereinstimmt, muss eine Stärkung der beruflichen Orientierung erfolgen; benötigt wird

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Mehr Informationen unter: https://presidencia.go.cr/comunicados/2018/08/ina-y-sector-empresarial-firman-alianza-para-enfrentar-los-retos-del-pais-en-materia-de-competencias-y-habilidades-para-los-trabajos-del-futuro/ Siehe dazu: Organización de Estados Iberoamericanos OEI (2017). La Educación y Formación Técnico Profesional en Costa Rica. Propuesta de Programa Nacional. San José, Costa Rica.

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eine rechtzeitige und qualitativ hochwertige Berufsberatung auf allen Ebenen des Bildungssystems. Eine Verbesserung der Qualität der Ausbildungsangebote wird angestrebt. Dazu wird ein Verfahren der Akkreditierung von Programmen und Institutionen benötigt. Die Festlegung eines Profils des Lehrpersonals für die berufliche Bildung wird als zentral dafür angesehen, sicherstellen zu können, dass Lehrpersonen auf dem neuesten Stand und angemessen ausgebildet sind. Ebenso bedarf es einer Förderung der regelmäßigen Zertifizierung der Lehrkräfte in pädagogischer und technischer Hinsicht. Weiterhin sollte eine Harmonisierung der Qualifikationsanforderungen für das Lehrpersonal in den Ausbildungsinstituten des Bildungsministeriums und des INA erfolgen, um den Austausch zu erleichtern und Personalmangel beiderseits zu beheben. Lehrer sollten einige Zeit in einem Betrieb verbringen und Vertreter der Wirtschaft an beruflichen Bildungseinrichtungen unterrichten. Um die Bedarfe der Unternehmen mit dem Angebot der Berufsausbildung besser abstimmen zu können, sollte das Verhältnisses zwischen Ausbildungszentrum und Unternehmen im Hinblick auf eine Partnerschaft zur Erreichung von Relevanz der Inhalte und Qualität überdacht werden. Ausbildungsangebote sollten dabei den jeweiligen lokalen/regionalen Kontext (Wirtschafts- und Arbeitsmarktcharakteristika) in Betracht ziehen. Derzeit fehlt es in Costa Rica an starken und effizienten Institutionen, um in enger Abstimmung mit der Privatwirtschaft die Berufsbildung auf nationaler Ebene, sowie die Relevanz und Qualität von Angebot und Nachfrage kontinuierlich zu überwachen und mittel- und langfristige Qualifizierungsziele zu definieren.

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Herausforderungen

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Der Runde Tisch für den nationalen sozialen Dialog zu dualer Ausbildung ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags die zentrale Plattform, um die Sozialpartner zusammen zu bringen. Jedoch sind bezüglich bestimmter Themen nur schwer überbrückbare Differenzen zwischen den organisierten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen zu verzeichnen. Gewerkschaften als potenzielle Akteure in der beruflichen Bildung in Costa Rica äußern Vorbehalte gegenüber dualen Modalitäten der Berufsausbildung. Sie fürchten um die Ausnutzung junger Erwachsener in Unternehmen als (zu) gering entlohnte Arbeitskräfte. Diese Befürchtung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Status ‚Auszubildender‘ derzeit nicht Gegenstand von Tarifverhandlungen ist und in Teilen nicht kompatibel mit Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes scheint. Unsicherheiten bestehen auch bezüglich der Arbeitsvertrags- oder Sozialversicherungsbestimmungen von Auszubildenden in Unternehmen. Im Sommer 2018 gab es dazu eine möglicherweise richtungsweisende Entscheidung (siehe Ausführungen zu Lernen im Arbeitsprozess). Meinungsverschiedenheiten zwischen Gewerkschaften und Unternehmensvertretern bestehen fort hinsichtlich der Art des Ausbildungsvertrags und der Entlohnung der Auszubildenden. Weiterhin ist zu bemerken, dass die Gewerkschaftslandschaft in Costa Rica vornehmlich auf die Interessen von Lehrpersonal und Angestellten in der öffentlichen Verwaltung bezogen ist und die Arbeitnehmer in den übrigen Beschäftigungssektoren kaum organisiert sind. Dies erschwert die Repräsentation der Interessen derjenigen, die in der beruflichen Aus- und Weiterbildung lernen. Voraussetzung für die Etablierung einer Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern und Staat ist, dass im Rahmen der Weiterentwicklung der costa-

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ricanischen Berufsbildung Modalitäten für eine Partizipation der Sozialpartner explizit festgelegt werden, d.h. eine entsprechende GovernanceStruktur angelegt wird, dies gilt auch für den Punkt Lernen im Arbeitsprozess. Lernen im Arbeitsprozess Das Ausbildungsgesetz von 1971 (Gesetz Nr. 4903) legt ursprünglich die Modalitäten für die durch das INA koordinierte Lehrlingsausbildung fest, unter anderem ein Mindest- und Höchstalter der Auszubildenden (15 bis 20 Jahre), die Ausbildungsdauer, die Höhe der Ausbildungsvergütung und die Bereiche, die durch den Ausbildungsvertrag geregelt werden. Die durch das Gesetz geregelte Ausbildung ist als eine Lehre in Alternanz zwischen Ausbildungszentrum und Unternehmen (etapa productiva o formación práctica) konzipiert worden. Eine sog. gemischte Kommission bestehend aus Vertretern der Unternehmen, der Gewerkschaften, der Auszubildenden und des INA ist in der Funktion einer Clearingstelle z.B. für neue Regularien vorgesehen, die die Ausbildung im Unternehmen betreffen. Ab Anfang der 2000er Jahre wurden die Regularien des Ausbildungsgesetzes seitens des INA hinsichtlich der Umsetzung des Ausbildungsvertrags und des Lernens im Unternehmen zunehmend als nicht mehr realisierbar empfunden. Dies vor allem deswegen, weil die Vorgaben nicht mit den veränderten Realitäten des Arbeitsmarkts, den Bedürfnissen der Auszubildenden und den Produktionsformaten der Wirtschaft des Landes übereinstimmten. An die Stelle einer praktischen Einheit als Lehrling in einem Unternehmen ist auf Basis mehrerer gesetzlicher Bestimmungen ein in der Regel bezahltes ‚didaktisch begleitetes Praktikum‘ (práctica didáctica supervisada) gerückt. Dieses Praktikum beruht auf einem Kooperationsvertrag, der zwischen Auszubildendem, dem INA und dem Unternehmen abgeschlossen wird; dabei wird der Status ‚Schüler‘ (anstelle eines Angestellten) während der Zeit des Praktikums beibehalten.

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Diese Regelungen sollen die Realisierung eines praktischen Anteils während der beruflichen Ausbildung vereinfachen und mehr Lernenden die Möglichkeit geben, ein solches Praktikum zu absolvieren. Auf Grundlage dieser Neuregelungen bezüglich des Lernens am Arbeitsplatz sind kürzlich zwei unterschiedliche Gesetzesentwürfe zur Einführung einer dualen Ausbildung in Costa Rica in das Parlament eingebracht worden.43 Diese Entwürfe unterscheiden sich zwar in ihren Details, jedoch sehen sie eine Expansion einer Ausbildung, die theoretische und praktische Anteile vereint, vor, und zwar über die Angebote des INA hinaus. Diese Expansion soll freiwillig erfolgen, d.h. Bildungseinrichtungen könnten entscheiden, inwieweit sie sich an einer dualisierten Ausbildung beteiligen. Neben Fragen der Modalität des Lernens am Arbeitsplatz war zuletzt der Status des Lernenden im Betrieb immer wieder Diskussionsgegenstand für die Akteure der beruflichen Bildung. So haben in der Vergangenheit Unternehmen davor zurückgeschreckt, sich an Ausbildung zu beteiligen, da sie negative Konsequenzen im Falle von Inspektionen des Betriebs fürchteten. Hier hat es seitens der Sozialversicherungskasse Costa Ricas (Caja Costarricense de Seguro Social) kürzlich eine Orientierung gegeben, auf der zukünftige Initiativen aufbauen können.44 So werden Lernende, die während ihrer Ausbildung ein obligatorisches Praktikum bzw. eine Praxisphase in einem Unternehmen durchlaufen, nicht als Angestellte eingestuft und unterliegen nicht der Sozialversicherungspflicht der Unternehmen. Dies soll einen Anreiz für Unternehmen darstellen, sich an Ausbildung zu beteiligen.

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Proyecto de Ley. Ley de Educación Dual, Expediente N.º 20.786 sowie Proyecto de Ley. Ley para la Regulación de la Educación o Formación Profesional-Técnica en la Modalidad Dual en Costa Rica, Expediente N.º 20.705. Caja Costarricense de Seguro Social. Instructivo sobre el Aseguramiento de Estudiantes de Educación Técnica que realizan Prácticas Profesionales y Pasantías. Veröffentlicht am 22 August 2018.

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Neben der Reformierung von gesetzlichen Regelungen, die eine bessere Einbettung von Auszubildenden in Betrieben ermöglicht, muss die Rolle, die von Unternehmen in einer dualen Berufsausbildung erwartet wird, festgelegt werden. Pilotprogramme dualer Ausbildung, wie sie bereits im Automobilsektor durchgeführt werden, können hier eine starke Signalwirkung haben. Akzeptanz von nationalen Standards Derzeit gibt in es Costa Rica über 500 verschiedene Ausbildungsprogramme und über ein Dutzend verschiedene Bezeichnungen für die zu erlangenden Abschlüsse. Dies sorgt für Verwirrung und Unsicherheit bei Lernenden und Arbeitgebern. Bereits existierende Ausbildungsprofile werden oftmals als obsolet empfunden, da sie wenig an den Bedarfen des Arbeitsmarkts orientiert sind. Vor dem Hintergrund der Einführung des Nationalen Qualifikationsrahmens für die Berufsbildung in Costa Rica (MNC-EFTP-CR) ist zu erwarten, dass die Standards für die Aus- und Weiterbildung grundlegend reformiert werden. Anfang 2018 ist bereits ein Pilotvorhaben zur Entwicklung von nationalen Standards für den Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien gestartet. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Die Ausbildung von Lehrpersonal erfolgt in Costa Rica über verschiedene Wege, es gibt kein einheitliches Profil etwa für Lehrkräfte in den Ausbildungszentren. Eine Ausbildung der Ausbilder in Unternehmen wird nicht systematisch und flächendeckend durchgeführt. Eine Harmonisierung der Qualifikationsanforderungen für das Lehrpersonal in den Ausbildungsinstituten des Bildungsministeriums und des INA könnte den Austausch erleichtern und Personalmangel beiderseits beheben. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Die Berufsbildungsforschung in Costa Rica steht noch am Anfang. Bisher gibt es keine akademische Einrichtung, die über einen entsprechenden

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Lehrstuhl verfügt oder Nachwuchswissenschaftler in der Disziplin qualifiziert. Auch gibt es keine anderen Entitäten im Sinne eines Berufsbildungsinstituts o.ä., die diese Rolle übernehmen könnten. Eine regelmäßige Berufsbildungsberichtserstattung oder Politikberatung seitens der Wissenschaft in Fragen der beruflichen Bildung ist momentan nicht realisierbar.

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Anmerkung Das vorliegende Kapitel zu Land Costa Rica wurde auf Basis der im Zeitraum 02.10.2017 bis 03.10.2017 sowie im August 2018 in San José geführten Gespräche angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere die abschließenden Einschätzungen bezüglich der Entwicklungen in Richtung dualisierter Berufsbildungsansätze zu untermauern. Die Analyse von weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung (Abschnitte 1 und 2). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit der Aussagen gewährleistet. Gespräche wurden geführt mit: Bildungsministerium (Ministerio de Educación Pública, MEP); Universidad Técnica Nacional; Internationale Arbeitsorganisation (IAO) für Zentralmerika und die Karibik; Gewerkschaftsdachverband Central del Movimiento de Trabajadores Costarricenses (CMTC); Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Costa Rica; Instituto Nacional de Aprendizaje (INA), Arbeitsgruppe nationaler Qualifikationsrahmen für die Berufsbildung (Marco Nacional de Cualificaciones de la EFTP de Costa Rica MNC- EFTP-CR).

Kolumbien: Berufsbildung zur Überwindung des Postkonflikts? Susanne Peters und Waldemar Bauer

Abstract Kolumbiens Gesellschaft ist seit jeher von Gewaltkonflikten geprägt, die vorerst in einem Befriedungsprozess weilen. Im Kontext von Bildung erreichte die Politik in den letzten Jahren viel, so können eine stetige Ausweitung des Zugangs zur Bildung sowie eine umfassende Umstrukturierung des Bildungssektors verzeichnet werden. Jedoch hat Kolumbien noch einen weiten Weg vor sich, um auch eine Verbesserung der Qualität und Chancengleichheit in der Bildung zu erzielen. Hier setzt die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung an: Die Entwicklung einer bedarfsorientierten Berufsbildung samt dualer Strukturen steht auf der Agenda. Diese steckt noch in den Kinderschuhen und es bedarf der Weiterentwicklung verschiedener Institutionen und Organisationen, um nachhaltige Qualifizierung zu schaffen.

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Landeskontext

Kolumbien (amtlich República de Colombia), eine Republik im Nordwesten Südamerikas, ist das viertgrößte Land des Kontinents. Die Hauptstadt Santa Fé de Bogotá ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Kolumbiens Geografie ist von den schmalen Streifen Küstentieflands, zentralem Hochland mit drei Gebirgszügen der Anden, tropischem Regenwald im Süden des Landes und savannenartigen Hochebenen im Osten geprägt (IQAS, 2010). Aufgrund dieser topografischen Vielfalt ist Kolumbien reich an natürlichen Ressourcen wie Erdöl, Erdgas, Kohle, Eisenerz, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_4

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Susanne Peters und Waldemar Bauer

Nickel, Gold, Kupfer und Wasserkraft sowie an landwirtschaftlichen Produkten wie Kaffee, Bananen, Reis, Tabak, Zuckerrohr und Kakaobohnen. Abb. 1: Übersichtskarte Kolumbien

Quelle: © lesniewski/AdobeStock

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Kolumbien ist mit 49,6 Mio. Einwohnern der Staat mit der zweithöchsten Bevölkerung in Südamerika. Die Bevölkerungsstruktur ist, geprägt durch die Geschichte, sehr diversifiziert und heterogen. 74% der Gesamtbevölkerung leben in Ballungsgebieten und Städten (Mora, 2015). Im Ballungsraum Bogotá, Hauptstadt und Zentrum der Industrie, leben rund 8 Mio. Menschen. Die Republik Kolumbien befindet sich wirtschaftlich und gesellschaftlich im Wandel, da die Gewaltkonflikte, die das Land über Jahrzehnte geprägt haben, vorerst in einem Befriedungsprozess weilen. Der folgende Abschnitt liefert einen Überblick über die politischen Rahmenbedingungen und über die wirtschaftlichen Entwicklungen. 1.1

Politische Rahmenbedingungen

1886 entstand die aktuelle Republik Kolumbiens, jedoch herrschte noch lange nach dem Ende der Kolonialzeit eine zivilherrschaftlich-violente Gesellschaftsordnung samt Bürgerkrieg (z.B. La Violencia, 1948-1958), Guerillas, Paramilitärs und Drogenkartellen (Zinecker, 2002). Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war der Charakter des kolumbianischen Staats oligarchisch, die politische Herrschaft lag in der Hand einer kleinen, wirtschaftlich und gesellschaftlich dominanten Schicht. Die politische Instabilität und die nicht ökonomisch genutzten Potenziale insbesondere der ländlichen Gegenden führten zu Landflucht in urbane Gebiete und zu ansteigender Armut. Mit dem Friedensprozess der Regierung Barco (1986-1990) wurde die politische Begründung von Gewalt delegitimiert und Kolumbien erhielt im Jahr 1991 eine neue Verfassung (Kurtenbach, 2010).45 Zwar verbesserte sich die Sicherheit des Landes zunehmend während der letzten

45

In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff „Postkonflikt“ zu verorten. Kolumbien ist ein demokratisch geführtes Land, das nach wie vor mit den Auswirkungen der starken Gewaltherrschaft zu kämpfen hat und sich deshalb in einer Ära „nach dem Konflikt“ befindet.

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Susanne Peters und Waldemar Bauer

Legislaturperioden, jedoch bleiben die Sicherung eines nachhaltigen Friedens und die Bekämpfung des Drogenhandels zentrale Herausforderungen (IQAS, 2010). 1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Die im Jahr 1991 verabschiedete neue Verfassung Kolumbiens gilt als eine der fortschrittlichsten in Südamerika. So stellen beispielsweise die Möglichkeit zur Grundrechtsklage und die Verbesserung der Wahlorganisation und -durchführung grundlegende Schritte in Richtung einer stärkeren Demokratie46 dar (Kurtenbach, 2010). Die Gewaltenteilung sieht Exekutive, Legislative und Judikative vor. Zwischen dem Jahr 2010 und dem Jahr 2018 regierte Juan Manuel Santos Calderon als Präsident Kolumbien (Direktwahl mit absoluter Mehrheit; vierjährige Legislaturperiode), seitdem ist der rechtskonservative Iván Duque amtierender Präsident. Der Präsident fungiert als Staatsoberhaupt sowie als Regierungschef. Bislang ist in Kolumbien, wie in den USA, ein Zweiparteiensystem vorherrschend (Ladner, 2004). Kolumbien ist in 33 Verwaltungsbezirke eingeteilt. Offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung und aufständischen Gruppen reichen bis zum Ende der 1990er Jahre zurück und von beiden Seiten wurden die Gespräche mehrfach abgebrochen und wiederaufgenommen. Ein Fortschritt wurde im Jahr 2002 erzielt, indem paramilitärische Gruppen der Rechtspopulisten Waffenstillstand und Entwaffnung zustimmten; jedoch blieben die Konflikte mit linken Aufständischen (FARCGuerilla) ungelöst (IQAS, 2010). Erst im Dezember 2016 wurde zwischen der ehemaligen FARC und der Regierung ein Friedensvertrag geschlossen, an dessen Umsetzung über das normale Gesetzgebungsverfahren nach wie vor gearbeitet wird (Wahler, 2017). Nach über 50 Jahren des Bestehens der Guerillaorganisation wandelte sich die FARC Ende 2017 in eine politische

46

Zinecker (2002, S. 277 ff.) konstatiert, dass trotz der neuen Verfassung die Menschenrechte in Kolumbien infrage gestellt werde und es daher nicht um wahre Demokratie, sondern um die Stärkung bereits vorhandener demokratischer Räume gehe.

Kolumbien

117

Partei. In den Wahlen im März 2018, in denen sich Senatoren47 und Vertreter für die Abgeordnetenkammer sowie zwei Präsidentschaftskandidaten zur Wahl stellten, erzielte die FARC lediglich 0,34% der Stimmen (Ehringfeld, 2018). Letztlich trat die FARC nicht bei den Präsidentschaftswahlen an. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Sowohl im Regierungsprogramm der Regierung Santos als auch in den Wahlprogrammen der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im Mai 2018 stand der Frieden an erster Stelle, wenngleich die genauen Vorstellungen sehr unterschiedlich waren (Weber, 2017). Das Regierungsprogramm der Santos-Regierung folgte in den beiden Amtsperioden (2010 bis 2018) einfachen liberalen Regeln: Auslandsinvestitionen sollten angezogen werden und der Handel sollte möglichst frei fließen, um Wirtschaftswachstum zu schaffen (Endres, 2014). Dieser Plan ging zunächst auf und das Wirtschaftswachstum lag bei ca. 6% jährlich, jedoch sank das Wachstum aufgrund sinkender Rohstoffpreise seit 2016 auf circa 2% p.a. (Auswärtiges Amt, 2018), in 2019 erlebte das Land hier eine leichte Verbesserung des Wirtschaftswachstums (3,3%; GTAI 2019). Daher gilt es weiterhin als Aufgabe von Politik und Gesellschaft, das wirtschaftliche Wachstum zu fördern. Herausforderungen struktureller Art werden durch regionale Infrastrukturprojekte, institutionelle Reformen und eine Formalisierung der Wirtschaft angegangen (Schuchard, 2015). Bildung, Korruptionsbekämpfung, Neuordnung der Landwirtschaft durch eine Landreform sowie Regelungen zur Entschädigung der Opfer des Bürgerkriegs sind ebenfalls politische Ziele der Regierung. Das Regierungsprogramm der neuen Regierung Duque fokussiert derzeit die Kontrolle über die bandas criminales, organisierte und bewaffnete Gruppen und somit auch die Kontrolle der Koka-Anbaugebiete.

47

Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen/sind ebenfalls gemeint.

118

1.2

Susanne Peters und Waldemar Bauer

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Zu den wichtigen Wirtschaftszweigen Kolumbiens zählen Landwirtschaft und Industrie, Tourismus und Dienstleistungen, Bergbau sowie Öl- und Erdgasförderung. Vor allem die Bauindustrie hat in den letzten Jahren an Gewicht gewonnen, während die Öl- und Erdgasförderung an (relativer) Bedeutung verlor – sie dominiert aber nach wie vor den Außenhandel (Auswärtiges Amt, 2018). Die nachfolgenden Kennzahlen Kolumbiens im Vergleich zu den Zahlen Deutschlands verdeutlichen problematische Aspekte der Wirtschaft, wie etwa eine hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Importüberschüsse und deuten auf mangelnde Produktivität der Sektoren hin. Tab. 1: Kennzahlen Kolumbien im Vergleich zu Deutschland Merkmal

Einheit

Jahr

Kolumbien

Deutschland

Landfläche

km2

2014

1 109 500

348 900

BIP zu jeweiligen Preisen

Mrd. US$

2016

282,4

3 479,2

BIP zu jeweiligen Preisen, je Einwohner

US$

2016

5 792

42 177

Inflation (Veränderung des VPI)

% zum Vorjahr

2016

7,5

0,4

Bruttowertschöpfung: Sektor Landwirtschaft (Erwerbstätige nach Sektoren)

% des BIP (%)

2016

7,1 (15,8)

0,6 (1,4)

Bruttowertschöpfung: Produzierendes Gewerbe (Erwerbstätige nach Sektoren)

% des BIP (%)

2016

32,6 (19,6)

30,5 (24,2)

Bruttowertschöpfung: Dienstleistungssektor (Erwerbstätige nach Sektoren)

% des BIP (%)

2016

60,3 (64,6)

68,9 (74,4)

Bevölkerung

1 000

2016

48 653,4

82 667,7

119

Kolumbien

Bevölkerungsdichte

Personen je km2

2016

44

237

Bevölkerung unter 15 Jahren

% der Gesamtbevölkerung

2016

23,9

13,1

Bevölkerung ab 65 Jahren

% der Gesamtbevölkerung

2016

7,3

21,3

Ärztedichte

je 10 000 Einw.

2010

16

41

Schüler je Lehrkraft (Primarstufe)

Anzahl

2015

24

12

Schüler je Lehrkraft (Sekundarstufe)

Anzahl

2015

26

12

Studierende

je 100 000 Einw.

2014

4 473

3 611

Öffentliche Gesamtausgaben für Bildung

% des BIP

2015

4,5

5,0

Erwerbslosenquote

%

2016

9,5

4,6

Jugenderwerbslosenquote

%

2016

22,5

7,7

Landwirtschaftlich genutzte Fläche

% der Landfläche

2014

40,5

47,9

Wareneinfuhr insgesamt

Mrd. US$

2016

44,8

1 060,7

Warenausfuhr insgesamt

Mrd. US$

2016

31,0

1 340,8

Quelle:

Statistisches Bundesamt, 2019

1.2.1 Wirtschaftssektoren Derzeit wachsen die Sektoren Erdöl, Bergbau und die Bauwirtschaft am stärksten, diese zählen zu den Impulsgebern für Zukunfts- bzw. Schlüsseltechnologien des Landes. So hängen Umwelttechnologien, Fahrzeug- und Verkehrstechnologien, Medizin- und Elektrotechnik eng mit diesen Bereichen zusammen. Zusätzlich nimmt die Bedeutung des IT-Sektors zu.

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Susanne Peters und Waldemar Bauer

Der informelle Sektor einer Volkswirtschaft ist statistisch nicht erfasst. So ist Schwarzarbeit ein Teil der informellen Wirtschaft, jedoch ist auch ein großer Teil des informellen Sektors legal, z. B. durch das Ausnutzen von Regelungslücken. Kolumbiens informeller Arbeitsmarkt weitet sich seit den 1960er Jahren weiter aus (Wald, 2013). Reformen zur Formalisierung der Wirtschaft stehen daher seit einigen Jahren auf der politischen Agenda (Pacheco, 2017). Beispielsweise bietet das Gesetz Nr. 1429 kleinen und mittelständischen Unternehmen Anreize zur Formalisierung ihrer Strukturen (u.a. durch Steuervergünstigungen) und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere für schutzbedürftige Gruppen wie junge Arbeitnehmer unter 28 Jahren (IAA, 2014). Ein anderes Beispiel sind subventionierte Krankenkassenbeiträge für ärmere Bevölkerungsschichten, um den Gesundheitsschutz auf Arbeitnehmer im informellen Sektor auszuweiten (ebd.). 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Zwar entwickelte sich die Bildungssituation Lateinamerikas im Laufe des 20. Jahrhunderts positiv, da eine stetige Ausweitung des Zugangs zur Bildung erreicht wurde, jedoch ist es der Bildungspolitik generell kaum gelungen, einen Beitrag zur Reduzierung der sozialen Ungleichheit zu leisten (Peters, 2012). Auch in Kolumbien scheinen sich kaum positive Effekte auf den Arbeitsmarkt durch den ansteigenden Zugang zu Bildung zu zeigen: Jugendliche und junge Erwachsene sind überdurchschnittlich stark von Arbeitslosigkeit betroffen (ebd.). Es besteht Einigkeit darüber, dass sich die Bildung in Kolumbien in einer Dauerkrise befindet (Gentili, 2009; Peters, 2012; Wehr, 2011). Die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) attestiert Kolumbien die „absence of clear pathways and qualifications” (OECD, 2016, S. 13). In den 1970er und frühen 1980er Jahren lag ein bildungspolitischer Schwerpunkt auf der Förderung der beruflichen Bildung. Dagegen konzentrierten sich private (freie und kirchliche) Bildungsinstitutionen stärker auf den akademischen Bereich, die hier Institutionen mit hoher Qualität

Kolumbien

121

der Bildungsprogramme und Prestige erlangten (Mora, 2015). Ab Mitte der 1980er Jahre lag der Fokus der Regierungen in erster Linie auf dem Primar- und Hochschulbereich. Erst seit Anfang der 2000er Jahre ist auch die berufliche Bildung wieder stärker in den Vordergrund gerückt. Der Nationale Entwicklungsplan 2014-2018 (NDP) der Santos-Regierung widmet sich mehr denn je dem Thema Bildung. „Colombia, the Most Educated“ titelt das Kapitel des NDP, das Tertiärbildung, Forschung sowie eine Verknüpfung zwischen Industrie und Hochschulen priorisierte (Pacheco, 2017). Dazu gehört die Entwicklungen eines Nationalen Qualifikationsrahmens (NQF), eines Systems für Anrechnung und Transferierbarkeit (akademischer) Credits und eines nationalen Systems für die Bemessung der Qualität von Bildung. Um den Trend der sinkenden Wertschätzung der beruflichen Bildung aufzuhalten, der seit den 1950er Jahren anhält, berät das deutsche Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) seit 2011 den kolumbianischen Nationalen Dienst für Berufsbildung (Servicio Nacional de Aprendizaje, SENA, gegründet 1957), eine staatliche Berufsbildungseinrichtung, bei der Durchführung von Pilotprojekten zur dualen Ausbildung (Mora, 2015; BIBB, 2018a, siehe auch Kapitel 3.6). „Die duale Ausbildung [wird] eine Schlüsselrolle in der Phase des Post-Konflikts in Kolumbien spielen“ (SENADirektor Alfonso Prada 2015 während seines Vortrags auf der World Skills Colombia).

2

Berufliche Bildung

2.1

Struktur des Bildungssystems

Das allgemeine Bildungssystem Kolumbiens besteht aus einem fünfjährigen Primarbereich und einem vierjährigen Sekundarbereich (untere Stufe, Bachillerato Básico, Sekundarbereich I), die beide ebenso wie der Kindergarte obligatorisch zu besuchen sind (Educación Básica).

122

Susanne Peters und Waldemar Bauer

Abb. 2: Übersicht über das Bildungssystem Kolumbiens

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Mora, 2015. Layout: DLR Projektträger.

Danach folgt eine zwei- oder dreijährige obere Sekundarstufe (Educación Media, Sekundarstufe II). Diese Schulform kann in einem allgemeinbildenden, technischen, pädagogischen oder beruflichen Zweig besucht wer-

123

Kolumbien

den (vgl. Abbildung 2). Im anschließenden Tertiärbereich gibt es vier verschiedene Bildungstypen (Instituciones de Educación Superior, IES): Universitäten, universitäre Institute oder technologische Schulen (nur Bachelor-Programme), technologische Institute (technisch-wissenschaftliche Berufsausbildung, Abschluss Technologe) und beruflich-technische Institute (technische Berufsausbildung, Abschluss Techniker). Nur Universitäten verfügen über Master- und Doktorandenprogramme und bieten auch Spezialisierungen auf postgraduiertem Niveau an. Der Zugang zum Hochschulbereich ist national nicht einheitlich geregelt. Neben dem Eignungstest Saber 11 werden verschiedene Anforderungen in Hinblick auf Durchschnittsnoten und Vorkenntnisse gestellt. Die folgende Tabelle zeigt wesentliche Daten des Bildungssystems: Tab. 2: Daten zum Bildungssystem in Kolumbien im Jahr 2014 Bildungsbereich

Institution

Bildungsmodalität

Anzahl Schüler/ Studierende

Anzahl/Anteil Schüler pro Bildungseinrichtungen

4,74 Mio.

19,5% der Schüler in privaten Einrichtungen

Sek I

3,6 Mio. Davon in Berufsbildung: 268.560

18,8% der Schüler in privaten Einrichtungen

Sek II

1,34 Mio. Davon in Berufsbildung: 352.420

25,6% der Schüler in privaten Einrichtungen

Primarbereich Sekundarbereich

Tertiärbereich

2,14 Mio. Universitäten Universitäre Institute und

1,32 Mio.

82, davon 50 privat 121, davon 92 privat

124

Susanne Peters und Waldemar Bauer technologische Schulen Bachelor

506.472

Master

45.710

Spezialisierung

77.462

Technologische Institute

Technologisch-wissenschaftliche Ausbildung

600.329

51, davon 39 privat

Technische Institute

Technischberufliche Ausbildung

90.027

34, davon 25 privat

Technologische Institute/technische Institute: Ausbildung bei SENA Quelle:

415.860

Eigene Darstellung in Anlehnung an SENA, 2016, und UIS Stat, 2018

Bildung hat für Kolumbianer einen hohen Stellenwert, was sowohl am Anteil privater als auch öffentlicher Ausgaben für Bildung festgemacht werden kann (Schuchard, 2015). Während der letzten Jahrzehnte fand eine umfassende Umstrukturierung des Bildungssektors statt (Mora, 2015). Dazu gehörten die Ermöglichung eines flächendeckenden Schulbesuchs (bspw. durch institutionelle Reorganisation) und die Verbesserung der Qualität und der Chancengleichheit (z. B. wurden Evaluationsstandards für das gesamte Land eingeführt). Die Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten zu Bildung zeigt Erfolge: Die Schulbesuchsrate im Primarbereich konnte von ca. 65 % im Jahr 1985 auf ca. 90 % in 2010 gesteigert werden, im Sekundarbereich verdoppelte sich die Zahl im selben Zeitraum sogar (von ca. 30 % in 1985 auf 76% in 2010). Die Erhöhung der Schulbesuchsquoten aller Bildungslevel, insbesondere im oberen Sekundarbereich, gilt als großer Erfolg: „[Colombia’s] Education has gone through a silent revolution“ (OECD Direktor Andreas Schleicher, 29.04.2015). Dagegen wird die Qua-

Kolumbien

125

lität der Bildung weiterhin als niedrig bewertet (OECD, 2016), die Chancenungleichheiten sind nach wie vor hoch und es bestehen große regionale Differenzen (Peters, 2012; Pacheco, 2017; Mora, 2015). Eine der größten Herausforderungen ist die hohe Quote der Schulabbrecher (OECD, 2016). Wie in Abbildung 2 ersichtlich wird, gibt es zwei Stränge beruflicher Bildung: • In der Sekundarstufe II können kolumbianische Schüler zwischen rein schulischer Sekundar- und Berufsbildung (educatión formal) und praxisbezogener Ausbildung (educación para el trabajo y el desarrollo humano) wählen (Schuchard, 2015): In den allgemein- oder berufsbildenden Schulen (educación formal) gibt es Schwerpunkte der Geisteswissenschaften, Kunst und Wissenschaft oder eine technisch orientierte Sekundarbildung. Der Abschluss ist vergleichbar mit dem Abiturzeugnis. Schülerinnen und Schüler werden auf Tätigkeiten in Sektoren wie Landwirtschaft, Handel, Finanzen, Verwaltung, Umwelt, Industrie, Bergbau, Gesundheit und Tourismus vorbereitet. Die Praxisphasen dieser Ausbildung finden in Kooperation mit dem SENA statt; bei privaten Schulen finden die Praxisphasen in Unternehmen oder Universitäten statt. Die berufliche Ausbildung außerhalb des formalen Bildungssystems wird als educación para el trabajo y el desarrollo humano bezeichnet. Diese findet in verschiedenen Bildungseinrichtungen statt. SENA ist hier (mit über 60 % der Angebote) der Hauptanbieter. Ziel der Ausbildung ist die Vermittlung von arbeitsrelevanten Kompetenzen entsprechend den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen des Arbeitsmarktes. Der Abschluss wird mit einem Zertifikat von SENA bestätigt, das – zumindest im Qualifikationsrahmen – auf dem gleichen Qualifikationsniveau wie ein Sekundarabschluss angesiedelt ist (título de bachiller). Er ermöglicht den Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen wie technische oder technologische Institute. Es existieren Programme, die berufsnahe Fachkompetenzen vermitteln, sowie akademisch ausgerichtete Programme. Ähnlich der educatión formal gibt es auch hier Angebote staatlicher und privater Schulen.

126

Susanne Peters und Waldemar Bauer

• Die Hochschulbildung ist in Kolumbien in die Zweige Grundstudium (pregrado) und Aufbaustudium (Postgraduiertenstudium, postgrado) untergliedert. Im Tertiärbereich existieren verschiedene Programme der höheren technischen und beruflichen Bildung (technische und technologische Ausbildung). Die Abschlüsse führen zu einem Titel (técnico profesional bzw. tecnólogo) in einem bestimmten Bereich, z. B. Ingenieurswissenschaften (Schuchard, 2015). Der Unterschied beider Formate besteht im Verhältnis zwischen praktischer und wissenschaftlicher Ausrichtung. Die technische Ausbildung fördert spezifische Fachkompetenzen, z. B. für Grafikdesign, Fahrzeugtechnik und Gastronomie. Die technologische Ausbildung hingegen bereitet auf komplexere Arbeitsanforderungen in der Arbeitswelt vor und vermittelt auch analytische und strategische Kompetenzen. Die Ausbildungsdauer beträgt 1,5 Jahre (technische Berufsausbildung) bzw. 2 Jahre (TechnologischWissenschaftliche Ausbildung) Jahre. Die Ausbildungsformen werden an technischen und technologischen Instituten, einschließlich SENA, angeboten. Hinsichtlich der Einbindung der Wirtschaft in die berufliche Aus- und Weiterbildung gibt es in Kolumbien die Einkommensausgleichsteuer (Contribución para la equidad, CREE), sowie eine Abgabe an SENA (2% auf den Gesamtbetrag der Gehaltskosten; BIBB, 2018d; Schuchard, 2015). Durch diese Steuer wird SENA zum Großteil finanziert; zusätzlich erhält SENA finanzielle Mittel von der Regierung. SENA verfügt über 33 regionale Büros, 116 Ausbildungszentren (centros de formación), die landesweit verteilt sind, sowie über 18.000 Lehr- und 3.800 Verwaltungskräfte (SENA, 2018). Die Zuständigkeit von SENA erstreckt sich von der Erstellung der Ausbildungsprogramme über die Zulassung und Zertifizierung von Ausbildungsgängen und -betrieben bis hin zur Beratung von Auszubildenden und Unternehmen (Kammann, 2012). Im Jahr 2015 wurden 465 verschiedene Berufsbildungsprogramme von SENA angeboten, darunter 285 technisch und 180 technologisch orientierte Programme (SENA, 2016). Dabei wurden die Trainings durch folgende Sektoren nachgefragt (ebd.): Dienstleistungen (35%), Industrie (11%), Landwirtschaft (9%),

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127

Sonstiges (Gesundheit, Elektrizität, Bausektor, Tourismus, Textil, Transport; 29%), Bildung (2%). 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Neben dem Grundrecht auf Bildung, das seit 1991 in der Verfassung verankert ist, wurde die normative Grundausrichtung für die Entwicklung beruflicher Bildung anhand der Empfehlung 057 der ILO (International Labour Organisation) im Jahr 1939 geschaffen. Im Jahr 1974 wurde das Gesetz Ley 28 verabschiedet, das die Dezentralisierung der Bildungsverwaltung ermöglichte. Das Gesetz Ley 43 von 1975 regelt die Verstaatlichung der Primar- und Sekundarstufe (IW, 2018). Auf Grundlage dieser beiden Gesetze wurde durch das Dekret 88 aus dem Jahr 1976 die Organisation und Grundkonzeption der Bildungsstufen des kolumbianischen Bildungssystems geregelt (ebd.). Ausdifferenziert wurde diese mit der Verabschiedung des Bildungsgesetzes 1994. Seitdem besteht die Bildungsstruktur wie sie heute vorzufinden ist. Durch die dezentrale Organisation sind neben dem nationalen Bildungsministerium (Ministerio de Educación Nacional, MEN) auch regionale Bildungsbehörden an der Konzeption und Umsetzung von Strategien beteiligt (Schuchard, 2015). Eine gesetzliche Grundlage speziell für die berufliche Bildung gibt es derzeit in Kolumbien nicht. Jedoch regelt Dekret 933 aus 2003 die Ausgestaltung von Ausbildungsverträgen (UNESCO-UNEVOC, 2013). Im Gesetz Ley 749 aus dem Jahr 2002 sind Regelungen für die Angebote im Tertiärbereich für die Modalitäten der technischen und technologischen Ausbildung festgelegt. Damit soll die Durchlässigkeit des Bildungssystems erhöht werden. Insbesondere die technische berufliche Bildung besteht demnach aus propädeutischen Zyklen, sodass die Möglichkeit besteht, während der gesamten Schul- und Ausbildungsdauer an diesen teilzunehmen (UNESCO, 2017). Damit sollen Übergänge in andere Bildungsangebote ermöglicht werden.

128

Susanne Peters und Waldemar Bauer

Die gesetzlichen Grundlagen für SENA sind im Ley 119 von 1994 festgelegt. Im Gesetzeswerk wird die Art (öffentliche nationale Einrichtung und juristische Person) der Organisation definiert, die dem Ministerium für Arbeit (und Soziales) zugeordnet ist, aber einen eigenen unabhängigen Haushalt sowie eine autonome Verwaltung besitzt. Ferner werden die Ziele, Aufgaben und Funktionen sowie der Organisationsaufbau von SENA beschrieben. Schwerpunkt sind die Angebote in der beruflichen Bildung für den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus soll SENA sich an der Forschung und (technologischen) Entwicklung beteiligen sowie internationale Kooperationen (insbesondere innerhalb Lateinamerikas) pflegen. Das Kooperationsabkommen zwischen dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem SENA wurde 2016 für weitere vier Jahre verlängert und beinhaltet als Schwerpunkt unter anderem die Unterstützung beim Aufbau eines rechtlichen Rahmens für die kolumbianische duale Ausbildung (BIBB, 2018b). Überdies legt der „SENA-Strategieplan 2015-2018“ die Verankerung eines kolumbianischen Modells dualer Ausbildung auf nationaler Ebene mit Unterstützung des BIBB fest. Beteiligte Akteure in der beruflichen Bildung haben in den Gesprächen innerhalb der Sondierungsreise eine gesetzliche Regelung des dualen Systems für Kolumbien angeregt. 2.2.2 Verantwortlichkeiten Das MEN legt die allgemeinen Richtlinien für die Bildungspolitik fest. Darüber hinaus ist es für die Zulassung und Qualitätskontrolle der Bildungseinrichtungen zuständig (DAAD, 2017). Die Hauptziele des Bildungsministeriums lauten (Schuchard, 2015): • Schaffung eines Angebotes sehr guter vorschulischer Bildung, • Verbesserung von Bildungsqualität auf allen Bildungsniveaus, • Optimierung der Infrastruktur in ländlichen Gebieten und • Nachhaltigkeit in der Bildung und Einbezug von Innovation.

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Das nationale Arbeitsministerium (Ministerio de Trabajo; MINTRABAJO) hingegen ist zuständig für arbeitsmarktpolitische sowie arbeitsrechtliche Regelungen, wie etwa die Ausgestaltung der Arbeitsverträge zwischen Auszubildenden und Unternehmen. So wurde 2003 die Bezahlung des gesetzlichen Mindestlohns für Auszubildende und Praktikanten eingeführt (SENA, 2016). Der SENA liegt, als verantwortliche Institution für die berufliche Bildung für die Arbeitswelt, im Zuständigkeitsbereich des MINTRABAJO. Die öffentlichen Bildungseinrichtungen im formalen Bildungssystem und somit die beruflichen Schulen oder Institute im Sekundar- und Tertiärbereich gehören jedoch zur Zuständigkeit des Bildungsministeriums (Kammann, 2012). Die Regierung ist verantwortlich für die Regulierung zwischen Angebot von und Nachfrage nach beruflicher Bildung. Gleichzeitig sind ausführende Organe dieses Regierungsvorhabens das Bildungsministerium, das Arbeitsministerium, das Ministerium für Handel, Industrie und Tourismus, die nationale Planungsbehörde DNP sowie die Verwaltungsbehörde für Wissenschaft, Technologie und Innovation (Colciencias, Wissenschaftsund Forschungsförderorganisation). Die Anbieter beruflicher Bildung sind sowohl private als auch staatliche Einrichtungen. Sie befinden sich jeweils in konstantem Austausch mit SENA, um einerseits flächendeckende Angebote, andererseits die Aktualität, die Evaluation und die Akkreditierung von Programmen zu gewährleisten (SENA, 2016). Während die Angebote durch Berufsbildungsinstitute, Universitäten und den SENA gemacht werden, kommt die Nachfrage nach beruflicher Bildung in erster Linie von Jugendlichen, Beschäftigten und Unternehmen. Letztere werden in drei Gruppen unterteilt (SENA, 2016, S. 18): • Einzelunternehmen, die spezielle Fortbildung für ihr eigenes Personal nachfragen; • Gruppen von Unternehmen, die spezielle Fortbildungen für Mitarbeiter verschiedener Unternehmen aber gleicher Sektoren/Produktionsbereichen nachfragen; • Verbände, die kontinuierlich bestimmte Ausbildungen nachfragen.

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Zusätzlich zu den genannten Gruppen gibt es weitere Akteure, die für die Berufsbildung relevant sind (ebd.). Dazu gehören zum einen Arbeitgeberverbände wie der nationale Verband der Arbeitgeber in Kolumbien (Asociación Nacional de Empresarios de Colombia, ANDI) oder der nationale Arbeitgeberverband des Handels (Federación Nacional de Comerciantes de Colombia, FENALCO), der Rat für private Wettbewerbsfähigkeit und die vom SENA organisierten Sektorgruppen, an denen Arbeitgeber für die Ermittlung des Ausbildungsbedarfs teilnehmen. Zum anderen tragen Kooperationen mit internationalen Partnern, wie dem BIBB, maßgeblich zur Entwicklung der Berufsbildung bei. Weiterhin gibt es Organisationen, die für die Bewertung und Akkreditierung der Ausbildung zuständig sind. Diese sind das kolumbianische Institut für technische Normen und Zertifizierung (Instituto Colombiano de Normas Técnicas y Certificación, ICONTEC) sowie die nationale Akkreditierungsagentur Kolumbien CNA. Seit 2004 (Dekret 249; El Presidente de la República de Colombia, 2004) wird SENA vom Consejo Directivo Nacional, dem nationalen Leitungsrat für Berufsbildung gesteuert. Mitglieder des Rates sind u. a. die Leitung des SENA, die Minister (oder Vizeminister) von drei Ministerien (Bildung, Arbeit sowie Handel und Industrie), die Vorsitzenden von nationalen Arbeitgeberverbänden (Industrie, Handel, Landwirtschaft sowie KMU), Arbeitnehmervertretungen (2 Gewerkschaften), ein Vertreter der Bischofskonferenz sowie ein Wissenschaftsvertreter von Colciencias (BIBB, 2018c). Aufgabe des Rates sind u. a. die Bestimmung der Politik und Strategie von SENA, Evaluierung und Kontrolle des SENA-Angebotes, Vereinbarung zu Richtlinien und Regeln (z. B. Ausbildungsverträge) sowie die formale Anerkennung verschiedener Instrumente und Dokumente (u. a. Kompetenzstandards und Titel der Berufe). Die bedeutsame Rolle des SENA wird auch quantitativ deutlich: Im Jahr 2014 gab es 415.860 Auszubildende bei SENA, das entspricht 60,2% aller Berufsbildungsteilnehmer in Kolumbien. SENA dominiert somit den Bereich der beruflichen Bildung in Kolumbien und verfügt über ein Monopol. Die 40% der Auszubildenden, die außerhalb von SENA an beruflicher Bildung teilnehmen, werden zum Teil statistisch nicht erfasst. Experten gehen

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davon aus, dass ca. 80% der unter 18-jährigen im informellen Sektor arbeiten (Schuchard, 2015; siehe auch Kapitel 2.2). 2.2.3 Akteure Die Akteure Staat, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Sektorgruppen werden im Folgenden als wichtigste Akteure der beruflichen Bildung erläutert. Staat: Der kolumbianische Staat steuert auf drei Ebenen die berufliche Aus- und Weiterbildung (Schuchard, 2015). Zum einen finanziert er unmittelbar öffentliche Bildungseinrichtungen der Sekundar- und Tertiärbildung. Des Weiteren werden Subventionen und Kredite für technische und technologische Studiengänge vergeben und öffentlich-private Ausbildungsprogramme finanziert. Schließlich obliegt dem Staat die Aufsicht über die berufliche Bildung. Für die Formulierung und Umsetzung von Gesetzen ist innerhalb des nationalen Bildungsministeriums für die Allgemeinbildung die Abteilung für vorschulische Erziehung, Grund- und Sekundarbildung zuständig, für den Tertiärbereich ist die Abteilung für Hochschulbildung zuständig (Schuchard, 2015). Die Zuständigkeit regionaler Bildungsbehörden setzt ab einer Einwohnerzahl von 100.000 Personen je Territorialeinheit ein. Sodann sind Bildungssekretariate eigenständig für die Ausgestaltung der Bildungsprogramme und Lehrpläne (z.B. Stundenzahl der Unterrichtsfächer) verantwortlich. 2008 standen 80 zertifizierte Territorialeinheiten 1.071 nicht zertifizierten Einheiten (unter 100.000 Einwohner) gegenüber (ebd.). Privatwirtschaftliche Unternehmen kennen keine Verzahnung von Theorie- und Praxislernen, denn die Ausbildung ist zweigeteilt: Die Programme des SENA sind so gestaltet, dass auf eine lange Theoriephase beim SENA eine separate Praxisphase innerhalb eines Unternehmens folgt. Die Praxisphase ist jedoch eher als „Training on the Job“ oder als Praktikum zu werten, nicht aber als integraler Bestandteil der Berufsbildung (Schuchart, 2015). Die Bereitschaft von Arbeitgebern zur Investition in Aus- und Weiterbildung wird als verhältnismäßig gering bewertet (Schuchard, 2015; be-

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zogen auf den technischen Bereich: Voigt & Amado, 2017). Wenn Unternehmen sich im Bereich der Ausbildung engagieren, nutzen sie die Netzwerke von SENA oder die wenigen, aber gut funktionierenden Dualen Hochschulen (DAAD, 2017). Kolumbien hat einen äußerst niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, Schätzungen ergeben Werte zwischen 3% und 10% der Erwerbstätigen (zum Vergleich: In Deutschland sind es ca. 20%, Stand 2017; Endres, 2013; Bottländer, 2013). Gewerkschaften haben hier nie gesellschaftliche Anerkennung oder politischen Einfluss erringen können (Bottländer, 2013). Im weltweiten statistischen Vergleich ist Kolumbien das gefährlichste Land für gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (Bottländer, 2013, S. 79; IG Metall, 2010; Endres, 2013). So berichten Valencia und Ospina in ihrer Veröffentlichung Sindicalismo Asesinado („Ermordete Gewerkschaftsbewegung“) davon, dass einst Gewerkschafter an der Seite der Guerilla kämpften – dies führe möglicherweise dazu, dass auch heutzutage Gewerkschafsvertreter keinen guten Ruf genössen (Valencia & Ospina, 2012). Aufgrund dieser Zusammenhänge spielen Gewerkschaften auch im Zusammenhang mit der beruflichen Bildung keine große Rolle. Sogenannte Sektorgruppen (runde Tische bzw. mesas redondas), die am Prozess der Curriculumentwicklung beteiligt sind, werden von SENA organisiert. Hier werden die Normas de Competencias Laborales (Kompetenzstandards für die Arbeit) entwickelt. Arbeitgeber sowie Arbeitnehmervertreter sind hier beteiligt: Mit dem Fachpersonal aus den Betrieben sollen die (u.a. technologischen) Veränderungen und ihre Konsequenzen für die bestehenden Angebote beruflicher Bildung entwickelt werden (Wallenborn, 2001). Regionale sowie überregionale Bedarfe und somit benötigte Kompetenzen und Fertigkeiten für spezifische Sektoren werden von Arbeitgebern und Vertretern von Arbeitgeberverbänden, Nichtregierungsvertretern und Regierungsvertretern eruiert (UNESCO, 2017). Da die Sektorgruppen nicht regelmäßig tagen, ist ihr tatsächliche Einfluss jedoch limitiert.

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2.3

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Problemstellung, Lösungsansätze und Projektinitiativen

In den geführten Interviews haben Berufsbildungsakteure die gegenwärtige berufliche Bildung in Kolumbien als wenig bedarfsorientiert bewertet und gefordert, die Interessen der Wirtschaft stärker zu berücksichtigen. Beispielsweise wurde ein erheblicher Bedarf im Bausektor festgestellt. Ähnliche Aussagen gab es von Vertretern aus dem Energiesektor (insbes. erneuerbare Energien). Manche Kritik bezog sich jedoch auf die berufliche Bildung im Tertiärbereich. Demnach seien Ingenieure in Kolumbien nicht genügend auf eine Ingenieurtätigkeit vorbereitet. Neben der Bedarfsorientierung wurde weiterhin die mangelnde Qualität der Berufsbildung kritisch betrachtet und als ein Kernproblem identifiziert: „Even in the 21st century […] the old issues of access to education and the quality of instruction remain among the top challenges facing Colombia’s system of education” (IQAS, 2010, S. 11). Hier ist insbesondere das Fehlen von Ausbildungsplänen und -inhalten für betriebliches Lernen zu nennen (Schuchard, 2015). Die Qualität der Ausbildung ist somit stark vom Ausbildungsbetrieb abhängig und somit vom Einsatz und der Professionalität von betrieblichem Bildungspersonal, das selten auf eine Ausbildertätigkeit vorbereitet ist oder gar nicht erst existiert. Essenziell für ein Funktionieren von Durchlässigkeit, die mit der Vergabe einer Hochschulreife nach Abschluss der Berufsbildungsprogramme educatión formal und educación para el trabajo y el desarrollo humano angestrebt wird, sind klare, eindeutige Lernwege. Diese existieren jedoch in Kolumbien nicht, was sowohl für Schüler als auch für Arbeitgeber problematisch ist (OECD, 2016). Damit ist die Akzeptanz der Abschlüsse gering und Übergänge zur höheren Bildung nach einem beruflichen Bildungsabschluss sind kaum möglich. Zur Verbesserung der Durchlässigkeit und zur Schaffung von Kohärenz im gesamten Bildungssystem arbeitet SENA derzeit an der Entwicklung eines kolumbianischen Nationalen Qualifikationsrahmens (Pacheco, 2017). Damit gehen die Entwicklungen eines Systems zur Transferierbarkeit und Akkumulation akademischer Credits sowie eines nationalen Systems zur Sicherung der Qualität in der Bildung einher (ebd.).

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Ein weiteres Problem ist das Stadt-Land-Gefälle bzw. die regional ungleich verteilte Bildungsinfrastruktur. Ärmere Gemeinden verfügen oftmals nicht über die notwendigen Lehrkräfte und Kinder und Jugendliche haben nicht den gleichen Zugang zu Bildungsangeboten, was zu Chancenungleichheit führt (Mora, 2015). Genauso gilt dies im Bereich beruflicher Bildung, da die Bildungszentren des SENA regional ungleich verteilt sind (SENA, 2016). Weitere Problemstellungen sind die Qualität der Lehrerbildung und die Rekrutierungsmechanismen. SENA verfügt über ein Zentrum für die Ausbildung von SENA-Ausbildern. Beim überwiegenden Anteil der Ausbilder bei SENA handelt sich um eigene Absolventen oder Fachexperten ohne pädagogische Expertise oder Hochschulabschluss. SENA möchte sowohl Ausbilder als auch Lehrer mit Leitungsfunktion weiterbilden. Es besteht das Interesse, ein Hochschulprogramm zur Weiterbildung von Lehrern mit Koordinations- und Leitungsfunktion mit den Schwerpunkten „Diversität“ und „Bildungsmanagement“ zu initiieren. Der Aspekt der Schulung von Ausbilder des SENA rückt in den Fokus, da jetzt auch betriebliche Ausbilder aus den Unternehmen in der Escuela Nacional de Instructores (ENI) des SENA ausgebildet werden (BIBB, 2018c). Insgesamt wird von den Gesprächspartnern konstatiert, dass die Professionalisierung des Berufsbildungspersonals ein wichtiges Handlungsfeld darstellt. Ein zunehmend bedeutsam werdendes Feld beruflicher Ausbildung entsteht im Bereich der Hochschulen48. Einige Universitäten wie die private Pontificia Universidad Javeriana haben begonnen, berufsbildende Kurse im Segment tecnólogo und especialización tecnologia (höhere Berufsbildung) in ihr Portfolio aufzunehmen. Die Durchlässigkeit von den beruflichen SENA-Kursen zur Hochschulbildung ist als schwierig einzuschätzen, da die Wertigkeit der SENA-Zertifikate unklar ist. Viele Universitäten erkennen die Abschlüsse nicht an. Durch diese neuen Angebote an höheren

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Hier sind nicht Angebote im Bereich „dual studies“ gemeint.

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Bildungseinrichtungen werden zwar neue Bildungsmöglichkeiten geschaffen, aber es entstehen konkurrierende Angebote in einem nicht abgestimmten und durchlässigen System. Im Februar 2012 wurde ein Forschungszentrum bei SENA, das SENNOVA, eröffnet. Ein erster Datenreport wurde bereits veröffentlicht (SENA, 2016). Im Bericht wird aufgeführt, dass Forschungsgruppen in Kooperation mit sogenannten Technologieparks als Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis fungieren, um Technologie und Innovation wissenschaftsbasiert voranzutreiben (ebd., S. 58). SENA (SENNOVA) hat generell ein Interesse, internationale Kooperation in der Berufsbildungsforschung auszweiten. Dualisierte Berufsbildungsansätze Im Jahr 2016 waren in Kolumbien nur acht Unternehmen am Programm formación dual von SENA beteiligt. Sie gehören den Sektoren der Landwirtschaft, Textil, Kfz und Dienstleistung an (SENA, 2016). Seit Beginn des Programms in 2013/2014 nahmen 937 Auszubildende teil, 508 schlossen die Ausbildung ab und 305 fanden unverzüglich nach Beendigung des Programms eine direkte Anstellung (ebd.). Neben der geringen Beteiligung seitens der Unternehmen49 erschwert das Stadt-Land-Gefälle die Einführung dualer Modelle, beispielsweise fanden 90% der erfolgreich durchgeführten dualen Ausbildungsgänge in Bogotá statt, nur 10% im ländlichen Raum. Insgesamt ist es auch problematisch, dass die beteiligten Unternehmen bereit sein müssten, Investitionen (sowohl in Sachmittel und Ausstattung als auch in Personal) durchzuführen. Diese Bereitschaft ist derzeit kaum gegeben. Des Weiteren ist das Risiko des Poaching (Abwerben von qualifizierten Mitarbeitern) hoch und stellt ein weiteres Hemmnis dar. Ein

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Aus deutscher Sicht ist die Beteiligung der Unternehmen sehr gering. Jedoch berichtet SENA im Datenreport zur Berufsbildung 2016 von „positive results and a great accaptance by companies“ in Bezug auf das Programm formación dual (SENA, 2016, S. 66). Die acht teilnehmenden Unternehmen werden so möglicherweise als Erfolg verbucht.

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fehlender gesetzlicher Rahmen in Form eines Berufsbildungsgesetzes gehört ebenfalls zu den Hindernissen. Ohne die gesetzlichen Rahmenbedingungen besteht die Gefahr, dass Unternehmen Auszubildende als billige Arbeitskräfte missbrauchen (SENA, 2016). Das duale Modell Kolumbiens bedient sich einiger Elemente, die aus dem deutschen Kontext bekannt sind, jedoch wurde einiges an die Bedürfnisse angepasst. Dazu gehört ein sogenannter Mitausbilder für Unternehmen, den SENA bereitstellt. Des Weiteren wird in Kolumbien im dualen Modell von vornherein nur mit großen Unternehmen zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass diese in der Lage sind, über Ressourcen für Ausbilder sowie über Lernorte (z.B. Lehrwerkstätten) zu verfügen (BIBB, 2018c). Der Koordinator für die duale Ausbildung bei SENA führt aus (BIBB, 2018c), dass die duale Ausbildung auch flächendeckend auf der Stufe der tecnólogos eingeführt werden sollte. Die Gesetzgebung ist in Kolumbien sehr starr, daran sollte gearbeitet werden, um die duale Ausbildung auch auf der Stufe der tecnólogos umzusetzen. Projektinitiativen mit Beteiligung deutscher Akteure Seit 2007 wird vom DAAD u.a. ein Studienprogramm für junge kolumbianische Ingenieure, die in Deutschland ein Auslandssemester, ein Unternehmenspraktikum und einen Sprachkurs absolvieren möchten, angeboten. Dabei erhalten Stipendiaten und Beihilfen für Lebenshaltungskoten, Versicherungen, Studiengebühren und Reisekosten (Schuchard, 2015). Von der Außenhandelskammer Kolumbien wird seit 1999 das Projekt „Duale Hochschule Lateinamerika“ gefördert. In Kolumbien sowie Mexiko, Peru und Ecuador arbeiten 9 Universitäten und mehr als 1.000 Unternehmen zusammen, um eine duale Ausbildung mit Praxisanteilen auf Hochschulebene durchzuführen (Duale Hochschule Latinoamérica, 2018). Die Fokussierung der AHK Kolumbien auf die duale Bildung im Hochschulbereich ist vor dem Hintergrund verständlich, dass mit SENA bereits eine staatliche Einrichtung existiert, die für den Aufbau und die Weiterentwick-

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lung der beruflichen (dualen) Bildung zuständig ist. Eine weitere Projektinitiative zeigt jedoch, dass vereinzelt konkrete Projekte zur Förderung dualer Ausbildung initiiert werden (AHK, 2017): Ergebnis des Forums der AHK und der Konrad-Adenauer-Stiftung „Die Zukunft des dualen Trainings in Kolumbien“ im Jahr 2015 in Medellín war, ein duales Ausbildungsinstitut in der Hauptstadt des Departamentos Nariño, San Juan de Pasto, zu eröffnen. Die Kammer in Pasto übernahm für zwei Jahre die Kosten für einen deutschen Experten des Senior Expert Services, der seine Kollegen in Pasto bei der Planung und Umsetzung des dualen Ausbildungsmodus‘ beriet. So eröffnete die Handelskammer von Pasto im August 2017 das Business Training Institute (Instituto de Formación Empresarial, IFE), das seitdem eine duale Ausbildung im Bereich Tourismus anbietet. Die bereits oben erwähnte institutionelle Kooperation zwischen dem BIBB und dem SENA, die seit 2011 besteht, arbeitet weniger mit konkreten Projekten zur Umsetzung dualer Berufsbildung. Vielmehr bilden die Themen Monitoring sowie Forschung und wissenschaftliche Begleitung die Schwerpunkte der Kooperation. Die Stiftung FunCyTCA, eine deutsch-kolumbianische Stiftung für Wissenschaft und Technologie, verbindet deutsche, namhafte Unternehmen mit kolumbianischen Partnern, z. B. mit dem SENA und den Universitäten (FunCyTCA, 2018). Es gibt auch deutsche Unternehmen, die direkt eine duale Ausbildung anbieten. Zum Beispiel bilden Festo Didactic und andere Akteure der beruflichen Aus- und Weiterbildung wie Sunset Energietechnik GmbH, SLV Mannheim GmbH, TÜV Rheinland oder Otto Bock Healthcare GmbH in Kolumbien aus und auch deutsche Konzerne wie Siemens und Bosch bieten duale Ausbildungen an (BIBB, 2018c). Allen ist gemein, dass der Theorieunterricht in den Bildungszentren des SENA stattfindet. Somit ist SENA der einzige „schulische“ Lernort in diesem dualen Modell. Eine der größten Herausforderungen wird von Experten in der Durchlässigkeit und somit in der Abstimmung zwischen Subsystemen und in der Gestaltung von Übergängen innerhalb des Bildungssystems gesehen (z. B.

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OECD, 2016). Inwieweit ein Nationaler Qualifikationsrahmen bei der Behebung und Verbesserung dieser Problematiken hilfreich ist, wird sich zeigen. Hohe Abbrecherquoten weisen ebenso auf den Bedarf struktureller Veränderungen innerhalb des (Berufs-) Bildungssystems hin. Hinzu kommt, dass die Qualität der Bildung stark divergiert und insgesamt als unzureichend bezeichnet werden kann; dies erscheint besonders vor dem Hintergrund des branchenübergreifenden Fachkräftemangels relevant. Weiteren Bedarf sieht die kolumbianische Politik in der Institutionalisierung des dualen Modells. Besonders ist hier auf die geringe Beteiligung von Unternehmen hinzuweisen. Damit einher geht die engere Kopplung (dualer) beruflicher Bildung an Betriebe. Die Beteiligung an der dualen Ausbildung seitens der Betriebe (acht Unternehmen in 2016) weist auch auf eine im Kreise von KMU sowohl nicht bekannte als auch nicht anerkannte Struktur der beruflichen Bildung hin, obwohl diese Unternehmen ausgesprochenen Bedarf an qualifiziertem Personal aufweisen. Die von SENA angestrebte Fokussierung auf Großunternehmen zur Etablierung dualer Bildung ist verständlich, könnte jedoch strategisch überdacht werden. Ferner werden positive Auswirkungen auf die Jugendarbeitslosigkeit, die eine große arbeitsmarktpolitische Herausforderung darstellt, durch eine weitere Etablierung des dualen Modells erhofft. Des Weiteren wird im Bereich neuer Technologien, z. B. im Feld der erneuerbaren Energien, ein großer Bedarf festgemacht, unter anderem auch an komplett neuen Berufsbildern. Generell verfügt die berufliche Bildung nicht über eine positive Reputation, darum ist eine Imageverbesserung, gerade im Vergleich zur Hochschulbildung, anzustreben (BIBB, 2018d). Berufliche Bildung kann auch dazu dienen, gesellschaftliche Unterschiede anzugleichen und könnte in Kolumbien zur Bewältigung des Postkonflikts beitragen.

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Herausforderungen

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Im Feld der beruflichen Bildung bestehen einige Organe, in denen Vertreter staatlicher Institutionen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenarbeiten. Beispiele hierzu sind auf politisch-strategischer Ebene der Consejo Directivo Nacional des SENA oder auf programmatisch-curricularer Ebene die sektoralen Arbeitsgruppen. Die Qualität und Realität dieser Zusammenarbeit können jedoch nicht beurteilt werden. Generell kann in diesem Zusammenhang jedoch auf die Bewältigung des Postkonflikts hingewiesen werden. Der Befriedungsprozess dominiert im Moment die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen. Insofern ist dieser Aspekt für die Entwicklung des Landes bedeutsam. Die berufliche Bildung kann hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Durch Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen kann eine Reintegration ehemaliger Guerillas gefördert werden. Der SENA könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen: „Sena sollte nicht nur diejenigen ausbilden, die an Ausbildungsprozessen teilnehmen wollen, sondern auch die vom Konflikt marginalisierten Kolumbianer, die nicht an Hochschulen ausgebildet werden. Dort müssen wir Angebote für den produktiven Sektor schaffen, um die Nachhaltigkeit dieser sozialen Investition zu gewährleisten“ (Alfonso Prada, Direktor von SENA, 22. Oktober 2015, El Tiempo).50 So könnten Programme vergleichbar mit „Jobstarter“ in Deutschland initiiert werden. Lernen im Arbeitsprozess Lernen im Arbeitsprozess gilt allgemein als Kernbestandteil einer guten beruflichen Bildung. In Kolumbien existieren verschiedene Berufsbildungsmodalitäten, sodass solche Lernkonzepte differenziert betrachtet werden sollten. Die Techniker und Technologen-Programme sowie alle Programme bei SENA sehen eine (betriebliche) Praxisphase vor, in denen 50

Eigene Übersetzung aus dem Spanischen.

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in authentischen Kontexten Kompetenzen für die Arbeitswelt erworben werden sollen. Die Dauer hängt vom spezifischen Beruf und Programm ab. Bei einem zweijährigen Technologenprogramm ist in der Regel ein Praxisanteil von sechs Monaten vorgesehen. Auch bei einem einjährigen Technikerprogramm kann der praktische Anteil sechs Monate betragen. Die Qualität der Praxisphasen hängt entscheidend von den Akteuren der Bildungsinstitutionen ab. Die Praxisphasen organisieren die Berufsbildungseinrichtungen bzw. die betreuenden Lehrkräfte in der Regel selbst. Es wird vermutet, dass die Qualität der Praxis und deren Relevanzzuschreibung vom Typus der Berufsbildungseinrichtung abhängen. In den staatlichen Einrichtungen handeln Lehrkräfte tendenziell aus einem akademischen Antrieb, so dass der Stellenwert der Praxis in den Technik- und Technologenausbildung nicht immer angemessen ist. Die traditionelle Ausbildung bei SENA setzt sich aus einer theoretischen und einer praktischen Komponente zusammen. Traditionell finden die Praxisphasen in den SENA Bildungseinrichtungen statt, die von den SENAAusbildern selbst durchgeführt werden. SENA bzw. die Ausbilder haben die Aufgabe, den direkten Kontakt mit Betrieben zu pflegen und den sinnvollen Einsatz der Auszubildenden zu organisieren. Eine spezifische Betreuung von betrieblichem Lernen findet kaum oder nur in größeren Unternehmen statt. Die Konzepte und Qualität dieser Phasen lassen sich aufgrund fehlender systematischer Evaluationen kaum bewerten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ein Handlungsbedarf hinsichtlich der Qualitätsverbesserung der betrieblichen Praxisphasen besteht. In Bezug auf die Erprobung dualer Ansätze stellt sich ein weitreichender Bedarf. Auf politischer Ebene wird die Einführung eines dualen Systems befürwortet und der Wunsch nach einer Regelung für ein duales System geäußert. Jedoch beteiligten sich am Programm in 2016 nur acht Unternehmen (SENA, 2016). Aus Sicht des SENA stellt die Einbeziehung der Unternehmen in den Ausbildungsprozess die größte Herausforderung für das kolumbianische Berufsbildungssystem dar (SENA, 2018). Ferner besteht ein großer Bedarf in der systematischen Organisation, Planung und Bewer-

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tung des betrieblichen Lernens. So existieren keine spezifischen betrieblichen Ausbildungspläne, die meisten Unternehmen verfügen nicht über spezialisiertes Bildungspersonal. Für die Etablierung eines dualen Systems bestehen somit vielfältige Herausforderungen, wie die Gewinnung von Ausbildungsbetrieben, der Aufbau von Strukturen, eine Imageverbesserung dualer Ausbildung in der Öffentlichkeit, die Einführung von betrieblichen Ausbildungsplänen, die Bereitstellung und Schulung von betrieblichen Ausbildern und die Klärung der Prüfungs- und Zertifizierungsmodalitäten. Folgende Ideen können aus der Analyse für dieses Kernelement dualer Ausbildungsmodelle abgeleitet werden: • Unterstützung des SENA (oder anderen Berufsbildungseinrichtungen) bei der weiteren Ausgestaltung des dualen Modells, insbesondere Maßnahmen zur Gewinnung von Ausbildungsbetrieben, Imagekampagnen und Informationsmaterialien; • Analysen von Bedarfen und Trends in Sektoren und Unternehmen (Sektorstudien, Fachkräfte- und Qualifikationsbedarf); • Durchführung von Projekten zur Konzeptualisierung und Systematisierung der betrieblichen Ausbildung; • Entwicklung von betrieblichen Ausbildungsplänen und Lehr- und Lernmaterialien. Akzeptanz von nationalen Standards Für die Modalität „berufliche Bildung für die Arbeit“ [educación para el trabajo y el desarrollo humano] existieren sog. Normas de Competencias Laborales (NCL) oder Normas Sectoriales de Competencias Laborales (NSCL). Diese werden für den SENA durch sektorale Arbeitsgruppen, in denen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter beteiligt sind, entwickelt. Die Sektorgruppen sind seit Ende der 1990er Jahren fest installierte Arbeitsgruppen bzw. runde Tische. Sie sind auch Diskussionsforen zwischen Wirtschaft und Berufsbildungseinrichtungen. Methodisch basiert die Entwicklung der Standards auf dem Konzept der Funktionsanalysen aus dem

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Vereinigten Königreich. In den Standards werden Funktionen, Handlungen, Wissen und Kompetenzen, Anwendungsfelder und Bewertungskriterien aufgeführt. Ferner wird ein Bezug zum kolumbianischen Klassifikationssystem der Berufe CNO [Clasificación Nacional de Ocupaciones] hergestellt. Die Standards werden in einem nationalen Verzeichnis geführt. Dieser nationale Standard muss bei der Curriculumentwicklung berücksichtigt werden und bildet auch die Basis der Zertifizierung bei SENA. Die Akzeptanz von Zertifikaten des SENA wird grundsätzlich auf dem Arbeitsmarkt als gut bewertet, doch werden die Abschlüsse, insbesondere im tertiären Bildungssektor, nicht allgemein akzeptiert. Im Moment entwickelt SENA exemplarisch einen NQF mit Bezug zu diesen NCL. Damit ist die Hoffnung verbunden, eine bessere Transparenz zu schaffen und vor allem die Durchlässigkeit im System zu verbessern. Hinsichtlich der Akzeptanz von nationalen Standards kann resümiert werden, dass einerseits ein etabliertes Verfahren und institutionalisierte Gruppen bei SENA seit vielen Jahren bestehen. Andererseits gibt es kein kohärentes nationales System, in dem alle Akteure aus Staat, Bildung und Wirtschaft zusammenwirken und die verschiedenen Qualifikationen und Abschlüsse wechselseitig anerkannt werden. Daraus lässt sich der Bedarf nach einer Weiterentwicklung des Systems nationaler Ausbildungs- und Bildungsstandards ableiten sowie die Schaffung eines durchlässigen (Berufs-) Bildungssystems. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Die Ausbildung und Professionalisierung des Berufsbildungspersonals wurden von den Gesprächspartnern als ein wichtiges Handlungsfeld genannt. Wie auch in anderen Systemen der Region ist in Kolumbien zwischen den Lehrern oder Dozenten in staatlichen Schulen oder höheren Bildungseinrichtungen (IES) und den Ausbildern bei SENA zu unterscheiden, deren Situationen und formalen Qualifikationen verschieden sind. Während in staatlichen Schulen oder höheren Bildungseinrichtungen und in der höheren Bildung formale Qualifikationsanforderungen, in der Regel ein akademischer Abschluss (licenciatura), bestehen, hat der überwiegende

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Anteil der Lehrer oder Ausbilder bei SENA keinen Hochschulabschluss. Allerdings gibt es für den ersten Lehrertypus in den staatlichen Schulen keine berufsspezifischen Ausbildungs- bzw. Studienprogramme, so dass sich die Frage der angemessenen fachlichen und fachdidaktischen Vorbereitung stellt. SENA bereitet seine Ausbilder, oft Fachexperten oder eigene Absolventen, selbst auf die Ausbildertätigkeit vor. Hierzu existiert eine eigene Einrichtung die Escuela Nacional de Instructores (ENI), Rodolfo Martínez Tono. Dort werden auch verschiedene Fortbildungen angeboten. Zudem verfügt SENA sowohl über nationale als auch internationale Kooperationen mit Universitäten, in denen verschiedene, meist pädagogische oder fachliche Maßnahmen angeboten werden. Darüber hinaus besteht bei SENA Interesse daran, das Leitungspersonal der Ausbildungseinrichtungen formal weiter zu qualifizieren. SENA möchte eine hochschulische Weiterbildung seiner Lehrer mit Koordinations- und Leitungsfunktion mit den Schwerpunkten „Diversität“ und „Bildungsmanagement“ auf Master-Niveau. In diesem Bereich bietet sich eine Kooperation zwischen deutschen Universitäten und dem SENA an. Dies erfordert die Entwicklung eines entsprechenden Masterprogramms. SENA beabsichtigt, ein standardisiertes Fortbildungsprogramm für seine Ausbilder einzuführen, das alle Lehrkräfte durchlaufen sollen. Diese Fortbildung ist auf berufspädagogische und fachdidaktische Themen fokussiert. Insbesondere sollen neue Lernkonzepte, arbeits- und kompetenzorientierte Lernkonzepte und das Lernen mit digitalen Medien behandelt werden. Es könnte also sinnvoll sein, dass deutsche Berufsbildungsdienstleister Fortbildungsmaßnahmen im Bereich neuer Lernkonzepte und digitaler Medien für SENA entwickeln und durchführen. Zusätzlich können in didaktisch-fokussierten Projekten in den verschiedenen Berufsbildungseinrichtungen solche Lernkonzepte erprobt und evaluiert werden. Im Hinblick auf die Bemühung, ein duales Modell einzuführen, ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf für das betriebliche Bildungspersonal. Ein duales Modell benötigt eine systematische betriebliche Ausbildung und somit be-

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triebliche Ausbilder. Die Einstellung von Ausbilder in Betrieben wird aufgrund anderer Unternehmenskulturen und Traditionen die größte Herausforderung für kolumbianische Betriebe sein. Im Moment wird vermutlich deshalb das duale Modell in Kolumbien nur mit großen Unternehmen erprobt. Diese verfügen über Ausbilder und auch zusätzliche Lernorte wie Ausbildungswerkstätten. Wie oben bereits angemerkt, könnte SENA (oder andere Berufsbildungseinrichtungen) und die kolumbianische Wirtschaft eine externe Unterstützung bei der weiteren Ausgestaltung des dualen Modells befürworten. In diesem Handlungsfeld werden deshalb die Entwicklung der Strukturen von betrieblichen Ausbildern (Standard, Profil usw.) sowie Programme der Ausbildung von Ausbilder angeregt. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Die Berufsbildungsforschung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist in Kolumbien wenig entwickelt. Prinzipiell führen die höheren Bildungseinrichtungen IES selbst angewandte Forschung im Bereich der Ausbildung auf Techniker- und Technologen-Niveau durch. Inwieweit in diesen Institutionen Forschung betrieben wird, lässt sich aufgrund fehlender Daten nicht beurteilen. In der Modalität „berufliche Bildung für die Arbeit“ kann dagegen von einer etablierten Forschungsorganisation gesprochen werden. SENA hat 2012 ein eigenes Forschungszentrum eingerichtet. Das SENNOVA (Sistema Nacional de Investigación, Desarrollo Tecnológico e Innovación) ist ein Zentrum der Förderung, Sichtbarmachung und Verbreitung von Forschung bzw. Erkenntnisgewinnung in der beruflichen Bildung, für angewandte Forschung, technologische Entwicklung und Innovation in SENA. SENNOVA finanziert Forschungsvorhaben und beteiligt sich an technologischen Entwicklungen (u. a. Technologieparks, Patente). Beispielhaft kann eine Ausschreibung von 2014 zur Durchführung von Projekten in der Automatisierungstechnik mit Lego genannt werden. Seit 2014 wird jährlich ein nationaler Bericht zur Berufsbildung veröffentlicht. SENNOVA veröffentlicht eine Zeitschrift (Revista SENNOVA), in welcher Vorhaben und Berichte dokumentiert und so verbreitet werden. Allerdings ist die Zahl der Ausgaben gering.

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In einem Datenreport von 2016 (SENA, 2016) werden einige Daten in diesem Kontext genannt: So gab es zum Berichtszeitpunkt 41 Innovationsprojekte, 824 abgeschlossene Projekte der Entwicklung von Prototypen, 26 größere Projekte, 114 Forschergruppen im Zusammenhang mit Technologieparks. 20 Forschergruppen sind bei SENA institutionalisiert, davon sind 8 Forschergruppen bei Colciencias, der kolumbianischen Verwaltungsbehörde für Wissenschaft, Technologie und Innovation [Departamento Administrativo de Ciencia, Tecnología e Innovación], kategorisiert. Im Zusammenhang der Forschung ist zudem die Beobachtungsstelle des SENA für Arbeit und Beschäftigung (Observatorio Laboral y Ocupacional) zu nennen. Dort werden Trendanalysen und Prognosen zur Beschäftigung und Qualifikationsentwicklung durchgeführt. Es werden Daten zu Arbeitsmarkt, Arbeitsmarkangebot, Stellenvermittlung, nationale und regionale Entwicklung von Berufen, Berufsorientierung usw. erhoben. Ganz allgemein gesprochen existiert ein gutes Potenzial für kooperative Forschungsprojekte zwischen kolumbianischen und deutschen Institutionen in der Berufsbildung. Im Bereich der Handlungs- und Anwendungsforschung bieten sich vielfältige Themen wie Erprobung neuer Lernkonzepte, Einsatz digitaler Medien usw. an. SENNOVA fördert selbst solche Maßnahmen und hat Interesse an der Erprobung innovativer Vorhaben. In der Vergleichs- und Transferforschung könnten verschiedene Dimensionen und Merkmale von Berufsbildungssystemen untersucht und international verglichen werden. Insbesondere der Wunsch der Einführung eines dualen Modells kann durch solche Studien gestützt werden. Internationale Vergleiche ermöglichen auch die Identifikation und Priorisierung von Reformbedarfen und Problemlösungsstrategien. In der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bieten sich Kooperationen bzw. Forschungsprojekte mit der Beobachtungstelle an. Hier können Themen der Früherkennung und Prognosen von Qualifikationsentwicklungen bearbeitet werden und Methoden weiterentwickelt werden und so eine bedarfsorientierte Berufsbildung gefördert werden.

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Kolumbien

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Anmerkung Der vorliegende Sondierungsbericht zu Kolumbien wurde zum einen auf Basis der im Zeitraum vom 05.10.2017 bis 06.10.2017 in Bogotá geführten Gespräche angefertigt. Die aus den Interviews gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen. Die Analyse dieser weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-) bildungspolitische Lage und Entwicklung (Abschnitte 1 und 2). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit unserer Aussagen gewährleistet. Folgenden Gespräche fanden entsprechend der Reihenfolge statt: Deutsch-Kolumbische Industrie- und Handelskammer (AHK): Roundtable mit Vertretern kolumbianischer Bildungseinrichtungen sowie Vertretern der Botschaft, organisiert von der AHK in Bogota, über 20 Personen und rund 20 Organisationen; Fundación Universitaria Empresarial de la Cámara de Comercio de Bogotá, Servicio Nacional de Aprendizaje (SENA) und ENI.

Botswana: Berufsbildungsreform und institutionelle Neuausrichtung Janis Vossiek

Abstract Im Vergleich zu vielen anderen Staaten Sub-Sahara Afrikas gilt Botswana als Musterbeispiel einer stabilen demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Seit der Unabhängigkeit wies das Land fast durchgängig hohes Wirtschaftswachstum auf und hat in dieser Zeit massiv in den Ausbau seines Bildungssystems investiert, wobei die Berufsausbildung allerdings gegenüber der Allgemein- und Hochschulbildung eine nachgeordnete Rolle einnahm. In der aktuellen Dekade sind die Reform und der Ausbau beruflicher Bildung allerdings zu einer politischen Priorität geworden, die im Kontext von Plänen der wirtschaftlichen Diversifikation einzuordnen sind. So wurde mit der Botswanischen Qualifikationsbehörde (Botswana Qualifications Authority, BQA) eine neue zentrale Institution der Berufsausbildung geschaffen und eine Neuausrichtung der ministeriellen Zuständigkeiten für die berufliche Bildung vorgenommen, wohingegen die inhaltliche Neuausrichtung von Berufsbildungsangeboten dabei zu wenig berücksichtigt wurde. Der vorliegende Beitrag analysiert diese Entwicklungen, setzt einen besonderen Fokus auf die jüngsten institutionellen Reformen und diskutiert abschließend aktuelle Herausforderungen und Entwicklungschancen der Berufsbildung in Botswana.51

51

Das vorliegende Kapitel basiert auf einer qualitativen Erhebung mittels ExpertInneninterviews sowie ergänzenden Auswertungen von Primär- und Sekundärquellen; siehe dazu auch die Anmerkungen am Ende des Kapitels.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_5

151

Botswana

1

Landeskontext

Botswana ist ein im internationalen Vergleich flächenmäßig großes Land im südlichen Afrika, das trotz seiner Größe von circa 582.000 Quadratkilometern relativ dünn besiedelt ist. Abb. 1:

Übersichtskarte Botswanas

Quelle: © lesniewski/AdobeStock.

152

Janis Vossiek

Der größte Anteil der 2,25 Millionen Einwohner52 verteilt sich auf die südöstlich gelegene Hauptstadt Gaborone sowie Francistown im Nordosten des Landes. Das englischsprachige Botswana gilt im Vergleich zu vielen anderen Ländern des südlichen Afrikas als Musterbeispiel einer stabilen und demokratischen politischen Entwicklung seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1966. Zudem war das Land zu Zeiten des Status als britisches Protektorat als einziger der anliegenden Staaten von der Apartheit verschont, sodass Konflikte zwischen Bürgern verschiedener Ethnien und Hautfarben geringer ausgeprägt waren als beispielsweise in Südafrika oder Namibia. Die Bevölkerung Botswanas ist vergleichsweise jung, etwa 60 % der Bevölkerung sind unter 29 Jahre alt, bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von circa 55 Jahren (Modise & Mosweunyane, 2014). Das junge Durchschnittsalter der Bevölkerung ist leider auch im Zusammenhang mit einer hohen HIV-Infektionsrate von 22 % zu sehen, mit der Botswana im weltweiten Vergleich den dritten Platz einnimmt, obwohl es seit 1990 deutliche Fortschritte bei der medizinischen Gesundheitsversorgung gab (CIA, 2018). Ebenso wies Botswana seit der Unabhängigkeit fast durchgehend hohe wirtschaftliche Wachstumsraten auf und hat substantiell in den Ausbau seines Bildungssystems investiert, so dass zwischenzeitlich bis zu 25% der öffentlichen Ausgaben in den Bildungsbereich investiert wurden (Modise & Mosweunyane 2014, S. 302; Morris, 2015), was im internationalen Vergleich einen hohen Anteil darstellt. Im Folgenden werden nun die politischen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die staatlichen Strukturen und die Prioritäten der aktuellen Regierungspolitik Botswanas beschrieben, bevor näher auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Qualifikationsstruktur und -bedarfe eingegangen wird.

52

Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen, sofern kein expliziter Verweis auf eine spezifische Genderbezeichnung gegeben wird.

Botswana

1.1

153

Politische Rahmenbedingungen

Wie bereits angemerkt, gilt Botswana im Vergleich zu anderen Ländern der Region seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1966 als Musterbeispiel für gelungene Demokratisierung und politische Stabilität. Seit der Unabhängigkeit stellt die Demokratische Partei Botswanas (Botswana Democratic Party, BDP)53 die Regierung und Mehrheit am alle fünf Jahre gewählten Parlament. Zudem ist die Korruption im Vergleich zu regionalen Vergleichsfällen gering ausgeprägt und zählt zu den niedrigsten in Afrika (Transparency International, 2017). Diese politischen Kontextfaktoren machen Botswana zu einem relativ sicheren Land für ausländische Investoren. 1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Die Republik Botswana hat eine Präsidialverfassung, die für den Präsidenten eine fünfjährige Amtszeit vorsieht, die, seit einer Verfassungsänderung von 1997, einmal verlängert werden kann, so dass maximal zwei Amtsperioden möglich sind. Der Präsident ist sowohl Kopf der Exekutive, Staatsoberhaupt sowie oberster Befehlshaber der botswanischen Streitkräfte. Die Legislative besteht aus der Regierung und aus einem Zweikammerparlament, das ebenfalls für fünf Jahre gewählt wird, wobei die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gleichzeitig stattfinden. Die Nationalversammlung (National Assembly) ist die erste Parlamentskammer und besteht aus insgesamt 63 Abgeordneten: 57 Abgeordnete werden auf Wahlkreisebene nach einfacher Mehrheitswahl gewählt und sechs weitere werden auf Vorschlag des Präsidenten zudem von der Nationalversammlung hinzugewählt. Die zweite Kammer ist die Häuptlingskammer (House of Chiefs), die aus 35 Mitgliedern besteht, vorrangig die Interessen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Botswanas repräsentiert und vor allem eine beratende Funktion hat. Die Verwaltung gliedert sich in sieben städtische sowie zehn weitere Verwaltungsbezirke, die jeweils von einem von 53

Die Übersetzung von Begriffen und Zitationen aus der Originalsprache in diesem Kapitel erfolgte durch den Autor.

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der Regierung ernannten Bezirkskommissar (District Commissioner) geleitet werden. Seit der Unabhängigkeit stellt die Botswana Democratic Party sowohl die Parlamentsmehrheit als auch den Präsidenten und hat die bisherigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit deutlichen Mehrheiten gewonnen (Tlou/Campbell, 1997; Inter-Parliamentary Union 2018). Die Opposition besteht maßgeblich aus dem Zusammenschluss Vereinigung für demokratischen Wandel (Umbrella for Democratic Change), die sich aus den drei größten Oppositionsparteien Nationalfront Botswanas (Botswana National Front, BNF), Volkspartei Botswanas (Botswana People’s Party, BPP) sowie der Botswanischen Bewegung für Demokratie (Botswana Movement for Democracy, BMD) zusammensetzt. Seit dem 1. April 2018 ist Mogweetse Masisi der neue Präsident Botswanas und folgte auf Ian Seretse Kharma, der die maximale Dauer der zulässigen Amtszeit erreicht hatte. Masisi war zuvor seit Oktober 2014 bereits Vizepräsident und Bildungsminister (Minister of Education and Skills Development). Inwiefern sich letztere politische Aufgabe in seiner Amtszeit als neuer Präsident auch in einer inhaltlichen Neuausrichtung der Bildungspolitik niederschlägt, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend eingeschätzt werden. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms In Botswana werden die Rahmenplanung sowie die aktuellen Schwerpunkte in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik in nationale Entwicklungsplänen (National Development Plans, NDPs) festgehalten, die üblicherweise auf einen Zeitraum von fünf bis sechs Jahren ausgelegt sind. Der aktuelle National Development Plan 11 mit dem Titel „Inclusive Growth for the Realisation of Sustainable Employment Creation and Poverty Eradication“ ist für den Zeitraum von April 2017 bis März 2023 festgehalten und nennt insgesamt sechs Kernbereiche und Prioritäten der nationalen Politik (Ministry of Finance and Economic Development, 2017, S. xv):

Botswana

155

• Entwicklung diversifizierter Quellen wirtschaftlichen Wachstums • Entwicklung von Humankapital • Soziale Entwicklung • Nachhaltige Nutzung nationaler Ressourcen • Konsolidierung von good governance und Stärkung der nationalen Sicherheit sowie • Umsetzung eines effektiven Systems in den Bereichen Monitoring und Evaluation Die wirtschaftspolitische Strategie betont drei weitere Aspekte. Erstens soll die wirtschaftliche Diversifizierung durch verschiedene Impulse vorangetrieben werden, wie etwa eine stärkere Fokussierung auf die Veredelung von heimischen Rohstoffen, die Entwicklung von Firmen- und Wirtschaftsclustern, den Ausbau von Sonderwirtschaftszonen und die Stärkung der lokalen Wirtschaft. Zweitens soll diese Strategie durch erhöhte Staatsausgaben als Wachstums- und Beschäftigungsimpulse unterstützt werden. Drittens soll die Gesamtstrategie für wirtschaftliches Wachstum auf dem Exportausbau basieren, auch um mit dem Problem der geringen Größe des heimischen Marktes umzugehen. Dabei soll ein besonderer Fokus auf den Bereichen Diamantenförderung, Tourismus, Finanzdienstleistungen sowie der Minenindustrie liegen. Bei der ersten Vorstellung des Entwurfs des National Development Plan 11 sprach Finanzminister Matambo zudem an, dass Botswana auch für den Zeitraum des neuen Entwicklungsplans Lösungen für die Herausforderungen von Armut, Arbeitslosigkeit sowie Einkommensungleichheiten finden müsse (Tralac, 2016). Die spezifischeren Ziele und Prioritäten für den Bildungsbereich finden sich im Strategischen Plan für Bildungs- und Ausbildungspolitik 2015 (Education & Training Sector Strategic Plan, ETSSP), der insgesamt sechs Bildungsbereiche behandelt (Frühkindliche Bildung, Primarbildung, Sekundarbildung, Lehrerbildung, Hochschulbildung und technische und ge-

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Janis Vossiek

werbliche Berufsausbildung) (Republic of Botswana, 2015). Als eine konkrete Herausforderung beschreibt der ETSSP 2015 die hohe Jugendarbeitslosigkeit und -unterbeschäftigung und benennt explizit die Reform der Berufsausbildung als eine mögliche Gegenmaßnahme: Jene betrifft vor allem auch eine bessere Balance zwischen akademischer Bildung einerseits und der technischen und gewerblichen beruflichen Bildung andererseits, da letztere gegenwärtig nur als „zweitbeste Option mit niedrigerem Ansehen“ wahrgenommen werde (Republic of Botswana, 2015, S. 6, Übersetzung des Autors). Als konkrete Bereiche, die als verbesserungswürdig genannt werden, beschreibt der ETSSP 2015 die Unterauslastung der Berufsschulen und technischen Colleges (Technical Colleges, TCs), die geringen Qualifikationen der Berufsschullehrer, veraltete Curricula, eine geringe Anzahl von erfolgreichen Schulabschlüssen im beruflichen Bereich von unter 50 % sowie die Unterfinanzierung vieler Berufsschulen (ibid., S. 25, 30). 1.2

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Seit der Unabhängigkeit ist Botswanas Wirtschaft rasant gewachsen: Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gehörte Botswana noch zu der Gruppe der weltweit ärmsten Länder, hat sich seitdem aber zu einem Land auf mittlerem Einkommensniveau entwickelt und im Mittel ein überdurchschnittlich hohes Wirtschaftswachstum vorzuweisen. Die wirtschaftliche Entwicklung fußt primär auf dem Export von Rohdiamanten, deren Vorkommen bereits kurz nach der Unabhängigkeit entdeckt worden waren. So hat der Minensektor seit den 1980er Jahren im Durchschnitt 35 % zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen, 82 % aller Exporte ausgemacht sowie zu über 50 % der Staatseinnahmen beigetragen (Republic of Botswana, 2009, S. 8). Als jüngerer Dienstleistungsbereich kommt der ökologische, nachhaltige und hochpreisige Tourismus vor allem im Bereich vieler Nationalparks und Tierreservate hinzu. Botswana war 2009 von der weltweiten Rezession betroffen und die Wirtschaft schrumpfte abermals 2015, bedingt durch einen starken Rückgang der Produktion im Minensektor. Zum Zeitpunkt der Erhebung wies Botswana allerdings wieder überdurchschnittliche Wachstumsquoten auf (African Economic Outlook, 2017, S. 3–4).

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1.2.1 Wirtschaftssektoren Die Export- und Importbilanz Botswanas gibt einen ersten Überblick hinsichtlich der wirtschaftlichen Struktur des Landes. Angesichts von Exportanteilen von 85,2 % für Diamanten und 6,2 % für Kupfer, Nickel und Gold wird die zentrale Rolle der Minenindustrie deutlich (siehe Abbildung 2). Die drei größten Importanteile entfallen auf Diamanten (35,9 %)54, Treibstoff (15 %) sowie maschinelle und elektronische Ausstattungen (11,4 %). Abb. 2:

54

Zusammensetzung der Exporte und Importe Botswanas (2013-2014)

Botswana importiert Rohdiamanten zur weiteren Veredelung und anschließendem Export.

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Quelle: eigene Darstellung nach Statistics Botswana 2015, in: United Nations Economic Commission for Africa, 2016, S. 13.

In 2013 lag die Beschäftigungsquote der über 15-Jährigen in Botswana bei 62,6 %, bei einer Erwerbsquote von 76,7 % (UNDP 2015, in: United Nations Economic Commission for Africa, 2016, S. 18). Im Hinblick auf die sektorale Beschäftigung sowie die Größe des informellen Sektors lagen zum Zeitpunkt der Erhebung keine aktuellen Zahlen vor. In 2012 waren 54,9 % der formal Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig sowie 29,9 % in der Landwirtschaft. Die drei größten Branchen waren der Groß- und Einzelhandel, die Baubranche sowie das produzierende Gewerbe, die zusammen 27 % des Beschäftigtenanteils ausmachten (Statistics Botswana 2015c, in: United Nations Economic Commission for Africa, 2016, S. 18). Zudem gilt hervorzuheben, dass der Staat in Botswana im Jahr 2013 noch

Botswana

159

der größte Arbeitgeber war: Während dem Privatsektor 47,1 % der Beschäftigten zuzurechnen waren, entfielen 52,9 % der Beschäftigung auf die Zentralregierung, lokale Regierungen sowie parastaatliche Organisationen (Statistics Botswana 2014, in: United Nations Economic Commission for Africa, 2016, S. 18). Die Größe des informellen Sektors wurde zuletzt für das Jahr 2005 auf etwa 20 % der Beschäftigten geschätzt und war somit im Vergleich zu 1995 um fast zehn Prozent gestiegen (Statistics Botswana, 2007, in: United Nations Economic Commission for Africa 2016, S. 18). Neben der hohen informellen Beschäftigung ist vor allem Arbeitslosigkeit ein Hauptproblem des botswanischen Arbeitsmarktes. So lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2016 bei 18,6 % der Erwerbsbevölkerung und war für Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren mit 29,4 % noch einmal entscheidend höher (United Nations Development Programme, 2018). Auch in diesem Kontext stehen aktuelle Bemühungen, das System der technischen und gewerblichen Berufsausbildung zu reformieren (siehe Kapitel 2). 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Obwohl sich Botswana zu einem Land der mittleren Einkommensgruppe entwickelt hat, steht seine Wirtschaft vor großen sozio-ökonomischen Herausforderungen. Aus wirtschaftlich-struktureller Sicht ist hier zunächst eine Verbreiterung der Wirtschaftsbasis zu nennen, um die Abhängigkeit vom Minensektor abzumildern. Der Entwicklungsplan des Rates für Humankapitalentwicklung (Human Resource Development Council, HRDC) fokussiert dabei auf 12 Sektoren, unter anderem auf die Bereiche ICT und produzierendes Gewerbe. Die Planung für die sektorale Entwicklung soll in enger Abstimmung mit sektoralen Komitees für Humankapitalentwicklung (Sector Human Resource Development Committees, SHRDCs) erfolgen, die von staatlichen Repräsentanten, Firmen, Arbeitnehmern, Lehrkräften und Akteuren der Zivilgesellschaft gebildet werden (HRDC, o. J.). Allerdings liegen bisher keine verlässlichen quantitativen Bedarfsanalysen vor. Es ist zwar geplant, dass die SHRDCs neben den Bedarfen für Ausbildungsinhalte auch die sektoralen Fachkräfte- und Qualifikationsbedarfe im

160

Janis Vossiek

Sinne eines Skills Forecasting erheben, allerdings waren die dazu bisher vorliegenden Berichte zum Zeitpunkt der Erhebung nicht aussagekräftig55. Jedoch belegen die im Rahmen der Erhebung gewonnenen Erkenntnisse zur Stellung der Berufsbildung innerhalb des gesamten Bildungssystems deutlich, dass Angebote der allgemeinen und hochschulischen Bildung gegenüber der beruflichen Bildung überwiegen. Laut unseren, durch die Interviews gewonnenen, Erkenntnissen wird wirtschaftsseitig im Hinblick auf junge Berufsbildungsabsolventen zusätzlich bemängelt, dass deren Qualifikationen und berufsfachliche Kenntnisse unzureichend auf betriebliche Bedarfe ausgerichtet seien. Ebenso mangele es an qualifiziertem Lehrpersonal mit berufspraktischen Erfahrungen. Überdies ist der überdurchschnittlich hohe Anteil von HIV-Infizierten ein weiteres Problem und stellt große Belastungen für den Gesundheitssektor dar, der einen vergleichsweise hohen Personalbedarf hat56 (Gespräch beim Boitekanelo College).

2

Berufliche Bildung

Nachfolgend wird das Bildungssystem Botswanas beschrieben und dabei ein besonderer Fokus auf die berufliche Bildung gelegt. Dabei werden die für die berufliche Ausbildung maßgeblichen Institutionen und Organisationen sowie die gesetzliche Grundlage der Berufsbildungspolitik beschrieben, bevor auf Problemstellungen und Lösungsansätze im Bereich der Berufsausbildung eingegangen wird. 2.1

Struktur des Bildungssystems

Wie in vielen anderen Länder Subsahara-Afrikas hatte das Bildungssystem in Botswana seine Ursprünge im britischen Bildungssystem, das dort mit der Unabhängigkeit 1966 zunächst übernommen wurde. Zwei Aspekte 55 56

Interview mit der Botswana Qualifications Authority in Gaborone am 1. Februar 2018. Interview beim Boitekanelo College, Gaborone am 2. Februar 2018.

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161

sind für das Verständnis der Entwicklung des Bildungssystems hervorzuheben. Einerseits folgte nach der Unabhängigkeit eine rasante Bildungsexpansion, so dass sich die Schülerzahlen im Primarbereich im Zeitraum von 1966 bis 1988 verdreieinhalbfachten und im Sekundarbereich sogar um den Faktor 26,3 wuchsen (Swartland 1991, S. 23–24). Im Jahr 2018 war die Teilnahme an primarschulischen Angeboten nahezu vollständig und knapp 84 % einer Kohorte besuchten sekundarschulische Angebote (United Nations Development Programme, 2018). Andererseits ist hervorzuheben, dass es zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit keine formellen staatlichen Berufsbildungsangebote gab und die ersten staatlichen Technical Colleges erst 1987 geschaffen wurden (Akoojee & McGrath, 2006, S. 47). In der Grundstruktur folgt das Bildungssystem dem Muster 7-3-2 bis zum Abschluss der Sekundarstufe 2, auf den Angebote im tertiären Bereich der beruflichen Weiterbildung oder hochschulischen Bildung folgen (siehe Abbildung 3 unten). Die Primarschule (Primary School) umfasst normalerweise die Gruppe der 6- bis 12-Jährigen, dauert sieben Jahre und wird mit der Primarschulabschlussprüfung (Primary School-Leaving Examination, PSLE) abgeschlossen. Daran schließt die dreijährige Sekundarstufe 1 (Junior Secondary School) an, die mit der Juniorenzertifikatsprüfung (Junior Certificate Examination, JCE) abgeschlossen wird. Nach dem Abschluss der Sekundarstufe 1 stehen den Absolventen neben dem direkten Arbeitsmarkteintritt zwei weitere Möglichkeiten offen. So haben sie die Möglichkeit schulische berufliche oder handwerkliche Ausbildungsangebote zu wählen oder sie können ihre allgemeine Schulbildung in der Sekundarstufe 2 (Senior Secondary School) fortsetzen, die bei erfolgreichem Abschluss des Botswanischen Allgemeinen Sekundarschulzertifikats (Botswana General Certificate in Secondary Education, BGCSE) zum Hochschulzugang berechtigt. Für den Eintritt in die Sekundarstufe 2 benötigen die Schüler jedoch einen bestimmten Notenschnitt, so dass der Zugang prinzipiell nicht allen Schülern offensteht. Allerdings hat sich die Übergangsrate von der Sekundarstufe 1 zu Angeboten der Sekundarstufe 2 im Zeitraum von 1995 bis 2014 von 55,3 % auf 70,6 % erhöht (Statistics Botswana, 2017, S. 12).

162 Abb. 3:

Janis Vossiek Struktur des Bildungssystems in Botswana

Quelle: Eigene Darstellung nach UNESCO Institute for Statistics, 2010/2011, in: Morris 2015, S. 30. Layout: DLR Projektträger.

Im Bereich der beruflichen Ausbildung gibt es innerhalb des staatlichen Berufsbildungssystems zwei maßgebliche Programmtypen (siehe Abbildung 4 unten): Die Berufstests (Trade Tests) sowie Berufsausbildung/lehre (Apprenticeship) einerseits, die überwiegend von den Botswana Bri-

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163

gaden (Brigades) angeboten werden, sowie das von Technical Colleges angebotene Botswana Programm technischer Bildung (Botswana Technical Education Programme, BTEP) anderseits. Der Aufbau der Botswana Brigades wurde Mitte der 1960er Jahre von Patrick van Rensburg initiiert (Akoojee & McGrath, 2006). Die Brigades waren damals eine Antwort auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit und auf der kommunalen Ebene organisiert, für die sie sowohl produktive Dienstleistungen als auch Ausbildungsangebote bereitstellen sollten (Mupimpila & Naryana, 2009). Die Brigades bieten drei Arten der Aus- und Weiterbildung an. Erstens Berufszertifikatsprogramme (Trade Certificate Training Programmes), die zu einem von drei Handwerkszertifikaten (Craft Certificates) führen. Die Trade Tests C und B bieten erste berufliche Qualifikationen, wohingegen zweitens das nationale Handwerkszertifikat (National Craft Certificate, NCC) ein vollwertiger berufsfachlicher Abschluss ist. Die Prüfungen der jeweiligen Abschlüsse werden dabei vom Madirelo Ausbildungs- und Prüfungszentrum (Madirelo Training and Testing Centre, MTTC) durchgeführt, das 1988 mit deutscher Unterstützung aufgebaut wurde und auch für das botswanische Modell der dualen Berufsausbildung zuständig ist (siehe Abschnitt 3.5). Daneben bieten die Brigades drittens auch berufsspezifische Kurzkurse sowie informelle berufsfachliche Angebote an, die jedoch nicht zertifiziert sind. Vor 2006 waren die Brigades formal unabhängig vom Bildungsministerium (Ministry of Education, heute Ministerium für Grundbildung (Ministry of Basic Education, MoBE)), in dessen Zuständigkeit sie anschließend fielen. Seit der Bildungsreform im Jahr 2015 ist das Ministerium für Beschäftigung, Arbeitsproduktivität und Ausbildung (Ministry of Employment, Labour Productivity and Skills Development, MELSD) für die 36 landesweit existierenden Brigades zuständig.

164

Programme und Abschlüsse der Berufsbildung mit ministerieller Zuständigkeit

Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology (MoTE) Colleges BTEP Diploma BTEP Advanced Certificate BTEP Certificate BTEP Foundation

Trade Tests & Apprenticeship

Botswana Technical Education Programme (BTEP)

Abb. 4:

Janis Vossiek

Ministry of Employment, Labour Productivity and Skills Development (MELSD) Colleges/Brigades National Craft Certificate(NCC) Trade Test B Trade Test C Trade Test C Practical CITF CMBT Certificates

Quelle: Adaptierte Darstellung einer von der GIZ Botswana zur Verfügung gestellten Grafik.

Neben den Brigades wurden nach der Unabhängigkeit landesweit insgesamt acht staatliche Technical Colleges (auch Berufsbildungscolleges (Vocational Education Colleges, VECs) genannt) gegründet. Die Colleges bieten sowohl Kurse an, die zu einem NCC-Abschluss führen, als auch Kurse und Abschlüsse des Botswana Technical Education Programme, das seit der jüngsten Bildungsreform maßgeblich in die Kompetenz des Ministerium für Tertiärbildung, Forschung, Wissenschaft und Technologie (Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology, MoTE) fällt (siehe Abschnitt 2.2.2). Um an dem Programm, das sowohl berufspraktische als auch theoretische Komponenten umfasst, teilzunehmen, müssen Lernende zumindest die Sekundarstufe 1 abgeschlossen haben. Innerhalb des BTEP Programms gibt es insgesamt vier mögliche Abschlüsse: Foundation, Certificate, Advanced Certificate sowie Diploma, wobei der letztere der höchstmögliche staatliche Berufsabschluss in Botswana ist. BTEP Abschlüsse werden in insgesamt 17 Berufsfeldern angeboten, wie etwa ICT, Landwirtschaft, Kleidung und Textil, Elektroingenieurswesen oder Gastgewerbe.

165

Botswana

Außer diesen staatlichen Angeboten gibt es zahlreiche Aus- und Weiterbildungsprogramme von privaten Anbietern, die sich bei der Botswana Qualifications Authority registrieren müssen, um zertifizierte Angebote mit staatlich anerkannten Abschlüssen vorhalten zu können. Ein Survey über die Teilnehmerzahlen des Berufsbildungssystems (siehe Tabelle 1) zeigt, dass private Trainingsanbieter die größte Anzahl an Lernenden haben, gefolgt von den Brigades, Weiterbildungsangeboten von Firmen sowie den VECs (Technicals). Im Jahr 2016 waren insgesamt 788 Ausbildungsanbieter mit 6366 Lernprogrammen bei der BQA registriert. Tab. 1:

Verteilung der Lernenden auf Anbieter von Berufsbildung (surveybasiert)

Berufsbildungsanbieter

Anzahl Lernende

Private Institutions

8885

Brigades

7444

Workplace

4143

Technicals (VECs)

3533

Public Institutions

1854

NGOs

405

Quelle: Eigene Darstellung nach Botswana Qualifications Authority, 2016.

Wichtig ist festzuhalten, dass keiner der oben genannten berufsfachlichen Abschlüsse, die durch VECs oder Brigades angeboten werden, zur Aufnahme eines Studiums berechtigt, das noch immer das höchste Ansehen in Botswana besitzt.57 Diese mangelnde Durchlässigkeit gilt, obwohl Botswana seit Mitte der 2000er Jahre einen nationalen Qualifikationsrahmen, den Botswana National Qualifications Framework (BNQF), etabliert hat.

57

Laut der überwiegenden Mehrheit unserer Interviewpartner ist das Studium nach wie vor der Bildungsgang mit dem höchsten Ansehen.

166

2.2

Janis Vossiek

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

Die folgenden Abschnitte beschreiben die gesetzlichen Grundlagen der Bildungspolitik Botswanas, die institutionellen Zuständigkeiten innerhalb dieses Politikfelds und die Rolle nicht-staatlicher Akteure. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den maßgeblichen Regelungen und Zuständigkeiten für den Bereich der beruflichen Bildung. 2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Im Gegensatz zu anderen Staaten der Region gibt es innerhalb der botswanischen Berufsbildungsgesetzgebung eigene Regelungen für die Kooperation zwischen Arbeitgebern und staatlichen Institutionen im Bereich der Berufsausbildung. Allerdings ist auch kritisch anzumerken, dass die gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten für die Berufsausbildung sich nach der Unabhängigkeit häufig gewandelt haben, vor allem in der letzten Dekade, so dass Reformprozesse und die Koordination verschiedener Akteure Reibungsverlusten und Ineffizienzen ausgesetzt sind. Das erste nationale Bildungsgesetz (National Policy on Education) wurde 1977 verabschiedet und basiert auf der Philosophie „Education for Kagisano“, was mit „Bildung für soziale Harmonie“ übersetzt werden kann (UNESCO-IBE, 2010). Das Bildungsgesetz regelt die maßgeblichen Zuständigkeiten für alle Bildungsbereiche. Ausgehend von den Empfehlungen einer nationalen Bildungskommission (National Commission on Education) im Jahre 1993 wurde die Bildungsgesetzgebung grundlegend reformiert. 1994 wurde ein überarbeitetes nationales Bildungsgesetz (Revised National Policy on Education, RNPE) verabschiedet, das einen stärkeren Fokus auf die berufliche Bildung legte. Hintergrund dafür waren Kritikpunkte der Bildungskommission, die vor allem moniert hatte, dass keine standardisierten Abschlüsse mit klaren Vergleichbarkeiten verschiedener Abschlüsse bestünden und die Curricula der beruflichen Bildung nicht mit den wirtschaftlichen Produktions- und Qualifikationsbedarfen korrespondierten (vgl. Mmolotsa 2013, S. 61-62). Die Revised National Policy on Education wurde zuletzt 2015 reformiert.

Botswana

167

Die RNPE Reformen von 1994 legten auch den Grundstein für die Entwicklung der nationalen Berufsbildungsgesetzgebung (National Policy on Vocational Education and Training, NVPET), die 1997 gemeinsam vom Bildungsministerium (Ministry of Education and Skills Development, MOESD) und dem Arbeitsministerium (Ministry of Labour and Home Affairs, MLHA) entwickelt wurde. Die NVPET verfolgte vor allem das Ziel, die berufliche Bildung auf die gleiche Stufe mit der akademischen Bildung zu heben und „die verschiedenen Arten von beruflicher Bildung und Ausbildung in ein umfassendes System zu integrieren“ (Republic of Botswana, 1997, Übersetzung des Autors). Dies bezog sich auch auf die stärkere Integration schulischer und betrieblicher Ausbildungsangebote: Bereits 1983 hatte Botswana das Gesetz zur Berufslehre und industriellen Ausbildung (Apprenticeship and Industrial Training Act) verabschiedet, das den Abschluss der Primarstufe als Zugangsvoraussetzung für Angebote der schulischen und betrieblichen Ausbildung festlegte sowie die Grundlage für betriebliche Ausbildungsangebote in Form von Apprenticeships regelte. Laut dem Gesetz war das Bildungsministerium für alle Vocational Training Centres zuständig, während das MLHA für Apprenticeships verantwortlich war, was nach wie vor eine Fragmentierung der ministerialen Kompetenzen in der Berufsbildung zur Folge hatte (Akoojee & McGrath, 2006). In Folge der NVPET wurde 2000 ein neuer Vocational Training Act verabschiedet, der zur Gründung der botswanischen Ausbildungsbehörde (Botswana Training Authority, BOTA) führte, die als zentrale koordinierende Institution der Berufsausbildung geschaffen wurde, beispielsweise für die Registrierung von Ausbildungsangeboten und -institutionen. Der BOTA wurde auch die Zuständigkeit für die Entwicklung eines nationalen Qualifikationsrahmens zugesprochen, der Mitte der 2000er Jahre erstmals eingeführt wurde. Zudem wurde im Botswana Examinations Act No. 11 von 2002 die Zuständigkeit des botswanischen Prüfungsrats (Botswana Examination Council, BEC) für die Durchführung und Zertifizierung schulischer Prüfungen festgelegt, die allerdings für das gesamte Schulsystem und nicht nur ausschließlich für die berufliche Bildung galt.

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Im jüngeren Zeitraum sind vor allem drei gesetzliche Neuregelungen relevant. Mit dem Botswana Qualifications Authority Act No. 24 von 2013 wurde die Botswana Qualifications Authority (BQA) als Nachfolge der BOTA geschaffen und die Zuständigkeit der BQA erstreckt sich nun auf alle Bildungsangebote innerhalb des nationalen Qualifikationsrahmens. Ebenfalls wurde 2013 mit dem HRDC Act No. 17 die Schaffung des Human Resource Development Councils (HRDC) beschlossen. Sowohl die Aufgaben der BQA als auch des HRDC werden im nächsten Abschnitt näher beschrieben. Als weitere wichtige Neuerung kann der Ministerial Offices (Maximum Number) Act No.4 von 2016 gewertet werden, auch wenn er nicht im Kernbereich die Bildungspolitik zum Thema hatte. Diese Gesetzreform ermöglichte die Erhöhung der zulässigen Ministerposten der Regierung auf 18 Minister und hatte die Umstrukturierung der ministerialen Zuständigkeiten zur Folge (siehe Weekend Post, 2016). Die Neuausrichtung der Ministerien betraf auch die Zuständigkeiten im Bereich der Bildungspolitik, wie im nächsten Abschnitt beschrieben wird. 2.2.2 Verantwortlichkeiten Traditionell waren vor allem zwei Ministerien für die schulische und betriebliche Ausbildung in Botswana zuständig: Während das Bildungsministerium vor allem für die schulischen Ausbildungsangebote, die Brigades und Technical Colleges zuständig war, fiel die Verantwortlichkeit für den betrieblichen Teil der schulischen Ausbildung und die Apprenticeships unter die Zuständigkeit des Arbeitsministeriums. In Folge der jüngsten Reformen sind nun allerdings drei – im Zuge der ministeriellen Neuausrichtung von 2016 geschaffene – Ministerien für den Bereich der beruflichen Bildung zuständig. Erstens ist das Ministry of Basic Education nun zuständig für die Weiterentwicklung der berufsfachlichen Inhalte des allgemeinen Schulsystems von der Primarstufe 1 bis zur Sekundarstufe 2 sowie die Prüfungen innerhalb und Verwaltung des Schulsystems, inklusive von dessen berufsbil-

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denden Angeboten. Zweitens hat das Ministry of Employment, Labour Productivity and Skills Development im Zuge der Reform die Verantwortlichkeit für die 36 existierenden Brigades zugesprochen bekommen und ist zudem für vier Vocational Education Colleges zuständig. Drittens erhielt das Ministerium für Tertiärbildung, Forschung, Wissenschaft und Technologie (Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology, MoTE) die Zuständigkeit für vier VECs sowie die Hochschulbildung. Die Aufteilung der Verantwortlichkeiten für die VECs zwischen dem MELSD und dem MoTE ergibt sich dabei nach der Logik, für welche Abschlüsse die VECs Kurse anbieten sollen. Die vier VECs unter dem MELSD sollen nur Abschlüsse im Bereich der Trade Certificates (Trade Test C, B, National Craft Certificate) anbieten, wohingegen sich die vier VECs unter dem MoTE auf das Angebot von BTEP-Programmen spezialisieren sollen. Unterhalb der ministeriellen Ebene sind zwei relativ junge, (para-)staatliche Institutionen von besonderer Bedeutung für die aktuell stattfindende Neuausrichtung des Berufsbildungssystems in Botswana, die Botswana Qualifications Authority als Nachfolgeorganisation der BOTA sowie der Human Resource Development Council. Die 2013 ins Leben gerufene BQA hat zwei Hauptaufgaben. Erstens ist sie verantwortlich für die Anpassung und Überprüfung des nationalen Qualifikationsrahmens. Dies betrifft vor allem die Zuordnung der schulischen, betrieblichen und privaten Bildungsangebote zu den jeweiligen Qualifikationsniveaus des BNQF. Zweitens ist die BQA zuständig für die Qualitätssicherung aller Bildungsangebote innerhalb des BNQF. Die Hauptfunktionen der BQA für die Entwicklung des Berufsbildungssystems sind dabei laut des Mandats der BQA die folgenden (Botswana Qualifications Authority, 2018): • Entwicklung einer Qualitätssicherungsplattform für Bildungsangebote und die Entwicklung von Qualitätsstandards für die Abnahme von Prüfungen und Inspektionen von Ausbildungsanbietern • Registrierung sowie Validierung von Qualifikationen sowie Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse

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• Evaluation und Registrierung von Ausbildungsinhalten und -anbietern, Prüfern sowie Zertifikaten und Abschlüssen • Entwicklung von Lern- und Lehrstandards für Ausbildungsanbieter • Aufbau einer nationalen Datenbank von Ausbildungsangeboten und Qualifikationen • Beratung des zuständigen Ministers sowie • Entwicklung von Qualifikationen und Curricula im Bereich der Berufsund Hochschulbildung. Insbesondere der letzte Aspekt ist allerdings aufgrund der jüngst in Botswana erfolgten Reformen durchaus problematisch (siehe unten). Dies gilt trotz der Neuschaffung des HRDC als maßgebliche Institution für die Entwicklung einer Strategie der Bildungspolitik, die sich an den aktuellen und zukünftigen Bedarfen des Arbeitsmarkts orientieren soll. Der 2013 neu geschaffene HRDC wurde in Folge der im Januar 2009 beschlossenen nationalen Strategie zur Entwicklung des Humankapitals (National Human Resource Development Strategy) 2009-2022 eingerichtet, die als zentrales Ziel die “Optimierung der Effizienz und Ergebnisse der Personalentwicklung zur Erreichung der Entwicklungsziele Botswanas” (HRDC, o. J.: S. 2) verfolgt. Neben der Beratung der bildungsverantwortlichen Ministerien für Aus- und Weiterbildungsangebote ist der HRDC vor allem für zwei Kernaspekte verantwortlich. Einerseits sollen ein umfassendes Arbeitsmarktinformations- und Arbeitsmarktdatenbanksystem aufgebaut sowie in Kooperation mit sogenannten Sector Human Resource Development Committees (SHRDCs) sektorale Personalentwicklungspläne entwickelt werden, um die Vernetzung zwischen Ausbildung und Privatwirtschaft zu stärken. Zum anderen ist der HRDC verantwortlich für eine Ausbildungsumlage für Betriebe, den Human Resource Development Fund (HRDF).

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Der HRDF verpflichtet Arbeitgeber mit einem Umsatz von über einer Million Pula (etwa 84.000 €)58 zur Zahlung von 0,2 % ihres Umsatzes in den Umlagefond. Anschließend können Firmen bei einem entsprechenden Nachweis, dass ihr Personal an Aus- und Weiterbildungen teilgenommen hat, eine bis zu zweieinhalbfach höhere Erstattung der ursprünglich eingezahlten Summe beantragen (HRDC, o. J., S. 20). Dabei ist vor allem problematisch, dass der Fond keine prioritären Ausbildungsbereiche vorsieht oder ein bestimmter Teil der finanziellen Mittel des Fonds zur Ausstattung der VECs oder der Brigades oder den Aufbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten verwendet werden kann, die deutlich unterfinanziert sind.59 2.2.3 Akteure Neben den oben genannten, maßgeblichen staatlichen Akteuren und (para-) staatlichen Einrichtungen gibt es einige weitere Akteure mit Relevanz für das Berufsausbildungssystem Botswanas. An erster Stelle sind die Sector Human Resource Development Committees (SHRDCs) zu nennen, die für die Weiterentwicklung der Berufsbildungsangebote Botswanas unter Umständen eine wichtige Rolle spielen könnten, da die gesamte Berufsbildungspolitik stark vom Zentralstaat dominiert wird und sowohl Sozialpartner als auch Vertreter von Bildungseinrichtungen kaum eine Rolle spielen. Dies ist zumindest bei der Zusammensetzung der SHRDCs nicht der Fall, da ihnen neben Regierungsvertretern auch Mitglieder von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Berufsverbänden und Vertreter der Zivilgesellschaft angehören. Zudem umfassen die SHRDCs insgesamt zwölf Sektoren und bilden somit die Hauptbranchen der botswanischen Wirtschaft ab. Die entsprechenden Sektoren sind:

58 59

Wechselkurs vom 13. 5. 2018. (Quelle: Oanda.com). Die Mehrzahl unserer Interviewpartner nannte die Unterfinanzierung der VECs und Brigades als ein Hauptproblem des Zustands der botswanischen Berufsbildung zum Erhebungszeitraum.

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• Minen, Mineralien, Energie- und Wasserwirtschaft • Tourismus • Kreativindustrie • Landwirtschaft • Gesundheitswesen • Informations- und Kommunikationstechnologie • Finanz- und Wirtschaftsdienstleistungen • privatwirtschaftliche Aus- und Weiterbildung • Öffentlicher Sektor • Transport und Logistik • Produzierendes Gewerbe/Fertigungsindustrie • Forschung, Innovation, Wissenschaft und Technologie. Die rechtlichen Grundlagen sehen bisher keine Beteiligung der SHRDCs bei der Entwicklung von Ausbildungsinhalten vor. Diese wäre jedoch eine mögliche Strategie um die geringe Passgenauigkeit von Ausbildungsinhalten auf Beschäftigungs- und Arbeitsmarktbedarfe anzupassen, da die Berufsausbildung in Botswana als praxisfern beschrieben werden kann.60 Ein weiterer wichtiger Akteur für die Berufsausbildung ist der Treuhandfond der Bauindustrie (Construction Industries Trust Fund, CITF) im Bereich der Bauwirtschaft. Der CITF übernimmt in der Baubranche Aufgaben der Aus- und Weiterbildung, die durch eine Ausbildungsumlage finanziert werden. Ähnlich wie in den Baubranchen anderer Länder ist die Ausbildung überbetrieblich organisiert und erfolgt in enger Koordination zwischen den Arbeitgebern der Branche. Die Gründung des CITF zu Beginn

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Das fehlende Lernen im Arbeitsprozess wurde von vielen unserer Interviewpartner als eine Kernherausforderung für die Weiterentwicklung der Berufsbildung genannt.

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der 1990er Jahre erfolgte in Reaktion auf einen chronischen Mangel von angelernten Arbeitern und ausgebildeten Facharbeitern während des Baubooms dieser Phase (Morris, 2015, S. 34). Auch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit/Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GTZ/GIZ) hat eine wichtige Rolle beim Auf- und Ausbau der Berufsausbildung in Botswana übernommen. Zum einen war sie federführend beteiligt beim Aufbau des Madirelo Training and Testing Centres als wichtigste Institution für die Zusammenarbeit staatlicher und betrieblicher Berufsausbildung im Rahmen von Apprenticeships. Zum anderen gibt es zwischen der Kammer des Minensektors (Botswana Chamber of Mines, BCM) und der GIZ eine Kooperation zur Berufsausbildung in der Minenindustrie (siehe unten). 2.3

Problemstellung, Lösungsansätze und Projektinitiativen

Im Allgemeinen lassen sich für die aktuellen Herausforderungen des Berufsbildungssystems und der Berufsbildungspolitik Botswanas sowohl inhaltliche als auch institutionelle Aspekte beschreiben, die aus unseren Interviews im Rahmen der Erhebung sowie den anschließenden Recherchen hervorgegangen sind. Auf der inhaltlichen Ebene ist zunächst zu nennen, dass die Berufsausbildung in den staatlichen VECs und Brigades als nicht zeitgemäß beschrieben werden kann. So fehlt es sowohl an qualifiziertem Ausbildungspersonal für die berufspraktischen Lernanteile als auch an angemessener infrastruktureller Ausstattung, vor allem der Brigades. Dies wurde von der großen Mehrheit unserer Interviewpartner darauf zurückgeführt, dass die Berufsbildung mit dem Problem eines niedrigen Prestiges zu kämpfen habe, da die universitäre Ausbildung die präferierte Bildungsoption für Schüler und Eltern darstelle. Der Fokus auf universitäre Bildung nach der Unabhängigkeit spiegele sich auch darin wieder, dass für die Finanzierung tertiärer Bildungsangebote mehr staatliche Mittel bereitgestellt würden, Lehrer dort mehr verdienten und Lernende dort mit höheren Zuschüssen gefördert würden als in der Berufsbildung. Der fehlende Übergang von der

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beruflichen in die Hochschulbildung verstärke zudem das geringe Image und mindere die Attraktivität der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Als ein weiteres Problem wurde die Veraltung der Lehrinhalte und Curricula herausgestellt, die gerade für den Bereich der Trade Certificates und des National Crafts Certificate gegeben sei. Auf institutioneller Ebene ist zunächst herauszustellen, dass durch die jüngsten Reformen die Zuständigkeiten in der Berufsbildung nun klarer zwischen den drei neuen zuständigen Ministerien verteilt sind und mit der Schaffung der BQA und des HRDC nun neue auxiliäre Institutionen vorhanden sind, die zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung beitragen könnten. Allerdings haben die Reformen auch für neue Abstimmungsbedarfe und nicht intendierte Effekte gesorgt. So wurden die vier VECs, die nun in die Zuständigkeit des Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology fallen, dazu angewiesen, keine Kurse mehr im Bereich der Trade Tests und für das NCC anzubieten, ohne dass das Leitungspersonal der VECs in diese Entscheidungen mit einbezogen wurde. In Folge dieser Anweisungen sind die Zahlen der Lernenden deutlich unter die Kapazitäten möglicher Lernender gefallen. Im Fall des vom Verfasser besuchten Colleges waren nur etwa 180 Lernende bei einer Kapazität von 1.200 Plätzen eingeschrieben. Dies ist institutionell auch darauf zurückzuführen, dass ein Großteil der Kurse unterhalb der BTEP-Qualifikationen noch nicht bei der BQA registriert ist und ihre Lerninhalte dem BNQF noch nicht zugeordnet werden können. Daher gibt die BQA in ihrem jüngsten Jahresbericht an, 50 % ihrer strategischen Ziele nicht erreicht zu haben (Botswana Qualifications Authority, 2017). Das Problem der Neuregistrierung von Kursen lässt sich auch anhand von Zahlen dokumentieren, wie Abbildung 5 zeigt: So wurden in der Periode 2016/2017 fast zehnmal weniger Ausbildungsanbieter und -kurse registriert als in der Vorperiode 2015/2016. Dies wurde auch darauf zurückgeführt, dass es nicht genügend Experten für die Entwicklung von Curricula

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gäbe und die Zuständigkeiten hier zwischen den verschiedenen staatlichen und parastaatlichen Institutionen noch unklar seien.61 Abb. 5: Registrierung von Ausbildungsanbietern und -kursen (Vergleich 2015/16 zu 2016/17) Type of Service

2015/2016

2016/2017

Cumulative Total

Registration and Accreditation of ETP´s

717

71

788

Accreditation of Learning Programmes

5731

635

6366

Quelle: Eigene Darstellung nach Botswana Qualifications Authority (2017, S. 25).

Zusammengenommen kann festgehalten werden, dass das Berufsbildungssystem momentan unterhalb seiner eigentlichen Kapazität ausgelastet ist und die Entwicklung von neuen Lerninhalten und Curricula sowie deren Akkreditierung eine hohe Priorität genießen muss, wenn die berufliche Bildung ihrer wichtigen Rolle zur Weiterentwicklung und Diversifizierung der botswanischen Wirtschaft gerecht werden soll. Wie oben angedeutet, wäre möglicherweise eine stärkere Einbindung der SHRDCs in die Curriculumentwicklung hilfreich. Des weiteren ist bisher noch nicht entschieden, ob es für einzelne Berufsausbildungen einen verbindlichen nationalen Standard geben wird, oder ob ein Ausbildungsmarkt zugelassen wird, auf dem private und öffentliche Anbieter unterschiedliche Programme für einen Berufsabschluss vorhalten dürfen, was die Gefahr fragmentierter Ausbildungsstandards implizieren könnte. Dualisierte Berufsbildungsansätze Die Verzahnung zwischen der theoretischen und praktischen Ausbildung sowie die Kombination von schulischen und betrieblichen Lernorten im

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Interview mit der Botswana Qualifications Authority in Gaborone am 1. Februar 2018.

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Rahmen einer sozialpartnerschaftlich organisierten dualen Berufsausbildung sind in Botswana ausbaufähig, obwohl es seit 1983 eine gesetzliche Regelung für Apprenticeships gibt. Der Industrial Training Act sah vor, dass die Auszubildenden unter diesem System neun Monate des Lehrjahres in der betrieblichen und praktischen Ausbildung absolvieren und drei Monate des Jahres im Blockunterricht an den staatlichen VECs. Die Verwaltung der Apprenticeships, die Registrierung von Lehrlingen und Ausbildungsbetrieben sowie die Abschlussprüfungen und Zertifizierung erfolgen unter diesem System seit 1986 durch das Madirelo Training and Testing Center. Allerdings wurden bereits kurz nach der Einführung des Systems Probleme deutlich, da es zu wenige betriebliche Ausbildungsplätze im Rahmen des Programms gab. Dies wurde in einer Analyse innerhalb des National Development Plans 7 vor allem darauf zurückgeführt, dass viele Firmen keine Lehrlinge aufnahmen, weil sie mit der Qualität des in den VECs angebotenen Unterrichts und der Qualifizierung des dortigen Lehrpersonals nicht zufrieden waren (Ministry of Finance and Development Planning, 1991). Der Mangel an betrieblichen Lehrstellen und die Überkapazitäten der bis 1990 neu gebauten VECs führten zu einer Neuausrichtung des Programms. Neben der vierjährigen Ausbildung mit alternierenden Lernphasen zwischen VECs und Betrieb und Abschluss durch das National Craft Certificate wurde die Möglichkeit geschaffen, eine zweijährige vollzeitschulische Ausbildung in den VECs zu absolvieren und diese mit dem Trade Test C oder B abzuschließen. Diese Möglichkeit sollte sowohl einen ersten Zugang zum Arbeitsmarkt für diejenigen Jugendlichen ermöglichen, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz fanden als auch die Überkapazitäten der VECs verringern. In der Folge hat diese Neuausrichtung dazu geführt, dass die meisten Lernenden nur vollzeitschulische Programme absolvierten, deren Inhalte von Arbeitgeberseite als zu praxisfern eingeschätzt wurden. Sowohl die kombinierte duale als auch die vollzeitschulische Ausbildung werden bis heute parallel angeboten, so dass Abstimmungsprobleme

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bei der Neuausrichtung des Systems wohlmöglich dadurch verringert werden könnten, wenn Reformen in beiden Bereichen stärker miteinander koordiniert würden. Die Praxisferne der Ausbildungsinhalte in den VECs wurde auch von vielen unserer Gesprächspartner als ein Hauptproblem der Berufsausbildung und des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt genannt. Diese schlechte Passung zwischen den Arbeitsmarktbedarfen und Ausbildungsinhalten kann auch durch mehrere „Tracer Studies“ belegt werden. Der Construction Industry Trust Fund (CIFT) hat 2006 für die Absolventen seiner Berufsausbildung ermittelt, dass knapp 60 % im Anschluss an die Ausbildung eine Beschäftigung gefunden haben (Construction Industry Trust Fund, 2006). Eine Studie zu den Absolventen der staatlichen Ausbildungsprogramme im Bereich der BTEP-Qualifikationen des Abschlussjahrgangs 2007 kam zu dem Ergebnis, dass etwa 51% der Absolventen nach ihrem Abschluss keine Beschäftigung fanden (Botswana Training Authority, 2010). Auch wenn die Ergebnisse der beiden Studien aufgrund unterschiedlicher Studienfächer und sektoraler Branchenunterschiede streng genommen nicht vergleichbar sind, wurde das CITF-Modell einer Verbundausbildung mit Ausbildungsumlage in mehreren Interviews als vielversprechender Ansatz beschrieben. Die stärkere Einbindung von einzelnen Firmen und Branchenverbänden in die Berufsausbildung könnte mittelfristig einen wichtigen Impuls für die Berufsbildung in Botswana setzen, ist aber innerhalb eines kurzen Zeitraums vermutlich nicht zu realisieren. Wichtig wäre auf diesem Weg eine Stärkung der Praxisanteile innerhalb der VECs und Brigades sowie eine qualitative Verbesserung des dortigen Kursangebots. Dies wird allerdings kaum ohne eine stärkere Einbeziehung von Fachpraktikern zu leisten sein – „Train the trainer“ Programme könnten hier möglicherweise schon auf kurze Sicht einen Beitrag leisten. Ausgewählte Projektinitiativen mit Beteiligung deutscher Akteure Neben den Aktivitäten der GTZ beim Aufbau des MTTC in den 1980er Jahren sind zwei Beispiele deutschen Engagements in der botswanischen

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Berufsbildung zu nennen, die exemplarisch für das Engagement der GIZ und verbandlicher Aktivitäten stehen. In einem seit 2013 laufenden Kooperationsprojekt zwischen der Botswana Chamber of Mines und der GIZ und sollen Ansätze geschaffen werden, um die betriebliche und schulische Ebene der Berufsausbildung besser miteinander zu verknüpfen und die bisherige Berufsausbildung im Minensektor durch duale Strukturelemente anzureichern.62 Die Finanzierung des Programms erfolgt anteilig durch die GIZ, die BCM sowie die Regierung. Hauptbestandteil ist ein Pilotprojekt für die Ausbildung in der Minenindustrie in sechs vierjährigen dualen Ausbildungsberufen, die in Kooperation zwischen Arbeitgebern und zwei VECs (Botswana College of Engineering and Technology (BCET) sowie Francistown College of Technical and Vocational Education (FCTVE)) angeboten werden. Die angebotenen Programme sind Heavy Plant Mechanics und Welding & Fabrication (BCET) sowie Maintenance Fitting and Machining, Maintenance Industrial Electrical, Millwright, Instrumentation, Refrigeration & Air Conditioning und Plumbing & Pipe Fitting (FCTVE). Insgesamt sollen für diese acht Bereiche sechs neue Curricula entwickelt werden. Ein weiteres Ziel ist die Weiterbildung von 24 Lehrkräften der teilnehmenden Colleges, um die Lehrinhalte besser auf die Qualifikationsbedarfe der Minenindustrie anzupassen. Hinsichtlich des Ausbildungsvolumens ist das Ziel, dass gegen Ende des Programms 80% der circa 300 Auszubildenden ihre Ausbildung in den Betrieben und Colleges erfolgreich absolviert haben. Nach Angaben der Gesprächspartner vor Ort haben 80 bis 90 % der Absolventen im Anschluss an die Ausbildung einen Arbeitsplatz gefunden.63

62

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Zum Kooperationsprojekt zwischen GIZ und BCM liegen keine öffentlich verfügbaren Informationen vor. Die Ausführungen des vorliegenden Berichts beziehen sich auf die Informationen einer internen Kommunikation zwischen der GIZ Botswana und dem Autor des Berichts vom 3. Mai 2018 sowie dem, im Rahmen der Erhebung vor Ort geführten, Gespräch bei der GIZ Botswana. Interviews mit der GIZ Botswana und der Botswana Chamber of Mines am 1. und 2. Februar 2018

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Neben der Kooperation mit der GIZ kooperiert die BCM auch mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) im Rahmen der Programmlinie Fachkräfte für Afrika (Skills for Africa).64 In Kooperation zwischen BCM, VDMA und dem botswanischen Bildungsministerium sollen dabei Aus- und Weiterbildungen in den Bereichen Steuerungstechnik, Hydraulik und Mechatronik angeboten werden. Weiterbildungen in den beiden erstgenannten Berufsfeldern sollen ab 2018 angeboten werden, und eine neue Ausbildung zum Mechatroniker ist für 2019 in Planung. Die Aus- und Weiterbildungen sollen im neuen gemeinsamen Trainingscenter des Construction Industry Trust Funds und des Madirelo Testing und Training Centers durchgeführt werden, wobei das Ziel in der Ausbildung von 200 Fachkräften in 3 Jahren besteht. Gefördert wird das Projekt als Berufsbildungspartnerschaft mit Mitteln der sequa gGmbH und des BMZ. Insgesamt sind die aktuellen Ansätze deutscher Akteure sehr stark auf den Bereich der Minenindustrie ausgerichtet. Zukünftige Aktivitäten könnten sich unter Umständen auch auf andere Wirtschafts- und Ausbildungsbereiche fokussieren, um die Bemühungen Botswanas zu unterstützen, die Wirtschaft zu diversifizieren. Mögliche Ansätze wären gemeinsame Sondierungen mit der BQA, dem HRDC sowie den SHRDCs, um zukünftige Kooperationsfelder zu eruieren. Angesichts der derzeitigen Herausforderungen wären die Bereiche Curriculumentwicklung, Lehrkräfte- und Ausbilderfortbildungen sowie Beratungen zum Aufbau einer Verbundausbildung von KMUs weitere mögliche Schwerpunkte. Bedarfe Die Herausforderungen und Bedarfe zur Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Richtung kooperativer, sozialpartnerschaftlicher Ausbildungsangebote sind groß: Momentan befindet sich das Berufsbildungssystem, sowohl institutionell als auch inhaltlich, in einer

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Siehe https://www.vdma.org/v2viewer/-/v2article/render/22936689. Zugegriffen: 14. Mai 2018.

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wichtigen Umbruchsphase: Einige Reformen sind in den letzten fünf Jahren erfolgt, auch in dem Kontext, dass berufliche Bildung in der Regierungspolitik in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist (Morris, 2015). Das Bildungssystem in Botswana hat seit 2013 einen neuen nationalen Qualifikationsrahmen (BNQF), in dem der höchste Berufsabschluss auf Level sechs angesiedelt ist. Die Berufsausbildung in Botswana wird von schulischer Ausbildung dominiert und duale Strukturen sind eher gering verbreitet. Zwar gibt es „klassische“ Apprenticeships, die neben betrieblichen auch schulische Anteile umfassen und unter dem Mandat des Ministry of Employment, Labour Productivity and Skills Development von 36 Berufsfachschulen (Brigades) sowie vier Vocational Education Colleges angeboten und mit einem National Craft Certificate abgeschlossen werden; allerdings ist das Engagement von Betrieben in diesen Programmen zurückhaltend und es gibt ein Unterangebot an betrieblichen Praxisanteilen und Ausbildungsplätzen. Dies gilt, obwohl es eine Ausbildungsumlage gibt, die über den Human Resource Development Fund an aus- und weiterbildende Firmen ausgeschüttet werden kann. Die Ausbildungsqualität wurde von der Mehrzahl unserer Interviewpartner als nicht zeitgemäß und nicht den aktuellen Fertigkeitserfordernissen entsprechend bewertet. So wird nach wie vor vielen zukünftigen Fachkräften eine „höherwertige“ Ausbildung im Ausland – etwa in Südafrika oder in den Vereinigten Staaten von Amerika – finanziert. Neben praktischen Anteilen in der allgemeinen Schulbildung, die momentan beim Ministry of Basic Education weiterentwickelt werden, gibt es noch vier dem Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology unterstehende VECs, die Berufsausbildungen und Abschlüsse auf einem fachlich höheren Niveau (Diploma und Degree) anbieten sollen – diese Abschlüsse sind momentan jedoch noch in der Entwicklung, könnten aber möglicherweise ein höherqualitatives (Aus-) Bildungsangebot darstellen und Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der beruflichen Bildung bieten.

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In der Zusammenschau der Befunde ergeben sich aktuelle Herausforderungen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung in Botswana, die nachfolgend analog zu den 5 Kernprinzipien der deutschen internationalen Berufsbildungszusammenarbeit aufgelistet sind.

3

Herausforderungen

Alle staatlichen und privaten, neuen und bestehenden Ausbildungsprogramme sind derzeit bei der neu geschaffenen BQA zu registrieren, allerdings fehlen die notwendigen Curricula für eine solche Registrierung, obwohl dies eigentlich in den Aufgabenbereich der BQA fällt.65 Da Institutionen fehlen, um diese Curricula zu entwickeln, befindet sich das Berufsbildungssystem derzeit in einer Paralyse. Neueinschreibungen für bestimmte Programme waren zum Zeitpunkt der Erhebung in Botswana nicht möglich. Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Die Verzahnung zwischen dem schulischen Ausbildungssystem und einzelnen Betrieben sowie deren Verbänden ist ausbaufähig. So gibt es abgesehen von einigen Pilotprojekten – etwa dem Projekt zur dualen Ausbildung im Minensektor in Kooperation und gemeinsamer Finanzierung von GIZ und der Botswana Chamber of Mines – sehr wenige Beispiele für lernortübergreifende Kooperationen. Eine stärkere Rolle soll in Zukunft den parastaatlichen Sector Human Resource Development Committees zukommen, die für die sektorale Bedarfsanalyse im Hinblick auf zukünftig benötigte Fachkräfte zuständig sind. Die Zusammenarbeit zwischen Firmen, Sozialpartnern und dem Staat könnte möglicherweise gestärkt werden, sofern ein Teil der Ausbildungsumlage für priorisierte Ausbildungsbereiche und die Ausbildung von Lehrkräften und Ausbildungsinfrastruktur reserviert wird und die Sozialpartner bei der Verteilung mitentscheiden können. 65

Interview mit der Botswana Qualifications Authority in Gaborone am 1. Februar 2018

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Lernen im Arbeitsprozess Eine große Herausforderung für die Entwicklung des botswanischen Berufsbildungssystems ist die Stärkung der praktischen Anteile an der Berufsausbildung, sowohl was die Bereitstellung von Fachpraktikern als Lehrkräfte (siehe Empfehlungen zum Qualifizierten Berufsbildungspersonal) als auch die Ausgestaltung der überwiegend schulisch/staatlich getragenen Ausbildungsprogramme anbelangt. So bieten die VECs und Brigades zwar auch fachpraktische Komponenten an. Deren Anteile an der Gesamtausbildung sind jedoch gering und die Ausstattung veraltet, so dass praktische Vertiefungen zur Ausbildung auf dem aktuellen Industriestandard nur schwer zu leisten sind. Zudem mangelt es für die betrieblichen Phasen der Ausbildung oder Betriebspraktika sowohl an spezifizierten Lehrplänen, an qualifiziertem, betrieblichen Ausbildungspersonal als auch an einer ausreichenden Anzahl von Betrieben, die an der beruflichen Erstausbildung beteiligt sind. Akzeptanz von nationalen Standards Obwohl Botswana einen nationalen Qualifikationsrahmen besitzt und mit der BQA und dem HRDC strategische Institutionen zur Weiterentwicklung der Berufsausbildung geschaffen worden sind, ist im Zuge der momentanen Reformen noch unklar, inwiefern einzelne Berufsabschlüsse sich an einem spezifischen und verbindlichen Standard orientieren werden oder ob es zu einer Dopplung von Qualifikationen durch unterschiedliche Ausbildungsanbieter kommen wird, wie sie in den markt- und assessment-basierten Systemen angelsächsischer Länder und Südafrikas zu finden sind. Der letztere Ansatz verhindert zwar nicht die Entwicklung von Standards, allerdings könnte eine Häufung von Qualifikationen die Transparenz von Berufsbildungsangeboten sowohl für Firmen als auch für Lernende verringern. Hier könnte eine strategische Beratung der Sector Human Resource Development Committees und von Berufsbildungseinrichtungen durch Berufsbildungsanbieter in Beispielberufen erfolgen und an die neuen, nationalen Vorgaben angepasste Curriculumsentwicklung liefern.

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Qualifiziertes Berufsbildungspersonal In Botswana Fachpraktiker für die Berufsausbildung zu gewinnen, ist ein schwieriges Unterfangen, da Lehrtätigkeiten in der Regel schlechter vergütet sind als produktive Tätigkeiten oder Lehrtätigkeiten an einer universitären Einrichtung. Gleichzeitig ist der Bedarf an qualifiziertem Ausbildungspersonal von fast allen unserer Gesprächspartner erwähnt worden, was auch dadurch begründet ist, dass es kaum Ausbildungspersonal gibt, das eine eigene Berufsausbildung durchlaufen oder eine Industriekarriere vorzuweisen hat. Innovative Weiterbildungsangebote, die möglicherweise auch den Zugang zu höheren Berufsabschlüssen ermöglichen könnten sowie von der Industrie mitentwickelt und anerkannt sein sollten, sind ein möglicher Ansatzpunkt ebenso wie die Weiterbildung des schulischen Berufsbildungspersonals. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Es gibt in Botswana keine genuine Berufsbildungsforschung und Berufs/Wirtschaftspädagogik. Zudem wenden sich auch Nachbardisziplinen wie etwa die allgemeine Pädagogik oder die Sozialwissenschaften dem Thema höchstens stiefmütterlich zu. Die fehlenden Kapazitäten im Bereich der Berufsbildungsforschung wirken auch direkt auf das Berufsbildungssystem zurück, da es keine von staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren unabhängigen Expertisen zu Reformbedarfen von Ausbildungsstrukturen und -inhalten gibt. Dies wird auch daran deutlich, dass die Datenbasis für die Bedarfsermittlung durch die SHRDCs von der BQA als unzureichend beschrieben wird. Aufgrund der demokratischen Stabilität des Landes und dem hohen politischen Interesse an der Weiterentwicklung der Berufsausbildung ist der Kooperationsaufbau zwischen internationalen und botswanischen Forschungseinrichtungen bzw. Forschern nachdrücklich zu empfehlen.

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Janis Vossiek

draft-national-development-plan-ndp-11-presentation-speech.htm. Zugegriffen: 10. Mai 2018 Transparency International (2017). Corruption perception index. https://www.transparency.org/news/feature/corruption_perceptions_index_2017. Zugegriffen: 20. März 2018. UNESCO-IBE (2010). World Data on Education. 7th Edition 2010/11. Botswana. www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/Publications/WDE/2010/pdfversions/Botswana.pdf. Zugegriffen: 12. Mai 2018. United Nations Development Programme (2018). Human Development Report 2016 – Contry Profile Botswana. http://hdr.undp.org/en/countries/profiles/BWA#. Zugegriffen: 11. Mai 2018. United Nations Economic Commission for Africa (2016). Country Profile 2015 Botswana. https://www.uneca.org/sites/default/files/images/ORIA/CP/botswana.pdf. Zugegriffen: 11. Mai 2018. Weekend Post (2016). Kharma re-organizes Ministries. 10.10.2016. http://www.weekendpost.co.bw/wp-news-details-archive.php?nid=2965. Zugegriffen: 13. Mai 2018.

Anmerkung Das vorliegende Kapitel zu Botswana wurde auf Basis der im Zeitraum 1.2.2018 bis 3.2.2018 in Gaborone geführten Gespräche und durchgeführten Besuche in Bildungseinrichtungen angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere und insbesondere die abschließenden Einschätzungen bezüglich der Entwicklungen in Richtung dualisierter Berufsbildungsansätze zu untermauern. Die Analyse von weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die – zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Kapitels – aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung (Abschnitte 1 und 2). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit unserer Aussagen gewährleistet.

Botswana

187

Unsere Gesprächspartner kamen von folgenden Institutionen: GIZ Botswana, Deutsche Botschaft Botswana, University of Botswana, Botswana Qualifications Authority, Gaborone Technical College, Ministry for Employment, Labour Productivity & Skills Development (MELSD), Botswana Chamber of Mines, VDMA, Boitekanelo College sowie von dem Ministry of Tertiary Education, Research, Science and Technology (MoTE). Zudem wurden die Schulungsräume und Werkstätten des Gabornoe Technical College sowie des Boitekanelo College besucht.

Ghana: Berufsbildungsstrukturen zwischen Angebotsvielfalt und Standardisierung Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Abstract Ghana ist in der Region Subsahara-Afrika ein politisch relativ stabiles und wirtschaftlich vergleichsweise fortgeschrittenes Land. Die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung, auch dualer Ansätze der Berufsbildung, hat in Ghana eine wachsende bildungspolitische Bedeutung gewonnen. Die besonderen Herausforderungen liegen in der Regulierung der vielfältigen und qualitativ sehr unterschiedlichen Angebote, insbesondere des privaten schulischen und betrieblichen Qualifizierungssektors. Hierbei stoßen die verschiedenen Maßnahmen und Instrumente auf die Hindernisse, die auch in anderen Länderkontexten zu beobachten sind. Doch zugleich sind beträchtliche Erfolge zu verzeichnen.

1

Landeskontext

Ghana, ein aktives Mitglied der Afrikanischen Union und eines der fünf englischsprachigen Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS), nimmt eine Landfläche von 238.533 Quadratkilometern ein und verzeichnete 2016 eine Bevölkerung von 28,2 Millionen Menschen. Die Bevölkerungswachstumsrate des Landes liegt bei etwa 2,7%. Innerhalb von sechs Jahren nahm die Bevölkerungszahl des Landes von 24,6 Millionen im Jahr 2010 um knapp vier Millionen Menschen zu. Im Jahr 2016 waren 50,8% der Bevölkerung weiblich. 38% der Bevölkerung Ghanas sind Kinder unter 14 Jahren, die 15-24-Jährigen stellen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_6

189

Ghana

18,5%, die 25-54-Jährigen 34% der Bevölkerung dar. Innerhalb von vier Jahrzehnten ist die Stadtbevölkerung von 23% der Gesamtbevölkerung in 1960 auf 43,61% in 2000 gewachsen. Dieser Land-Stadt-Drift übt nicht nur Druck auf Bildung und andere soziale Dienste in städtischen Gebieten aus, sondern führt auch zu einer städtischen Beschäftigungskrise, die durch Qualifizierung nur schwer einzudämmen ist. 1.1

Politische Rahmenbedingungen

1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Ghana erhielt seine Unabhängigkeit im Jahr 1957 als erstes Land Afrikas südlich der Sahara. Seitdem ist es Mitglied im Commonwealth. Es folgten Jahrzehnte, die durch mehrere Putsche und Militärregierungen gekennzeichnet waren. Seit 1992 verfügt die Republik Ghana jedoch über eine demokratische Verfassung und gilt heute als eine der stabilsten Demokratien Subsahara-Afrikas. Das Parlament und der Präsident, der sowohl Staatsoberhaupt als auch Regierungschef ist und nur einmal wiedergewählt werden darf, werden für eine Amtszeit von vier Jahren vom Volk direkt gewählt. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Der aktuelle Präsident Nana Addo Dankwa Akufo-Addo (Stand Februar 2019) löste im Dezember 2016 den Amtsinhaber Mahama ab. Seine Partei, die New Patriotic Party (NPP), verfügt über eine absolute Mehrheit im Parlament. Zu seinen zentralen Wahlversprechen gehörten die Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums, die Eindämmung der Korruption, der Ausbau der Infrastruktur und nicht zuletzt auch die Abschaffung der Schulgebühren in der Sekundarstufe. Im Bildungsbereich hat die Regierung bereits ihre Versprechung einer kostenlosen Sekundarbildung eingelöst. Darüber hinaus sieht der Präsident

190

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

den Ausbau der Berufsbildung und die Stärkung der technischen und naturwissenschaftlichen Fächer in der Hochschulbildung als Prioritäten an. Für die Reform der Berufsbildung wurde Anfang 2018 eine umfassende Strategie vom Kabinett beschlossen, mit welcher unter anderem die zersplitterten Zuständigkeiten in diesem Bereich aufgehoben und in die Federführung des Bildungsministeriums gelegt wurden (vgl. COTVET, 2018). International ist Ghana aufgrund seiner politischen Stabilität ein geschätzter Partner in der Entwicklungszusammenarbeit. Mit dem Ziel „Ghana beyond aid“ hat der Präsident jedoch seine Absicht verdeutlicht, sein Land aus der Abhängigkeit gegenüber den Geberländern herauszuführen und sich als gleichwertigen Partner zu positionieren. Im Rahmen der bilateralen Reformpartnerschaft mit Deutschland soll insbesondere die Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien und der Infrastruktur verstärkt werden.66 Korruption und Untreue stellen neben bürokratischen Hürden und finanziellen Engpässen massive Hindernisse bei der Umsetzung konkreter politischer Maßnahmen dar. Ghana belegt 2018 Rang 81 von 181 Ländern im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. 67 Bürokratie und Korruption erschweren darüber hinaus nicht nur den Alltag der Bevölkerung, sondern wirken sich auch negativ auf das Geschäftsleben aus. Nichtsdestotrotz und im Vergleich mit anderen Ländern der Region wird Ghana oft als Vorbild gehandelt und als „Afrika für Einsteiger“ bezeichnet (Germany Trade and Invest GmbH, 2018, S. 2).

66

67

Siehe dazu den Bericht vom 12.12.2017 in der Deutschen Welle, verfügbar unter http://www.dw.com/de/ghana-und-deutschland-beschlie%C3%9Fen-reformpartnerschaft/a-41765227 (Letzter Zugriff 29.04.2018). Vgl. Transparency International CPI: https://www.transparency.org/country/GHA (Letzter Zugriff am 28.04.2018)

191

Ghana

1.2

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

1.2.1 Wirtschaftssektoren Im Human Development Index der Vereinten Nationen belegt Ghana den 139. Platz und zählt seit 2010 zur Kategorie der „lower middle income countries“. Als erstes Land in der Region gelang es Ghana gemäß den Millenniumsentwicklungszielen, den Anteil der von extremer Armut betroffenen Menschen zwischen 1990 und 2015 zu halbieren. Darüber hinaus konnten auch die Ziele der Grundschulbildung für alle und der Gleichstellung der Geschlechter in der Grundschule erreicht werden (UNDP, 2015). Die Struktur der ghanaischen Wirtschaft hat sich seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1957 kaum verändert. Das Land ist nach wie vor auf den Export von Rohstoffen wie Kakao, Gold, Diamanten, Bauxit, Mangan und Holzprodukten angewiesen. Zunehmende Bedeutung gewinnt die Ölund Gasbranche aufgrund umfangreicher Vorkommen in der Nähe von Takoradi. Öl ist nach Gold das zweitwichtigste Exportgut Ghanas. An dritter Stelle rangiert Kakao. Ghana ist weltweit zweitgrößter Kakaoproduzent. Beeindruckende Zuwächse wurden im nicht-traditionellen Exportsektor erzielt, der wiederum hauptsächlich aus Kunsthandwerk und unverarbeiteten Lebensmitteln wie Ananas, Mangos, Yamswurzel, Pfeffer und Bananen besteht. Wichtigste Importgüter sind Fahrzeuge, Maschinen und Nahrungsmittel (Auswärtiges Amt, 2017). Nach einer Phase niedrigen Wachstums zwischen 2014 und 2016 wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder stärker (ca. 5,89% in 2017 und voraussichtlich 6,6% in 2018). Dabei geht der Aufschwung jedoch recht einseitig auf die Öl- und Gasbranche zurück, während sich andere Branchen erst langsam wieder erholen. Die Politik des „local content“ des Präsidenten und seiner Partei NPP bevorzugt in manchen Bereichen wie der Logistikbranche und dem Bergbau die heimischen Unternehmen und macht es ausländischen Investoren sowie Exporteuren nicht leicht. Im „Doing business“-Ranking der Weltbank schneidet Ghana auf Rang 120 von 190 et-

192

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

was besser in 2018 ab als in den vorausliegenden Jahren. Laut einer Analyse der Germany Trade and Invest (GTAI) vom Februar 2018 „bleiben in Ghana viele Sektoren hinter ihrem Potenzial zurück“.68 Dabei seien sowohl für ausländische als auch für heimische Unternehmen Geschäftschancen vorhanden. Deutsche Unternehmen bleiben jedoch in Ghana nur in geringer Zahl und mit kleinen Niederlassungen oder Vertriebspartnern vertreten. Abb. 1: SWOT-Analyse Ghana Strengths (Stärken) • Rohstoffreichtum (Öl, Gas, Gold, Kakao). • Politische Stabilität. • Gute und stabile Beziehungen zu Gebern. • Schnell wachsende und konsumfreudige Bevölkerung.

Opportunities (Chancen) • Öl und Gassektor befindet sich in der Aufbauphase. Bei steigendem Ölpreis neue Großinvestitionen möglich. • Ausbau der Elektrizitätsinfrastruktur. • Seit Jahren Investitionen in den Einzelhandel. Zunehmende Lieferchancen insbesondere für preisgünstige Konsumgüter. • Bei weiter steigendem Goldpreis sind Modernisierungsinvestitionen möglich.

Weaknesses (Schwächen) • Hohe Strompreise. • Im internationalen Vergleich kleiner Markt mit etwa 28,8 Mio. Einwohnern. • Geringe Kaufkraft mit einem ProKopf-Einkommen von 1.600 USDollar pro Jahr. • Umgeben von frankofonen Ländern und damit regional recht isoliert. • Geschäftsleute berichten über zunehmende Korruption. Threats (Risiken) • Werteverlust des Cedi konnte zuletzt gestoppt werden, bleibt aber ein Risiko.

Quelle: Germany Trade and Invest GmbH (2018)

68

http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Branchen/branchencheck,t=branchencheck-ghana-februar-2018,did=1860966.html (Zugriff am 29.04.2018)

Ghana

193

Die Erwerbstätigen verteilen sich wie folgt auf die drei Sektoren Landwirtschaft (45%), Industrie (14%) und Dienstleistungen (41%) (Stand 2013). Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre hat nicht zu einer entsprechenden Zunahme der Arbeitsplätze geführt. Vor dem Hintergrund des demographischen Wachstums haben sich daher die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Laut Untersuchungen des Ghana Statistical Service (GSS) beträgt die Arbeitslosigkeit zurzeit rund 11,9% und für die 15-24Jährigen 25,9%. Viele Menschen können sich jedoch keine Arbeitslosigkeit leisten und nehmen daher eine prekäre Beschäftigung in der informellen Wirtschaft auf. Rund 90% der Beschäftigten arbeiten im informellen Sektor (Ackah, 2017). 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Auch wenn der Zugang zur Schulbildung in den letzten zehn bis zwanzig Jahren stark gestiegen ist, wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Ghanas immer noch durch das niedrige Bildungsniveau weiter Bevölkerungsteile gehemmt. Etwa 62% der Beschäftigten haben die Schule vor Ende der unteren Sekundarstufe verlassen oder verfügen über gar keine formale Bildung, während lediglich 9% über einen Abschluss der oberen Sekundarstufe oder höher verfügen (Palmer, R. & Darvas, P., 2014, S. 2). Steigende Studierendenzahlen sorgen vor allem in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern bzw. auch in Jura und BWL für ein Überangebot an Akademikern, während es an qualifizierten Absolventen im technischen Bereich mangelt (Ananga, Adzahlie-Mensah & Tamanja, 2016, S. 79). Insgesamt ist das Passungsverhältnis zwischen den Anforderungen am Arbeitsmarkt und den Qualifikationen der Beschäftigten in vielen Berufszweigen nicht sehr gut. Insbesondere in den technischen Berufen und in der Landwirtschaft mangelt es den Beschäftigten an den geforderten Kom-

194

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

petenzen, während viele Beschäftigte in Büroberufen und einfachen Tätigkeiten überqualifiziert sind (vgl. Sparreboom & Gomis, 2015, S. 20–23), wie es Abbildung 2 zeigt:69 Abb. 2: Qualifizierungsniveau der Beschäftigten in ausgesuchten Berufszweigen 0%

20%

Elementary occupations

18%

Plant and machine operators

19%

Craft and related trade workers

Clerical support workers

25%

100%

23%

73% 52%

22%

46%

5%

73%

28%

71% 67%

38%

Legislators/managers Underqualified

80%

79%

Technicians and associate professionals Professionals

60%

59%

Skilled agricultural and fishery workers Service/sales workers

40%

Overqualified

33% 62%

58%

42%

Correctly matched

Quelle: Sparreboom und Gomis (2015, S. 44)

Der Fachkräftemangel ist bisher jedoch nicht systematisch durch empirische Untersuchungen präzisiert und belegt worden. Entsprechende Studien sind allerdings im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Rat für Technische und Berufliche Aus- und Weiterbildung (Council for Technical and Vocational Education and Training, COTVET) und Price-

69

Die Berechnung erfolgt anhand einer ILO-Methode, die Bildungsniveaus anhand der ISCED-Klassifikation mit ausgesuchten Berufstypen normativ koppelt und das Passungsverhältnis auf der Grundlage des höchsten erreichten ISCED-Niveaus der Beschäftigten ermittelt.

195

Ghana

WaterHouseCoopers (PWC) Ghana Limited geplant. Sie sollen eine wissenschaftlich belastbare Grundlage für die Reformen des Berufsbildungssystems bieten.70 Studien wie von Yaw Obeng, Adjaloo und Amrago (2013) zeigen, wie beispielsweise in der Metallindustrie die unzureichende Ausbildung der Fachkräfte die Produktivität einschränkt und den technologischen Wandel verhindert. In den 500 metallverarbeitenden Betrieben in Kumasi, die im Rahmen der genannten Studie untersucht wurden, hatten 86% der Mitarbeiter71 eine traditionelle Lehre absolviert. Die größten Qualifizierungsbedarfe wurden in den Bereichen ICT und Computer Aided Design/Manufacturing (CAD/CAM) identifiziert, jedoch fanden die Autoren ebenfalls große Lücken in anderen Kompetenzbereichen aufgrund fehlenden technischen Wissens.

2

Berufliche Bildung

2.1

Struktur des Bildungssystems

Das ghanaische Bildungssystem ist zentralstaatlich organisiert und unterliegt überwiegend der Verantwortung des Bildungsministeriums (Ministry of Education, MoE). Seit der Bildungsreform 2007 hat sich die Grundausbildung von neun auf elf Jahre verlängert. Sie gliedert sich in eine zweijährige Vorschule (Kindergarten), eine sechsjährige Grundschule (Primary School) und eine dreijährige Mittelschule (Junior High School, JHS), die mit dem Basic Education Certificate (BECE) abgeschlossen wird.

70

71

Siehe dazu auch Pressemitteilung von COTVET vom 22.01.2018, z.B. in https://www.ghanaweb.com/GhanaHomePage/NewsArchive/COTVET-PWC-signpact-for-skills-gap-analysis-619808 (Zugriff 29.04.2018). Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen.

196

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

An die abgeschlossene Grundausbildung auf dem Niveau der Sekundarstufe I kann eine allgemeinbildende oder berufliche Ausbildung auf Niveau der Sekundarstufe II angeschlossen werden. Die dreijährige (ggfs. auch vierjährige) allgemeinbildende Schulbildung findet an einer oberen Sekundarschule (Senior High School, SHS) statt und schließt mit dem West African Senior Secondary School Certificate Examination (WASSCE) ab (frühere Bezeichnung: Senior Secondary School Certificate). Im Bereich der Berufsbildung (Technical and Vocational Education and Training, TVET) besteht die Möglichkeit, für drei bzw. vier Jahre ein berufsbildendes oder technisches Institut zu besuchen. Diese Art der Berufsausbildung ist nicht einheitlich geregelt. Zuständig hierfür sind bis vor kurzem verschiedene Ministerien gewesen und auch der private Sektor bietet TVETProgramme an. Nach Abschluss der Ausbildung wird ein Diploma oder Certificate ausgestellt. Im Anschluss an die beruflichen Ausbildungen kann eine höhere Bildungseinrichtung besucht werden. Die dreijährige Dauer der allgemeinbildenden sowie berufsbildenden Ausbildung ist auf zahlreiche Reformen zurückzuführen: Vor der Bildungsreform basierte die Ausbildung auf einem dreijährigen Curriculum, 2007 wurde dies auf vier Jahre erweitert. Anfang 2009 wechselte man jedoch wieder zurück auf drei Jahre. Die Länge der Ausbildung ist nach wie vor Diskussionsgegenstand in der Bildungspolitik. Im postsekundären Bildungsbereich sind die höheren Bildungseinrichtungen (Polytechnics) angesiedelt und bieten eine höhere Berufsbildung an. Nach drei Jahren kann der Abschluss Higher National Diploma (HNP) erlangt werden. Die Absolventen haben im Anschluss die Möglichkeit ein spezielles 18-monatiges Programm zu belegen, um an einer Universität einen Bachelor of Technology zu erhalten. Der tertiäre Bildungssektor in Ghana ist in den letzten zwanzig Jahren deutlich gewachsen. Ein wesentlicher Teil dieser Entwicklung ist auf den privaten Sektor zurückzuführen.
 Der erfolgreiche Besuch einer Universität führt zu den Abschlüssen Bachelor und Master. Studierende werden in der Regel auf der Basis ihrer Abschlussleistungen im Rahmen der Höheren Allgemeinbildung (WASSCE; siehe oben) zugelassen.

Ghana

197

Mehr als fünf Millionen Kinder besuchen derzeit die Grundschulen. Es gibt eine relativ hohe Übergangsrate von der Grundschule zur Junior High School (94,5%), aber die Verbleibquoten sowohl in der Grundschule (81%) als auch in der JHS (78,5%) sinken. Den JHS-Abschluss legen die Schüler/-innen in sieben Fächern im Rahmen der Basic Education Certificate Examinations (BECE) ab. Zwischen 2009 und 2014 betrug die Zahl der BECE-Kandidaten durchschnittlich 385.041 pro Jahr. Abschließend wechselt ein Großteil in die Senior High Schools. Die Übergangsrate von der Junior- zur Senior High School stieg von 30% im Jahr 2002 auf 61,2% im Jahr 2012/2013 (COTVET, 2018, S. 12; vgl. Ministry of Education, 2013). Derzeit erreichen somit etwa 40% der Schüler, die in die Primary School eingeschult werden, die Senior High School. Abbildung 3 zeigt die Struktur des Ghanaischen Bildungssystems seit 2007.

198

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Abb. 3: Struktur des staatlichen Bildungssystems in Ghana

Quelle: eigene Darstellung (in Anlehung an COTVET, 2018). Layout: DLR Projektträger.

Ghana blickt auf eine lange Geschichte der technischen und beruflichen Bildung (TVET) zurück. Im Laufe der Jahre haben sich drei verschiedene Angebotsrichtungen der beruflichen Bildung entwickelt. Diese entstammen dem formalen, dem nicht-formalen und dem informellen System.

199

Ghana

Das formale System umfasst in erster Linie zeitgebundene, institutionsbasierte, inhaltlich standardisierte, abgestufte und zertifizierte Ausbildungen. Es wird von Institutionen wie dem Nationalen Institut für Berufsbildung (National Vocational Training Institute, NVTI), dem Bildungsservice Ghana (Ghana Education Service, GES), Jugendausbildungseinrichtungen und verschiedenen privaten Berufsschulen angeboten. Nicht-formale Berufsbildung weist typischerweise strukturierte Lernziele, Lernzeiten und Lernunterstützungen auf, führt aber in der Regel nicht zur Zertifizierung. Workshops, Kurzkurse und Seminare sind typische Beispiele für nicht-formale Angebote. Das informelle System umfasst diverse Qualifizierungsprozesse, mit denen Wissen und Kompetenzen im Alltag und in betrieblichen Arbeitsprozessen erworben werden. In Ghana wird auch die traditionelle Lehrlingsausbildung dem informellen System zugerechnet. Sie ist wenig standardisiert. Es fehlen allgemeine (curriculare und rechtliche) Vorgaben zu den Inhalten, Ausbildungszeiten, Qualitätsstandards, Prüfungsstandards, etc.: „Most trade areas practiced in the informal sector have trade associations (membership is voluntary). There is no certification or registration of master crafts persons, who are self-appointed and not certified by any legal authority. The term master crafts person in Ghana does not refer to a standardized high level attainment of craftsmanship. It simply refers to a craftsperson who has an apprentice (or apprentices). It is estimated that about 92% of master-crafts persons had acquired their skills through traditional apprenticeships. It is most likely that skills are being passed on from one generation to the next without any injection of new knowledge, new technologies or innovative practice” (COTVET, 2018, S. 18). Es gibt in Ghana, wie in beinahe allen Ländern, eine lange Tradition der informellen Lehrlingsausbildung (apprenticeship), insbesondere in den folgenden Berufen (siehe auch Tabelle 1):

200

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

• Schreinerei • Mauerwerk • Automechanik • Schweißen und Konfektionieren • Gießerei und Gießen • Fotografie • Schneiderei • Schönheit • Lebensmittelverarbeitung und andere landwirtschaftliche Bereiche • Schuhherstellung und -reparatur • Elektrische Verkabelung und Reparaturen Tab. 1: Die sechs beliebtesten Berufsfelder für ein apprenticeship in Ghana

Beliebteste Ausbildungsberufe

% männlicher Auszubildender

% weiblicher Auszubildender

% aller Auszubildender

Textil, Bekleidung

9.4

52.0

31.7

Dienstleistungen an Personen

0.7

41.2

21.9

Bau

28.1

0.8

13.8

Automobil

20.9

0.0

10.0

Transport und Logistik

15.4

0.3

7.5

Mechaniker

14.1

0.1

6.8

Gesamt

88.6

94.4

91.7

Quellen: Ghana Statistical Service (2014, S. 20) (zitiert nach COTVET, 2018, S. 18).

Ghana

201

Das informelle System ist der Ort, an dem die Mehrheit der nachwachsenden Generation in den Entwicklungsländern, so auch in Ghana, die für den Lebensunterhalt erforderlichen Fertigkeiten erwerben. In jüngster Zeit zeigen Meister (Master Crafts Persons, MCPs) als die primären Anbieter informeller Lehrlingsausbildung ein verstärktes Interesse an einer Neuausrichtung der Ausbildung durch die Einführung standardisierter Ausbildungsmodule. • Das informelle Ausbildungsangebot in Ghana weist weitere typische Merkmale des traditionellen Lehrlingswesens auf, zum Beispiel das Lehrgeld: „Informal apprenticeship is mostly privately financed (…) Apprentices pay their Masters a fee (on commitment and upon graduation) in exchange for training (and sometimes “chop money”). There may be a variety of contributions in-kind͛ from both sides, but it is unregulated and undocumented. In some trade areas apprentices also supply their own tools” (COTVET, 2018, S. 19). Dieses Lehrgeld war auch in der alteuropäischen zünftlerischen Lehrlingsausbildung üblich und wurde erst beim Übergang in das 20. Jahrhundert schrittweise abgeschafft. In einigen wenigen Ländern, in denen dieses Lehrlingswesen einer wachsenden Standardisierung unterzogen und zu einem dualen System weiterentwickelt wurde, erfolgte Stück für Stück die Einführung einer Ausbildungsvergütung für die Auszubildenden. Dennoch wird auch in weiter entwickelten beruflichen Bildungssystemen nicht selten ein beträchtliches Ausbildungs- oder Schulgeld erhoben, zum Beispiel im Gesundheitsbereich. • Im formalen und nicht-formalen System der beruflichen Bildung in Ghana gibt es ebenfalls eine Vielzahl und Vielfalt von Angeboten, die in die Zuständigkeiten verschiedener Ministerien fallen bzw. fielen. Diese Zuständigkeit hat sich aktuell verändert (siehe dazu die weiteren Ausführungen unten, Abschnitt 2.2.2), doch aufgrund der tatsächlichen Situation in Ghana werden diese verschiedenartigen Zuständigkeiten hier noch dargestellt.

202

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

• Es gibt 45 Technical Training Institutes (TTIs) im Rahmen des Ghana Education Service. Etwa die Hälfte davon sind ehemalige private Institutionen (vor allem religiöse), die seit 2006 übernommen wurden. Im Jahrgang 2013/2014 belief sich die Gesamtzahl der Teilnehmenden in den TTIs auf 27.166, davon waren 4.971 weiblich. Der TTI-Lehrplan umfasst SHS-Kernfächer, die von der nationale Prüfungsbehörde National Board for Professional and Technician Examinations, NABPTEX) geprüft werden. Prüfungen in Wahlpflichtfächern werden von der Technical Education Unit (TEU) der Ghana Education Service durchgeführt. Nach Abschluss eines dreijährigen Programms erhalten die Studierenden das National Certificate II (Level 4). • Das Arbeitsministerium (Ministry of Employment and Labour Relations, MELR) ist der größte Anbieter formaler beruflicher Bildung, und zwar in den folgenden Einrichtungen:  Vocational Training Institutes (VTIs) of the National Vocational Training Institute (NVTI), 34 Einrichtungen;  Integrated Community Centres for Employable Skills (ICCES), 63 Einrichtungen;  Opportunities Industrialization Centres (OICs), drei Einrichtungen. Das National Vocational Training Institute (NVTI) ist ein zentraler Anbieter beruflicher Bildung mit (bislang) weitgehenden Zuständigkeiten: “NVTI is a regulator of its standards, a training provider, as well as a testing and certification body. NVTI’s activities are backed by a legal framework (NVTI Act, 1970) which is the oldest legal framework for TVET provision in the country. The Institute has a Board which makes it semi-autonomous from its parent Ministry. NVTI conducts Apprenticeship training as well as Instructor and Master Craftsperson training. Apprenticeship training is provided in two environments: school-based and workshop-based Vocational Training Institutes (VTI) in about 28 skill areas. NVTI conducts tests and gives awards at Proficiency I & II, Trade Test Certificate I &

203

Ghana

II, and National Craft Certificate (NCC). Skills Development and its sub-programme (vocational skills training and testing͛) under which the VTIs, OICs and ICCES fall (participation targets are set in excess of 50,000 learners) receive a large proportion of funding. This programme accounted for 44% of total planned funding for the Ministry in 2015” (COTVET, 2018, S. 13). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Angebote und Berufsbildungseinrichtungen, die in die Zuständigkeiten der diversen Ministerien fallen bzw. fielen: „Other Ministries manage TVET delivery institutions (...) There have been some recent changes in the involvement of other Ministries in TVET. The Social Welfare Training Centres were moved from the Ministry of Employment and Labour Relations to the Ministry of Gender, Children and Social Protection in 2013. The Government in 2017 placed a renewed emphasis on the need for prioritizing Agriculture which is also a subset of TVET. Agriculture in Ghana is managed by the Ministry of Food and Agriculture (MoFA) which has the mandate as the central government agency for the modernization and promotion of agriculture in Ghana. MoFA has 8 institutions made up of 5 Colleges of Agriculture and 3 Farm Institutes. The Colleges are centres for the training of Technical Officers for MoFA who serve as Extension Officers or Frontline Staff. The Farm Institutes train prospective and practicing farmers in good agricultural practices (GAPs) for one year, and also provide short training programs on demand (…) The farm institutes have been certified as CBT training centres and have obtained accreditation from COTVET to run training programs for the citrus and pineapple value chains at National Certificate 1 on the National Technical Vocational Education and Training Qualifications

204

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Framework (NTVETQF). However, graduates of these institutes have difficulty in assessing further and higher education; and this is demotivating. This underscores the need to properly integrate Agriculture in TVET” (COTVET, 2018, S. 14). Schließlich ist das Berufsbildungsangebot von einer Vielzahl privater Anbieter geprägt. Dies ist in allen Ländern weltweit der Fall, doch in Ghana und in vielen anderen Ländern Subsahara-Afrikas ist die Situation dadurch geprägt, dass diese privaten Angebote quantitativ überragen. COTVET (2018, S. 16) unterscheidet drei Formen privater beruflicher Bildungsangebote: “(a) Faith-based, not-for-profit TVET institutions; (b) TVET institutions owned by NGOs; and (c) TVET institutions owned by private individuals and organizations. The Catholic Church is the largest Private faith based TVET provider with 53 centres across the country. Other faith-based organizations which operate TVET institutions include the Methodist Church of Ghana; the Presbyterian Church of Ghana; the Anglican Church of Ghana; the Evangelical Presbyterian Church of Ghana; the Adventist Church, and the Ahamadiya Muslim Mission. The Methodist Church has 23 TVET institutions. The Presbyterian Church’s Vocational Training for Females (VTF) programme is engaged in national level TVET development and in 2009, VTF established the Network on Technical and Vocational Education and Training (NETTVET) as an advocate on TVET issues and promote gainful employment for the youth (…) Private TVET providers have an association, Ghana National Association of Private Vocational and Technical Institutions (GNAVTI), which promotes the interests of its members.” Auch in Ghana gibt es einen Qualifikationsrahmen, der der Einordnung und Gegenüberstellung der vielen verschiedenen Abschlüsse dienen soll, der National TVET Qualifications Framework (NTVETQF). Zukünftig

205

Ghana

soll dieser Qualifikationsrahmen für die berufliche Bildung mit den Abschlüssen der Allgemein- und Hochschulbildung zusammengeführt werden: „The work done to develop the NTVETQF creates the foundation for the further development of a comprehensive linked National Qualifications Framework consisting of two subframeworks (General and TVET Education). This next step will be necessary to reap all of the benefits of a qualifications framework (such as pathways to higher education with credit). In all countries there is an overlap between higher levels of general education and TVET, and between the lower levels of Higher Education and TVET” (COTVET, 2018, S. 31). Traditionell besitzt für die berufliche Bildung das NVTI, eine Einrichtung des Arbeitsministeriums, eine zentrale Prüfungs- und Zertifizierungsfunktion in Ghana. Diese Funktion soll zukünftig den Einrichtungen des Bildungsministeriums zufallen: “COTVET is working towards improving TVET assessment through a national external quality assurance system which accredits providers to deliver programmes and accredits awarding bodies and their verifiers” (COTVET, 2018, S. 31). Tabelle 2 zeigt, dass das Angebot privater Bildungsanbieter das Angebot der staatlichen Anbieter weit übersteigt. Dies ist ein typisches Phänomen in den Ländern der Region Subsahara Afrika. Hinzu kommt das quantitativ sehr bedeutsame informelle System. Tab. 2: Zusammenfassung der Anbieter beruflicher Bildung, einschließlich Zuständigkeit Responsible Ministry presently

Type of institution

Administering authority

Total students/ learners population

1

Technical University / Polytechnics

National Council for Tertiary Education (NCTE)

(missing value)

Ministry of Education

206 1

2

3

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener Ministry of Education

Ministry of Employment and Labour Relations

Ministry of Trade

Technical Institutes

Ghana Education Service (GES)

40,000

Secondary Technical Schools

Ghana Education Service (GES)

8,000

Skills Training Centers

Non-formal Education Division

87,500

Vocational Training Centers

National Vocational Training Institute (NVTI)

4,132

Skills Training Centers

Integrated Community Centres for Employable Skills (ICCES)

3,504

Vocational Training Centers

Opportunity Industrialisation Centre –Ghana

(missing value)

Skills Training Centers

Ghana Regional Appropriate Technology Industrial Service (GRATIS)

250

Rural Technology Training Center

Rural Enterprise Program (Rural Enterprise Facility)

400

Skills Training Centers

Colleges of Agriculture

(missing value)

4

Ministry of Agriculture

Skills Training Centers

Farm Institutes.

500

5

Min. Gender & Soc. Protection

Skills Training Centers

Social Welfare.

(missing value)

6

Ministry of Local Govt. & Rural Development

Skills Training Centers

Dept. of Community Development

(missing value)

7

Ministry of Youth & Sports

Skills Training Centers

Youth Leadership and Skills Training Centers

1,558

8

Ministry of Transport

Skills Training Centers

Government Tech. Training Centre

400

207

Ghana

9

Ministry Fisheries and Aquaculture

10

Ministry of Roads

11

Ministry of Tourism

12

Fisheries Collage (currently under construction)

Training Department

(missing value)

Road Sector

(missing value)

Skills College

HOTCAT

100

Ministry of Lands and Forestry

Professional Training School

GSSM

96

13

Ministry of Information

School

NAFTI

400

14

Ministry of Finance

Professional Training School

National Banking College

3,000

SUB-TOTAL (for Public Institutions)

149,840

Skills Training Centers

Private Tertiary Inst.

Skills Training Centers

GNAVTI Institutions

30,000

Apprenticeship

Trade Associations (FEPTAG)

400,000

SUB-TOTAL (for Private Institutions)

430,000

GRAND TOTAL

579,840

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an COTVET (2018, S. 21).

Im internationalen Vergleich sind die Zuweisungen des öffentlichen Sektors an das Bildungswesen hoch. Doch obwohl ein großer Teil der öffentlichen Mittel für den gesamten Bildungssektor bestimmt ist, erhält die Berufsbildung (im Durchschnitt) weniger als 3% davon. Die Ausgaben für das öffentliche Bildungswesen beliefen sich 2015 auf 5,9% des Bruttoinlandsprodukts bzw. auf 21,7% der gesamten staatlichen Ausgaben. Die Alphabetisierung bei Erwachsenen über 15 Jahren liegt bei 90,6% (2015). Ghana schaffte zwischen 2004 und 2005 die Schulgebühren

208

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

gänzlich ab, wodurch die Einschulungen an öffentlichen Grundschulen innerhalb von zwei Schuljahren von 4,2 Millionen auf 5,4 Millionen anstiegen. 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Das Bildungssystem beruht im Wesentlichen auf folgenden Gesetzen und Programmen: • Act 87, the Education Parts IV and V, Year 1961; betrifft die höhere Bildung • NLC Decree 401, Year 1969; betrifft Universitäten und vergleichbare Einrichtungen • PNDC Law 42, Year 1983; Änderung des Erziehungssystems von 1961 • White Paper on Reforms to the Tertiary Education System, Year 1991; Ausbau des höheren Bildungssektors • Government of Ghana (GoG) (1970) The National Vocational Training Institute Act, 1970. Act 351. Government Printer: Accra. • Government of Ghana (GoG) (1978) Legislative Instrument No. 1154. National Vocational Training Board (Apprentice Training) Regulations, 1978. Accra: Ghana Government Printer. • Government of Ghana (GoG) (2003b) Education Strategic Plan 20032015. Volume I, Policies, Targets and Strategies, Ministry of Education: Accra. • Government of Ghana (GoG) (2003c) Education Strategic Plan 20032015. Volume II, Work Program, Ministry of Education: Accra. • Government of Ghana (GoG) (2004b) Draft TVET Policy Framework for Ghana (August 2004), MoEYS: Accra.

Ghana

209

• Government of Ghana (GoG) COTVET Act 718 – Council for Technical and Vocational Education and Training Act, 2006 • Government of Ghana (GoG) (2009a) Education Strategic Plan 2010 to 2020. 2.2.2 Verantwortlichkeiten und Akteure72 Das Berufsbildungssystem in Ghana ist so zersplittert und über viele verschiedene Ministerien und Agenturen verteilt, dass nicht einmal die Regierung ein vollständiges Bild der Situation hat (vgl. Baffour-Awuah & Thompson, 2012). Aufeinander folgende Regierungen haben versucht, die Berufsbildung in Ghana zu koordinieren: Erstens durch die Gründung des NVTI im Jahr 1970, zweitens durch die Einrichtung des Nationalen Koordinierungsausschusses für technische und berufliche Bildung (NACVET) im Jahr 1990, drittens über COTVET. Abbildung 4 bietet eine Übersicht über die Genese der berufsbildungspolitischen Reformprozesse zu COTVET. Die ghanaische Regierung, die eine Reform des Bildungssektors als Ganzes anstrebte, setzte 2002 einen Ausschuss ein, um den Bildungssektor zu untersuchen und Empfehlungen auszusprechen. Eine der wichtigsten Empfehlungen dieses Ausschusses war die Einsetzung eines Rates für technische und berufliche Bildung, der alle Aspekte der Berufsbildung im Land überwachen sollte. Die Regierung folgte dieser Empfehlung mit der Verabschiedung des Gesetzesentwurfs zur Gründung von COTVET, der im September zum COTVET ACT (718) 2006 führte.

72

Die nachfolgenden Ausführungen im vorliegenden Abschnitt sind in ähnlicher Form zu finden in Frommberger (2015, 40 ff).

210

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Abb. 4: Zur historischen Entwicklung von COTVET Year

Month

1990 1993 1994 1997 2000

2001 2002

June Oct.

2004 2004 2004 2005

May Aug. Oct. Feb.

2005 2006

May May

2006

June

2006 2006 2006 2007 2007

June July Aug. Feb. Oct.

2008 2008 2010

Oct. Nov. Jan.

2010 2010

Feb. March

Process Establishment of NACVET (National Coordinating Committee for Technical and Vocational Education and Training) Establishment of NAB (National Accreditation Board) Establishment of NABPTEX (National Board for Professional and Technician Examinations) Advocated necessity of TVET reform Development study on Educational Development by MOE with JICA Developed “A Master plan to strengthen Technical Education in Ghana” TVET Policy Document (The first plan) Report on Education Reform (suggested establishment of NCTVET: National Council for Technical and Vocational Education and Training) National Consultative Forum on TVET Policy TVET Policy Document (Final) Submission of TVET Policy to the Cabinet Planning of Education Round Table Conference for Education Technical Committee Presentation of the TVET Policy Document to Cabinet Formulation of NERIC (National Education Reform Implementation Committee) Establishment of CPTC (COTVET Preparatory Technical Committee) by Chief Directors of MOE & MMYE Sensitization Workshop on COTVET Bill Deliberation of the Parliament on COTVET Bill Enactment COTVET Bill Publication of NERIC Final Report Inauguration of COTVET Board (Appointment of Ag. Exe. Director of COTVET) Appointment of Executive Director of COTVET Executive Director assumed duty First set of Technical Staff assumed duty (CBT specialist and Policy Specialist) Informal Sector Coordinator reported to duty Started partial operations in temporary office accommodation

Quelle: Baffour-Awuah und Thompson (2012, S. 21).

Ghana

211

Da das NVTI historisch die zentrale staatliche Institution für die Entwicklung von berufsspezifischen Curricula und für das Assessment/Zertifizierung war, hat COTVET diese zentralen Funktionen nicht ohne Auseinandersetzungen übernommen. Es gibt zwischen beiden Institutionen noch immer Empfindlichkeiten. Nach einem Regierungsbeschluss 2017 ist nun das Bildungsministerium (und damit COTVET) allein zuständig für die Berufsbildung in Ghana. Der Rat für Berufsbildung (Council for Technical and Vocational Education and Training, COTVET) ist ein nationales Gremium bzw. die zentrale nationale Berufsbildungsagentur. Vorgängereinrichtung war das NVTI, das 1970 durch ein Gesetz (351) des Parlaments ins Amt gerufen und mit der landesweiten Koordinierung aller Aspekte der beruflichen Bildung einschließlich der Lehrlingsausbildung sowohl im formellen als auch informellen Sektor beauftragt worden war (vgl. Palmer, 2009, S. 69). 1990 wurde das National Coordinating Committee on Technical and Vocational Education and Training (NACVET) ins Amt gerufen, um ein nationales System zur Entwicklung von Fähigkeiten zu koordinieren für den formalen und informellen Sektor. Allerdings scheiterte nach Palmer (2009) diese Einrichtung daran, dieses Ziel zu erreichen. NACVET war ein beratendes Gremium des Ministeriums für Bildung und verfügte nicht über einen eigenständigen Rechtsstatus. Mitte der 1990er-Jahre war NACVET in einem erschreckenden Zustand, auch bezeichnet als „eine leere Hülle" (The World Bank, 2001, S. 19), mit „fast keine(n) Kapazitäten“, fehlendem Rechtsstatus, „fast kein(em) Personal, keine(n) Management- und Arbeitssysteme(n), keine(n) Büroflächen ... keine(r) Geschäftsausstattung ... [und] keine(r) technische(n) und Management-Erfahrung im Bereich der Berufsbildung" (The World Bank, 2001, S. 6). In den frühen 2000er Jahren wurde NACVET noch immer als „eine extrem schwache Organisation" gesehen (The World Bank, 2001, S. 3). Die Entwicklung einer nationalen Politik der Kompetenzentwicklung war gescheitert und litt weiterhin unter Kapazitätsproblemen und unter den laufenden Spannungen mit und zwischen den Ministerien für Bildung und Arbeit.

212

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Mit dem Wunsch, den Bildungssektor als Ganzes zu reformieren, setzte die Regierung 2002 einen Ausschuss unter Leitung von Professor AnamuahMensah ein, um den Bildungssektor zu untersuchen und Empfehlungen für die Regierung auszusprechen. Eine der wichtigsten Empfehlungen dieses Ausschusses war es, einen Rat für technische und berufliche Bildung und Weiterbildung einzurichten (vgl. Baffour-Awuah & Thompson, 2012, S. 20). In dem Bericht von 2002 des Ausschusses zur Überprüfung der Bildungsreformen kam man also zu dem Schluss, dass NACVET „wegen der unterschiedlichen interministeriellen Ziele" (Government of Ghana, 2002, S. 155) mit der Schaffung einer neuen Koordinierungsstelle, dem Rat für Berufsbildung (COTVET), abzulösen sei (vgl. Palmer, 2009, S. 69). „Es sollte einen radikalen Wandel in der Qualität der Berufsbildungsabsolventen, die von TVET-Anbietern hervorgebracht werden, geben und Berufsbildung sollte als glaubwürdige Alternative zur allgemeinen Bildung gesehen werden“ (COTVET, 2010, S. 1). Im Anschluss an die Empfehlungen des oben genannten Berichtes einer Gruppe von Experten, die von der Regierung eingesetzt wurde, um den Bildungssektor in Ghana zu überprüfen, und des White Papers (TVET Policy Framework) von 2004, setzte die Regierung 2006 einen Ausschuss ein, um die Einrichtung eines neuen Rates für Berufsbildung (COTVET) zu erleichtern. Am 27. Juli 2006 verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf zur Errichtung des COTVET, der im September 2006 zum COTVET ACT führte (vgl. Baffour-Awuah & Thompson, 2012, S. 20). Es handelt sich um eine Instanz des Bildungsministeriums mit Sitz in der Hauptstadt Accra. Die Verabschiedung des COTVET-Gesetzes ging mit neuem Optimismus für die Entwicklung des Sektors einher: „Die Dinge verändern sich ziemlich schnell, wir haben jetzt ein Gesetz des Parlaments, das den Rat für Berufsbildung begründet. Dies ist ein klares Indiz für den Anfang von Systemen und Strukturen. Ich denke, dass TVET eine Zukunft hat, sofern COTVET sein Mandat ausfüllt." (politischer Entscheidungsträger, zitiert nach Bortei-Doku Aryeetey, Doh & Andoh, 2011, S. 34)

Ghana

213

Die zentralen Aufgaben für die Steuerung und Gestaltung der beruflichen Bildung liegen in den folgenden Bereichen: • Koordination und Überwachung aller Aspekte der beruflichen Bildung im Land; • Formulierung von Strategien für die Entwicklung von Fähigkeiten (skill development) für das breite Spektrum des formalen, informellen und nicht-formalen Sektors; • Abstimmung der Maßnahmen zur Förderung und Standardisierung der beruflichen Kompetenzentwicklung in insgesamt neun Ministerien (Ministry of Education, Ministry of Employment and Social Welfare, Ministry of Trade and Industry, Ministry of Agriculture, Ministry of Road and Transport, Ministry of Local Government, Ministry of Tourism, Ministry of Communications, Ministry of Youth and Sports) sowie in anderen privaten TVET-Anbietern; • Etablierung des nationalen Berufsbildungssystems, um die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der qualifizierten Arbeitskräfte sowie die einkommenserzeugenden Fähigkeiten der Menschen zu verbessern, vor allem bei Frauen und einkommensschwachen Gruppen durch die Bereitstellung von qualitätsorientierten, industriefokussierten und kompetenten Trainingsprogrammen und ergänzenden Dienstleistungen; • Weiterentwicklung der Vorgaben für die Bewertung und Zertifizierung in der beruflichen Bildung; • Maßnahmenentwicklung, um die Qualität und Gerechtigkeit beim Zugang zu beruflicher Bildung zu gewährleisten; • Pflege einer nationalen Datenbank für die berufliche Bildung; • Unterstützung der Forschung und Entwicklung in der beruflichen Bildung; • Unterstützung der Finanzierung der beruflichen Bildung;

214

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

• Förderung der Zusammenarbeit zwischen Bildungsanbietern und der Industrie, um eine nachfrageorientierte Lehrplanentwicklung zu unterstützen; • Förderung der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Entwicklungspartnern; • Ausgabe eines Jahresberichtes über den Entwicklungsstand von Fähigkeiten im Land; • Beratung der Regierung in allen Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit der Verwaltung und Verbesserung der beruflichen Bildung sowie des Ausbildungssystems stehen; • Angebot von Akkreditierungsleistungen für Bildungsanbieter, Schulungsleiter und Prüfer; Qualitätssicherungs-Service für Bildungsträger. Für die Gewinnung betrieblicher Ausbildungsbeteiligung ist die Abteilung „Angelegenheiten des Informellen Sektors“ von besonderer Bedeutung, diese ist zuständig für die Entwicklung von Mechanismen für die Übertragbarkeit zwischen formalen und informellen TVET-Systemen. Im Mittelpunkt stehen die Versuche, Unternehmen des informellen Sektors zu mobilisieren und in die Verbindung zu Wirtschaftsverbänden zu führen. Vom COTVET-Vorstand wurden die folgenden 5 ständigen Ausschüsse/ Gremien eingerichtet (vgl. Baffour-Awuah, o. J.): • National Apprenticeship Programme Committee (NAPC) für die Koordinierung der Aktivitäten des National Apprenticeship Programme (NAP). Das Programm wurde von der Regierung aufgelegt und als eine Strategie zur Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit im Land verstanden. COTVET koordiniert die Umsetzung der Ausbildung (apprenticeships); • National TVET Qualifications Committee (NTVETQC); dieser Ausschuss ist die wichtigste Regulierungsbehörde für den Nationalen Qualifikationsrahmen der Berufsbildung (NTVETQF). Er berät den COTVET-Vorstand;

Ghana

215

• Training Quality Assurance Committee (TQAC); die allgemeine Funktion dieses Ausschusses liegt darin, die Qualität der Bildungsanbieter und Qualifizierungsvergabeagenturen zu überprüfen und zu sichern; • Industry Training Advisory Committee (ITAC); allgemeine Funktion des Ausschusses und seiner Unterausschüsse ist die Entwicklung der nationalen Berufsstandards (National Occupational Standards) oder der Kenntnisse-, Fähigkeiten- und Arbeitsleistungsstandards für die Definition und Bescheinigung von Qualifikationen; der Ausschuss umfasst zwei Hauptunterausschüsse: a) Occupational Standards Generation Sub-Committee (SITAC) - fünf Gruppen, die für die Generierung von Berufsstandards für bestimmte Gewerbe verantwortlich sind; b) Occupational Standards Validation Sub-Committee (SITACOS) – fünf Gruppen, die verantwortlich sind für die Validierung von Berufsstandards, um sicherzustellen, dass diese die Bedürfnisse und Anforderungen an Fähigkeiten relevanter Industrien erfüllen. • Skills Development Fund Committee; wurde unter dem Vorstand des COTVET gegründet, um alle Aspekte der Einführung und Umsetzung des Skills Development Fund zu überwachen. Die Leitung des COTVET erfolgt durch einen 15-köpfigen Vorstand mit einem arbeitgebernahen Industrievertreter als Vorsitzenden und weiteren Vertretern des öffentlichen und privaten Sektors. Der Vorstand des COTVET wird vom Präsidenten Ghanas in Absprache mit Mitgliedern des Staatsrates ernannt. Mitglieder des Vorstandes sind a) der/die Vorsitzende, b) die Geschäftsführung, c) jeweils Vertretungen aus den Ministerien für Arbeit und Beschäftigung, für Umwelt, für Bildung sowie dem Ministerium für Industrie; eine Person mit Erfahrung in der beruflichen Bildung; zwei Personen, die von anerkannten Arbeitgeberverbänden nominiert werden; eine Person, die von der Institution of Incorporated Engineers nominiert wird; zwei Personen aus Organisationen der privaten beruflichen Bildungseinrichtungen; zwei weitere Personen, die vom Präsidenten ernannt werden (vgl. Parliament of the Republic of Ghana, 2006).

216

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Eine Schwierigkeit für die Wirkungsmächtigkeit von COTVET liegt in der zentralen Verfasstheit. Die regionale und lokale Verankerung der Aufgaben ist aufgrund eingeschränkter Kapazitäten nicht sehr stark ausgeprägt. Es ist also immer wieder schwierig, die Aufgaben im ganzen Land vor Ort zu vermitteln und tatsächlich wahrzunehmen. COTVET wird durch folgende Organisationsstruktur abgebildet: Abb. 5: Organigramm COTVET – Nationale Berufsbildungsagentur Ghana

Quelle: Frommberger (2015, S. 44) nach Baffour-Awuah und Thompson (2012, S. 23)

217

Ghana

2.3

Problemstellungen, Lösungsansätze und Projektinitiativen

2.3.1 Schwächen und Handlungsbedarfe im Berufsbildungssystem Die technische und berufliche Bildung spielt eine Schlüsselrolle für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Ghanas. Höhere Qualifikationsniveaus sind erforderlich, um die Produktivität zu steigern, das Wirtschaftswachstum zu unterstützen und Chancen für den Einzelnen zu schaffen. Ein Mangel an Fachkräften wird letztendlich schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft Ghanas haben. Die berufliche Erstausbildung wird in Ghana jedoch kaum wahrgenommen und wird oft als Reserveoption für diejenigen angesehen, die nicht in der Lage sind, die Noten für den Hochschulzugang zu erreichen. Dies hat traditionell die Zahl der Jugendlichen, die in die Berufsausbildung gehen, die Finanzierung des Sektors und die Qualität der Angebote begrenzt (Bortei-Doku Aryeetey et al., 2011). Die Situation in Ghana ähnelt damit der Situation in den meisten Ländern Subsahara-Afrikas. Schule und Arbeitsmarkt sind strikt voneinander getrennt, die Schule bereitet primär auf eine akademische Laufbahn vor und die berufliche Ausbildung als Vorbereitung auf eine Facharbeitertätigkeit hat ein Negativimage. Die Folgen sind gravierend. Zu den wichtigsten Herausforderungen im TVET-Sektor in Ghana gehören das Missverhältnis zwischen den erworbenen Fähigkeiten und den Markterfordernissen, die weit verbreitete Besorgnis über die schlechte Qualität der Ausbildung und des Ausbildungsumfelds sowie negative Einstellungen und Wahrnehmungen der Öffentlichkeit in Bezug auf die berufliche Bildung. 2011 wurden im Rahmen einer Fallstudie Eltern, Studenten, Verantwortliche von Berufsbildungsanbietern sowie Arbeitgeber/Ausbilder zur Situation der Beruflichen Bildung in Ghana befragt. Hier sind einige der wesentlichen Ergebnisse kurz zusammengefasst (vgl. Baffour-Awuah & Thompson, 2012):

218

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

• In Ghana herrscht die weit verbreitete Auffassung, dass nur bildungsschwache Menschen eine technische und berufliche Ausbildung absolvieren. Ein erheblicher Teil der derzeitigen Auszubildenden, insbesondere im informellen Sektor, wird daher als Schulabbrecher bezeichnet, was sich auf das Selbstwertgefühl und die externe Wahrnehmung der Fähigkeiten der Auszubildenden auswirkt. • Die Einschätzungen von Eltern, politischen Entscheidungsträgern und in einigen Fällen auch von Auszubildenden selbst deuten darauf hin, dass Berufsbildung als eine schlechte Investition mit geringer Rendite empfunden wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die in Ghana eine Berufsausbildung beginnen, eher arm sind. Ein hoher Prozentsatz der befragten Auszubildenden kam aus armen Familien, in denen die Eltern nicht die Möglichkeit hatten, ihre Kinder in die höhere Bildung zu schicken. Noch deutlicher war dieser Trend bei den Auszubildenden im informellen Sektor. • Eine beachtliche Zahl von Befragten (Auszubildende, Ausbilder und Eltern) war der Ansicht, dass es nur begrenzte Beschäftigungsmöglichkeiten für Personen gibt, die eine berufliche und technische Ausbildung absolvieren. Einige Auszubildende äußerten sich skeptisch über die Beschäftigungsperspektiven und verwiesen auf eine wachsende Kluft zwischen dem Angebot an Absolventen von Berufsbildungsprogrammen und der Nachfrage der Arbeitgeber. • Die Befragten hoben die Schwankungen des Einkommens aus beruflichen und technischen Berufen hervor. Tätigkeiten sind saisonabhängig und die Einnahmen aus diesen Tätigkeiten sind tendenziell unvorhersehbar, was sie weniger attraktiv für den Lebensunterhalt machte. • Viele Jugendliche, insbesondere in der informellen Ausbildung, waren skeptisch, was die Qualität der Ausbildung angeht. Die Verbesserung der Qualität und Standardisierung der informellen Ausbildung ist ein zentrales Anliegen und muss angegangen werden, wenn der Sektor verjüngt werden soll.

Ghana

219

• Die Arbeitgeber sahen in der Regel den Wert der Absolventen der beruflichen Erstausbildung für ihr Unternehmen und waren positiv in Bezug auf die Anwendbarkeit der erworbenen Fähigkeiten. Trotz dieser positiven Einstellung gegenüber Absolventen der beruflichen Erstausbildung waren die Arbeitgeber jedoch der Meinung, dass die Absolventen keine ausreichende Professionalität in Bezug auf ihre Arbeit an den Tag legten. Arbeitgeber sowohl aus dem formalen als auch aus dem informellen Sektor zeigten sich unzufrieden damit, dass die meisten neuen Absolventen Schwierigkeiten hätten, ohne Aufsicht selbständig zu arbeiten, und dass es ihnen an grundlegenden Voraussetzungen zur Beschäftigungsfähigkeit fehle. • Arbeitgeber aus dem informellen Sektor beklagten sich über einen jahrelangen Rückgang der Leistungsstandards bei den Beschäftigten, die eine informelle Berufsausbildung absolviert hatten. COTVET benennt die folgenden Herausforderungen für die berufliche Bildung in Ghana (COTVET, 2018, S. 11): • The lack of coordination among multiple TVET delivery agencies; • Poor linkage between training and industry; • Multiplicity of standards, testing and certification; • Quality of instruction was unsatisfactory, due to inadequate instructor preparation and lack of instructional supports as well as a poor training delivery approach and methods; • An informal TVET system that was neglected and detached from the formal sector; • Inadequate training equipment and facilities which was generally obsolete; • Poor public perception of TVET; Seen as only good for the academically weak students.

220

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

• Inadequate career guidance, counselling, placement and follow-up services; • Poor remuneration and conditions of service for TVET personnel compared to the general academic sectors; Insgesamt schränkt die chronische Unterfinanzierung die Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems stark ein. In den ländlichen Regionen fehlen Ausbildungszentren und in den Städten sind die staatlichen Berufsbildungseinrichtungen schlecht ausgestattet, überbelegt und durch mangelnde materielle und personelle Ressourcen nicht in der Lage, die anspruchsvollen Reformvorhaben der Regierung zufriedenstellend umzusetzen. 2.3.2 Aktuelle Reformen des Berufsbildungssystems Neben der Einrichtung und der Stärkung von COTVET zum Zwecke der Regulierung der beruflichen Bildung in Ghana und des Entwurfs des Nationalen Qualifikationsrahmens (NTVETQF) für die berufliche Bildung wurde damit begonnen, die curricularen Grundlagen mit dem CBT-Ansatz (Competence-Based-Training) weiterzuentwickeln. Der Übergang von der traditionellen inhaltsbasierten Aus- und Weiterbildung hin zum Competence-Based Training wurde damit zumindest in der strategischen Ausrichtung vollzogen – der Umsetzungsprozess dauert aber an, da dieser Wandel nicht nur neue didaktisch-methodische Vorgehensweisen erforderlich macht, sondern vor allem mit Veränderungen von Einstellungen/ Haltungen und Handlungsmustern verbunden ist. Denn die Veränderung der Curricula, die stärker outcomeorientiert gestaltet werden, bedeutet nicht zwingend, dass auch der Unterricht und die Ausbildung sich verändern und der Anwendungsbezug und Aktivierungsgrad der Lehr-Lern-Prozesse wächst. Diese Effekte hängen eng zusammen mit der Umsetzung der Lern- und Ausbildungsprozesse in Schule und Betrieb, dort wesentlich durch die Lehrkräfte beeinflusst.

221

Ghana Tab. 7: Vergleich des alten TVET-Ansatzes mit dem CBT-Ansatz

Altes Paradigma von TVET

Neues Paradigma von TVET (CBT)

Passive Lernende

Aktive Lernende

Examensgesteuert

Die Lernenden werden fortlaufend bewertet.

Routine Lernen

Kritisches Denken, Reflektion und Handeln

Der Lehrplan ist inhaltlich und thematisch gegliedert.

Eine Integration von Wissen, Fertigkeiten und Einstellung / Werten, Lernen ist relevant und mit der realen Situation / realen Arbeitssituation verbunden.

Lehrbuch-/Arbeitsblatt-gebunden und pädagogisch orientiert

Lernmaterialien/Trainingspakete, lernerzentriert; Pädagoge/Trainerin ist Moderatorin

Pädagoge/Trainer verwendet den „deduktiven“ Ansatz im Unterricht

Facilitator verwendet den „induktiven“ Ansatz im Unterricht

Sieht den Lehrplan als starr und nicht verhandelbar an.

Lernprogramme, die als Leitfaden verstanden werden, der es den Vermittlern ermöglicht, innovativ und kreativ bei der Programmgestaltung zu sein.

Pädagogen, die für das Lernen verantwortlich sind; Motivation abhängig von der Persönlichkeit des Pädagogen

Die Lernenden übernehmen Verantwortung für ihr Lernen; die Lernenden werden durch ständiges Feedback und die Bestätigung ihres Lernerfolges motiviert.

Betonung dessen, was der Erzieher erreichen möchte

Betonung der Ergebnisse (was der Lernende bekommt und versteht)

Inhalte nach starren Zeitrahmen geordnet

Flexible Zeitrahmen ermöglichen es den Lernenden, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten.

Der Lehrplanentwicklungsprozess ist nicht öffentlich kommentierbar.

Kommentare und Beiträge von der breiteren Öffentlichkeit/von Stakeholdern sind erwünscht.

Quelle: COTVET und City&Guilds (2011)

222

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

Auch in Ghana wird große Hoffnung in den CBT-Ansatz gelegt, vergleichbar mit vielen anderen Ländern. In der nachfolgenden Übersicht ist eine idealtypische Gegenüberstellung zu finden, die dazu dient, den CBT-Ansatz anzupreisen. Mit der Realität von Unterricht und Ausbildung in Ghana hat diese Beschreibung bislang jedoch nur sehr wenig zu tun. Eine wichtige Strategie zur Umsetzung des CBT-Ansatzes ist die Einrichtung von Sector Skills Councils, in denen branchen- bzw. sektorbezogen die Entwicklung der Curricula und Prüfungsstandards erfolgen soll. In diesen Einrichtungen sind die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen vertreten: “Economic Sector Councils/Body is divided into groups such as Agriculture Sector, Oil and Gas Sector, Tourism and Hospitality Sector, Textile and Garment Sector etc. Each sector Council/Body is industry-led with representation from professional associations, trade unions, employer associations, business networks, large employers, informal sector and as well as relevant demand and supply side Ministries, Departments and Agencies” (COTVET, 2018, S. 29). Die nachfolgende Übersicht zeigt die aktuellen berufsbildungspolitischen Strategien, die von COTVET entwickelt wurden und umgesetzt werden sollen:

223

Ghana Tab. 9: Ziele und Strategien in TVET

Policy Objective

Strategies

1. Governance and Management of TVET: To provide a coherent legal and institutional framework for the TVET sector which is accountable and responsive to the demands of the private sector and other stakeholders.

• • • • • •

• 2. Increased Access: To ensure equitable access and promote gender mainstreaming in TVET

• • • •

• 3. Improving quality: To ensure quality assurance in TVET according to internationally accepted standards



4. TVET Financing: To develop a sustainable source of Financing for TVET







Establishment of Sector Skills Councils Realignment of all TVET Institutions to MOE Operationalization of the Proposed TVET Service Establishment of an Apex Training Institution to train TVET staff for both the public and the private sector Addition of Departments of Education to Technical Universities Strengthening Agricultural Training in TVET - Strengthen the capacity of COTVET Conduct Skills Gap Analysis/Audit Profiling and Needs Assessment of All TVET Institutions Implementation of Recognition of Prior Learning Establishment of 20 New State of the Art Institutions Marketing and Promotion of TVET to stakeholders Effective Implementation of the Competency Based Training Policy Progressive Adoption of a Modified German Dual TVET System Strengthen the Capacity of the Qualification and Awarding Body (Assessment and Certification) Establish a Skills Development Fund to support TVET financing

224

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

5. Environmental Sustainability: Green TVET for environmental sustainability



To integrate Greening philosophies into the TVET curricula, workplace practices and communities.

Quelle: COTVET (2018, S. 36)

Unter Punkt 3 der obigen Übersicht wird explizit das Duale System der Berufsausbildung in Deutschland genannt, das – in modifizierter Form – in Ghana umgesetzt werden soll. 2.3.3 Dualisierte Berufsbildungsansätze 2012 bringt COTVET im Rahmen des Programms für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung (PSED) der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) das Cooperative Apprenticeship Training System (CAT) auf den Weg: “An ongoing attempt to strengthen informal apprenticeship system is the Ghana Skills Development Initiative (GSDI), supported by Germany’s development agency, GIZ. The GSDI builds capacity of both Master Crafts Persons (MCP) and Apprentices in the informal sector, improves the quality of traditional apprenticeship, and strengthens informal sector trade associations. The project works with 10 associations and 17 public and private TVET providers initially in three pilot regions; Greater Accra, Northern, and Volta Regions. Currently, three other regions: Ashanti and Eastern and Western have been added to the programme. Further, three new trades; Block laying and Concreting, Electrical Installation and Furniture making have also been added to the five trades which were covered in the first phase: Electronics, Automotive, Garments making, Cosmetology, and Welding and Fabrication” (COTVET, 2018, S. 18). Das CAT-System verbindet das traditionelle Lehrlingsausbildungssystem mit dem formalen Berufsbildungssystem in Ghana. Die Einführung von

225

Ghana

Berufsstandards nach dem CBT-Ansatz und die Koordination der Stakeholder zielt darauf ab, die technische und berufliche Ausbildung im informellen Sektor zu verbessern. Damit soll der steigende Bedarf an Fachkräften gedeckt, die Qualität der Arbeit verbessert und die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes unterstützt werden. Im CAT-System wird die bestehende praktische Ausbildung beim Master Craft Person (MCP) durch strukturierte Module, die auf dem CBT-Ansatz basieren, an TVET-Schulen ergänzt. Abb. 6: Cooperative Apprenticeship Training System - CAT

Fees + Labour

Apprentice

Master / Madam

Training + Allowances Quelle: Eigene Darstellung nach GIZ (2015)

Die Auszubildenden durchlaufen eine strukturierte Ausbildung in den beiden Lernumgebungen, dem Ausbildungsbetrieb und der formalen Berufsbildungsinstitution. Beide Komponenten basieren auf Berufsstandards nach dem CBT-Ansatz. Innerhalb von CAT entwickelt COTVET die Berufsstandards auf der Grundlage des CBT-Ansatzes und akkreditiert Ausbildungsanbieter, Berufsverbände und MCPs. Die 2012 gegründete Federation of Professional Trade Associations of Ghana (FEPTAG) ist die Dachorganisation der Berufsverbände, die ihre Interessen gegenüber anderen Akteuren im CAT koordiniert und vertritt. Die Berufsverbände koordinieren das traditionelle Lehrlingsausbildungssystem mit den MCPs. Im Laufe der Implementierungsprozess des CAT-Systems werden Kooperati-

226

Dietmar Frommberger, Ernst Jünke und Léna Krichewsky-Wegener

onen mit Schulungsanbietern aufgebaut, die sie ermächtigen, ihre Mitglieder, darunter MCPs und Auszubildende, zu qualifizieren. Die Anbieter von Berufsbildungsinstitutionen repräsentieren das formale System der technischen und beruflichen Bildung. Im CAT-System bieten sie CBT-Kurse nach den von COTVET in den nationalen Proficiency Levels I und II festgelegten Berufsstandards an. Abb. 7: Grundstruktur des Cooperative Apprenticeship Training System – CAT

Quelle: eigene Darstellung nach GIZ (2015).

Neben staatlichen Initiativen gibt es in Ghana auch Projekte von deutschen Unternehmen zur Umsetzung kooperativer Berufsbildungsansätze. So hat Scania mit Unterstützung der GIZ bereits eine dreijährige Berufsausbildung zum Servicetechniker für PKW und Kleinbusse etabliert, die neben betriebliche Lernphasen auch den Besuch eines staatlichen technischen Schulungszentrums beinhaltet. Weitere Projekte im Bau- und Energiesektor sind noch in der Planungsphase. Zusammenfassend fällt in Ghana der ausdrückliche Wille der Politik auf, die nachhaltige Entwicklung der Berufsbildung zu fördern. Zugleich wird dieser Bildungsbereich jedoch nicht mit den erforderlichen finanziellen

227

Ghana

Mitteln ausgestattet: nur 2% des Bildungshaushaltes fließt in TVET. Der Handlungsbedarf in allen Bereichen und auf allen Ebenen ist daher immens, sowohl zur Stärkung der Aufnahmekapazitäten der Berufsbildungseinrichtungen als auch zur Erhöhung der Qualität der Ausbildung, zur Schaffung effizienterer Governance-Strukturen und zur Stärkung der Handlungskapazität der beteiligten Akteure.

3

Herausforderungen

Es gibt einen stark ausgeprägten Reformwillen des Präsidenten, der sich in einer umfassenden Reformstrategie für das Berufsbildungssystem ausdrückt, dem „Strategic plan for TVET transformation 2018-2022“. In diesem Reformplan nehmen auch kooperative Ansätze unter dem Stichwort „Progressive Adoption of a Modified German Dual TVET System“ einen wichtigen Platz ein (siehe Ausführungen oben). Die Orientierung am angelsächsischen System in Form des CBT-Ansatzes findet ebenfalls statt. Grundsätzlich gibt es keinen Widerspruch zwischen curricularen Ansätzen, die dem CBT-Ansatz folgen, und dualen Berufsbildungsstrukturansätzen. Allerdings fehlt noch ein einheitliches Verständnis auf den verschiedenen Systemebenen darüber, was CBT eigentlich ist und wie es mit einem kooperativen Ansatz zusammengehen kann. Die verschiedenen Zuständigkeiten im Berufsbildungsbereich sollen zukünftig im Bildungsministerium gebündelt werden. Die Ausführung/Umsetzungen der Reform erfolgt hauptsächlich durch das COTVET, dessen Leiter Dr. Fred Asamoah ist, eine charismatische Persönlichkeit, die das Vertrauen des Präsidenten genießt. Die Umsetzung der Reformen wird durch die Unterfinanzierung jedoch stark gehemmt (nur 2% des Bildungshaushaltes fließt in TVET) und auch COTVET, das sich gegen konkurrierende Behörden behaupten muss, wie dem tripartistischen National Vocational Training Institute, leidet unter personeller Unterbesetzung. Die Berufsbildungsreform wird auf höchster Ebene stark von der GIZ mittels Beratung und Capacity Building unterstützt.

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Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Für die Entwicklung dualer Berufsbildungsstrukturansätze liegt die zentrale Herausforderung in der Einbeziehung von Ausbildungsbetrieben in ein System beruflicher Bildung. Einerseits ist die einzelbetriebliche Freiheit im Rahmen der Qualifizierung von Auszubildenden zu gewährleisten, andererseits ist eine überbetriebliche Standardisierung der Ausbildungsprozesse und Prüfungen erforderlich. Für die überbetrieblichen Standardisierungen der Ausbildungsprozesse und Prüfungen gibt es eine Vielfalt von Ansätzen, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen. Entscheidend ist die Feststellung, dass diese Regulierung betrieblicher Qualifizierungspraxis nur wirksam erfolgen kann, sofern die Ausbildungsbetriebe selbst (und/oder ihre Interessenvertretungen) angemessen in die Entscheidungen involviert werden. Notwendig ist daher eine systematische und institutionelle Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft. In Ghana ist COTVET die zentrale Einrichtung, die eine solche Zusammenarbeit realisieren soll. Hinzu kommen die Trade Associations und die (teilweise noch einzurichtenden) Sector Skills Councils (siehe oben). Die Herausforderung für COTVET wird darin liegen, die Akzeptanz in der Wirtschaft zu erreichen. Diese ist nicht selbstverständlich, da es sich durch die Ansiedlung beim Bildungsministerium um eine staatliche sowie eher schulbehördliche Einrichtung handelt. Auch ist abzuwarten, auf welche Akzeptanzprobleme die Zentralisierung der Zuständigkeiten bei COTVET und die Auflösung der Zuständigkeiten der einzelnen Fachministerien stoßen werden. Einerseits ermöglicht die Zentralisierung der Zuständigkeiten bei COTVET einen besseren Zugriff auf das Gesamtfeld der Berufsbildung. Andererseits führt die Auflösung der Zuständigkeiten der Fachministerien zu Akzeptanzproblemen in der Wirtschaft. Nachzudenken ist über ein differenziertes institutionalisiertes Gefüge, das die politischen Regulierungsabsichten und die notwendige Akzeptanz auf der Umsetzungsebene besser verbindet. Die Sector Skills Councils sind hierfür ein erster wichtiger Ansatz.

Ghana

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Lernen im Arbeitsprozess In Ghana ist die Situation ähnlich der Situation in den meisten anderen Ländern weltweit: Die Beteiligung der Unternehmen an einer regulierten beruflichen Erstausbildung mit staatlichen Standards ist relativ gering. Schulische Berufsbildungsangebote und einzelbetriebliche Qualifizierungspraktiken liegen weit auseinander. Hinzu kommt ein typisches Problem, das auch in Ghana vorherrscht, die Parallelität staatlicher und privater Berufsbildungsansätze. Dort, wo die Wirtschaft also Bedarf an schulischen Partnerschaften hat, werden häufig private Einrichtungen präferiert. Durch die CBT-Standards kann die betriebliche Ausbildungsbereitschaft verbessert werden. Inhaltlich sind diese Standards auf anwendungsbezogenes Können bezogen, wodurch deren Einsetzbarkeit in der betrieblichen Ausbildungspraxis und in Prüfungen verbessert wird. Gleichwohl führt diese Ausrichtung der Standards wiederum zu Problemen bei der Umsetzung in den berufsbildenden Schulen. Dort fehlen die Möglichkeiten, kompetenzorientiert auszubilden, insbesondere im gewerblich-technischen Bereich. Idealerweise ist das betriebliche und schulische Ausbildungspersonal weiter zu qualifizieren. Betriebliche Ausbildungsbeteiligung und damit die Förderung des beruflichen Lernens im Prozess der Arbeit kann durch Umlagefinanzierungsansätze gefördert werden. Damit können Unternehmen ihre Kosten refinanzieren. Hierzu gibt es vielfältige (positive und negative) internationale Erfahrungen. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Für die Erfolge von Lehr-Lern-Prozessen gibt es einen engen Zusammenhang zum Ausbildungs- und Lehrpersonal. Dieser Zusammenhang gilt für alle Bildungsprozesse, so auch für die Berufsbildung in Schule und Betrieb. In sämtlichen Untersuchungen zur Qualität beruflicher Bildung wird festgestellt, dass das Lehr- und Ausbildungspersonal eine zentrale Größe darstellt. Insofern ist auch die Aus- und Weiterbildung des Lehr- und Ausbildungspersonals von höchster Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung dualer Berufsbildungsstrukturansätze.

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In Ghana wird es mittel- bis langfristig für den nachhaltigen Erfolg der beruflichen Bildung darauf ankommen, das berufliche Bildungspersonal aus- und weiterzubilden. Diese Aus- und Weiterbildung sollte an Hochschulen stattfinden. Nur dort ist die Mindestqualität für die notwendige berufsfachliche (und fachdidaktische) Ausbildung der Lehrkräfte gewährleistet. Zudem werden dadurch die gesellschaftliche Anerkennung und die notwendige Attraktivität des Lehrberufs an berufsbildenden Schulen ermöglicht. Inwieweit neben der erforderlichen berufsfachlichen (und fachdidaktischen) Ausbildung der Lehrkräfte auch eine berufspraktische Ausbildung erforderlich ist, sollte davon abhängig gemacht werden, wie realistisch eine solche Kombination tatsächlich ist. Eine alternative Variante läge in der Aufteilung zwischen Lehrkräften in der Fachpraxis und Fachtheorie. Lehrkräfte für die Fachpraxis sollten eine berufspraktische Ausbildung und Erfahrung zwingend mitbringen. Die Inhalte der berufsfachlichen und fachdidaktischen Ausbildung wären genauer zu bestimmen. Hierfür gibt es viele internationale Beispiele. Grundsätzlich sind Fortbildungsangebote, auch berufsbegleitend, ebenso wichtig wie Ausbildungsangebote für die berufliche Lehrerbildung. Akzeptanz nationaler Standards Die CBT-Standards, die entwickelt und genutzt werden, treffen auf relativ hohe Akzeptanz in den schulischen Einrichtungen. Die Anlage der Standards wird insgesamt positiv eingeschätzt. Doch die Umsetzungsmöglichkeit wird massiv beklagt. Es fehlen insbesondere die technischen Ausstattungen, um berufliche Kompetenzen anforderungsnah zu unterrichten und auszubilden. Auch für die Unternehmen – zumindest für die wenigen Unternehmen, die sich systematisch an Ausbildung beteiligen – sind die CBT-Standards besser als die alten Curricula, da sie zu den Arbeits- und Ausbildungsprozessen passen. Auch die modulare Struktur ist grundsätzlich vorteilhaft, weil ein Betrieb damit nicht verpflichtet ist, eine mehrjährige und vollständige Berufsausbildung zu leisten. Für die Auszubildenden kann dieser Ansatz zugleich von großem Nachteil sein. Auch die Kosten für die Lernenden für den Erwerb von Ausbildungsanteilen sind nicht geklärt.

Ghana

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Die Akzeptanz von nationalen Standards in der beruflichen Bildung kann langfristig nur durch eine systematische Beteiligung der Nutzer dieser Standards gewährleistet werden. Vertretungen der Ausbildungs- und Unterrichtspraxis müssen in die Curriculumentwicklung involviert werden. Für die berufliche Bildung stellt die Akzeptanz rechtlicher Standards ein grundlegendes Problem dar, nicht nur in Ghana. Auch hier gilt, dass die Akzeptanz mit Beteiligung steigt. Jedoch ist eine Beteiligung auch in Ghana dadurch erschwert, dass es verfasste Organe der Wirtschaft (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) zwar gibt, diese jedoch selbst häufig nicht ausreichend akzeptiert werden. Grundsätzlich ist der CBT-Ansatz für Ghana der richtige Ansatz. Auf dieser Basis ist die Standardisierung beruflicher Bildung Stück für Stück weiterzuentwickeln. Eine wesentliche Funktion können hier die Prüfungen bzw. Kompetenzfeststellungen leisten. Diese sollten, verbunden mit einem transparenten und staatlichen Zertifizierungssystem, weiterentwickelt werden. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung Es gibt einen großen Bedarf für die wissenschaftliche Unterstützung des Reformprozesses, insbesondere bei der Durchführung von Verbleibstudien zur Gewinnung von belastbaren Daten für den Berufsbildungsbereich, z.B. zur Ermittlung der Nachfrage und des Angebots an Berufsbildung im Land. Es liegen keine dokumentierten Ergebnisse über den Transfer von erworbenen Trainingskompetenzen in den Unterricht und die damit verbundenen Effekte vor. Viele Teilnehmer/innen beklagen sich über mangelnde Unterstützung seitens der Schulleiter oder des Abteilungsleiters bei ihren Bemühungen, ihren traditionellen Unterricht auf CBT umzustellen. Auch hier wären entsprechende Untersuchungen für einen nachhaltigen Erfolg der Reform sehr förderlich. Ein Ansatz liegt auch hier in der Weiterentwicklung von Personal, das langfristig die Berufsbildungsforschung im Land vorantreiben kann.

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Ghana

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Anmerkung Der vorliegende Sondierungsbericht zu Ghana wurde auf Basis der im Zeitraum 22.01.2018 bis 24.01.2018 in Accra geführten Gespräche und durchgeführten Besuche angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere die abschließenden Handlungsempfehlungen zu untermauern. Die Analyse dieser weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung. Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit unserer Aussagen gewährleistet. Unsere institutionellen Gesprächspartner waren (in der Reihfolge der geführten Gespräche): Workshop bei der AHK mit Teilnehmer/-innen aus zentralen Einrichtungen der beruflichen Bildung in Ghana, GIZ Ghana, Ministry of Education, COTVET, Deutsche Botschaft, GSDI-Projekt, Accra Technical Training Centre (ATTC).

Kenia: Reformdynamik und Implementierungsstau Fabienne-Agnes Baumann

Abstract Im vergangenen Jahrzehnt ist durch die Verfassungsreform des Jahres 2010 und dem Langzeitentwicklungsplan Kenya Vision 2030 viel Bewegung in die Berufsbildungslandschaft Kenias gekommen. Aufeinanderfolgende Regierungen haben der beruflichen Bildung vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszahlen und sozio-ökonomischer Entwicklungsziele eine Schlüsselrolle zugewiesen. Dies schlägt sich in der großen Zahl von Gesetzesreformen, Strategiepapieren und neuen Programmen, die in den letzten Jahren verabschiedet worden sind, nieder. Neue Akteure im Prüfungswesen, der Curriculumentwicklung und Steuerung der beruflichen Bildung suchen derzeit ihre Rolle im Berufsbildungssystem. Auch internationale Geberorganisationen und andere ausländische Kooperationspartner sind verstärkt in die Neuordnung und anvisierte Expansion des Sektors involviert und versuchen, Impulse u.a. durch Projektinitiativen zu setzen. Gebremst wird die Erreichung von strategischen Zielen und die Implementation gesetzlicher Vorgaben jedoch häufig durch einen Mangel an finanziellen und personellen Kapazitäten. Die Dopplung von Zuständigkeiten auf der operationellen und Steuerungsebene sowie die fragmentierte Gesetzeslage stellen weitere Hindernisse dar.73

73

Das vorliegende Kapitel basiert auf einer qualitativen Erhebung mittels Expertengesprächen sowie ergänzender Auswertung von Primär- und Sekundärquellen. Siehe dazu auch die Anmerkungen am Ende des Kapitels.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_7

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1

Fabienne-Agnes Baumann

Landeskontext

Die Republik Kenia befindet sich in Ostafrika, sie grenzt im Norden an den Süd Sudan und Äthiopien, im Osten an Somalia, im Süden an Tansania sowie im Westen an Uganda. Kenias 536 Kilometer lange Küste im Osten des Landes grenzt an den Indischen Ozean. Die Republik misst 580,367 km² (Central Intelligence Agency [CIA], 2018). Nationalsprache Kenias ist Kiswahili, offizielle Sprachen sind Kiswahili und Englisch. Die Bevölkerung Kenias lag nach letzten Erhebungen des Nationalen Statistikbüros bei 43 Millionen (Stand 2014), nach neueren Schätzungen für das Jahr 2017 liegt die Bevölkerungszahl bei 46,7 Millionen Menschen (Kenya National Bureau of Statistics [KNBS], 2015; Germany Trade and Invest [GTAI], 2017a). 1.1

Politische Rahmenbedingungen

In Kenia fanden in 2017 die letzten General und Presidential Elections statt. Die politische Lage vor und nach den Wahlen war angespannt, das Regierungsgeschäft kam 2017 längere Zeit zum Erliegen. Die in der zweiten Wahlrunde bestätigte Wiederwahl des amtierenden Präsidenten Uhuru Kenyatta wurde nicht durch die Opposition anerkannt, Anfang des Jahres 2018 wurden mehrere Mitglieder der politischen Opposition verhaftet oder des Landes verwiesen, nachdem sich der Oppositionsführer zwischenzeitlich symbolisch zum Präsidenten küren ließ. Später bemühten sich Regierung und Opposition um eine Annäherung.74 Bereits in vorherigen Wahljahren kam es immer wieder zu politischen Spannungen. Im Jahr 2007 sorgten schwere Ausschreitungen, begründet

74

Für mehr Informationen siehe: https://www.theguardian.com/world/2018/jan/30/kenyas-opposition-to-swear-in-raila-odinga-as-peoples-president und https://www.theguardian.com/world/2018/feb/07/kenya-opposition-lawyer-miguna-miguna-deportedcrackdown-row-judiciary

Kenia

237

durch ethnisch aufgeladene Machtkämpfe zwischen Regierung und Opposition, international für Besorgnis. In den Zusammenstößen in den Wochen nach der Präsidentschaftswahl wurden mehr als 1.100 Menschen getötet (Daily Nation, 2017). Kenia ist in den vergangenen Jahren auch durch mehrere Angriffe von terroristischen Gruppen wie Al-Shabaab heimgesucht worden (Cannon & Pkalya, 2017). Im Jahr 2014 hat die Weltbank Kenia als ein Land mit niedrigem mittleren Einkommen eingestuft, das Land gehört dabei immer noch zu den ärmsten 25 % in der Welt, rund 40 % seiner Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze (Weltbank, 2016a, S.vi). Das nominale pro-Kopf Einkommen für 2018 wurde auf US$ 1.790 prognostiziert (GTAI, 2017a, S.1). Die Inflationsrate sorgt seit mehreren Jahren für eine angespannte Situation, wobei für 2018 eine Rate von 6,5 % prognostiziert wird, diese somit etwas niedriger als in vergangenen Jahren ausfällt (GTAI, 2017b, S.4). Der Gini-Koeffizient Kenias lag bei 47,7 im Jahr 2013 und somit gut 10 Prozentpunkte niedriger als noch vor 20 Jahren (57,5 im Jahr 1992). In der AIDS-Sterblichkeitsrate liegt Kenia im globalen Vergleich je nach Quelle und Berichtsmethode an vierter bis sechster Stelle. Auf dem internationalen Korruptionsindex liegt Kenia auf Platz 143 von 180 Ländern (Transparency International, 2017). 1.1.1 Regierung, staatliche Strukturen Die präsidiale Republik Kenia erlangte ihre Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1963. Die Verfassung aus dem Jahr der Unabhängigkeit wurde im Jahr 2010 durch eine neue Verfassung abgelöst, die eine politische und fiskalische Dezentralisierung (sog. Devolution) in Gang setzte. Die Verfassung von 2010 teilt Kenia in 47 counties also Bezirke ein, die alle ihre eigene Regierung in Form einer Exekutive und eines Bezirksparlaments haben. Jedes County stellt einen Gouverneur. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen nationaler Regierung und den counties legt die

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Verfassung fest, dass die Regierung und die verschiedenen Bezirksregierungen bei der Wahrnehmung von Aufgaben und der Ausübung von Befugnissen zusammenarbeiten und zu diesem Zweck gemeinsame Ausschüsse und gemeinsame Behörden einsetzen können (Republic of Kenya, 2010). Der Präsident, der Vizepräsident und das Kabinett bilden die Exekutive der kenianischen Regierung. Der Präsident ist der Staats- und Regierungschef, Oberbefehlshaber der Verteidigungskräfte und der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates (KNBS, 2015). Der Präsident wird von allen registrierten Wählern direkt für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Dazu muss der Kandidat im Mehr-Parteien-System mehr als 50 % der abgegebenen Stimmen erhalten, sowie zusätzlich mindestens 25 % der abgegebenen Stimmen in mehr als der Hälfte der counties. Ein Präsident kann maximal zwei konsekutive Amtszeiten absolvieren (KNBS, 2015). Das kenianische Parlament besteht aus der Nationalversammlung und dem Senat mit zusammen 418 Mitgliedern einschließlich der Sprecher der beiden Kammern (KNBS, 2015). Kenias Judikative wird durch den Obersten Gerichtshof, dem Berufungsgericht und dem Hohen Gericht sowie weiteren Gerichten mit speziellen Aufgaben strukturiert (KNBS, 2015). 1.1.2 Schwerpunkte des aktuellen Regierungsprogramms Der seit 2008 gültige Langzeitentwicklungsplan Kenya Vision 2030 hat diverse Impulse für Reformen geschaffen, so auch im Bildungssektor, und ist als handlungsorientierendes Element aus kaum einem Regierungsprogramm wegzudenken. Die Vision 2030 fußt auf drei Säulen: der wirtschaftlichen, der sozialen und der politischen. Die wirtschaftliche und die soziale Säule beinhalten Schlüsselsektoren, die für die Erreichung der Ziele des Entwicklungsplans als essentiell identifiziert wurden.

239

Kenia Tab. 1: Säulen von Vision 2030

Sektoren wirtschaftliche Säule

Sektoren soziale Säule

Infrastruktur

Bildung und Ausbildung

Tourismus

Gesundheit (Medizinische Dienste und öffentliche Dienste und sanitäre Einrichtungen)

Landwirtschaft Handel

Umwelt, Wasser und Abwasser

Fertigung Offshoring von Geschäftsprozessen und informationstechnisch unterstützte Dienste Finanzdienstleistungen

Bevölkerung, Urbanisierung und Wohnen Gender, Jugend und gefährdete Gruppen Arbeits- und Personalentwicklung Sport, Kultur und Kunst

Quelle:

Ministry of State for Planning, National Development and Vision 2030 (2012, S.13-90)

Die politische Säule fokussiert eine Verfassungsreform (erfolgte in 2010), die Aufarbeitung von Gewalt rund um die Wahlen des vergangenen Jahrzehnts, die Förderung des nationalen Zusammenhalts und den Aufbau von Kapazitäten (personell, finanziell, strukturell) für gute Regierungsführung (Ministry of State for Planning, National Development and Vision 2030 [MPND], 2012, S.157-160). Die Implementierung von Vision 2030 erfolgt über sogenannte Flagship-Projekte (insgesamt 97)75. Im Rahmen der Realisierung dieser Vorhaben wurde deutlich, dass dem Land zehntausende Fachkräfte in diversen Sektoren fehlen.

75

Die Website http://www.vision2030.go.ke vermittelt detaillierte Informationen zu der Strategie.

240

1.2

Fabienne-Agnes Baumann

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

1.2.1 Wirtschaftssektoren Unter den Subsahara-Ländern ist Kenia inzwischen eines der wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Länder. Das Wirtschaftswachstum wird insbesondere durch die zunehmende Industrialisierung geprägt. Die Herstellung von diversen Gütern macht im BIP-Wachstum mehr als 50 % aus. Hier sind vor allem Nahrungsmittel und diverse Rohstoffe von Bedeutung. Damit einhergehend ist eine deutliche Steigerung der Anzahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe zu verzeichnen und die Löhne für Arbeitnehmer stiegen hier in der Zeit von 2010 bis 2015 um mehr als 50 % (Kreditanstalt für Wiederaufbau [KfW] & Planco, 2017, S.8). Kenia gilt als ein bevorzugter Wirtschaftsstandort für ausländische Unternehmen, nicht nur für (zukünftige) Öl- und Gasexploration, sondern auch für die Herstellung von Export- sowie von Konsumgütern. Kenia hat ein eigenes Gesetz zur Förderung von Investitionen aus dem Ausland erlassen („Sonderwirtschaftszonengesetz 16/2015“), welches über Steueranreize und andere Unterstützungsleistungen ausländische Investitionen fördert. In den Jahren 2016 bis 2017 wurden etwa 120 ausländische Unternehmensgründungen/-investitionen registriert und dadurch schätzungsweise 13.200 Arbeitsplätze geschaffen. Die absoluten Zahlen zu ausländischen Direktinvestitionen gehen allerdings insgesamt seit 2011 kontinuierlich zurück76 (GTAI, 2017b, S.5). Eine wachsende Problematik im wirtschaftlichen Gesamtrahmen stellt die zunehmende Abhängigkeit von Auslandsimporten dar. Kenia importiert das 2,5-fache monetäre Volumen verglichen zum Export. Bei den Devi-

76

Gegenüber 1,4 Mrd. US$ in 2011 nur noch 394 Mio. US$ in 2016 (GTAI, 2017b, S.5).

Kenia

241

seneinnahmen sind mittlerweile die Unterstützungsüberweisungen vergleichsweise wohlhabender Exilkenianer77 für ihre Familien als wichtigster Faktor zu verbuchen. Chinesische Importe überflügeln in Kenia hergestellte Güter und verdrängen diese vom Markt. International ist die Exportindustrie kaum konkurrenzfähig (GTAI, 2017b, S.4). Wichtigste Wirtschaftssektoren in Kenia (Stand 2015) sind: Land-/Forst/Fischwirtschaft (32,0 % BIP), Bergbau/Industrie (13,8 % BIP), Transport/Logistik/Kommunikation (9,9 % BIP) Handel/Gaststätten/Hotels (8,9 % BIP) und Bau (5,1 % BIP) (GTAI, 2017a, S.1). Bezüglich der (formellen) Beschäftigung sind als wichtigste Sektoren Bildung, Land-/Forst/Fischwirtschaft, Produktion, öffentlicher Dienst/Verwaltung/Militär sowie Dienstleistungen zu nennen (KNBS, 2015). Die Arbeitslosenquote betrug in Kenia im Jahr 2016 11 % (Köberle et al. 2017, S.1-3). Deutlich höher lag die Quote für Jugendliche mit 17,6 % (United Nations Development Programme [UNDP], 2016, S.238-241). Es wird geschätzt, dass die informelle Wirtschaft - vor allem das Handwerk wird hier häufig als Jua Kali78 bezeichnet - rund 87 % der Beschäftigung in Kenia generiert und dort rund 95 % der Unternehmer des Landes aktiv sind. Die Gesamtzahl der formell und informell erwerbstätigen Personen ist von 13,5 Millionen im Jahr 2013 auf 14,3 Millionen im Jahr 2014 gestiegen und von den 799.700 neuen Arbeitsplätzen wurden 700.000 durch die informelle Wirtschaft geschaffen. Männer stellen den größten Teil der Beschäftigten in der informellen Wirtschaft in Kenia und mehr als zwei Drittel der Arbeitsplätze dort sind in Handel, Produktion und zugehörigen Dienstleistungen (Reparaturen, Instandhaltung u.a.), in Restaurants und Hotels angesiedelt (Weltbank 2016b, S.1; Mwangi, 2016, S.9).

77 78

Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen / sind ebenfalls gemeint Jua Kali kommt aus dem Kiswahili und bedeutet ‚unter der heißen Sonne‘, was bereits daraufhin deutet, dass die Tätigkeiten oft im Freien oder in improvisierten Werkstätten ausgeführt und Produkte häufig an der Straße verkauft werden (siehe auch Köberle et al. 2017).

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Darüber hinaus ist die Mehrzahl von Unternehmen in Kenia den Kleinst-, Klein- und mittelständischen Unternehmen zuzuordnen.79 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Nach den Bemühungen und Erfolgen aus Bildungsreformen der letzten zwei Dekaden - auch in Zusammenhang mit internationalen Strategien wie Unescos „Education for All“ oder den „Millennium Development Goals“ der Vereinten Nationen - konnte eine deutliche Verbesserung vor allem der Grundbildung erreicht werden. Mehr und mehr treten nun Fragen der Qualität der Bildung und die Bedarfe hinsichtlich der übrigen Säulen des Bildungssystems in den Vordergrund. Die am schnellsten wachsenden Branchen in der Wirtschaft, wie z. B. der Dienstleistungssektor, kämpfen zunehmend darum, geeignete Mitarbeiter zu finden. Im Jahr 2007 wurde dieses Problem lediglich von 2 % der (formellen) Unternehmen in diversen Branchen des Sektors identifiziert. Bis 2013 stieg die Wahrnehmung dieses Problems auf rund 20 % an (Weltbank 2016a, S.xv). Die Gesamtbevölkerung Kenias wird im Jahr 2030 voraussichtlich auf 60 Millionen von derzeit rund 40 Millionen Menschen wachsen. Dies spiegelt sich bereits im demografischen Profil des Landes wider. Die Zahl der jungen Menschen, die jährlich das Bildungssystem verlassen, steigt rasant an. Zwischen 2009 und 2013 erreichten drei Millionen Kenianer das arbeitsfähige Alter von 16 Jahren. Die arbeitsfähige Bevölkerung Kenias wird laut Prognosen bis 2030 39,2 Millionen erreichen (von 25,5 Millionen in 2015). Aktuell kann das Arbeitsplatzwachstum (in der formellen Wirtschaft) mit dem Bevölkerungswachstum nicht mithalten. Erhebungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit für diejenigen, die keinen oder einen niedrigeren Bildungsabschluss (Abschluss Grundbildung nach acht Jahren) erlangt haben, größer ist in einem informellen Kleinst-, Klein-

79

Das kenianische Statistikbüro stuft Unternehmen folgendermaßen ein: Kleinstunternehmen - weniger als 10 Mitarbeiter; kleine Unternehmen - 10 bis 49 Mitarbeiter, mittelständische Unternehmen - 50 bis 99 Mitarbeiter (Mwangi 2016, S.3).

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oder mittleren Unternehmen zu arbeiten als für diejenigen, die einen Abschluss der Sekundarstufe oder höher erlangt haben (Mwangi, 2016, S.12). Der größte Teil der beruflichen Ausbildung in der informellen Wirtschaft erfolgt über eine sog. traditionelle Lehrlingsausbildung insbesondere in der Produktion und im Dienstleistungsbereich. Es wird geschätzt, dass 40 % aller jungen Menschen in Kenia ihre Fähigkeiten durch diese Form der Ausbildung erwerben (Ministry of Education, Science and Technology [MOEST], 2012b). Diese Realität spiegelt sich derzeit nicht in den Reformbemühungen bezüglich der beruflichen Bildung wider. Die kenianische Arbeitsgesetzgebung wurde zuletzt im Jahr 2007 reformiert und ist somit zu großen Teilen nicht mit den Vorgaben der Verfassung von 2010 harmonisiert. Unter anderem hat die aus der Verfassung hervorgehende Dezentralisierung der Zuständigkeiten zwischen den Regierungen der counties d.h. Bezirke und der nationalen Regierung die industriellen Beziehungen in Kenia vor neue Herausforderungen gestellt. Arbeitsbedingungen von kenianischen Arbeitnehmern leiden einerseits unter der Strategie einer Selbstregulierung von Arbeitgebern, andererseits unter der seit den 1990ern andauernden Personalknappheit des Department of Labour (DoL). Es fehlt an Inspekteuren und an einer adäquaten Ausstattung mit Informations- und Kommunikationstechnologie, die die Arbeit des DoL effizienter machen könnte. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren die Notwendigkeit gestiegen, als zusätzliche Aufgabe des DoL kenianische Arbeitsmigranten vor allem in Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten arbeitsrechtlich zu unterstützen (DoL, 2017, S.1213). Kinderarbeit wurde in Kenia im Jahr 2016 durch die Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes verboten (DoL, 2017 S.10).80 Die aktuellsten Erhebungen den Nationalen Statistikbüros aus 2016 zeigen, dass im Alter von

80

Laut Beschäftigungsgesetz gelten alle Personen unter 18 Jahren als Kinder, die Anstellung von Kindern unter 13 Jahren ist gänzlich verboten (Republic of Kenya [2007] 2012).

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5-9 Jahren 6 % der Kinder einer Beschäftigung nachgingen, für die Altersgruppe 10-14 Jahre lag diese Quote bei 15,6 % und für Jugendliche zwischen 15 bis 19 Jahren bei 32,4 % (KNBS, 2018, S. 21). Insgesamt gingen 2,1 Millionen Kinder zwischen 5-17 Jahren einer Beschäftigung nach, vor allem in ländlichen Gegenden (KNBS, 2018, S.26). Problematische und miteinander verschränkte Auswirkungen mit Blick auf die Kinderarbeit in Kenia haben die Diskrepanzen in den Regelungen zur Schulpflicht (derzeit acht Jahre Grundbildung), dem legalen Einstiegsalter für den Arbeitsmarkt (im Alter von 13-16 Jahren nur für bestimmte Tätigkeiten und zu bestimmten Konditionen möglich) und den Altersregelungen für Ausbildungsprogramme wie apprenticeships oder learnerships (für Kinder unter 18 Jahren nur in Ausnahmefällen mit vorheriger Genehmigung erlaubt) sowie mit der Realität der Beschulung. Nach der letzten Volkszählung von 2009 gab es über acht Millionen Kenianer im Alter zwischen 17 und 24 Jahren, die für eine Ausbildung in post-sekundären Einrichtungen infrage kamen, die jedoch nicht durch existierende Bildungsangebote erreicht bzw. versorgt werden können (MOEST, 2012a; Weltbank, 2016a, S.xiv). Neuere Erhebungen zeichnen ein ähnliches Bild: nur 58,2 % (Stand 2014)81 der Schüler eines Jahrgangs nehmen an der Sekundarschulbildung teil.

2

Berufliche Bildung

2.1

Struktur des Bildungssystems

Das kenianische Bildungssystem folgt seit 1985 der Struktur 8-4-4: acht Jahre Grundbildung (Primary Education), vier Jahre Sekundarbildung (Secondary Education) und vier Jahre (oder mehr) tertiäre Bildung (Tertiary Education). Der Grundbildung vorangestellt sind die frühkindliche (Early Childhood Development and Education) und die Vorschulbildung (Pre-

81

Siehe KNBS (2015)

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Primary Education). Die Grundbildung wird mit dem Zertifikat der Grundbildung (Kenya Certificate of Primary Education, KCPE) abgeschlossen, die Sekundarstufe mit dem Zertifikat der Sekundarbildung (Kenya Certificate of Secondary Education, KCSE). Aktuell befindet sich Kenia jedoch inmitten einer Reform des Bildungssystems und des nationalen Curriculums, diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf alle Bereiche des Bildungssektors. So soll eine Umstrukturierung des Bildungssystems die Abkehr von der 8-4-4 Struktur darstellen, welche durch zwei Jahre vorschulische Bildung (Pre-Primary Education), sechs Jahre Primarbildung (Primary Education), sechs Jahre Sekundarbildung (Secondary Education) und drei oder mehr Jahre tertiäre Bildung und Ausbildung (Tertiary Education and Training) ersetzt werden soll. Weiterhin soll das Bildungssystem in die beiden Teile Grundbildung und -ausbildung (Basic Education and Training) und höhere Bildung und Ausbildung (Higher Education and Training) aufgeteilt werden (MOEST, 2019, S.50). Zur Grundbildung gehören die Abschnitte Early Years Education, Middle School und Senior School, ebenso wie berufliche Erstausbildungsgänge. Zur höheren Bildung gehören Graduierten- und Postgraduiertenprogramme an Hochschulen wie auch höhere berufliche Bildung (MOEST, 2019, S.50-51). Lernenden soll durch die Umstrukturierung eine Gleichwertigkeit zwischen allgemeinbildender und beruflicher Qualifizierung ermöglicht sowie die Durchlässigkeit zwischen diesen Bildungs- und karrierepfaden erhöht werden (MOEST, 2019, S.50). Außerdem soll das kenianische Bildungssystem inklusiver werden, d.h. jene besser erreichen, die wegen körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung oder aufgrund von kulturellen oder sozioökonomischen Gegebenheiten als schwer erreichbare Gruppen gelten. Die für spezielle Bedürfnisse konzipierte Bildung und Ausbildung (Special Needs Education and Training) soll unmittelbarer mit der Grundbildung und -ausbildung und mit der höheren Bildung und Ausbildung verzahnt werden (MOEST, 2019, S.53, 57, 68 und 70-71). Abbildung 1 gibt die aktuell anvisierte, neue Struktur des kenianischen Bildungssystems

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wieder. Die Implementierung des neuen Systems soll graduell ab 2018 erfolgen. Basierend auf dem Gesetz zur Curriculumreform (Curriculum Reform Policy) von Dezember 201582 werden alle Bildungsebenen einem kompetenzorientierten Curriculum (Competence Based Education and Training, CBET) folgen. Für die berufliche Bildung gibt es aktuell bereits 13 neue CBET-Curricula (siehe Kapitel 2.2.3).83 In Kenia existieren diverse zusätzliche Bildungsangebote in Voll- und Teilzeit: mobile Schulen, Zentren für Erwachsenenbildung und Weiterbildung, akademische Zentren für besonders Talentierte und Hochbegabte sowie Sonderschulen und Integrationsschulen für Lernende mit Behinderungen (Republic of Kenya, 2013a). Jedes Kind hat das Recht auf kostenlose Grundbildung, die momentan der Schulpflicht entspricht und acht Jahre beträgt. Eltern von Kindern, die in Kenia leben, sind verpflichtet dafür zu sorgen, dass Ihre Kinder regelmäßig an Grund- und Sekundarbildung teilnehmen. Kindern im schulpflichtigen Alter ist es verboten zu arbeiten, gleichermaßen ist die Beschäftigung von Kindern im schulpflichtigen Alter strafbar (Republic of Kenya, 2013a). Grundsätzlich können in Kenia sowohl öffentliche als auch private Einrichtungen auf jeder Bildungsebene existieren und agieren. Öffentliche Bildungseinrichtungen auf Grund- und Sekundarniveau dürfen keine Teilnahme- oder Einschreibegebühren erheben. Private Bildungseinrichtungen müssen registriert und akkreditiert werden und sind, wie öffentliche Einrichtungen, Inspektionen und Evaluationen ausgesetzt (Republic of Kenya, 2013a).

82 83

https://kicd.ac.ke/curriculum-reform/curriculum-development-policy/ Zugegriffen: 26. April 2018 TVETA bietet eine Übersicht über CBET-Curricula und Zertifikate: http://www.tvetauthority.go.ke/approved-cdacc-curricula/

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Schulpflicht *

Abb. 1: die geplante, neue Struktur des kenianischen Bildungssystems, eigene Darstellung

Age Based **

Stage Based ***

Quelle: Kenya Institute of Curriculum Development (2017). Layout: DLR Projektträger * derzeitige Schulpflicht nach Vorgaben des Basic Education Act von 2013; eine Reform die der geplanten neuen Bildungsstruktur entspricht, ist wahrscheinlich. Geplant ist die Schulpflicht für den gesamten Bereich der Grundbildung und -ausbildung (Basic Education and Training), d.h. bis zum 12. Schuljahr. ** Diese Stufe ist Age Based, das heißt, dass das Voranschreiten in den Bildungsstufen dem Alter angepasst sein soll. *** Diese Stufe ist Stage Based, das heißt, dass das Voranschreiten jeweils von der Absolvierung einer Qualifikationsstufe abhängig ist, die zum Aufstieg in die nächste Stufe befähigt.

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Berufliche Bildung in Kenia ist vornehmlich staatlich organisiert. Folglich ist die Einbindung von Unternehmen und anderen organisierten Interessen derzeit eher schwach ausgeprägt. Durch diverse gesetzliche Neuerungen und eine Reihe von Projektinitiativen versucht man seit einiger Zeit, diesen Zustand zu ändern (siehe Kapitel 2.3). Wie Köberle et al. (2017, S.46) feststellen ist „[…] duale Berufsausbildung traditionell kein Teil des kenianischen Berufsbildungssystems“. Neben staatlichen d.h. öffentlichen Berufsbildungseinrichtungen gibt es eine Reihe privater Anbieter, unter anderem auch Ausbildungsakademien von Wirtschaftsverbänden wie der Kenya Association of Manufacturers (KAM), die jedoch durch die Berufsbildungsbehörde Technical and Vocational Education and Training Authority (TVETA) akkreditiert werden müssen. Nach der Verabschiedung des neuen Berufsbildungsgesetzes in 2013 (Technical Education and Training Act) wurde zunächst allen in Kenia ansässigen Ausbildungsreinrichtungen die Lizenz entzogen. Alle Institutionen mussten sich bei TVETA neu registrieren und akkreditieren lassen, dieser Prozess dauert bis heute an. Im August 2018 lag die Anzahl akkreditierter Ausbildungsinstitutionen bei 980, hier sind alle Arten von Ausbildungsinstitutionen in öffentlicher und privater Hand berücksichtigt (Technical and Vocational Education and Training Authority [TVETA], o.J.a).84 Berufliche Aus- und Weiterbildung kann in Kenia in verschiedenen Einrichtungen stattfinden, diese unterscheiden sich in ihrem Bildungsangebot und nach den verfügbaren Abschlüssen und können in öffentlicher oder privater Hand sein. Zu nennen sind hier: •

84

Vocational Training Centers (ehemals Village oder Youth Polytechnics) [Abschluss Artisan und Craft bzw. Trade Test Certificate]

Eine Liste der aktuell akkreditierten Berufsbildungseinrichtungen ist einsehbar unter: http://www.tvetauthority.go.ke/acredited-institutions-2/

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• • • • •

Technical and Vocational Colleges (ehemals Technical Training Institutes und Institutes of Technology, diese beiden Bezeichnungen sind noch in Gebrauch) [Abschlüsse bis Diploma] Kenya Technical Trainers College [Abschlüsse bis Higher Diploma] National Polytechnics [Abschlüsse bis Higher Diploma] Technical University of Kenya in Nairobi [Abschlüsse auf Bachelor und Master Level, sowie Zertifikate und Diploma] Technical University of Mombasa [Abschlüsse auf Bachelor und Master Level, sowie Zertifikate und Diploma Zertifikate]

Tab. 2: Einschreibungen in berufsbildungsbezogenen Bildungsgängen 2015

Institution*

Einschreibungen in 2015

Vocational Training Centers

77.465

Technical and Vocational Colleges

55.308

Kenya Technical Teachers College

2.032

Kisumu Polytechnic

4.500

Eldoret Polytechnic

4.975

Technical University of Kenya Nairob

6.988 (Diploma und Zertifikate)

Technical University of Mombasa

5.398 (Diploma und Zertifikate)

Quelle: KNBS, 2016, S.24; Republic of Kenya 2016, S.60. Anmerkung: Seit 2016 existieren acht weitere National Polytechnics, diese sind in derzeit verfügbaren Statistiken noch nicht aufgeführt.

Vocational Training Centers (VTCs) unterstehen den Regierungen der Bezirke, d.h. der counties (s.u.) und bieten Ausbildungsgänge an, die sich an Lernende richten, die die Grundbildung oder die Sekundarbildung abgeschlossen haben, aber nicht berechtigt sind, im akademischen Bildungssystem weiter zu lernen. VTCs bieten Artisan und Craft Certificates sowie Trade Tests (Grade I, Grade II und Grade III) an. Die Bezeichnung der Abschlüsse hängt davon ab, welche Institution das Curriculum entwickelt hat und die Prüfungen administriert. Es gibt dabei zwei Optionen: die na-

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tionale Behörde für Ausbildung in der Industrie (National Industrial Training Authority, NITA), welche dem Arbeitsministerium unterstellt ist, oder Kenias Nationaler Prüfungsrat (Kenya National Examinations Council, KNEC), welcher dem Bildungsministerium unterstellt ist (siehe dazu Punkt 2.2). Oftmals bieten Bildungseinrichtungen Abschlüsse beider Routen an. Zugang zu Artisan-Kursen vermittelt das Kenya Certificate of Primary Education (KCPE) oder ein äquivalenter Abschluss. Für die Teilnahme an Craft-Kursen wird der Abschluss der Sekundarstufe, das Kenya Certificate of Secondary Education (KCSE) mindestens mit der Bewertung D-minus bzw. ‚ausreichend‘ benötigt. Die Teilnahme an den gut zwei Jahre dauernden Kursen ist in der Regel kostenpflichtig.85 Die Ausbildung erfolgt hauptsächlich an den Ausbildungszentren (bis zu 3 Semester) im Wechsel mit Praktika (sog. Industrial Placements) in Unternehmen (bis zu 2 Semester) (NITA, o.J.a). Aktuell werden aufgrund der Reformen im Bildungssystem an den VTCs neue Abschlüsse getestet, die anschließend graduell flächendeckend eingeführt werden sollen. Diese kompetenzbasierten Abschlüsse heißen National Vocational Certificate in Education and Training (NVCET) (Republic of Kenya, 2016, S.26). Technical and Vocational Colleges (TVCs) sind dem Bildungsministerium unterstellt und bieten höhere berufsbildende Abschlüsse auf Ebene von Zertifikaten und Diplomen an, für diese Bildungsgänge wird ein Abschluss der Sekundarstufe (KCSE mindestens mit Bewertung C-minus) benötigt. Ein Zertifikat ist im Allgemeinen ein Abschluss unterhalb des Diploma oder ein vergleichbarer Abschluss und dauert rund zwei Jahre. Ein Diploma wiederum ist unterhalb eines universitären Abschlusses eingeordnet und dauert rund drei Jahre. Der Abschluss Diploma vermittelt Zugang zu 85

Mittlerweile bietet das eigentlich für die universitäre Bildung eingerichtete Higher Education Loans Board (HELB) finanzielle Unterstützung wie Stipendien und Darlehen auch für berufsbildende Kurse an öffentlichen Ausbildungseinrichtungen an. Die Regierung Kenias plant nach Medienberichten zufolge auch die Einführung von Gutscheinen (voucher), die Lernende für die Entrichtung von Kursgebühren nutzen sollen.

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Higher Diploma-Kursen, die z.B. an den National Polytechnics angeboten werden. Für Angebote der TVCs muss in der Regel bezahlt werden, Preise variieren ja nach Institution (Republic of Kenya, 2013; Köberle et al. 2017, S.44). National Polytechnics operieren ebenfalls unter Aufsicht des Bildungsministeriums und bieten (kostenpflichtige) Abschlüsse im Bereich Artisan und Crafts aber auch Zertifikate (Certificate), Diplome (Diploma) und dreijährige höhere Diplome (Higher Diploma) an, wobei nicht jede Institution alle Abschlüsse in ihrem Portfolio hat. Absolventen der Sekundarstufe, die direkt an einer National Polytechnic lernen möchten, müssen einen KCSE-Abschluss mit mindestens der Bewertung C-plus vorweisen (Köberle et al. 2017, S.44). Derzeit gibt es zehn solche Einrichtungen in Kenia, wobei erst 2016 acht Institutionen zu einer polytechnischen Bildungsstätte aufgewertet wurden, darunter auch das Kenya Technical Trainers College (KTTC, siehe Punkt 2.2). Weitere Polytechnics sind: • Kisumu Polytechnic • Eldoret Polytechnic • North Eastern National Polytechnic • The Kabete National Polytechnic • The Kisii National Polytechnic • The Kitale National Polytechnic • The Meru National Polytechnic • The Nyeri National Polytechnic • Kenya Coast National Polytechnic.

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Die technischen Universitäten in Nairobi und in Mombasa - auch als University College bezeichnet - bieten ebenfalls Zertifikate, Diplome und höhere Diplome an. National Polytechnics und die beiden University Colleges können in Kooperation mit Universitäten auch Bachelor- und Masterabschlüsse vergeben (Republic of Kenya, 2013b). Bei den University Colleges ist dies bereits der Fall, daher ist die Bezeichnung Technische Universität durchaus adäquat. Neben den beiden technischen Universitäten gibt es weitere Universitäten in Kenia, die Diplom-Kurse anbieten (Köberle et al. 2017, S.44). Die Zugangsvoraussetzungen zu den verschiedenen Kursen an den Universitäten variieren je nach Institution, setzen jedoch in der Regel den Abschluss der Sekundarstufe (KCSE mindestens mit C-plus Bewertung) voraus. Außerdem muss die Bereitschaft/Fähigkeit bestehen, die Kursgebühren zu entrichten. 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Die kenianische Verfassung von 2010 bestimmt die Zuständigkeiten in der Bildung für die nationale Regierung und die 47 Bezirke bzw. counties (s. u). Die Verfassung legt für jede Kenianerin und jeden Kenianer ein Recht auf Bildung fest (Republic of Kenya, 2010). Seit der Verabschiedung der neuen Verfassung ist viel Bewegung in die Berufsbildungslandschaft Kenias gekommen. Eine Aufbruchsstimmung in der beruflichen Bildung ist klar erkennbar. Diese drückt sich in einer Vielzahl von gesetzlichen Neuerungen und verabschiedeten Strategien aus.

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Mit dem Kenya National Examinations Council (KNEC), ein Gesetz von 201286, wurde ein nationaler Prüfungsrat etabliert, der weitreichende Verantwortung für das Prüfungswesen auf allen Bildungsebenen zugesprochen bekommen hat. Im Jahr darauf folgte das Gesetz über das kenianische Institut für Curriculumentwicklung (Kenya Institute of Curriculum Development (Act no. 4 of 2013).87 Neben seinem Kernauftrag ist das Institut (ehemals Kenya Institute of Education, KIE) mit der Entwicklung von Lehrmitteln, Curriculumforschung und Beratung betraut. Das Arbeitspapier (Sessional Paper no. 14 of 2012) mit dem Titel „Reforming Education and Training in Kenya“88 aus 2012 legt das Ziel fest, bis 2023 20 % eines Jahrgangs in die berufliche Bildung zu bringen und zu halten und gab den Anstoß zur Formulierung eines neuen Berufsbildungsgesetzes. Das Berufsbildungsgesetz (Technical Education and Training Act no. 29 of 2013)89 und die dazu gehörigen subsidiären Regularien aus 201590 sorgten für die Etablierung neuer Entitäten, vor allem zur Berufsbildungsbehörde TVETA und zum Rat für Curriculumentwicklung, Bewertung und Zertifizierung (Curriculum Development Assessment and Certification Council, CDACC). Das Gesetz legt leitende Grundsätze für die Berufsbildung fest, regelt die Akkreditierung von Berufsbildungsinstitutionen und

86 87 88 89

90

http://www.kenyalaw.org/lex/actview.xql?actid=No.%2029%20of%202012 Zugegriffen: 26. April 2018 http://www.kenyalaw.org/lex/actview.xql?actid=NO.%204%20OF%202013 Zugegriffen: 26. April 2018 http://www.tvetauthority.go.ke/downloads/Acts&Regulations/SESSIONAL_PAPER_%20No%2014%202012.pdf Zugegriffen: 13. März 2018 http://www.tvetauthority.go.ke/downloads/Acts&Regulations/Technical%20and%20Vocational%20Education%20and%20Training%20Act_No29%20%20of%202013.PDF Zugegriffen: 13. März 2018 http://www.tvetauthority.go.ke/wp-content/uploads/2016/08/242-Technical_and_Vocational_Education_and_Training_Act_Regulations__2015-1.pdf Zugegriffen: 06. März 2018

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die Lizenzierung von Ausbildern. Es gibt vor, welche Ausbildungsinstitutionen das System ausmachen, durch welche Gremien sie geführt werden91 und welche Aufgaben diese Gremien übernehmen sollen. Das Grundbildungsgesetz (Basic Education Act) von 201392 sorgte u.a. für die Formierung eines Nationalen Bildungsausschusses und von Bildungsausschüssen in jedem der 47 counties. Er legt Schulpflicht und Qualitätssicherungsmaßnahmen fest, sorgt für die Etablierung von Elternräten in den counties und regelt das Management von Primar- und Sekundarschulen. Das Gesetz zum kenianischen Nationalen Qualifikationsrahmen (Kenya National Qualifications Framework Act no. 22 of 2014)93 etablierte die nationale Qualifikationsbehörde (Kenya National Qualifications Authority, KNQA) und fordert die Entwicklung von Standards für die Anerkennung von inner- und außerhalb Kenias erworbenen Qualifikationen, die Etablierung eines kompetenzbasierten Bildungssystems basierend auf dem Grundsatz des lebenslangen Lernens und der Durchlässigkeit zwischen Bildungsebenen, die Anpassung von kenianischen Qualifikationen an globale Benchmarks zur Förderung der nationalen und transnationalen Mobilität und die Stärkung der nationalen Qualitätssicherungssysteme des Bildungssystems. Das Gesetz zur Ausbildung in der Industrie (Industrial Training Act no. 12 of [1983] 2012)94 regelt die verschiedenen Ausbildungsmodalitäten in den Sektoren der Industrie - vom Praktikumsprogramm bis zur Lehrlingsausbildung - und etabliert die nationale Behörde für Ausbildung in der Industrie (National Industrial Training Authority, NITA).

91 92 93 94

VTCs und TVCs durch Ausschüsse, National Polytechnics und das KTTC durch Räte. http://www.kenyalaw.org/lex/actview.xql?actid=No.%2014%20of%202013 Zugegriffen: 26. April 2018 http://www.kenyalaw.org/lex/actview.xql?actid=NO.%2022%20OF%202014 Zugegriffen: 26. April 2018 http://www.kenyalaw.org/lex/actview.xql?actid=CAP.%20237# Zugegriffen: 26. April 2018

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Im Beschäftigungsgesetz (Employment Act [2007] 2012)95 finden sich arbeitsrechtliche Bestimmungen, u.a. die Grundrechte der Arbeitnehmer, die Rahmenbedingungen für Beschäftigungsverhältnisse zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber und Regelungen zur Beschäftigung von Kindern beschreiben. Richtungsgebend für die Ausrichtung der beruflichen Bildung in Kenia sind außerdem die folgenden politischen Programme: • A Policy Framework for Education. Aligning Education and Training to the Constitution of Kenya (2010) and Kenya Vision 2030 and beyond (2012) • National Education Sector Plan (NESP) 2013-2018 (aktuelle Version aus 2015) • Nationaler Entwicklungsplan Kenya Vision 2030 2.2.2 Verantwortlichkeiten Die kenianische Verfassung von 2010 legt in ihrem elften Kapitel die Devolution, d.h. die Dezentralisierung der Zuständigkeiten und der öffentlichen Finanzen zwischen der nationalen Regierung und den Regierungen der Bezirke, fest. So ist die nationale Regierung für Bildungspolitik, Standards, Curricula, Prüfungen und die Vergabe von Universitätschartas zuständig. Weiterhin unterstehen ihr die Universitäten, tertiären Bildungseinrichtungen und andere Entitäten der Forschung und höheren Bildung, sowie die Grundschulen, Sekundarschulen, Sonderschulen und andere spezielle Bildungseinrichtungen. Die nationale Regierung ist außerdem für die Förderung des Sports und für die Bildung im Bereich Sport zuständig (Republic of Kenya, 2010).

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http://www.kenyalaw.org/kl/fileadmin/pdfdownloads/Acts/EmploymentAct_Cap226No11of2007_01.pdf Zugegriffen: 26. April 2018

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Die counties bzw. ihre Bildungsausschüsse (County Education Boards) sind beauftragt, sich der Vorschul- und anderer Kinderbetreuungseinrichtungen anzunehmen, ebenso wie die Steuerung von Vocational Training Centres (ehemals Village oder Youth Polytechnics) und Handwerkszentren (Homecraft Centre) zu übernehmen (Republic of Kenya, 2010). Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie (Ministry of Education, Science and Technology, MOEST), genauer die Abteilungen für Berufsbildung (State Department for Vocational and Technical Training) und für Weiterbildung und Qualifizierung (State Department for Post Training and Skills Development) sind federführend für die berufliche Bildung zuständig. Artikel 4 des Berufsbildungsgesetzes von 2013 (Technical and Vocational Education and Training Act No. 29 of 2013) legt fest, dass durch den/die Bildungsminister/in in Konsultation mit anderen relevanten Ministerien und der Wirtschaft politische Programme und Strategien entwickelt werden, die zur Weiterentwicklung des nationalen Berufsbildungssystems beitragen. Dabei ist der/die Bildungsminister/in hinsichtlich der Implementierung der Programme weisungsbefugt (Republic of Kenya, 2013b). Weiterhin soll durch das Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit anderen Ministerien und mit Stakeholdern der Zugang zu, die Gleichberechtigung in sowie die Qualität und Relevanz der beruflichen Ausbildung gefördert werden (Republic of Kenya, 2013b). Im MOEST angesiedelt ist das Direktorat für Qualität und Standards (Directorate of Quality Assurance and Standards). Dieses Direktorat ist mit der Qualitätssicherung in allen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, abgesehen von Universitäten, beauftragt sowie mit der Entwicklung und Implementierung von politischen Programmen und der Beratung des Ministeriums hinsichtlich Fragen der Qualitätssicherung. Das Direktorat ist auch eine Schnittstelle zu anderen Entitäten (z.B. KNEC, KICD s.u.), die mit Prüfungen und Curriculumentwicklung betraut sind (MOEST, o.J.). Dem MOEST untersteht auch das Kenya Technical Trainers College (KTTC), welches als einzige Bildungsinstitution im Land die Ausbildung

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von technischen (i.S.v. beruflichen) Lehrern innehat und auch Ausbilder qualifiziert. Außerdem sind dem Ministerium eine Reihe von subsidiären parastaatlichen Entitäten, auch Semi-Autonomous Government Agencies (SAGAs)96 oder Parastatals genannt, untergeordnet. Zu nennen sind hier vor allem die folgenden: • Technical and Vocational Education and Training Authority (TVETA); • Kenya Institute of Curriculum Development (KICD); • TVET Curriculum Development, Assessment and Certification Council (TVET CDACC); • Kenya National Examinations Council (KNEC); • Kenya National Qualifications Authority (KNQA); • Teachers Service Commission (TSC). Das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherung (Ministry of Labour and Social Protection, MLSP) ist für die industriellen Beziehungen und den sozialen Dialog, für Arbeitsgesetzgebung und die Arbeitsmarktpolitik in Kenia zuständig. Innerhalb des Ministeriums ist die Abteilung für Arbeit (Department of Labour, DoL) für die berufliche Bildung relevant, dort vor allem die beiden Direktorate Humanressourcenplanung und Humanressourcenentwicklung und die nationale Behörde für Beschäftigung (National Employment Authority, ehemals National Employment Bureau)97 (MLSP, o.J.-a). Das Mandat für die beiden DoL-Direktorate Humanressourcenplanung und Humanressourcenentwicklung sieht vor, dass diese die Entwicklung, Ko-

96

97

Perspektivisch wird auch das im Berufsbildungsgesetz von 2013 vorgesehene TVET Funding Board (TVETFB) zu den SAGAs gehören, derzeit hat diese Entität ihre Arbeit jedoch noch nicht aufgenommen. Dem DoL unterstehen auch noch das Direktorat für Sicherheit am Arbeitsplatz und Gesundheitsdienste sowie das kenianische Produktivitätszentrum und ihm obliegt die Registrierung von Gewerkschaften.

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ordination und Implementierung von relevanten Programmen und Strategien in Abstimmung mit Regierungsplänen übernehmen. Kernaktivitäten der Direktorate sind die Arbeitsmarktforschung, die Erhebung von Arbeitsmarktdaten und ihre Dissemination, die Entwicklung und Verbreitung von nationalen Richtlinien für Fachkräfteentwicklung, die Entwicklung und Administration des nationalen Qualifikationsinventars und die Formulierung von nationalen Programmen für die Planung, Entwicklung und Nutzung von Humanressourcen (MLSP, o.J.-b). Die nationale Behörde für Beschäftigung und ihre Ableger in derzeit 44 counties sind zuständig für die Formulierung und Implementierung von Beschäftigungsprogrammen und –strategien, für die Abstimmung zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik, für Armutsreduzierung und die Erreichung (internationaler) Entwicklungsziele. Die nationale Behörde und die Büros in den counties sollen die Einhaltung von Arbeitsgesetzen und Beschäftigungsgesetzen sicherstellen. Sie übernehmen die Entwicklung und Überwachung von Programmen zur Beschäftigungsförderung und erheben Arbeitsmarktdaten; die nationale Behörde fungiert auch als nationales Arbeitsamt (Registrierung von Arbeitsuchenden, offenen Stellen und Vermittlung von Arbeitsuchenden in Beschäftigung). Ebenso sind die nationale Behörde und ihre Bezirksbüros mit beruflicher Orientierung und Karriereberatung betraut. Zusätzlich registrieren, akkreditieren und überwachen sie private Arbeitsvermittlungsagenturen (MLSP, o.J.-c). Die nationale Beschäftigungsbehörde ist zudem zuständig für die Überwachung der Arbeitsmigration von Kenianer ins Ausland und von Arbeitern aus dem Ausland nach Kenia (MLSP, o.J.-b). Dem Arbeitsministerium untersteht darüber hinaus die nationale Behörde für Ausbildung in der Industrie (National Industrial Training Authority, NITA) mit Hauptsitz in Nairobi. NITA wurde in 2011 auf Basis des Industrial Training (Amendment) Acts auf dem Fundament von Vorgängerinstitutionen gegründet und unterhält aktuell fünf eigene Ausbildungszentren in Kenia. Diese Industrial Training Centers (ITCs) bieten eine Ausbildung in den Bereichen Bau, Mechanik, Elektrik, Elektronik und Auto-

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motive, Kühlung und Klimaanlagen, Instandhaltung von Kesseln und Boilern sowie Qualifikationen für die Textilindustrie an (NITA, o.J.-b; NITA, o.J.-c). NITA wird durch das National Industrial Training Board (NITB) geleitet, welches Repräsentanten ausgewählter Ministerien, von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen und weitere relevante Interessen vereint (NITA, o.J.-c; Republic of Kenya, [1983] 2012). Die Verantwortlichkeiten von NITA liegen in der Administration, der Durchführung und Supervision von Berufsausbildung in der Industrie. Diese kann in Form einer Lehrlingsausbildung stattfinden (apprenticeship training); Lehrlinge sind jene Personen, 18 Jahre oder älter, die auf Basis eines Vertrags für eine vom NITB festgelegte Dauer eine Ausbildung bei einem Arbeitgeber durchlaufen. Eine industriebezogene Ausbildung kann auch im Rahmen von Kursen mit fest vorgesehenen Praktika in Unternehmen durchlaufen werden (sog. National Industrial Attachment Programmes98, meist werden zwei von insgesamt fünf Ausbildungssemestern in Unternehmen absolviert), ebenso wie in Form von beruflichen Weiterbildungen oder in sog. indentured learnerships. Als indentured learners, d.h. vertraglich gebundene Lernende, gelten alle Personen, 18 Jahre oder älter, die nicht Lehrlinge sind und auf Basis eines Vertrags bei einem Arbeitgeber für nicht länger als zwei Jahre angestellt sind, um sich ausbilden zu lassen. Verträge für das apprenticeship training und die indentured learnerships müssen von NITA abgenommen und registriert werden. Die Teilnehmenden haben den Status eines Angestellten in den Unternehmen und erhalten ein Gehalt (Republic of Kenya, [1983] 2012; Republic of Kenya, [2007] 2012). Weitere Verantwortlichkeiten NITAs liegen in der Curriculumentwicklung, der Abnahme von Prüfungen (Trade Tests) und der Zertifizierung 98

Diese Programme richten sich an junge Menschen über 18, die in einem Bildungsgang eingeschrieben sind, der ein solches Praktikum vorschreibt, an Menschen, die bereits eine erste Qualifizierung in dem jeweiligen Tätigkeitsfeld erlangt haben oder an Ausbilder und Lehrer einer Ausbildungseinrichtung (Republic of Kenya, [1983] 2012).

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(auf Artisan- und Craft-Ebene), der Inspektion von Ausbildungsinstitutionen und der Administration des Fonds der Umlagefinanzierung (NITA, o.J.-c; Republic of Kenya, [1983] 2012). Die Umlagefinanzierung (Training Levy, derzeit 50 KSH pro Monat pro Arbeitnehmer im Unternehmen) wird in den Training Levy Fund eingezahlt, dies (so die Absicht) durch alle Unternehmen in den Sektoren der Industrie. Aus der Umlagefinanzierung erhalten einzahlende Unternehmen eine Subvention, wenn sie sich an Praktikumsprogrammen beteiligen. Außerdem erhalten einzahlende Unternehmen eine Rückzahlung aus dem Fonds, wenn sie Lehrlinge (apprentices) oder indentured learners aufnehmen. Alle einzahlenden Unternehmen müssen sich bei NITA registrieren (NITA, o.J.-d; Republic of Kenya, [1983] 2012). Neben der Umlagefinanzierung wird NITA aus weiteren Quellen finanziert: aus dem Staatshaushalt und anderen Regierungszuwendungen, aus Gebühren, die für Prüfungen und Zertifikate erhoben werden, aus Teilnahmegebühren für Kurse, aus Mieteinnahmen in den Internaten der Ausbildungszentren, aus Spenden, Strafgeldern, z.B. für versäumte Zahlungen in die Umlagefinanzierung, und sämtlichen anderen Quellen, die vom NITB als akzeptabel angesehen werden (Republic of Kenya, [1983] 2012). NITA vergibt verschiedene Abschlüsse im Bereich Artisan und Crafts, die jeweils Abstufungen folgen - Artisan: Basic, Intermediate und Advanced; Crafts: Preliminary, Intermediate und Final. Weiterhin können in den fünf von NITA unterhaltenen Ausbildungszentren Kurzkurse und speziell angefragte Kursformate durchgeführt werden. Teilnehmer, die nicht von Unternehmen geschickt werden oder an apprenticeships oder learnerships teilnehmen, müssen in der Regel für Bildungsangebote zahlen (NITA, o.J.a). Für die Industriesektoren des Landes kann das NITB sektorale Ausbildungskomitees (Sector Training Committees, STCs) einrichten. Derzeit

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gibt es neun99 sektorale Komitees, die sich aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern und weiteren für den jeweiligen Sektor relevanten Interessensvertretern zusammensetzen. Die STCs erfüllen eine Reihe von zentralen Aufgaben für ihren jeweiligen Sektor: die Registrierung von Unternehmen als Einzahler in die Umlagefinanzierung, die Identifikation von Qualifizierungsbedarfen, die Abnahme von jährlichen Qualifizierungsplänen, die Entwicklung von Ausbildungsprogrammen inklusive der Festlegung von beruflichen Kompetenzstandards, von Prüfungs- und Zertifizierungssystemen, die Beurteilung und Deklaration von Unternehmen als geeignete Ausbildungsstätte100, die Empfehlung von geeigneten Mitgliedern für Prüfungskommissionen, das Aussprechen von Empfehlungen zur Verbesserung von Ausbildungsgängen und administrativen Prozessen u.a. (NITA, o.J.-e). Neben den Ministerien für Bildung und Arbeit, sind im Zusammenhang mit sektoralen Aktivitäten und Verantwortlichkeiten weitere Ministerien

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Sektoren der Komitees:

• • • • • • • • • • 100

Landwirtschaft, Viehzucht, Fischerei und Assoziierte Bergbau, Öl, Gas, Steinbrüche und Assoziierte Fabrikanten und Assoziierte Energie, Elektrizität, Wasser und Assoziierte Infrastruktur und Assoziierte Großhandel, Einzelhandel, Distribution und Assoziierte Transport, Lagerung, Kommunikation und Assoziierte Finanzen, Versicherungen, Immobilien, Unternehmensdienstleistungen und Assoziierte Ministerien, Bezirke, parastaatliche Entitäten, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Kommissionen und gemeinnützige Einrichtungen und Assoziierte

Laut Gesetzgebung dürfen nur die Unternehmen in apprenticeship training, indentured learnerships oder industrial attachment programs mitwirken, die eine Erlaubnis des Generaldirektors von NITA erhalten haben (Republic of Kenya 1971, 1963, 2011).

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in die Gestaltung und Steuerung beruflicher Aus- und Weiterbildung involviert. Im Bereich der Ausbildung von Ausbildungspersonal sind vor allem die folgenden Entitäten zu nennen. Das Kenya Technical Trainers College (KTTC) hat in Kenia als Hochschule das Monopol inne, berufliches Bildungspersonal auszubilden. Die Ausbildung erfolgt in verschiedenen Fachbereichen zum technischen Lehrer (Technical Teacher) oder zum Ausbilder (Instructor).Darüber hinaus gibt es am KTTC diverse berufliche Bildungsgänge die nicht die Ausbildung beruflichen Lehrpersonals fokussieren (Kurzkurse und Angebote auf den Stufen Craft, Certificate, Diploma und Higher Diploma). Das KTTC ist eine Regierungsinstitution und untersteht dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie und wurde in den 1970er Jahren durch Mittel der kanadischen Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut (KTTC, o.J.-a). Die Aufgaben des KTTC umfassen, neben der Ausbildung von beruflichem Bildungspersonal für Sekundarschulen und tertiäre Bildungseinrichtungen auch die Entwicklung und Implementierung von Lehrplänen in Zusammenarbeit mit relevanten Akteuren, die Entwicklung, Administration und Durchführung von Prüfungen und die Ausgabe von Zertifikaten (in der Regel Diploma und Higher Diploma für Lehrer), die Entwicklung und Implementierung von Curricula auf Basis der Bedarfe des Arbeitsmarkts, die Förderung von Unternehmerkompetenzen und einer Gründerkultur unter den Angestellten und Lernenden des KTTC, die Durchführung von einkommensgenerierenden Aktivitäten (Bildungsdienstleistungen, Beratung u.a.) sowie angewandte Forschung und die Förderung von Innovation und Vernetzung (KTTC, o.J.-a). Das KTTC bietet Lehrerausbildungen an in den Fachbereichen: • Building and Civil Engineering; • Electrical and Electronics Engineering; • Education; • Information Studies;

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• Mechanical Engineering; • Business Studies und • Computer Studies Die zu erreichenden Abschlüsse werden als Diploma in Technical Teacher Education eingestuft. In Ausnahmefällen gibt es auch andere Abschlüsse zu erwerben, wie etwa das Higher Diploma in Education Management und das Advanced Diploma in Technical Teacher Education. Vorausgesetzt wird ein in einer Berufsbildungseinrichtung und einschlägigen Fachrichtung erlangtes Diplom, in manchen Fällen auch eine gute Note im Sekundarstufenabschluss in spezifischen Fächern. Die Programme dauern zwischen einem und vier Jahren, können in Voll- oder Teilzeit sowie durch ELearning Elemente absolviert werden. Ein Semester wird in der Regel in einer Schule verbracht, um Lehrpraxis zu sammeln. Kurse im Bereich Ausbildung der Ausbilder dauern ein bis drei Monate, niedrigste Einstiegsvoraussetzung ist ein Craft Certificate. Je nach Dauer können auch diese Kurse in Voll- oder Teilzeit sowie durch E-Learning-Elemente absolviert werden (KTTC, o.J.-b). Die Registrierung von ausgebildeten Lehrern sowie deren Rekrutierung und Beschäftigung erfolgt in Kenia zentral durch die Kommission für den Lehrerdienst (Teachers Service Commission). Die Kommission wurde auf Basis der Verfassung von 2010 geschaffen und ist zuständig für die Verteilung von Lehrkräften an die Schulen des Landes und für deren Beförderung, Entlassung und Disziplinaraufsicht. Die Kommission übernimmt auch die Erhebung und Beobachtung des Lehrkräftebedarfs, überwacht die Standards für die Lehrerausbildung und berät die Regierung in Fragen bezüglich der Lehrerausbildung (Republic of Kenya, 2010). NITA hat im Bereich der Ausbildung der Ausbilder bestimmte Vorgaben. So kann in den von der Behörde administrierten Programmen nur jemand ausbilden, der sich als Ausbilder beim Generaldirektor registriert hat und als geeignet empfunden wird (Republic of Kenya, [1983] 2012).

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Der im Jahre 2015 verabschiedete Zusatz zu dem Berufsbildungsgesetz von 2013 erfordert die Registrierung von Ausbildern in den durch dieses Gesetz regulierten Ausbildungseinrichtungen seitens der Berufsbildungsbehörde TVETA (s.u.), wobei Ausbilder in regelmäßigen Abständen aufgefordert sind ihre Lizenz zu erneuern und vorweisen müssen, dass sie sich kontinuierlich weiterbilden (Republic of Kenya, 2015). Für die Entwicklung von Curricula in der Berufsbildung ist in federführender Funktion der auf Basis des Berufsbildungsgesetzes von 2013 (Technical Education and Training Act 2013b) etablierte TVET Curriculum Development, Assessment and Certification Council (CDACC) zuständig. Der zehnköpfige Rat übernimmt die Koordinierung der Entwicklungsprozesse für kompetenzbasierte sog. TVET-Curricula101, die Überprüfung und Anpassung von Prüfungen und die Entwicklung von Kompetenzmessungsverfahren. Darüber hinaus vergibt der Rat u.a. auch Abschlüsse an Absolventen entsprechender Ausbildungen, soll Lehrmaterialien zur Prüfungsvorbereitung entwickeln und Forschung zum Prüfungswesen betreiben (Republic of Kenya, 2013b). Abgesehen von den von NITA abgenommenen Prüfungen auf Basis von NITA-Curricula besteht auch die Möglichkeit, Prüfungen in der Berufsbildung durch den nationalen Prüfungsrat (Kenya National Examination Council, KNEC) durchführen zu lassen. Der KNEC wurde im Jahre 2012 mittels des dazugehörigen Gesetzes Nummer 29 etabliert. Abgesehen von der beruflichen Bildung übernimmt der Rat auch die Administration und Durchführung von Prüfungen für die anderen Bildungsstufen in Kenia und vergibt die entsprechenden Zertifikate und Diplome an erfolgreiche Absolventen. Alle Prüflinge müssen sich entsprechend der landesweiten Prüfungszeiträume im Vorfeld beim KNEC kostenpflichtig für die Prüfungsteilnahme registrieren. Der Rat soll auch Forschung zum Prüfungswesen durchführen, die Regierung zu Prüfungen und Zertifizierung beraten und

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CDACC- bzw. TVET-Curricula existieren für Ausbildungsgänge, die nicht von NITA angeboten werden bzw. für Ausbildungseinrichtungen, die nicht nach NITA-Vorgaben agieren.

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bei der Anrechnung von bei anderen Prüfungsentitäten abgelegten Prüfungen mitwirken. Außerdem führt KNEC Prüfungen für ausländische Organisationen durch, zum Beispiel Sprachtests (KNEC, o.J.). Die nationale Berufsbildungsbehörde (Technical and Vocational Education and Training Authority, TVETA) ist eine staatliche Gesellschaft, die mittels des Berufsbildungsgesetzes von 2013 (Technical Education and Training Act, 2013b) gegründet wurde. Das Mandat für TVETA sieht vor, dass die Behörde den Berufsbildungssektor reguliert, im Wesentlichen durch die Registrierung und Akkreditierung von Ausbildungseinrichtungen sowie die Registrierung und Lizenzierung von Ausbildungsprogrammen und Ausbildern. TVETA genehmigt auch die Einstellung der Leiter von Ausbildungseinrichtungen und führt Inspektionen in letzteren durch, auf Basis derer Akkreditierungen und Lizenzen entzogen werden können. TVETA wird aus Zuwendungen des öffentlichen Haushalts finanziert, zusätzliche Einnahmen können aus erhobenen Gebühren, Spenden und anderen Quellen entstehen (TVETA, o.J.-b; Republic of Kenya, 2015). Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Akkreditierung von Ausbildungseinrichtungen und Lizenzierung von Programmen und Ausbildern sind in den zusätzlichen Regularien zum Berufsbildungsgesetz (Technical Education and Training Act, 2013b) festgelegt, die in 2015 verabschiedet wurden. Die Behörde wird von einem zehnköpfigen Vorstand geleitet, der sich aus Regierungsvertretern und Wissenschaftlern zusammensetzt, letztere sind in verschiedenen Sektoren und Funktionen in der beruflichen Bildung aktiv (TVETA, o.J.-c). TVETA erfüllt laut Mandat auch einen Forschungsauftrag. Die selbst definierten Ziele des Forschungsprogramms der Behörde sind die Förderung einer qualitativ hochwertigen Berufsbildungsforschung, Überwachung und Bewertung des Berufsbildungssystems und die Unterstützung von Technologietransfer und innovativen Programmen (Langat, 2017). Im Jahre 2014 hat die kenianische Regierung das Gesetz zur Schaffung eines nationalen Qualifikationsrahmens verabschiedet. In diesem Zuge

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wurde auch die nationale Qualifikationsbehörde (Kenya National Qualifications Authority, KNQA) eingerichtet. Diese Behörde ist u.a. betraut mit der Entwicklung eines nationalen Qualifikationsrahmens inklusive der Definition von Leveln und Deskriptoren sowie Kompetenzen, mit der Entwicklung eines Systems zur Bemessung und Bewertung nationaler Qualifikationen, mit der Unterhaltung einer nationalen Datenbank, in die Qualifikationen eingetragen werden, sowie mit allen Fragen der Anrechnung von Kompetenzen sowie der Durchlässigkeit im Bildungssystem (Republic of Kenya, 2014). Die Finanzierung der Behörde erfolgt hauptsächlich aus öffentlichen Zuwendungen, aber auch durch Gebühren, die für Dienstleistungen erhoben werden, sowie durch Spenden und sonstige Einnahmen. Die Steuerung der Behörde übernimmt ein Rat, der sich aus Vertretern relevanter Regierungsentitäten, aus Repräsentanten der kenianischen Universitätskommission, der TVETA, dem Direktorat für Qualitätssicherung und Standards des Bildungsministeriums (s.o.) sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern zusammensetzt (Republic of Kenya, 2014). 2.2.3 Weitere Akteure und Institutionen Neben den in 2.2.2 genannten sind weitere Akteure an der mittelbaren und unmittelbaren Gestaltung der kenianischen Berufsbildungslandschaft beteiligt. Das kenianische Institut für Curriculumentwicklung (Kenya Institute of Curriculum Development, KICD) wurde 2013 als Nachfolgeeinrichtung des kenianischen Instituts für Bildung (Kenya Institute of Education, KIE) gegründet. Gesetzliche Grundlage ist der Act of Parliament No.4, auch benannt als Kenya Institute of Curriculum Development Act von 2013 (KICD, o.J.-a). Zu den Aufgaben des Instituts gehört die Entwicklung, Überarbeitung und Verabschiedung von Programmen, Curricula und zusätzlichen curricularen Materialien, die internationalen Standards entsprechen, für die

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frühkindliche und Vorschulbildung, Grundschulbildung, Sekundarbildung, Erwachsenenbildung, Weiterbildung und non-formale Bildung102, Sonderschulbildung, Lehrkräfteausbildung und technische und berufliche Bildung (KICD, o.J.-b). Weiterhin gehört es zum Mandat des KICD, Forschung zu betreiben, politische Programme mit Relevanz für curriculare Vorgaben in der Grundund tertiären Bildung zu implementieren, die Regierung in Fragen der Curriculumentwicklung zu beraten und Gesetzesentwürfe zu entwickeln, zu sichten oder zu kommentieren. Im Bereich der Forschung unterhält das KICD eine Abteilung für den Bereich technische und berufliche Bildung (KICD, o.J.-b). Für die Ausbildung in den Bereichen Buchhaltung, Sekretariat, Management, Verwaltung, Informations- und Kommunikationstechnologien und im Bereich Finanzen und Finanzdienstleistungen ist seit 1969 der Nationale Prüfungsausschuss für Buchhalter und Sekretärinnen Kenias (Kenya Accountants and Secretaries National Examinations Board, kasneb) zuständig. Kasneb ist eine staatliche Gesellschaft, die dem Finanzministerium untersteht. Der kasneb ist verantwortlich für die Entwicklung von Lehrplänen, die Durchführung von Prüfungen und die Vergabe von Abschlüssen. Darüber hinaus akkreditiert kasneb zusammen mit dem Bildungsministerium Ausbildungseinrichtungen für die Durchführung von Bildungsgängen in den kasneb betreffenden Profilen. Beispiele für kasnebQualifikationen sind Certified Public Accountant, Certified Investment and Financial Analyst aus dem Bereich der Professional Examinations oder Diploma in Credit Management aus dem Bereich der Diploma Examinations (kasneb, o.J.-a; kasneb, o.J.-b).

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Non-formale Bildung bezeichnet ein organisiertes Bildungsangebot außerhalb des regulären Bildungsbetriebs, welches eine bestimmte Gruppe von Lernern anspricht und auf die Vermittlung von life skills und persönlichen sowie sozialen Kompetenzen zielt (Republic of Kenya, 2013a).

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Linking Industry with Academia (LIWA) ist eine im Jahr 2010 gegründete regionale Plattform, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Regierung, Wirtschaft, Universitäten und Berufsbildungseinrichtungen miteinander zu vernetzen. Hintergrund für die Gründung von LIWA sind die Verabschiedung von Kenya Vision 2030 und die Entwicklungsziele, die von den Millenium Development Goals und nun den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen ausgehen. LIWA will durch die Förderung von öffentlichprivaten Partnerschaften zur Erreichung der Ziele aus diesen Strategien beitragen. Eine Anschubfinanzierung erfolgte in den ersten Jahren durch Mittel aus der niederländischen Entwicklungszusammenarbeit (LIWA, o.J.-a; Gespräch am 30. Januar 2018). LIWA ist seit seiner Gründung in verschiedenen berufsbildungsbezogenen Projekten einbezogen gewesen, teilweise auch mit deutscher Beteiligung. LIWA hat außerdem die Formierung von sektoralen Beratungskomitees (Sector Skills Advisory Committees, SSACs) für die Entwicklung von aktuell 13 verschiedenen beruflichen Profilen und kompetenzbasierten Curricula koordiniert.103 Der Prozess wird auch durch die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und weitere Akteure unterstützt und ist von CDACC abgesegnet.104 Die SSACs sollen sich 103

104

Die Bereiche sind wie folgt: Schweißen, Mess- und Regelungstechnik und Steuerung, Steuerung schwerer und leichter Maschinen, mechanische Technologie und Instandhaltung, Techniker für Mechanik, Techniker für Chemie, Nahrungsmitteltechniker, Techniker für erneuerbare Energien, Techniker für elektrische Installation, Techniker für Biomedizin, Techniker für Automobilmechanik, Techniker für Elektrik, Techniker für Wasser und Abfall. Quelle: https://www.liwaprogrammetrust.org/project, Zugegriffen: 24. April 2018 Der Entwicklungsprozess für kompetenzbasierte Curricula folgt einem 9-stufigen Kreislaufverfahren: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Needs Assessment; Policy Formulation; Curriculum Design; Approval and Dissemination of Curriculum Designs; Development of Curriculum Support Materials; Preparation of Curriculum Implementers; Pre-testing/Piloting/Phasing-in; National Implementation; Monitoring and Evaluation (KICD 2017b).

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auch der Entwicklung bzw. Anpassung von Prüfungen sowie der Ausbildung von Ausbildern für eine kompetenzbasierte Ausbildung widmen (LIWA, o.J.-a; LIWA, o.J.-b). Die stetig wachsende Arbeitsgruppe für berufliche Bildung (Permanent Working Group on Technical and Vocational Education and Training in Kenya, PWG) wurde 2014 gegründet und vereint Vertreter aus der kenianischen Wirtschaft, den Ausbildungseinrichtungen, der Politik, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen und ausländischen Akteuren bzw. Geberorganisationen. Die PWG wird von der Delegation der Deutschen Wirtschaft (AHK) in Nairobi in Funktion eines Sekretariats koordiniert. Die Arbeitsgruppe dient als Plattform für den Dialog zwischen Stakeholdern der beruflichen Bildung, dem Erfahrungsaustausch ebenso wie der Identifizierung und Dissemination von Beispielen guter Praxis. Weiterhin sollen durch die Arbeitsgruppe Bedarfe des privaten Sektors mit denen des öffentlichen Sektors in Einklang gebracht und die Berufsausbildung als Eintrittskarte für hochwertige Karrierewege beworben werden. Die PWG hat, unter Mitwirkung der AHK, im Jahr 2017 die im Land bisher größte Berufsbildungskonferenz mit dem Titel ‚Hands on the Future‘ sowie eine daran angeschlossene Berufsmesse (Skills Show) organisiert. Letztere wird im Februar 2019 eine Neuauflage erfahren, koordiniert durch die PWG unter der Schirmherrschaft des State Department of Vocational and Technical Training des Bildungsministeriums.105 Die verfasste Wirtschaft in Form von diversen Verbänden (z.B. Kenya Association of Manufacturers (KAM), Kenya Private Sector Alliance (KEPSA)) und der Assoziation kenianischer Arbeitgeber (Federation of Kenya Employers (FKE) sowie Kammerorganisationen wie die kenianische Industrie und Handelskammer (Kenya National Chamber of Commerce and Industry, (KNCCI)) sind neben der PWG auch über andere

105

Mehr Informationen unter: http://tvetinkenya.net/

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Wege in die Berufsbildung involviert, und zwar über die Teilhabe an diversen Steuerungsgremien (KNQA, NITA u.a.) sowie in sektoralen Komitees und über einzelne nationale und internationale Projekte. 2.3

Problemstellung, Lösungsansätze und Projektinitiativen

Trotz der Neuordnung und Impulse der letzten Jahre muss festgestellt werden, dass eine Diskrepanz zwischen gesetzlichen Vorgaben und deren Implementierung besteht, dies vor allem durch den Mangel an finanziellen Mitteln und an Humanressourcen im Sektor, ebenso aufgrund von lückenhafter Infrastruktur. Neben der Unterfinanzierung kennzeichnet den Berufsbildungssektor auch die Unterversorgung. Die geographische Abdeckung von Berufsbildungseinrichtungen wird als unzureichend empfunden, vor allem ländliche Gebiete werden wenig erreicht. Die kenianische Regierung hat dieses Problem erkannt und bemüht sich um die Expansion des Sektors, die auch mit steigenden Schülerzahlen einhergeht. Allerdings stockt die Expansion regelmäßig wegen finanziellen Engpässen. Es wird auch bemerkt, dass Universitäten in der Vergangenheit berufsbildende Einrichtungen inkorporiert und so die Anzahl von Institutionen, die berufliche Qualifikationen anbieten, weiter reduziert wurde. Durch die stetig wachsende Bevölkerung Kenias wird erwartet, dass der Druck auf das gesamte Bildungssystem weiter anwächst. Das Berufsbildungssystem in Kenia ist hoch komplex, fragmentiert und geprägt von der Überlappung der Kompetenzen und Aufgaben verschiedener Akteure und Entitäten, ebenso von mangelnder Harmonisierung und Standardisierung. Die politische Dezentralisierung hat in diesem Zusammenhang teils noch verschärfend gewirkt, da die Bezirke zwar für die VTCs zuständig sind, allerdings noch wenig Kenntnis zu Fragen der Berufsbildungsgovernance haben. Zudem mangelt es den counties an finanziellen Ressourcen, ihre Berufsbildungsstrukturen zu unterhalten oder gar auszubauen.

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Dualisierte Berufsbildungsansätze und ausgewählte Projektinitiativen u.a. mit Beteiligung deutscher Akteure Das Projekt Better Utilization of Skills for Youth through Quality Apprenticeships (BUSY) ist eine Pilotinitiative, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) implementiert und von der Weltbank unterstützt wird. Das Vorhaben konzentriert sich auf Qualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung für gefährdete und marginalisierte Jugendliche im Alter von 16 bis 24 Jahren, insbesondere junge Frauen. Gleichzeitig sollen die kenianische Regierung und Arbeitnehmerund Arbeitgeberorganisationen dabei unterstützt werden, eine industrielle Lehrlingsausbildung zu etablieren und Lehrstellen in der formellen und informellen Wirtschaft für Jugendliche zu schaffen. Während der Projektlaufzeit von September 2016 bis September 2020 sollen auch Schnittstellen zu anderen Ausbildungsinitiativen geschaffen werden (IAO, o.J.). Ziele des BUSY-Projekts bestehen in der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen, um so zur Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Armut speziell marginalisierter Jugendlicher in städtischen und ländlichen Gebieten beizutragen, ebenso soll Kinderarbeit verringert oder besser noch vermieden werden (IAO, o.J.). Aktivitäten des Projekts zielen u.a. auf die Etablierung von innerbetrieblichen Ausbildungskomitees und eines Nationalen Ausbildungsrats, auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, auf die Dokumentation und Dissemination von guter Praxis der betrieblichen Ausbildung, auf die Unterstützung relevanter Entitäten bei der Entwicklung einer nationalen Qualifizierungsstrategie und die Verbesserung des Image von beruflicher Ausbildung in Kenia (IAO, o.J.). Youth Empowerment Project (KYEP) - Kenianische Regierung und Weltbank Dieses Pilotprojekt wurde als Antwort auf das von kenianischen Arbeitgebern aufgeworfene Problem konzipiert, dass vielen Jugendlichen, die aus

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Schulen und Ausbildungszentren kommen, die entsprechende Berufserfahrung und die Kompetenzen, die für die Beschäftigung benötigt werden, fehlen. Der Mangel an Praxisbezug in den Angeboten des kenianischen Berufsbildungssektors wird auch an anderer Stelle mehrfach thematisiert (MOEST, 2012a, S.97, S.99-100; MOEST, 2012b, S.157). Das Projekt zur Stärkung der Jugend (Youth Empowerment Project, KYEP) wurde zwischen 2010 und 2015 in Nairobi, Mombasa und Kisumu durchgeführt. Primäres Ziel des Vorhabens war die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit und die Perspektive auf ein sicheres Einkommen für junge Erwachsene zwischen 15 und 29 Jahren, die Gefahr liefen, aufgrund ihrer schulischen Bildung und/oder sozioökonomischen Situation mit Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert zu sein. Insgesamt wurden rund 20.000 junge Menschen durch das Projekt erreicht, welches sich auf berufliche Ausbildung und die Vermittlung in und Begleitung von Praktika in Unternehmen fokussierte. KYEP wurde als eine öffentlich-private Partnerschaftsunternehmung konzipiert, in dem die kenianische Regierung strategisch und finanziell sowie der Verband Kenya Private Sector Alliance (KEPSA) als Brücke zur Wirtschaft und als Projektleitung beteiligt waren (Honorati, 2015, S.4, S.6). Die Ausbildung der jungen Kenianer bestand aus den Komponenten life skills, Vermittlung kaufmännischer und sektorspezifischer beruflicher Kenntnisse über drei Monate, gefolgt von einem ebenfalls 12-wöchigen Praktikum in einem der sechs106 von Vision 2030 identifizierten Schlüsselsektoren für Kenias wirtschaftliches Wachstum. Das Projekt beteiligte sowohl die formelle als auch die informelle Wirtschaft, die auch in die Entwicklung der Ausbildungsinhalte involviert waren (Honorati, 2015, S.7-8). Insgesamt wurde KYEP zur Förderung der Lohnbeschäftigung entwickelt und nicht der Selbstständigkeit. Arbeitgeber wurden ermutigt, die Praktikanten am Ende der sechs Monate zu übernehmen, oder ihnen zu helfen, einen anderen festen Arbeitsplatz zu finden. Für einige Interessiert wurde 106

Energie, Finanzen, Informations- und Kommunikationstechnologie, Fertigung, Tourismus und Jua Kali.

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dennoch eine dreiwöchige Unternehmerausbildung (entrepreneurship training) angeboten, zusammen mit einem Praktikum in einem Klein- oder Kleinstunternehmen im Jua Kali-Sektor (Honorati, 2015, S.5). Die teilnehmenden Auszubildenden erhielten von der Weltbank eine kleine Summe, um Transport- und Nahrungsmittelkosten abzudecken (etwa US$ 70/Monat) und die Unternehmen wurden finanziell unterstützt, um Materialkosten und Mehraufwand durch die Betreuung der Praktikanten ausgleichen zu können (etwa US$35/Monat) (Honorati, 2015, S.8). SkillUp! - Programm der Welthungerhilfe Das Programm der Welthungerhilfe wird neben Kenia in vier weiteren Ländern implementiert und aus einer privaten Spendenzuwendung der Bauer Medien Gruppe finanziert. Zielgruppe des Programms sind vor allem junge Menschen, die mit verschiedenen Dimensionen der Benachteiligung konfrontiert sind. In Kenia konzentriert sich SkillUp! (Laufzeit 2015-2020) auf den Kibera Slum in Nairobi und arbeitet mit der dort ansässigen Ausbildungseinrichtung Watoto Wa Lwanga zusammen, um mit an die lokalen Gegebenheiten angepassten Ausbildungsmodulen in den Bereichen KFZ-Mechanik, Elektrotechnik, Gastronomie, Frisörhandwerk, Informations- und Kommunikationstechnologie und Landwirtschaft eine Qualifizierungsmöglichkeit zu schaffen. Ziel ist es, insgesamt etwa 1.500 junge Menschen durch die Trainings zu erreichen. Dabei wird darauf gezielt, neben den Workshops in Watoto Wa Lwanga private Betriebe, auch der informellen Wirtschaft, an der Ausbildung zu beteiligen. So sollen gleichzeitig Kleinst-, Klein- und mittlere Betriebe gefördert werden. An der Ausbildungsinstitution erfolgt die Weiterbildung von Lehrkräften. Neben den beruflichen Qualifizierungen bietet das Programm entrepreneurship training, Karriereberatung und die Vermittlung von Praktika und Arbeitsstellen an. Unterstützung in sozialen Angelegenheiten, wie etwa gesundheitlichen Fragen, Kinderbetreuung u.a. ist ebenfalls Teil des Programms.

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Duale Ausbildung in der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie107 Dieses Projekt zielt auf die duale Ausbildung von Mechatronikern und spricht dabei junge Menschen an, die bereits eine (schulbasierte) Ausbildung in einem ähnlichen Bereich abgeschlossen haben. Innerhalb von zwei Jahren absolvieren die Auszubildenden ihre Qualifizierung im Wechsel zwischen Unternehmen (Krones East Africa Ldt und Nairobi Bottlers Ltd/ Coca Cola Co.) und Trainingszentrum (Centurion Systems Limited108). Pro Jahrgang sind rund zehn Auszubildende an dem Programm beteiligt. Die Ausbildung wird durch Ausbilder in den im Verbund agierenden Unternehmen unterstützt. Das Krones-Trainingszentrum wird auch für Weiterbildungen der bereist beschäftigten Mitarbeiter genutzt. Motivation für Krones in Kenia auszubilden ergibt sich u.a. dadurch, dass die Abnehmer von Krones-Produkten Fachkräfte benötigen, die die Maschinen des deutschen Unternehmens bedienen und ggf. zukünftig auch den Vertrieb unterstützen können. KeVET Berufsbildungspartnerschaft109 der IHK Gießen-Friedberg, HWK Frankfurt/Rhein-Main und sequa gGmbH Diese vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierte Berufsbildungspartnerschaft existiert seit 2014. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, die andauernde Berufsbildungsreform in Kenia mit einem Wissensmanagementsystem zu unterstützen, die Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und kenianischen Berufsbildungsakteuren zu stärken und pilothaft duale Ausbildungsgänge bedarfsorientiert durchzuführen. Duale Ausbildungsgänge mit eigens entwickelten Ordnungsmitteln werden in den Bereichen Gerüstbau, Kfz-Mechatronik, Karosserien- und Spritzlackierung und Industrieelektronik angeboten. 107 108 109

Quelle: Gespräch bei Krones East Africa Ldt am 30. Januar 2018 in Nairobi. Centurion ist ein dem Techniktransfer gewidmeter Ausbildungsanbieter, dessen Personal sich teilweise mit LIWA überschneidet. Die Informationen zu diesem Abschnitt stammen aus Malzacher, R.: „Berufsbildungspartnerschaft mit Kenia – Kenyan Initiative for Vocational Education and Training. Erfahrungsbericht.” Unveröffentlichte Präsentation iMOVE Länderseminar Kenia, 20. März 2018. Bonn.

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Die deutschen Projektpartner arbeiten in Kenia zusammen mit der Kenya Private Sector Alliance (KEPSA) und der Kenya Federation of Masterbuilders (KFMB). Bisher nahmen an den KeVET-Kursen über 60 Ausbilder und über 400 Auszubildende in den Bereichen Gerüstbau, Kfz-Mechatronik und Karosseriebau teil. Insgesamt sind drei kenianische Ausbildungseinrichtungen an dem Projekt beteiligt, dies sind das KTTC, das Kabete Polytechnic Training College (KPTC), das Eastland College of Technology (ECT) sowie die Kenya Association of Technical Training Institutions (KATTI).110 Während der ersten drei Förderjahre des Projekts bis Ende 2017 wurden die Curricula entwickelt, die Ausbilder ausgebildet und die Erstausbildung eingeleitet, inklusive Abschluss von Ausbildungsverträgen und der Abnahme von Prüfungen. Außerdem gab es eine Studienreise für kenianische Projektpartner, um die berufliche Bildung in Deutschland kennenzulernen. Die KeVET-Projektpartner bringen sich in der PWG ein und haben eine virtuelle Plattform eingerichtet, auf der Daten zur beruflichen Bildung gesammelt werden können. In der zweiten Förderphase bis Ende 2020 sollen nun in Kenia die Kapazitäten dahingehend entwickelt werden, dass die kenianischen Partner die Aktivitäten eigenständig weiterführen können, nachdem das Projekt beendet ist. Außerdem soll das Modell auf andere Sektoren ausgeweitet werden und die Bekanntheit der dualen Ausbildung erhöht werden. Im Rahmen der Berufsbildungspartnerschaft wurde ebenfalls pilothaft eine 7-monatige duale Ausbildung zum/zur Systemelektroniker entwickelt und durchgeführt. An diesem Vorhaben, dessen Teilnehmer Ende 2017 und Anfang 2018 ihre Ausbildung abgeschlossen haben, war auch die AHK Nairobi involviert. Die Ausbildung fand auf Basis von angepassten deut-

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KATTI ist die Assoziation der Direktoren von Ausbildungseinrichtungen; sie wirkt als Schnittstelle zwischen den Berufsbildungseinrichtungen, dem MOEST und der TSC.

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schen Ordnungsmitteln statt und es waren mehr als 10 Unternehmen beteiligt - darunter z.B. Toyota- sowie KAM und das KTTC. Teil des Vorhabens war auch die Ausbildung von Ausbildern. Initiative Fachkräfte für Afrika des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer e.V. (VDMA)111 Ziel der Initiative in den Projektländern Kenia, Nigeria und Botswana ist es, mit lokalen Partnern die Erstausbildung zum Industriemechaniker, Industrieelektroniker und Mechatroniker an die Bedürfnisse der lokalen Unternehmen anzupassen. Außerdem sollen eine technische Grundausbildung, berufliche Weiterbildung, Kurzzeittrainings für Fachkräfte und die Ausbildung von Ausbildungspersonal angeboten werden. Im Fokus steht die Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Angelehnt an die duale Erstausbildung sollen in den drei Ländern einheimische Ausbildungseinrichtungen den schulischen Teil der Ausbildung übernehmen, lokale und deutsche Unternehmen im Land sollen den praktischen Anteil durchführen. VDMA-Mitgliedsunternehmen sollen ihr Knowhow und Ausstattung zur Verfügung stellen. Die einheimischen Ausbildungszentren lassen im Rahmen der Initiative idealerweise ihr Personal weiterbilden, ebenso wie in die Ausbildung involviertes Personal in den Unternehmen. Die Weiterbildung des Ausbildungspersonals soll auch in den lokalen Ausbildungszentren stattfinden. Zugang zu lokalen Netzwerken soll durch Kooperation mit Kammern, Regierungsstellen und Verbänden im jeweiligen Land gesichert werden. Implementiert werden die Teilprojekte in den drei Ländern von Experten der Berufsbildungszusammenarbeit.

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Weitere Informationen unter: https://www.vdma.org/v2viewer/-/v2article/render/21532843, Zugegriffen: 13. April 2018. Informationen zu diesem Abschnitt auch aus Njau, R.: „VDMA-Initiative „Fachkräfte für Afrika“ “. Unveröffentlichte Präsentation, 7. Sitzung der Arbeitsgruppe Afrika IHK Hannover, 15. März 2018, Hannover.

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Der VDMA hat Ende 2017 den Startschuss für das Teilprojekt in Kenia gegeben. Projektträger ist die Gesellschaft zur Förderung des Maschinenbaus (GzF) GmbH und die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) finanziert das Vorhaben. Kenianischer Partner ist die Kenya Association of Manufacturers (KAM). Das kenianische Teilprojekt fokussiert die Ausbildung zum MechatronikerIn sowie technische Kurzkurse und die Ausbilderausbildung. Ziel ist es, 200 Fachkräfte auszubilden. Die Kurse sollen Anfang 2018 starten und vor Ort von Centurion Systems Limited angeboten werden. Centres of Excellence Network-Projekt von GIZ und KfW Dieses Vorhaben basiert auf einem Abkommen auf Regierungsebene zwischen Deutschland und Kenia aus dem Jahr 2016. Unter der Bezeichnung Sustainable Economic Development - Promotion of Youth Employment and TVET wurden in der Kooperationsperiode 2017-2018 Stück für Stück Projektaktivitäten aufgenommen. So wurden im Raum Nairobi einige Technical Training Institutes (TTIs) als zukünftige Exzellenzzentren identifiziert. Abgestimmt mit der kompetenzbasierten Orientierung der kenianischen Berufsbildung, wurden in diesen Zentren in verschiedenen Ausbildungsrichtungen praxisorientierte Ausbildungsgänge entwickelt. Lokal ansässige Unternehmen waren dabei eingebunden, bspw. in der Durchführung der Ausbildung, in der Ausbildung der Ausbilder, im Prüfungswesen und in der Entwicklung von Ordnungsmitteln und dem Ausbau der Intrastruktur in den Trainingszentren. Kenia ist darüber hinaus auch Zielland des Employment for Development (E4D) - Programms des BMZ (Laufzeit 2015-2019) gewesen.112 E4D wurde von weiteren deutschen und ausländischen Gebern mitfinanziert und von der GIZ implementiert. Das Teilvorhaben Employment and Skills for Eastern Africa (E4D/SOGA) fokussierte neben Kenia auch Mosambik, 112

Siehe auch: https://www.giz.de/en/worldwide/31947.html und https://www.giz.de/en/downloads/FlyerA4-KEN.pdf sowie https://nairobi.diplo.de/blob/1677124/b28dfeab19322086a7a1ae5d2a95db93/factsheet-youth-data.pdf Zugegriffen: 13. April 2018

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Uganda und Tansania. Im Zentrum standen die Industrie rund um die Förderung diverser Rohstoffe und natürlicher Ressourcen (auch Landwirtschaft) sowie das Baugewerbe. Die Aktivitäten, die in Kenia zusammen mit der Universität Mombasa und der Technischen Universität von Kenia durchgeführt wurden, umfassten die Anpassung von Curricula in relevanten Ausbildungen (Schweißer, Elektriker, Führung und Instandhaltung von Leicht- und Schwermaschinen, mechanische Technologie, Mess- und Regeltechnik) an die Kompetenzorientierung und an die Bedarfe der Industrie, die Weiterbildung von Ausbildern im Bereich kompetenzbasierte Ausbildung (an den involvierten Vocational Training Centers), die Durchführung von Entrepreneurship Training, die Vermittlung von Praktika u.a. Bedarfe Die Unterfinanzierung der beruflichen Bildung wird vielerorts deutlich: bei der Rekrutierung von Mitarbeitern für die Berufsbildungsbehörden, bei der Rekrutierung von Lehrern, bei der Anschaffung von Lehrmaterialien und der Ausstattung von Bildungsstätten u.a. Schlechte Ausstattung der Berufsbildungseinrichtungen und inadäquat ausgebildete Lehrkräfte und Ausbilder sorgen dafür, dass curriculare Vorgaben selten eingehalten werden können (Republic of Kenya, 2016). Die kenianische Regierung hat erhoben, dass für das Haushaltsjahr 2017/2018 der beruflichen Bildung 9.557 Millionen KSH hätten zur Verfügung stehen müssen, jedoch waren tatsächlich nur 6.825 Million KSH für den Sektor vorgesehen (Republic of Kenya, 2016). Weiterhin wird Personal für Positionen des Bildungsmanagements benötigt, welches die Qualitätssicherung und Durchführung der Ausbildung unterstützt, sowie Führungspersonal für wichtige Schnittstellen der Steuerung und Ausbildungsinstitutionen. Die Berufsbildung in Kenia hat noch immer einen schlechten Ruf bei Eltern und jungen Menschen. Berufsbildung gilt als Route für in der Allge-

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meinbildung schwächer abschneidende Schüler. Insgesamt ist die Wissenslage zu den Qualifizierungswegen und Karrieremöglichkeiten in der beruflichen Bildung noch gering, eine systematische Berufsorientierung, etwa an kenianischen Schulen, erfolgt aktuell nicht. Kritisiert werden auch die niedrigen Raten von Mädchen in vielen Ausbildungszweigen und der Mangel an Angeboten für junge Menschen mit Behinderung. Es fehlt der beruflichen Bildung in Kenia insgesamt noch an einer allgemeinen Regulierungsstruktur für die Überwachung der Ausbildung, Curricula, Standards, Qualifikationen und Finanzierung.

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Herausforderungen

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Die Zusammenarbeit verschiedener Akteure, vor allem aus der Wirtschaft, den Ministerien und Nichtregierungsorganisationen, erfolgt in der Permanent Working Group (PWG). In den Gremien (Boards, Councils) der verschiedenen Entitäten wie KNQA, NITA u.a. ist eine Repräsentation von Regierung, Arbeitnehmerinteressen und verfasster Wirtschaft vorgesehen und erfolgt mit Blick auf die Zusammensetzung der Gremien größtenteils auch praktisch. Ein Nationaler Ausbildungsrat (National Skills Council) ist derzeit in Planung. Obwohl Vertreter von Arbeitnehmerorganisationen (in formaler Hinsicht) für Gremienarbeit vorgesehen sind, werden Gewerkschaften aktuell nicht als gewinnbringende Partner für die Berufsbildung wahrgenommen. Die Aktivitäten von Gewerkschaften konzentrieren sich vornehmlich auf Tarifverhandlungen für Lehrkräfte und anderes Bildungspersonal. Auch sind in Gremien oft Lehrergewerkschaften involviert und nicht die Gewerkschaften der Arbeitnehmer und Lernenden aus den jeweiligen Sektoren.

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Hier müssten zunächst Interessen von kenianischen Gewerkschaften eruiert und anschließend Kapazitäten für eine Mitbestimmung in der Berufsbildung aufgebaut werden. Ein systematischer Schulterschluss mit Interessenvertretern der sog. informellen Wirtschaft fehlt bisher in der beruflichen Bildung Kenias, dieser erfolgt nur vereinzelt über Projekte oder über NITA. Eine Analyse der Unternehmensstrukturen, Qualifizierungswege und Ansätze der Interessensartikulation in den verschiedenen Sektoren der informellen Wirtschaft könnte eine Basis dafür bieten, eine Brücke zwischen der formellen Wirtschaft und dem formellen Ausbildungssystem und der informellen Wirtschaft und traditioneller Berufsausbildung zu schlagen. Lernen im Arbeitsprozess Die mangelnde Abstimmung mit der Wirtschaft sorgt dafür, dass Ausbildungsprogramme nicht mit der Nachfrage von Unternehmen übereinstimmen. Dies wiederum sorgt dafür, dass die berufliche Bildung nicht als Alternative z.B. zur Universität wahrgenommen wird und wenig attraktiv ist. Zwar sind Wirtschaftsverbände recht weitreichend in Gremien und in die Entwicklung der kompetenzbasierten Curricula eingebunden, dieser Mitbestimmung über intermediäre Assoziationen folgte allerdings bisher nicht viel Bereitschaft seitens einzelner Unternehmen, aktiv in der Ausbildung an sich zu wirken. Die Übertragung vorhandener Strukturen der Unternehmenseinbindung, wie sie etwa in Zusammenhang mit NITA existieren, ist derzeit nicht geplant. Durch einzelne Pilotvorhaben wurde und wird aktuell auf den Betrieb als Ausbildungsort bei lokalen und ausländischen Unternehmen aufmerksam gemacht. Offen ist, ob und wie eine Verstetigung dieser Erfahrungen hin zu einer erhöhten Akzeptanz von bzw. Investitionsbereitschaft in duale Aus- und Weiterbildungsstrukturen erfolgen wird. Problematisch ist darüber hinaus die Unternehmensstruktur Kenias, die größtenteils aus Kleinst-, Klein- und mittelständischen Betrieben besteht, die mehrheitlich in der informellen Wirtschaft agieren. Verbundausbildung

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und eine engere Verzahnung zwischen formeller Wirtschaft und dem formellen Berufsbildungssektor sowie der informellen Wirtschaft und ihren Qualifizierungswegen könnte hier gewinnbringend sein. Die formelle Berufsbildung kann von der Ausbildung am Arbeitsplatz in der sog. traditionellen Berufsausbildung profitieren, die informellen Qualifizierungswege könnten durch erhöhte Standardisierung und Qualitätssicherungsmaßnahmen aufgewertet werden. Akzeptanz von nationalen Standards Die Umstellung auf CBET erfordert die Neugestaltung von Ordnungsmitteln und des Prüfungswesens. Derzeit schreitet die Entwicklung dieser Grundlagen langsam voran, dies vor allem auf Grund eines Mangels an CBET-geschultem Personal aus Bildung, Wirtschaft und Politik. Aktivitäten im Bereich der Entwicklung von CBET-Ordnungsmitteln werden momentan von verschiedenen Akteuren durchgeführt, darunter TVETA, NITA, CDACC, LIWA und Partner der Entwicklungszusammenarbeit. Ob diese Diversität von Vorteil oder von Nachteil ist, ist noch nicht absehbar. Eine positive Entwicklung, die der CBET-Einführung geschuldet ist, ist die Gründung diverser Gremien, die verschiedene Stakeholder zusammenbringen, um berufliche Standards und Profile zu erneuern. Erfahrungen aus diesen Kollaborationen können potenziell auch für andere Bereiche der beruflichen Bildung nutzbar gemacht werden. Offen ist, inwieweit CBET zu einer curricularen Annäherung zwischen der durch NITA administrierten Berufsbildung (Arbeitsministerium) und der Berufsbildung, die unter der Aufsicht des Bildungsministeriums (MOEST) steht, führen wird.

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Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Die Umsetzung kompetenzbasierter Curricula und Prüfungen stellen die kenianische Berufsbildung hier vor besondere Herausforderungen. Einerseits wird potenziell mehr Lehrpersonal in den Trainingszentren benötigt (die Expansion des Berufsbildungssystems wirkt hier zusätzlich auf den Bedarf), andererseits macht eine Reform der Ausbildung neues Lehrpersonals und die Weiterbildung des sich bereits im Dienst befindenden Personals nötig. Fraglich ist, ob das KTTC als hauptsächliche Ausbildungsinstanz für technische/berufliche Lehrer bei einem voranschreitenden Ausbau des Berufsbildungssystems den Bedarf an qualifiziertem Personal decken kann. Eine umfassende Ausbildung für Ausbilder in Unternehmen der formellen Wirtschaft gibt es noch nicht, dies ist auch darauf zurück zu führen, dass Lernende noch verhältnismäßig wenig Zeit in Unternehmen verbringen. Über die Qualifizierungswege von Ausbildern in den Betrieben der informellen Wirtschaft ist wenig bekannt. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Die Entwicklung politischer Programme in Kenia auch im Bereich der Berufsbildung wird erschwert durch den Mangel an Daten (Qualifikationsbedarf, Tracer-Studien, Arbeitsmarktinformationssystem usw.) und an Forschungsergebnissen. Außerdem fehlen prozessbegleitende Evaluierungen von politischen Programmen. Benötigt werden Trainings für Datenerhebung und Auswertung sowie die Etablierung einer kontinuierlichen Berufsbildungsberichtserstattung (national und auf Bezirksebene), für das Mapping von Qualifizierungsbedarfen (v.a. in KMU) und von Kapazitäten für die Absorbierung von Fachkräften (Quantität, Ausbildungsniveau) in den verschiedenen Wirtschaftssektoren. Möglichkeiten der Politikberatung von Seiten der Wissenschaft, die evidenzbasiertes policy-making unterstützen könnten, sind begrenzt. An Universitäten führen das Outsourcing von Lehrpersonal und Professoren zu

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Qualitätsproblemen in der akademischen Ausbildung. Trainingsbedarf besteht im Bereich der Datenerhebung und Auswertung sowie in der wissenschaftlichen Publikation für verschiedene Zielgruppen. Den mit Berufsbildungsforschung beauftragten Entitäten wie TVETA fehlt es einerseits an geeignetem Personal, andererseits an finanziellen Mitteln, mehr Personal einzustellen.

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Anmerkungen Das vorliegende Kapitel zum Land Kenia wurde auf Basis der im Zeitraum 29.01.2018 bis 30.01.2018 in Stadt bzw. Städte geführten Gespräche und Besuche in Bildungseinrichtungen angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere die abschließenden Einschätzungen bezüglich der Entwicklungen in Richtung dualisierter Berufsbildungsansätze zu untermauern. Die Analyse von weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung (Abschnitte 1 und 2). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit der Aussagen gewährleistet. Weiterhin hat am 20. März 2018 in Bonn ein von iMOVE durchgeführtes Länderseminar zu Kenia stattgefunden, an dem die Autorin als Vortragende teilnahm und weitere Informationen, v.a. zu Aktivitäten im Bereich der beruflichen Bildung als Teil der Entwicklungszusammenarbeit, von

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deutschen Nicht-Regierungsorganisationen sammeln konnte. Die Einblicke aus dem Länderseminar sind ebenfalls in den Bericht eingeflossen. Gesprächspartner in Nairobi/Kenia: Delegation der Deutschen Wirtschaft in Kenia (AHK), Gespräch mit Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, Gespräch in der Deutschen Botschaft Nairobi, Besuch und Gespräch im Kenya Technical Trainers College (KTTC), Besuch und Gespräch bei Krones East Africa LCS,, Workshop in den Räumlichkeiten zum Thema Berufsbildungsforschung (beteiligte Institutionen: CEO TVET Authority, Min. of Education Directorate of TVET, DAAD, Linking Industry With Academia (LIWA), Kenya Association of Manufucturers (KAM), CAP YEI, Innovations for Poverty Action – Kenya, Linking Industry With Academia (LIWA), Min. of Education Directorate of TVET, Kenya National Chamber of Commerce and Industry (KNCCI)), Gespräch mit Kenya Association of Manufacturers (KAM), Besuch und Gespräch bei Linking Industry with Academia (LIWA)/Centurion Systems Ltd., Telefonat mit Colleges et Instituts Canada.

Namibia: Competency-based Education and Training als Lösung und Problem Michael Gessler und Larissa Holle

Abstract Nach der Unabhängigkeit von Südafrika im Jahr 1990 reformierte das Bildungsministerium der neu gegründeten Republik Namibia die von Apartheit geprägte Berufsausbildung, welche bislang von den Betrieben getragen wurde. Um die Chancengleichheit zu fördern, wurde mittels der neu geschaffenen staatlichen Vocational Training Centers (VTC) ein schulbasiertes Berufsausbildungssystem aufgebaut. Betriebliche Ausbildungsverträge wurden unter staatliche Kontrolle gestellt, neue Verträge sanktioniert und das betriebliche Apprenticeship-System schrittweise abgeschafft. Seit 2008 wird diese schulbasiere Berufsausbildung reformiert. Implementiert wird eine Output-Logik, die dem britisch-australischen Ausbildungsmodell „Competency-based Education and Training (CBET)“ verpflichtet ist. Der weitgehende Ausschluss der Betriebe, fehlende Lehr-/Lerninfrastruktur in den berufsbildenden Schulen (VTC), gering qualifiziertes Bildungsperson und eine schrittweise Reduktion der Lehr-/Lernzeiten ab 2008 aufgrund der Ausweitung der Assessments und der Ausdehnung der Prüfungszeiten führten in der Summe zu einem Berufsausbildungssystem, das den Übergang in Beschäftigung nur wenig fördert. Die Problematik am Übergang von der Berufsausbildung in die Beschäftigung ist allerdings nicht allein dem schulbasierten CBET-System geschuldet. Namibia ist ein Land, das eine hohe ungleiche Verteilung des Einkommens aufweist und

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_8

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mit erheblichen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Problemen zu kämpfen hat. 113

1

Landeskontext

In Namibia leben in 2018 ca. 2,4 Millionen Menschen. Namibia umfasst 824.292 km2, womit Namibia mehr als doppelt so groß ist wie Deutschland. (Namibia Statistics Agency, 2018). Im Jahr 2018 betrug der Human Development Index (HDI) Namibias 0,645. Er lag damit im Bereich der „medium human development group“ und deutlich über dem Durchschnitt der Länder in Subsahara-Afrika (0,541). Der HDI ist ein Durchschnittswert, der die Verteilung von z.B. Einkommen in einer Gesellschaft nicht berücksichtigt. Wird die Ungleichheit (u.a. Alterserwartung, Erziehung, Einkommen) berücksichtigt, fällt der Wert um 35,3 % auf 0,417 (Inequality-adjusted HDI bzw. IHDI). Der IHDI in Namibia ist damit nur noch leicht höher als der IHDI (0,376) in der Region (United Nations Development Programme, 2019). Obwohl die Ungleichheit in Namibia in der letzten Dekade leicht zurück ging, weist Namibia nach wie vor weltweit den zweihöchsten Gini-Index für Ungleichheit auf (0,59). 16,9% der Bevölkerung leben mit weniger als $1,90 pro Tag. Der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der internationalen Armutsgrenze lebt ($3,10 pro Tag), beträgt 42,8% (Namibia Statistics Agency und The World Bank, 2017). Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 46,1% (Namibia Statistics Agency, 2019).

113

Wir danken Christoph Heil für die Unterstützung bei der Erstellung des Berichts. Herr Heil war Berater der Integration Consulting Group und arbeitete in Namibia im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) als Component Manager im Projekt „Promotion of Vocational Education and Training“ (ProVET).

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Politische Rahmenbedingungen

Die Republik Namibia ist seit dem 21. März 1990 unabhängig; sie wurde als säkularer, demokratischer und zentralistischer Staat gegründet. Namibia ist im afrikanischen Kontext, insbesondere im südlichen Afrika, in die wichtigsten überstaatlichen Institutionen integriert und genießt innerhalb der panafrikanischen Institution African Union (AU) und der Organisation der südlichen Region Afrikas (Southern African Developing Countries, SADC) ein hohes Ansehen. Die Regierung von Namibia wird seit der Unabhängigkeit durchgehend von der South West African People's Organisation (SWAPO) gestellt. Abb. 1: Landesübersicht

Quelle: © AdobeStock/lesniewski

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Die Bevölkerungszahl betrug 1991 1,4 Millionen, 2001 1,8 Millionen, 2011 2,1 Millionen und 2016 2,3 Millionen (NSA, 2014; NSA, 2017a). Die Lebenserwartung verringerte sich zwischen 1991 und 2001 aufgrund gestiegener HIV-Infektionen von 59 auf 48 Jahre (männlich) und von 63 auf 50 Jahre (weiblich). Die Gesundheits- und Aufklärungsprogramme der Regierung zeigen in der Zwischenzeit Wirkung: Die Lebenserwartung betrug in 2011 53 Jahre (männlich) und 61 Jahre (weiblich). In 2013 waren allerdings noch 14 % der Alterskohorte von 15 bis 49 Jahren und 16,4 % der Alterskohorte von 50 bis 64 Jahren mit dem HIV-Virus infiziert. Besonders hoch ist der Anteil der HIV-Infizierten in der Altersgruppe zwischen 35 und 39 Jahren: 30,9 % der Frauen und 22,6 % der Männer. 14 % der Kinder und Jugendlichen im Alter unter 18 Jahren haben entweder einen Elternteil oder beide Eltern verloren (NSA, 2014). 36,4 % der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre alt, während nur 6,3 % älter als 60 Jahre sind (NSA, 2017a). Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt im Norden des Landes114, während sich das wirtschaftliche und politische Zentrum im geografisch mittleren Teil des Landes, in Windhoek, befindet (vgl. Abbildung 1). Englisch ist die offizielle Verkehrssprache, allerdings sind mehr als 11 weitere Sprachen verbreitet. Eine Person spricht in der Regel zwei bis drei Sprachen und knapp 50 % der Bevölkerung sprechen Oshivambo (NSA, 2013a). 1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Die Regierung wird im fünfjährigen Rhythmus direkt durch die stimmberechtigten Bürger gewählt, wobei der Präsidentschaftskandidat mehr als 50% der Stimmen erreichen muss. Die Nationalversammlung, bestehend aus den gewählten Abgeordneten, hat die gesetzgebende Gewalt inne. Das

114

Etwa 1,2 Mio Bürger bevölkern die nördlichen Regionen (Kunene, Omusati, Oshana, Ohangwena, Oshikoto, Otozondjupa, Kavango und Zambezi) im Grenzgebiet zu Angola, Sambia und Botswana.

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Kabinett besteht aus dem Präsidenten, dem Ministerpräsidenten (Premierminister), dem stellvertretenden Premierminister und ca. 20 Ministern, die vom Präsidenten ernannt werden. Namibia ist in vierzehn Regionen (Vorstand: Governor) sowie 121 constituencies (lokale Gemeinden/Städte) untergegliedert (Vorstand: Bürgermeister). Diese verfügen über steuerliche und administrative Befugnisse im Rahmen der regionalen und lokalen Verwaltungsaufgaben. Jede Region entsendet zwei Vertreter/innen in den Nationalrat, der kontrollierende Aufgaben, insbesondere bei der Gesetzgebung, zu erfüllen hat. Der Bereich der beruflichen Bildung wird zentral gesteuert. Die lokalen Behörden haben in diesem Bereich keine Befugnisse. Die Bevölkerungsverteilung im Land und die Lebensweise sind teilweise auf die vor der Unabhängigkeit bestehende Situation zurückzuführen. Nach dem Vorbild von Südafrika wurden z.B. Townships geschaffen, welche heute noch existieren, z.B. Katutura – das größte Township von Windhoek. Die Bewohner von Katutura gehören überwiegend zum Stamm der Oshivambos, die in Namibia ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und deren Wurzeln und traditionelles Stammesgebiet eigentlich im Norden des Landes liegen. Der Unterricht erfolgt bis zu 6. Klasse in einer Stammessprache. Englisch wird ab der Sekundarstufe zur Regelunterrichtssprache. Zu den Nationalsprachen zählen Rukwangali, Oshivambo, Ndonga, Lozi, Khoekhoegawob, Kwanyama, Herero, Deutsch und Afrikaans. 1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Die Schwerpunkte des Regierungsprogramms seit 2006 werden nachfolgend mithilfe von drei Basisprogrammen dargestellt: 1) Nationales Bildungsprogramm / Education and Training Sector Improvement Programme (ETSIP), 2) Nationaler Entwicklungsplan / National Development Plan und (NDP), 3) Harambee Prosperity Plan (HPP).

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1) Education and Training Sector Improvement Programme (ETSIP) Nach einer Analyse des Bildungssektors entwickelte Namibia einen strategischen Plan für ein nationales Bildungsprogramm, das „Education and Training Sector Improvement Programme (ETSIP)“, mit einer Laufzeit von 2006 bis 2020. Die strategischen Ziele für den Bereich der beruflichen Bildung lauten (Republic of Namibia, 2005, S. 50): • Stärkung der Leistungsfähigkeit („delivery capacity”) des Berufsbildungssystems: Stärkung des rechtlichen und institutionellen Rahmens für die wirksame Umsetzung von Berufsbildungsreformen; • Verbesserung der Qualität der Berufsbildung: Verbesserung der Lernergebnisse der Berufsbildung; • Bereitstellung von Ressourcen für Schulungen und deren effiziente Nutzung: Diversifizierung der Finanzierungsquellen für die Berufsbildungsfinanzierung und Verbesserung der internen finanziellen Effizienz; • Verbesserung und Stärkung der Reaktionsfähigkeit („responsiveness”) des Berufsbildungssystems auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes; • Ausweitung des gleichberechtigten Zugangs zur Erfüllung der Anforderungen des Arbeitsmarktes: Selektive Ausweitung der Berufsbildungsangebote; Beseitigung zentraler Auslöser von Ungleichheit in der Berufsbildung. Die Laufzeit von 15 Jahre war ursprünglich in drei Phasen untergliedert mit einer ersten Phase von 2006/07 bis 2010/11 in Kombination mit dem Third National Development Plan (NDP3), einer zweiten Phase von 2012/13 bis 2017/18 in Kombination mit dem Fourth National Development Plan (NDP4) und einer dritten und finalen Phase in Kombination mit dem Fifth National Development Plan (NDP5). Die Laufzeiten wurden später angepasst, sodass die erste Phase bis 2012/13 dauerte mit einer anschließenden Phase von 2012 bis 2017 (Republic of Namibia, 2012b).

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1a) Erste Phase: 2006 bis 2012/13 Die Ziele und Maßnahmen im berufsbildenden Bereich für die erste Phase des Programms wurden auf Basis der strategischen Ziele (Republic of Namibia, 2005) wie folgt konkretisiert (Republic of Namibia, 2007, S. 31). • Stärkung der Managementkapazität des Berufsbildungssystems; • Einrichtung der Namibia Training Authority (NTA); • Entwicklung der Schulleitungen (Managemententwicklung) in den Vocational Training Centres (VTCs); • Verbesserung der Qualität der Berufsbildung; • Etablierung eines competency-based education and training (CBET); • Verbesserung der Qualifikationen („upgrade“) der Lehrer/innen und Ausweitung („expand“) der Ergebnisse; • Neuausrüstung bzw. Wiederausstattung der VTCs; • Bereitstellung und effiziente Nutzung von Schulungsressourcen; • Einrichtung eines betrieblichen Umlagesystems („levy system”); • Ausweitung der Berufsbildungsprogramme und -leistungen, um den Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden; • Diversifizierung und Ausweitung der Schulungsangebote. Die Implementation der ersten Phase wurde vom deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit 3 Millionen Euro unterstützt. Eine Ex-post-Evaluation im Auftrag der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW, 2015) bewertete auf Basis der DAC-Kriterien (Relevance, Effectiveness, Efficiency, Impact, Sustainability) auf einer Sechserskala115 das Projekt mit 3 (zufriedenstellendes Ergebnis; liegt unter

115

Level 1: sehr gutes, deutlich über den Erwartungen liegendes Ergebnis; Level 6: das Vorhaben ist nutzlos bzw. die Situation ist eher verschlechtert

Namibia

297

den Erwartungen, aber es dominieren die positiven Ergebnisse). Die Bewertung erfolgte auf Basis der verlängerten Laufzeit für den Zeitraum 2006 bis 2013. Die relativ gute Bewertung überrascht, wenn Ziel und Ergebnis mit einander verglichen werden: • Ziel: „Die hier unterstützte erste Phase von ETSIP (2006–2013) zielte insbesondere auf die Förderung der Ausbildung mittel- bis hochqualifizierter Arbeitskräfte ab, um der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen (entwicklungspolitisches Ziel).“ (KfW, 2015, S. 1) • Ergebnis: „Die Leistungen in den Standard Achievement Tests und Abschlussprüfungen der 10. und 12. Klasse weisen bisher keine signifikanten Verbesserungen auf. … Das bisherige Ausbleiben von Leistungsverbesserungen würde bedeuten, dass sich die Chancen der Schulabgänger auf dem Arbeitsmarkt nicht verbessert haben, da kein höherer Wissensstand vorliegt.“ (KfW, 2015, S. 3) Ziel des Programms war, das Niveau der Ausbildung zu verbessern. Es konnte allerdings keine Verbesserung der Leistung der Auszubildenden festgestellt werden. Dieses Ergebnis wird in der Ex-post-Evaluation als „zufriedenstellend“ bezeichnet. 1b) Zweite Phase: 2012/13 bis 2017 In 2012/13 startete etwas verspätet die zweite Phase. Deren strategischen Ziele wurden mit dem Namibia Development Plan (NDP 4) abgestimmt (Republic of Namibia, 2012a, S. 12–20). Im Strategic Plan des Ministry of Education werden fünf strategische Felder mit insgesamt 19 strategischen Zielen benannt (vgl. Tabelle 1). Für den Berufsbildungsbereich werden keine spezifischen Ziele genannt. Allein im Bereich „Key Performance Indicators“ finden sich Angaben für die Entwicklung der beruflichen Bildung. Die Zahl der Schüler/innen an den Vocational Training Centres (vergleichbar mit einer Berufsfachschule in Deutschland mit einer vollschulischen Berufsausbildung im Umfang von bis zu drei Jahren) soll von 6.816 Schüler/innen in 2011 auf 36.729 in 2017 erhöht werden (Republic of Namibia, 2012, S. 13). Gleichzeitig soll

298

Michael Gessler und Larissa Holle

die Zahl der Apprenticeships von 0 Schüler/innen (es existierten in 2011 bereits privat-betriebliche Apprenticeship-Programme, wie z.B. CATS, die allerdings aufgrund fehlender staatlicher Registrierung in der Statistik nicht berücksichtigt werden) auf 15.000 in 2017 gesteigert werden (ebd., S. 18). Tab. 1: Strategische Ziele der Phase 2012 bis 2017

Strategic Themes

Strategic Objectives

Teaching and learning

• • • • •

Leadership und Management

• • • • • • • •

Provide accessible and equitable quality inclusive education Improve supervision of teaching and learning Ensure quality relevant learning content Create a conducive environment for teaching & learning Build educators’ skills and competencies Enhance information & knowledge management Enhance management of the decentralization function Improve organizational performance Enhance HIV prevention including wellness Improve ICT provision and usage Strengthen management skills and competencies Attract, deploy & retain skilled workforce Ensure prudent financial management & adequate and fair allocation of resources

Infrastructure



Improve maintenance of infrastructure & Ensure modern and reliable physical infrastructure

Regulatory Framework

• •

Ensure compliance to regulatory framework. Ensure responsive regulatory framework.

Stakeholder Relations

• •

Maximize benefits from strategic partnerships Increase collaboration with local, regional & international partners. Strengthen and manage relations with key internal & external stakeholders.



Quelle: Republic of Namibia, 2012, S. 9.

Namibia

299

Entsprechend den Daten des Nationalen Entwicklungsplans waren 2015 25.136 Schüler/innen an Berufsbildungseinrichtungen in Namibia registriert (Republic of Namibia, 2017, S. 59). Zwischen 2006 und 2015 hat sich die Zahl der Schüler/innen im Bereich der beruflichen Bildung damit verdreifacht. Die ambitionierten Ziele wurden allerdings nicht erreicht. In einem Review Report zum Status und zur notwendigen Weiterentwicklung des bis 2014 implementierten CBET-Systems benennen die Autoren, die als CBET-Berater bereits an der Implementation mitgewirkt haben, folgende Mängel (NTA, 2015, S. 25): • Es mangelt an Führungsqualitäten in den Berufsbildungseinrichtungen: Das Leitungspersonal ist nicht ausreichend dazu befähigt, Strategien des Änderungsmanagements anzuwenden, die notwendig wären, um eine Innovation, wie die Einführung von CBET, zu unterstützen. • Die Komplexität der Registrierungs- und Akkreditierungsregelungen, die von der NTA bzw. NQA verwaltet werden, sind ein Hindernis für die Ausbildungsanbieter zur Erlangung einer Registrierung und Akkreditierung. Diese Regelungen erschweren die Einführung von Qualifikationen, die auf dem neuen Modell „Unit Standards” basieren. • Die fehlende Flexibilität der nationalen Assessmentmodalitäten führt zu Verzögerungen bei den Assessments der Auszubildenden und der Ausstellung von Zeugnissen. • Das Fehlen von Qualifizierungspfaden, die Schulen, Berufsbildung und Hochschulbildung miteinander verbinden und Entwicklungswege für Auszubildende ermöglichen und aufzeigen, entmutigt Trainingsanbieter, Qualifikationen anzubieten, die auf „Unit Standards“ basieren. • Die fortlaufende Existenz traditioneller Ausbildungskurse (z.B. Kurse entsprechend der südafrikanischen Standards von NATED National Assembly Training and Education Department) und Bewertungsmodelle (Prüfungen im Rahmen der National Trade Testing Center

300

Michael Gessler und Larissa Holle

NTTC116) wirkt sich als Hindernis auf die Einführung der neuen standardbasierten Qualifikationen aus. • Viele Trainingsanbieter können die neuen standardbasierten Qualifikationen nicht anbieten, da ihren Lehrenden die entsprechenden fachlichen Kompetenzen fehlen. • Es mangelt an geeigneten Trainings- und Bewertungsinstrumenten zur Unterstützung der Umsetzung des CBET-Modells aufseiten der NTA. • Es fehlt eine systematisch geplante Implementations- und Umsetzungsstrategie für das CBET-Modell seitens der NTA. • Aufgrund nicht registrierter Unit Standards und Qualifikationen in einer Reihe von Industrie- und Berufsbereichen konnten einige Trainingsanbieter nicht auf das neue System umstellen. In der Liste der Mängel finden sich verschiedene Punkte, die uns in den Interviews ebenfalls genannt wurden (fehlende Leitungskompetenzen der Schulleitungen, komplizierte Registrierung und Akkreditierung, fehlende Lehr-/Lernzeiten aufgrund mehrwöchiger Prüfungszeiten, fehlende Verknüpfung zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung, eingeschränkte fachliche und methodisch-didaktische Kompetenzen der Lehrenden, fehlender Zusammenhang von Ausbildung und Prüfung, fehlende Registrierung von Unit Standards117). Die Schlussfolgerung der Autoren der NTA-Studie lautet, dass das CBET-System nicht korrekt implementiert wurde. Eine alternative Interpretation wäre, dass der Fehler nicht in der Implementation liegt, sondern im implementierten System. 2) National Development Plan (NDP) Die Regierung von Namibia verwendet das Instrument der Nationalen Entwicklungspläne bzw. National Development Plans. 116 117

Diese Prüfungen sind mit den Abschlussprüfungen im dualen Berufsbildungssystem in Deutschland vergleichbar. Unit Standards sind am ehesten vergleichbar mit Qualifizierungsbausteinen entsprechend des § 69 des Berufsbildungsgesetzes.

301

Namibia

2a) Namibia Development Plan (NDP 4): 2012/13 bis 2016/17 Der NDP umfasst Ziele und Maßnahmen u.a. in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Armutsbekämpfung und Wirtschaftsentwicklung. Für den Bildungsbereich werden folgende übergreifende Zielsetzungen genannt (Republic of Namibia 2012, S. 49): • Verbesserung der Lernstandards und Curriculumentwicklung; • Fortbildung für Lehrer/innen; • Verbesserung der Verfügbarkeit von Lehrbüchern und Materialien; • Verbesserung der Stringenz der Assessments von Lernenden; • Verbesserung der Infrastruktur; • Verbesserung der Übereinstimmung von Qualifikationsnachfrage und institutionellem Angebot, indem sichergestellt wird, dass die Curricula mit Beteiligung der Arbeitgeber entwickelt werden. Für den berufsbildenden Bereich werden konkret folgende Herausforderungen und Strategien genannt: Tab. 2: Strategien zur Entwicklung des berufsbildenden Bereiches im NDP4

Challenge

Strategy to adress challenge

Limited (insufficient) provision of vocational and technical education, as well as poor (and inaccurate) perceptions of vocational and technical education.

• • • • • •

Linking VET as well as technical education in general to envisaged NDP4 priority areas Increasing the provision of VET and technical education, targeting esp. impoverished areas Introducing competency- based education and training Improve the standard of qualifications for educators and increase the throughputs educators Providing adequate equipment & infrastructure for VET centres Certifying acquired skills in the informal sector

Quelle: Republic of Namibia 2012a, S. 49

302

Michael Gessler und Larissa Holle

Die Maßnahmen in den aufgeführten Bereichen sind weiterhin aktuell und notwendig (UNESCO, 2016, S. 15; Republic of Namibia, 2017, S. 82). 2b) Namibia Development Plan 2017-2022 (NDP 5) Der aktuelle Entwicklungsplan, gültig seit April 2017, ist ebenfalls sehr umfassend. Erstmals werden Prioritäten und „Game Changer“ identifiziert, die als wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung angesehen werden. Dazu gehören erhöhte Investitionen in Infrastruktur, die Erhöhung der Produktivität zum Beispiel in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, ein verbessertes Angebot von Qualifikation und der damit verbundenen Ausbildung, eine erhöhte Wertschöpfung bei natürlichen Ressourcen sowie industrielle Entwicklungen durch lokale Beschaffung. Der aktuelle Namibische Entwicklungsplan NDP 5 sieht für die kommenden Jahre eine erhebliche Ausweitung der existierenden Berufsbildungsinfrastruktur vor. Neben der Erweiterung der vorhandenen beruflichen Bildungseinrichtungen soll eine Reihe von neuen Schulen gebaut werden (vgl. Tabelle 3). Tab. 3: Registrierte Berufsbildungseinrichtungen in Namibia Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vocational Training Provider: Name und Ort Community Skills Development Centre, Ondangwa Community Skills Development Centre, Rundu Community Skills Development Centre, Swakopmund Community Skills Development Centre, Gobabis Community Skills Development Centre, Otjiwarongo Eenhana Vocationa! Training Centre, Eenhana Gobabis Vocational Training Centre, Gobabis Katutura Community College, Windhoek Khorixas Vocational Training Centre, Khorixas Nakayale Vocational Training Centre, Outapi Nkurenkuru Vocational Training Centre, Nkurenkuru Okakarara Vocational Training Centre, Okakarara Omuthiya Vocational Training Centre, Omuthiya Rundu Vocational Training Centre, Rundu Tsumis Agricultural College, Tsumis Valombola Vocational Training Centre, Ongwediva Windhoek Vocational Training Centre, Windhoek

Status Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public Public

Reg. Neu Neu Neu Neu Neu Ex Neu Ex Plan Ex Plan Ex Plan Ex Neu Ex Ex

303

Namibia 18 Zambezi Vocational Training Centre, Katima Mulilo Public 19 Namibia College of Open Leaming, Ongwediva HSI 20 Namibia College of Open Leaming, Otjiwarongo HSI 21 Namibia College of Open Leaming, Tsumeb HSI 22 Namibia College of Open Leaming, Rundu HSI 23 Namibia College of Open Leaming, Windhoek HSI 24 Namibia Maritime and Fisheries Institute, Walvisbay HSI 25 Nampower, Windhoek HSI 26 Namwater Human Resource Develeopment Center, Okahandja HSI 27 National Youth Service, Rietfontein HSI 28 Okahandja Military School, Okahandja HSI 29 TRANSNAMIB, Windhoek HSI 30 Develop Aid from People to People, Windhoek NGO 31 Katutura Youth Enterprise Centre, Ondangwa NGO 32 Katutura Youth Enterprise Centre, Windhoek NGO 33 NGATO Vocational Training Centre, Rundu NGO 34 Philippi Trust Namibia, Windhoek NGO 35 Adonai College, Windhoek Private 36 Africa Institutional Management Services, Arandis Private 37 Africa Institutional Management Services, Windhoek Private 38 African Hospitality & Tourism Academy, Windhoek Private 39 Afrisay Vocational Training Center Private 40 Clocknet Technology Center, Windhoek Private 41 Elnatan Private School, Mariental Private 42 Heritage College, Windhoek Private 43 Katjire Training Centre, Windhoek Private 44 Keetmanshoop Vocational Training Centre, Keetmanshoop Private 45 Mapac Technical Training Institute, Ongwediva Private 46 Marco Mpollo Vocational Training Centre, Ogongo Private 47 Mechanical Training Institute, Otjiwarongo Private 48 Monitronics Success College, Windhoek Private 49 Namibia Institute of Mining and Technology, Keetmanshoop Private 50 Namibia Institute of Mining and Technology, Tsumeb Private 51 Namibia Institute of Mining and Technology, Arandis Private 52 Namibian Institute of Culinary Education, Windhoek Private 53 Shikalepo Mechanical Engineering Training Centre, Windhoek Private 54 Wolwedans Desert Academy, Wolwedans Private NGO = Nichtregierungsorganisation, HSI = Halbstaatliche Institutionen; Reg.= Registrierung, Neu = neu registriert bei der Namibia Training Authority, Ex = existierend, Plan = geplant; Quelle: Auskunft der NTA (2018), erstellt von Christoph Heil

Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Ex Neu Ex Ex Neu Ex Ex Neu Neu Ex Ex Ex Plan Ex Ex Ex Neu Ex Ex Ex Ex Ex Ex

304

Michael Gessler und Larissa Holle

Im NDP5 werden drei strategische Ziele und acht zentrale Maßnahmen (vgl. Tabelle 4) zur Entwicklung der beruflichen Bildung genannt. Tab. 4: Entwicklungsziele für den beruflichen Bildungsbereich im NDP5

Raise TVET’s brand identity

• • •

Make TVET more accessible



• • Offer TVET courses that improve the employment prospects of learners

• •

Use media campaigns to educate school learners and parents on the attractive career and entrepreneurship opportunities that TVET programmes can offer. Broaden programme opportunities to include Science, Technology, Engineering and Mathematics (STEM), ICT and Entrepreneurship. Attract high-quality trainers who will improve the relevance of instruction to obtaining lucrative skill and/or gainful employment. Expand existing training centers (VTCs, Community Skills Development Centers (COSDECs) and SOE providers) and create new ones in areas where there are none. Upgrade physical infrastructure, equipement and programmes. Expand and diversify training deleivery models to enable a wider of students to attent. Engage industry participation in offereing workbased learning opportunities, such as apprenticeship and trainee schemes. Initiate partnerships between TVET centers and enterprises to strengthen youth technical skills and conncet unemployed learners with employers.

Quelle: Republic of Namibia, 2017, S. 60

305

Namibia

Konkret sollen folgende Verbesserungen (vgl. Tabelle 5) erzielt werden: Tab. 5: Kennzahlen für den Bereich der beruflichen Bildung bis 2022

Indicator

Baseline

Targets over the NDP5 Period

2015

2017/ 2018

2018/ 2019

2019/ 2020

2020/ 2021

2021/ 2022

Enrollment

25.137

30.000

35.000

40.000

45.000

50.000

Percentage of TVET graduates to total higher education graduates

55 %

56 %

58 %

60 %

62 %

65 %

Completation rate (%)

60 %

62 %

65 %

68 %

70 %

80 %

Quelle: Republic of Namibia, 2017, S. 59

Die Zahl der Schüler/innen in der beruflichen Bildung soll sich insgesamt verdoppeln, der Bereich der beruflichen Bildung soll im Verhältnis zur Hochschulbildung der quantitativ bedeutendere Bildungsbereich werden und die Zahl der erfolgreichen Abschlüsse soll erhöht werden. 3) Harambee Prosperity Plan (HPP{ XE "HPP:acr" }) In 2016 verkündete Präsident Dr. Hage Geingob den Harambee118 Prosperity Plan (Nationales Wohlfahrtsprogramm). Mit diesem Fünfjahresplan von 2016 - 2020 (Republic of Namibia, 2016) soll mittels staatlicher Wohlfahrtsleistungen und spezieller Förderungen die Situation der benachteiligten Bevölkerung verbessert werden. Der Plan ergänzt den Nationalen Entwicklungsplan. Allgemeine Ziele sind hier: (1) Effiziente Regierungsfüh-

118

Harambee bedeutet in Suaheli „Lasst uns alle zusammen an einem Strick ziehen!“

306

Michael Gessler und Larissa Holle

rung; (2) Wirtschaftliche Entwicklung; (3) Sozialer Fortschritt; (4) Infrastrukturentwicklung sowie (5) Internationale Beziehungen und Zusammenarbeit. Tab. 6: Maßnahmen im Harambee Prosperity Plan zur Verbesserung der beruflichen Bildung

Vocational Education Training Expansion

Under VET expansion we will in 2016 develop a VET expansion master plan to have a footprint of Vocational Skills Development Centres in all 14 regions. Following on a pre-feasibility study that was carried out in 2015/16, the fully fledge feasibility study will be ready before September 2016. In the same year, we will refurbish an existing building in the Kunene region for use as a VTC. In year two and three of Harambee we will construct new centres in Nkurenuru and in Omuthiya

Recognition of prior learning

We will roll out the recognition of prior learning services nationally to certify skills of citizens acquired through work experience in the informal sector. Our immediate target is to have 2,000 candidates certified in year one of Harambee.

Improve quality of VET provision

To improve the quality of VET provision we: will train 200 instructors/ trainers, that will also undergo compulsory industry attachments; we will develop in 2017 a national policy for VET practitioners, including assessors, moderators, verifiers and instructional designers; and we will enter into bilateral agreements to source trainers from Cuba, Germany and Spain.

Improve the image of VET

We will adopt technical and vocational education and training [TVET] as the standardized international training convention. We will rename VTCs as technical and vocational training colleges by 2017 and we will stage a national vocational education and training skills competition biannually to promote VET as a subsector of choice.

Apprenticeship and funding

We will initiate more apprenticeship opportunities for VET graduates, with the first apprenticeship programme scheduled to roll out in 2016. In addition, graduates with good business propositions will be assisted to the extent that it is feasible to start their own businesses.

Quelle: Republic of Namibia, 2016, S. 44-45

Namibia

307

Dem Bereich der beruflichen Bildung ist als einzigem Bildungsbereich ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Stärkung der beruflichen Bildung ist ein erklärtes Ziel des HPP. Im Gegensatz zu den oben genannten Plänen sind die Angaben im HPP teilweise sehr konkret, z.B. der Bau von zwei Berufsschulen in Nkurenuru und in Omuthiya (vgl. Tabelle 6). 1.1.3 Ungleichheit und Gesetz zur wirtschaftlichen Gleichstellung Seit 2017 wird eine öffentliche Debatte über ein von der Regierung geplantes Gleichstellungsgesetz geführt (Namibian Equitable Economic Empowerment Bill, NEEEB), das historisch benachteiligten Gesellschaftsgruppen die verstärkte Beteiligung am wirtschaftlichen Handeln ermöglichen soll. Die Grundintention des geplanten Gesetzes ist, dass 25% des Unternehmensbesitzes und 50 % der Managementfunktionen der betroffenen Betriebe an ehemalig benachteiligte Bevölkerungsgruppen verteilt werden sollen. Die Diskussionen um die Umverteilung von Eigentum werden derzeit kontrovers diskutiert. 1.2

Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Namibia ist ein typisches Rohstoffland. Die Industrieproduktion von Waren und selbst von landwirtschaftlichen Gütern ist nach wie vor als von geringer Bedeutung einzuschätzen. Wie einige andere Staaten Afrikas hat Namibia so gut wie keine Weiterverarbeitungskapazitäten seiner Rohstoffe aufgebaut und damit nur wenige Produktionseinrichtungen, die zur qualifizierten Beschäftigung der Bevölkerung beitragen könnten. 1.2.1 Wirtschaftssektoren Der Sektor „Landwirtschaft und Fischfang“ bildet den größten Beschäftigungssektor mit einer überwiegend informellen Wirtschaftsstruktur

308

Michael Gessler und Larissa Holle

(87,6%). In der Landwirtschaft ist die klimatische Entwicklung in der Region spürbar. Dürren, wie sie in den letzten Jahren vorkamen, rauben der Landwirtschaft den Charakter der beschäftigungswirksamen Leitfunktion. Zusätzlich ist in den letzten Jahren aufgrund von Überfischung, Fangquoten und Fangverboten auch dieser Wirtschaftssektor des Landes geschrumpft. Die Abhängigkeit vom Wirtschaftszweig Tourismus wächst. Industrielle Fertigung existiert kaum. Über 90 % der Maschinen und Anlagen werden importiert. Entsprechender Bedarf wird aus bzw. über Südafrika gedeckt. Die traditionelle wirtschaftliche Abhängigkeit von Südafrika im Hinblick auf Importe von höherwertigen und auch vielen landwirtschaftlichen Gütern stellt eine große Herausforderung für das Land dar. Hierzu zählt auch die fehlende Finanzhoheit des namibischen Dollars; er ist an den Rand gebunden. Der seit 2016 zu verzeichnende wirtschaftliche Abschwung in Namibia – vor allem in der Bauindustrie – wird im Zusammenhang mit der Entwicklung in Südafrika gesehen. Im Norden des Landes zur angolanisch/sambischen Grenze besteht insbesondere eine traditionelle, informelle Wirtschaftsstruktur ohne Möglichkeiten für ein formales Beschäftigungsverhältnis. Der informelle Beschäftigungsanteil umfasste im Namibia Labour Force Survey 2016 66,5 % (450.075 von 676.885) der ökonomisch aktiven Bevölkerung (NSA 2017b, S. 51). Im Namibia Labour Force Survey 2018 wird eine Quote von 57,7 % angegeben (NSA 2019, S. 54). Dieser positiven Entwicklung steht allerdings eine Verschiebung in den Sektoren gegenüber: Der Sektor „Beherbergung und Verpflegung“ wuchs zwischen 2016 und 2018 um 73 %, der Sektor „Beschäftigung in privaten Haushalten“ um 22 % und der Sektor „Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei“ um 23 %. Die folgenden Sektoren verloren hingegen Beschäftigungsverhältnisse und damit auch an Bedeutung: wissenschaftliche und technische Aktivitäten (- 29%), Bausektor (- 28 %), administrative und unterstützende Dienstleistungen (- 26 %). Die Verteilung der Beschäftigten je Sektor ist in Tabelle 7 dargestellt.

309

Namibia Tab. 7: Beschäftigte je Sektor

Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei Beherbergung und Verpflegung Groß- und Einzelhandel Private Haushalte Bildungswesen Bauwesen Industrie und Produktion Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, obligatorische Sozialversicherung Administrative und unterstützende Dienstleistungen Andere Dienstleistungsaktivitäten Gesundheit und Sozialarbeit Finanzen und Versicherung Bergbau und Steinbrüche Wissenschaftliche und technische Aktivitäten Information und Kommunikation Wasserversorgung und verwandte Industrien Elektrizität und verwandte Industrien Extraterritoriale Organisation & Gremien Transport und Lagerung Kunst, Unterhaltung und Erholung Immobilien-Aktivitäten Nicht erfasst mit Beschäftigung ohne Bechäftigung

Beschäftigung informell gesamt absolut % 167.242 146.537 87,6 83.056 56.956 68,6 80.852 38.952 48,2 72.185 65.674 91,0 46.923 7.151 15,2 45.057 29.438 65,3 45.057 21.044 46,7 34.174

3.108

9,1

29.951 20.865 19.527 13.861 12.087 8.648 7.141 4.095 3.278 1.035 2.471 491 105 37 725.742

9.459 13.983 3.501 1.536 203 1.488 1.903 104 408 328 10.749 2.797 575 17 418.674

31,6 67,0 17,9 11,1 16,8 17,2 26,6 25,4 12,4 31,7 43,5 57,0 54,8 46,9 57,7

suchend

364.411

inaktiv wegen Ausbildung

238.481

inaktiv u.a. wegen Alter, Krankheit

196.003

inaktiv wegen Rente

4.107

Quelle: Namibia Statistics Authority, 2019, S. 44, 54 & 61

310

Michael Gessler und Larissa Holle

In der Diamantenminenindustrie sind ebenfalls Kapazitätsverringerungen zu verzeichnen und NamDeb, der staatliche Diamantenbetrieb, hat in 2018 die teilweise Einstellung der Produktion in den traditionellen Sperrgebieten angekündigt.119 Die sich insgesamt verschärfenden Bedingungen der letzten Jahre spiegeln sich in den jährlichen Werten des Bruttosozialprodukts wieder. In Tabelle 8 ist das Bruttosozialprodukt der letzten 10 Jahre dargestellt. Tab. 8: Entwicklung des Bruttosozialprodukts seit 2010 2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

6,0%

5,1%

5,1%

5,6%

5,8%

4,5%

-0,3%

-0,3%

-0,7%

-1,1

Quelle: The World Bank, 2020

Die Beschäftigungssituation in Namibia stellt sich im Vergleich zu anderen Staaten in unserer Untersuchung wie folgt dar: Namibia hat im Vergleich zu Botswana, Ghana, Kenia und Nigeria die niedrigste Beschäftigungsrate und die höchste Jugendarbeitslosigkeit. Die „Labour force participation rate (LFPR)“ gibt Auskunft, welcher Anteil (in %) der Erwerbsbevölkerung am Arbeitsmarkt aktiv ist (vgl. Tab. 9). Tab. 9: Beschäftigungsrate und Arbeitslosigkeit Employment Labour force to population participation ratio 1 rate 1

Employment in agriculture2

Employment in services2

Unemployment Total3 Youth4

Namibia 44,2 59,3 31,4 54,2 25,5 49,6 Kenia 60,9 67,1 .. .. 9,2 17,6 Nigeria 53,1 56,3 .. .. 5,8 8,6 Ghana 72,1 77,0 44,7 40,9 6,3 12,2 Bots63,0 77,4 26,4 56,1 18,6 29,4 wana Anmerkung: 1: % ages 15 and older; 2: % of total employment; 3: % of labour force; 4: % ages 15-24. Quelle: United Nations, 2016, S. 238–241

119

2017 wurde Oranjemund von seiner historischen Zugangsbeschränkung (nur für Beschäftigte der Diamantenminen) befreit und soll nun zusätzlich als Touristenattraktion ausgebaut werden.

311

Namibia

Der Anteil der LFPR bei Frauen beträgt 55,7 % und der Anteil bei Männern 63,3 % (im Durchschnitt: 59,3 %). Der Wert ist niedriger als in Kenia (w: 62,1 %, m: 72,1 %), Ghana (w: 75,5 %, m: 78,5 %) und Botswana (w: 73,4 %, m: 81,3 %). Nur in Nigeria ist der Anteil der Frauen niedriger (48,4 %), wobei der Anteil der Männer in Nigeria mit 64 % etwas höher liegt (United Nations, 2016, S. 214-217). Innerhalb der Gruppe der Beschäftigten besteht eine weitere Teilung in Namibia. In Tabelle 10 sind die Unterschiede und die Spannbreite zwischen den Einkommen dargestellt. Tab. 10: Einkommen, informelle Beschäftigung und Gewerkschaftsquote (G) Einkommenskategorien

Beschäftigung in privaten Haushalten Beherbergung und Verpflegung Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei Durchschnittseinkommen Professionelle, wissenschaftliche und technische Aktivitäten Bergbau und Steinbrüche Finanzen und Versicherungen

Einkommen pro Monat: Nam$/Euro 1.387/ 72 2.819/ 146 3.393/ 176 7.935/ 412 14.965/ 778 17.965/ 934 20.459/ 1063

Anteil informeller Beschäftigung

G

91,0 %

0,2 %

68,6 %

4,2 %

87,6 %

4,3 %

57,7 %

11,4 %

17,2 %

12,6 %

16,8 %

40,8 %

11,1 %

24,6 %

Quelle: NSA, 2019, S. 53, 57

Absolventen mit einer beruflichen oder akademischen Ausbildung (z.B. Bergbau & Steinbrüche120 und Finanzen & Versicherungen) erzielen ein Vielfaches an Einkommen im Vergleich zu Beschäftigten ohne eine solche Ausbildung (z.B. Private Haushalte und Beherbergung & Verpflegung). 120

Die Ausbildung in diesen Bereich wird nicht von den staatlichen VTC durchgeführt, sondern vom Namibian Institute of Mining and Technology (NIMT), einer von Arbeitsgebern getragenen Berufsbildungseinrichtung mit staatlicher Anerkennung, welche nach dem dualen Modell ausbildet.

312

Michael Gessler und Larissa Holle

Neben Bildung sind die Formalität des Wirtschaftssektors sowie die Gewerkschaftsquote wichtige Bedingungsfaktoren. Der Sektor „Beschäftigung in privaten Haushalten“ weist mit 91 % die höchste Quote informell Beschäftigter auf und mit 0,2 % die niedrigste Gewerkschaftsquote (vgl. Tabelle 10). 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Für eine quantitative Prognose der beruflichen Bildungsbedarfe in Namibia liegen keine zuverlässigen Zahlen vor. Die Namibia Training Authority hat jedoch nach interner Konsultation folgende Liste der Mangelberufe identifiziert (vgl. Tabelle 11). Tab. 11: Liste der Mangelberufe Ausbildungsprogramm

Sektor

Agriculture Crop Production

Agriculture and Forestry

Agriculture Farm Machinery

Agriculture and Forestry

Agriculture Farm Management

Agriculture and Forestry

Agriculture Livestock

Agriculture and Forestry

Auto Body Repair

Automotive

Hair Dressing

Body care

Bricklayer & Plasterer

Construction Building

Handyman (Maintenance officers)

Construction Building

Plumbing and Pipefitting

Construction Building

Heavy Plant Operator

Construction Civil

Rigger

Construction Civil

Water Supply and Sanitation Construction Management

Construction Civil Construction General

Carpentry/Joinery & Cabinet Making

Construction Interior

Industrial Electronics

Electrical

Book keeper

Finance and Business Services

Retail Management

Finance and Business Services

313

Namibia

Retailer & Wholesaler

Finance and Business Services

Supply Chain and Logistics

Finance and Business Services

Office Administrator

Finance and Business Services

Mechanical Engineering Design - CAD ICT Design IT Network System Administration

ICT Hard- and Software

IT System Administration

ICT Hard- and Software

Air Conditioning and Refrigeration

Mechanical

Fire & Rescue Operation

Mechanical

Fitting and Turning

Mechanical

Instrumentation Mechanics

Mechanical

Millwright

Mechanical

Welding and Metal Fabrication

Mechanical

Fashion Design (Clothing and Design)

Textile production

CulinaryArts (Chef)

Tourism and Hospitality

Cooking (Food Preparation)

Tourism and Hospitality

House Keeping

Tourism and Hospitality

Tour Guide

Tourism and Hospitality

Quelle: NTA, 2017, internes Arbeitspapier

Im seit 2017 gültigen National Development Plan 5 (NDP5 2017 bis 2022) ist eine Reihe von Indikatoren und Ziele angegeben, welche die zukünftige Entwicklung der beruflichen Bildung in Namibia beschreiben. Hier kann aufgrund fehlender Arbeitsmarktanalysen jedoch nur von einer angebotsorientierten Prognose gesprochen werden.121 Die Namibische Berufsbildungsregulierungsbehörde (NTA) hat gemäß ihrem Förderprogramm aus der Berufsbildungsabgabe eine Reihe von Man-

121

Der NDP5 projiziert eine Steigerung der Lernenden im TVET Bereich um 65% von 25 137 (2015) auf 50 000 (2021/22) Abgänger. Der prozentual gleiche Zuwachs soll auch im Vergleich zu Abgängern der Universitäten erzielt werden. Die Steigerungsrate der erfolgreichen Abschlüsse im TVET Bereich wird von jetzt 60% auf dann 80% projiziert.

314

Michael Gessler und Larissa Holle

gelberufen (Key Priority Areas) identifiziert (vgl. Tabelle 10), die im Wesentlichen von den ISCs (Industrial Skills Committees) bestimmt wurden. Wenn auch die Auflistung nicht in allen Bereichen zuverlässig erscheint122, so ermöglicht sie dennoch eine Trendaussage. In verschiedenen Veröffentlichungen, Tageszeitungen und Gesprächen wird immer wieder deutlich, dass es in fast allen Sektoren eine Reihe von Trainingsbedarfen gibt, die über Kurzkurse kompensiert werden könnten. Dazu hat die NTA in 2017 eine Initiative gestartet, welche die Entwicklung von zertifizierten Kurzkursen beinhaltet. Aufschluss über die Qualifikationsstruktur gibt hingegen der Report „The Namibia Labour Force Survey“ (NSA, 2019). Im Labour Force Survey wird die Bevölkerung nach Altersgruppen, Aktivitäts- und Beschäftigungsstatus gegliedert (Abbildung 2). Abb. 2: Bevölkerungsgruppen

Quelle: NSA, 2019, S. 18

In der Kategorie „Economically Inactive population“ werden Personen erfasst, die aufgrund anderer Aktivitäten nicht erwerbstätig sind (insbesondere Studierende) oder nicht für eine Beschäftigung zur Verfügung stehen 122

Interview mit dem Namibischen Arbeitgeberverband NEF.

315

Namibia

(insbesondere aufgrund einer Krankheit, einer Behinderung oder eines Vorruhestands). In der Kategorie „Broad Unemployment“ werden alle Personen im erwerbsfähigen Alter erfasst, die beschäftigungsfähig sind, jedoch keiner bezahlten Beschäftigung nachgehen. Unterschieden wird hierbei nicht, ob die Personen aktiv nach Arbeit suchen oder nicht. Im Labour Force Survey wird die Qualifikationsstruktur der „Economically Active population“ erfasst (vgl. Tabelle 12). Tab. 12: Höchste Bildungsabschluss Höchster Bildungsabschluss

Gesamt

Beschäftigt (NSA, 2019, S. 56)

Nicht beschäftigt (NSA, 2019, S. 81)

Verhältnis

Anzahl

%

Anzahl

%

Anzahl

%

None

119.550

11,0

85.351

7,8

34.199

3,1

2,5

Primary

223.391

20,5

146.089

13,4

77.302

7,1

1,9

Junior / lower secondary

382.876

35,1

229.259

21,0

153.617

14,1

1,5

Senior / upper secondary

218.335

20,0

146.874

13,5

71.461

6,6

2,0

Technical / Vocational Certificate/ Diploma

24.419

2,2

16.292

1,5

8.127

0,7

2,1

Completed year 1 or 2 or 3

17.433

1,6

12.595

1,2

4.838

0,4

3,0

University Certificate, Diploma or Degree

69.261

6,4

59.328

5,4

9.933

0,9

6,0

Postgraduate Certificate, Diploma or Degree

20.306

1,9

18.378

1,7

1.928

0,2

8,5

Don't know

14.582

1,3

11.576

1,1

3.006

0,3

3,7

1.090.153

100

725.742

66,6

364.411

33,4

2,0

Total Quelle: NSA, 2019

316

Michael Gessler und Larissa Holle

Die gesetzliche Schulpflicht endet in Namibia mit Abschluss der Junior bzw. Lower Secondary School. Demnach haben 31,5 % bzw. 342.941 Personen die gesetzliche Schulpflicht (none + primary) nicht erfüllt. 87,9 % bzw. 958.734 Personen (none + primary + secondary + „don´t know“) verfügen über keine berufliche oder akademische Qualifikation. Der Vergleich der Verhältniszahlen Beschäftigung zu Nicht Beschäftigung zeigt allerdings, dass die Beschäftigungschancen von Personen mit dem Abschluss der Sekundarstufe II (senior / upper secondary) und Personen mit dem Abschluss einer Berufsausbildung weitgehend identisch sind (2,0 zu 2,1). Deutlich bessere Chancen auf Beschäftigung bieten nur akademische Qualifikationen (6,0 und 8,5).

2

Berufliche Bildung

Nach der Unabhängigkeit in 1990 begann Namibia damit, eine für alle zugängliche allgemeine und berufliche Bildung aufzubauen. Die Bildungsungleichheit ist geringer als die Einkommensungleichheit (Namibia Statistics Agency & The World Bank, 2017). Beschäftigungsrelevant wird diese positive Entwicklung aufgrund der Wirtschaftssituation jedoch nicht (siehe oben). In der beruflichen Bildung dominiert der aus Südafrika/Neuseeland/UK importierte Ansatz „Competency Based Education and Training (CBET)“. Das Ausbildungsniveau hat sich nach Ansicht der Lehrkräfte durch die Einführung von CBET seit 2008 verschlechtert. So wurde etwa das Niveau in Mathematik abgesenkt. Die Curricula werden derzeit mit Unterstützung der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen des Projekts „ProVET Promotion of Vocational Education and Training“ überarbeitet. Eigene Stichproben im Bereich Kfz, Sanitär und Elektrotechnik bestätigen diesen Eindruck. Aufgrund des CBET-Assessment-Ansatzes pausiert in den Prüfungsphasen über Wochen der Lehrbetrieb. Die Ausbildung ist schulbasiert, jedoch fehlt die Ausrüstung, um praktische Fertigkeiten zu vermitteln. Grundfertigkeiten (z.B. Schweißen) werden in der Regel nicht vermittelt.

Namibia

2.1

317

Struktur des Bildungssystems

Die Grundstruktur besteht aus der Grundschule (7 Jahre), der Sekundarstufe I (3 Jahre) und der Sekundarstufe II, die nicht verpflichtend ist und zwischen einem und drei Jahren dauert (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Das Bildungssystem in Namibia

Quelle: Gessler, Heil und Freund (2018, S. 45). Layout: DLR Projektträger.

318

Michael Gessler und Larissa Holle

Die Primarstufe besteht aus insgesamt sieben Klassen und die Schüler/innen werden in der Regel mit dem sechsten Lebensjahr eingeschult. Es ist schwierig, zuverlässig zu bestimmen, wie viele Schüler/innen trotz der gesetzlichen Schulpflicht von 10 Jahren keine oder nur eine unvollständige Schulbildung durchlaufen. Nach Abschluss der siebten Klasse gibt es keine Übergangsprüfung, sondern die Schüler/innen werden direkt in die untere Sekundarstufe übernommen. Mit dem abgeschlossenen zehnten Schuljahr ist der Besuch einer Berufsschule neben der weiterführenden oberen Sekundarstufe möglich. Im Bereich der beruflichen Bildung ist ein Engpass zu vermerken, da die Anzahl der Bewerber/innen die Zahl der freien Plätze überschreitet. Bedingt durch die häufige Notwendigkeit einer Anreise mit Übernachtung vor Ort, sind auch die finanziellen Möglichkeiten einer Familie von großer Bedeutung für die erfolgreiche Einschulung und die Zusage eines Darlehens des Namibia Students Financial Assistance Fund (NSFAF) ist oftmals entscheidend für eine weiterführende Schul- und Ausbildung. Dies gilt auch für die Hochschulbildung. Nicht alle erfolgreichen Absolventen der höheren Sekundarstufe erhalten auch einen Studienplatz an der Universität. Die Nachfrage übersteigt auch hier das Angebot. Die Universitäten haben deshalb ein Selektionssystem eingeführt, nach dem die Mindestanforderung für einen Studienplatz der Abschluss der zwölften Klasse ist. Zusätzlich müssen 25 Leistungspunkte in insgesamt fünf Fächern nachgewiesen werden. Das ist eine Hürde, die viele nicht schaffen. Die Universitäten bieten kostenpflichtige Kurse an, die, wenn sie erfolgreich bestanden werden, zusätzliche Punkte generieren und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, nach einer gewissen Wartezeit einen Studienplatz zu bekommen. Dieser Modus beeinflusst wiederum die Arbeit an den Berufsschulen. Der Wechsel in ein Studium ist neben der finanziellen Problematik (fehlendes Einkommen) ein häufiger Grund, warum eine Berufsausbildung abgebrochen wird. Weitere Gründe sind die Aufnahme bei der Polizei oder auch beim Militär.

Namibia

319

Es existiert eine Reihe von Privatanbietern, die eine kostenpflichtige Vorschulbildung anbieten. Diese beginnt in der Regel mit dem vierten Lebensjahr. Insgesamt genießt das staatliche Berufsbildungssystem nur ein geringes Ansehen, weshalb sich ein robustes, privates Bildungssystem etabliert hat, insbesondere auch im berufsbildenden Bereich.123 Im Hochschulbereich ist es für Namibier, soweit die finanziellen Mittel es zulassen, attraktiv, in Südafrika zu studieren oder eine berufliche Ausbildung zu absolvieren. Ein wichtiger Grund ist hierbei auch der Umstand, dass viele Berufsfachrichtungen in Namibia (noch) nicht angeboten werden. Der NSFAF (Namibischer Studienfond) fördert über ein Darlehen Studierende im In- und Ausland. Der Besuch einer Namibischen Berufsschule (VTC) ist kostenfrei. Die erste Universität in Namibia war die University of Namibia (UNAM). Sie verfügt über die meisten Studierenden und gilt auch als die beliebteste. Aus der ursprünglich polytechnischen Schule Windhuk hat sich in den Jahren 2008/09 die Namibia University of Science and Technology (NUST) entwickelt, die sich auf ingenieur- natur- und wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge spezialisiert hat. Hier wird auch das einzige Studium für Lehrer/innen für berufsbildende Schulen als Weiterbildungsangebot mit Fernstudium-Charakter angeboten. Die Inhalte bestehen aus Pädagogik und allgemeiner Didaktik. Fachdidaktik und Fachwissenschaften sind nur unwesentliche Bestandteile der Weiterbildung. Eine grundständige Berufsschullehrerausbildung existiert bislang nicht. Der Namibische Qualifikationsrahmen NQF beginnt mit dem Level 1 nach der 10-jährigen Schulpflicht. An den Berufsschulzentren werden bislang

123

Die private berufliche Bildungseinrichtung NIMT (Namibian Institute for Mining and Technology), die ursprünglich von den Bergbau- und Minengesellschaften gegründet wurde, unterrichtet mit großem Erfolg an drei Standorten in Namibia über 5000 Lernende in allen einschlägigen handwerklichen Berufen.

320

Michael Gessler und Larissa Holle

deshalb nur die Level 1 bis 3 angeboten, weil die Lehrer/innen als ehemalige Absolventinnen und Absolventen dieser Schule selbst über kein höheres Qualifikationslevel verfügen (Ausnahme: Eine absolvierte Weiterbildung im Ausland) und zudem bislang keine Curricula für höhere Level (Level 4 und Level 5) im berufsbildenden Bereich existieren. Die Universitäten verleihen ebenfalls Qualifikationen im Rahmen des NQF in eigener Verantwortung. Für die Überwachung und Anerkennung von Level basierten Qualifikationen ist die Namibia Qualification Authority zuständig (NQF). 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Allgemeinbildung Die Namibische Verfassung regelt neben dem allgemeinen Recht auf Bildung (Art. 20, Abs. 1) auch die Dauer des Schulbesuches. Die Mindestschulpflicht endet mit dem 10. Schuljahr (untere Sekundarstufe). Seit 2015 hat eine umfassende Bildungsreform begonnen, die bis 2022 abgeschlossen sein soll. In dieser werden auch die Ausbildungsblöcke Primarstufe und Sekundarstufe neu geregelt. Die allgemeine Bildung ist durch das Erziehungsgesetz vom 27. Dezember 2001 mit Änderungen im Dezember 2017124 geregelt worden. Berufliche Bildung Die berufliche Bildung ist durch verschiedene Gesetze sowie eine Reihe von Verordnungen geregelt worden. Im Vocational Education and Training Act von 2008 wurden als wichtigste Maßnahmen die Gründung der Namibischen Berufsbildungsregelungsbehörde Namibia Training Authority (NTA) sowie die Grundlage für eine Ausbildungsabgabe von Firmen

124

Hierin ist besonders die weitere und unten erwähnte Wiedereinführung von finanziellen Beiträgen zur Schulunterhaltung der Eltern zu nennen.

Namibia

321

für den Namibia Training Fund (NTF) geregelt. Der NTF ist heute an die NTA angegliedert und wird von dort aus verwaltet (Parliament of the Republic of Namibia, 2008). Finanzierung der beruflichen Bildung Lehrergehälter und operative sowie administrative Kosten: Alle laufenden Kosten zur Durchführung der Ausbildungsaufgaben der beruflichen Bildungseinrichtungen werden durch die NTA als staatliches Unternehmen (SOE) aus dem Staatshaushalt finanziert. Die hierzu eingeführten Standardzuschüsse pro Auszubildenden werden über ein sogenanntes Service Level Agreement (SLA) zwischen der NTA und den Vocational Training Providers (VTP) abgewickelt. Voraussetzung für diese Zuschüsse ist die offizielle Registrierung des Trainingsanbieters bei der NTA und im Falle der Durchführung einer Ausbildung mit Zuordnung zum NQF die Akkreditierung bei der NQA.125 Finanzierung von Teilaufgaben durch die Berufsbildungsabgabe (Levy): Durch eine gesetzliche geregelte Ausbildungsabgabe sollen die Unternehmen dazu motiviert werden, ihre Fortbildungsaktivitäten zu intensivieren. Gleichzeitig werden nach den Regeln des Fonds besondere Ausbildungsaufgaben finanziert. Jeder Arbeitgeber mit einer jährlichen Lohnsumme von mindestens N$ 1.000.000 (ca. 67.000 Euro) muss eine Berufsbildungsabgabe in Höhe von 1% der Bruttolohnsumme an den Namibischen Trainingsfond (NTF) abführen.126 Mit der Ausbildungsabgabe sollen folgende Leistungen unterstützt werden:

125

126

Die sogenannte A-priori-Akkreditierung der direkt unter der NTA operierenden Vocational Training Centres (VTCs) wird auch als ein Grund für die fehlende Ausbildungsqualität an diesen Einrichtungen angesehen. Arbeitgeber schätzen ihre jährliche Lohnsumme für den Zeitraum der Namibischen Finanzperiode von 1. April bis 31. März und berechnen ihre Verpflichtung zur Zahlung. Arbeitgeber müssen jeden Monat die Gehaltsabrechnungen an den NTF{ XE "NTF:acr" } übermitteln.

322

Michael Gessler und Larissa Holle

• 50 % der Einnahmen sollen an Unternehmen, die nach den vorgegebenen Grundsätzen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen durchgeführt haben, zurückgezahlt werden. Die maximale Zuschusshöhe ist auf 50% der einbezahlten Beträge begrenzt;127 • 35 % sollen für sogenannte prioritäre Bereiche (Key Priority Areas = KPAs) verwendet werden; • 15 % sind den Verwaltungsaufwendungen des Fonds und der Finanzierung der NTA/NTF zugeordnet. Die Firmen, die sich am NTF-System beteiligen und betriebsinterne Fortbildungsanstrengungen initiieren, beklagen, dass die Rückzahlung sehr schleppend verläuft. Im Harambee Posperity Plan wird der Levy bzw. National Training Fund nicht direkt genannt, allerdings wird als Ziel formuliert: „Speed up VET refunds to private sector who train their employees“. (Republic of Namibia, 2016, S. 45). Studentenfonds (NSFAF): Die Schüler/innen an den beruflichen Schulen erhalten vom Namibia Students Financial Assistance Fund eine Unterstützung von 17.000 Nam$ / Jahr. Hiervon zahlen sie ihre Aufwendungen zur Unterrichtsteilnahme (Reisekosten, Übernachtung128, teilweise Schulungsmittel, Registrierungsgebühr). Die Unterstützung muss nicht zurückgezahlt werden.

127

128

Eine Besonderheit des Gesetzes ermöglicht es, nicht zurückgeforderte Abgabenanteile in darauffolgenden Jahren nachzufordern (Akkumulation). Im Übrigen werden nicht verbrauchte Aufwendungen dieser Rubrik in die Kategorie ‚Prioritätenbereiche’ übergeführt. Zum Beispiel stammt die überwiegende Anzahl aller Schüler/innen am Ausbildungszentrum in Arandis (NIMT) aus den nördlichen Regionen. Direkt aus Arandis kommen praktisch keine Auszubildenden. Die angereisten Auszubildenden wohnen in der Regel im 50 km entfernten Swakopmund.

Namibia

323

2.2.2 Verantwortlichkeiten und Akteure Die Nationale Planungskommission (National Planning Commission, NPC) Das Nationale Planungskommission ist für die Erstellung und Überwachung der Fünfjahresentwicklungspläne (NDPs) zuständig und bestimmt damit die wesentlichen Eckpunkte für die gesellschaftliche Entwicklung des Landes. In der Kommission kooperieren verschiedene Ministerien,129 die vor allem für die soziale und teilweise wirtschaftliche Entwicklung des Landes von maßgeblicher Bedeutung sind. Der Leiter der Kommission ist im Rang eines Ministers. Zuständigkeit für die Allgemeinbildung Das Ministerium für Bildung, Kunst und Kultur ist für die Allgemeine Bildung zuständig (Primar- und Sekundarstufe, sowie für Kunst und Kultur). Zuständigkeit für die berufliche Bildung Zuständig sind das Ministry of Higher Education, Training and Innovation (MHETI) sowie die Namibia Training Authority (NTA). Das MHETI beaufsichtigt die Hochschulbildung und den Bereich der beruflichen Bildung. Im Ministerium selbst ist neben dem Staatssekretär ein Direktorat für die berufliche Bildung zuständig. Das Direktorat hat die Aufgabe, Richtlinien für die Berufsbildung zu entwickeln. Bemängelt wird, dass diese noch weitgehend fehlen. Unter dem Ministerium sind eine Reihe von Unterbehörden und staatlichen Unternehmen (SOE=State Owned Enterprises) angesiedelt, von denen sich einige teilweise oder ausschließlich mit der beruflichen Bildung beschäftigen. Zu den Institutionen mit Berufsbildungsbezug gehören: • Namibische Ausbildungsbehörde (Namibia Training Authority, NTA): u.a. Schulträger und Schulaufsicht;

129

Ministerien für Landwirtschaft, Soziales, Bildung, Höhere Bildung,

324

Michael Gessler und Larissa Holle

• Namibische Qualifikationsbehörde (Namibia Qualifications Authority, NQA): u.a. Akkreditierung von Unit Standards und Qualifikationen; • Studentenhilfsfonds (Namibia Students Financial Assistance Fund, NSFAF): Finanzhilfen für Studierende und Auszubildende; • Rat für höhere Bildung (Higher Education Council, HEC):{ XE "HEC):acr" } Programmentwicklung, Budgetierung; • Nationaler Bildungsrat (National Commission NC): Forschung, Stipendien. Das Ministerium steuert diese Institutionen (NSFAF, HEC, NC) und SOE (NTA, NQA). Der Aufbau und Betrieb des CBET-Ansatzes wurden insbesondere von der NTA und der NQA umgesetzt. Namibia Training Authority (NTA) Das gesetzliche Mandat der Namibia Training Authority (NTA), gegründet in 2008 auf Basis des Namibia Training Act (2008), umfasst folgende Aufgaben: • den zuständigen Minister in allen Fragen der beruflichen Bildung zu beraten; • einen strategischen Plan zur beruflichen Bildung in Namibia zu entwickeln und umzusetzen; • die nationale Politik für die berufliche Bildung umzusetzen; • den Zugang, die Chancengleichheit und die Qualität in der beruflichen Bildung und Ausbildung zu verbessern; • die Effektivität und Effizienz der beruflichen Bildung in Namibia zu fördern; • Unternehmen, Gewerkschaften, Ausbildungsanbieter und andere relevante Akteure am Aufbau des Berufsbildungssystems zu beteiligen;

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325

• sicherzustellen, dass die Berufsbildungsdienstleistungen und Berufsbildungsprogramme den aktuellen und neu entstehenden Bedürfnissen der Industrie, der Wirtschaft und der Allgemeinheit entsprechen; • die Entwicklung von Berufsbildungsmöglichkeiten für Jugendliche und Arbeitslose zu fördern; • die Beschäftigung- und Selbstständigkeit zu fördern. Weitere Aufgaben der NTA – auch in Zusammenarbeit mit der Namibischen Qualifikationsbehörde, NQA – sind: • Entwicklung von Berufsstandards, Lehrplanstandards und Qualifikationen; • Akkreditierung von Ausbildungsanbietern und -programmen; • Registrierung von Prüfern und Durchführung von Bewertungen, und zwar einschließlich der Anerkennung von früherem Lernen und Qualitätsaudits; • Verleihung von Zertifikaten; • Aushandlung von Übergängen zwischen den Berufsbildungsprogrammen innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereiches und anderen Bildungs- und Ausbildungsprogrammen (zum Beispiel Universitäten); • Bereitstellung von finanzieller und technischer Unterstützung für Arbeitgeber, Berufsbildungsanbieter, Arbeitnehmer, Lernende und andere Personen oder Einrichtungen; • Finanzierung von Programmen und Projekten im Bereich der beruflichen Bildung; • Durchführung von Forschung und Untersuchungen, um die Berufsbildung zu fördern; • Schließen von Vereinbarungen mit einer Person oder einem Gremium über die Bereitstellung von Waren oder Dienstleistungen für die Erfüllung von Aufgaben, welche die NTA als wichtig erachtet.

326

Michael Gessler und Larissa Holle

Die NTA wird durch einen Vorstand (Board) geführt, der durch den zuständigen Minister (MHETI) berufen wird. Die Behörde unterliegt den Vorschriften und Regeln des Ministeriums für Staatliche Unternehmen. Die gesetzliche Regulierung zur Besetzung des Boards schreibt die Beteiligung des Staates (drei Personen), der Unternehmen (fünf Personen), der Gewerkschaften (drei Personen) sowie der NQA (eine Person) vor. Der Minister bestimmt Vorsitzende(n) und Stellvertreter(in).130 Die NTA koordiniert aus „Repräsentanten“ der Industrie zusammengesetzte Komitees, welche die Ausbildungsbelange/-bedarfe für ihre jeweiligen Sektoren formulieren sollen (Industrial Skill Committees, ISCs). Diese Komitees sind auch für die finale Beurteilung der von der NTA vorgelegten Qualifikationen zuständig, bevor diese der NQA zur Registrierung und Akkreditierung vorgelegt werden. Als eine der wichtigsten Strategien der NTA für die nächsten Jahre sind die Ausweitung der beruflichen Bildung im Sinne des Neubaus von beruflichen Schulen in allen 14 Regionen des Landes sowie die Entwicklung und Implementierung von Qualifikationen zu nennen. Der sogenannte VET Expansion Plan wird aus dem NDP 5 sowie dem Harambee Plan abgeleitet. Die damit verbundenen Kosten sowie die notwendigen Anstrengungen zur Heranbildung des erforderlichen Lehrpersonals sind allerdings zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht geklärt. Die unter der Berufsbildungsregulierungsbehörde NTA etablierten Gremien und Vertretungsorgane der Industrie sind im entsprechenden Aufgabenkatalog der NTA (siehe oben) aufgelistet. Es handelt sich um folgende: • Industrievertretung in sektoraler Aufstellung (Industrial Skills Committees, ISCs), welche die Belange ihres jeweiligen Sektors zu formulieren und zu vertreten haben;

130

Den Vorsitz des Boards - bislang durch einen Vertreter der Wirtschaft geführt - führt seit Januar 2018 mit dem neuen Board der stellvertretende Staatssekretär des MHETI.

Namibia

327

• Technische Arbeitsgruppen (Technical Working Groups, TWGs), die damit beauftragt sind, Qualifikationen neu zu entwickeln, zu formulieren, vorhandene fortzuschreiben und sie letztendlich dem Nationalen Qualifikationsrahmen hinzuzufügen. Sie werden von Fall zu Fall von der Unterabteilung ‚Berufstandards’ der NTA berufen. Eine Industriebeteiligung ist hier vorgesehen; • Ausbildungsstandards- und Registrierungsrat der NTA (Standards Assessment and Certification Council, SACC). Der Rat erteilt die finale Zustimmung zur Eingabe der Ausbildungsstandards bei der NQA und zur Registrierung von Trainingsanbietern seitens der NTA.131 Diese Komitees sind allesamt von den anerkannten Verbänden der Industrie paritätisch zu besetzen und werden in turnusmäßigem Abstand von dem Board der NTA ernannt. Namibia Qualification Authority (NQA) Die NQA wurde im Jahr 1996 gegründet und ist legitimiert durch den Namibia Qualification Authority Act, ebenfalls aus 1996. Die gesetzlichen Aufgaben der NQA sind folgende (Parliament of the Republic of Namibia, 1996, S. 2): • Einrichtung und Verwaltung eines nationalen Qualifikationsrahmens; • Forum für Fragen zum Thema „Qualifikationen”; • Festlegung beruflicher Standards für jeden Beruf, jeden Arbeitsplatz, jede Stelle oder Position in jeder Laufbahnstruktur; • Festlegung der Lehrplanstandards, die zur Erreichung der beruflichen Standards für einen bestimmten Beruf, einen bestimmten Arbeitsplatz, eine bestimmte Stelle oder Position in einer Laufbahnstruktur erforderlich sind;

131

Wollen Trainingsanbieter registrierte Ausbildungsberufe anbieten, müssen sie sich sowohl bei der NQA als auch der NTA gesondert registrieren lassen.

328

Michael Gessler und Larissa Holle

• Förderung der Entwicklung und Analyse von Richtwerten akzeptabler Leistungsnormen für jeden Beruf, jeden Arbeitsplatz, jede Stelle oder Position; • Akkreditierung von Personen, Institutionen und Organisationen, die Ausbildung und Kurse oder Schulungen anbieten; • Bewertung und Anerkennung non-formal und informell erworbene Kompetenzen; • Etablierung von Einrichtungen für die Sammlung und Verbreitung von Informationen im Zusammenhang mit Qualifikationen; • Untersuchungen, ob bestimmte Qualifikationen den nationalen Standards entsprechen; • Beratung von Personen, Einrichtungen, Institutionen, Organisationen oder Interessengruppen in Angelegenheiten in Bezug auf Qualifikationen und nationale Qualifikationsstandards. Die Aufsicht über die Behörde liegt beim Ministerium für Höhere Erziehung, Technologie und Innovation (MHETI). Die NQA wird von einem Council beaufsichtigt, der aus 36 Mitgliedern besteht, die alle gesellschaftlichen Bereichen repräsentieren (u.a. Permament Secretary, Director NQA, Vice Chancellor der UNAM, Rector der NUST, Repräsentanten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Repräsentanten der verschiedenen Bildungsbereiche, Repräsentant einer Organisation, welche die Interessen Behinderter vertritt). Zentrale Aufgabe der NQA ist die Qualitätssicherung mittels der Akkreditierung von Programmen und Qualifikationen im Rahmen des Namibia Qualifications Framework. Die Programme und Qualifikationen werden oftmals von externen Consultants geprüft. Etwa 20 % des Gesamthaushalts der Behörde werden hierfür aufgewendet. Die UNESCO bemängelt in einem Reviewbericht von 2016 die dargestellte Steuerungsstruktur: „Existing governance and financing arrangements, involving MHETI, the Namibia Training Authority (NTA),

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329

the Namibia Qualifications Authority (NQA), the National Training Fund (NTF) and the National Student Financial Assistance Fund (NSFAF) are complex, with five key features: non-separation of key functions, duplication and overlaps of mandates, difference between an institution’s legal mandate and actual responsibilities, lack of capacities and actions regarding the evaluation of impact of VET, and lack of autonomy of VET institutions. Meanwhile the involvement of the private sector in the VET system appears insufficient, in terms of governance, contribution to curriculum development and contribution to delivery.“ (UNESCO, 2016, S. 13) Neben den bereits aufgeführten Ministerien und Institutionen sind folgende Einrichtungen in Namibia von Bedeutung. University of Namibia (UNAM) Die erste Universität Landes hat bislang in der beruflichen Bildung noch keine große Rolle gespielt, da bis zum heutigen Zeitpunkt noch keine formale Berufsschullehrerausbildung existiert. Erste Ansätze der NTA, mit UNAM über ein MoU den Übergang von Abgängern aus dem beruflichen Bildungsbereich in die Universitätsbildung zu definieren (Artikulation), sind bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Ohne Richtlinien des Ministeriums MHETI werden hier weiterhin vermutlich keine Absprachen möglich sein. Namibian University Science and Technology (NUST) Die zwischen 1994 und 1996 als Polytechnic of Namibia (vergleichbar einer Fachschule) gegründete NUST wurde in 2015 in eine Universität umgewandelt. Die NUST ist derzeit die einzige universitäre Einrichtung, die mit dem beruflichen Bildungssystem kooperiert. Namibia Chamber of Commerce and Industry, NCCI Die Namibische Wirtschaftskammer132 sollte eigentlich eine größere Rolle in der Zusammenarbeit mit der Berufsbildungsregulierungsbehörde NTA

132

Die Kammermitgliedschaft der Betriebe beruht auf Freiwilligkeit. Homepage: http://ncci.org.na

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und den betroffenen Berufsschulen spielen. In ihrer eigenen Rollenbeschreibung hinsichtlich der beruflichen Bildung wird der Übergang von der Schule zum Arbeitsplatz als wichtige Unterstützungsleistung angekündigt. Verschiedene Ansätze, zum Beispiel über eine gemeinsame Absichtserklärung zwischen NTA und NCCI die Bereitstellung von Praxisplätzen für Berufsschüler/innen in den Betrieben zu fördern (die NCCI hat 2500 Mitglieder), sind bislang jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Das im Jahr 2017 begonnene Projekt Berufsbildungspartnerschaft zwischen der Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main und der regionalen Wirtschaftskammer sowie der NTA im Norden hat vor kurzem seine Aktivitäten aufgenommen. Es wird erwartet, dass beispielhaft in dem Beruf für Karosseriebauer eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft etabliert wird. Verbände und Vereinigungen Es existieren in Namibia mehrere Wirtschaftsverbände und -vereinigungen, die mit unterschiedlichem Erfolg und variierender Schwerpunktsetzung auf dem Gebiet der beruflichen Bildung aktiv sind. Der wichtigste Verband ist hierbei die Namibian Employer Federation, NEF, deren Vorsitzender im Rahmen der Sondierungsreise interviewt wurde. Der Unternehmerverband NEF (Namibian Employer Federation) wurde kurz nach der Unabhängigkeit gegründet und hat nach Angaben des Geschäftsführers aktuell etwa 5.500 Mitglieder. Die Mitgliedschaft in Verbänden und Vertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist in Namibia nicht verpflichtend. Der Verband finanziert sich zu 98 % aus Mitgliedsbeiträgen; diese summieren sich auf etwa 3 Mio. N$ pro Jahr. Zusätzliche Einkünfte werden u.a. durch das Angebot von generischen (nicht fachlichen) Weiterbildungsangeboten für die Beschäftigten der Mitglieder, aber auch für Nichtmitglieder erzielt. Andere Einkünfte stammen von Erlösen aus Publikationen. Der Vorstand des Verbandes besteht aus Managern der Mitgliedsunternehmen. Außer der NEF existieren weitere Assoziationen, die sich bislang allerdings nicht in der beruflichen Bildung engagieren. Diese sind etwa die

Namibia

331

• Namibian Manufacturers Association (NMA) • Construction Industries Federation of Namibia (CIF) • Renewable Energy Industry Association of Namibia (REIAoN) Gewerkschaften Es existieren drei gewerkschaftliche Dachverbände in Namibia. Der älteste, 1970/71 gegründete und größte Dachverband mit enger Verbindung zur Regierungspartei SWAPO ist die National Union of Namibian Workers (NUNW). In ihr sind neun Einzelgewerkschaften133 mit insgesamt 84.900 Mitgliedern organisiert. In 2002 fusionierten zwei regierungsunabhängige Dachverbände, das Namibia People´s Social Movement (NPSM) und die Namibian Federation of Trade Unions (NAFTU), zum Trade Union Congress of Namibia (TUCNA). Im TUCNA sind 13 Einzelgewerkschaften134 mit mindestens 61.900 Mitgliedern (es fehlen die Werte von NRAWU, NAFAWU und NFI & FWU) organisiert. In 2014 wurde als dritter Dachverband die Namibia National Labour Organization (NANLO) registriert, eine Abspaltung der NUNW, und gegründet vom entlassenen, ehemaligen Generalsekretär der NUNW. Die NANLO umfasst in 2017

133

134

Metal and Allied Namibia Workers Union (MANWU), Mine Workers Union of Namibia (MUN), Namibia Financial Institutions Union (NAFINU), Namibia Food and Allied Workers Union (NAFAU), Namibia National Teachers Union (NANTU), Namibia Public Workers Union (NAPWU), Namibia Transport and Allied Workers Union (NATAU), Namibia Music Industry Union (NAMIU), Namibia Farm Workers Union (NAFWU). Namibia Wholesale and Retail Workers Union (NWRWU), Public Service Union of Namibia (PSUN), Namibia Building Workers Union (NABWU), Namibia Bank Workers Union (NBWU), Bank Workers Union of Namibia, (BAWON), Teachers Union of Namibia (TUN), Namibia Retail and Allied Workers Union (NRAWU), Namibia Seaman and Allied Workers Union (NASAWU), Namibia Security Guard and Watchmen Union (NASGAWU), Namibia Nurses Union (NANU), Namibia Fuel and Allied Workers Union (NAFAWU), Namibia Football Players Union (NFPU Namibia Fishing Industries and Fishermen Workers Union (NFI & FWU).

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drei Einzelgewerkschaften135 mit 10.000 bis 20.000 Mitgliedern (Jauch, 2018). Im Durchschnitt sind laut amtlicher Statistik 17,5 % der Beschäftigten in einer Gewerkschaft organisiert.136 Die höchsten Quoten weisen laut amtlicher Statistik mit 55,8 % der Erziehungsbereich und mit 48 % der Bergbau/Gewinnung von Steinen und Erden auf. Die niedrigsten Quoten sind in den Bereichen Bau mit 8,5 % und private Haushalte mit 1,2 % zu verzeichnen (NSA 2017b, S. 53). Die Vertreter/innen der Gewerkschaften sind in den Boards der NTA und NQA vertreten, engagieren sich jedoch darüber hinaus nicht explizit in der Berufsbildung. 2.3

Problemstellungen, Lösungsansätze und Projektinitiativen

2.3.1 Schwächen und Handlungsbedarfe im Berufsbildungssystem Der Aufbau eines neuen Berufsbildungssystems vor dem Hintergrund der früheren Benachteiligung eines Großteils der Bevölkerung stellt eine große Herausforderung für ein kleines und gleichzeitig weiträumig und dünn besiedeltes Land, wie Namibia, dar. Südafrika hat bei der Einführung des Berufsbildungsmodells CBET in Namibia direkt als Vorbild gedient. Allerdings lassen sich die offensichtlichen Mängel im System nicht übersehen: Die gute Absicht, möglichst viele Mechanismen zur Qualitätssicherung und -kontrolle zu etablieren, wirkt teilweise kontraproduktiv.

135 136

MMMC Metal, Mining, Maritime and Construction Union, NPCWU Namibia Parastatals and Civil Service Workers Union, SU Solidarity Union Als absolute Zahl werden 83.516 von 477.558 Beschäftigten angegeben. Der angegebene Wert entspricht ungefähr der Gesamtmitgliederzahl der regierungsfreundlichen NUNW. Die Zahlen korrespondieren allerdings nicht mit den kumulierten Werten der Gewerkschaften (mind. 156.800 Mitglieder) bzw. der amtlichen Beschäftigungszahl (676.885, vgl. Tabelle 6). Die Gewerkschaftsquote liegt, bezogen auf diese Werte, bei mindestens 23 %.

Namibia

333

Registrierung und Akkreditierung von Trainingsanbietern Die Registrierung und Akkreditierung der Trainingsbieter werden von der NTA und zudem nochmals von der NQA jeweils in eigener Verantwortung und ohne Koordination durchgeführt. Die NTA begründet ihren Registrierungsanspruch aus der Zuständigkeit für die Levy und aus der anschließenden Rückerstattung von Kosten. Die Standards der Registrierung sind einerseits von der ISO 9001 Zertifizierung abgeleitet, womit die Formalität eines Programms im Vordergrund steht, nicht jedoch die Inhalte. Andererseits wird die in der ISO-Zertifizierung vorgeschriebene praktische Begehung (Audit) oder auch eine regelmäßige Überprüfung vor Ort nicht durchgeführt. Die Papierlage entscheidet. Die NQA begründet die Akkreditierung von Trainingsanbietern wiederum aus ihrer Pflicht zur Kontrolle der Qualität bei der Implementierung der staatlich registrierten Qualifikationen. Hierzu ist sie jedoch in der Regel nicht in der Lage, weshalb sie sich von Kurzzeitexperten (in der Regel „Consultants“ auf Honorarbasis) unterstützen lässt. Öffentliche Anbieter, wie die VTCs, erhalten ohne Prüfung eine Registrierung. Das Berufsbildungsmodell „Kompetenzbasiertes Lernen im Beruflichen Kontext“ (Competency Based Education and Training, CBET) Die Berufsbildungsregulierungsbehörde NTA erhielt mit ihrer Gründung das Mandat übertragen, das Modell Competency Based Education and Training in Namibia einzuführen. Entgegen dem Slogan „CBET ist ein einfaches Konzept“ 137 wäre „einfach in der Theorie und kompliziert in der Praxis“ vermutlich zutreffender. Dieses System ist mittlerweile in mehreren Ländern in Afrika zum Berufsbildungsstandard erhoben worden. Allerdings lässt sich bislang noch kein afrikanisches Land als Referenz benennen, in dem dieses System erfolgreich ist oder zumindest ohne massive Probleme implementiert wurde. Vielmehr werden erste Versuche unter-

137

Übersetzt aus dem Newsletter “The Trainer” der NTA, Volume 2, Ausgabe 2, 2010, Seite 9.

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nommen, das System zu modifizieren. Auch die NTA hat nach ersten Versuchen, das System einzuführen, im Rahmen einer sogenannten CBET Reformstudie138 eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen aufgelistet (Durango, Stowell, Kavena Shalyefu, & Wolf, 2014). Die Liste der Herausforderungen ist nach den bisherigen internationalen Erfahrungen und Informationen sehr umfangreich und soll hier auf ausgewählte Problemstellungen in Namibia beschränkt werden, die auch in unseren Interviews beschrieben wurden: • Im namibischen CBET-System sind die Qualifikationen gestuft mit der Dauer von jeweils einem Jahr. Die Ausbildungsstufe eins (NQF Level 1) ist in ihrer fachpraktischen Anforderung so niedrig angesetzt, dass ein Übergang in den Arbeitsmarkt nicht möglich ist. • Der zuvor genannte Punkt gilt in weiten Teilen auch für die Stufe zwei und in der Praxis sind eigentlich alle Schüler/innen bestrebt, die Stufe drei zu erreichen. Die Untergliederung einer Berufsqualifikation in Teilqualifikationen hat damit keinen Effekt, führt aber zu einer großen Zahl von Abschlussprüfungen, da jedes Jahr für alle Lernenden mit einer Abschlussprüfung endet. • Geplant war, ein CBET System mit fünf Leveln zu entwickeln (analog zum ursprünglichen englischen NVQ Framework). Die Lehrer/innen dürfen nur bis maximal ein Level unter dem eigenen Level ausbilden. Da viele Lehrer/innen dem eigenen Berufsbildungssystem entstammen,

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Namibia hat im Jahr 2014 eine Expertengruppe damit beauftragt, Lösungsvorschläge für die Mängel des Systems zu erarbeiten. Im sogenannten „CBET Reform Report“ ist eine Reihe von Maßnahmen zur Behebung der offensichtlichsten Probleme aufgelistet. Die CBET Reformstudie wurde von den gleichen Experten verfasst, die auch das CBET System in Namibia eingeführt haben. Der Tenor der Reformstudie lautet: Die Fehler liegen nicht im CBET System begründet, sondern in der Art der Implementation. Die Empfehlungen der Reformstudie wurden bislang nicht umgesetzt.

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verfügen sie diese nur über Level 3, womit selbst die Abdeckung des Unterrichts auf Level 3 nicht gewährleistet ist. • In 2021 soll ein universitäres Weiterbildungsangebot für Lehrer/innen starten, welches mit einem Level 7 endet (Bachelor of TVET). Dieses Angebot ist allerdings beschränkt auf den Bereich Mechanical Engineering. Weiterbildungen müssen deshalb weiterhin über Institutionen im Ausland erfolgen, ohne dass damit gewährleistet ist, dass der Abschluss von der Namibia Qualification Authority als nationale Qualifikation anerkannt wird. • Da das System auf fünf Level angelegt ist, ist der Abschluss des bestehenden Levels 3 in manchen Berufen nur eine Teilqualifikation (z.B. Car Mechatronics). In anderen Berufen ist der Level 2 wiederum so überfrachtet, dass die geplanten Inhalte unmöglich in der gegebenen Zeit lehr- und lernbar sind (z.B. Electrical Engineering).139 • Die im CBET System intendierte Möglichkeit des/der Lernenden, sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten einer Abschlussbeurteilung zu stellen, ist in der Praxis so gut wie nicht durchführbar und auch in Namibia auf einen halbjährlich wiederkehrenden Beurteilungsrhythmus für alle Jahrgänge reduziert worden.140

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Die Industrie klagt immer wieder über die mangelnden Grundfertigkeiten der Abgänger des beruflichen Schulsystems und betont an vielen Stellen, dass die Absolventen in den jeweiligen Qualifikationen von ihr völlig neu trainiert werden müssen. Der Leiter der operativen Abteilung der NTA spricht als Konsequenz auch von einem ‚Namibischen CBET’.

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• Die derzeitig geübte Praxis der halbjährlich wiederkehrenden Beurteilung der Jahrgänge ist in vielen Bereichen mangelhaft141 bis unzulänglich und zusätzlich für die Behörde NTA ein äußerst kostspieliges142 und arbeitsaufwändiges Unterfangen, da eine Prüfung jeweils von einem/einer Lehrer/in einer anderen Schule abgenommen werden muss (die Schulen befinden sich in unterschiedlichen Städten mit teilweise erheblichen Entfernungen) zusammen mit einem „Industrievertreter“. Die „Industrievertreter“ sind in der Regel „self-employed consultants“. • Die abschließende Prüfungsbeurteilung mit dem Prädikat „kompetent” oder „noch nicht kompetent” ist schwierig nachzuvollziehen und gibt keinerlei Auskunft über eine gestufte Qualifizierung des Kandidaten, vor allem dann nicht, wenn es um die Vorstellung und Bewerbung für einen Arbeitsplatz geht. • Der nationale Trainingsplan 2019 weist für das zweite Jahr bzw. Level 2 siebzehn Wochen, für das dritte Jahr und vierte Jahre bzw. Level 3 und Level 4 jeweils achtzehn Wochen „Job-Attachment“ aus. Das „JobAttachment“ ist im nationalen Trainingsplan verbindlich geblockt, womit kein Unterricht stattfindet. In den Unit Standards ist es als Empfehlung aufgeführt und in der Praxis findet es in der Regel nicht statt.

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Die Durchfallquote in den einzelnen Berufen ist äußerst hoch (durchschnittlich 40-60%) und geht in manchen Fällen gegen 100 % (Im Prüfungsjahrgang 2017 November sind im Ausbildungssektor Landwirtschaft alle Prüflinge durchgefallen). Die Überprüfung eines einzigen Jahrgangs dauert für den Prüfling jeweils zwei Wochen, jeder Prüfling hat je nach Qualifikation ungefähr 20 praktische Prüfungen unterschiedlicher Länge zu bestehen. Fällt er in einer der Prüfungen pro ‚Unit Standard’ durch, existiert keinerlei Möglichkeit der Kompensation mit anderen Prüfungsteilen. Die Aktenlage ist unübersichtlich groß und umfasst die Größe eines DIN-A4-Aktenordners pro Kandidaten. Es ist nicht verwunderlich, wenn in reflektierenden Veranstaltungen zu dem Thema ‚Assessment’ Assessoren davon sprechen, dass die Kandidaten überfordert und in der Folge ‚erschöpft’ seien. Laut Auskunft der NTA kostete in 2017 ein Prüfungsdurchgang etwa 5 Millionen Nam$.

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• Lernzeit geht zudem durch das oben genannte exzessive Prüfungssystem verloren (9 Wochen je Level), Registrierung bzw. Einschreibung ( und weitere geblockte Wochen (u.a. Weiterbildung der Lehrer/innen, selbst wenn diese nicht erfolgt). • Die durch das System bedingte zerstückelte Beurteilung der Schüler/innen ist den zugehörigen Arbeitsprozessen zuwiderlaufend und führt naturgemäß zu Missverständnissen bei den Lernenden; Lehr und Lernmaterial, Ausstattung der Trainingsinstitutionen Die eingeführte CBET-Methodik hat eine Reihe neuer Herausforderungen geschaffen: Neben der Notwendigkeit, die Lehr-/ Lernmaterialien und (kleinteiligen) Prüfungen auf das CBET abzustimmen, besteht weiterhin das Problem der mangelnden Ausstattung der Schulen, die eine praxisgerechte Ausbildung behindert, insbesondere durch das Fehlen von Werkstätten. Lehrende bzw. Instructors Da das berufliche Bildungssystem in der neuen Verfasstheit vergleichsweise jung ist und ein grundlegendes Ausbildungssystem für Lehrer/innen an berufsbildenden Schulen bislang nicht existiert, sind die Lehrenden in der Regel nur teilqualifiziert: • Die Lehrer/innen verfügen entweder über eine akademische Ausbildung (Bachelor, Master) und können im jeweiligen Berufsbereich die fachpraktische Unterweisung im vollschulischen Ausbildungssystem nicht durchführen oder sie waren Teilnehmer/innen des Berufsschulsystems und wurden nach einer dreijährigen Praxiserfahrung als Berufsschullehrer/in eingestellt. Diese Vorbildung reicht in der Regel nicht dazu aus, um einen fachlich und methodisch anspruchsvollen Unterricht zu entwickeln und durchzuführen. • Eine Reihe von Lehrerinnen und Lehrern hat in der Vergangenheit über Lehrerfortbildungsveranstaltungen sowohl von GIZ/ProVET als auch

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von der NTA eine Fortbildung erhalten. Nach Einschätzung von Experten vor Ort haben diese Fortbildungen allerdings (noch) keinen Effekt auf die Unterrichtspraxis. Zuverlässige Daten hierzu fehlen jedoch. • Die von der NTA initiierte Lehrerfortbildung als Teilzeitprozess mit NUST zeichnet sich offensichtlich durch einen wesentlichen Mangel aus: Die in der entsprechenden Unterabteilung der Universität beschäftigten Lektoren verfügen selbst über keine Erfahrung aus der Berufsschullehreraus/-fortbildung und wissen naturgemäß nicht viel über CBET als Ausbildungsmodell. Managementfähigkeiten des Schulleitungspersonals Eine weitere Herausforderung für eine verbesserte Ausbildung stellt das Management der beruflichen Bildungseinrichtungen dar. Eine Reihe von Schulleitern erkennt die Notwendigkeit eines Managements als nachrangig an. In vielen Fällen sind die Zustände der Werkstätten und Klassenräume ein deutlicher Hinweis auf die fehlende Ordnung und Disziplin im alltäglichen Schulbetrieb. Der Gang durch eine Trainingseinrichtung zeigt häufig die sehr eigene Handhabung des alltäglichen (teilweise nicht vorhandenen) Stundenplans und viele Schüler/innen befinden sich oft zu den vorgeschriebenen Unterrichtszeiten nicht im Klassenraum. Die Lehrer/innen sind teilweise selbst nicht präsent, sei es aufgrund privater, dienstlicher (z.B. Abnahme von Prüfungen an einer anderen Schule) oder nebenberuflicher Verpflichtungen. Der Unterricht fällt häufig aus. Ein Jahresausbildungsplan ist in vielen Fällen nicht vorhanden bzw. wird, wenn vorhanden, nicht umgesetzt. Das schulaufsichtsführende Personal (NTA oder Schulleitung) führt in der Regel keine Unterrichtsbesuche durch und eine Befähigungsbeurteilung findet faktisch nicht statt. Administrative Mängel Die organisatorische Regelung der Unterrichtsdurchführung führt zu erheblichen Ineffizienzen. Während des Besuches in einer der Trainingsein-

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richtungen wurde z.B. über eine offizielle Bekanntmachung in einer Werkstatt der Einrichtung deutlich, dass vom 29. Oktober 2017 bis zum 12. Februar 2018 kein Unterricht stattfand. Die Dauer der Unterrichtspause von nahezu dreieinhalb Monaten wurde mit der a) planmäßigen Assessmentperiode, b) der Weihnachtspause und c) der Neuregistrierung zum Schuljahresanfang begründet. Die häufige Abwesenheit von Teilen des Lehrkörpers, bedingt durch außerschulische Aufgaben, zum Beispiel als Mitglied in technischen Arbeitsgruppen der NTA, in der Lehrerfortbildung oder im Assessmentsystem, hat eine extrem hohe Ausfallquote von Unterricht zur Folge. Das wiederholt mit Revisionen eingeführte VET MIS (Vocational Education and Training Management Information System) funktioniert nach Auskunft der Betroffenen nicht. Valide Daten seien nicht erhältlich. Zudem fehlt eine Abgängerverbleibsstudie. Die Vermittlung von Abgängern in Beschäftigungsverhältnisse der Wirtschaft erfolgt nicht systematisiert. Qualitätsentwicklung und -sicherung Das aufwendige System zur Qualitätsentwicklung und -sicherung wird weitgehend seinem Anspruch nicht gerecht. Einerseits sind in der Zuständigkeit zwischen den beiden Behörden NTA und NQA Kompetenzüberschneidungen erkennbar. Anderseits jedoch wird die Überprüfung der Einhaltung der Registrierungs- und Akkreditierungsauflagen in der Regel nicht vorgenommen. Praxiserfahrung der Lernenden In den Jahresplänen der Trainingseinrichtungen sind feste Zeiten zum Erwerb praktischer Erfahrung in den Betrieben vorgeschrieben. Diese Zeit verbringen die Schüler/innen jedoch in der Regel zu Hause, da entsprechende Vereinbarungen mit Betrieben fehlen.143

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Als ein belegtes Beispiel hat nach Auskunft des technischen Beraters für die Ausbildungsform des Baumaschinenführers die entsprechende Trainingseinrichtung während der Ausbildung im ersten Lehrjahr den

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Forschung in der beruflichen Bildungspraxis Die Lektoren, die an der NUST im berufsbildenden Bereich tätig sind, sind mit wenigen Ausnahmen nicht promoviert und verfügen weder über die Erfahrung noch über die Unterstützung, in der beruflichen Praxis zu forschen. 2.3.2 Aktuelle Reformen des Berufsbildungssystems Eigeninitiativen der Namibischen Wirtschaft Die Namibische Wirtschaft hat sich als ursprünglicher Teil der Südafrikanischen Union ein durchaus praktisch orientiertes Berufsbildungsverständnis aus dieser Zeit bewahrt. Es gibt unter Firmen, die zusätzlich speziell mit dem deutschen Kontext vertraut sind, eine sehr ausgeprägte Motivation, die Berufsbildung in Form von praxisgebundenen Modellen von Apprenticeships oder ähnlichen Ausbildungsformen zu unterstützen und ihren eigenen Nachwuchs auszubilden. So praktiziert zum Beispiel eine der großen Automobilwerkstätten ein internes Apprenticeshipmodell. Die Auszubildenden werden für ein Jahr in der Firma vertraglich verpflichtet und haben ihre täglichen Arbeitsroutinen zu absolvieren. An bestimmten Tagen der Woche erhalten sie einen theoretischen Zusatzunterricht, der betriebsintern organisiert wird. Der offensichtliche Nachteil dieser Ausbildung besteht darin, dass die Lernenden nur die Betriebsabläufe und die technischen Details aus der Firma selbst kennenlernen und dadurch sehr stark auf das jeweilige Markenmodell fixiert sind. Zusätzlich erhalten sie keinerlei öffentlich anerkannten Zertifikate. In der Folge sind sie sehr stark an die sie ausbildenden Betriebe gebunden. Nach Aussage von leitenden Betriebsangehörigen ist dies ein sehr aufwendiges Verfahren und die Wünsche nach einem öffentlich regulierten System sind klar formuliert.

Lernenden nicht einen einzigen Praxisarbeitsplatz zur Verfügung stellen können. Es dürfte damit so gut wie ausgeschlossen sein, dass einer dieser Auszubildenden in diesem Beruf als kompetent beurteilt werden kann.

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Exemplarisches Beispiel einer praxisorientierten Ausbildung eines privaten Trainingsanbieters Als ein Modell, das auch von der Wirtschaft weitgehend anerkannt und unterstützt wird, ist NIMT (Namibia Institute for Mining and Technology) zu nennen.144 Dieser große private Ausbilder hat ein ausgedehntes Netz von Betrieben aufgebaut, die in regelmäßigen Abständen die Lernenden aus der Schule für eine bestimmte Zeit als Praktikanten aufnehmen. Von den Betrieben und auch von dem NIMT wird betont, dass dies eine gute Gelegenheit für die Firmen ist, ihre zukünftigen Mitarbeiter auszuwählen, und in vielen Fällen werden die jungen Praktikanten nach dem Abschluss ihrer Lehre von den Betrieben übernommen. Die Zahlung einer Praktikantenvergütung geschieht auf freiwilliger Basis und von einem Apprenticeship im klassischen Sinne kann deshalb nicht gesprochen werden, da die aufnehmenden Firmen keinen dauerhaften Ausbildungsvertrag schließen. NIMT fordert die Zeichnung eines Praktikantenvertrags, der die Führung eines Logbuchs (logbook) beinhaltet. Mitarbeiter von NIMT besuchen die Firmen während des Aufenthalts der Lernenden zur Kontrolle und Reflexion mit den Inhabern/Betreuern. Die Einhaltung aller Vorschriften und Regeln in Bezug auf die Praxisausbildung kann jedoch aufgrund der sehr sporadischen Besuche naturgemäß nicht gewährleistet werden.145 Neue Apprenticeshipinitiative der NTA Die zunehmend in das öffentliche Bewusstsein gerückte Problematik der fehlenden Praxiserfahrung und der mangelhaften Ausbildung an den öffentlichen und teilweise auch privaten Einrichtungen haben die NTA dazu veranlasst, ein neues Modell für Apprenticeships zu entwickeln. In vielen Details ist dieses Modell aus den früher vorhandenen Strukturen hergeleitet.

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Der Anbieter NIMT ist der größte Trainingsanbieter in Namibia. An drei Standorten werden mehr als 5000 Auszubildende ausgebildet. Nach Aussage der Schulleitung findet ein Besuch pro Praktikantenaufenthalt (in der Regel alle 3-4 Monate) statt.

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Bemerkenswert ist die Festlegung innerhalb des sogenannten Work Integrated Learning (WIL),146 dass kein Schüler abschließend in einer Qualifikation beurteilt werden kann, wenn er nicht entsprechende Praxisanteile nachweisen kann.147 Die Einführung von Apprenticeships wird auch im Harambee Fünfjahresplan an prominenter Stelle genannt. In der hierzu neu gegründeten Unterabteilung der NTA, der „Work-Integrated Learning Division“, wurden in 2018 und 2019 Verträge mit Firmen (z.B. Pupkewitz Motors) geschlossen und in 2019 begannen etwa 300 Auszubildende ein Apprenticeship. Betriebe erhalten von der NTA über den NTF pro Jahr 30.000 Nam$ je Auszubildende/r.148 Die schulische Ausbildung erfolgt im normalen Regelunterricht an den Vocational Training Centers. 2.3.3 Dualisierte Berufsbildungsansätze Berufsbildungspartnerschaft der Handwerkskammer Frankfurt RheinMain Neben einer Reihe von privaten und nicht öffentlichen Initiativen besteht derzeit eine Initiative der deutschen Wirtschaft, die vom BMZ149 finanziert wird. Die Handwerkskammer Frankfurt Rhein-Main hat in Zusammenarbeit mit der NTA und der NCCI eine Initiative zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen der Wirtschaft und ausgewählten beruflichen Bil-

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Der Begriff ‚Work Integrated Learning = Arbeitsplatzintegriertes Lernen’ (als Regelwerk der NTA derzeit ein Entwurf) umfasst alle Formen der Praxiserfahrung für Lernende im TVET System. Dies allerdings ist unter den derzeitigen Bedingungen eine wenig realistische Regelung, da die Anzahl der Praxisarbeitsplätze noch zu gering ist. Die Regelung umzusetzen, wird vor dem Hintergrund der angestrebten Verdopplung der Teilnehmer/innen im System der beruflichen Bildung (NDP5) besonders schwierig.

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Jede/r Auszubildende/r erhält pro Monat ein Gehalt von mind. 2.500 Nam$ (=30.000 Nam$). Quelle: http://www.nta.com.na/?page_id=1028 Letzter Aufruf: 12.01.2020.

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Kammerpartnerschaftsprojekte, initiiert von der Deutschen Wirtschaft, finanziert vom BMZ unter der Koordination von sequa.{ XE "sequa:acr" }

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dungsanbietern gestartet. Im Wesentlichen handelt sich dabei um die dreijährige Implementierung150 eines Projekts, bei dem sowohl die beteiligten Unternehmen des ausgewählten Sektors in der Region als auch die Schulen gemeinsam die Organisation der Zusammenarbeit in einem ausgewählten Beruf pilothaft implementieren sollen. Dabei werden zu einem gewissen Teil Ausrüstungsmittel für die Aus- und Fortbildung beschafft sowie die Mitarbeiter von Unternehmern - in diesem Fall Kleinunternehmen aus den nördlichen Regionen - sowie Lehrer/innen der beteiligten Schulen151 ausund fortgebildet. Dies geschieht in diesem Projekt am Beispiel des von der NTA mit Unterstützung von GIZ/ProVET neu entwickelten Berufsbildes Karosserieinstandsetzer und Autolackierer. Duales Ausbildungsmodell der AHK Johannesburg Ein weiteres, indirekt durch die deutsche Wirtschaft initiiertes Berufsbildungsmodell mit gutem Ruf in der Namibischen Öffentlichkeit ist CATS. Eine Gruppe von Namibischen Mittelstandsunternehmen im Bereich Logistik, darunter eine Reihe deutscher Unternehmen, hat in 2005 aufgrund des akut ansteigenden Fachkräftemangels mithilfe der südafrikanischen Deutschen Außenhandelskammer das Modell einer dem Dualen System in Deutschland ähnlichen Ausbildung implementiert. Ursprünglich war die Ausbildung mit Unterstützung der Universität Flensburg an der früheren polytechnischen Schule (heute NUST) in Windhoek als sogenannte Versorgungs-/Prozessketten (Supply Chain) Management Ausbildung eingeführt worden. Diese Ausbildung war jedoch rein akademisch ausgestaltet. Die ausbildenden Unternehmen benötigten jedoch praktisch ausgebildete Fachkräfte. Entwickelt wurde sodann in Kooperation mit der NUST ein duales Ausbildungsmodell, das heute noch besteht. Freitag und Samstag

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Bei absehbarem Erfolg werden diese Projekte in der Regel um weitere drei Jahre verlängert. Im Rahmen ihrer Expansionspläne hat die NTA in diesem Fall erstmals jungen Aspiranten aus der Wirtschaft die Möglichkeit zur Teilnahme an diesem Ausund Fortbildungsprojekt mit der späteren Möglichkeit der Beschäftigung als Lehrer/in an den öffentlichen Schulen eröffnet.

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wird an der Universität Theorie unterrichtet. Die restlichen Wochentage befinden sich die Auszubildenden in den Betrieben. Das Curriculum entspricht in den Grundzügen dem deutschen Ausbildungsberufsrahmen Industriekaufmann-/frau und die Ausbildung in den Betrieben wird über ein Berichtsheft, das sogenannte Blue Book, sichergestellt und kontrolliert. Das Blue Book enthält auch die Ausbildungsordnung und andere Informationen, die für die Firmen von Bedeutung sind. Seit Beginn 2017 hat die AHK die Verpflichtung eingeführt, dass die Mentorinnen und Mentoren in den Betrieben (die Ausbilder/innen) eine dem deutschen AdA152-Schein entsprechende Zusatzausbildung nachweisen müssen. Die GIZ unterstützte die Etablierung dieses Ausbildungsmodells über personelle und finanzielle Zuschüsse. Die Ausbildung ist mittlerweile auf das Level sechs (die Vocational Training Centres, vergleichbar mit Berufsschulen, bilden derzeit nur bis Level drei aus) des Namibischen Qualifikationsrahmens hochgestuft worden. Die Auszubildenden haben nach dem Abschluss der theoretischen Prüfung an der Universität die Möglichkeit, ein weiterführendes Studium aufzunehmen. Gleichzeitig soll über das Blue Book153 - soweit vollständig erfüllt – sichergestellt werden, dass die praktischen Erfahrungen, welche die Auszubildenden in den Betrieben sammeln, den Inhalten der deutschen Qualifikation weitgehend entsprechen. Sie erhalten daher auch ein zweites Zeugnis, das auf den Beurteilungen des Blue Books basiert (allerdings bislang ohne zusätzliche Abschlussprüfung). Die Qualifikation ist nur dann vollständig, wenn beide Zeugnisse erteilt wurden. Für die Auszubildenden ist die Ausbildung kostenfrei, sie erhalten je nach Firma ein Ausbildungsgehalt. Die Firma bezahlt die Ausbildung an der Universität, zurzeit etwa 25.000 N $ pro Jahr (ca. 1.670 Euro). Pro Jahr werden aus einer Vielzahl von Bewerberinnen und Bewerbern (500-800) etwa 20-30 vorausgewählt.

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Ausbildung der Ausbilder Eine schriftliche Zusammenfassung von Praxislernbereichen, die dem Ausbildungsinhalt der Qualifikation entsprechend aufgelistet sind und jeweils vom Mentor und dem Auszubildenden gegengezeichnet werden müssen.

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Die CATS Administration beurteilt hierzu das Zeugnis der Abschlussklasse 12 und wählt nach einem zusätzlichen Verhaltenstest eine Anzahl von Kandidat/innen aus. Diese werden den Firmen im Rahmen eines Interviews zur Auswahl vorgestellt. Die Auszubildenden schließen sowohl mit CATS als auch mit den Firmen einen Vertrag-/ Ausbildungsvertrag. CATS als gemeinnütziger Verein erhebt von seinen Mitgliedern, den ausbildenden Firmen, einen jährlichen administrativen Beitrag. Die Firmen müssen das Gehalt der Lehrlinge, die Beiträge zur Studiengebühr an der Universität sowie den Beitrag zur CATS Administration tragen. Nach Aussage des Vorstandsmitglieds gibt es zurzeit keine Verpflichtung, welche die Auszubildenden über die Ausbildungszeit hinaus an die Firma bindet. Verbesserungsfähig und notwendig sei die Betreuung der Auszubildenden in den Unternehmen, gleichwohl das Regelwerk hierfür eine Vorgabe macht. Eine enge Abstimmung zwischen der Universität und den Betrieben wird durch das regelmäßige Treffen dieser beiden Gruppen sichergestellt. Nach Aussage des Vorstandsmitglieds sind die Firmen insgesamt sehr zufrieden. 98 % der ausgebildeten Mitarbeiter/-innen im eigenen Unternehmen entstammen diesem Ausbildungsgang. Einzelne Firmen bieten ergänzende Austauschprogramme mit Firmenniederlassungen im Ausland (u.a. Hamburg) an. Zurzeit sind Bestrebungen im Gang, dieses Ausbildungsmodell in das neue Apprenticeshipmodell der NTA mit einzubinden, sodass auch die Firmen, die keine Ausbildungsabgabe zahlen, in den Genuss des Grants der NTA für Apprenticeships kommen können. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Die GIZ implementiert im Rahmen ihres Auftrags des BMZ{ XE "BMZ:acr" } zurzeit ein Programm, das sich mit der Entwicklung und Einführung von neuen Qualifikationen sowie mit der Beratung der Namibischen Behörde für Berufsausbildung (NTA) beschäftigt. Das Programm (ProVET I) hat in 2012 begonnen und wird nach erneutem Auftrag durch das BMZ ab 1. April 2018 mit einer weiteren Phase bis 2020 (ProVET II)

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fortgeführt.154 Im Rahmen dieser Implementierung wird eine Reihe von Berufen (u.a. Landwirtschaft, Automotivtechnologie, Solartechnologie, Karosseriebau u.a.m.) neu geordnet und in den Namibischen Qualifikationsrahmen eingeordnet. Dazu zählen hauptsächlich die Entwicklung von nachfrageorientierten Ausbildungsstandards, die von der Nationalen Behörde NQA registriert werden, sowie die Weiterbildung der Lehrer in diesen betroffenen Qualifikationen. 2.3.4 Bedarfe Vor dem Hintergrund der o.g. Problemstellungen können elf Arbeitsbereiche genannt werden, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen:155 Makroebene • CBET: Das bestehende CBET-Modell weist erhebliche Mängel auf (z.B. Assessment ersetzt Unterricht) und sollte hinsichtlich der grundsätzlichen Funktionalität von unabhängigen Experten untersucht werden. Dass mit der Beratung, der Einführung und der anschließenden Evaluation die gleichen CBET-Consultants beauftragt wurden, ist als kritisch zu beurteilen. Eine Entkopplung von Beratungs-, Ausführungsund Evaluationstätigkeit wäre notwendig. • Curricula: Die landeseinheitlichen Curricula werden von Lehrenden in Technical Working Groups entwickelt, die von einem DACUM-Consultant bzw. „Facilitators“ geleitet wird.156 Experten aus der Berufspraxis sind in der Regel nicht beteiligt. Die Lehrenden (und der Consultant)

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Finanzvolumen 13,5 Millionen Euro, 30 Monate Laufzeit, beginnend am 1. April 2018. Die Reihung drückt keine Priorisierung aus. DACUM (Developing a Curriculum) wurde Ende der 1960er Jahre entwickelt, um die Berufspraxis als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Kursen für Community Colleges in den USA zu verwenden. In der „Job Analysis“ wird ein „Job“ in Aufgabenund Verantwortungsbereiche (duties) sowie Aufgaben (tasks) untergliedert, die sodann in Lernziele und Curricula übersetzt werden (Jacobs, 2019). Durch diese Aufgliederung

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erhalten für ihre Mitarbeit eine Bezahlung, die keinen Anreiz schafft, die Verfahrensdauer zu verkürzen. Hier wären die Einbindung von Mitarbeiter/innen aus der Praxis sowie die Unterstützung von internationalen Expertinnen und Experten aus den jeweiligen beruflichen Domänen erforderlich. • Benchmarking: Die Entwicklung und Überprüfung von Qualifikationen erfolgen derzeit weitgehend ohne Bezug zu den internationalen Standards. Die Annahme, dass die Fachlichkeit für die neu zu entwickelnden Berufe in Namibia bereits vorhanden sei, erscheint fraglich, da selbst für bestehende Berufe Curricula auf höheren Leveln (4 und 5) fehlen. • Qualitätsentwicklung und -sicherung: Das institutionalisierte System (Doppelakkreditierung NTA und NQA) ist wenig effizient, entkoppelt von der tatsächlichen Praxis, bürokratisiert und ohne Inhaltsprüfung. Hier wären eine grundlegende Abgrenzung der Kompetenzen der beiden Behörden und ein Neuausrichtung der Prozesse erforderlich. • Lehramtsausbildung: Die Einrichtung eines Berufsschullehrerstudiengangs zur Erstausbildung ist unerlässlich. Meso-Ebene • Personalentwicklung: Als Einstellungskriterium für Schulleitungen dienen weder formale Qualifikationen, einschlägige Erfahrungen oder ein berufliches Interesse, sondern das Kriterium „Seniorität“. Das Ergebnis dieser Einstellungspraxis ist, dass die Berufsschulleitungen in der Regel ihre Leitungsaufgabe nicht wahrnehmen. Hier wäre einerseits die bestehende Einstellungspraxis zu ändern. Andererseits bräuchten die bereits eingestellten Schulleitungen tätigkeitsspezifische Weiterbildungen sowie ein individuelles Coaching.

geht u.a. das notwendige Verständnis des Arbeitszusammenhangs sowie das Denken und Handeln in Arbeitsprozessen verloren (Fischer, 2020).

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• Infrastrukturentwicklung: Ein Audit der Ausbildungsinfrastruktur und -kapazität vor Ort in den Berufsschulen wäre erforderlich. Über die Ausstattung besteht Unklarheit. Synergien – insbesondere bei teuren Infrastrukturmaßnahmen – wären zu identifizieren. Bei der Erstellung von Ausstattungsplänen und der Identifikation notwendiger Lehrmaterialien sind u.E. externe, unabhängige Fachberatung und Expertise unabdingbar. • Prüfungswesen: Das Assessmentsystem ist aufwendig, zeitintensiv und vermag mit der kleinteiligen Überprüfung der Erfüllung der Unit Standards nicht, die berufliche Handlungskompetenz der Schüler/innen zu erfassen und zu bewerten. Dass die Lehrer/innen für diese Tätigkeit eine zusätzliche Bezahlung erhalten, schafft keinen Anreiz, die Dauer der Assessments zu verkürzen, und führt zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Tätigkeit „Unterrichten“ zur Tätigkeit „Prüfen“. Notwendig wäre eine Reform des gesamten Prüfungswesens. Mikro-Ebene • Grundbildung: Zur Verbesserung der Eingangsvoraussetzungen der Lernenden sollten Vorbereitungslehrgänge in den Bereichen angewandte Mathematik und Englisch angeboten werden. Entsprechende allgemeinbildende Inhalte müssten zudem in den Curricula der beruflichen Bildung ausgebaut werden, um einerseits den berufsbildenden Unterricht zu flankieren und andererseits die Lücke zum Hochschulstudium zu schließen. • Personalentwicklung: Die Lehrer/innen verfügen entweder über eine akademische Fachqualifikation (Engineering Sciences) oder eine schulische Berufsausbildung (hierbei oftmals mit den o.g. Mangel an mathematischer und sprachlicher Grundbildung). Gefordert werden zudem eine dreijährige Berufspraxis (wobei diese bislang nicht einschlägig sein muss) sowie die Teilnahme an einem Online-Kurse, der grundlegendes berufspädagogisches Wissen vermittelt. Fachdidaktische Kenntnisse und Fertigkeiten fehlen jedoch, weshalb spezifische Weiterbildungsangebote mit diesem Fokus erforderlich wären. Erforderlich

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wären zudem Grundbildungskurse mit den Fokussen Mathematik und Englisch. • Unterrichtsentwicklung: Der Unterricht erfolgt ohne Praxisbezug und Handlungsorientierung. Hier wären Modellversuchsansätze erforderlich, um eine Unterrichtsentwicklung vor Ort zu initiieren (vergleichbar dem Programm der Bund-Länder-Kommission „Neue Lernkonzepte in der dualen Berufsausbildung” in Deutschland). • Berufsbildungsforschung: Die Entwicklungen in Namibia sollten mittels interventionsorientierter Forschungsansätze (Action Research, Design-based Research) begleitet und unterstützt werden. Parallel hierzu wäre zudem ein evidenzbasierter Ansatz erforderlich, um verlässliche Daten zu generieren.

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Herausforderungen

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Erschwert wird die Zusammenarbeit durch die ethnisch-kulturelle Teilung der Wirtschaft in einen formalen und einen informellen Sektor. Die von „Weißen“ dominierte formale Wirtschaft führt betriebseigene Ausbildungen abseits vom staatlich-schulischen Berufsbildungssystem durch, was insgesamt das staatliche Berufsbildungssystem schwächt. Die Gewerkschaften unterhalten enge Beziehungen zur Regierungspartei, engagieren sich jedoch nicht in der Berufsbildung. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und dem Staat wäre notwendig, erweist sich aber aufgrund der historischen Bedingungen als schwierig. Die aktuelle Haltung der Arbeitgeber/innen ist durchaus ambivalent. Einerseits engagieren sie sich nur auf der Meta-Ebene im Rahmen der Gremienarbeit (z.B. Mitglieder im Board der NTA). In der Entwicklung neuer

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und der Überarbeitung vorhandener Ausbildungsstandards fehlen die Repräsentanten der Wirtschaft zumeist, was angesichts der Dauer der Verfahren teilweise auch nachvollziehbar ist. Andererseits kritisieren Wirtschaftsvertreter allerdings die Qualität des staatlichen Ausbildungssystems und die Kompetenz der ausgebildeten Facharbeiter/innen. Bislang sind in der Abschlussbeurteilung (Assessment) Vertreter/innen der verfassten Wirtschaft nicht eingebunden. Zwar wird immer wieder betont, dass Assessoren der Wirtschaft beteiligt wären, allerdings handelt es sich hierbei um privatwirtschaftliche Consultants. Häufig verfügen diese nur über generisches Wissen, was zu einer Fixierung auf Formalia bei den Prüfungen führt. Das aktuelle Zweiaugenprinzip in nur leicht variierenden Konstellationen bzw. Modifikationen (der Vorsitz der Beteiligten wechselt beispielsweise zwischen den Prüfungen) erscheint problematisch und sollte durch paritätisch besetzte Prüfungskommissionen ersetzt werden. Sinnvoll wäre dieses Vorgehen jedoch nur dann, wenn die Anzahl der nationalen Prüfungen reduziert wird. Lernen im Arbeitsprozess Der Präsident von Namibia hat sich in seinem „Harambee Prosperity Plan“ deutlich für die Ausweitung von Apprenticeships ausgesprochen: „We will initiate more apprenticeship opportunities for VET graduates, with the first apprenticeship programme scheduled to roll out in 2016.“ (Republic of Namibia, 2016, S. 45). Die in 2017 von der NTA ins Leben gerufene Initiative zur Wiedereinführung des Apprenticeship-Modells bietet eine Chance für Jugendliche, mehr über die Arbeitsprozesse und damit über die wichtigen betrieblichen Sozialisationsprozesse zu erfahren. Einzelne Initiativen mit Vorbildcharakter bestehen bereits (z.B. CATS, eine durch die AHK Johannesburg im Logistiksektor in 2005 initiierte dual-kaufmännische Ausbildung), entfalten aber keine Breitenwirkung, da sie bislang noch außerhalb des staatlichen Ausbildungssystems operieren und nicht registriert sind. Der vorgesehene Förderzuschuss der NTA könnte eine sinnvolle Maßnahme sein. Die Ankündigung der Förderung hat bereits Interesse aufsei-

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ten der Unternehmen geweckt. Unterstützt werden sollten jedoch Maßnahmen, die der strukturellen Qualitätsentwicklung der betrieblichen Ausbildung dienen (z.B. die Entwicklung von betrieblichen Ausbildungsplänen, die interne Schulung von Trainern oder der Aufbau einer Ausbildungswerkstatt im Betrieb). Es besteht die Gefahr, dass der Förderzuschuss als Betriebssubvention verstanden wird und das Engagement dann endet, wenn – insbesondere angesichts der Haushaltslage – die Mittel wieder gekürzt werden. Da jedoch die Zahl der verfügbaren und neu einrichtbaren Ausbildungsplätze insgesamt nicht ausreichen wird, sind weitere Modelle der Praxisvermittlung für junge Auszubildende notwendig. Die Kompensation könnte durch die Einführung von Training-Cum-Produktion Modellen (vergleichbar dem Modell „Produktionsschule“ in Deutschland) erfolgen. Dieser Ansatz könnte in vielen Berufen praktiziert werden und würde zudem eine Brücke zwischen formaler und informeller Wirtschaft bilden. Ein Beispiel hierfür sind die bereits existierenden Ausbildungsrestaurants (z.B. in Valombola). Allerdings scheinen die Möglichkeiten dieser Lehrform noch nicht ausgeschöpft zu werden. Beispielsweise wird kein für diesen Bereich übliches Marketing praktiziert. Eine Erweiterung der VTCs um Produktionsabteilungen in den verschiedenen handwerklichen Sektoren wäre eine gute Option, um Praxis für Lernende in einer realen Arbeits- und Lernumgebung sinnvoll erfahrbar zu machen. Über den Stand des „Informal Apprenticeship“ ist nichts bekannt. Aufgrund der Bedeutung des informellen Sektors wären Initiativen in diesem Bereich wichtig; sie sind allerdings äußerst schwierig in der Umsetzung. Akzeptanz von nationalen Standards Staatliche Standards werden in der Berufsausbildung in den staatlichen Vocational Training Centern umgesetzt. Auch wenn die bestehenden Standards kritisiert werden, so werden sie doch umgesetzt. Die zentralen Problematiken betreffen nicht die Akzeptanz der bestehenden Standards in den Schulen, sondern die Qualität der Standards (Curricula, Prüfungsstandards) sowie deren Entwicklung und Verbesserung. Die Prozesse sind

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langwierig. Curricula werden in den Technical Working Groups entwickelt, wobei eine Rückkopplung mit den restlichen (wenigen) Lehrenden eines Berufsfelds in der Regel nicht erfolgt. Die sodann neu entwickelten Curricula treffen häufig auf Widerstand, was deren Einführung verzögert und weitere Revisionsschleifen auslöst. Vertreter/innen der Wirtschaft sind in der Regel an der Entwicklung nicht aktiv beteiligt. Ausbildungspläne aus Deutschland (Dual VET Standards von GOVET) wurden in zwei Fällen (ein qualitativer Benchmark fehlt in der Regel) zur Entwicklung oder zum Vergleich verwendet. Die Entwicklung der Standards erfolgt in Namibia oftmals auf Basis der DACUM-Methode unter Anleitung eines CBET-Consultants. Die entwickelten Ausbildungsstandards orientieren sich nicht an beruflichen Arbeitsprozessen und Handlungsbezügen. Die gesichteten Lehr-/Lernmaterialien und Fachbücher (insofern überhaupt vorhanden) sind veraltet (10 Jahre und älter) und müssten (vermutlich für alle Berufe) überarbeitet werden. Die Einführung von Forschungskapazitäten an den Universitäten bildet eine wichtige Voraussetzung zur kritischen Reflexion des aktuellen Standes und der notwendigen Korrekturen. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Die Lehrer/innen sind bislang in der Regel auf Level 3 (von 10) des Namibian Qualifications Framework (NQF) ausgebildet, weshalb sie nur bis Level 2 ausbilden dürfen. Ausbildungsgänge auf höheren Leveln (Level 4 und 5) existieren bislang nicht, auch nicht für die Lehrenden, weshalb in der Vergangenheit auf Trainingsanbieter aus Südafrika und Deutschland (Lucas-Nülle GmbH, Landesakademie Esslingen, Universität Bremen) zurückgegriffen wurde. Qualifikationsnachweise, die den Lehrer/innen ermöglichen und erlauben, höhere Level auszubilden, erfordern eine nationale Anerkennung der im Ausland erworbenen Qualifikation durch die Namibia Qualification Authority (NQA). Eine solche nationale Anerkennung wurde von der NQA bislang nur für die Weiterbildung der Universität Bremen ausgesprochen. Die NUST ist derzeit – mit Unterstützung der Universität Bremen – mit dem Aufbau einer Ausbildung für Berufsschullehrer/innen beauftragt.

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Die Kandidat/innen für das Berufsbildungsmanagement, speziell an den Berufsschulen selbst, müssen aus dem vorhandenen Lehrkörper heraus entwickelt und weitergebildet werden. Nur die genaue Kenntnis des Systems der beruflichen Bildung und dessen Möglichkeiten und Schwierigkeiten befähigt eine/n Schulleiter/in dazu, ihre/seine Schule fachgerecht und den Ansprüchen entsprechend zu führen.157 Auf mittlere Frist wird Werkstattunterricht an den Schulen weiterhin unverzichtbar sein, weshalb in der Lehrer/innen/fortbildung neben den fachwissenschaftlichen, fachdidaktischen und berufspädagogischen Inhalten insbesondere hohe Anteile von Handlungspraxis erforderlich sind. Die Fortbildung könnte auch dabei helfen, einen stärker handlungsorientierten und schülerzentrierten Unterricht zu ermöglichen. Formen des project-based learning könnten dabei helfen, praxisnah grundlegende Fähigkeiten, wie Selbstverantwortung, Teamfähigkeit und Problemlöse-/Planungskompetenz, zu entwickeln. Im Rahmen von ProVET-Lehrerfortbildungen wurde immer wieder deutlich, dass Kommunikations- und Informationstechnologie zwar als wichtig eingeschätzt werden, die Lehrer/innen selbst aber über die Grundlagen hinaus nur über eine geringe Erfahrung im Umgang und mit dem Einsatz digitaler Medien verfügen. Dies gilt auch für die Schulleitungen. In den Betrieben, die neu in das Apprenticeship-System einsteigen, existiert keine Erfahrung mit der Begleitung von Lernenden. Schulungen und die Überprüfung der Ausbildung vor Ort in Verbindung mit Maßnahmen der Lernortkooperation könnten die Grundlage bilden für einen Prozess der Qualitätsentwicklung auf beiden Seiten (Betrieb und Schule). Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Wie in obigen Abschnitten dargestellt, wird von den diversen Akteuren (Ministerium, NTA, NQA, NUST) die Notwendigkeit einer Berufsbildungsforschung in Namibia als prioritär eingestuft. Die Neueinführung des 157

Einer der kürzlich eingestellten Schulleiter war vorher als Manager in einem Verkaufshandel beschäftigt.

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Michael Gessler und Larissa Holle

Berufsbildungssystems in Namibia nach der Unabhängigkeit macht es notwendig, das entstandene System zu evaluieren, um die Veränderungsbedarfe zu identifizieren. Eine solche Korrektur kann und sollte nur über eine vorausgegangene neutrale Untersuchung des Systems vorgenommen werden. Der Aufbau von Kapazitäten in der Berufsbildung muss deshalb von außen unterstützt werden, da entsprechende Ressourcen im Land nicht vorhanden sind. Ohne eigene und unabhängige Expertise wird Namibia weiterhin von der organisierten Consultingwirtschaft158 abhängig sein. Die Entwicklung eines Modells einer geregelten Berufsbildungsberatung ist in Namibia noch nicht in Angriff genommen worden. Es gibt Ausbildungsmessen, jedoch dominieren hier kommerzielle Bildungsanbieter. Ein staatliches Beratungssystem wäre erforderlich und sollte zunächst an der Schnittstelle zwischen der Allgemeinbildung und der beruflichen Bildung eingeführt werden.

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158

In einem Gespräch wurde diese als „CBET-Consulting-Mafia“ bezeichnet.

Namibia

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Jauch, H. (2018). Namibia’s Labour Movement: An Overview. History, Challenges and Achievements. Windhoek: Friedrich Ebert Stiftung. KfW Kreditanstalt für Wiederaufbau (2015). Ex post evaluation Namibia. KfW: Frankfurt am Main. NSA Namibia Statistics Agency (2013a). Profile of Namibia. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency (2013b). Namibia 2011 – Population and Housing Census Main Report. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency (2014). Namibia: Demographic and Health Survey 2013. Windhoek: Nambia Ministry of Health and Social Services (MoHHS). NSA Namibia Statistics Agency (2017a). Namibia intercensal Demographic Survey: 2016 Report. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency (2017b). The Namibia Labour Force Survey 2016 Report. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency (2018). Namibia Land Statistics: September 2018. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency (2019). The Namibia Labour Force Survey 2018 Report. Windhoek: NSA. NSA Namibia Statistics Agency, & The World Bank (2017). Does Fiscal Policy Benefit the Poor and Reduce Inequality in Namibia? The Distributional Impact of Fiscal Policy in Namibia. Washington DC: International Bank for Reconstruction and Development / The World Bank. NTA National Training Authority (2015). Study on competency-based education and training in vocational education and training in Namibia. Windhoek: NTA. NTA National Training Authority (2017). Shortage occupations in Namibia. Windhoek: NTA. The World Bank (2020). GDP growth (annual %) – Namibia. Online: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG?locations=NA (letzter Zugriff: 9. Juli 2020). Parliament of the Republic of Namibia (1996). NQAA Namibia Qualification Authority Act. Online: https://laws.parliament.na/cms_documents/namibia-qualifications-authority-18f4b04604.pdf (Letzter Zugriff: 26. April 2018).

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Michael Gessler und Larissa Holle

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Anmerkung Der vorliegende Sondierungsbericht zu Namibia wurde auf Basis der in den Zeiträumen 17.07.-21.07.2017 in Ongwediva, 04.02.2018 bis 07.02.2018 sowie 08.01.2019 bis 23.01.2019 in Windhoek durchgeführten Besuche und Gespräche angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen. Die Analyse dieser weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung. Damit werden der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit unserer Aussagen gewährleistet. Unsere Gesprächspartner kamen von folgenden Einrichtungen (in der Reihenfolge der geführten Gespräche): Valombola Vocational Training Centre, Windhoek Vocational Training Centre, Namibian Employers’ Federation, Deutsche Botschaft in Namibia, GIZ-Projekt ProVET, Namibia University of Science and Technology (NUST), Commercial Advanced Training Scheme (CATS), Namibia Qualifications Authority (NQA), Ministry of Higher Education, Training and Innovation sowie das Direktorat berufliche Bildung, Namibia Training Authority (NTA) und NAMPOWER Training Center.

Nigeria: Niedriger Status der Berufsbildung und die Relevanz regionaler Initiativen für kooperative Ansätze Léna Krichewsky-Wegener und Janis Vossiek

Abstract Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land und die größte Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents und mit massiver Jugendarbeitslosigkeit und akutem Fachkräftemangel konfrontiert. Das auch von der kolonialen Zeit geprägte Berufsbildungssystem ist stark fragmentiert und besitzt bei Unternehmen und bei Eltern und Jugendlichen eine nur geringe Reputation. In einem politischen Kontext, in dem nationale Reformen kaum greifen oder nicht angestoßen werden, zeigen Initiativen aus der Wirtschaft und auf lokaler oder regionaler Ebene allerdings, dass sich kooperative Ansätze der Berufsbildung trotz schwieriger Rahmenbedingungen bewähren können.

1

Landeskontext

Nigeria ist mittlerweile das bevölkerungsreichste Land und die größte Volkswirtschaft des afrikanischen Kontinents, nachdem es im Jahre 2014 Südafrika hinsichtlich der Wirtschaftsleistung überholt hat. Der englischsprachige Staat in Westafrika verfügt über umfangreiche natürliche Ressourcen und verzeichnete in den letzten Jahren ein hohes einstelliges Wirtschaftswachstum. Die Bevölkerung von rund 190 Millionen Einwohnern ist jung, der Anteil der unter 24-Jährigen liegt bei über 60%. Die ehemalige portugiesische Kolonie wurde im 19. Jahrhundert von Großbritannien besetzt und ist seit 1960 formal unabhängig. Aufgrund seines Bevölkerungs© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_9

Nigeria

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und Ressourcenreichtums ist Nigeria ein wichtiges Land für die ganze westafrikanische Region, steht allerdings vor großen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Diese werden nachfolgend beschrieben, bevor vertieft auf die Rolle der beruflichen Bildung innerhalb des nigerianischen Bildungs- und Wirtschaftssystems eingegangen wird. 1.1

Politische Rahmenbedingungen

Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1960 gelang es zunächst nicht, das politische System in eine stabile Demokratie zu überführen. Aufgrund von regionalen Spannungen und Konflikten zwischen verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen übernahm das Militär 1966 die Macht. Dennoch kam es zum Bürgerkrieg, der von 1967 bis 1970 andauerte. Es blieb in der Folge bei Militärdiktaturen – der von 1979 bis 1983 währende Versuch, das Land zu demokratisieren, mündete erneut in einen Militärputsch. Der bis heute andauernde Demokratisierungsprozess begann 1990, und wurde bei den zuletzt abgehaltenen Wahlen, bei denen 2015 Muhammadu Buhari zum Präsidenten gekürt wurde, erfolgreich weitergeführt. Die Wahlen wurden von internationalen Beobachtern gelobt159 und führten zum ersten parteipolitischen Regierungswechsel in der Geschichte des Landes. Präsident Goodluck Jonathan von der konservativen People’s Democratic Party (PDP) wurde durch Buhari und dessen Wahlbündnis All Progressives Congress (APC) abgelöst. Die aktuelle Regierung steht vor vielfältigen Herausforderungen, wie dem Konflikt mit der islamistischen Boko Haram im Norden des Landes, der Diversifizierung der Wirtschaft zur Verminderung der Abhängigkeit vom Erdöl- und Rohstoffexport sowie der politischen Koordinierung zwischen regionaler und föderaler Ebene.

159

Siehe: http://www.dw.com/en/eu-observers-commend-nigerian-elections/a-18350209 [Letzter Zugriff am 08.05.2018]

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Léna Krichewsky-Wegener und Janis Vossiek

1.1.1 Regierung und staatliche Strukturen Nigeria ist gemäß der Verfassung von 1999 ein föderaler Staat mit einem präsidentiellen Regierungssystem. In Anlehnung an das amerikanische Regierungssystem besitzt der Präsident umfangreiche Machtbefugnisse und ist Staatschef, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Personalunion. Das nach dem Mehrheitswahlrecht gewählte Parlament, die Nationalversammlung (National Assembly), ist bikameral verfasst und besteht aus dem Repräsentantenhaus (House of Representatives) als erster und dem Senat (Senate) als zweiter Kammer, wobei letztere die föderalen Gliedstaaten vertritt. Insgesamt ist Nigeria in 36 Bundesstaaten untergliedert (siehe Abbildung 1), die jeweils über einen direkt gewählten Gouverneur und ein eigenes Parlament verfügen. Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass insbesondere reichere Bundesstaaten wie Lagos oder Ogun politisch und wirtschaftlich einflussreich sind. Hinsichtlich der Governance ist kritisch anzumerken, dass Nigeria im internationalen Vergleich zu den Ländern gezählt werden muss, die mit starker Korruption zu kämpfen haben. So belegt Nigeria im Corruption Perception Index von Transparency International einen der hinteren Plätze (Platz 148 von 180 Ländern, Transparency International 2018).160 Neben der Korruption werden auch schlechte Governance, eine Legitimitätskrise des politischen Systems sowie die Verschwendungssucht von politischen Eliten als Probleme benannt (Fagbadebo 2007). So führte neben dem Verfall des Ölpreises in Folge der globalen Wirtschaftskrise auch die „Plünderung des Staates“ (Bergstresser 2018) unter dem vormaligen Präsidenten Goodluck Jonathan zur schwersten Rezession in Nigeria seit etwa 30 Jahren.161

160 161

https://www.transparency.org/country/NGA [Letzter Zugriff am 08.05.2018] vgl. http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/176466/nigeria [Letzter Zugriff am 08.50.2018]

Nigeria

361

1.1.2 Schwerpunkte des Regierungsprogramms Ein gewichtiger Schwerpunkt des aktuellen Regierungsprogramms unter Präsident Buhari ist die Lösung der innen- und sicherheitspolitischen Konflikte mit der Boko Haram im Norden des Landes. Doch trotz eines harten militärischen Vorgehens der Regierung gegen die Rebellen, ist nach zahlreichen Verhaftungen kein Ende des Konflikts abzusehen (Bergstresser 2018). Neue Konflikte mit sezessionistischen Bewegungen drohen zudem im Zentrum und Norden des Landes (Bergstresser 2018). Wirtschaftspolitisch verfolgt die aktuelle Regierung einen Plan zur ökonomischen Erholung des Landes, der auf den Zeitraum von 2017 bis 2020 ausgelegt ist und Prioritäten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik setzt. Der Economic Recovery and Growth Plan (ERGP) (Federal Republic of Nigeria 2017) verfolgt dabei insgesamt drei Hauptziele: • Wiederherstellung des Wachstums: Die Regierung plant einen finanziellen Stimulus für die Wirtschaft bei gleichzeitiger Geldwertstabilität und einer Reduktion des Außenhandelsdefizits. Zudem wird die Diversifizierung der heimischen Wirtschaft durch Wachstumsimpulse und Investitionen in Wissenschaft und Technologie angestrebt, insbesondere mit einem Fokus auf die Energiewirtschaft, das produzierende Gewerbe und Dienstleistungen. • Investitionen in die Bevölkerung („Investing in our People“): Unter diesem Aspekt visiert die Regierung die Reduktion des Armutsgefälles und der regionalen sozio-ökonomischen Unterschiede an und beabsichtigt die Reduktion der hohen Jugendarbeitslosigkeit und eine Erhöhung der nationalen Investitionen in die Bildungs- und Gesundheitspolitik. • Schaffung einer global wettbewerbsfähigen Wirtschaft: Zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts strebt die Regierung die Schaffung einer besseren Infrastruktur (Elektrizität, Straßen, Schienen, Häfen, Breitbandnetzwerk) an und beabsichtigt hier Partnerschaften mit privatwirtschaftlichen Akteuren. Zudem fällt unter diesen Aspekt auch die Verbesserung des Klimas für privatwirtschaftliche Aktivitäten, was durch

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den Abbau regulativer Hürden sowie das Wachstum der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht werden soll. Auch für den Bereich der (Aus-)Bildungspolitik sieht der EGPR einige Strategien vor, die unter den Schlagwörtern Qualitätssicherung, verbesserte Lehrerausbildung, den Ausbau mathematischer und naturwissenschaftlicher Bildung sowie die Anreizschaffung für mehr private Investitionen genannt werden. Für den Bereich der Berufsausbildung zielt der Plan auf den Ausbau der Kooperation zwischen Zentralregierung, Länderregierungen und privaten Partnern, um den Ausbau von neuen postsekundären technischen und gewerblichen Schulen voranzubringen. Ziel ist dabei, im Jahr 2020 circa 500.000 Schülern162 Platz zu bieten (Federal Republic of Nigeria 2017, S. 132). Inwiefern dieses Ziel erreicht werden kann, ist allerdings momentan noch nicht abzuschätzen, da es hier der effektiven Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure des Staates und des privaten Sektors bedarf. Trotz seines großen Potenzials für eine positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung steht Nigeria vor gewaltigen Herausforderungen. Zu nennen sind etwa eine hohe Korruption und eine starke Abhängigkeit des Staatshaushaltes von den Erdöleinnahmen, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, die extreme Armut eines Großteils der Bevölkerung sowie anhaltende Konflikte, die entlang religiöser und ethnischer Spannungslinien ausgetragen werden. Dennoch versteht sich das Land selbst nicht als klassisches Empfängerland im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, sondern strebt zunehmend eine Rolle als Gestaltungsmacht auf dem afrikanischen Kontinent und in der Welt an, trotz einigen Nachholbedarfs im sozio-ökonomischen Bereich. Dazu heißt es im EGPR: „Nigeria has the potential to become a major player in the global economy by virtue of its human and natural resource endowments. However, this potential has remained relatively untapped over the years.“ (Federal Republic of Nigeria 2017, S. 10).

162

Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen.

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1.2

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Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Die nigerianische Wirtschaft ist in der Dekade von 2005 bis 2015 jährlich im Durchschnitt um 6,3% des Bruttoinlandsprodukts gewachsen, bevor 2016 im Zuge der global gefallenen Ölpreise eine Rezession einsetzte (Federal Republic of Nigeria 2017, S. 23). Dies ist vor allem im Kontext der Exportabhängigkeit von Rohöl und Agrarprodukten zu betrachten, wobei allein die Ölausfuhr etwa 85% der Exporte ausmacht (vgl. GTAI 2016). Im Zuge der Rezession verschlechterte sich auch die fiskalische Situation des Landes mit einem Rückgang der Währungsreserven, einem Inflationsanstieg sowie fallenden ausländischen Direktinvestitionen (Federal Republic of Nigeria 2017, S. 23). In diesem Zusammenhang stehen auch die aktuellen Bemühungen der Regierung, die Wirtschaft des Landes zu diversifizieren. Hervorzuheben ist allerdings, dass Nigeria trotz der guten Wirtschaftsentwicklung von 2005 bis 2015 mit massiven sozio-ökonomischen Problemen konfrontiert ist. So ist die Beschäftigung trotz des Wachstums in diesem Zeitraum deutlich gesunken und die Arbeitslosigkeit hat sich von 12,3% im Jahre 2006 auf 24,3% im Jahre 2014 verdoppelt, wobei insbesondere Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren etwa ein Drittel der Arbeitslosen ausmachen (United Nations Economic Commission for Africa 2017, S. 20). Ähnlich besorgniserregend ist, dass die Armutsquote (vor allem im Norden des Landes) trotz des wirtschaftlichen Wachstums gestiegen ist. So hat sich die Armutsquote von 54,7% im Jahre 2004 auf 60,9% im Jahre 2010 erhöht. Zudem weist Nigeria mit einem GINI-Koeffizienten von 0,447 im Jahre 2010 ein hohes Maß an Einkommensungleichheit auf, selbst im Vergleich mit anderen Ländern Westafrikas (vgl. United Nations Economic Commission for Africa 2017, S. 20–21). Die Gesundheitsversorgung ist ein weiterer ausbaufähiger Bereich: Im Hinblick auf die Kinder- und Müttersterblichkeit zählt Nigeria im internationalen Vergleich zu den zehn Ländern mit den höchsten Werten und die öffentlichen Ausgaben für Gesundheitsversorgung liegen mit 3,7% in 2014 deutlich in der Ländergruppe mit den geringsten Ausgaben (CIA Factbook 2018). Auch liegt

364

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die Alphabetisierungsquote deutlich unter dem internationalen Durchschnitt. Zudem stellt sich diese Situation vor allem in den Konfliktregionen Nigerias als noch gravierender dar. Dennoch ist Nigeria in vielfacher Hinsicht ein potentieller Schlüsselpartner für wirtschaftliche Aktivitäten in Afrika, da vor allem der natürliche Ressourcenreichtum, die Größe des Binnenmarktes sowie die Investitionsbedarfe in Infrastruktur, Energieversorgung und die Ausstattung des produzierenden Gewerbes aus Nigeria einen potentiell attraktiven Markt für Unternehmen aus dem Ausland bieten. Speziell für Deutschland hat die Bundesregierung seit 2014 die Deckungsmöglichkeiten über Euler Hermes erweitert, so dass nun Geschäfte mit öffentlichen Bestellern abgesichert werden können (GTAI 2016). Dies gilt möglicherweise auch für den Ausbau internationaler Kooperationen von Berufsbildungsdienstleistungen, da auch hier ein großes Verbesserungspotential besteht (siehe Kapitel 3). 1.2.1 Wirtschaftssektoren Im Hinblick auf die Struktur des Arbeitsmarktes ist anzumerken, dass im primären Sektor etwa 40% der männlichen und 20% der weiblichen Bevölkerung beschäftigt sind, womit dieser Sektor in puncto männlicher Beschäftigung der größte ist. Der Dienstleistungssektor weist Beschäftigungsquoten von 24,9% im Handel, 7,1% in weiteren Dienstleistungen, 5,6% im Gastgewerbe sowie 4,1% im Transportwesen auf. Nur 11% der Beschäftigung entfallen auf das produzierende Gewerbe (United Nations Economic Commission for Africa 2017, S. 20). Allerdings sind gerade der Dienstleistungssektor und das produzierende Gewerbe aufstrebende Wirtschaftsbereiche, welche im Jahre 2015 zu einem Großteil des Bruttoinlandsprodukts beitrugen (Dienstleistungen 53,2%, produzierendes Gewerbe 9,5%). Das produzierende Gewerbe ist von 2011 bis 2015 um 13,3% gewachsen (Federal Republic of Nigeria 2017, S. 37). Im Hinblick auf mögliche Investitionsbedarfe ist vor allem der Energiesektor zu nennen, der von Germany Trade and Invest als „überreif für Großinvestitionen“

Nigeria

365

beschrieben wird, vor allem im Bereich von Fotovoltaik. Seit 2012 sei gerade auch der Energiesektor „radikal“ privatisiert und liberalisiert worden (GTAI 2016). Im Hinblick auf die Verteilung zwischen formalem und informellem Wirtschaftssektor ist der Anteil des informellen Sektors mit 41% am Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise hoch (National Bureau of Statistics 2016). Am höchsten ausgeprägt ist die Informalität in der Landwirtschaft sowie im Transport- und Gastgewerbe. Dies macht es notwendig in Wertschöpfungsketten zu denken, in der Landwirtschaft beispielsweise vom Kleinbauern bis zur Agrarindustrie. Der produzierende Sektor hingegen ist primär von formalen Wirtschaftsstrukturen geprägt: Etwa 90% des Beitrags des produzierenden Gewerbes zum nationalen Bruttosozialprodukt entfallen hier auf den formalen Bereich, was einen Marktzugang für Firmen und Bildungsanbieter aus dem Ausland in diesem Sektor erleichtern dürfte. 1.2.2 Qualifikationsstruktur, Bedarfe und Prognosen Laut einer Bedarfsanalyse der Weltbank, die unter anderem auch auf zwei Workshops mit den Repräsentanten der wichtigsten Trainingsinstitutionen und -organisationen beruht, lassen sich für Nigeria Qualifizierungsdefizite in unterschiedlichen Bereichen feststellen (Favara et al. 2015). Mittelfristig sind vor allem folgende Bereiche betroffen: Ausbau der Infrastruktur (Transport, Elektrizität, Gas, Wasserversorgung), Bau und Immobilien, Informations- und Kommunikationstechnologie, Finanzdienstleistungen, produzierendes Gewerbe sowie Öl- und Gasförderung. Als Lösungsperspektiven identifizieren die Autoren Maßnahmen zur schrittweisen Formalisierung der informellen Beschäftigung und die Steigerung der (Aus-)Bildungsqualität, vor allem auch durch den Aus- und Umbau der beruflichen Bildung. Der Fachkräftemangel ist insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien zu spüren, sowie in der Automobilbranche und der Landwirtschaft, im Bausektor, der Öl- und Gasförderung und in der Metallbranche. Oft greifen Unternehmen derzeit auf ausländische Fachkräfte zurück bzw.

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schicken nigerianische Mitarbeiter zur Qualifizierung ins Ausland. Damit wird hier auch ein Bedarf nach Aus- und Weiterbildung gesehen, der für Bildungsanbieter einen interessanten Markt darstellt.163 Insbesondere haben die meisten deutschen Unternehmen, die in Nigeria im Bereich der technischen Dienstleistung tätig sind, einen hohen Bedarf nach gut qualifizierten Technikern. Dem hingegen wird die Managementausbildung in Nigeria als relativ positiv beschrieben und viele internationale Unternehmen würden von nigerianischen Managern geleitet, die vor Ort aber auch oft im Ausland ausgebildet werden.164

2

Berufliche Bildung

Nachfolgend wird das nigerianische Bildungssystem unter besonderer Berücksichtigung der beruflichen Bildung und ihrer maßgeblichen Institutionen und gesetzlichen Grundlagen beschrieben. Anschließend wird näher auf Problemstellungen und Lösungsansätze im Bereich der Berufsausbildung eingegangen. 2.1

Struktur des Bildungssystems

Das nigerianische Bildungssystem hat seine Ursprünge im kolonialen Bildungssystem nach britischem Vorbild. Wie in Großbritannien lag der Fokus des Systems zunächst vor allem auf der allgemeinschulischen und universitären Bildung, bevor 1977 eine neue nationale Bildungspolitik verabschiedet wurde, die als erste eigene Bildungspolitik Nigerias zu beschreiben ist (Fabunmi 2005; Okolocha 2012). Seitdem folgt das nigerianische Bildungssystem der Struktur 6-3-3-4 (siehe auch Abbildung 2).

163 164

Interviews mit Wirtschaftsvertretern bei der AHK in Lagos am 24.01.2018. ebd.

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Die Primarbildung (primary education) dauert sechs Jahre, umfasst normalerweise die Gruppe der 6- bis 12-Jährigen und wird mit dem Grundschulabschluss (First School Leaving Certificate) beendet. Daran schließt die dreijährige Sekundarstufe I (junior secondary education) an, die mit dem Basic Education Certificate abgeschlossen wird. Seitdem 1999 das Programm der universellen Grundbildung (Universal Basic Education, UBE) eingeführt wurde, besteht für diese ersten neun Jahre eine Schulpflicht, wobei der Schulbesuch kostenlos ist. Seit 2013 ist zudem der einjährige Besuch der Vorschule verpflichtend. Allerdings bleibt die Realität deutlich hinter dem gesetzlichen Anspruch einer umfassenden und verpflichtenden Bildung zurück. Schätzungen zu Folge (2011) bekommen 10,1 Millionen Nigerianer keine formale Bildung und 26% beenden nicht die Grundschule (United Nations Economic Commission for Africa 2017, S. 22–23). Die Besuchsquote der Primarschulen ist seit 2005 von 84,8% auf 57,4% im Jahr 2014 gefallen, wohingegen die Besuchsquote von Sekundarschulen bei etwa 35% stagniert (ibid.) und im Bereich der tertiären Bildung bei 16,7% lag. Infolge der geringen Grundbildung waren 2012 nur 61% der männlichen und 41% der weiblichen Bevölkerung in der Lage zu lesen und zu schreiben. Im Vergleich von urbanen und ländlichen Gebieten liegen die entsprechenden Kennziffern bei ersteren höher.

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Abb. 3 : Struktur des Bildungssystems in Nigeria

Quelle: Eigene Darstellung nach Nuffic (2017). Layout: DLR Projektträger.

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Allerdings verweist die UNESCO in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle von Privatschulen in der Bildungserbringung: „Die Verbreitung von Privatschulen, vor allem in Großstädten und städtischen Peripherien, wird in Diskussionen über Bildung häufig unterschätzt oder nicht berücksichtigt. Deren Zunahme in urbanen Peripherien wird häufig nicht von öffentlichen Statistiken erfasst und deshalb kaum wahrgenommen. Der Privatschul-Zensus 2010/11 im nigerianischen Bundesstaat Lagos ergab, dass über 85% der Vorschüler und 60% der Grundschüler Privatschulen besuchten“ (Deutsche UNESCO Kommission 2016, S. 19). Die Umsetzung der UBE hat vor allem von Seiten nigerianischer Beobachter viel Kritik erfahren, insbesondere im Hinblick auf die schlechte Wirksamkeit des Gesetzes, unklare Zuständigkeiten sowie die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems (Adediran 2015; Aluede 2006; Odia und Omofonmwan 2018). Im Anschluss an die neunjährige Schulpflicht besteht für die Lernenden die Wahl zwischen der allgemeinbildenden Senior Secondary Education und der berufsschulischen Secondary Vocational Education an einem Technical College, die entweder mit dem National Technical Certificate (NTC) oder dem National Business Certificate (NBC) abgeschlossen wird. Dieser höhere Sekundarbereich umfasst in der Regel drei Jahre. Sowohl das NTC als auch das NBC sind erste berufsqualifizierende Abschlüsse und werden von der nationalen Prüfungsbehörde, dem National Business and Technical Examination Board (NABTEB) ausgestellt, welches auch die Prüfungen abnimmt. Im Anschluss an den Erwerb von NTC oder NBC haben Absolventen mit mindestens zwei Jahren Berufserfahrung die Möglichkeit in einjährigen Programmen entweder das Advanced National Technical Certificate (ANTC) oder das Advanced National Business Certificate (ANBC) zu erwerben. Auch hier werden die Prüfungen von dem NABTEB durchgeführt, das die Zertifikate vergibt. Darüber hinaus besteht für Abgänger der unteren Sekundarstufe die Möglichkeit, bei privaten Vocational Enterprise Institutions (VEIs) oder Innovative Enterprise Institutions (IEIs) berufsfachliche Kompetenzen zu erwerben. Die VEIs und IEIs sind relativ junge Institutionen, die erst im Jahr

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2007 ihre Arbeit aufgenommen haben, durch die Privatwirtschaft unterstützt werden und berufsfachlich organisiert sind (UNESCO-UNEVOC 2015, S. 7). Nach den bisher skizzierten Stufen des Bildungssystems (6+3+3) folgt der Hochschulbereich, der in der Regel 3 Jahre umfasst. Für den Bereich der höheren technischen und fachlichen Bildung wurden in den 1960er und 1970er Jahren zehn Polytechnika (Polytechnics) in verschiedenen Landesteilen gegründet, deren Anzahl bis Januar 2014 auf 75 Institutionen angewachsen ist (Akanbi 2017, S. 5). Lernende können dort nach zwei Jahren ein National Diploma und – nach einem Nachweis über ein zusätzliches Jahr berufspraktischer Erfahrung - das Higher National Diploma erwerben. Auch die Lehrerbildung liegt im Hochschulbereich. Die Lehrerausbildung erfolgt üblicherweise entweder an Colleges of Education, Technical Teacher’s Colleges oder an Universitäten durch einen Bachelor-Abschluss, gefolgt von einem einjährigen Postgraduate Diploma of Education. Um an Sekundarschulen unterrichten zu dürfen benötigen Lehrkräfte entweder jenes Diplom oder einen Bachelor of Education. 165 Für den Aufbau des Bildungssystems ist bemerkenswert, dass keine Durchlässigkeit von berufsfachlichen Schulen und Colleges in die universitäre Bildung vorgesehen ist, da diese einen allgemeinbildenden Schulabschluss der Sekundarstufe 2 voraussetzt. Auch für den Eintritt in die Polytechnics muss dieser Abschluss vorhanden sein. In Ermangelung der Option des Bildungsübergangs zur Hochschule genießt die Berufsausbildung – wie auch in anderen Ländern ohne Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung – traditionell einen geringeren gesellschaftlichen und politischen Stellenwert als die universitäre Hochschulbildung (Akanbi 2017; Okoye und Arimonu 2016). Das Ungleichgewicht zwischen allgemeinbildenden und berufsfachlichen Angeboten spiegelt sich auch in der Verteilung der Lernenden wieder. Obwohl die National Policy on Education (NPE) einen Verteilungsschlüssel 165

Für eine Übersicht der registrierten Berufsbildungsinstitutionen siehe: https://www.nbte.gov.ng/institutions.html

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zwischen allgemeinbildendenden und berufsfachlichen Schulen von 3:1 vorsieht, verfügt Nigeria über 5.100 allgemeinbildende Sekundarschulen mit knapp 4,5 Millionen Schülern, denen nur 169 Technical Colleges mit 44.000 Schülern gegenüberstehen, was Verhältnisse von 37:1 und 102:1 ergibt (Odukoya et al. 2018, S. 3). Laut Regierungsangaben besuchten durchschnittlich nur etwa 2,5% aller Schüler berufsfachliche Schulen, obwohl das Regierungsziel eigentlich bei 20% Besuchsquote lag (Federal Ministry of Education 2009). Im Jahr 2014 waren landesweit insgesamt 366 Institutionen im Bereich der beruflichen Bildung akkreditiert, einschließlich der beruflichen Institutionen aus dem Hochschulbereich: 75 Polytechnics mit 225.171 Lernenden; 31 Colleges of Agriculture, 13 Colleges of Health Sciences, 18 weitere berufsfachliche Colleges mit 19.923 Lernenden; 80 IEIs und 55 VEIs mit 3.589 Lernenden sowie 94 Technical Colleges mit 90.038 Lernenden (Akanbi 2017, S. 5). Insgesamt kann konstatiert werden, dass die Angebote im Bereich der Berufsausbildung bei weitem hinter den anvisierten politischen Zielen zurückbleiben. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Autorengruppe der Weltbank, die mittelfristig von einem ungedeckten fünffachen Bedarf an Berufsausbildungskapazitäten ausgehen (Favara et al. 2015: xii). Zudem wurde jüngst durch den Direktor des National Board of Technical Education öffentlich gemacht, dass sich auch aktuell die Anzahl der Lernenden an den Technical Colleges verringert hat.166 Ob die Pläne, einen nationalen Qualifikationsrahmen einzuführen, daran etwas verändern können, ist derzeit nicht absehbar. Allerdings kann festgehalten werden, dass die berufliche Bildung im Vergleich zur allgemeinen Bildung von bisherigen Regierungen vergleichsweise stiefmütterlich behandelt worden ist (Okoye und Arimonu 2016). Als weitere Herausforderungen können auch mangelnde Finanzierung, eine schlechte Infrastruktur und Lehrmittelausstattung sowie der Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal angeführt werden (siehe Akanbi 2017; Ayonmike et al. 2015).

166

https://www.vanguardngr.com/2018/03/number-nigerians-technical-colleges-reducing-nbte/ [Letzter Zugriff am 08.05.2018]

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Neben dem formalen Berufsbildungssystem gibt es auch im Bereich der nicht-formalen beruflichen Bildung einige Initiativen. Zu nennen wäre hier beispielsweise das National Open Apprenticeship Scheme des National Directorate of Employment (NDE), in dem sich arbeitslose Jugendliche registrieren lassen können, um Praxiserfahrungen und einfache Berufsfertigkeiten zu erwerben. Die Jugendlichen werden anschließend Firmen, Ministerien und Handwerkern vermittelt, die angemessene Ausbildungskapazitäten nachweisen können. Diese Vermittlung kann über einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestehen und wird turnusmäßig durch Dienstleistungen des NDE unterstützt, die dazu dienen, die Performanz und das Verhalten der Auszubildenden zu evaluieren. Ein weiteres Beispiel, das vor allem im Kontext großer Bildungsungleichheiten zwischen Stadt und Land genannt werden kann, ist das School on Wheels Scheme des NDE. Hier fahren mobile, in LKWs eingebaute Ausbildungseinrichtungen in benachteiligte und entlegene ländliche Gebiete, um Jugendlichen Fähigkeiten zur persönlichen Entwicklung zu vermitteln und die Entwicklung ländlicher Gemeinschaften zu fördern. 2.2

Gesetzliche Grundlagen, Verantwortlichkeiten und Akteure

2.2.1 Gesetzliche Grundlagen Der gesetzliche Rahmen des nigerianischen Berufsbildungssystems ist im Wesentlichen auf die schulische Berufsausbildung ausgerichtet. Die maßgebliche Basis für die Grundzüge der gesamten Bildungspolitik ist die National Policy on Education, die zuerst 1977 verabschiedet und zuletzt 2013 reformiert wurde (Federal Republic of Nigeria 2013). Das Gesetz regelt die Zuständigkeiten sowie die bildungspolitischen Prioritäten für alle Bereiche des nigerianischen Bildungssystems. Die Bildungsgesetzgebung wird durch eine Reihe weiterer Dekrete komplettiert. Im Hinblick auf die berufliche Bildung sind einige dieser Dekrete relevant. So wurde durch das Dekret 9 im Jahr 1977 das National Board for Technical Education (NBTE) als Institution geschaffen, die im nigerianischen

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Berufsbildungssystem die zentrale Koordinierungsrolle einnimmt. Im Jahr 1991 folgte durch Dekret 17 die Einrichtung der National Commission for Mass Literacy, Adult and Non-formal Education, die zwischen verschiedenen Ministerien Politiken zur Verringerung der Analphabetenrate koordiniert. Mit dem Dekret Nummer 16 (in Verbindung mit der neuen Verfassung von 1991) wurde dem Bildungsministerium die Aufgabe übertragen, die Minimalstandards der Ausbildung in allen Schulen des Föderalstaats festzulegen, aufrechtzuerhalten und zu verbessern. Durch dieses Dekret wurde die Verantwortlichkeit für Minimalstandards im Bereich der berufsfachlichen Ausbildungseinrichtungen überdies der NBTE zugesprochen. Im gesetzlichen Rahmen fehlt bislang allerdings eine Grundlage für die Kooperation zwischen Arbeitgebern und Bildungseinrichtungen im Bereich der Berufsausbildung 2.2.2 Verantwortlichkeiten Hinsichtlich der Verantwortlichkeiten in der Bildungs- und Berufsbildungspolitik Nigerias ist der föderale Staatsaufbau zu berücksichtigen, durch den die zentral- und gliedstaatliche sowie lokale Kompetenzverteilung beeinflusst wird, da Bildung nach der Verfassung von 1999 grundsätzlich in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung fällt (Adediran 2015). Den gliedstaatlichen Regierungen steht somit also grundsätzlich offen, Gesetze in der Bildungspolitik dort zu erlassen, wo es keine nationalstaatliche Gesetzgebung gibt, was einen potentiellen Ansatzpunkt für Berufsbildungsinnovationen darstellen könnte. Die zentrale Zuständigkeit für die nationale Bildungspolitik hat das Federal Ministry of Education (FME) inne. Es bündelt dabei die nationalen Zuständigkeiten für die Politikentwicklung, die Entwicklung des nationalen Curriculums, Schulinspektionen, Prüfungen und die Verwaltungen derjenigen Schulen und Bildungseinrichtungen (etwa föderale Universitäten, Polytechnics sowie nationale Colleges), die dem nationalen Ministerium unterstellt sind. Darüber hinaus hat das Ministerium die Aufgabe, die Bil-

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dungspolitiken und Richtlinien der Gliedstaaten mittelbar zu harmonisieren. Diese Aufgaben betreffen prinzipiell alle schulischen Bildungsbereiche sowie die Universitäten. Dabei wird das Ministerium für die Politikkoordinierung zwischen der nationalen und gliedstaatlichen Ebene durch den National Council of Education (NCE) unterstützt, dem der nationale Bildungsminister sowie die 36 State Commissioners of Education (Staatskommissare für Bildung, i.e. Regierungsrepräsentanten der Regionen) angehören. Der NCE wird auf der administrativen und konsultativen Ebene durch das Joint Consultative Committee on Education (Gemeinsamer Beratungsausschuss für Bildung) beraten, das sich aus allen nationalen und gliedstaatlichen Bildungsdirektoren, den Chief Executive Officers der staatlich verfassten Bildungsinstitutionen sowie Direktoren der universitären Bildungsinstitutionen, zusammensetzt. Die jeweiligen Bildungsbereiche werden von weiteren Organen abgebildet, denen vor allem Verwaltungsaufgaben zukommen: die National Primary Education Commission (NPEC) für den Primarschulbereich, die National Secondary Education Commission (NSEC) für den Sekundarschulbereich, die National Universities Commission (NUC) für den Bereich der Hochschulen sowie die National Mass Literacy, Adult and Non-Formal Education Commission (NMEC) für den Bereich der nicht-formalen Bildung. Im Vergleich zu den zentralstaatlichen Aufgaben kommt den 36 gliedstaatlichen Regierungen und Verwaltungen vor allem die Aufgabe zu, für ihre jeweiligen Regionen die Bildungsangebote in allen Bildungsbereichen vorzuhalten und diese, sofern nötig, auf lokale Bedarfe abzustimmen. Hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen wird von einigen Beobachtern kritisch angemerkt, dass sich Reform- und Umsetzungsprozesse in der Bildungspolitik teils schwierig und langwierig gestalten (Moja 2000; Perryman und Perryman J. 2017). Im Bereich der beruflichen und technischen Bildung ist das 1977 gegründete National Board for Technical Education (NBTE) das zentrale nationalstaatliche Organ, das dem nationalen Bildungsministerium direkt unterstellt ist. Das NBTE ist prinzipiell verantwortlich für alle Bereiche der

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technischen und beruflichen Bildung unterhalb der universitären Einrichtungen. Neben der Zuständigkeit, Rahmenlehrpläne und Curricula zu erstellen, kommt dem NBTE auch die Aufgabe der Registrierung und Aufsicht der Bildungseinrichtungen und Kurse auf sekundärer und postsekundärer Ebene zu, d.h. den Polytechnika, Technical Colleges sowie den IEIs und VIEs. Zudem ist das NBTE an der Finanzierung der Polytechnics beteiligt, die dem Nationalstaat unterstehen (NBTE 2018). In seinen Funktionen innerhalb der Berufsbildung wird das NBTE von zwei wesentlichen Institutionen unterstützt. Das National Business and Technical Examination Board (NABTEB) ist zuständig für die Zertifizierung und Prüfung der Abschlüsse an den beruflichen Colleges. Der Teachers’ Registration Council of Nigeria (TRCN) zertifiziert die Inhalte und Institutionen der Lehrerausbildung und ist seit 2007 für die verpflichtende Registrierung aller geprüften Lehrkräfte des Landes zuständig. 2.2.3 Akteure Im Hinblick auf weitere Akteure im Feld der Berufsausbildung bleibt zunächst festzuhalten, dass es auf der nationalstaatlichen Ebene keine gesetzliche Grundlage für duale Ausbildungsangebote gibt. Der nigerianische Zentralstaat ist folglich in diesem Bereich als eher schwach einzustufen. Dies gilt auch, obwohl das NBTE im Jahre 2015 ein Department of Vocational, Technical and Skills Development (VT&SD) eingerichtet hat, das für die Koordinierung der Entwicklung beruflicher Kompetenzen im formellen und informellen Sektor der nigerianischen Wirtschaft zuständig ist und durch die Einbeziehung von Partnern aus dem wirtschaftlichen Privatsektor und der Industrie die Ausbildungskapazitäten des Landes erhöhen soll. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass es in Nigeria seit 1971 den Industrial Training Fund (ITF) gibt, der für die Koordinierung und Verwaltung einer Ausbildungsumlage von einem% der Bruttolohnsumme zuständig ist, der Betriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern unterlie-

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gen (Industrial Training Fund 2018). Von ihren Abgaben können Unternehmen 50% zurückerhalten, sofern sie die Vorhaltung von berufs- und weiterbildenden Maßnahmen für ihre Belegschaft dokumentieren können. Von den restlichen Mitteln werden Verwaltungskosten bestritten sowie Ausbildungsangebote in beruflichen Ausbildungszentren unterstützt. Die Mittel reichen allerdings bei weitem nicht für den Ausbau einer qualitativ hochwertigen Ausbildung aus, so dass vor allem die staatlichen Ausbildungszentren und Colleges finanziell schlecht ausgestattet sind und mit veraltetem Lehr- und Lernmaterial arbeiten müssen (vgl. Owiawe et al. 2017). Seit 2010 arbeitet Nigeria, in der Absicht sein Berufsbildungssystem zu verbessern, an einem nationalen Qualifikationsrahmen, für dessen Entwicklung das NBTE ein National Steering Committee on National Vocational Qualifications Framework eingesetzt hat, dass sich aus den Vertretern verschiedener Ministerien, ministerialer Abteilungen sowie Industrievertretern zusammensetzt (vgl. NBTE 2011). Die Aufgabe des Komitees ist die Entwicklung eines nationalen Qualifikationsrahmens. Dieser soll vor allem Kompetenzniveaus und deren Beschreibung, die Qualitätssicherung von Qualifikationen, Vorgaben zur Registrierung von Ausbildungszentren sowie eine rechtliche Grundlage für die Einbeziehung betrieblicher Ausbildungsangebote umfassen. Das Komitee hat 2011 einen ersten Entwurf für ein National Vocational Qualifications Framework (NVQF) vorgelegt, der sechs Qualifikationsstufen vorsieht. Allerdings dauerte es bis zum Februar 2018, bis die Einführung des NVQF von der Regierung bestätigt wurde (The Guardian 2018, vgl.), was wiederum die Langwierigkeit der Reformprozesse der nigerianischen Berufsbildung verdeutlicht. Die Einbeziehung der Sozialpartner erfolgt im Allgemeinen eher partiell und ist auf der regionalen Ebene stärker ausgeprägt. So ist etwa das Lagos State Technical and Vocational Education Board (LASTVEB) ein Beispiel für einen solchen Ansatz, indem Unternehmen in den fachlichen Unterricht Beispiele aus der Praxis einbringen. Hier wird bei der Entwicklung der Berufsausbildung insbesondere auch mit FESTO Didactics zusammengearbeitet (vgl. Lagos State Technical and Vocational Education Board 2018).

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Darüber hinaus gibt es auch weitere punktuelle Initiativen zum Ausbau der Kooperation zwischen wirtschaftlichen und staatlichen Akteuren bei der Weiterentwicklung der Berufsausbildung im Allgemeinen, und bei der Entwicklung dualer Ansätze im Speziellen. Im informellen Sektor spielen die Klein- und Kleinstbetriebe bzw. die Mastercraft Persons eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung der Jugendlichen. Versuche des Staates, regulierend in das System einzugreifen mit dem Ziel, die Qualität der Ausbildung zu erhöhen, haben bisher kaum Früchte getragen (Adams et al. 2013, 191ff; vgl. Haan 2006, S. 186). 2.3

Problemstellung, Lösungsansätze und Projektinitiativen

2.3.1 Schwächen und Handlungsbedarfe im Berufsbildungssystem Dem nigerianischen Berufsbildungssystem werden vielfältige und schwerwiegende Schwächen attestiert, beispielsweise in einem 2015 von der Weltbank veröffentlichtem Bericht (vgl. Favara et al. 2015). Darunter sind insbesondere zu nennen: • Komplexität des Systems, gepaart mit unklaren Verantwortlichkeiten • Vielfältige Finanzierungsquellen ohne klare Rechenschaftspflichten • Unvollständiges nationales Zertifizierungssystem, das weder mit den Bedarfen der formellen Wirtschaft noch mit den Qualifikationsanforderungen im informellen Sektor übereinstimmt • Mangelnde Qualitätssicherung der Assessments, die zu einer Abwertung der Zertifikate führt, auch bei internationalen Abschlüssen wie City & Guilds. • Mangelnde Aufnahmekapazitäten in der Berufsbildung auf sekundärer und tertiärer Stufe • Geringer Zugang zur Berufsbildung auf sekundärer und tertiärer Stufe im Verhältnis zu den Bedarfen am Arbeitsmarkt

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• Gender gap in technologischen und naturwissenschaftlichen Fächern • Regionale Disparitäten bei den Zugangsmöglichkeiten zur Berufsbildung • Mangelnde Qualität der beruflichen Bildung • Schlechte Lernergebnisse bei Absolventen der Sekundarschulen • Mangelnde Qualifikation des Lehr- und Ausbildungspersonals und schlechte Ausstattung der Lernorte • Fehlende Arbeitsmarktinformationen und lückenhafte, nicht immer aktuelle statistische Daten zu Bildung, Arbeitsmärkten usw. • Hoher Bedarf an entrepreneurship skills, gekoppelt mit finanziellen Unterstützungsinstrumenten zur Existenzgründung. Das Beispiel des Ausbildungszentrums des Industrial Training Fund in Ikeja, Lagos, lässt die Herausforderungen und Bedarfe erkennen, mit denen Berufsbildungseinrichtungen konfrontiert sind.167 Die Ausstattung der Werkstätten ist antiquiert, die Arbeitssicherheit ist nicht gewährleistet und Stromausfälle stören trotz der hauseigenen Stromaggregate die Abläufe. Es gibt immer wieder Bemühungen des Ausbildungszentrums, Partnerschaften mit Betrieben und internationalen Gebern zu etablieren, mit dem Ziel, die finanzielle Ausstattung der Einrichtung zu verbessern und attraktive Angebote zu entwickeln. Der sehr häufige politisch bedingte Wechsel des Leitungspersonals stellt jedoch ein Hindernis für die Qualitätsentwicklung der Ausbildungsangebote dar. Die obengenannten Mängel werden von nigerianischen Berufsbildungsforschern in der Literatur bestätigt (Ayonmike et al. 2015; Okoye und Arimonu 2016). Zugleich bleiben politische Reformen weit hinter den Handlungsempfehlungen lokaler wie internationaler Experten zurück.

167

Fallstudie mit Interviews und Vor-Ort-Besuch am 25.01.2018.

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2.3.2 Lösungsansätze und Projektinitiativen Insgesamt manifestieren sich die Schwächen des nigerianischen Berufsbildungssystems zum einen im quantitativen Missverhältnis zwischen angebotenen und nachgefragten Qualifikationen („skills gap“) und zum anderen in schwierigen Übergängen in den Arbeitsmarkt aufgrund der mangelhaften Vorbereitung der Absolventen auf die Anforderungen am Arbeitsplatz. Lösungsansätze und Projektinitiativen Vor dem Hintergrund des mangelnden Engagements auf staatlicher Ebene sind in Nigeria die Unternehmen der formalen Wirtschaft zunehmend gefordert, eigene Lösungen für die Qualifizierung von Fachkräften zu entwickeln. So gibt es beispielsweise eine Initiative der Öl- und Gasindustrie, über den Petroleum Technology Development Fund, Aktivitäten im Bereich Human Resource Development branchenweit zu koordinieren und die Ausbildung von Fachkräften durch Stipendien und Partnerschaften mit Bildungsinstitutionen zu fördern168. Ein weiteres Beispiel für privatwirtschaftliches Engagement in der Berufsbildung ist die Initiative des Möbelbauers Alfamero Ltd., das den eigenen Nachwuchs ausbildet, aber darüber hinaus auch zunehmend Trainings für externe Teilnehmer gegen Bezahlung anbietet. Auf Ebene der Bundesländer wird auch manchen Regierungen ein politischer Reformwille im Bereich der Berufsbildung attestiert, wie Ogun State, Plateau State, Lagos, Abuja FCT. Zahlreiche regionale Programme bieten unter anderem Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für bestimmte Zielgruppen wie Jugendliche, Frauen, Klein- und Kleinstunternehmer des informellen Sektors usw. an (vgl. zum Beispiel die Übersicht der Programme in: Nigerian Institute of Social and Economic Research (NISER) Ibadan 2009).

168

Siehe dazu auch https://ptdf.gov.ng/2018/04/17/human-resource-an-imperative-forthe-growth-and-development-of-the-oil-and-gas-sector/ [Letzter Zugriff am 20.04.2018]

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Unter den privatwirtschaftlich initiierten Projekten zur Fachkräfteausbildung und -weiterbildung können mehrere Initiativen identifiziert werden, die einen dualen Ansatz verfolgen.169 So arbeitet beispielsweise die Federation of Construction Industries (FOCI) seit ca. drei Jahren daran, ein Berufsbildungszentrum (BBZ) für Handwerkerberufe im Bausektor zu etablieren. Bislang werden die Fachkräfte von den einzelnen Betrieben „on the job“ qualifiziert oder es werden Fachkräfte aus Nachbarländern eingestellt sowie in Nachbarländern ausgebildet. Im Rahmen der Konzeptionsphase haben Vertreter der FOCI die Praxis der betrieblichen bzw. dualen Ausbildung in Deutschland und in Brasilien sowie in Don Bosco Zentren in Afrika systematisch untersucht. Die Finanzierung der Ausbildung, einschließlich des schulischen Teils, soll durch die Betriebe erfolgen, die auch Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen und die Auszubildenden entlohnen, und die im Gegenzug bei der Rekrutierung der Absolventen privilegiert werden. Die Ausbildungsdauer soll ca. 12-18 Monate betragen und die Curricula orientieren sich, mit den nötigen Anpassungen, an deutschen Ausbildungsordnungen. Ein weiteres Beispiel für eine Initiative der Wirtschaft zur Einführung kooperativer Berufsbildungsansätze in Nigeria ist das Berufsbildungszentrum ETIWA Vocational Training Ltd in Lagos, das ebenfalls Aus- und Weiterbildungen im Baubereich anbietet. Die Trainingswerkstätten sind nach internationalen Standards eingerichtet und es werden auch international zertifizierte Kurzzeittrainings angeboten. Für junge Frauen gibt es darüber hinaus durch Sponsoren finanzierte 18-monatige Ausbildungsprogramme. Diese verbinden das Lernen im Berufsbildungszentrum mit dem Lernen am Arbeitsplatz und richten sich vornehmlich an Absolventinnen einschlägiger Ausbildungsgänge an einem Polytechnical College. Die gesamte Einrichtung wird eigenständig von den Unternehmen finanziert, die ihre Angestellten zu Weiterbildungen und Anpassungsfortbildungen zu ETIWA schicken. Eine wesentliche Herausforderung liegt in der geringen

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Die folgenden Darstellungen beruhen auf den am 24.01.2018 durchgeführten Interviews mit Projektvertretern in Lagos.

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Auslastung der Einrichtung. Da die angebotenen Trainings für Privatpersonen zu kostenintensiv sind, sucht die Leitung nach passenden staatlichen und kreditbasierten Finanzierungskonzepten. Weitere Projekte, die einen dualen Ansatz verfolgen, finden auch mit deutscher Beteiligung statt. Seit 2012 und voraussichtlich bis Dezember 2018 finanziert das Bundesministerium für internationale Zusammenarbeit (BMZ) das Projekt Dual Vocational Training (DVT).170 Dieses wird durch die Sequa GmbH und der IHK Gießen-Friedberg umgesetzt, in Partnerschaft mit fünf nigerianischen Organisationen in Lagos, Abuja und Ogun State: Lagos Chamber of Commerce and Industry (LCCI), Nigerian-German Business Association (NGBA), Ogun Chambers of Commerce and Industry, Mines and Agriculture (OGUNCCIMA)und Abuja Chamber of Commerce and Industry (ACCI). Die Ausbildungen finden in fünf Berufen statt und dauern ein Jahr: Industrial Electronic, Industrial Mechanic, Technical Facility Management und Office Administration. Die Lehrlinge haben einen Arbeitsvertrag und werden von den Betrieben bezahlt. Der schulische Teil der Ausbildung (ca. 30% des Curriculums) und die Ausbildung der Ausbilder werden aktuell vom BMZ finanziert. Ungewissheiten bezüglich einer Anschlussfinanzierung gefährden jedoch das Projekt. Perspektivisch sollten der Staat und die Betriebe die Finanzierung gemeinsam stemmen, jedoch scheint dies mittelfristig nicht wahrscheinlich. Das DVT-Projekt veranschaulicht auch die besonderen Strategien, die Akteure im Umgang mit föderalen Behörden entwickeln. Da sich diese sehr passiv verhielten, aber durchaus das Potenzial hätten, Projekte zu verhindern, seien sie immer formal zu beteiligen und kontinuierlich zu informieren, auch wenn alternative Lösungen bevorzugt würden, um Abläufe zu beschleunigen. So bekommen die Absolventen im DVT-Projekt ein Zertifikat der AHK. Das National Board for Technical Education (NBTE) ist 170

Siehe auch https://www.giessen-friedberg.ihk.de/Geschaeftsbereiche/International/Laender_Maerkte/Berufsbildungspartnerschaft_Nigeria/1827884 [Letzter Zugriff am 20.04.2018]

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involviert, verhält sich aber sehr passiv. Die Abschlüsse beruhen nicht auf nationalen Standards. Die Berufsbildungszentren sollen akkreditiert werden, jedoch ist dieser Prozess langwierig. Trotz der Beteiligung staatlicher Instanzen besteht eine große Herausforderung in der Verknüpfung des Projekts mit dem formellen Berufsbildungssystem. Die schwierigen politischen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen erschweren nicht nur die Anknüpfung von Berufsbildungsprojekten an das formale Berufsbildungssystem, sondern können unter Umständen auch die Existenz solcher Projekte in Frage stellen. So ist eine weitere Initiative mit deutscher Beteiligung zur Gründung eines Ausbildungszentrums in Port Harcourt aufgrund der Sicherheitslage im Bundesstaat Rivers momentan unterbrochen. Das „Port Harcourt Technical and Vocational Centre“ war im Februar 2017 eröffnet worden und sollte zunächst 120 Schüler in vier Berufen ausbilden. Das Bildungszentrum wurde von der ZWH im Auftrag des Ministry of Education des Bundesstaates Rivers aufgebaut, um Elemente der dualen Ausbildung für Nigeria anzupassen und einzuführen171.

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Herausforderungen

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Das Potenzial für Kooperationen auf Systemebene ist in Nigeria zur Zeit stark eingeschränkt, da es aktuell keine großen Bestrebungen zur Reform des Berufsbildungssystems auf nationaler Ebene gibt und die fragmentierten, teilweise durch Korruption geschwächten Strukturen eine Zusammenarbeit zwischen dem Staat, der Wirtschaft und den Sozialpartnern erschweren.

171

vgl. https://zwh.de/zwh-bildungszentrum-in-nigeria-eroeffnet/ [Letzter Zugriff am 29.04.2018]

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Nigerianische und ausländische Unternehmen haben einen hohen Fachkräftebedarf, der vom staatlichen Berufsbildungssystem nicht gedeckt wird. Sie qualifizieren ihr Personal daher mehrheitlich eigenständig, wobei betriebliche Anforderungen im Vordergrund stehen. Damit ist eine gewisse Bereitschaft der Wirtschaft zu erkennen, sich finanziell an der Berufsbildung zu beteiligen. Das private Berufsbildungszentrum ETIWA baut auf diese Bereitschaft, um im Rahmen eines Corporate Social ResponsibilityProgramms die Unternehmen soweit an der Finanzierung von beruflichen Erstausbildungen zu beteiligen, dass der Mangel an staatlicher Finanzierung kompensiert wird. Auch die Initiative von FOCI zeigt, dass sich langsam ein Bewusstseinswandel bei den Unternehmen hinsichtlich ihrer Rolle bei der Finanzierung beruflicher Ausbildung vollzieht. Bei der Finanzierung von Bildungsinfrastrukturen besteht jedoch eine Lücke und es fehlen weitgehend die Strukturen, die eine gemeinsame Finanzierung institutionalisieren könnten. Die durch den Industrial Training Fund (ITF) verwaltete Ausbildungsumlage reicht nicht aus, um eine qualitativ hochwertige Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Ein weiterer Ansatz institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen dem Staat und der Wirtschaft sind die nach britischem Modell gegründeten Sector Skills Councils, die nationale Ausbildungsstandard entwickeln und valideren. Über deren Effekte auf eine bessere Passung zwischen Curricula und Arbeitsmarktanforderungen ist noch wenig bekannt. Insgesamt könnten im Falle Nigerias zur Einführung dualer Ansätze dezentral ein oder mehrere Beschäftigungssektoren identifiziert werden, in denen Projekte gezielt gefördert würden (z.B. Baugewerbe, Förderung und Verarbeitung von Öl, Kälte und Klimatechnik, Gastgewerbe/Hotellerie, Landwirtschaft). Wie oben erwähnt sollte hier die Verflechtung formeller und informeller Wirtschaft beachtet werden (z.B. Anerkennung informell erworbener Kompetenzen, Entrepreneurship usw.).

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Lernen im Arbeitsprozess In Nigeria ist die Bereitschaft der Wirtschaft in Ausbildung zu investieren vergleichsweise hoch. Bisher erfolgte die Ausbildung jedoch, von der informellen Lehrlingsausbildung abgesehen, vollzeitschulisch, teils mit zeitlich begrenzten Praktika in Firmen und insgesamt nur gering auf die Bedarfe des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Eine ‚Dualisierung‘ der Ausbildung über zeitlich begrenzte Praktika hinaus wird dadurch erschwert, dass es z.B. für die Ausbildungsgänge des ITF keine Ausbildungsordnungen für Betriebe gibt und Betriebe in der Regel kein qualifiziertes Ausbildungspersonal haben; den Status eines ‚Auszubildenden‘, der langfristig in einem Betrieb lernt, gibt es bisher nicht (s.u.). Weiterhin mangelt es an einer Koordination der verschiedenen Ausbildungsinitiativen aus der Wirtschaft (nigerianische Verbände, ETIWA, deutsche Unternehmen), die nebeneinander her existieren. Möglicherweise hätte ein Format ‚Verbundausbildung‘ das Potenzial die verschiedenen bereits existierenden Initiativen zusammenzubringen. Akzeptanz von nationalen Standards Bisher gibt es keine rechtlichen Grundlagen, die den Status „Auszubildende(r)“ in Unternehmen vorsehen oder regeln. Hier besteht Beratungsbedarf zur Entwicklung entsprechender Regularien, der an die Erfahrungen des DVT-Projekts anknüpfen kann. Die Zertifizierung von Qualifikationen erfolgt teilweise durch externe Dienstleister (bspw. City and Guilds). Jedoch ist nicht verlässlich, dass die Zertifikatsbesitzer auch wirklich das können, was zertifiziert wurde. Andererseits wurden die Qualifikationen, die im DVT-Projekt erlangt werden, bisher nicht national anerkannt.172

172

Interview mit Mitarbeitern des DVT-Projektes in Lagos, 24.01.2018.

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Hier besteht Beratungsbedarf für die Entwicklung eines Zertifizierungsansatzes und einer Aufwertung des Prüfungswesens durch Partizipation von Vertretern aus der Praxis des jeweiligen Beschäftigungssektors. Für staatliche Qualifikationen der technischen und beruflichen Bildung sind das National Board for Technical Education (NTE) und das National Business and Technical Examination Board (NABTEB) zuständig, jedoch sind die Standards bisher nicht am Arbeitsmarkt orientiert. Inwieweit die aktuell neu gegründeten Sector Skills Councils hier zu einer größeren Akzeptanz und Arbeitsmarktorientierung der Qualifikationsstandards und Curricula führen werden, bleibt abzuwarten. Auch die Wirkungen des im Februar 2018 verabschiedeten National Vocational Qualifications Framework (NVQF) können wegen des geringen zeitlichen Abstandes noch nicht eingeschätzt werden. Qualifiziertes Berufsbildungspersonal Bisher gibt es noch keine kritische Masse an Ausbildern in Betrieben, die Ausbildungsordnungen – sofern vorhanden – umsetzen und Auszubildende oder auch Praktikanten adäquat betreuen könnten. Eine systematische und standardisierte Ausbildung von Ausbildern gibt es noch nicht. Abgesehen davon führen ITF und ETIWA sowie das Projekt DVT jeweils eigene Qualifizierungsprogramme für die Lehrkräfte ihrer Ausbildungszentren durch. Einheitliche Standards gibt es bisher nicht. Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Der Aufbau von Forschungskapazitäten zählt zu den grundlegenden Handlungsbedarfen für die Reform der Berufsbildung in Nigeria, neben der Etablierung einer regelmäßigen Berufsbildungsberichterstattung und der Schaffung von adäquaten Formaten der Publikation von Daten und Forschungsergebnissen zum Nutzen von Politik und Wirtschaft. Insbesondere werden Verbleibstudien (tracer studies) zur Aufwertung des Images der Berufsbildung benötigt, sowie Arbeitsmarktforschung, um belastbare Daten für die Planung und die Curriculumentwicklung zu generieren und pädagogische Forschung, um die Qualität der Ausbildung weiterzubringen.

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Anmerkung Der vorliegende Sondierungsbericht zu Nigeria wurde auf Basis der im Zeitraum 23.1.2018 bis 26.1.2018 in Lagos geführten Gespräche und durchgeführten Besuche angefertigt. Die so gewonnenen Kenntnisse wurden mit weiteren Primär- und Sekundärquellen trianguliert, um ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen und insbesondere die abschließenden Handlungsempfehlungen zu untermauern. Die Analyse dieser weiteren Quellen betrifft in erster Linie den Landeskontext, genauer die aktuelle geopolitische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und (berufs-)bildungspolitische Lage und Entwicklung (Abschnitte 2 und 3). Damit wird der nationale Kontext erschlossen und die Anschlussfähigkeit unserer Aussagen gewährleistet. Für die Organisation des Workshops, der Gespräche und der Besuche möchten wir Dr. Marc Lucassen und Kehinde Stephen Awoyele von der AHK Lagos herzlich danken. Es wurden Gespräche geführt mit Vertretern der Wirtschaft und nigerianischer Berufsbildungsinstitutionen im Rahmen

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des AHK-Workshops, sowie mit Vertretern folgender Institutionen (in der Reihenfolge der geführten Gespräche) Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ), AHK Nigeria, Generalkonsulat der BRD in Lagos, ETIWA Vocational College und Industrial Skills Training Centre vom Industrial Training Fund.

Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika – Quo vadis duale Berufsbildung? Dietmar Frommberger, Janis Vossiek und Larissa Holle

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Einleitung

Die Länderstudien dieses Bandes zeigen die vielfältigen Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten dualer Berufsbildungsansätze in ausgewählten Staaten Lateinamerikas (Brasilien, Costa Rica, Kolumbien) und Sub-Sahara Afrikas (Botswana, Ghana, Kenia, Namibia, Nigeria). Dieser, den Band abschließende, Beitrag ist eine selektive Zusammenfassung ausgewählter Länderbefunde der acht vorangegangenen Fallstudien, um exemplarisch die dortigen Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten dualer Berufsbildungsansätze aufzuzeigen. Darauf aufbauend werden zum Ende des Beitrags Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der international-vergleichenden Berufsbildungsforschung diskutiert. Im Fokus des Beitrags steht die Frage, inwieweit sich in den acht Ländern Annäherungen an zentrale Merkmale kollektiver oder kooperativer Berufsbildungssysteme (Greinert 2005, Busemeyer & Trampusch 2012, Frommberger & Baumann 2016, Pilz 2016) identifizieren lassen. In diesem Beitrag wird nicht der Frage nachgegangen, inwiefern der Transfer von dualen Berufsbildungssystemen – im Sinne von Gesamtsystemen – möglich wäre oder tatsächlich erfolgt (siehe dazu auch kritisch Euler 2013). Vielmehr geht es um die Frage, welche graduellen Entwicklungen hin zu dualen Berufsbildungsstrukturen sich in den Fällen finden lassen. Denn Berufsbildungssysteme verändern sich in der Regel nicht radikal, sondern eher inkrementell.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2_10

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Grundsätzlich und für jedes Land ist zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Berufsbildungsansätze (dual, schulisch, einzelbetrieblich) nebeneinander existieren, die meist sehr unabhängig voneinander funktionieren. Zudem gibt es auch innerhalb der verschiedenen Länder unterschiedliche Entwicklungsansätze und -fortschritte im Hinblick auf duale Ansätze. Und häufig bleiben Veränderungsansätze auf bestimmte Regionen oder Branchen beschränkt. Um die oben genannte Fragestellung für die verschiedenen Länder systematisch bearbeiten zu können, sind typische Merkmale entwickelter dualer bzw. kooperativer Berufsbildungssysteme hilfreich, an denen die Entwicklungen und Herausforderungen festgemacht werden können. Für die Analysen in den betrachteten Ländern sind dieselben typischen Merkmale verwendet worden, um Vergleiche zu ermöglichen: • Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat, • Lernen im Arbeitsprozess, • Akzeptanz von nationalen Standards, • Qualifiziertes Berufsbildungspersonal,

• Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung. Diese Merkmale stammen aus der deutschen Berufsbildungszusammenarbeit und sollen die Grundlage für die internationale Kooperation und Beratung durch deutsche Akteure in den jeweiligen Partnerländern darstellen. Es handelt sich um berufsbildungspolitisch initiierte Kriterien bzw. Setzungen. Auf politischer Ebene unterhält das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Kooperationen mit zahlreichen Partnerländern, mit denen Reformvorhaben in den jeweiligen Berufsbildungssystemen unterstützt werden sollen. Im Rahmen dieser deutschen Berufsbildungszusammenarbeit wurden in einem ressortübergreifenden Strategiepapier der Bundesregierung für eine „Berufsbildungszusammenarbeit aus

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einer Hand“ von Juli 2013 (Deutscher Bundestag, 2013) die oben genannten Merkmale dargelegt und als „Kernprinzipien“ bezeichnet.173 Diese Merkmale bzw. Kernprinzipen dienten der Analyse in den betrachteten Ländern dieses Bandes, da es sich um wissenschaftliche Untersuchungen handelt, die durch das BMBF im Rahmen einer Förderrichtlinie finanziert worden sind.174 Insofern sind die Untersuchungsergebnisse in den Ländern und auch diese abschließenden Betrachtungen sehr stark durch diese Kernprinzipien beeinflusst und verzerrt. Wir werden in den abschließenden Reflexionen im vorliegenden Beitrag die hieraus resultierenden wissenschaftlichen Schlussfolgerungen diskutieren. Die fünf Kernprinzipien dienen hier also der Identifizierung positiver Beispiele für die Unterstützung dualer Berufsbildungsansätze oder der Probleme des Aufbaus dualer Ansätze. Die Auswahl der exemplarischen Beispiele zu den Entwicklungsmöglichkeiten und Herausforderungen dualer Berufsbildung in den acht Ländern wurde dabei von den Autoren175 der jeweiligen Fallstudien getroffen.176

173

174 175

176

Mit der Strategie der Bundesregierung zur internationalen Berufsbildungszusammenarbeit vom Mai 2019 wurden die Bezeichnungen der fünf Kernprinzipien teils leicht angepasst. Siehe dazu auch: https://www.bmbf.de/files/137_19_Strategie_Bundesregierung.pdf Förderrichtlinie „Internationalisierung der Berufsbildung“, Forschungsprojekt BU01BE17013A. Für eine bessere Lesbarkeit werden im Text einheitlich männliche Bezeichnungen verwendet, andere Genderausprägungen sind dabei eingeschlossen, sofern kein expliziter Verweis auf eine spezifische Genderbezeichnung gegeben wird. Die Grundlage der in den nächsten Abschnitten folgenden Beispielen bilden die jeweiligen Länderstudien aus diesem Buch, aus denen auch die Quellenangaben und weiterführende Informationen hervorgehen. Die beschriebenen Beispiele beziehen sich auf den Stand der entsprechenden Länderstudien und wurden nachfolgend nicht mehr auf neuere Entwicklungen geprüft.

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Vergleichende Befunde zu dualen Strukturansätzen in der Berufsbildung Lateinamerikas und Subsahara-Afrikas

Die nächsten Abschnitte präsentieren vergleichende Befunde zu dualen Strukturansätzen der Berufsbildung für die lateinamerikanischen und afrikanischen Länderfälle des Bandes. Zunächst wird jeweils eines der fünf Kernprinzipien der deutschen Berufsbildungszusammenarbeit anhand einer Kurzbeschreibung eingeführt. Nachfolgend werden ausgewählte, zu diesem Prinzip korrespondierenden Befunde aus den Ländern vorgestellt. 2.1

Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat

2.1.1 Kurzbeschreibung des Kernprinzips aus deutscher Perspektive Die Bestimmung der Rahmenbedingungen der Berufsbildung in Deutschland, die in den Gültigkeitsbereich des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung fällt, obliegt der gemeinsamen Verantwortung von Staat, den Kammerorganisationen und Gewerkschaften. Gemeinsam koordinieren sie die betrieblichen Anteile der dualen Berufsbildung und stellen sicher, dass die beteiligten Institutionen und Akteure gemäß ihrer Kompetenzen und Verantwortungsbereiche im Berufsbildungsdialog eingebunden sind. Dabei kooperieren die Institutionen und Akteure sowohl auf nationaler als auch regionaler und lokaler Ebene. Der konstitutive Stellenwert der „Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat“ (Deutscher Bundestag, 2013) als eines der fünf Kernelemente dualer Berufsausbildung wird insbesondere durch die Präsenz der unterschiedlichen Beteiligten in wichtigen Gremien deutlich: • Hauptausschuss und der Ständige Ausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB);

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• Landesausschüsse für Berufsbildung; • Berufsbildungsausschüsse der Zuständigen Stellen; • Prüfungsausschüsse für die beruflichen Zwischen- und Abschlussprüfungen. Durch die Beteiligungen an den Entscheidungsprozessen können die unterschiedlichen Interessen Berücksichtigung finden. Die ausdifferenzierte Rollenverteilung in der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kollektiven Akteuren trägt wesentlich zu der Praxisrelevanz beruflicher Bildung, der Mobilität von Absolventen und damit zu der breiten Akzeptanz in Wirtschaft und Bevölkerung bei.

2.1.2 Ausgewählte Länderbefunde zur Zusammenarbeit zwischen Sozialpartnern, Wirtschaftsorganisationen und Staat Die Kooperation zwischen Unternehmens- und Arbeitnehmerverbänden und staatlichen Akteuren hat wichtige Implikationen nur für die Steuerung des Berufsbildungssystems, konkret durch die Setzung von curricularen Standards, Zertifizierungsbedingungen, Kooperationen von Lernorten oder nicht zuletzt für die Finanzierung der beruflichen Bildung. Anhand der Länderfälle lassen sich einige Beispiele finden, die exemplarisch für eine Stärkung dieser Kooperation auf nationaler Ebene stehen, jedoch auch die Herausforderungen verdeutlichen. Hier kann zunächst die Einführung eines nationalen Runden Tisches für Berufsbildung auf nationaler Ebene in Costa Rica im März 2017 genannt werden, der als Dialogforum zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebervertretern und der Regierung begonnen hat und zum Zeitpunkt des Abschlusses der Länderstudie eine von allen beteiligten Akteuren akzeptierte Dialogplattform darstellte, jedoch ohne formale politische Befugnisse. Nicht zuletzt aufgrund der Diskussionen und Arbeitsergebnisse des Runden Tisches wurde 2018 beschlossen, die gemeinsam angestrebten Ziele für eine Berufsbildungsreform zu formalisieren. Dies mündete unter anderem in

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dem Beschluss, in Costa Rica ein duales System beruflicher Erstausbildung einzuführen sowie Maßnahmen für die einzelnen beteiligten Akteure festzulegen, um die Entwicklungsschritte bei der praktischen Umsetzung des Modells zu planen. Allerdings zeigt das Beispiel des Runden Tisches in Costa Rica auch, dass eine Formalisierung auf Kooperationsebene nicht zwangsläufig auch zu einer Verständigung bei Interessendifferenzen der beteiligten Partner führt. So konnten sich etwa die Sozialpartner weder bezüglich der Entlohnung noch der vertraglichen Absicherung von Auszubildenden im Unternehmen einigen. Überdies ist die Repräsentation der Arbeitnehmerseite nicht vollständig, da hier beteiligte Gewerkschaften in der Regel Lehrkräfte repräsentieren und nicht die Arbeitnehmer oder Auszubildenden aus den Betrieben bzw. beruflichen Bildungsgängen. Dass die Einbeziehung von Unternehmen und Gewerkschaften durch den Staat auch auf sektoraler Ebene erfolgen kann, zeigen etwa die Beispiele Botswana und Ghana in Form von Ausschüssen für Berufsbildung: In Botswana wurden 2013 im Zuge der Schaffung des Human Resource Development Councils (HRDC) auch sogenannte Sector Human Resource Development Committees (SHRDCs) geschaffen, die sektorale Personalentwicklungspläne ausarbeiten sollen, um die Vernetzung zwischen Ausbildung und Privatwirtschaft zu stärken. Diese SHRDCs bilden möglicherweise eine wichtige Neuerung, da sie neben Vertretungen der Regierung auch Mitglieder von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Berufsverbänden und zivilgesellschaftliche Akteure umfassen, wohingegen die Steuerung des Berufsbildungssystems in Botswana ansonsten stark staatlich dominiert wird. Allerdings sehen die rechtlichen Grundlagen bisher keine Beteiligung der SHRDCs bei der Entwicklung von Ausbildungsinhalten vor und die bisher von ihnen erstellten Personalentwicklungspläne deuten auf Kapazitätsprobleme bei der Erfassung von Ausbildungsbedarfen sowie Arbeitsmarktinformationen hin. In Ghana, das durch ein institutionell stark zersplittertes Berufsbildungssystem gekennzeichnet ist, stellt der Council for Technical and Vocational Education and Training (COTVET) den Versuch dar, Zuständigkeiten für Berufsbildung auf staatlicher Seite zu bündeln, wobei hier nicht-staatliche

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Akteure in der Minderheit, aber dennoch repräsentiert sind. Eine stärkere Einbeziehung nicht-staatlicher Interessenvertreter erfolgt in den ghanaischen Sector Skills Councils (SSCs), deren Mitglieder Berufsverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, wirtschaftliche Netzwerke, die informelle Wirtschaft sowie einige Ministerien repräsentieren. Allerdings ist bezüglich der SSCs bisher unklar, wie wichtig die Rolle von Arbeitgeberund Arbeitnehmervertretungen bei der Weiterentwicklung der dualen Berufsbildung sein kann: Da sie formal COTVET unterstehen, das beim Bildungsministerium als eher schulnaher Einrichtung angesiedelt ist, müssen mögliche Akzeptanzprobleme auf Seiten der Wirtschaftsakteure verringert werden. Das Beispiel Kolumbien hingegen zeigt, dass die Einbeziehung von Sozialpartnern und insbesondere von Gewerkschaften auch strukturelle Grenzen hat, die in der Verfasstheit der politischen Ökonomie eines Landes begründet sein können. So haben im Rahmen der Steuerung des kolumbianischen Berufsbildungssystems sogenannte Sektorgruppen, denen auch Gewerkschaften angehören, zwar konsultative Aufgaben bei der Weiterentwicklung der Berufsbildung. In der Praxis ist ihr Einfluss jedoch gering, da sie nicht regelmäßig tagen. Bei weitem wichtiger für den geringen Einfluss von Arbeitnehmern in der Berufsbildung sind dort jedoch strukturelle Faktoren: So haben Gewerkschaften einen äußerst niedrigen Organisationsgrad und kämpften teils an der Seite der kolumbianischen Guerillafraktionen, so dass sie in der politischen Steuerung des Landes inklusive der Berufsbildung kaum eine Rolle spielen. 2.2

Lernen im Arbeitsprozess

2.2.1 Kurzbeschreibung des Kernprinzips aus deutscher Perspektive Eine zentrale Voraussetzung für das systematische Lernen im Arbeitsprozess ist die Einbeziehung von Ausbildungsbetrieben in die organisierte und standardisierte Form der Berufsbildung. Daran anschließend ist es erfor-

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derlich, die täglichen Arbeitsprozesse im Ausbildungsbetrieb mit geplanten Lernprozessen für die Auszubildenden zu verbinden. In der Realisierung dieser beiden Schritte liegt auch für etablierte duale Berufsbildungssysteme eine große Herausforderung. Zum einen ist die Entwicklung der betrieblichen Ausbildungsbereitschaft im Zusammenhang mit standardisierten Formen der Berufsbildung schwierig. Zum anderen liegen in der Einbindung der Auszubildenden in reale Arbeitsprozesse eine große Herausforderung für die Sicherung der Qualität der Lernprozesse. Für die Entwicklung von dualen Berufsbildungssystemen liegt in der systematischen und standardisierten Einbeziehung betrieblicher Lernorte und in der dortigen Planung gehaltvoller Lernprozesse, die über das Lernen „by the way“ hinausgehen, die wohl größte Herausforderung (vgl. Frommberger 2017). Anzumerken ist, dass das Lernen im Arbeitsprozess quasi immer stattfindet, es im Rahmen der Weiterentwicklung der Berufsbildung jedoch vor allem darum geht, diese kontinuierlichen informellen Lernprozesse inhaltlich zu standardisieren, gehaltvoll in der Ausbildungspraxis umzusetzen und schließlich mit systematischen Prüfungs- und Zertifizierungsvorgängen zu verknüpfen. Das Lernen im Prozess der Arbeit wird in Deutschland durch betriebliche Ausbildungsordnungen reguliert. Die betrieblichen Ausbildungsordnungen dienen der Mindeststandardisierung der Lernprozesse in den Arbeitsprozessen, und zwar in Bezug auf die Lerngegenstände und die intendierte Kompetenzentwicklung der Auszubildenden. Die Umsetzung dieser Sollvorgaben in der betrieblichen Ausbildungsrealität erfolgt jedoch sehr unterschiedlich. Es gibt Ausbildungsbetriebe, die weit über diese Mindeststandards hinaus ausbilden. Andere Ausbildungsbetriebe wollen oder können diese Mindeststandards nicht erfüllen. Es besteht in diesen Fällen die Möglichkeit für die Ausbildungsbetriebe in Deutschland, die Auszubildenden in Überbetriebliche Ausbildungsstätten (ÜBS) zu senden, damit sie dort die erforderlichen Mindestbestandteile der Ausbildung absolvieren können. Diese Überbetrieblichen Ausbildungsstätten können auch als der dritte Lernort in der dualen Berufsausbildung verstanden werden, ohne welchen viele Ausbildungsbetriebe nicht in der Lage wären, vollständig

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auf der Basis der Ausbildungsordnungen auszubilden. Grundsätzlich obliegt den Kammerorganisationen gemäß Berufsbildungsgesetz die Aufgabe, die Qualität der innerbetrieblichen Ausbildungsprozesse, also das Lernen im Arbeitsprozess, zu überprüfen. Dieser Auftrag des Gesetzgebers wird dort in den Kammerorganisationen in der Regel durch betriebliche Ausbildungsberater/-innen wahrgenommen. Seit den 1980er Jahren hat die systematische Organisation des Lernens am Arbeitsplatz im deutschen Fachdiskurs stark an Bedeutung gewonnen. Anlass hierfür waren vor allem die Lehrlingsproteste, mit denen deutlich wurde, wie schlecht die betriebliche Ausbildungsrealität war. Es sind verschiedene Formen, darunter bspw. der Qualitätszirkel, die Lernwerkstatt oder die Lerninsel, entwickelt worden (Georg, 1996). Auch selbstständige Formen von Lernen im Arbeitsprozess gewannen zunehmend an Bedeutung (vgl. BIBB, 2008; Wittwer & Kirchhof, 2003). Durch die Gestaltung der Arbeitsumgebung ist es möglich, die Lernintensität anzuregen und somit eine Verbesserung der Selbstlern- bzw. Methodenkompetenz der Lernenden zu erzielen (Arnold et al., 2016). Die Lernenden können grundsätzlich von der Tatsache profitieren, dass Lernprozesse in der Ernstsituation stattfinden und in reale Arbeitstätigkeiten eingebunden sind. Zugleich liegt die besondere Herausforderung darin, die Qualität dieser praxis- und anforderungsbezogenen Kompetenzentwicklungsschritte zu gewährleisten. Empirische Untersuchungen zur Qualität beruflicher Bildung in Deutschland zeigen immer wieder, wie wichtig diese Qualitätssicherung ist. Auch die Gründe für Ausbildungsabbrüche sind häufig in der betrieblichen Ausbildungsrealität zu finden. 2.2.2 Ausgewählte Länderbefunde zum Lernen im Arbeitsprozess Die Länderstudien des Bandes zeigen eine große Spannweite verschiedener Ansätze, das Lernen im Arbeitsprozess zu stärken und den Betrieb als Lernort zu institutionalisieren, was – wie oben ausgeführt – selbst in dualen Berufsbildungssystemen eine Herausforderung darstellt.

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Die für das betriebliche Lernen relevanten Strukturen und gesetzlichen Grundlagen variieren in den untersuchten Ländern sehr stark und reichen von informellen Anlernprozessen im Kontext der stark auftragsgebundenen täglichen Arbeiten im Rahmen von informal apprenticeships bis zu didaktisch organisierten Lehr-Lern-Arrangements in oder neben der Arbeit im Betrieb. Zum Beispiel sind auch große Unterschiede zum rechtlichen Status der Lernenden im Betrieb zu finden, der von Praktikanten über Arbeitnehmer bis zu Auszubildenden reicht. Dabei ist anzumerken, dass die etablierten öffentlichen Angebote der Berufsbildung – vom Sonderfall des brasilianischen S-Systems abgesehen – überwiegend vollzeitschulischer Art sind und die inhaltlichen und rechtlichen Standardisierungen nicht unter Beteiligung der Wirtschaft erfolgen. Daher ist die Bereitschaft von Firmen, sich an diesen Angeboten zu beteiligen, häufig vergleichsweise gering ist. So besteht etwa in Kolumbien seitens der Unternehmen ein grundsätzliches Interesse am Ausbau dualer Strukturen, allerdings beteiligten sich dort an entsprechenden Programmen 2016 nur acht Unternehmen. Auch in Kenia sind Betriebe nur in Einzelfällen systematisch eingebunden, etwa im Rahmen von internationalen Kooperationsprojekten oder bei größeren ausländischen Unternehmen, die auf eigene Initiative qualifizieren und sich an Initiativen zur Entwicklung dualer Ansätze beteiligen. In der Regel ist der Erfahrungserwerb im Betrieb dort nur in der Form von Praktika möglich. Hierfür existieren jedoch keine weiteren Regelungen oder gar gesetzliche Grundlagen zum Zwecke der Institutionalisierung des betrieblichen Lernorts. Ähnlich ist der Status quo in Nigeria, wo das systematische und organisierte Lernen im Arbeitsprozess in Ermangelung eines rechtlichen Rahmens ebenfalls nur in Einzelfällen stattfindet. Allerdings lassen sich in den untersuchten Ländern auch Beispiele finden, die darauf abzielen, den betrieblichen Lernort zu stärken. So wurden in Namibia seit 2017 duale Ausbildungsmodelle gefördert, zu denen die Arbeitgeber in Form einer Ausbildungsumlage finanziell beitragen. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass das traditionelle betriebliche Apprentice-

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ship-System seit 1990 (nach der Loslösung und Unabhängigkeit von Südafrika) abgeschafft und durch ein schulbasiertes Berufsausbildungssystem ersetzt worden war. Allerdings sind die Möglichkeiten des systematischen Lernens im Betrieb bisher noch eingeschränkt, da viele Betriebe keine Plätze zur Vertiefung der in Berufsschulen erworbenen praktischen Kenntnisse zur Verfügung stellen. Der Fall Ghana zeigt, wie das Problem der mangelnden Ausbildungsbereitschaft der Betriebe durch die schrittweise Modernisierung eines bestehenden informellen Apprenticeship-Systems gelingen kann. Eine weit verbreitete Form der Berufsbildung in Ghana ist die traditionelle Lehrlingsausbildung, die in Klein- und Kleinstbetrieben des informellen Sektors stattfindet. Diese Form der Ausbildung findet selbstorganisiert abseits staatlicher Regulierungen statt. Im Rahmen des Cooperative Apprenticeship Training System (CAT) werden nun für eine zunehmende Zahl an Berufen und Regionen Ausbildungspläne, eine Weiterbildung für die betrieblichen Ausbilder, Kursmodule an Berufsschulen und standardisierte Prüfverfahren entwickelt. Die systematische Einbindung der Trade Associations aus dem informellen Sektor, die traditionell auch im informellen Apprenticeship eine wichtige Rolle spielen, trägt erheblich zur Akzeptanz des CAT bei den Betrieben und damit zum Erfolg dieses Ansatzes bei. Die Ausweitung des CAT bis zur Verdrängung der traditionellen Form der Lehrlingsausbildung ist jedoch nicht in Sicht. Die chronische Unterfinanzierung des Berufsbildungssystems begrenzt die Wirksamkeit der Reformen und lässt Raum für vielfältige private Berufsbildungsangebote, deren praxisbezogene Ausbildungsanteile in Betrieben kaum reguliert sind. Im Vergleich der analysierten Länder stellt das brasilianische S-System einen Sonderfall dar. Es erfolgt eine ausgeprägte Einbeziehung von Firmen in die Planung und Durchführung beruflicher Bildung. Dieses System wird von den Arbeitgeberverbänden in den verschiedenen Wirtschaftssektoren getragen und hat im brasilianischen Aus- und Weiterbildungssystem die meisten Teilnehmer. Die den verschiedenen Wirtschaftssektoren angehörenden Unternehmen finanzieren das System durch eine Ausbildungsum-

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lage und aufgrund der starken institutionellen Rolle von Wirtschaftsverbänden bei der Steuerung des S-Systems ergibt sich eine hohe mittelbare Beteiligung der Unternehmen an der Berufsbildung. Allerdings ist das Lernen im Prozess der Arbeit auch in diesem System ausbaufähig: So muss laut den gesetzlichen Grundlagen die praktische Arbeit der Auszubildenden begleitet und systematisch geplant werden, allerdings geschieht dies in der Praxis nur selten. Die Befunde der entsprechenden Fallstudie zeigen, dass für die praktische Ausbildungskomponente keine systematischen Ausbildungspläne oder detaillierte Aufgabenbeschreibungen für betriebliches Ausbildungspersonal existieren, die das Lernen im Arbeitsprozess stärker unterstützen könnten. Zudem stellen die Angebote der beruflichen Erstausbildung mit betrieblicher Beteiligung im Sinne eines Apprenticeshipformats nur einen geringen Anteil der Angebote des S-Systems dar. Es dominieren die Kurzkurse für Arbeitnehmer und betriebsinterne Fort- und Weiterbildungen. Dieser Fall zeigt, dass sich auch dort, wo die Wirtschaft systematisch in die Aus- und Weiterbildung eingebunden ist, nicht zwangsläufig ein zahlenmäßig großes Angebot dualer Erstausbildungen entwickeln muss, selbst wenn das betriebliche Lernen in Brasilien im Vergleich zu den anderen Länderfällen stark institutionalisiert ist. 2.3

Akzeptanz von nationalen Standards

2.3.1 Kurzbeschreibung des Kernprinzips aus deutscher Perspektive Aus der deutschen Sicht sind mit den „nationalen Standards“ gesetzliche Regelungen und gesetzlich abgeleitete Verordnungen gemeint, die der inhaltlichen Mindestqualitätssicherung der betrieblichen Berufsbildung dienen sollen, zum Beispiel über Ausbildungsverordnungen. Die Wirksamkeit solcher Standards ist im hohen Maße abhängig von der Akzeptanz, in diesem Fall von der Akzeptanz durch die Ausbildungsbetriebe. Diese Akzeptanz der angezielten Kompetenzen, Ausbildungsinhalte, Ausbildungszeiten, Abschlussprüfungen etc. ist dort geringer, wo die betrieblichen Interessenvertretungen an der Entwicklung dieser Standards nicht systematisch beteiligt werden.

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Ebenso ist von großer Bedeutung, wie umfangreich diese Standards für die betriebliche Berufsausbildung sind und inwieweit sie die direkten Qualifizierungsbedarfe abdecken. Als besonders schwierig stellen sich sehr umfängliche und breit angelegte Ausbildungsberufsbilder heraus, die zum Teil weit über die unmittelbaren einzelbetrieblichen Qualifizierungsbedarfe hinausgehen. Die Einführung von Ausbildungsberufsbildern nach deutschem Vorbild sind international meist wenig erfolgversprechend und gelten aufgrund ihrer relativ ausgeprägten Regulierungsdichte häufig als nicht umsetzbar. Erfolgreicher sind in der Regel stärker bedarfsgerechte Qualifizierungsbausteine und Zertifikate, die Stück für Stück, lernergebnisorientiert und mit größerer Flexibilität absolviert werden können. Anders als von deutscher Seite häufig verstanden, können diese Modularisierungsansätze ebenfalls der Standardisierung betrieblicher Qualifizierungspraktiken dienen, insbesondere dort, wo es diese Standardisierungsansätze bislang nicht gab. Doch auch grundsätzlich sind international sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Blick auf die Rolle und Funktion gesetzlicher und gesetzesähnlicher Ordnungsmittel zu machen. Der Regulierungsanspruch, dass dort, wo es Gesetze und Verordnungen gibt, diese auch umgesetzt werden, trifft auf kulturspezifische Unterschiede. 2.3.2 Ausgewählte Länderbefunde zur Akzeptanz von nationalen Standards Die Entwicklung von nationalen Standards zum Zwecke der inhaltlichen Profilierung und Regulierung der gewünschten beruflichen Ausbildungsprozesse, der durchzuführenden Kompetenzerfassung sowie der Vergabe von Zertifikaten und Abschlüssen ist eine zentrale Strategie für den Aufbau und die Weiterentwicklung von Qualifizierungs- und Berufsbildungssystemen. Eine besondere Zwecksetzung liegt zudem in der Herstellung von Transparenz und Vergleichbarkeit für die Anbieter und Nachfrager im Feld der beruflichen Bildung. Der Blick auf die Geschichte etablierter Berufsbildungssysteme bestätigt die hohe Bedeutung dieses Standardisierungsansatzes für die Entwicklung beruflicher Bildungsstrukturen, insbesondere unter Einbeziehung des Lernortes Betrieb (vgl. Frommberger 2017).

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Auch in den untersuchten Ländern spielt die Entwicklung von nationalen Standards eine sehr große Rolle. Neben der Entwicklung von breiteren gesetzlichen Grundlagen für die Berufsbildung dominieren in diesem Zusammenhang zwei Ansätze, die in unterschiedlichen Ausprägungen in allen betrachteten Ländern zu finden sind. Es handelt sich um den Nationalen Qualifikationsrahmen (NQR) sowie um den Ansatz des Competency-based Education and Training (CBET) (vgl. hierzu ausführlich Frommberger 2004; 2013). In den in diesem Band betrachteten Fällen sind CBET und Nationale Qualifikationsrahmen vor allem in afrikanischen Staaten stark ausgeprägt – alle fünf untersuchten, wohlgemerkt englischsprachigen Länder hatten bereits ein CBET System sowie Nationale Qualifikationsrahmen eingeführt, während diese Ansätze in den lateinamerikanischen Fällen geringer ausgeprägt zu finden sind. Generell ist anzumerken, dass die didaktisch-curriculare Standardisierung von beruflichen Kompetenzen und Lerninhalten in den untersuchten Ländern dadurch geprägt ist, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Programme und Angebote für ähnliche Ausbildungsberufe oder Berufsfelder gibt. So gab es beispielsweise im vergleichsweise bevölkerungsarmen Costa Rica sehr viele verschiedene Programme beruflicher Bildung, die untereinander nur wenig abgestimmt waren und somit für Firmen und Auszubildende wenig transparent und inhaltlich nur schwer einzuschätzen sind. Ähnlich verhält es sich auch in den Fällen Nigeria und Ghana, deren Angebote durch eine große Anzahl disparater Ausbildungskurse, Abschlüsse und Zertifikate vor allem privater Bildungsträger geprägt ist. Die Herausforderung liegt insbesondere in der Einbindung dieser Abschlüsse in einen öffentlich-rechtlich regulierten Rahmen der beruflichen Bildung, der für Transparenz, Akzeptanz und Anerkennung sorgen könnte. Durch die Ansätze NQR und CBET wird diese Rahmensetzung angestrebt. Der Ansatz eines Nationalen Qualifikationsrahmens dient in einigen Bildungs- und Berufsbildungssystemen insbesondere der Herstellung von Transparenz. Und auch mit CBET ist diese Funktion verbunden. Die häufig sehr kleinteiligen Module des CBET-Ansatzes dienen als Referenz für

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berufliche Qualifikationen und Kompetenzen, die als besondere relevant erachtet werden. Damit soll eine Standardisierung der Qualifizierungsprozesse sowie der Zertifizierungsprozesse erfolgen. Doch die Umsetzung und Durchsetzung dieser Ansätze ist sehr schwierig und benötigt sehr viel Zeit und Kapazitäten. Zudem sind es häufig privatwirtschaftliche Interessen auf dem beruflichen Bildungsmarkt, die eine Überführung dieser Ansätze in einen landesweiten Systemansatz erschweren. Der Fall Namibia ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine spezifische Einführung des CBET-Ansatzes, der eigentlich auf eine Standardisierung und damit eine Qualitätssteigerung des Berufsbildungsangebots abzielte, hinter diesem Versprechen zurückbleibt. So wurden die Lehr- und Lernzeiten in den namibischen Vocational Training Colleges schrittweise dadurch reduziert, dass die Umsetzung des CBET-Ansatzes zu einer massiven Ausdehnung der Assessments und Prüfungszeiten führte: Die Prüfungen müssen von einer Lehrkraft einer anderen Berufsschule gemeinsam mit einem Industrievertreter, der in der Regel ein privater Consultant ist, abgenommen werden, so dass diese Lehrkräfte ihren eigenen Berufsschulen für den Prüfungszeitraum nicht zur Verfügung stehen. Für jede der vier angebotenen Stufen der Berufsschule (Jahre 1 bis 4 der Berufsschulzeit) sind neun Wochen Prüfungszeit veranschlagt, in denen ausschließlich geprüft wird und kein regulärer Unterricht stattfindet. Zudem erfolgt die Entwicklung beruflicher Standards in Namibia häufig unter der Mitarbeit von internationalen Beratern (Consultants), die die Umsetzung von CBET empfehlen, da die staatlichen und verbandlichen Kapazitäten im Bereich der Curriculumentwicklung noch ausbaufähig sind. Gleichzeitig wäre die Einbeziehung der organisierten Wirtschaft allerdings ein wichtiger Faktor zur Entwicklung werthaltiger Angebote und auch der Erhöhung der Akzeptanz von Standards. Der Fall Namibia zeigt, dass sich die im Rahmen von CBET entwickelten Ausbildungsstandards nicht an beruflichen Arbeitsprozessen und Handlungsbezügen orientieren und den Status quo der Infrastruktur (v.a. Ausstattung mit Lern- und Lehrmaterialien) wenig berücksichtigen. Letzteres zeigt, dass die Qualität von Standards ebenso ein Problem sein kann wie die Akzeptanz von Standards.

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Auch die Umsetzung des Qualifikationsrahmens ist mit spezifischen Herausforderungen verbunden. So dürfen die Lehrenden nur in Angeboten lehren, die im NQR unterhalb ihrer eigenen Qualifikationsstufe liegen. Da viele der derzeitigen Lehrkräfte allerdings über eine Qualifizierung verfügen, die maximal der Stufe 3 des NQR entspricht, ist der Unterricht bisher auf Stufe 3 und höher nicht flächendeckend zu gewährleisten. Das Beispiel der Einführung eines nationalen Qualifikationsrahmens in Botswana zeigt überdies, dass Reformen, die eigentlich zur Standardisierung und Qualitätssteigerung der Berufsbildung konzipiert sind, auch nicht-intendierte Effekte haben können. So hat die Einführung der Botswana Qualifications Authority (BQA) und die Reform des Nationalen Qualifikationsrahmens letztlich dazu geführt, dass angebotsseitig eine große Lücke entstanden ist, da alle Kurse neu bei der BQA zu registrieren waren – dazu fehlte es allerdings sowohl an Experten zur Entwicklung neuer Curricula als auch an klaren Zuständigkeiten für die Entwicklung neuer Kurse zwischen staatlichen und parastaatlichen Institutionen. Somit hat die unkoordinierte Abstimmung zwischen der Registrierung neuer Kurse sowie der inhaltlichen Entwicklung dieser Kurse dazu geführt, dass sich das botswanische Berufsbildungssystem zumindest kurzfristig in einer Paralyse befand. 2.4

Qualifizierung von Berufsbildungspersonal

2.4.1 Kurzbeschreibung des Kernprinzips aus deutscher Perspektive Das vierte Kernelement dualer Berufsausbildung aus deutscher Sicht stellt die „Qualifizierung von Berufsbildungspersonal“ dar. Fachlich sowie pädagogisch professionell qualifiziertes Lehrpersonal (insbesondere Ausbilderinnen und Ausbilder in den Ausbildungsbetrieben sowie Lehrkräfte an den berufsbildenden Schulen) stellen die Grundvoraussetzung dar, um eine qualitativ hochwertige Berufsbildung gewährleisten zu können. Die akademische Professionalisierung von Lehrkräften hat daher einen ebenso hohen Stellenwert für die deutsche Berufsbildungszusammenarbeit wie ein

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funktionierendes Berufsbildungsmanagement zur Steuerung und Bewertung von Lehr- und Lernprozessen. Im Mittelpunkt von Ansätzen, die auf die Qualifizierung des beruflichen Bildungspersonals zielen, stehen in der Regel fachwissenschaftliche und berufsfachliche Inhalte (Vertiefung bzw. Studium einer akademischen Fachrichtung und/oder berufsfachliche bzw. betriebliche Erfahrungen) sowie berufspädagogisch Kompetenzen und Erfahrungen. Doch aufgrund der geringen Bedeutung und Anerkennung der betrieblichen Ausbildungstätigkeiten und der sehr heterogenen Zusammensetzung der beruflichen Lehrkräfte stellt die Umsetzung von einheitlichen Standards eine große Herausforderung dar. 2.4.2 Ausgewählte Länderbefunde zur Qualifizierung des Berufsbildungspersonals Die Qualifikationsanforderungen für das berufliche Bildungspersonal sind international sehr verschiedenartig ausgeprägt und die Normierungen eher gering. Dies betrifft die betriebliche Ausbildungstätigkeit und die beruflichen Lehrkräfte gleichermaßen. Die Attraktivität der Tätigkeiten des beruflichen Bildungspersonals ist häufig niedrig, bspw. auf Grund der geringen Honorierung und/oder angesichts mangelnder Weiterentwicklungsund Aufstiegsmöglichkeiten im Rahmen dieser Tätigkeit. Die Länderstudien des Bandes zeigen, dass die Qualifizierung des Berufsbildungspersonals häufig ausbaufähig ist. So kommen beispielsweise die Lehrkräfte an staatlichen Berufsschulen häufig aus allgemeinen pädagogischen oder erziehungswissenschaftlichen Studiengängen oder haben nur einen Anteil berufsfachlicher Inhalte absolviert. Überdies ist die Qualifizierung des betrieblichen Ausbildungspersonals gegenüber der Qualifizierung des schulischen Lehrpersonals vergleichsweise gering entwickelt. Für die Entwicklung des Lehrpersonals für die berufsbildenden Schulen ist es nicht unüblich, dass an ein Fachstudium ein kurzzeitiges Programm in allgemeiner Pädagogik absolviert wird, das etwa in Botswana und Namibia

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(bislang) nur ein Jahr dauert und nicht auf die Berufspädagogik ausgerichtet ist. Ähnliche Strukturen finden sich auch in Kolumbien, Brasilien und Nigeria sowie Costa Rica, wo Lehrkräfte der technischen und beruflichen Sekundarschulen des Bildungsministeriums in der Regel über ein Lehramtsstudium an einer Universität verfügen, allerdings nur in geringem Maße auf praktische, eigene Erfahrungen im jeweiligen Berufsfeld zurückgreifen können. Allerdings entwickelt im Costaricanischen Berufsbildungssystem das Instituto Nacional de Apredindizaje (INA), das Ausbildungen für den Produktionssektor anbietet, seit seiner Gründung im Jahr 1965 eigenes Ausbildungspersonal für seine überbetrieblichen Ausbildungszentren. Hier werden regelmäßig ausgebildete Fachkräfte aus bestimmten Berufen rekrutiert, die vorher nicht unbedingt eine Hochschulausbildung absolviert haben, und zu INA-Instruktoren weitergebildet. Diese Lehrkräfte dürfen dann aber anschließend nicht in den beruflichen Sekundarschulen des Bildungsministeriums unterrichten, im Gegenzug können aber für die Sekundarschulen ausgebildete Lehrkräfte auch in den INA-Ausbildungszentren arbeiten. Eine Harmonisierung der Qualifikationsanforderungen für Lehrkräfte in beruflichen Sekundarschulen und für das Ausbildungspersonal des INA könnte möglicherweise den Personalaustausch von Lehrpersonal erleichtern und somit dem Personalmangel an qualifizierten Lehrkräften in Costa Rica entgegenwirken. Das Beispiel Kenia zeigt eine weitere interessante Facette der Qualifizierung beruflichen Lehrpersonals. Dort hat das Kenya Technical Trainers College (KTTC) als Hochschule das Monopol für die Qualifizierung des beruflichen Bildungspersonals und bildet in verschiedenen Fachbereichen technische Lehrer (technical teacher) oder Ausbilder (instructor) aus und fort. Während dies einerseits ein Bildungsangebot für berufliche Lehrkräfte nach nationalen Standards absichert, könnte das Monopol des KTTC jedoch bei der anvisierten und im Aufbau befindlichen Expansion des Berufsbildungssystems hinderlich sein und zu einem Mangel an Berufsbildungspersonal führen, sofern die dortigen Ressourcen nicht weiter ausgebaut werden.

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2.5

Institutionalisierte Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung177

2.5.1 Kurzbeschreibung des Kernprinzips aus deutscher Perspektive Im Strategiepapier der Bundesregierung für eine „Berufsbildungszusammenarbeit aus einer Hand“ wird die Berufsbildungs- und Arbeitsmarktforschung als eine Grundlage für die Anpassung der beruflichen Bildungsstrukturen an technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen bezeichnet (Deutscher Bundestag, 2013). Im Rahmen der Berufsbildungs- und Arbeitsmarktforschung werden für die Berufsbildung relevante Entwicklungen beobachtet und analysiert, wie etwa veränderte Qualifikationsanforderungen, curriculare Reformbedarfe, die Ausbildung schulischen und betrieblichen Lehrpersonals, die Kooperation zwischen Lernorten oder sozio-ökonomische Veränderungen mit Einfluss auf das Angebot und die Nachfrage berufsbildender Angebote. Die Forschung umfasst dabei unterschiedliche Untersuchungsgegenstände (etwa Lehrmittel, Ausbildungsgänge, Zertifizierungen) und Untersuchungsebenen (etwa Lernende, Betriebe, Schulen, Ausbildungszentren, Branchen, Regionen). Die Forschungslandschaft im Bereich der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sowie den Nachbardisziplinen wie etwa die Sozialwissenschaften oder die Psychologie sind dabei im deutschen Kontext stark ausdifferenziert. Neben den Forschungsaktivitäten an Universitäten und Forschungsinstitutionen erstellen auch die Kammern, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften und insbesondere das Bundesinstitut für Berufsbildung für die Berufsbildung relevante Untersuchungen und Analysen. Eine ähnlich stark ausdifferenzierte Forschungslandschaft im Feld der Berufsbildungsforschung bildet im internationalen Vergleich eher die Ausnahme.

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Die institutionalisierte Berufsbildungsberatung stand nicht im zentralen Fokus der Erhebungen und wird daher nur im Abschnitt der Länderbefunde kurz diskutiert.

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2.5.2 Ausgewählte Länderbefunde zur institutionalisierten Berufsbildungsforschung und Berufsbildungsberatung Während die Berufsbildungsforschung in Deutschland im internationalen Vergleich von Berufsbildungssystemen stark institutionalisiert und vergleichsweise weit ausgebaut ist, gibt es in den in diesem Band untersuchten Länderfällen in diesem Bereich einen großen Weiterentwicklungsbedarf. Von Einzelbeispielen abgesehen, beschränkt sich die institutionalisierte Berufsbildungs- und Arbeitsmarktforschung zumeist auf einzelne ministerielle Abteilungen oder nationale Ausbildungseinrichtungen. Überdies befassen sich vereinzelt auch nationale oder internationale Wissenschaftler mit der Analyse des jeweiligen Berufsbildungssystems, aber institutionalisierte Forschungsgruppen sind wenig zu finden. Auch Wirtschafts- und Arbeitnehmerverbände, die Analysen zur Berufsbildung durchführen, führen in den untersuchten Ländern nur punktuell Bestandsaufnahmen der Entwicklung der Berufsbildung durch. Während diese Aufgabe in einigen Fällen bei sektoralen Skills Councils angesiedelt ist, deutet der Fall Botswana darauf hin, dass die wissenschaftlichen Kapazitäten der dortigen Skills Councils begrenzt sind, da Untersuchungen zu den Qualifikationsbedarfen unterschiedlicher Wirtschaftssektoren kaum belastbare Ergebnisse geliefert haben und Kapazitäten für die Analyse von curricularen Änderungsbedarfen nicht vorhanden sind. In diesem Kontext dünn besiedelter Forschungslandschaften liefern häufig internationale Organisationen, wie etwa die Weltbank, ILO, UNESCO, oder regionale Organisationen, wie das Cinterfor für Lateinamerika oder die SADC, weitere Untersuchungen zur Berufsbildung. Einen wichtigen Kontrast zum oben gezeichneten Bild liefert die brasilianische Forschungslandschaft, da hier eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen existiert, die Studien zu den Bereichen (Berufs-)Bildung, Beschäftigung und Arbeitsmarkt erstellen und Beratungen für dieses Bereiche durchführen. Erstens haben die Arbeitgeberorganisationen, die auch eigene Berufsbildungsprogramme anbieten (S-Organisationen), Abteilungen für

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Beschäftigungsprognosen und bauen teilweise ihre wissenschaftlichen Kapazitäten im Bereich der Curriculumentwicklung aus. Zweitens existiert für das Bildungsmonitoring und die nationale Bildungsforschung in Brasilien das Instituto Nacional de Estudos e Pesquisas Educacionais Anísio Teixeira (INEP) als autonome Forschungseinrichtung des Ministério da Educação (MEC). Das INEP erfasst indikatorenbasiert Daten zur Evaluation des nationalen Bildungssystems, die auch die berufliche Bildung auf Technikerniveau erfassen, beispielsweise in Bezug auf Berufsbildungsangebote, der Berufsbildungsbeteiligung oder Fragen der Finanzierung. Drittens finden sich viele weitere Forschungsinstitute, die zu den berufsbildungsrelevanten Bereichen Arbeitsmarkt und Beschäftigung forschen, wie etwa das ökonomische Forschungsinstitut IPEA oder das brasilianische Institut für Geographie und Statistik (IBGE). Für den Bereich der institutionalisierten Berufsbildungsberatung haben die Fallstudien vergleichsweise wenig Erkenntnisse über neue Initiativen zur Stärkung von Beratungsangeboten geliefert. Auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse lässt sich jedoch schlussfolgern, dass spezifische Beratungsangebote für Berufsbildung und -orientierung kaum vorliegen. So informieren nationale Berufsbildungseinrichtungen wie etwa die BQA (Botswana), COTVET (Ghana) oder NQA (Namibia) zwar über die Levels und Standards von Qualifikationen, doch teilweise existieren hier keine einfach zugänglichen Übersichten zu den existierenden Berufsbildungsangeboten. Noch geringer verbreitet sind Informationen darüber, ob Berufsbildungsangebote in der Regel Zugang in den Arbeitsmarkt bieten und welche Karriere- und/ oder Gehaltsentwicklungen für Absolventen berufsbildender Angebote typisch sind. Gerade im Hinblick auf den häufig geringen Status der Berufsbildung gegenüber der Hochschulbildung bei Firmen, Eltern und Schülern wäre ein besseres Informations- und Beratungsangebot wichtig für eine Stärkung der beruflichen Bildung.

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Fazit und Forschungsausblick

Wie eingangs beschrieben, wird im vorliegenden Beitrag abschließend die Frage aufgegriffen, inwieweit in den acht vorgestellten Ländern des Buches Annäherungen an zentrale Merkmale kollektiver bzw. kooperativer dualer Berufsbildungssysteme zu beobachten sind. Im obigen Abschnitt 2 wurden dafür ausgesuchte Entwicklungen und Herausforderungen aus den acht Länderstudien dargestellt, und zwar entlang der dort ebenfalls skizzierten fünf Kernprinzipien. Diese fünf Kernprinzipien stellen politisch gesetzte Merkmale dar, die in Deutschland der internationalen Berufsbildungszusammenarbeit dienen sollen. Sie entstammen einer deutschen Tradition betrieblicher bzw. dualer Berufsbildungsstrukturen. Die strukturelle Entwicklung dieser Merkmale hat in Deutschland verstärkt im 19. Jahrhundert eingesetzt. Erst mit dem Berufsbildungsgesetz, das im Jahr 1969 zum ersten Mal in Kraft trat, wurden diese Merkmale bundesweit und über verschiedene Branchen hinweg gesetzlich verankert (vgl. hierzu ausführlich Stratmann & Schlösser 1990). Und diese Kernprinzipien stehen bis heute regelmäßig im Mittelpunkt der Diskussionen und Modernisierungsanstrengungen für die Weiterentwicklung dualer Berufsbildung in Deutschland. So ist beispielsweise das Lernen im Prozess der Arbeit durch die deutlich sinkende betriebliche Ausbildungsbeteiligung und den Rückgang der Attraktivität der Berufsbildung stark gefährdet (vgl. BIBB 2020). Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, es findet eine permanente strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklung der Angebote des beruflichen Bildungspersonals statt, da der Professionalisierungsstand insbesondere des betrieblichen Bildungspersonals weit hinter den Bedarfen liegt (vgl. Lange 2020). Die fünf normativ festgelegten Kernprinzipien, die im vorliegenden Band der Analyse der Entwicklungen in ausgesuchten Ländern Lateinamerikas und Subsahara-Afrikas zugrunde liegen, stellen ausgesuchte relevante Strukturmerkmale dar, die in der Regel dort von Bedeutung sind, wo duale Berufsbildungssysteme weiterentwickelt werden sollen. Doch es ist wichtig an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich weitere

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Merkmale eine große Bedeutung für die Entwicklung der (dualen) Berufsbildung besitzen, beispielsweise die Fragen der Finanzierung, die Rolle des Lernortes Berufsschule sowie weiterer (überbetrieblicher) Lernorte, die Entwicklung konkreter rechtlicher Steuerungsansätze (z. B. das Subsidiaritätsprinzip), die gesellschaftliche Akzeptanz der Berufsbildung und das Verhältnis zur allgemeinen und hochschulischen Bildung, die Anlage des didaktisch-curricularen Ausbildungsstrukturkonzepts (z. B. Ausbildungsberufe oder Module oder eine Kombination beider Ansätze), der Modus der Kompetenzfeststellung und -zertifizierung, das Verhältnis zwischen beruflicher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung sowie die Ausprägung der didaktisch-methodischen Unterrichts- und Ausbildungsprinzipien. Und darüber hinaus ist für die internationale Berufsbildungszusammenarbeit und schließlich auch für die Entwicklung der Berufsbildung in Deutschland und deren Darstellung im internationalen Kontext ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass neben den kooperativen bzw. dualen Berufsbildungsansätzen viele andere und zum Teil sehr erfolgreiche Berufsbildungsangebote existieren, die hochschulischer, vollzeitschulischer oder spezieller überbetrieblicher bzw. branchenspezifischer Art sind. Duale Ansätze stehen mithin in sehr unterschiedlichen Relationen zu diesen alternativen Berufsbildungsangeboten. So erfolgt in vielen Ländern beispielsweise die strukturelle Einbindung des Lernortes Betrieb in direkter Abstimmung mit ursprünglich vollzeitschulischen Berufsbildungsansätzen. Oder der kooperierende Lernort einzelbetrieblicher Qualifizierung ist nicht eine Berufsschule, sondern eine Hochschule. Wir schlussfolgern daraus, dass die Entwicklung von Berufsbildungssystemen zwar aus politischen Erwägungen heraus auf der Basis nostrifizierter Kriterien beurteilt werden kann, beispielsweise im Zuge der internationalen Berufsbildungszusammenarbeit aus deutscher Sicht. In wissenschaftlicher Hinsicht bleibt muss diese Vorgehensweise jedoch kritisch betrachtet werden. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre es vielmehr denkbar, auf der Basis von Fallanalysen (bzw. Länderstudien) zur Entwicklung von Berufsbildungsstrukturen systematisch allgemeine Entwicklungskriterien zu

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entwickeln, auf welcher Basis dann Entwicklungsstände analysiert und verglichen werden könnten. Beispiele hierfür könnten die relative Anzahl dual erworbener Berufsbildungsabschlüsse innerhalb eines Zeitraums sein oder der relative Anteil ausbildender Betriebe, doch für beide Aspekte ist die Datenlage in vielen Ländern ausbaufähig. Zwar können auch diese Kriterien den Anschein der Nostrifizierung erwecken, doch deren Entwicklungsbasis wäre empirisch fundiert. Aus der wissenschaftlichen Sicht kommt es folglich darauf an, die international unterschiedlichen Ausprägungen dieser Kriterien zu erheben, und zwar in beschreibender und erklärender Hinsicht. Stück für Stück könnten so die Kriterien weiterentwickelt, differenziert und gegebenenfalls verallgemeinert werden. Ein solches allgemeines und belastbares Entwicklungsbzw. Transformationsmodell könnte dann auch der konkreten Entwicklungsarbeit in verschiedenen Ländern dienen. Der erkenntnisleitende Unterschied zwischen den genannten „Kernprinzipien“ und einem allgemeinen Entwicklungsmodell soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Die Einführung von modulartigen Qualifizierungsabschnitten, die kompetenzorientiert entworfen, curricular standardisiert und auf der Basis von Abschlussprüfungen zertifiziert werden, werden aus der Perspektive des Kernprinzips „Akzeptanz nationaler Standards“ und speziell aus der deutschen Perspektive überwiegend sehr negativ eingeschätzt. So zeigen es die verschiedenen Fallbeispiele in diesem Buch. Konkret sind es die CBET-Ansätze, die als ungeeignet für die Weiterentwicklung von Berufsbildungsstrukturen in den verschiedenen Ländern betrachtet werden. Auf der Basis eines allgemeinen Entwicklungsmodells hingegen wäre die Perspektive eine andere. Die Entwicklung solcher modulartiger Qualifizierungs- und Zertifizierungsabschnitte könnte ein typischer und wiederkehrender Entwicklungsschritt auf dem Weg hin zu einer wachsenden Standardisierung betrieblicher Kompetenzentwicklungsprozesse darstellen, wohlwissend, dass die Erfahrung zeigt, dass sich solche Ansätze in einer permanenten Revision und Weiterentwicklung befinden, die häufig mit breiter angelegten Qualifikationsbausteinen oder gar typischen Berufsprofilen enden können (aber nicht müssen).

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Die Weiterentwicklung von Berufsbildungssystemen kann vor diesem Hintergrund als ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess begriffen werden. Für die wissenschaftliche Darstellung und Analyse dieses Entwicklungsprozesses könnten typische beziehungsweise allgemeine Kriterien genutzt werden. Diese Kriterien sind einerseits auf der Basis von Fallanalysen induktiv zu generieren. Andererseits sind sie durch ihre deduktive Weiterverwendung auf ihren Beitrag hin zur Theorieentwicklung permanent zu prüfen. So zeigen zum Beispiel die in diesem Buch vorgestellten Fälle, dass die Beteiligung von Unternehmen an der beruflichen Erstausbildung und ihre Bereitschaft, nach verbindlichen Standards auszubilden, nach wie vor gering sind, obwohl in allen untersuchten Ländern Anstrengungen unternommen werden, den betrieblichen Lernort zu stärken. Die Gründe für die mangelnde Ausbildungsbereitschaft von Betrieben sind potentiell vielfältig und reichen von Produktionsmodellen, die keiner strukturierten Ausbildung bedürfen, über die geringe betriebliche Mitsprache bei der Entwicklung von Ausbildungsinhalten bis hin zu der Befürchtung, dass selbst ausgebildete Fachkräfte von anderen, nicht ausbildenden Firmen abgeworben werden (poaching) (vgl. Crouch et al. 2004). Allerdings liegen für die im vorliegenden Buch betrachteten Länder kaum Erkenntnisse vor, warum die Ausbildungsbereitschaft im Einzelfall gering ist, so dass es hier weiterer Forschung bedarf. Auf der Ebene der politischen Steuerung zeigen die Länderstudien, dass viele Versuche unternommen werden, die Einbeziehung von organisierten Interessen zu stärken, etwa in der Form von Skills Councils (Nigeria, Botswana, Ghana, Kenia) oder durch die Einbeziehung in nationale Steuerungsgremien für die Berufsbildung (etwa COTVET in Ghana oder die NQA Namibias). Gleichzeitig hängt ein Ausgleich zwischen betrieblichen Einzelinteressen (einzelbetrieblich verwertbare Fachkräftequalifizierung) und den Interessen der Lernenden (z. B. berufliche und hochschulische Weiterentwicklungsmöglichkeiten, qualitativ hochwertige Ausbildung) nach bisherigen Erfahrungen auch von der Verfasstheit der beteiligten Akteure und Institutionen ab. So repräsentieren die beteiligten Gewerkschaften in Costa

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Rica und Kenia vorrangig die Lehrenden von Berufsbildungseinrichtungen, wohingegen die Arbeitnehmer verschiedener Wirtschaftssektoren nur wenig beteiligt sind. Diese Beteiligung erscheint allerdings wichtig, um sicherzustellen, dass es Ausbildungsinhalte nicht nur firmenspezifische Bedarfe abbilden, sondern auch branchenspezifische und allgemeinbildende Inhalte umfassen und Mindestausbildungsqualitäten gesichert sind. Dieser Steuerungsmechanismus betrieblicher Berufsbildung ist ein wichtiger Forschungsgegenstand. Bislang ist zu wenig darüber bekannt, wie diese Beteiligungsstrukturen tatsächlich wirken. Auch spielt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verfasstheit der in die politische Steuerung einbezogenen Verbände eine große Rolle. Es scheint, dass dort, wo Gewerkschaften nur ein schwaches politisches Mandat haben (Kolumbien) oder Arbeitgeberverbände nicht repräsentativ (Botswana) oder zersplittert (Namibia) sind, die betriebliche Ausbildungsbeteiligung sehr schwach bleibt. Auch hierzu sind weitere wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich. Auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und der Struktur von Arbeitsmärkten ist von hoher Relevanz. So mindern segmentierte Arbeitsmärkte (z.B. zwischen informellem und formellem Sektor, Hierarchiestufen usw.) und mangelnde Durchlässigkeit zwischen diesen Ebenen offenbar die Attraktivität der Berufsbildung. Die Einführung von NQRs kann das Problem vermutlich nicht beheben, wenn die Strukturen und Prinzipien auf dem Arbeitsmarkt unverändert bleiben. Inwiefern Berufsbildungs- und Arbeitsmarktreformen Hand in Hand gehen, kann auf Basis der Länderstudien nicht beantwortet werden, wäre aber eine wichtige Frage für zukünftige Forschungen. Besonders wichtig für die Weiterentwicklung von (dualen) Berufsbildungsstrukturen sind die Fragen der Finanzierung. Die Länderbeispiele zeigen, dass die berufliche Bildung häufig vergleichsweise unterfinanziert ist. So hat beispielsweise Botswana seit seiner Unabhängigkeit massiv in den Ausbau des Bildungssystems investiert, allerdings lag der Fokus hauptsächlich auf dem Ausbau des Schulsystems und der Hochschulbil-

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dung, so dass der Berufsbildungsbereich. In Ghana fließen nur zwei Prozent des Bildungshaushaltes in die berufliche Bildung. Diese Beispiele verdeutlichen, dass die berufliche Bildung mit anderen Bildungsbereichen im Wettbewerb um Ressourcen steht. Für vertiefende Forschungen zur Ressourcenausstattung beruflicher Bildung wäre somit eine wichtige Frage, wie die Verteilung öffentlicher Mittel auf verschiedene Bildungsbereiche politisch entschieden wird. Der Fall Brasilien zeigt, dass Ansätze, die Berufsbildung finanziell zu stärken, durch den jüngsten Regierungswechsel und eine Wirtschaftskrise gebremst worden sind. Zudem ist die Finanzierung beruflicher Bildung ein politischer Aushandlungsprozess, so wie sich im Fall Costa Rica verdeutlichen lässt. Trotz der Einführung eines Runden Tisches für Berufsbildung als nationales Steuerungsgremium konnten sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften weder in Bezug auf die vertragliche Absicherung von Auszubildenden noch in Bezug auf deren Entlohnung einigen. Eine weitere wichtige Frage im Zusammenhang mit der Finanzierung ist auf die betrieblichen Ausbildungsangebote gerichtet. In Zeiten knapper öffentlichen Ressourcen könnten duale Ansätze eine attraktive Reformoption darstellen, wenn sich die Betriebe an einem Teil der Kosten beteiligen. Andererseits wissen wir, dass eine einzelbetriebliche Ausbildungsbeteiligung durch Umlagefinanzierungsmodelle gefördert werden kann (vgl. Bank u. a. 2016). Bisher erfolgt die finanzielle Beteiligung von Unternehmen in den untersuchten Fällen häufig in der Form von Umlagesystemen, so beispielsweise in Kenia (Training Levy Fund), in Brasilien durch eine Umlage zur Finanzierung des S-Systems oder den Human Resource Development Fund (HRDF) in Botswana. In diesen Umlagesystemen bezahlen Unternehmen ab einer bestimmten Größe in der Regel einen bestimmten Prozentsatz ihrer Bruttolohnsumme in einen Fond, der anschließend zur Finanzierung beruflicher Bildungsangebote verwendet wird. Dass Umlagesysteme zwar einen Beitrag zur Finanzierung beruflicher Bildung leisten können, dieser aber begrenzt ist, wird am Fall des Industrial Trust Fund (ITF) in Nigeria deutlich. Aus den Mitteln des Fonds können beteiligte Unternehmen bis zu 50% ihrer Abgaben zurückerhalten, wenn sie berufs- und

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weiterbildende Maßnahmen für ihre Belegschaft dokumentieren können. Allerdings ist unklar, wie groß der Anteil für die berufliche Erstausbildung ist, da hier kaum verlässliche Daten vorliegen. Von den anderen Mitteln des Fonds werden Ausbildungsangebote in Ausbildungszentren finanziert sowie Verwaltungskosten des ITF gedeckt. Allerdings reichen die finanziellen Mittel des ITF bei weitem nicht dafür aus, die mangelnde Ausstattung der staatlichen Ausbildungszentren und Colleges zu beheben, so dass sie häufig mit veraltetem Lehr- und Lernmaterial arbeiten müssen. Die vorliegenden Länderberichte sind schnappschussartige Bestandsaufnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu einer Zeit, in der sich verschiedene Länder in einem dynamischen Reformprozess befanden. Beiträge der vergleichenden und historiographischen Berufsbildungsforschung sowie der vergleichenden politischen Ökonomie zeigen jedoch deutlich, dass sich Berufsbildungssysteme in der Regel nur Stück für Stück verändern (Busemeyer 2015, Greinert 2005, Thelen 2004, Vossiek 2018) Politische Erwartungen, verknüpft mit schnellen, sichtbaren und nachhaltigen Veränderungen, sind vor diesem Hintergrund häufig sehr unrealistisch. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, wie stabil die in den Länderstudien besprochenen Reformen sind. Reformen lassen sich erst nach einiger Zeit wirklich sinnvoll evaluieren und das dann auch nur in der Retrospektive. Kollektive Akteure passen sich erst langsam an einen neuen institutionellen Kontext an. Es bedarf weiterer Analysen der Effekte von Reformen auf die Präferenzen von Regierungen, kollektiven Akteure und Lernenden. Erste Überlegungen in die entsprechende Richtung bestehen bereits in Form des von Gessler (2019) entwickelten Apprenticeship Maturity Models. Das Modell betrachtet die Entwicklung von informellen apprenticeships hin zu dualen, kollektiven apprenticeships aus einer Entwicklungsperspektive ihres Reifegrads, so dass bestimmte für den jeweiligen Reifegrad auftretende Probleme adressiert werden müssen, damit eine Fortentwicklung hin zu kollektiven apprenticeships erfolgen kann. Diese Überlegungen könnten durch eine akteurszentrierte Analyseperspektive ergänzt

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werden, die jedoch bezüglich der Präferenzen, Strategien und Organisationsformen von Akteuren eine breitere theoretische Fundierung erfordert, um eventuelle in Zusammenhang stehende Besonderheiten in emerging economies erfassen zu können.

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Vossiek, Janis (2018). Collective Skill Formation in Liberal Market Economies? The Politics of Training Reforms in Great Britain, Ireland and Australia, Bern: Peter Lang. Wittwer, W. & Kirchhof, S. (Hrsg.) (2003). Informelles Lernen und Weiterbildung. Neue Wege zur Kompetenzentwicklung. München: Luchterhand.

Autorenverzeichnis

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Autorenverzeichnis Prof. Dr. Waldemar Bauer, Inhaber der Professur für Technische Wissenschaften und betriebliche Entwicklung, Universität Erfurt. Kontakt: [email protected] Fabienne-Agnes Baumann, Arbeitsgruppe Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Strukturfragen beruflicher Bildung, Universität Osnabrück. Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Dietmar Frommberger, Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Strukturfragen beruflicher Bildung, Universität Osnabrück. Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Gessler, Lehrstuhl für berufliche Bildung und berufliche Weiterbildung, Institut Technik und Bildung, Universität Bremen. Kontakt: [email protected] Dr. Larissa Holle, Institut Technik und Bildung, Universität Bremen. Kontakt: [email protected] Ernst Jünke, Oberstudiendirektor a. D., BBS Wechloy. Kontakt: [email protected] Daniel Láscarez-Smith, Arbeitsgruppe Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Strukturfragen beruflicher Bildung, Universität Osnabrück. Kontakt: [email protected] Dr. Léna Krichewsky-Wegener, Institut für Innovation und Technik (iit) bei der VDI/VDE-IT GmbH. Kontakt: [email protected] Dr. Susanne Peters, Institut Technik und Bildung, Universität Bremen. Kontakt: [email protected] Dr. Janis Vossiek, Arbeitsgruppe Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Strukturfragen beruflicher Bildung, Universität Osnabrück. Kontakt: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F.-A. Baumann et al. (Hrsg.), Berufliche Bildung in Lateinamerika und Subsahara-Afrika, Internationale Berufsbildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31752-2