Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung: Unter besonderer Berücksichtigung des Kommunikationsrechts. Kolloquium mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung [1 ed.] 9783428502509, 9783428102501

Das Verhältnis von Technik und Recht ist voller wechselseitiger Abhängigkeiten. Technik entwickelt sich nicht jenseits d

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Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung: Unter besonderer Berücksichtigung des Kommunikationsrechts. Kolloquium mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung [1 ed.]
 9783428502509, 9783428102501

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Michael Kloepfer (Hrsg.)

Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung

Schriften zum Technikrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M i c h a e I K I o e p f e r, Berlin

Bandl

Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung Unter besonderer Berücksichtigung des Kommunikationsrechts Kolloquium mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung

Herausgegeben von

Michael Kloepfer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung : unter besonderer Beliicksichtigung des Kommunikationsrechts I Hrsg.: Michael Kloepfer. - Berlin: Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Technikrecht ; Bd. I) ISBN 3-428-010250-9

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1616-1084 ISBN 3-428-10250-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Das Verhältnis von Technik und Recht ist voller wechselseitiger Abhängigkeiten. Technik entwickelt sich nicht jenseits des Rechts. Aber auch das Recht bleibt von Technikentwicklungen nicht unbeeinflußt. Unter einem geschichtlichen und entwicklungsoffenen Verständnis von Recht darf Technikrecht nicht allein in seiner technikbegrenzenden oder sogar -verhindernden Funktion betrachtet werden. Mit der keineswegs neuen, aber verschütteten Erkenntnis, daß man Technik auch durch Technik und die rechtliche Ermöglichung technischer Vorkehrungen bis hin zum technischen Selbstschutz bewältigen kann, rückt eine bislang wenig beachtete Funktion des Technikrechts, nämlich die organisierende Ermöglichung der Technikentfaltung in den Vordergrund technikrechtlicher Betrachtungen. Es gibt einerseits Technik durch Recht - Recht als Technikermöglichung - wie es auch Recht durch Technik gibt - Rechtsermöglichung durch Technikentwick/ung. Zu distanzieren hat man sich freilich von einfachen Entwicklungsmodellen und Dichotomien, die in Anlehnung an die unverzichtbare, aber bisweilen zu strikte Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft maßgebliche Entwicklungspotentiale von Technik im Fernhalten von (neuem) Recht sehen. Die Doppelfunktion des Technikrechts, einerseits technikbegrenzend, andererseits technikermöglichend auf Technikentwicklungen einzuwirken, wird im Bereich der Informations- und Kommunikationstechno/ogien besonders deutlich. Dabei handelt es sich bekanntlich um zentrale Zukunftsmärkte, die aber auch die Zukunft der Techniksteuerung durch Recht mitbestimmen werden. Welchen Nutzen haben Anwendungsfelder neuer Kommunikationstechniken (z. B. e-commerce), wenn die Sicherheit des elektronischen Wirtschaftsverkehrs im Netz (z. B. durch den Einsatz von modernen Verschlüsselungstechnologien) nicht hinreichend gewährleistet ist? Und was folgt für das Recht, wenn sich in der Technik rechtlich aufzugreifende Gestaltungsalternativen zur ordnungsrechtlichen Techniksteuerung erkennen lassen und neue Schutzmechanismen jenseits der eingriffsabwehrrechtlichen Kategorien sichtbar werden? In dem Maße, wie die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten durch Technik an Bedeutung gewinnen, der staatliche Steuerungsanspruch durch das Technikrecht zurückgenommen und auf die Bereitstellung eines rechtlichen Rahmens für die Technikentwicklung auf den Weltmärkten beschränkt wird, verändern sich die demokratischen und rechtsstaatliehen Ableitungs- und Zurechnungszusammenhänge in der Informationsgesellschaft.

Vorwort

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Der vorliegende Band nähert sich den wachsenden Herausforderungen der neuen Kommunikationstechniken aus einer historischen Perspektive. Gerade vor dem Hintergrund neuer Kommunikationsformen scheint ein Rückblick auf die Entstehungs- und Verbreitungsvoraussetzungen von Kommunikationstechniken mit "ihrem" Recht gewinnbringende Aufschlüsse über die wechselseitigen Beeinflussungen von Technik und Recht liefern zu können. Hierzu fand am 23. und 24. Juni 1999 ein wissenschaftliches Kolloquium statt, das im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts vom Forschungszentrum Technikrecht mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgefilh.rt wurde. Der Band enthält - teilweise in leicht überarbeiteter Form - die Referate und eröffnet bei Duncker & Humblot eine neue Schriftenreihe zum Technikrecht, in der ausgewählte wissenschaftliche Arbeiten mit technikrechtlichem Bezug veröffentlicht werden sollen. Berlin, im Mai 2000

Michael Kloepfer

Inhaltsverzeichnis Michael Kloepfor

Begrüßung ............................................................................................................................... 9

l. Grundlagen Wolfram Fischer

Grundlegende Entwicklungen der Technik im 19. Jahrhunden ............................................... l3 Rainer Sehröder

Modemisierung im Zweiten Kaiserreich und technischer Wandel .......................................... 27 Mi/os Vec

Standardization Takes Command- Recht und Normierung in der Industriellen Revolution ...............................................................................................................................45

ll. Historische Funktionen des Technikrechts Martin Schulte

Regulierung bekannter und unbekannter Techniken- Techniksteuerung durch Technikrecht ............................................................................................................................ 59

Rainer Pitschas

Technikentwicklung und -implementierung als rechtliches Steuerungsproblem: Von der administrativen Risikopotentialanalyse zur Innovationsfunktion des Technikrechts .......................................................................................................................... 73

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Inhaltsverzeichnis

111. Kommunikationstechnik und Technikrechtsentwicklung Karl-Otto Scherner

Telegrafenverkehr und Technikrecht im 19. Jahrhundert: Wechselseitige Beeinflussungen ............................................ :.............................................................. 103 Bernd Holznagel

Rundfunk und Kommunikationsrecht im 20. Jahrhundert: Etappen der Rechtsentwicklung und die digitale Herausforderung .................................................. 127 Martin Bullinger

Neue Informationstechniken- neue Aufgaben des Rechts im Staat der Informationsgesellschafl. .............................................................................................. 149

Autorenverzeichnis ....................................................................................................... 167

Begrüßung Meine sehr verehrten Damen und Herren, seien Sie herzlich willkommen zu unserem diesjährigen Kolloquium, das sich einem aktuellen Thema unter einer historischen Perspektive widmet: Den Informations- und Kommunikationstechnologien, ihrer rasanten Entwicklung und ihrer rechtlichen Einrahmung. Es gilt einmal mehr, Fragen - vielleicht auch neue Fragen - zu stellen. Wie entsteht Technik, wie entsteht Technikrecht und- dies soll uns heute vor allem beschäftigen - wie beeinflussen sich Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung gegenseitig? Ist die Technik der Igel, das Recht der Hase - an notorischer Verspätung leidend? Reagiert das Technikrecht nur auf Entwicklungen der Technik durch Technikbegrenzung oder ist das Technikrecht nicht auch- vielleicht sogar zentral -Bedingung und Voraussetzung von Technikentwicklungen, also Technikermöglichungsrecht? Sind komplexe Techniken wie z. B. in der Vergangenheit die Eisenbahn oder Telegrafie, gegenwärtig die Gentechnologie oder das Internet und zukünftig - um nur ein besonders markantes Beispiel zu nennen - das multifunktionale Endgerät ohne rechtliche Regelungen überhaupt zu erreichen? Das Technikrecht steht gewiß für die Sicherung vor der Technik. Aber greift die Betrachtung des Technikrechts als Hemmnis der Technik nicht zu kurz? Kann und darf es überhaupt als Belastungs- und Eingriffsrecht verstanden werden? Ohne die Straßenverkehrsordnung gäbe es keinen Straßenverkehr. Und ohne die Frequenzordnung wäre der Rundfunk so nicht machbar gewesen. Ist also die Schaffung einer rechtlichen Infrastruktur, die Ermöglichung von Technik nicht eher als staatliche Leistung zu begreifen? Ich kann Ihnen meine Skepsis gegenüber einer vermeintlichen Geschlossenheit der Systeme nicht verhehlen. Das technische System mag ebenso wie das rechtliche System einer jeweils eigenen Rationalität und Funktionslogik folgen. Aber dies kann nicht bedeuten, daß wir uns eine wechselseitige Abschottung erlauben dürften. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts - und der Rechtswissenschaft- sind sicherlich begrenzt. Aber liegt in dieser Einsicht nicht auch ein Vorteil? Und kann die Technik - mag sie auch der technischen Selbstregulierung offenstehen - auf einen rechtlichen Rahmen - dies muß nicht das Ordnungsrecht sein- verzichten? Das Kolloquium greift Gedanken auf, die in einem laufenden Forschungsprojekt untersucht werden, das vom hiesigen Forschungszentrum Technikrecht

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Begrüßung

mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung durchgefilhrt wird. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich das Technikrecht als Technikvoraussetzung begreifen läßt. Dabei soll ein geschichtliches und entwicklungsoffenes Verständnis von Recht zugrundegelegt werden. Ich bin sicher, daß das Kolloquium mit dem hier vertretenen Sachverstand wichtige Impulse filr unser Projekt setzen wird. Nicht nur die historische, sondern auch die funktionale Perspektive des Technikrechts wird uns fUr das Verständnis der wechselseitigen Beeinflussungen von Technik und Recht näher gebracht werden. Wir lernen das Telegrafenrecht kennen, hören das Rundfunkrecht - in seiner überkommenen Gestalt möglicherweise ein Auslaufmodell - und richten den Blick auf die Frage nach einem neuen Informationsrecht filr neue Informationstechniken. Gedankt sei allen, die der Einladung nach Berlin gefolgt sind, insbesondere aber der Volkswagen-Stiftung filr die Förderung des Kolloquiums. Ich hoffe, mit dem bewußt in kleinem Rahmen gehaltenen Kolloquium einen konzentrierten Gedankenaustausch anregen zu können, und wünsche dem Kolloquium einen ertragreichen Verlauf. Michael Kloepfer

I. Grundlagen

Grundlegende Entwicklungen der Technik im 19. Jahrhundert Von Wolfram Fischer Diese Tagung dient der Klärung des Zusammenhangs zwischen Technikentwicklung und Technikrecht Ich werde versuchen, diesen Zusammenhang im Auge zu behalten und den Schwerpunkt auf solche technische Entwicklungen zu legen, die entweder durch vorhandenes Recht befördert worden sind oder den Anstoß zu neuen rechtlichen Regelungen gegeben haben. Um deutlich zu machen, was ich meine, möchte ich zunächst einige Beispiele geben fiir das, was ich nicht behandeln werde. Das ganze 19. Jahrhundert waren Textil-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie die bei weitem größten Industriezweige, jedenfalls wenn man sie an den Beschäftigtenzahlen mißt, die den zuverlässigsten Maßstab bilden, da Kapitaleinsatz, Produktion, Umsatz oder Produktivität nur geschätzt werden können. Sie haben aber nur an ganz wenigen Stellen Anlaß dazu gegeben, daß Verwaltung oder Gerichte sich mit ihren Produktionstechniken und deren Folgen beschäftigten, z. B. bei der Färberei oder der Gerberei. Ähnliches läßt sich flir den größten Wirtschaftssektor des 19. Jahrhunderts, die Landwirtschaft, sagen - nur in Großbritannien und Belgien war der Industriesektor bereits größer. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft in Deutschland und vielen anderen Ländern sind zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts beträchtlich verändert worden. Das hatte aber sehr wenig mit landwirtschaftlicher Technik zu tun, sondern stellte vor allem eine Veränderung des wirtschaftlichen und sozialen Ordnungsrahmens dar, insbesondere der Eigentumsverhältnisse. Lediglich auf einzelnen Gebieten, z. B. bei Meliorationen, bei der Nutzung von Wasser- und Mühlenrechten, der Kanalisierung von Flüssen, der Anlegung von Deichen oder Schleusen kamen auch technisch bedingte rechtliche Fragen auf. Behandeln will ich hingegen einige Technikfelder, die zu erheblichem Bedarf an rechtlichen Regelungen Anlaß gaben: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, den Bergbau, die chemische Industrie und die Elektrizität, wobei ich mich auf die Probleme der Elektrizitätserzeugung und -Verteilung konzentriere und die elektrische Kommunikation durch Telegraph und Telephon auslasse, da sie in einem besonderen Referat behandelt wird.

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Sie werden aus dieser Auswahl sehen, daß ich solche Techniken und Techniksysteme gewählt habe, die nicht nur neu waren, sondern auch neue Gefahren mit sich brachten - Explosionen, Umweltverschmutzung - oder Regulationen nötig machten, z. B. Enteignungen von Grundeigentum tur den Eisenbahnbau oder die Führung von Überlandleitungen bzw. innerstädtischen Leitungssystemen. Damit bin ich scheinbar ebenfalls dem weitverbreiteten Vorurteil verfallen, daß Technikrecht vor allem die Funktion habe, die Bevölkerung vor den Gefahren neuer Techniken zu schützen bzw. neue Techniken zu regulieren. Wo aber bleibt das Technikermöglichungsrecht? Auch dies gab es. Denn Regulierung bedeutet ja nicht nur Einschränkung, sondern auch Ermöglichung. Ohne die Veränderung oder zumindest Klärung von Rechtsverhältnissen und Zuständigkeiten hätten die großen Infrastrukturmaßnahmen des 19. Jahrhunderts, beginnend mit der Regulierung von Fitissen und dem Kanalbau, dem Ausbau der Chausseen, vor allem aber dem Eisenbahnbau und später der Elektrifizierung, nicht erfolgreich in Angriff genommen werden können. Das Musterbeispiel ftlr eine rechtliche Hilfe zur technischen Entwicklung sehen viele, vor allem die Erfinder selbst, im Patentrecht. Daher schicke ich der Behandlung der verschiedenen Technikbereiche einen Exkurs über das Patentrecht voraus.

I. Patente als Technikermöglichungsrecht? Unter Ökonomen ist es nicht selbstverständlich, im Patentrecht vor allem ein Technikermöglichungsrecht zu sehen. Viele, vor allem rigoros Liberale sehen in ihm eher ein Technik-, ein Innovationsverhinderungsrecht, indem es einzelnen ein Monopol einräumt und so die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eher behindert als tbrdert. Dem folgt oft der Hinweis, daß Länder wie die Schweiz und die Niederlande jahrzehntelang ohne ein Patentrecht. ausgekommen seien. 1 In Großbritannien, dem Mutterland der "Industriellen Revolution" gab es freilich seit langem ein Patentrecht oder genauer gesagt, ermöglichten zunächst einzelne, dann haufenweise "Letters Patent" seit dem späteren Mittelalter die Privilegierung auf Zeit derjenigen, die eine technische Erfindung fur sich reklamierten und vor Gericht, wenn angefochten, durchsetzen konnten. Der Ursprung des Patentsystems ist noch immer nicht völlig geklärt. Wie so oft in der Geschichte findet man bei genauem Hinsehen Vorläufer, die aber nicht unbedingt Glied einer kontinuierlichen Entwicklung sein müssen. So wurden im böhmischen Bergbau schon im 13. Jahrhundert Erfinder belohnt, z. B. durch eine lebenslängliche Rente. Der älteste Patentbrief, der in England gefunden wurde, stammt aber erst aus dem Jahr 1449. Er verlieh einem gewissen John of Utyman tur zwanzig Jahre das Monopol fl.lr eine bestimmte Metho1 Eric Schiff, lndustrialization without National Patents. Netherlands, 1869- 1912. Switzerland, 1850--1907. Princeton UP 1971.

Grundlegende Entwicklungen der Technik im 19. Jahrhundert

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de, farbiges Glas herzustellen. 2 Wie fast immer machen italienische Städte, hier vor allem Venedig, England das Erstgeburtsrecht ökonomischer oder juristischer Innovationen streitig. Jedenfalls gilt das 1474 in der Republik Venedig erlassene Patentgesetz als das erste in der Welt, das auch andere dazu anregen sollte, "ihren Scharfsinn zu üben und Dinge zu erfinden", die "von Nützlichkeit sein können."3 Es scheint aber keine großen Außen- oder Nachwirkungen gehabt zu haben. Großbritannien war jedenfalls das erste Land, das seit dem "Statute of Monopolies" von 1624 ein Patentsystem ausbildete, das bei grundsätzlichem Monopolverbot auf 14 Jahre begrenzte Ausnahmen für den "true and first inventor" vorsah, zu denen auch der gehörte, der ein Produkt oder einen Produktionsprozeß als erster im Lande einfilhrte. Für die Baisinnovationen der "Industriellen Revolution", z. B. die technische Entwicklung der Dampfmaschine, sollte das von Bedeutung sein. In Deutschland wurde noch bis in das 19. Jahrhundert hinein bei der Verleihung eines "privilegium exclusivum" für einen Gewerbebetrieb nicht unbedingt eine Erfindung vorausgesetzt, sondern hier bemühten sich die Obrigkeiten, auch die Einführung eines neuen Gewerbezweiges, etwa der Seidenweberei, in ein Territorium durch solche, meist zeitlich und territorial begrenzte, Monopolrechte zu ilirdern. Das revolutionäre Frankreich erließ 1791 ein Patentgesetz, das ausdrücklich den Erfinder schützen und nicht gewerbliche Monopole verleihen sollte. Die Ansprüche des Erfinders wurden hier als "Menschenrecht" dargestellt, "als ein natürliches Eigentumsrecht an der geistigen Schöpfung." 4 Das Patent mußte nur angemeldet werden; es wurde nicht überprüft. Anders in Preußen, wo seit 1815 Patente von der Regierung nur nach Vorprüfung durch technisch versierte Beamte vergeben wurden. Dem schlossen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige deutschen Staaten an, so die Großherzogtümer HessenDarmstadt und Baden, während Bayern, Sachsen und Württemberg das französische Anmeldeverfahren übernahmen. Die USA, die 1790 ein gesamtstaatliches Patentgesetz schufen, nachdem schon vorher einzelne Kolonien solche nach englischem Recht besaßen, schwankten: Von 1790 bis 1793 hatten sie das Vorprüfungsverfahren, dann bis 1863 das Anmeldeverfahren, danach wieder die Vorprüfung. Im Deutschen Zollverein scheiterten alle Versuche zur Vereinheitlichung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte jedoch eine umfangreiche internatio2 Klaus Boehm (in collobaration with Aubrey Silberstein), The British Patent System. I.- Administration, Cambridge UP 1967, S. 14. 3 E. Wandle, Patent (gewerblich), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 111 (1984), S. 1535, und Fritz Machlup, Patentwesen. I. Geschichtlicher Überblick, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8 (1964), S. 233. 4 Machlup (FN 3), S. 234.

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nale Diskussion um das Für und Wider von Patentgesetzgebungen ein, wobei der liberale Kongreß deutscher Volkswirte die Abschaffung des Patentwesens forderte, einer Forderung, der sich 1868 auch Bismarck anschloß, während der VDI und technisch orientierte Unternehmer wie Werner Siemens ein einheitliches Patentgesetz wünschten. Sie setzen sich schließlich bei der Vorbereitung des Reichspatentgesetzes von 1877 durch. Doch trug der Gesetzgeber den Argumenten der Gegenseite insofern Rechnung, als er nicht nur das preußische Vorprüfungsrecht übernahm, sondern auch eine Einspruchsmöglichkeit schuf, die Publizitätspflicht einftihrte, ein Begrenzung auf höchstens 15 Jahre festlegte, eine Gebühr erhob und bei Nichtausführung die Rücknahme des Patents ~orsah. Als ausfUhrende Behörde wurde das Reichspatentamt geschaffen. 5 Sind Patente nun Technikermöglichungsrecht oder verhindern sie eher technische Neuerungen? Empirisch eindeutige Ergebnisse darüber gibt es nicht, da -mit Ausnahme der Schweiz und der Niederlande- alle größeren Industrieländer im 19. Jahrhundert (und im 20. Jahrhundert so gut wie alle) Patentgesetze besaßen, so daß ein Vergleich nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wir können daher nicht mit letzter Gewißheit sagen, ob die großen Erfindungen des 19. Jahrhunderts auch ohne rechtliche Regelungen dieser Art möglich gewesen wären. Auch Zeitgenossen zu befragen nutzt nichts, denn strikt liberale Ökonomen bejahen dies aus Überzeugung, während die Erfinder es naturgemäß verneinen. Es bleibt aber zu betonen, und deshalb habe ich diese Frage hier vorgeschaltet, daß Patentgesetze einen wichtigen Teil des rechtlichen Ordnungsrahmen darstellten (und darstellen), in dem Erfinder und Unternehmer agieren.

II. Die Dampfmaschine als Basisinnovation für das 19. Jahrhundert Streng genommen ist die Dampfmaschine keine Erfindung des 19., sondern des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Noch aus dem 17. Jahrhundert stammen Papins erste kleine Dampfmaschinen, sozusagen Modelle. Auch Saverys "Feuermaschine" datiert von 1698. Die erste große kommerzielle Verwendung fand Newcomens Niederdruckmaschine seit dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts im britischen Bergbau, und schließlich erhielt James Watt 1769 sein Patent Ober eine Hochdruckdampfmaschine, das später mehrfach ergänzt wurde und als ein Schlüsselerfindung der Industriellen "Revolution" gilt. 6 Ihre wirt5 Alfred Heggen, Erfindungsschutz und Industrialisierung in Preußen 1793-1877. Göttingen 1983. 6 Aus der umfangreiche Literatur über die Geschichte der Dampfmaschine ragen noch immer die älteren Werke heraus. z. B. Conrad Matschoß, Geschichte der Dampfmaschine. Ihre kulturelle Bedeutung, technische Entwicklung und ihre großen Männer. Reprint der 3. Aufl. von 1901. Hildesheim 1983. sowie H. W. Dickinson. A Short History ofthe Steam Engine (with a new introduction by A. E. Musson.), London 1963.

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schaftliehe Wirkung entfaltete sich aber erst voll im 19. Jahrhundert, nachdem sie nicht nur mit vertikalen Bewegungen zu Pumpzwecken vor allem im Bergbau, sondern durch die horizontale Kraftübertragung als universale Kraftmaschine eingesetzt werden konnte, die Werkzeugmaschinen antrieb, Zuckersiedereien befeuerte, vor allem aber Eisenbahnen und Schiffe in Bewegung setzte und schließlich die Energie flir Elektrizitätswerke bereitstellte, ehe Dampf- und Wasserturbinen diese Aufgabe übernahmen. Bis zum Aufkommen von Gasmotoren und schließlich der Elektrizität war sie daflir unentbehrlich. Wenn auch alle wesentlichen technischen Verbesserungen an der Dampfmaschine bis 1820 abgeschlossen waren, so konnte ihre Leistung auch in den Jahrzehnten danach ständig gesteigert werden Mit dieser höheren Leistungsflihigkeit, die großenteils auf die Erhöhung des Dampfdruckes in dem Kessel zurückzufUhren ist, stieg aber auch die Explosionsgefahr. Verbesserte Materialien und Produktionsmethoden, z. 8. gewalzte Flammrohrkessel statt gehämmerten, bei denen das Blech gleichmäßiger und berechenbarer war, mit gebohrten statt geschlagenen Nietlöchern, die seit Anfang der vierziger Jahre nicht mehr von Hand, sondern durch Nietmaschinen gefertigt wurden, ermöglichten eine bessere Kontrolle des Wasserdrucks. "Schräge, hartgelötete Wasserrohre aus Kupfer und Messing mit ausreichendem Dampfreservoir stellten den Wasserumlaufbeim Erhitzen sicher." 7 Dennoch kam es zu vielen Explosionen, teils durch Materialfehler, teils durch Konstruktionsfehler, oft aber auch wegen unsachgemäßer Bedienung, so daß in allen sich industrialisierenden Ländern Bemühungen einsetzten, Explosionsschäden zu begrenzen und rechtlich zu regeln. In Preußen gab es seit 1830 eine Genehmigungspflicht fllr Dampfkessel, ab 1845 schrieb eine Gewerbeordnung vor, daß ein Kessel bei der Prüfung dem Eineinhalbfachen des vorgesehenen Betriebsdrucks auszusetzen sei, und 1856 wurde die ständige Überprüfung der Kessel angeordnet. Dies war die Geburtsstunde des TÜV. Die Probleme waren in allen Industriestaaten die gleichen, die Lösungen in typischer Weise verschieden: Während in Großbritannien die Kesselbesitzer private Versicherungen gründeten und eigene Inspektoren anstellten, setzte Frankreich eine staatliche Überwachung ein. Deutschland stand wie üblich dazwischen: Private Überwachungsvereine wurden gegründet, bekamen aber immer mehr staatliche Aufgaben übertragen, beginnend in Baden 1866. Einer völligen Verstaatlichung stand das Vorurteil entgegen, daß der Staat außer Baubeamten keine technischen Beamten beschäftigen sollte. Da er zur Überprüfung der Dampfkessel aber technische Fachleute brauchte, bediente er sich dieser privaten Vereine. Immerhin waren 1879 60 000 Dampfkessel in Deutschland zu überwachen. Bismarck, der 1884 schließlich die Aufwertung 7 Wolfgang König/Woljhard Weber: Netzwerke, Stahl und Strom (Propyläen Technikgeschichte, Bd. 3), Frankfurt am Main/Berlin 1990, S. 44.

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der Dampfkesselüberwachungsvereine einleitete, tat dies, weil sie sich der Kontrolle des Parlaments entzogen, und integrierte so die bürgerlichen Vereine in die staatliche Verwaltung. 8 Eine andere wichtige Erfindung auf dem Gebiet der Energieerzeugung kann ich hier nur kurz erwähnen: den Gasmotor, 1860 von Lenoir zum ersten Mal gebaut. Er wurde bald zum Zentrum fiir Ideen, die schwerfällige und wenig mobile Dampfmaschine durch kleinere Kraftquellen zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Den entscheidenden Durchbruch erzielte in den l860er Jahren Nikolaus Otto, der dafiir 1867 auf der Weltausstellung in Paris auch einen Preis bekam, aber erst 1877, gleich nach dem Inkrafttreten des deutschen Patentgesetzes ein umfassendes Patent erhielt, das sogar zu umfassend war, so daß er später Prozesse gegen Konkurrenten verlor, schließlich auch vor dem Reichsgericht.9 Nur in England blieb sein umfassendes Patent anerkannt. Bemerkenswert ist übrigens, daß Ottos kaufmännischer Partner, Eugen Langen, der zugleich ein fUhrendes Mitglied im "Westdeutschen Verein fiir Erfindungsschutz" war, an der Formulierung des Reichspatentgesetzes beteiligt gewesen ist- offenbar mit einem entschiedenen Blick auf den Vorteil für seine eigene Firma, wenn man es negativ formulieren will, bzw. mit genauer Kenntnis der Notwendigkeiten für den technischen Fortschritt, wenn man den gleichen Tatbestand positiv bewerten will. III. Die Eisenbahnen Ähnliche Probleme wie bei der Dampfmaschine stellten sich bei der Eisenbahn. Hier kamen zu der Gefährlichkeit der Dampfmaschinen in den Lokomotiven die des Verkehrs in der Öffentlichkeit. Gleis- und Signalanlagen, Bahnhöfe, Tunnel, Brücken, Straßenkreuzungen - alles konnten gefahrliehe Punkte sein. Hier wurde das Problem durch die Gefährdungshaftung juristisch angegangen. Überhaupt scheint mir, ohne daß ich das als Nicht-Jurist beweisen kann, der Begriff der Haftung derjenige allgemeine juristische Begriff zu sein, mit dem im 19. Jahrhundert die Techniker gezwungen wurden, sorgsam mit ihren Geräten umzugehen. Die Eisenbahnen hatten aber weitreichende Auswirkungen auf ganz andere Rechtsgebiete, vor allem das Eigentumsrecht, wegen des hohen Kapitalbedarfs auch auf die rechtliche Regelung der Unternehmensformen, z. B. auf die Ausbildung des Rechts von anonymen (Aktien-)Gesellschaften, auf die Frage der staatlichen Konzessionen für Verkehrsbetriebe, schließlich auf grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung: Sollen sie privat oder staatlich oder gemischtwirtschaftlich betrieben werden? Wer bestimmt die Streckenführung, die Tarife 8

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König/ Weber, Netzwerke (FN 7), S. 46. König/ Weber, Netzwerke (FN 7), S. 56 ff.

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und Preise? Sollen die Bahnen Subventionen erhalten und in welcher Fonn, z. B. in Gestalt von Zinsgarantien? Wie weit geht das Mitbestimmungsrecht der Kommunen? Ich kann das hier nur andeuten. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen waren so beträchtlich, daß viele Wirtschaftshistoriker in der Eisenbahn das wichtigste Vehikel fUr den "take-off' zu gesamtwirtschaftlichem Wachstum sehen, wenn auch derjenige Kollege, der dies zumindest für die USA bestritten hat, dafür - aber nicht nur dafür - den Nobelpreis filr Wirtschaftswissenschaften erhielt. 10 Aber auch die Ausstrahlungen auf die Schaffung des modernen Rechts, nicht nur des Verkehrsrechts scheinen mir beträchtlich zu sein, ohne daß ich in der Lage bin, dies kompetent zu beurteilen. Denn ähnlich wie später die Elektrifizierung brachte die Eisenbahn die Ausbildung eines ganzen Infrastruktursystems. IV. Bergbau Für den Bergbau war Sicherheit und die Haftung bei Unililien ein uraltes Problem. Bergbau war immer gefll.hrlich, und im Bergbau wurden seit Jahrhunderten Techniken angewandt und weiterentwickelt, die einerseits den Abbau von Erzen, Salzen oder Steinen, schließlich auch der Kohle ermöglichen, andererseits aber das Risiko der dabei Beschäftigten mildem sollten. Daher war der Bergbau auf dem europäischen Kontinent größtenteils nicht nur staatlich überwacht, sondern auch staatlich betrieben und durch eine Fülle von Vorschriften gekennzeichnet. Das hat mit dem Bergregal zu tun, das seit dem Mittelalter auf dem Kontinent, zumindest in Italien und dem Römischen Reich im Unterschied zu England, wo der Grundeigentümer über die Bodenschätze verfUgen konnte, das Verfilgungsrecht über die Mineralien dem König bzw. Landesherrn zusprach." Wenn auch die Landesherren sehr unterschiedlich davon Gebrauch machten, so gab es ihnen jedenfalls die Gelegenheit, zumindest regulierend und kontrollierend einzugreifen. In Preußen bedeutete das seit den Bergordnungen des 18. Jahrhunderts nicht nur staatliche Kontrolle, sondern Leitung, das sog. Di10 Robert W. Fogel, Railroads and Arnerican Economic Growth. Baltimore. Johns Hopkins UP 1964; s. aber auch das sehr viel positivere Urteil bei Albert Fishlow, American Raikroads and the Transformation ofthe Ante-Bellum Economy. Cambridge/Mass., Harvard UP 1965. Für Deutschland: Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840-1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur, Dortmund 1975, 2. Aufl., 1985. Ein internationaler Vergleich flir Europa ist O'Brien, Patrick (Ed.) Railroads in the Economic Development of Western Europe, 1830-1914. London 1983. 11 Ob dies auch ein Eigentumsrecht war, überlasse ich den Juristen zu entscheiden. Das hängt wohl davon ab, welchen Eigentumsbegriff man anwendet. (Vgl. W. Wegener, Art. "Bergregal" im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I ( 1971 ), s. 378 ff.)

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rektionsprinzip, das erst nach jahrzehntelangen Diskussionen mit dem Miteigentümergesetz von 1851 und dem Allgemeinen Berggesetz von 1865 zugunsten der privater Eigentümer aufgegeben wurde, wobei charakteristischerweise aber die technische Überwachung durch die Bergbehörden beibehalten wurde. 12 Denn gerade in diesen mittleren Jahren des 19. Jahrhunderts machte der Bergbau entscheidende technische Innovationen durch. Das Vordringen in größere Tiefen erforderte neue Bohr-, Abdichtungs-, Entwässerungs-, Lüftungs- und Fördertechniken. Die Gefahr von Staubexplosionen stieg ebenso wie die Einsturz- oder Verschüttungsgefahr. Mit dem Einsatz von Dampfmaschinen unter Tage und schließlich dem von Sprengstoffen stieg auch die Explosionsgefahr. Die technische Bewältigung dieser Aufgaben wurde komplexer, während, wenn ich das richtig sehe, die staatlich-juristische Instrumentarium wegen des kontinuierlichen staatlichen Dirigismus zumindest in Preußen zur VerfUgung stand. Für die Umweltbelastung durch den Bergbau gilt dies nur zum Teil. Bergschäden gab es schon immer, wo Bergbau betrieben wurde. Für sie gab es daher auch rechtliche Regelungen, nicht aber fUr die Luftverschmutzung. Sie ging jedoch stärker von der Verarbeitung der Kohle, etwa den Kokereien , aber auch von Hüttenwerken, Eisenbahnen und Dampfmaschinen aus. In England und Frankreich kam es daher in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu bürgerlichen "Rauchabschaffungsbewegungen". Doch die Feuerungsfachleute suchten viele Jahre vergeblich nach einem rauchlosen oder wenigstens raucharmen Verfahren, so daß Forderung nach gesetzlichen Bestimmungen, die in England 1853, in Frankreich 1854 vorgebracht wurden, ergebnislos blieben, obwohl sich auch Prinzgemahl Albert für sie verwandte. Ob dies nur darauf zurückzuführen ist, daß tatsächlich eine technische Lösung nicht zur Verfügung stand oder daß die industriellen Interessen stärker waren als die Bürgerproteste, muß offen bleiben. Die Literatur enthält beide Meinungen. 13

V. Chemische Industrie Damit komme ich zur Chemie, denn bei ihr spielt neben der Luft- vor allem die Wasserverschmutzung eine erhebliche Rolle. Schon immer waren Gerbereien und Färbereien eine Quelle des Unmuts der Nachbarn gewesen, sei es, weil sie übel rochen, sei es, weil sie die Abwässer sichtbar verschmutzten. Sie waren 12 Wolfram Fischer, Das wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungsbild der preußischen Bergrechtsreform 1851-1865, in: Zeitschrift flir Bergrecht 102 ( 1961 ), S. 181189; ders., Die Stellung der preußischen Bergrechtsreform (1851-1865) in der Wirtschafts- und Sozialverfassung des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift flir die gesamte Staatswissenschaft 117 (1961), S. 531-534. Wieder abgedruckt in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze- Studien- Vorträge. Göttingen 1972, S. 139-160. 13 König/ Weber. Netzwerke (FN 7), S. 47.

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freilich nicht die einzigen Wasserverschmutzer. Praktisch jedermann gehörte dazu, denn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sind auch in deutschen Großstädten die meisten Fäkalien ungeklärt in die Flüsse und Bäche gelangt. Darüber gibt es anschauliche, "zum Himmel stinkende" Beschreibungen von Zeitgenossen. Auch in England gab es jahrzehntelange Kämpfe um die Abwässer der Städte, ehe gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Kommunalverwaltungen die Sache allmählich in den Griff bekamen. Hier brachten technische Erfindungen der chemischen Industrie also zunächst vor allem zusätzliche Probleme, manchmal freilich in einer bisher nicht bekannten Größenordnung. Sie traten vor allem auf, wenn chemische Fabriken sich in der Mitte von Städten befanden, was nicht selten der Fall war, wenn sie sich aus kleinen Laboratorien oder Werkstätten entwickelten. Die moderne chemische Industrie hat ihren Ursprung in der Schwefelsäureund Sodafabrikation nach dem Verfahren von Leblanc, dann in der Teer- und Gasproduktion aus Steinkohle. Chemische Produkte wie Soda, Schwefel oder Chlor waren seit langem bekannt und wurden u. a. zur Seifen- und Glasproduktion, filr die Bleicherei und Färberei, filr Papier und Textilien, zum Beizen, filr die Metallbehandlung und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für Düngemittel und Teerfarben benötigt. Neu waren nun nicht nur andere, sondern vor allem kontinuierliche Produktionsverfahren, denen auch eine genauere Kenntnis von chemischen Reaktionen zugrunde lag, und die Weiterverwendung von Abfallprodukten. Die meisten dieser Produktionsprozesse hatten Wirkungen auf die Umwelt. "Schon bei der Darstellung von Zink und Kupfer war den Zeitgenossen deutlich geworden, wie sehr eine umfangreiche Produktion die Umgebung und somit die beschäftigten Menschen in Mitleidenschaft zog. Speziell Schwefel und Chlor sowie ihre Verbindungen, die in engem Zusammenhang mit der höheren Heizkraft der Steinkohle in größeren Mengen freigesetzt wurden, waren die Ursachen vieler Krankheiten und Klagen." 14 Es gab aber auch neue Produktionsprozesse, die die Umwelt schonten, so das Rösten von Eisenkiesen, also schwefelhaltigen Eisenerzen, in Öfen mit Abfilhrung oder Sammlung des dabei gewonnenen Schwefeldioxids, das seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts angewandt wurde. Von den ersten Versuchen bis zur routinemäßigen Anwendung in der Industrie vergingen jedoch mehr als dreißig Jahre. Einer der Einsatzstoffe beim Leblanc-Verfahren war Natriumsulfat. Um die Produktion dieses Stoffes gab es heftige Kontroversen, weil die Fabrikanten den dabei frei werdenden Chlorwasserstoff in die Luft abließen, statt ihn zu Salzsäure zu kondensieren und mit gelöschtem Kalk zu Chlorkalk, einem gesuchten Bleichmittel, weiterzuverarbeiten. In England wurde dieses Verfahren 14

König/ Weber, Netzwerke (FN 7), S. 127.

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schließlich 1863 gesetzlich verboten. Um diese Zeit hatte freilich Solvay in Belgien ein neues Verfahren entwickelt, das dem Leblancschen weit überlegen war und auch einige der Umweltwirkungen verringerte. Sein Verfahren integrierte mehrere bisher nacheinander ablaufende Prozesse, verwertete die anfallenden Nebenprodukte besser und konnte überdies größere Mengen zu geringeren Kosten produzieren. Dennoch setzte es sich in England nur langsam durch, während es auf dem Kontinent, wo es weniger etablierte Anlagen nach Leblanc gab, schneller eingeführt wurde. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam dann die chemische Produktion von Düngemitteln, in den sechziger Jahren die Teerfarbenindustrie und in ihrem Gefolge die synthetische Arzneimittelherstellung hinzu, und damit entstand die chemische Großindustrie, eine der ersten, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, statt auf praktischer Erfahrung beruhte. Sie stellte den Patentjuristen neue Aufgaben, denn ihr kam es auf die Patentierung von Produktionsverfahren, nicht nur von neuen Produkten an. Im Zusammenhang mit dem Patentgesetz von 1877 fand eine intensive Debatte darüber statt, bis es gelang eine auch ft1r die chemische Industrie tragbare Lösung zu finden. 15

VI. Elektrizität Wenn man danach fragt, welche der technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts die am weitesten reichenden Folgen hatte, so wird man vermutlich an erster Stelle die Elektrizität nennen müssen. Schumpeter hat mit ihr den zweiten großen sog. Kondratieff-Aufschwung verbunden, so wie der erste ein Ergebnis der Grundlageninnovationen Dampfmaschine und Eisenbahn gewesen sei. Stärker noch als bei diesen ist mit der Elektrizität die Entstehung eines ganzen technologischen Systems verbunden, ohne das wir heute uns das Leben gar nicht mehr vorstellen können. Die Elektrifizierung hat die weltweite Verteilung von Energie und damit eine globale Kommunikation ermöglicht. Die Entdeckung der Elektrizität als physikalische Größe und ihre Entwicklung zu einer wirtschaftlich enorm wirksamen Technologie hat das ganze 19. Jahrhundert in Anspruch genommen. Am Beginn standen die Arbeiten von Physikern wie 0rsted, Faraday und Ohm, die die galvanische Elektrizität entdeckten und in Galvanometern sichtbar machten bzw. den Zusammenhang von elektrischer Spannung, Stärke und Widerstand herausfanden (Ohm 1826) und so die Grundlagen schufen auch filr die Übertragung elektrischer Signale, zunächst in Schwachstrom. 15 Paul A. Zimmermann, Patentwesen in der Chemie. UrsprUnge, Anfänge, Entwicklung. Ludwigshafen 1964; Eberhard Schmauderer, Der Einfluß der Chemie auf die Entwicklung des Patentwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in : Tradition. Zeitschrift filr Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 16 ( 1971 ), S. 144-176.

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Die Eisenbahnen erkannten die kommerziellen Nutzungsmöglichkeiten, denn sie suchten nach einem Informationssystem, das schneller war als die Züge, um das immer komplexer werdende Eisenbahnsystem lenken zu können. Die Telegraphie erleichterte somit die Logistik des Eisenbahnverkehrs. 183 8 konnten Cooke und Wheatstone in England einen Zeigertelegraphen nach dem Zwei-Nadel-System an der Great Western Railway von London nach Birmingham vorführen; ab 1844 verbanden sie London mit einer Reihe von wichtigen Städten, und um London mit Paris zu verbinden, gründeten sie zwei Jahre später die Electrical Telegraph Company, die 1848 ihren Betrieb aufnahm und bis 1852 bereits 6 400 km Kabel verlegt hatte. Betrieben wurden die Telegraphen als tote Leitungen durch Induktionsspulen oder mit Gleichstrom aus Batterien oder durch magnet-elektrische Maschinen nach dem Prinzip von Faraday. 16 Für die USA waren solche Signalübertragungssysteme bei den großen Entfernungen noch viel attraktiver als fiir Europa, und hier entwickelte in den ersten Hälfte der vierziger Jahre Samuel Morse sein ab 1847 auch in Europa bald zum Standard werdendes Zeichensystem. Anfangs hatte in fast keinem Lande die Regierung ein Interesse an der neuen Technologie, obwohl die amerikanische Bundesregierung Morses erste Versuche sogar finanziell unterstützt hatte. Das war in Preußen anders. Das hing damit zusammen, daß dort ein Artillerieoffizier namens Siemens die militärische Bedeutung des neuen Nachrichtensystems erkannte, nachdem sein Bruder Wilhelm ihm mit dem Wheatstoneschen Zeigertelegraphen bekannt gemacht hatte. Zusammen mit dem Universitätsmechaniker Halske baute er einen Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung und isochroner Fortschaltung, wobei Sender und Empfänger in ein und demselben Gerät untergebracht waren. 17 Er erhielt dafiir ein preußisches Patent und gründete 1847 die Firma Siemens & Halske. Daß der preußische Staat sich dafiir interessierte, hatte auch mit der Revolution von 1848 zu tun. Sie verlangte von Siemens die Verlegung der Telegraphenlinien unter die Erde, damit Private keinen Zugang dazu hätten. Erst nach Abflauen der Revolution 1949 erhielten sie Zugang zu den preußischen Telegraphen. Übrigens flihrte Preußen sehr bald den Morse-Apparat ein, was Siemens sehr verstimmte. Da mit dem Telegraphen-Verkehr sehr viel Geld zu verdienen war, setzte er sich schnell durch. 1854 schlossen sich die deutschen und Österreichischen Netze zum Deutsch-Österreichischen Telegraphen-Verein zusammen, und 1865 einigten sich die europäischen Staaten im Pariser Vertrag über die Grundlagen der Benutzung der telegraphischen Linien. Die Telegraphie veranlaßte so auch den Beginn eines Netzwerkes von internationalen Verträgen. Wenn ich mich 16

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König/Weber, Netzwerke (FN 7), S. 216. König/ Weber, Netzwerke (FN 7), S. 217.

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nicht täusche, kann man diese in die Kategorie des Technikermöglichungsrechts einordnen. In den 1860er Jahren begann auch der Bau von transatlantischen Telegraphenlinien und von Linien in den Vorderen Orient. Schon 1866 konnte man von London nach New York telegraphieren. 1869, im Jahr der Eröffnung des Suezkanals, war England über 18 000 km lange, von Siemens verlegte indoeuropäische Kabel und über ein zweites Kabel durch das Mittelmeer mit Indien verbunden. Statt ein bis zwei Monate brauchte man nun für eine Nachrichtenübermittlung nur noch 1 ~ Stunden. Dies war einer der größten technisch bedingten Rationalisierungseffekte des 19. Jahrhunderts, vielleicht sogar der bedeutendste. In gewisser Weise kann man sagen, daß damit das Informationszeitalter eingeläutet worden war. Seit I 876 Bell das erste praktisch verwendbare Telephon hergestellt hatte, kam ein zweites Kommunikationsinstrument der Schwachstromtechnik hinzu, das im 20. Jahrhundert eine noch breitere Verwendung fand als der Telegraph, da es in die privaten Haushalte und Unternehmen vordrang. Der zweite große Effekt der Elektrizität, die Erzeugung und Übertragung von Starkstrom, kam eine Generation nach dem Telegraphen, aber nur wenig später als das Telephon. Dazwischen gab es mehrere Stufen und Anwendungen des elektrischen Stroms, wie die Galvanotechnik, die z. B. zum Versilbern benutzt wurde und zunächst mit Batterien arbeitete, seit den dreißiger Jahren jedoch auch Generatoren einsetzte, wie sie ursprünglich für physikalische Experimente benutzt wurden. Sie beruhten auf der Wechselwirkung von Elektrizität und Magnetismus. Ein wichtiger Schritt war dann I 866 die Entdeckung des elektrodynamischen Prinzips fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander durch mehrere Experimentatoren. Einer davon, der auch als erster die wirtschaftliche Bedeutung dieses Prinzips erkannte, war Werner Siemens. Es besagt vereinfacht, daß ein einmal magnetisierter Elektromagnet auch nach Abschalten des Stroms noch einen Restmagnetismus zurückbehält, der dazu benutzt werden kann, um einen schwachen Strom zu erzeugen, mit dessen Hilfe wiederum der Elektromagnet verstärkt wird, so daß Strom und Magnet sich gegenseitig verstärken, bis eine Sättigungsgrenze erreicht ist. 18 Dynamomaschinen oder Generatoren, die sich dieses Prinzip zunutze machen, können also Strom erzeugen, und dieser kann für sehr verschiedene Zwecke genutzt werden. Einer der ersten Verwendungszwecke war das Licht, zunächst der elektrische Lichtbogen, für den freilich ursprünglich jeweils ein eigener Generator nötig war. Nach der Erfindung der Glühlampe durch das Team um Edison und dessen Fähigkeit, den Systemcharakter von Erzeugung, 18

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Verteilung und Nutzung von elektrischer Energie zu erkennen, kam es darauf an, diese in sinnvoller Weise miteinander zu koppeln. In London und New York entstanden die ersten stationären Anlagen 1882, in Mailand 1833, und 1885 auch in Berlin in der Markgrafenstraße. Ein Schild in einem der neuen Gebäude am Gendarmenmarkt erinnert heute daran. Wenig später konnte Siemens in Lichterfelde auch die erste elektrisch betriebene Straßenbahn der Welt vorstellen. Und 1891 gelang Oskar von Miller mit dem Aufbau und Betrieb einer 175 km langen Leitung von Lauffen am Neckar nach Frankfurt am Main anläßlich der dortigen Elektrizitätsausstellung die Demonstration der Möglichkeit, Strom in Überlandleitungen zu übertragen und so in jedes Dorf zu bringen. Damit aber waren Politiker und Juristen gefordert, Regeln zu schaffen, ähnlich wie dies 50-60 Jahre früher bei dem Bau von Eisenbahnen der Fall gewesen war. Sie hatten dabei zwischen verschiedenen technischen und juristischen Möglichkeiten zu wählen. Sollten sie eher viele kleine Kraftwerke oder eine zentrale Station bauen oder konzessionieren? Sollten sie sie selbst betreiben, eine private Firma damit beauftragen oder einen gemischtwirtschaftlichen Betrieb errichten? Am Anfang entschied man sich meist filr die Konzessionierung, schon weil man selbst die technischen Kenntnisse nicht besaß und das wirtschaftliche Risiko scheute. Wie die Kommunalpolitiker in Berlin sich seit 1882 dieser Aufgabe stellten, habe ich vor einigen Jahren in einem Buch über die Geschichte der Stromversorgung geschildert. Gestatten Sie mir, summarisch daraus zu zitieren: "Als die Berliner Stadtverordnetenversammlung diese Entscheidung zu treffen hatte, warb Bürgermeister Forckenbeck für die private Lösung mit dem Argument, daß das Risiko bei der Betreibergesellschaft, der Gewinn jedoch bei der Stadt liege. Ehe es soweit war, vergingen jedoch Jahre der Diskussion .... Am 9. März 1882 lag der Berliner Stadtverordnetenversammlung zum ersten Mal eine Vorlage zur Beschlußfassung vor. Sie betraf 'die Beleuchtung des Potsdamer Platzes und eines Theiles der LeipzigerstraBe durch elektrisches Licht', also genau jenes Herzstückes des kommerziellen Berlins, das heute, in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, erneut zur Gestaltung ansteht. Die Debatte verlief kontrovers, nicht wegen grundsätzlicher Bedenken, sondern wegen der Kosten. 'Ich würde Ihnen ... empfehlen, die Sache vorläufig zurückzuweisen', meinte der Stadtverordnete Loewel, 'denn blos, um der Berliner Bevölkerung die Freude zu machen, daß sie dort elektrisches Licht versuchsweise ansehen kann, dazu ist mir der Kostenpunkt zu gewaltig'. Dem setzte der Stadtverordnete Dr. Horwitz entgegen, daß 'eine nüchterne kalkulatorische Erwägung' gerade filr eine elektrische Beleuchtung spreche. Er liebe 'dies kalte Licht im Verhältnis zum Gaslicht auch nicht sonderlich', aber 'wir werden uns daran gewöhnen müssen, gerade wie an das Gaslicht gegenüber der Öllampenbeleuchtung: es ist eben nothwendig, wenn man nicht einen Luxus kultivieren will, der schließlich dazu fUhrt, daß wir auf unseren öffentlichen Straßen lauter

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Wachskerzen brennen' .... Auch Oberbürgermeister Forckenbeck meinte, daß 'eine Kommune von der Bedeutung Berlins sich ... dem in keiner Weise entziehen' könne . ... Zunächst blieben die Beflirworter jedoch in der Minderheit. ... Als 1887 eine Petition mit rund 500 Unterschriften von Bezirksvorstehern und Bewohnern Alt-Berlins einging, nun auch (neben dem Potsdamer Platz) die Straße unter den Linden und die Kaiser-Wilhelm-Straße zu beleuchten, wiederholten sich die Argumente .... Ein Befilrworter stellte die Frage: 'Was hat die Kommune Berlin, die Hauptstadt des Deutschen Reiches, einer großartigen, neuen kulturbewegenden Erfindung gegenüber zu thun? Soll sie diese ganz einfach ignorieren oder nur der Wissenschaft zur weiteren Entwicklung überlassen? Oder soll sie der Wissenschaft die Hand bieten?' ... Dennoch wurde die Vorlage mit 39 zu 50 Stimmen abgelehnt. Erst als der Oberbürgermeister bekanntmachte, daß 'Se. Majestät ... von dem Ihm in seinen Grundlagen vorgelegten Projekt mit großem Interesse Kenntnis genommen und sich mit der Ausfilhrung vollständig einverstanden erklärt' hatte, änderten sich die Mehrheitsverhältnisse.... Im Oktober 1887 nahm die Stadtverordnetenversammlung die Vorlage ohne weitere große Diskussion an." 19 Die juristischen Implikationen der Elektrizitätswirtschaft hat im gleichen Band Wolfgang Löwer in seinem Beitrag über "Rechtshistorische Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung von 1880 bis 1990" behandelt. Ich kann daraus nicht in der gleichen Ausführlichkeit zitieren, sondern möchte mich auf einen der Kernsätze in der Einführung zu seinem Beitrag beschränken: "Das Beispiel Elektrizität als nutzbare Kraft zeigt, daß die Rechtsordnung im allgemeinen nicht in der Form einer rechtlichen Entscheidung generelle Risiken eine bestimmten technischen Fortschritts bewertet und dann mit einem expliziten (risikobegrenzenden) Zulassungsakt oder mit einer Verbotsnorm Konsequenzen zieht. Die Rechtsordnung reagiert auf solche neuen Phänomene zunächst mit ihrem allgemeinen Recht, versucht eine anpassende Auslegung des vorhandenen Normenbestandes". 20 Dieser Satz dürfte allgemeine Gültigkeit, nicht nur im deutschen Recht besitzen, auch wenn heute mancher meint, die Rechtsordnung müsse vorsorglich jedes Risiko, das aus einer neuen technischen Entwicklung stammen könnte, verhindem oder zumindest eingrenzen.

19 Wolfram Fischer, Die Elektrizitätswirtschaft in Gesellschaft und Politik, in: ders. (Hrsg.): Die Geschichte der Stromversorgung, Frankfurt am Main 1992, S. 23 ff. 20 Wolfgang Löwer, Rechtshistorische Aspekte in der deutschen Elektrizitätsversorgung von 1880 bis 1990, in: ebd., S. 169.

Modernisierung im Zweiten Kaiserreich und technischer Wandel Von Rainer Sehröder I. Fragestellung

Mein Beitrag beabsichtigt, das Thema der Tagung, technischer Wandel und Recht, mit dem ursprünglich aus der Politologie entlehnten Konzept der "Modernisierung" in Kontakt zu bringen. 1 Von Beispielen abgesehen, ist nicht geplant, eine Gesamtübersicht ilber die rechtlichen Normen zu geben, die dem technischen Wandel folgten oder ihn einleiteten. Das bleibt - in diesem Band wie auch sonst - den Untersuchungen zu den einzelnen Aspekten des technischen Wandels vorbehalten. Hier geht es um den technischen Wandel als einen offenkundigen Teilaspekt der sog. Modernisierung. Die Betrachtung von Geschichte aus dem Blickwinkel der "Modemisierung" wird seit den siebziger Jahren in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Die Konzeption ist aus einer Vielzahl von Gründen problematisch2 , vor allem, wenn sie zu einer überstarken Ausrichtung der Geschichtsbetrachtung an politisch geprägten Wertungen wie modem/unmodern fUhrt. Trotz dieser Gefahren verspricht der Ansatz neue und spannende Perspektiven3 • Dies gilt für das 19. Jahrhundert schon deshalb, weil- worüber zwischen Soziologen und Historikern Konsens bestehen dUrfte- "Modernität" schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Bezugssystem fungiert, auf das die historische Entwicklung hin beurteilt wird. 4 Die "Erfahrung und das Bewußtsein eines epochalen Wandels in einem Prozeß kontinuierlicher und irrevisibler Entwicklungen" spiegeln sich also "in den makrosoziologischen Begriffen und Theoriediskussionen wider". 1 Die Zahl der Fußnoten soll- der Vortragsfassung und dem exemplarischen Charakter der Ausruhrungen entsprechend - auf wenige einerseits weiterfUhrende andererseits beispielhafte Belege beschränkt bleiben. 2 Hans-Uirich Weh/er, Modemisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975, s. 5-85. 3 V gl. etwa Dietrich Rüschemeyer, Modernisierung und die Gebildeten im kaiserlichen Deutschland, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte: Aspekte und Probleme, Opladen 1973, S. 515-535, 519 f. 4 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 3. Auflage, München 1987.

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Für die Rechtsgeschichte wurde das Konzept der Modernisierung bislang noch nicht fruchtbar gemacht. Mit Schissler verstehe ich unter Modernisierung denjenigen "kumulative[n] Wandlungsprozeß", der die uns heute bekannten Gesellschaftsformationen der Gegenwart hervorgebracht hat. Vor allem werden mit dem BegriffModernisierung soziale und politische Prozesse bezeichnet wie z. B. "Mobilisierung, Urbanisierung, Erwerb politischer Teilhabe, Nationenbildung, Umverteilung... " 5 Zwei Aspekte stehen im Zentrum der folgenden Abhandlung: - Sie will deutlich machen, daß ein Wechselprozeß zwischen der Entwicklung der Technik und dem Recht besteht, bei dem gelegentlich die Technik dem Recht, gelegentlich auch das Recht der Technik vorausgeht. -Sie will weiter belegen, daß der Prozeß der technisch-rechtlichen Entwicklung in dieser Perspektive besser verstanden werden kann, und zwar indem man ihn nicht nur in die allgemeine rechtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert einordnet, sondern indem man ihn unter dem Aspekt des Modernisierungsvorgangs in Deutschland betrachtet, das sich im Übergang von einer noch agrarischen, teilweise feudal geprägten Gesellschaft zu einer modernen, industriell und demokratisch geprägten Gesellschaft befand. II. Recht und Modernisierung Die Rolle des Rechts bei diesen Modernisierungsprozessen wird - sehr kontrovers- diskutiert. 6 Sie hängt zusammen mit dem Problem der Autonomie des Rechts. Die Frage, ob das Recht autonom sei, ist weder eindeutig gestellt, noch ist sie eindeutig zu beantworten. Sie kann und muß vielmehr in verschiedener Hinsicht entfaltet werden. Zum einen kann die Frage bedeuten, ob das Recht (-ssystem) an sich selbst-steuernd ist oder ob und inwiefern die Gesellschaft das 5 H Schiss/er, Preussische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763-1847, Göttingen 1978. S. 155, vgl. dort weiter: "lndustrialisierungstheorien beschäftigen sich vorrangig mit denjenigen unmittelbar ökonomischen und mittelbar soziopolitischen Bedingungen, die die Überwindung der traditionellen agrarischen Produktionsweise zugunsten des industriellen Wachstums ermöglichen." Vgl. ders., ,.Bauernbefreiung·• oder Entwicklung zur agrarkapitalisitischen Gesellschaft?, Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 8 (1979), S. 136 ff., Heinrich Best, Politik und Milieu: Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989; Hans Hafer/camp, Social structure and culture. Berlin/New York 1989, S. 5 ff.; Hartmut Kaelbele, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880-1980, MOnehen 1987, S. 5 ff. 6 Nildas Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1978; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992.

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Recht(-ssytem) (fremd-)steuert. Zum anderen ist zu überlegen, ob eine Gesellschaft mit Hilfe des Rechts steuerbar ist. Dieser Teil der Frage, ob Recht in einer "modernen" Gesellschaft "autonom" sei, löste als Reflex eine rechtshistorische Debatte aus, weil das Selbstverständnis der Juristen massiv betroffen ist. 7 Die Annahme, Recht sei ein effektiver Steuermechanismus für gesellschaftliche und Marktprozesse gehört zum Selbstbild, ja zu den wichtigsten Elementen der Konstitution juristischen Denkens, auch m. E. zu dem der Rechtshistoriker. Würden Juristen dies nicht annehmen, so müßten sie an ihrer Tätigkeit, an ihrer gesellschaftlichen Funktion zweifeln. Denn unterstellt man die Nicht-Steuerbarkeit von Gesellschaften durch Recht, so muß das große Zweifel an der Rolle der Juristen wecken. Ist Recht aber als Steuerungsinstrument für moderne (industrielle) Gesellschaften geeignet? Die Frage hat Ewigkeitswert. Sie hängtvereinfacht gesprochen - damit zusammen, wie man sich die Steuerung und Steuerbarkeil einer modernen Gesellschaft überhaupt vorstellt. Sie weist in grundlegendste Fragen der Gesellschaftstheorie und Soziologie, die hier selbstverständlich -nicht angesprochen werden können. Rottleuthner steht dem Glauben, Gesellschaften seien durch Recht zu steuern, kritisch gegenüber.8 Andere meinen darüberhinausgehend, Recht sei ein ausschließlich selbstbezügliches System.9 Juristen und andere Vertreter der notwendigen Steuerung und Steuerbarkeil sind völlig anderer Meinung. Rechtshistorisch-empirisch argumentieren nur die wenigsten. Für denjenigen, der Rechtsgeschichte nicht nur als eine Geschichte der Normen, sondern ihres Vollzuges ansieht, scheint mir evident zu sein: Es ist bei Betrachtung des historischen Materials einerseits eine Illusion, daß eine Gesellschaft mit Hilfe des Rechts sämtliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse zu steuern vermag. Ohne Zweifel ergeben sich Entwicklungen am Recht vorbei, welche dann wiederum das Recht zu einer Anpassung zwingen. 10 Entwicklungen des Waren- oder Arbeitsmarktes 11 kön-

7 Joachim Rückert, Die Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988. Rückert diskutiert zudem die Frage, ob für die Beantwortung der Frage eine rechtshistorische oder rechtssoziologische Betrachtungsweise angemessen sei. Kritisch zu diesem Klaus Günther, Das Feuer unter der trügerischen Asche, in: RJ 8 (1998), S. 131 ff.; Ulrich Falk, Der faule Kern im System, in: ebd., S. 144 ff. ; Dieter Simon, Rückerts Frage, in: RJ 14 (1995) S. 36 ff 8 Hubert Rottleuthner, Grenzen rechtlicher Steuerung, in: Koller, Weinherger (Hrsg.), Grundlagen der Rechtspolitik, Wiesbaden 1991, S. 117. 9 Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt am Main 1989. Heute hat sich Luhmann von der einst von ihm sehr einseitig vertretenen Position wider entfernt. 10 Rainer Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende: wissenschaftstheoretische Präzisierungsversuche oder Antworten auf den Funktionswandel von Recht und Justiz, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 323-367.

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nen ebenso als Beispiele dienen wie die Veränderungen, die die Auffassungen vom Zusammenleben der Geschlechter mit sich brachten. Recht folgt aber nicht nur den Entwicklungen im Sinne nachvollziehender Begleitung. Sondern Recht setzt (freilich änderbar) Rahmenbedingungen, die je nach Implementation und Sanktionsintensität durchaus gestaltenden und steuernden Charakter haben können. - Für Rechtshistoriker ist relativ klar, daß die theoretischen Debatten, wenn sie Positionen "absolut" formulieren, der rechtshistorischen "Wirklichkeit" nicht gerecht werden. Steuerung durch Recht und autonome Veränderungsprozesse in der Gesellschaft und zum Beispiel auf den Märkten stehen immer in einem spannungsvollen Wechselverhältnis.

111. Modernisierung im Zweiten Kaiserreich Wenige Epochen der Geschichte waren wie das Zweite Kaiserreich umwertenden Interpretationen von Historikern ausgesetzt. 12 "Die Problematik der politisch-kulturellen Entwicklung Deutschlands in den ersten Jahrzehnten nach der Reichsgründung ist fiir sich genommen von großem Interesse. Die Schwächen der Weimarer Republik und vielleicht sogar bestimmt Züge der gegenwärtigen Situation in der Bundesrepublik und der DDR dürften ohne eine Klärung dieser in vielem entscheidenden Jahrzehnte nur schwer oder kaum zu verstehen sein." 13 Historiker haben eine Entwicklung konstruiert 14, die über "das Deutsche Kaiserreich als Nationalstaat" 15 über die Konzeption des "Sozialimperialismus"16 bis zu der Vorstellung reichte, der deutsche Sonderweg, die gewissermaßen logische Entwicklung auf das rassistische NS-Regime zu, habe im Zweiten Kaiserreich seinen Ausgang genommen. 17 Die Fixierung auf die deutsche Innenpolitik brachte eine allseits akzeptierte Merkwürdigkeit zum Vorschein: "Entgegen der liberalen Erwartungsideologie 11 Rainer Schröder, Zur Arbeitsverfassung des Spätmittelalters. Eine Darstellung mittelalterlichen Arbeitsrechts aus der Zeit nach der großen Pest, Berlin 1984. 12 Ernst Engelberg/Horst Bartel (Hrsg.), Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871- Voraussetzungen und Folgen, zwei Bd., Berlin, 1971, Bd. I, S. VII. 13 Rüschemeyer (FN 3), S. 517. 14 Wolfgang J. Mommsen, Das Deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat, Festschrift für Theodor Schieder, München/Wien 1978, S. 9 ff. 15 Wolfgang Sauer, Das Problem des Deutschen Nationalstaates, in: Helmut Böhme (Hrsg. ), Probleme der Reichsgründungszeit 1848-1879, Köln 1968, S. 466 ft' 16 Hans-Uilrich Weh/er, Bismarck und der Imperialismus, 3. Auflage, Köln 1972, S. 454; ders., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen 1973, S. 3 7 ff. 17 Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980.

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filhrte der Prozeß der Industrialisierung jedoch nicht zu zunehmender Stärkung der gesellschaftlichen Basis der liberalen Mittelschichten und damit zu einer zunehmenden Liberalisierung der politischen Institutionen." Mommsen resümiert, daß die Industrialisierung "eine Politik der partiellen Modemisierung der gesellschaftlichen Institutionen einschließlich des Rechtssystems und der Sozialfilrsorge, unter Aussparung der politischen Ordnung" erzwang. 18 Carl Schmitt hat die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als ein "System umgangener Entscheidungen" bezeichnet. 19 Wie Mommsen unter Berufung aufTheodor Schieder0 formuliert, hätten die einzelnen Gewalten relativ unkoordiniert nebeneinander gestanden. Die Aristokratie habe ihre Vorrangstellung in Preußen, besonders im Herrenhaus, aber auch im Abgeordnetenhaus wegen des Dreiklassen-Wahlrechts bewahrt. Traditionell stark sei ihr Einfluß auf die preußische Verwaltung geblieben. Hingegen hätten die bürgerlichen Parteien im Reichstag dominiert. Diese Tatsache bezeichnen die Autoren als schwebende Machtstruktur., was "die wesentliche Voraussetzung dafür (gewesen sei), daß es zu einem Prozeß der Modernisierung der deutschen Gesellschaft ohne gleichzeitige Demokratisierung kam." Die inneren Gegensätze des politischen Systems im Deutschen Kaiserreich seien lediglich für den Augenblick immer wieder überbrückbar gewesen und "in wachsendem Maße durch nationales Pathos überdeckt" worden. Das politische System von 1871 sei somit ein "System umgangener Entscheidungen" gewesen, dessen "Integrationskraft insgesamt, aller inneren Gegensätze ungeachtet, gleichwohl bemerkenswert hoch gewesen" sei 22• Die Fragen, um die es hier geht, scheinen außerhalb dieser Konflikte zu stehen.

Mommsen (FN 14), S. 255. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Harnburg 1934, s. 24 f. 20 Theodor Schieder, Bismarck - gestern und heute, in: Lotbar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971, S. 364; W. J. Mommsen, Die latente Krise des Wilhelminischen Reiches, (Militärgeschichtliche Mitteilungen I) 1974, S. 10 ff. 21 Andreas Thier nutzt zur Beschreibung dieses Spannungsgeftlges in seiner konzisen Analyse der preußischen Steuergesetzgebung jüngst das Modell eines beweglichen Systems mit den Elementen Monarch und Regierung auf der einen, Volksvertretung auf der anderen Seite, Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreform in Preußen 1871-1893 (lus Commune Sonderhefte 119), Frankfurt am Main 1999, S. 9 ff. Sehr klar arbeitet Thier die durchaus wechselnden Machtverteilungen und Einflußfaktoren flir die Steuergesetzgebung heraus. Gerade die Steuergesetzgebung wurde von Bismarck bereits früh und gezielt als Instrument der Wirtschaftslenkung verstanden, hierzu Thier, a. a. 0., S. 129 ff., 375 ff.. zusammenfassend S. 964 ff. 22 Mommsen (FN 14), S. 265. 18 19

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IV. Schwerpunkte der Gesetzgebung im Zweiten Kaiserreich Welche Bedeutung kam in diesem Prozeß der Gesetzgebung zu? Im Reich standen Reichstag und Bundesrat gemeinsam die Gesetzgebungskompetenz zu. Während die politische Zusammensetzung des Reichstages seit langem Gegenstand der Parlamentsgeschichte ist und während in dieser Institution heftige politische Kämpfe ausgefochten wurden,23 haben nur wenige- wie M. John - bemerkt, daß die Gesetzgebung des Reiches ganz wesentlich vom Bundesrat bestimmt wurde. 24 An dieser Institution, deren Mitglieder von den Regierungen der deutschen Staaten abgeordnet wurden, kam kein Gesetz vorbei. Da Preußen mit seinen Satelliten den Bundesrat dominierte, hing fast jedes Gesetz letztlich von der Zustimmung der preußischen Staatsregierung ab. Daher ist die Einstellung der Reichskanzler, die in Personalunion das Amt des preußischen Ministerpräsidenten wahrnahmen sowie der - weitgehend falsch, weil als rein konservativ, eingeschätzten - Ministerialbürokratie von so großer Wichtigkeit. Im Rahmen dieser kleinen Abhandlung müssen einige Hinweise genügen: Eine Durchsicht des Materials ergab einige Gruppen von Gesetzen, die je unterschiedlich dem Prozeß der Modernisierung zugeordnet werden können. Ein erheblicher Teil dieser Normen wurde verabschiedet, ohne daß es zu den angesprochenen prinzipiellen Konflikten kam. Kenner der Materie wissen natürlich, daß auch diese Gesetze vielfach in Einzelheiten - aber eben nicht im Grundsätzlichen - umstritten waren, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Die These flir die folgende Aufstellung lautet: Je deutlicher der Zusammenhang mit der" unpolitischen" Modernisierung, desto leichterpassierten die Normen die Gesetzgebungsorgane. Diese - hier vor allem interessierende Modemisierung beruhte auf einem stillschweigenden Konsens, der sich über die Partei- und Standesgrenzen hinweg erstreckte. I . Als erstes sind drei Arten von Infrastrukturregeln zu nennen: Darunter zunächst technische Normierungen, Vereinheitlichung von Maß, Zahl und Gewicht. Das Eichwesen zählt hierzu. Gewissermaßen den Infrastrukturmaßnahmen gehört gleichfalls an die Vereinheitlichung des Münz-, Geld-, Bank- und Börsenwesens25 • 23 Heinrich Best, Politische Modernisierung und parlamentarische Führungsgruppen in Deutschland 1867- 1918, in: Historical Social Research 45-48, 1988, S. 5-74 24 Michael John, Politics and the Law in Late Nineteenth-Century Germany. The Origins ofthe Civil Code, Oxford 1989, S. 73 tT. 25 Bekanntmachung der Vorschriften über die Eichung und Stempelung von Maaßen und Meßwerkzeugen flir Brennmaterialien, sowie flir Kalk und andere Mineralprodukte vom 15.2.1871 ; 6.5.1871: Nachträge zur Eichordnung vom 16. Juli 1869 und zur Eichgebührentaxe vom 12. Dezember 1868; Bekanntmachung, betreffend die bei Maaßen und Meßwerkzeugen flir Brennmaterialien ... und bei Höferwaagen im öffentli-

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2. Weiter sind auf Reichs- wie Länderebene eine Vielzahl von Gesetzen zu nennen, welche das Kommunikations- und Transportwesen regulierten, vor allem das Eisenbahnwesen. 26 Im Ergebnis verlieh wohl nahezu jedes vierte preußische Gesetz einer Gemeinde oder Stadt das Recht, Grundstücke entweder fur den Eisenbahnbau oder den Chausseebau (Straßenbau) zu enteignen oder mit einer Beschränkung zu belasten. 27 In Preußen regelte das Enteignungsgesetz chen Verkehr noch zu duldenden Abweichungen von der absoluten Richtigkeit vom 16. Juni 1871; Gesetz, betr. die Einführung der Maaß- und Gewichtsordnung für den Norddeutschen Bund vom 26. November 1871 und vom 17. August 1868 in Bayern; 31. Januar 1872: Nachträge zur Eichordnung vom 16. Juli 1969 und zu dem Erlaß vom 15. Februar 1871, betr. die Eichung und Stemplung von Maaßen und Meßwerkzeugen für Brennmaterialien. sowie für Kalk und andere Mineralprodukte. Münzwesen: Münzegesetz vom 9. Juli 1872 (an die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung (Rechnungseinheit bildet die Mark). 26 Gesetz, betr. die Beschaffung von Betriebsmitteln flir die Eisenbahn im Elsaß und Lothringen vom 22. Oktober 1871, RGBI. S. 253 (regelt die Bereitstellung von Mitteln zur Finanzierung der Eisenbahn im ehemals franz. Gebiet mit Betriebsmitteln, Instandsetzungsmaßnahmen, Erweiterung der Anlagen); Bekanntmachung, betr. Abänderungen des Betriebsreglements filr die Eisenbahnen im Norddeutschen Bund vom I 0. Juni 1870 und Ausdehnung dieses Reglements unter der Bezeichnung "Betriebs-Reglement für die Eisenbahnen Deutschlands" auf die Eisenbahnen in Württemberg, Baden, Südhessen und Elsaß-Lothringen vom 22. Dezember 1871, RGBI. S. 473 ff.; Betriebs-Reglement für die Eisenbahnen Deutschlands vom 22.12.1871, RGBI. S. 473; abgeändert durch Bekanntmachung vom 5.8.1872, RGBI. S. 360; am 27. Mai 1878 wird ein Reichsamt flir die Verwaltung der Reichseisenbahnen errichtet (RGBI. 1879, S. 193); Gesetz, betr. den außerordentlichen Geldbedarf flir die Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen und für die im Großherzogtum Luxemburg belegeneo Strecken der Wilhelm-LuxemburgEisenbahn vom 15. Juni 1872, RGBI. S. 209 ff., Nr. 842 (mit diesem Gesetz werden neue Geldmittel fllr den Ausbau des Eisenbahnnetzes in besagten Gebieten bereitgestellt); Gesetz, betr. die Errichtung eines Reichs-Eisenbahn-Amtes vom 27. Juni 1873, RGBI. S. 164 ff., Nr. 941 (Einrichtung einer ständigen Zentralbehörde in Berlin mit den Aufgaben, das Aufsichtsrecht über das Eisenbahnwesen wahrzunehmen, Mängel und Mißstände im Eisenbahnwesen zu beseitigen und auf die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu achten); Bekanntmachung der Vorschriften über die Zulassung von Federwaagen zur Eichung und Stempelung und zur Anwendung beim Wägen von Eisenbahn- Passagier- Gepäck vom 25. Juni 1872, RGBI. S. I ff. (verpflichtet zur Verwendung bestimmter. geeichter Waagen bei der Gewichtskontrolle des Eisenbahngepäcks mit bis ins kleinste Detail liebevoll ausgestalteter Regulierungswut); Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Oesterreich-Ungarn wegen Herstellung einer Eisenbahn zwischen Görlitz und Reichenberg vom 21 . Mai 1872, RGBI. S. 362 ff., Stück 28, Nr. 876. 27 Beispielhaft soll dieser Blick in die Preußische Gesetzgebung das Gesagte demonstrieren: Geset=-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1892

28. Okt. 1891 Staatsvertrag zwischen Preußen und Bayern, betr. den Bau und Betrieb einer Eisenbahn von Lauterecken nach Staudemheim (in Kraft 1892) 29. Februar Allerh. Erlaß, betr. die Verleihung des Enteignungsrechts an den Majoratsherrn Grafen von Sauerma zu Ruppersdorf bezüglich der zum Bau einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Anschlußbahn von der Eisenbahn 3 Kloepfer

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vom 11. Juni 1874 das Verfahren und die Entschädigung. Das ganze ist sicherlich ein Zeichen starker Industrialisierung und zugleich eines allgemeinen Kon-

14.Mai 6. Juni

15. Juni 20. Juni

Strehlen - Grottau nach seiner Chamotte- und Thonwaren-Fabrik in Ruppersdorf erforderlichen Grundstücke Allerh. Konzessionsurkunde, betr. den Bau und Betrieb der auf das Preussische Staatsgebiet entfallenden Strecke einer Eisenbahn von Blankenssee über Waldeck nach Straßburg in der Undermark Gesetz, betr. die Erweiterung, Vervollständigung und bessere Ausrüstung des Staatseisenbahnnetzes Zuweisung einzelner Geldbeträge zur Verbesserung und Ausbau der Eisenbahnanbindung Allerh. Erlaß, betr. Bau und Betrieb der in dem Gesetze vom 6. Juni des Jahres vorgesehenen neuen Eisenbahnlinien regelt Enteigungsrechte für die an der Strecke belegeneo Grundstücke Allerh. Erlaß, betr. die Verleihung des Enteignungsrechtes an die Aktiengesellschaft "Barmer Bergbahn" zu Barmen, zur Entziehung und zur dauernden Beschränkung des zur Erbauung und zum Betriebe einer schmalspurigen Eisenbahn von Barmen durch die Anl,agen des Verschönerungsvereins daselbst bis zum Aussichtsthurm sowie einer daran anschließenden Eisenbahn nach Ronsdorf in Anspruch zu nehmenden Grundstückseigenthums. Abgedruckte Gesetze insg.: 204

Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1894 Staatsvertrag zwischen Preußen und Lippe wegen Herstellung einer Eisenbahn von Schieder nach Biomberg Allerh. Erlaß, durch welchen dem Kreise Stolp das Recht verliehen wor25. Mai den ist, das zum Bau und Betrieb einer Kleinbahn von Stolp nach Dargeröse mit Abzweigung nach Schmolin erforderliche Grundeigentum im Wege der Enteignung zu erwerben oder mit einer dauerhaften Beschränkung zu belegen. Gesetz, betr. die Erweiterung und Vervollständigung des Staatseisenbahn8. April netzes und die Betheiligung des Staates an dem Bau von Kleinbahnen Erweiterung des Eisenbahnnetzes und Mittelzuweisung hierfür Konzessionsurkunde, betr. den Bau und Betrieb einer Eisenbahn von 8. Mai Greifswald Ober Grimmen nach Triebsees durch die Eisenbahngesellschaft Greifswald- Grimmen Gesetz, betr. die Errichtung einer Centralanstalt zur Förderung des genos31. Juli senschaftlichen Personalkredites Ziel: Förderung des Personalkredits, Schaffung einer vom Staat beaufsichtigten jur. Person, die Darlehen insb. an landschaftliche Darlehenskassen gewährt, die ihrerseits Darlehen zur Förderung des Personalkredits vergeben. 16. Oktober Allerh. Erlaß, betr. die Verleihung des Enteigungsrechts an die Stadtgemeinde Saarlouis zur Entziehung und zur dauernden Beschränkung des zum Bau einer Kleinbahn vom Bahnhofe Ensdorf der Eisenbahn Trier Saarbrücken Ober Lisdorfnach Wallerfangen mit Abzweigung bis zu dem Wege von Wallerfangen nach St. Barbe in Anspruch zu nehmenden Grundstückseigenthums. Abgedruckte Gesetze insg. : 214. 16. Januar

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senses über die Richtung, in die man Staat und Gesellschaft weiterentwickeln wollte. 3. Kommunikation im weiteren Sinne, vor allem das Postwesen war wichtige Voraussetzung ftlr die Entwicklung einer industriellen Warenverkehrswirtschaft.28 Bei den Eisenbahnen vollzog sich ähnlich wie bei der Post eine Entwicklung von der privaten Gründung auf Aktienbasis hin zur Verstaatlichung, später zur Verreichlichung der Bahn. Ähnlich wie in anderen Bereichen (Straßenwesen) wurde erkannt, wie wichtig die Infrastruktur fllr das Funktionieren eines modernen Industriestaates war.

4. Konfliktaustragung: Unter den Juristen sind aus dieser Zeit zumeist die Normen bekannt, welche das rechtliche Austragen von Konflikten in geordnete Bahnen lenkten. Damit sind nicht nur materiell-rechtliche Gesetze gemeint wie das Strafgesetzbuch von 1871. Die Gesetze zur Vereinheitlichung des Verfahrens wurden fast sämtlich Ende der 70er Jahre erlassen, nämlich das Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivilprozeßordnung, die Strafprozeßordnung, die Konkursordnung. Es folgen das Gerichtskostengesetz mit Rechtsanwaltsordnung und Rechtsanwaltsgebührenordnung von 1878 und 1879. Das Anfechtungsgesetz fiir Rechtshandlungen von Schuldnern außerhalb des Konkursverfahrens ist ebenso zu erwähnen sowie nach Gründung des Reichsgerichts 1879 die Übertragung von Rechtsstreitigkeiten auf dieses Gericht 1879.

5. In diese Gruppe (Konflikt und Verfahren) wie auch in die weitere betreffend die Bedingungen (die Rationalisierung) des Wirtschafrens zählen natürlich die großen Rechtsvereinheit/ichungen, die mit dem Erlaß des Bürgerlichen Gesetzbuches vom 18. August 1896 (in Kraft getreten 1900) einhergingen z. B. das Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897, die Grundbuchordnung aus demselben Jahre sowie das Gesetz über Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung. Die Palette wird endlich abgerundet durch das Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit von 1898 sowie schließlich das Zwangsversteigerungsgesetz vom 20. Mai 1898, die Grundbuchordnung und das überarbeitete Gerichtsverfassungsgesetz aus demselben Jahre. 6. Das Personal des neuen Staates: Auch das Personal, zumeist die Beamten, des neuen Staates wurden immer wieder in gesetzlichen Regelungen, und zwar 28 Vereinheitlichung des Post- und Telegraphenwesens: Telegraphen-Ordnung für das Deutsche Reich vom 21. Juni 1872, RGBI. S. 213-228. 1875 (regelt die Benutzung der Telegraphen durch jedermann, das Telegraphengeheimnis sowie die Einzelheiten der Beförderung; zudem verselbständigte sich die Post- und Telegraphenverwaltung und wurde dem General-Postmeister unterstellt (VO vom 22. Dezember 1875, RGBI. S. 379); Postvertrag zwischen Deutschland und Italien vom II. Mai 1873, RGBI. S. 222 ff.; Postvertrag zwischen Deutschland und Luxemburg vom 19. Juni 1872, RGBI. S. 338 ff. (Vereinfachung des Postverkehrs zwischen dem Deutschen Reich und dem Großherzogtum Luxemburg).

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nicht nur in Haushaltsgesetzen, erwähnt. 29 Das Reichsbeamtengesetz vom 31. März I873 bildete die Grundlage ftir die bis dahin modernste Form der Verwaltung, welche auf dem Prinzip beruhte, daß Eignung und Befähigung Bewerber ins Amt bringen sollten, also nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe. Gerade diese Tatsache führte dann zu ganz erheblichen Konflikten um die Beamten- und Richterstellung, welche sich in der Folge negativ auf die Akzeptanz der Richtersprüche auswirkte. 30 7. Die modernen Sozialgesetze, welche in einem heroischen Akt z. T. von Bismarck durchgedrückt wurden, z. T. aber auch auf allgemeinem Konsens beruhten, sind noch heute in Kraft und allgemein bekannt. 31 Interventionistische Sozialgesetze zugunsten bestimmter Personengruppen hatten bereits I883 eingesetzt (Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter) und sie entwickelten sich über das Unfallversicherungsgesetz, größtenteils in einer gewissen Kleingesetzgebung immer weiter: Das Krankenversicherungsgesetz vom I 0. April I892 und I5. Juni 1893 schlossen diese Normenkomplexe bis zur Reichsversicherungsordnung von 1911 ab. Auch ergingen oft unstreitig viele Gesetze zur Abwehr von Gefahren, nicht selten im Zusammenhang mit Arbeitsschutz. 32 Immer wieder wurden Frauen und jugendliche Arbeiter in bestimmten Betrieben geschützt. Schrittweise fand hier der Gedanke Anerkennung, daß den 29 Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten vom 27. März 1872; RGBI. S. 61 ff. 30 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. I, Arbeitswelt und Bürgergeist 2. Auflage, München 1991, S. 331 f.; Rainer Schröder, Die Richterschaft am Ende des Zweiten Kaiserreichs unter dem Druck polarer sozialer und politischer Anforderungen, in: Festschrift für Rudolf Gmilr zum 70. Geburtstag, Sielefeld 1983, S. 20 I ff. 31 Vgl. z. B. Hans-Peter Benöhr, Verfassungsfragen der Sozialversicherung nach den Reichstagsverhandlungen von 1881 bis 1889, in: ZRG GA 97 (1980), S. 94-163; ders. Soziale Frage, Sozialversicherung und Sozialdemokratische Reichstagsfraktion ( 18811889) in: ZRG GA 98 (1981 ). S. 95-166. 32 Bekanntmachung Nr. 649, betreffend allgemeine polizeiliche Bestimmungen über die Anlegung von Dampfkesseln vom 29. Mai 1871, RGBI. S. 122 ff. (sicherheitspolizeilich über Qualität, Sicherheitsanforderungen, Aufstellung und Prüfung der Dampfkessel); Gesetz, betreffend die Verbindlichkeiten zum Schadensersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken, ... herbeigeführten Törltungen und Körperverletzungen vom 7. Juni 1871 , RGBI. S. 207 ff.. Nr. 25 (regelt die Ersatzansprüche Verletzter bzgl Art und Umfang des Anspruches, Anspruchsgegner, Verjährung); Schiffahrt: Verordnung zur Verhütung des Zusammenstoßens der Schiffe auf See vom 23. Dezember 1871; Seemannsordnung vom 27. 12. 1872, RGBI. S. 409 ff. ; Strandungsordnung vom 17. 5. 1874, RGBI. S. 73 ff.; Bekanntmachung, betr. die Schiffsvermessungs-Ordnung vom 5. Juli 1872, RGBI. S. 270 ff.; hiernach wurden alle Schiffsinhaber verpflichtet, ihre Schiffe nach der Größe der Laderäume vermessen zu lassen (zugl. Arbeitsrecht); Seemannsordnung vom 27. Dezember 1872, RGBI. 1872, S. 409 ff., Nr. 33; (gestaltet im einzelnen die Rechtsbeziehungen zwischen den Seeleuten und den Schiffern (Ansprüche, Rechte untereinander)

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Auswüchsen des Marktes mit seinen extrem negativen Konsequenzen für die Gesundheit schützenswerter Personengruppen ein Riegel vorzuschieben sei. Daß sich im Gewerbe- und Dampfkesselbereich natürlich technische Schutznormen (weiterhin) fanden, liegt auf der Hand. 33 Hier wirkte der alte polizeiliche Gedanke der Gefahrenabwehr weiter. Insgesamt finden sich, wie Stolleis ausgefilhrt hae 4 zwischen 1869 und 1900 insgesamt 31 z. T. ganz erhebliche Änderungen der Gewerbeordnung35 • Eine allmähliche Einschränkung der Gewerbefreiheit durch weite Bereiche des öffentlichen Rechtes (Lebensmittelrecht, Landwirtschaftsrecht, Polizeirecht, Gesundheitsrecht, Arbeitsrecht, Urheberrecht u. a. m.) schob sich über die im Prinzip liberale Gewerbeordnung. 8. Rechtssubjekte und Rechtsobjekte: Nicht nur für das 19. Jahrhundert ergab sich die politische und wirtschaftliche Frage, wer am Rechtsverkehr teilnehmen durfte (Rechtssubjekte) und was Objekt des Rechtsverkehrs sein sollte. Für die Kernbereiche ist das seit der Antike klar: Menschen sind Subjekte des Rechtsverkehrs und Sachen (bewegliche und unbewegliche) sind seine Objekte. Schon bei den Grundstücken hatte sich im Übergang vorn 18. zum 19. Jahrhundert gezeigt, wie kompliziert der politische und wirtschaftliche Prozeß war, um die Grundstücke aus feudaler Bindung zu befreien und sie gewissermaßen zu reinen Wirtschaftsgütern zu machen. Die Entwicklung respektierte zudem wirtschaftliche Tatsachen. Jeder Unternehmer muß Kosten aufwenden, um seine Firma zu etablieren, seine Produkte im Markt hervorzuheben und dieser Kostenaufwand wurde durch die neuen Gesetze geschützt. Intensiviert wurde das ganze durch das Patentgesetz vorn 25. Mai 1876, mit dem ein "geistiges Eigentum" als künstliches Objekt des Rechtsverkehrs anerkannt wurde. 36 Wiederholt wurde geregelt, welche Rechtssubjekte man anerkennen wollte, z. B. die Aktiengesellschaft. Die Entwicklung war nicht einfach, besonders was die Zeit nach den Gründerschwindeln anging. Man stritt zwischen den älteren Konzessionssystemen und dem liberaleren System der Norrnativbedingungen. Die Position des Gesetzgebers schwankte mehrfach. Am 18. Juli 1884 erließ man das Gesetz über die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktien33 Hans-Peter Benöhr, Umweltrechtsentwicklungen in Deutschland, in: Michael Kloepfer (Hrsg.): Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsrechtsentwicklung, Bonn 1995, S. 35 ff. 34 Michael Stolleis, "Innere Reichsgründung·· durch Rechtsvereinheitlichung 18661880, in: Christian Stark (Hrsg.): Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, Göttingen 1992, S. 15 ff., 34. 35 Joachim Umlauf, Die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung 1880-1890. Ein Beitrag zur Entwicklung des sozialen Rechtsstaates. Berlin 1980. 36 Neufassung des Gesetzesam 7. April 1891; das Gesetz betreffend den Schutz von Gebrauchsmustern erging arn I. Juni 1891; zur Geschichte des gewerblichen Rechtsschutzes umfassend Elmar Wadle, Bausteine zur Rechtsgeschichte - Geistiges Eigenturn, Weinheim u. a. 1996.

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gesellschaften, in dem ein strikteres System der Normativbedingungen festgeschrieben wurde (in Abänderungen zum HGB). Am 20. April 1892 wurde die Gesellschaft mit beschränkter Haftung als jüngstes Rechtssubjekt neben den Aktiengesellschaften des kleinen Mannes, den Genossenschaften, eingeführt. Die GmbH folgte einem von der Kaufmannschaft ausdrücklich gewünschten Modell, das freilich im gesamten 20. Jahrhundert immer wieder Reformwünschen ausgesetzt war, weil man sich mit dieser Rechtsform der Haftung nur zu leicht entziehen konnte. Am Rande bleibt zu erwähnen, daß Vereine Rechtsfähigkeit, wie sie im BGB festgeschrieben wurde(§§ 21 ff.), besitzen konnten, jedoch den Gewerkschaften eben dieser Rechtssubjekts-Status verwehrt wurde, um diese möglichst weitgehend in ihrer Teilnahme am Rechtsverkehr zu beschränken. 37 Das zeigt erstens, welch politischer Sprengstoff sich hinter eigentlich "banalen" - eher technisch modernisierenden - Normen verbarg und zweitens, daß bei jeder "modernisierenden" Regelung zugleich andere Aspekte, ggf. sogar antimoderne betroffen sein konnten, um die dann heftig gestritten wurde.

V. Abschließende Überlegungen: Modernisierung durch Gesetzgebung? Doch nicht nur Regeln, welche die formale Rationalität der Wirtschaft und der Verwaltung eines "modernen" Staates sicherstellten, passierten die gesetzgebenden Gremien, sondern gleichzeitig kam es zu Gesetzgebung im Bereich der sozialen Frage, der Arbeiterfrage. Die Entstehung des Interventionsstaates hängt auch mit der rechtlichen Festschreibung der Markt-Parameter zusammen. Neben den politischen (und sonstigen Interessengruppen) erkannte ein Teil der gesetzgebenden Körperschaften sowie der Bürokratie, wie die unerwünschten Folgen der "reinen" Marktwirtschaft die Grundlagen der Industriegesellschaft zu zerstören begannen. Neben den großen Sozialgesetzen der 80er Jahre existiert eine oft unterschätzte Zahl von kleineren Gesetzen, welche versuchten, die "schlimmsten" Auswüchse kapitalistischen Wirtschafrens zu mildern. Das geschah nicht selten in Form von Ergänzungen zu RGewO. Diese Gesetze wareil mittelbar die Folge der "bürgerlichen" Sozialreform, denn eine bedeutende Anzahl von Ökonomen wandte sich gegen den Manchester-Liberalismus, organisatorisch verbunden im Verein für Sozialpolitik, in der Gesellschaft fiir soziale Reform, geistig verbunden durch die historische Schule der Nationalökonomie, die sich unter anderem die Wiedereinführung der Ethik in die Wirtschaft zum Ziel gesetzt hatte. Über diese Gesetze klagten die Industriellen. Sie machten die Vertreter der historischen Schule der Natio37 Thomas Vormbaum, Die Rechtsflihigkeit der Vereine im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des 8GB, Berlin/New York 1976.

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nalökonomie auf den Kathedern und deren Schüler in den Ministerien ftlr die Normen verantwortlich, welche den Standpunkt "Herr im Haus" geflihrdeten und ihnen- das darfman nicht vergessen- Kosten aufbürdeten. 38 Neben dieser Gesetzgebung stand eine umfangreiche antisozialistische bzw. gewerkschaftliche Gesetzgebung. Somit existieren in der Gesetzgebung des Reiches und Preußens eine Vielzahl von Gesetzen, die nicht nur keine gesellschaftliche Modernisierung, sondern deren Gegenteil bezweckten. Eine ganze Liste von Normen fcillt ins Auge, von denen anfangs die Kulturkampf- und später die Sozialistengesetze 1879-1890 die auffälligsten waren. Aber auch die Schutzzollgesetzgebung oder andere Gesetze, welche - vereinfacht - die ostelbische- Landwirtschaft schützte und förderte, zählt hierher. Im Verein mit den Interessen der Schwerindustriellen, wurden hier - eigentlich marktwidrige Reservate geschaffen, welche einer wirtschaftlichen Modemisierung Hohn sprachen. Altständische Interessen förderte gleichfalls die Rechtspolitik gegenüber dem Gesinde, die wie ein feudaler Block aus vorindustrieller Zeit in das 19. Jahrhundert hinüberragt.39 Die neuen/alten Regelungen des bäuerlichen Anerbenrechts sowie der Fami/ienfideikommisse, die der wirtschaftlichen Liberalisierung entgegenliefen, sind gleichfalls zu nennen. 40 Wie überhaupt das Sonderrecht des Adels weitergalt Sogar dem BGB wurde eine Verlustliste, so formulierten schon die Zeitgenossen, durch das EGBGB beigegeben. Was die Gesetzgebung beschloß, hing natürlich in erster Linie von der Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaften ab. Die Zusammensetzung des Reichstags veränderte sich im Zweiten Kaiserreich gravierend, so daß sich auch die Kräfte änderten, auf welche die Regierung sich stUtzen konnte. Die Sozialistengesetzgebung passierte der RT noch bis zu Beginn der 90er Jahre. Danach war eine Gesetzgebung, welche die Arbeiterschaft oder die Gewerkschaften blockieren sollte im RT nicht mehr möglich, wie das Schicksal der Zuchthausvorlage zeigte. Vieles geschah in diesem Gremium, ohne daß es den jeweiligen Oppositionskräften aufgefallen wäre oder daß man eine Chance gesehen hätte, die Dinge zu ändern (etwa bei den Privilegien des Adels).

38 Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts. Die Begründung einer Entscheidung des 8GB-Gesetzgebers im Kontext sozialer, ökonomischer und philosophischer Zeitströmungen, Ebelsbach 1981, Teil III. 39 Thomas Vormbaum, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert (vornehmlich in Preußen 181 0-1918) (Schriften zur Rechtsgeschichte 21) Berlin 1980; Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinderecht vornehmlich im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992. 40 Jörn Eckert, Der Kampf um die Familienfideikomisse in Deutschland. Studien zum Absterben eines Rechtsinstitutes (= Rechtshistorische Reihe 104), Frankfurt am Main 1992.

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Auch Michael Stolleis scheint skeptisch. 41 Er stellt zu Recht das Problem der "inneren Reichsgründung" durch Rechtsvereinheitlichung in den Vordergrund und weist die Janusköpfigkelt dieser Gesetzgebung deutlich auf. Als Beispiel kann sowohl der Kulturkampf mit einer Kette von Kampfgesetzen dienen als auch die Sozia/istengesetze. Beide Normierungen waren nur in der Frühzeit des Zweiten Kaiserreiches möglich. Daneben erwähnt er den liberalen Aspekt des Kaiserreiches, der sich sowohl auf persönliche Liberalität (Wohnsitzfreiheit, Konfessionsfreiheit) als auch auf wirtschaftliche Freiheiten, welche durch die Gesetze, die oben erwähnt wurden, eigentlich erst ermöglicht wurden. Daneben gab es aber auch den wohlfahrtsstaatliehen Aspekt im Gesundheitswesen, Apothekenrecht, 42 Ärzterecht und in der Sozialversicherung, die staatssozialistische Tendenzen aufweist, was übrigens mit weiten Bereichen der Infrastruktur übereinstimmt, wo gleichfalls der Staat sich selbst in die Pflicht

nahm.4J

Stolleis erfaßt mit der Kategorie "Modernisierung" die drei wichtigsten Gruppen von Materien, deren erste durch das Reich zentral geregelt wurde. Es handelte sich um auswärtige Beziehungen, Militär, Handelsflotte, Währung, Maß und Gewicht, Zölle und Reichssteuern, zentrale Bereiche des Verkehrswesens (Post, Telegraph, Eisenbahn, Schiffahrt, Wasserwege). Eine zweite Gruppe erklärt sich aus ökonomischem Liberalismus mit der Doppelköpfigkelt im persönlichen und wirtschaftlichen Bereich, also einerseits Freizügigkeit, konfessionelle Gleichberechtigung und andererseits Schutz des geistigen Eigentums, Schutz der Patente, Marken und Mustern und vor allem Gewerbefreiheit. Dieser Richtung gegenüber setzte sich mittelfristig die wohlfahrtsstaatlichstaatssozialistische Motivlinie wieder durch mit dem Übergang zum Schutzzollsystem, Schaffung der Sozialversicherung und einer Vielzahl von Reichsverwaltungsgesetzen "zumeist von betont sozialem Charakter". "Sie trugen nicht nur'' - wie Ernst Rudolf Huber meinte - "den Erfordernissen der sich allseitig frei entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch den wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen der modernen Industriegesellschaft Rechnung. " 44 Stalleis (FN 34), S. 38. Rechtseinheitliches Apothekerrecht VO betr. den Verkehr mit Apothekerwaren vom 25.3.1872, RGBI. S. 85 ff. und Bekanntmachung betr. die Anwendung von Präzisionswaagen in den Offizien der Apotheken vom 1.5.1872, RGBI., Beilage zu Nr. 14; Bekanntmachung betr. die Pharmacopoea Germanika vom 1.6.1872, RGBI. S. 172; Bekanntmachung vom 4.7.1873, RGBI. S. 200; Bekanntmachung betr. die PrUfung der Apothekervom 15.7.1873, RGBI. S. 299. 43 Stalleis (FN 34), S. 29 f. 44 Erst Rudalf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1963, S. 911. 41

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Stolleis' dritte Gruppe sind die Gesetze, welche auf Grund der industriellen Revolution erlassen worden waren. Hier seien die Widerstände gegen Gesetzgebung (Technik, Elektrizität, groBindustrielle Anlagen, Autoverkehr, Flugzeugverkehr und Rundfunkwesen) am geringsten gewesen. Allein, bei dem Wunsch, das Geschehen unter den Aspekt "Modemisierung" zu erfassen, darf man die inzwischen genügend aufgewiesene Problematik des Ansatzes nicht vergessen. Denn die eingangs erwähnte Kennzeichnung des Zweiten Kaiserreiches als "System umgangener Entscheidungen" bezieht sich zu Recht auf politische Grundentscheidungen, die Martiny in bezug auf die Gewerkschaften und Sozialdemokratie als den Konflikt zwischen "Integration oder Konfrontation" bezeichnete.45 Es standen m. E. - wie auch Stolleis meintim rationalisierenden, technischen und wirtschaftlichenEereich modernisierende Gesetze neben solchen, die durchaus anachronistischen, antimodernen Charakter hatten. VI. Rechtsprechung oder Gesetzgebung Erst die Weimarer Republik fiihrte die meisten der Konflikte einer Lösung teilweise durch Gesetze zu, beispielhaft können die Normen zum Bereich "Arbeit" genannt werden (Abschaffung des § 153 RGewO, TarifvertragsVO, ArbeitszeitVO, BetriebsräteG). 46 Der Druck des verlorenen Weltkriegs fiihrte zu einer kurzfristigen Akzeptanz von Ideen, welche wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Die Implemeotation dieser Normen stand freilich unter einem unglücklichen Stern, denn die folgenden wirtschaftlichen wie politischen Verhältnisse fiihrten nicht selten zu Nicht- oder Nichtmehr-Anwendung bzw. sogar zur formellen Aufhebung der Gesetze und Verordnungen. Die Gesetzgebung steht oft am Ende von Entwicklungen. Sie schreibt rechtIich-normativ fest, was gelten soll. Nach dem Ersten Weltkrieg war das nicht immer der Fall. Die Festschreibungen unterlagen einer großen Gefahr, man wollte sozusagen die interessenmäßig-normative Situation im Kaiserreich umkehren: Nunmehr waren es - nach kurzer Zeit- neue "alte Mächte", weniger der Adel als vielmehr die "konservative" Industrie, welche sich machtpolitisch höchst geschickt gegen politische und vor allem aber gegen wirtschaftliche Partizipation wandte und so manche Entwicklung verhindem bzw. unterlaufen konnte. Die Zeit des Stinnes-Legien-Abkommens war schnell vorbei. 45 Martin Martiny, Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik ( Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung Bd. 122), Bonn-Bad Godesberg 1976. 46 Thilo Ramm, Das deutsche kollektive Arbeitsrecht zwischen den beiden Weltkriegen, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 1988, S. 157 ff.; ders., Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, in: Franz Gamillscheg u. a. (Hrsg.), In Memoriam Sir Otto KahnFreund, München 1980, S. 225 ff.

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Man könnte resignativ hinzufügen, daß durch Gesetzgebung- wenn sie denn einen befriedenden Erfolg haben soll - nur über solche Materien entschieden werden kann, über die ein gesellschaftlicher Konsens besteht, hier zum Beispiel die Nonnen technischer Modernisierung. Sonst werden die Normen als illegitim empfunden, und - wenn dieses Empfinden von großen oder wichtigen gesellschaftlichen Gruppen geteilt wird - werden Anstrengungen zu ihrer Revision unternommen.

VII. Die neue Rolle der Rechtsprechung Ist nach diesen Befunden die Analyse von Historikern und Soziologen richtig, das Zweite Kaiserreich sei ein System umgangener Entscheidungen gewesen? Wohl nur zum Teil. Manches war in Angriff genommen, doch grundlegende gesellschaftliche Konflikte blieben ohne "gesetzliche" Antwort. Es bleibt die Frage, an welcher Stelle, die ungelösten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme sowie die Fragen, die mit der Integration des 4. Standes zusammenhingen auftraten bzw. gelöst wurden. Nach meiner Auffassung war dieser Ort neben der Politik im weitesten Sinne die Zivil- sowie Strafrechtsprechung. Es liegt auf der Hand, daß viele Konflikte, seien es Streiks, Boykotthandlungen, politische Versammlungen und anderes aufverschiedene Weise zu den Gerichten gelangten. In vielen Fällen existierten keine gesetzlichen Lösungen oder diese Lösungen wurden von den Beteiligten Interessengruppen nicht akzeptiert. In wichtigen Fällen wurden die Intentionen des Gesetzgebers sogar von der Rechtsprechung unterlaufen, wie am Beispiel der §§ 152 f. RGewO nachzuweisen ist. Die Beteiligten an den genannten Handlungen wehrten sich beispielsweise gegen Polizeiverfilgungen, sie leisteten Widerstand, so daß die Staatsanwaltschaften Anklagen erhoben, die vor den Strafgerichten verhandelt wurden. Es ging um eine Vielzahl von Verstößen: Verstöße gegen § 153 RGewO, Beleidigung, versuchte Erpressung etc. Unternehmer versuchten einzelnen Arbeitnehmern gewisse Streikhandlungen im Wege einstweiliger Verfügung verbieten zu lassen oder Arbeitnehmer klagten Entgelte ein, die ihnen wegen des Arbeitskampfes nicht gezahlt worden waren. Gewerkschaften oder einzelne Arbeitnehmer klagten gegen schwarze Listen oder wollten Rechte aus Tarifverträgen geltend machen, deren rechtliche Einschätzung äußerst umstritten war. Gerichte mußten entscheiden. Sie konnten sich nicht gegen den Entscheidungszwang "wehren". Nach der neuen Gerichtsverfassung von 1879 mit den verbundenen Prozeßordnungen durften sie nicht mit der Begründung schweigen, das Gesetz enthalte keine Lösung dieses Falles. Tatsächlich entschied die Rechtsprechung viele der offen gelassenen Konflikte, der umgangenen Entscheidungen. Zumeist urteilten die Strafrichter nicht so, daß der vierte Stand integriert wurde. Der Vorwurf der Klassenjustiz erwies sich auch aus bürgerlicher Sicht gegenüber der Strafrechtsprechung als berechtigt. Die Zivil-

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rechtsprechung versuchte recht erfolgreich die Gleichbehandlung der Faktoren Kapital und Arbeit, richtungweisend bis heute. 47 So spiegelte sich also auch in der Rechtsprechung das Gegeneinander von modernen zukunftsweisenden Konzepten und anachronistischem Beharren.

VIII. Schluß Das Thema technischer Wandel und Recht bildet offenkundig nur einen Teilaspekt der Frage, wie Staat und Gesellschaft im Zweiten Kaiserreich modernisiert wurden. Offen liegen auch die Ergebnisse zutage: Bestätigt haben sich mehrere Thesen: Der technische Wandel war nicht nur einer der Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Die auf den technischen Wandel bezogenen Normen und Gesetze passierten die gesetzgebenden Gremien wesentlich leichter, als solche, die den politisch-demokatischen Bereich betrafen. Sofern die Modernisierungsanstrengungen sich auf technische Aspekte beschränkten blieben sie unumstritten. Konsens stellte sich relativ schnell - von technischen Details abgesehen - her. Recht folgte in weiten Teilen dem technischen Wandel, wenn es wie bei vielen interventionistischen Gesetzen etwa die Schäden der Industrialisierung zu verhindem oder zu kompensieren suchte oder durch Enteignungsmöglichkeiten den Weg für die Eisenbahn frei machen wollte. Ob man die letztgenannte Entwicklung als eine Folge oder eine Voraussetzung der Entwicklung ansehen will, kann offen bleiben. Sicher ist, daß massive Wechselwirkungen bestanden. Bei technischen Entwicklungen bestand zudem das Problem der Normung und Standardisierung. Hier war - wie im Bereich von Telegraphie, Post und Eisenbahn - die Gesetzgebung nicht selten notwendige Bedingung der künftigen Entwicklung.

47 Rainer Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988; kürzer ders., Die strafrechtliche Bewältigung der Streiks durch obergerichtliche Rechtsprechung zwischen 1870-1914, in: Archiv flir Sozialgeschichte 31, 1991, S. 85- 102.

Standardization Takes Command Recht und Normierung in der Industriellen Revolution• Von Milo~ Vec Seit dem I. Januar 1999 besteht am Frankfurter Max-Pianck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte eine "selbständige wissenschaftliche Nachwuchsgruppe", die sich mit dem "Recht in der Industriellen Revolution" beschäftigt. Dieses Projekt möchte ich im folgenden vorstellen. Der Vortrag beginnt mit Ausflihrungen zur Mechanisierung. Es folgen Anmerkungen zu Standardisierung und Normierung; diese Begriffe bilden den inhaltlichen Ausgangspunkt fiir unsere Projektarbeit Am Schluß werde ich einige konkrete Forschungsfelder präsentieren. I.

Für das Verständnis des historischen Mechanisierungsprozesses möchte ich an die Ausftlhrungen von Sigfried Giedion anknüpfen. Als Giedion in den vierziger Jahren sein Buch "Mechanization Takes Command" 2 schrieb, geriet ihm dies zu einer exemplarischen Entwicklungsgeschichte der Industriekultur. Giedion war Maschineningenieur und Kunsthistoriker, promoviert bei Heinrich Wölfflin. In dem Buch führte er beide Disziplinen zusammen und präsentierte reiche Funde aus dem Archiv des US-Patentamts. "Mechanization Takes Command" beschreibt die Ablösung des alten Handwerks durch die neuen Produktionsmethoden des 19. Jahrhunderts. Statt Einzelfertigung fand nun Massenproduktion statt, Lebensmittel wurden in Konserven gepackt. Mit den Produkten änderte sich der Geschmack, anstelle des Vollkornbrots konsumierte der moderne Mensch nun luftiges Weißbrot> (man liest beim Schweizer Giedi1 Überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags vom 23. Juni 1999 in Berlin sowie der Präsentation vor dem Fachbeirat des Instituts in Frankfurt am 15. März 1999. Die Vortragsform wurde beibehalten. 2 Sigfried Giedion, Mechanization Takes Command, Oxford University Press 1948: dt. 1982. Im folgenden wird nach der deutschen Ausgabe zitiert: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanis/aus von Moos (Europäische Bibliothek 8), hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1983. 3 Giedion (FN 2), S. 229.

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on übrigens deutliche geschmackliche Vorbehalte dagegen); auch der Produzent wandelte sich mit den Produktionsmethoden. Nicht zufällig machte Giedion die Industrialisierung der Tötung in den Schlachthäusern von Cincinnati und Chicago zu einem der Schwerpunkte seiner Darstellung. Es ist die Zusammenschau dieser Einzelheiten, die es rechtfertigt, das Buch als Parallellektüre zu Norbert Elias' "Prozeß der Zivilisation" zu lesen. 4 Ellas wie Giedion interessierte die Kontrolle über den menschlichen Körper, doch nur Giedion vermochte zu zeigen, wie der kontrollierende Angriff auf den Leib seit der Industriellen Revolution in bedenkliche, da absolute Dimensionen ausgriff. 5 Die Mechanisierung des Tötens am Ende des 19. Jahrhunderts be.deutete eine epochale Grenzüberschreitung unserer Zivilisation, die die Industrialisierung des Krieges im 20. Jahrhunderts antizipierte und vielleicht noch manches mehr. Giedions Buch wurde erst spät in Deutschland rezipiert, die Rückübersetzung erschien erst 19836 • International hatte man da längst die außergewöhnlichen Qualitäten des Werks erkannt. Giedion besaß das Talent, in seiner Darstellung den Blick fUr minutiöse Details mit seinem "Sinn fUr Totalität"7 zu verbinden. Die Mechanisierung der Fertigungsprozesse war sein großes Thema, aber daneben brach sich seine fast kindliche Begeisterung fur technische Petits Fours ungezügelt Bahn. Man liest aberwitzige Details über die Mechanik von Türschlössern und Erhellendes über den Sitzkomfort in antiken und modernen Kulturen; vor allem aber sah man auf zahllosen Seiten die Artefakte in eben der Detailliertheil bildlich dargestellt wie sie auch im Text abgehandelt wurden. Giedion hat seine Neigung zu den scheinbaren Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten ausdrücklich verteidigt. Sein Satz "Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne" wurde seither oft zitiert. 8 Er ist das metaphorische Plädoyer dafUr, daß es fur den Historiker keine Banalitäten gibt. 9 Doch die eigentliche methodische Innovation Giedions lag auf anderem Gebiet. "Mechanization Takes Command" war ein "Beitrag zur anonymen Geschichte". Anders als damals in der Technikgeschichte üblich, schrieb Giedion keine Erfolgsgeschichte "großer Erfinder". Das handelnde Subjekt seines Bu4 So Wolf Lepenies. Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne, Rezension von Giedion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. April 1983. 5 Sokratis Georgiadis, Der angegriffene Körper. Sigfried Giedion und die Mechanisierung, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 1998, S. 157-169 (S. 165). 6 Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos (Europäische Bibliothek 8), hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1983. 7 Wa/ter Gropius, Siegfried Giedion 1888-1968. in: Neue Züricher Zeitung vom 14. Aprill968. 8 Lepenies (FN 4). 9 Giedion (FN 2), S. 20.

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ches ist vielmehr die "Mechanization" als kollektives Muster. Er sah wohl, daß es einzelne Erfinder gab, die ihre gewichtigen Beiträge etwa zur Entwicklung des Fließbandes geleistet hatten. Doch der Prozeß war ebenso massenhaft vorangekommen, wie die Gesellschaft gerade durch diesen Prozeß zu einer Massengesellschaft wurde. Gleich welches Technikfeld man beobachtete, überall sah man die Gegenstände dem gleichen Ablauf unterworfen. Es gab viele simultane Taten, aber keinen Einzeltäter. So konnte das handelnde Subjekt nur eine kollektive Idee, ein gemeinsames Muster sein; Giedion entschied sich flir "Mechanization" als seinen Protagonisten. Die zweite markante Ablösung von den Konventionen des Genres lautete, Technikgeschichte nicht länger als Fortschrittsgeschichte zu schreiben. Giedion verband seine Beobachtungen mit einer grundsätzlichen Kulturkritik. Er selbst behauptete zwar, die Mechanisierung sei "neutral" gewesen, doch sein eigenes Buch widerlegt dies allenthalben. Mal spricht Giedion von der Entwertung der Symbole im 19. Jahrhundert, 10 dann wieder zeigt er, wie die neuen, industriellen Attribute des zivilisatorischen Komforts eigentlich an den vitalen physischen Bedürfnissen des Menschen vorbeigehen. In einer Rezension nannte Hans Magnus Enzensberger dies den "Widerspruch zwischen Mechanisierung und lebender Substanz", den Giedion untersucht habe}' Denn Giedion kam zu dem Ergebnis, daß die Mechanisierung die Herrschaft über unsere Zivilisation und über den menschlichen Körper übernommen hat. Zugleich birgt dieser Prozeß seiner Ansicht nach aber auch ungeahnte Möglichkeiten zur Rettung des menschlichen Körpers; Giedion sah also in der anonymen Mechanisierung nicht nur einen "Angriff auf den Körper'', wie bisweilen vorgetragen wird. 12 Wir, die Mitglieder der Nachwuchsgruppe, wollen Giedions anonyme Geschichte der Mechanisierung um eine anonyme Geschichte der Normierung im 19. Jahrhundert ergänzen.

li. Normierung und Standardisierung sind zentrale Aspekte dieses Mechanisierungsprozesses. Sie sind Voraussetzung und Ergebnis der Industriellen Revolution. Nur unter den Bedingungen der straff organisierten Massenproduktion kann die Fabrik ihren Kostenvorteil gegenüber dem alten Handwerk ausspielen. Damit ein Rad der Maschine reibungslos ins andere griff, mußten zahllose, Giedion (FN 2), S. 428. Hans Magnus Enzensberger, Unheimliche Fortschritte. Über S. Giedion, "Die Herrschaft der Mechanisierung", in: DER SPIEGEL, Heft 6, 7. Februar 1983. 12 So aber Georgiadis (FN 5); vgl. dazu meine Kritik, Mi/os Vec, Mechanische Melancholie. Siegfried Giedions Archäologie des mechanischen Menschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Geisteswissenschaften vom 31.3.1999, S. NS . 10 11

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vereinheitlichende Vorentscheidungen getroffen werden. Auch die Bewegungen des menschlichen Körpers wurden in standardisierbare Elemente zerlegt. Nach und nach bekam die Betriebsorganisation einen geradezu militärischen Charakter.n Doch Standardisierung und Normierung kommen nicht nur in der Totalmechanisierung der materiellen Kultur und ihrer Produktionsbedingungen zum Ausdruck. Auch jenseits der Technik dominiert im 19. Jahrhundert der Wunsch nach Normalisierung und Vereinheitlichung. Empirismus und Positivismus taten ein übriges, um den Wunsch nach Festlegung exakter Normen, nach Vermessung und Objektivierung gerade in den Lebenswissenschaften zu einer fixen Idee ausgreifen zu lassen. 14 Der Glaube an den naturwissenschaftlichen Empirismus und die Exaktheit der Zahlen brach sich zugleich Bahn in so verschiedenen Phänomenen wie dem Normalprofilbuch für Walzeisen 15 und den messenden Verfahren der Medizin, etwa der Thermometrie 16• III.

Betrachtet man die Normierungsbemühungen des 19. Jahrhunderts aus rechtshistorischer Perspektive, so zeigen sich verschiedene Berührungspunkte zwischen Recht und Normierung. Normierung war einerseits ein Prozeß, der mit den Mitteln des Rechts stattfand; andererseits unterlagen bestimmte Rechtsbereiche selbst der Normierung. Das Projekt "Recht in der Industriellen Revolution" will diese Normierungs- und Standardisierungsbemühungen an ausgewählten Beispielen insoweit beschreiben, als sie mit der fundamentalen wirtschaftlichen und technischen Umwälzung des 19. Jahrhunderts zusammenhängen. Der Begriff der "Normierung" soll anzeigen, daß dieser Prozeß in einem Spannungsverhältnis zum Recht steht. Fran~ois Ewald hat vor einigen Jahren Giedion (FN 2), S. 123, m. w. N. Vollrer Hess, Messende Praktiken und Normalität, in: ders .. (Hrsg.), Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praktik um 1900 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 82). Husum 1997. S. 7-16 (S. 9). 15 Fritz Neuhaus, Der Verein deutscher Ingenieure und die deutsche Normung. in: 13

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Der Betrieb. Technischer Teil der Zeitschrift Maschinenbau, hrsg. vom Verein Deutscher Ingenieure, Bd. 10 (1931 ), S. 409-414 (S. 412); Wilgart Schuchardt, Außertechnische Zielsetzungen und Wertbezüge in der Entwicklung des deutschen technischen Regelwerks. in: Technikgeschichte 46 ( 1979). S. 227-244 (S. 231 ); Peter Marburger. Die Regeln der Technik im Recht, Köln 1979. S. 184. 16 Vollrer Hess, Die Normierung d~:r Eigenwärme. Fiebermessen als kulturelle Praktik, in: ders., (Hrsg.}, Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren der Medizin als kulturelle Praktik um 1900 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 82}, Husum 1997, S. 169-188.

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im Hinblick auf den Normierungsbegriff der Modeme sogar die These vertreten, "that the normative and the juridical are essentially opposed". 17 Ausdrücklich wandte er sich dabei gegen Michel Foucaults Vorstellung von der "Disziplinargesellschaft" und gegen die von diesem in "Sexualität und Wahrheit I" und "Überwachen und Strafen" getroffene Charakterisierung der Rolle der verschiedenen Regulierungsinstanzen. Heißt das, daß sich die "Normalisierungsgesellschaft"18 im Sinne Foucaults, die gleichermaßen industrielle Produkte und den Körper reguliert 19, vom Gesetz abwendet? Unsere Vermutung ist, daß sich im 19. Jahrhundert auf den von uns untersuchten Gebieten, etwa dem Technikrecht, ein Verhältnis von Staat und Privaten herausbildet, das für die Moderne charakteristisch ist. Rechtserzeugung und Rechtsdurchsetzung lösen sich in bestimmten Bereichen von den Nationalstaaten und gehen auf Private über. Diese schaffen sich auf unterschiedliche Weise ihr eigenes "Recht" oder bestimmen jedenfalls die Durchsetzungschancen staatlich gesetzter Normen qualitativ neu20 . Diese Vermutung wird bestärkt durch neuere Beobachtungen der Zivilrechtswissenschaft. Sie diskutiert seit einigen Jahren unter dem Begriff "Lex Mercatoria" das Vorhandensein eines autonomen Rechts des Welthandels. 21 "Autonomie" meint dabei die Unabhängigkeit von nationalen Rechtsordnungen und vom Völkerrecht. Die Lex Mercatoria soll vielmehr eine dritte Säule der Rechtsordnung sein; genau daraus gewinnt das Konzept vom Weltrecht ohne Staat seine rechtstheoretische Brisanz. 22 Betrachtet man das Konzept der "Lex Mercatoria" aus rechtshistorischer Perspektive, so drängt sich der Verdacht auf, daß es ein solches autonomes Weltrecht unbemerkt bereits lange vor den um die Jahrhundertwende beginnenden Diskussionen gegeben hat. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts begannen internationale Vereinigungen und Verbände damit, ihre Ver17 Fran~ois Ewald, Norms, Discipline, and the Law, in: Representations 30 ( 1990), S. 138- 161 (159). 18 Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit. Bd. I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1986, S. 172. 19 Jacques Maily, La Normalisation, Paris 1946; Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefangnisses, Frankfurt am Main 1977, S. 237. 20 Siehe etwa hinsichtlich der Gewerbeaufsicht im 19. Jahrhundert den Aufsatz von Hubert Treiber. Kooperatives Verwaltungshandeln der Gewerbeaufsicht (Fabrikinspektion) des 19. Jahrhunderts. Eine verwaltungswissenschaftlich-historische Betrachtungs-

weise aus dem "Geist" der Reportage, in: Nicolai Dose/Rüdiger Voigt (I:Irsg.), Kooperatives Recht, Baden-Baden 1995, S. 65-88. 21 Ursula Stein, Lex Mercatoria: Realität und Theorie. Frankfurt am Main 1995, Definition aufS. I und S. 5. 22 Gunther Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, in: Rechtshistorisches Journal 15 ( 1996 ), S. 255-290. 4 Kloepfer

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tragsformulare und Standardbedingungen zu kodifizieren und ihren Mitgliedern zur Verwendung zu empfehlen. Analog zur Massenproduktion und Massenware entsteht etwa der "Massenvertrag"23 . Ziel dieser Standardisierungsbemühungen war es, die internationalen Handelsbeziehungen dem Geltungsbereich der nationalen Rechtsordnungen so weit wie möglich zu entziehen. 24 So ist gerade auch fiir das 19. Jahrhundert eine Ent-Nationalisierung und Internationalisierung auf dem Gebiet des Rechts zu beobachten, die eng mit den Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution zusammenhängt. Weltzeit, Weltpost und Weltverkebf25 sind die großen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Normierung ist die Voraussetzung ihrer Existenz. Erst die Normierung der Zeit ermöglicht die Erstellung von Fahrplänen für die Eisenbahn. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden die Orts- und Regionalzeiten synchronisiert, um mit den Erfordernissen des Verkehrs- und Nachrichtenwesens Schritt zu halten. 26 Beschleunigung und Verdichtung waren hier die treibenden Faktoren. "Die Eisenbahnen", schreibt Gerhard Dohrn-van Rossum, "wirkten wie 'große Nationaluhren'". 27 IV. Aufgrund unseres rechtshistorischen Erkenntnisinteresses nehmen wir primär Bezug auf die juristische Qualität des historischen Normierungsprozesses. Uns interessiert, wann Normierung in der Industriellen Revolution mit den Mitteln des Rechts erfolgte. Welche Form wurde dabei gewählt? Handelte der Staat als Gesetzgeber - wie bei der Festlegung der Maße und Gewichte, die schon bei Bodin zu den staatlichen Souveränitätsrechten gehörte? Welche Sachverhalte normierte der Staat auf völkerrechtlicher Ebene? In welchen Fällen duldete er privates Handeln oder machte es sich zu Nutze, in dem er in seinen Gesetzen darauf verwies; als Stichwort sei hier die Bezugnahme auf technische Grenzwerte genannt. 23 Ludwig Raiser, Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen [1935], Bad Hornburg 1961, S. 17 unter Verweis auf J. Kohler. 24 Stein (FN 21 ), S. 16 f. 25 Michael Geistbeck, Der Weltverkehr. Telegraphie und Post, Eisenbahnen und Schiffahrt in ihrer Entwickelung dargestellt, Freiburg 1887; Albrecht Wirth, Der Weltverkehr, Frankfurt am Main 1906 (Die Gesellschaft, hrsg. von Martin Buber, Bd. 6); Der Weltverkehr und seine Mittel (Das Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Gesamtdarstellung aller Gebiete der gewerbllichen und industriellen Arbeit sowie von Weltverkehr und Weltwirtschaft, 9. Band), 9. Auflage, Leipzig 1901; R. van den Borght, Das Verkehrswesen, Leipzig 1894 (Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften; Erste Abteilung: Volkswirtschaftslehre. VII. Band). 26 Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitrechnung, München 1992, S. 296. 27 Dohrn-van Rossum (FN 26), S. 319m. w. Nachw.

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Eine Geschichte des Rechts der Industriellen Revolution hat zunächst die Aufgabe, diese Prozesse der Standardisierung äußerlich nachzuzeichnen. Im folgenden werde ich versuchen, fiir das Moment der Normierung eine erste systematische Übersicht zu entwerfen. Auf der obersten Stufe ist die Normsetzung auf internationaler Ebene zu benennen. Mittels internationaler Konferenzen und Vertragsvölkerrecht werden grenzüberschreitende Standards festgelegt. Nationale und internationale Industriemessen kommunizieren seit dem frühen 19. Jahrhundert die technischen Fortschritte. Sie gipfeln bald in den Weltausstellungen. 28 Am Rande dieser Weltausstellungen finden Kongresse statt, auf denen in internationalen Abkommen Standards vertraglich festgelegt werden. Beispiele sind der internationale Patentkongreß anläßlich der Weltausstellung 1873 in Wien, der internationale Postkongreß in Wien 1878 und die internationale Rechtsvergleichungskonferenz 1900 in Paris. Standardisierung und Typisierung sind auch hier die Zentralbegriffe, unter die sich die damaligen Bestrebungen subsumieren lassen (Einftlhrung einer Weltzeit etc. ). Der Allgemeine Postvereinsvertrag von 1874 etwa legt die Grundlage filr Verkehrserleichterungen hinsichtlich der 3 300 Milliarden damals umlaufenden Sendungen (Schätzung fur 1873). Demgegenüber bestanden bis 1850 alleine zwischen den deutschen Staaten I 00 Postverträge mit 2 000 verschiedenen Brieftaxen, die aufTransitgebühren und Sondervorteile der betroffenen Territorien RUcksicht zu nehmen hatten. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Internationalen Telegraphenverein, der die technischen Einrichtungen und Betriebsvorschriften im Hinblick auf die Ermöglichung eines internationalen Verkehrs in einer Reihe von Verträgen vereinheitlichte.29 Parallel dazu läßt sich auf der nationalen Ebene eine Gesetzgebung beobachten, die die Chancen der Industriellen Revolution nutzen und ihre Risiken bannen will. Dabei ist wohl eine Zweiteilung festzustellen. Zunächst handelt der Staat in klassisch-polizeistaatlicher Weise, indem er Gesetze erläßt, die den Umgang mit den neuen Erfindungen regeln. Daneben beginnt ein Prozeß, der wahrscheinlich charakteristisch filr den Umgang mit den neuen technischen Gegebenheiten ist. Weite Bereiche der Risikokontrolle werden in privatrechtliehe Sonderformen ausgelagert. Die Kontrolle der geflihrlichen Dampfkessel etwa obliegt den Dampfkesselüberwachungsvereinen. Staatlich überwachtes 28 U. Haltern, Die Londoner Weltausstellung von 1851. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Münster 1971; ders., Die "Welt als Schaustellung". Zur Funktion und Bedeutung der internationalen Industrieausstellung im 19. und 20. Jahrhundert. in: VSWG 60 (1973), S. 1-40. 29 Pau/ Fauchi//e, Regime international de Ia Telegraphie sans fil, in: Annuaire de !'Institut de droit international, 21 (1907), S. 76-87; P. D. Fischer, Die Telegraphie und das Völkerrecht, Leipzig 1876; Friedrich Mei/i, Die drahtlose Telegraphie im internen Recht und Völkerrecht, ZUrich 1908.

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Handeln von Privaten ist möglicherweise das Paradigma der Reaktion des Staates überhaupt auf die neuen Herausforderungen. Eine Ebene unter diesen immer noch staatlichen oder halbstaatlichen Handlungsfarmen finden sich Normierungen, die auf private Definitionsmacht und private Übereinkunft zurückgehen. Unternehmen, Verbände und Großkonzerne verständigen sich auf die Einhaltung von Standards jedweder Art. Ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft bewirkt die Etablierung dieser Normen.30 Am Ende dieser Normenpyramide ist schließlich die Normsetzung durch private Marktmacht anzusiedeln. Hier sind es einzelne Konzerne, die vermöge ihrer dominierenden Stellung auf bestimmten Marktsegmenten Standards diktieren können und nicht einmal auf die Definitionsmacht privatrechtlich organisierter Normungsvereinigungen angewiesen sind. Weder Konkurrenten noch Kunden sind in der Lage, sich diesem Diktat zu entziehen. In der Frühindustrialisierung liegt der Ursprung flir jene Definitionsmacht, die heute bestimmte Großkonzerne mittels ihrer Produkte auf dem Weltmarkt haben. Die von ihnen entwickelten technischen Standards vermögen sich jenseits des Zugriffs von Nationen oder transnationalen Organisationen zu behaupten. Betrachtet man diese Übersicht unter dem Gesichtspunkt der Gemeinsamkeiten bei der Normsetzung, so fällt dreierlei auf. Erstens ist ein starke Abwesenheit des Staates auf den beschriebenen Feldern zu konstatieren. Lediglich ein ganz geringer Teil der Normen ist staatlich gesetzt. Dieser ist vor allem im Bereich der klassischen staatlichen Souveränitätsrechte anzusiedeln : Münzen, Maße und Gewichte werden per Gesetz vereinheitlicht und festgeschrieben. Im übrigen handelt der Staat nur in besonders brisant erscheinenden Fällen gesetzgeberisch, etwa im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr bei gefährlichen Anlagen. Ansonsten zieht er sich weitgehend aus diesem Prozeß zurück und überläßt die Normung und Standardisierung privatrechtlich organisierten Vereinen. Zweitens ist zu beobachten, daß hier (in historisch wohl einmaliger Weise) große Mengen an Normen entstehen, ohne daß Juristen an diesem Prozeß notwendigerweise beteiligt sind. Die Normentstehung läuft häufig vorbei an Parlamenten und Kanzleistuben. Parallel dazu läßt sich beobachten, daß sich nur ein Teil der Normen als "Recht" versteht. Zumeist wählen die Normgeber bewußt nicht das Recht zur Steuerung der Prozesse. Dahinter steht die Vorstellung, man habe es beim technischen Fortschritt mit einem rasanten Prozeß zu 30 Norman F. Harriman. Standards and Standardization. New York 1928; Peter Berz, Der deutsche Normenausschuß. Zur Theorie und Geschichte einer technischen

Institution, in: Armin Adam/Martin Stingelin (Hrsg.). Übertragung und Gesetz: Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 221- 236.

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tun, der nicht durch allzu rigide obrigkeitliche Eingriffe zur Erstarrung gebracht oder beschränkt werden darf 31 - ein Argument, das auch bei der Flucht des Technikrechts in die unbestimmten Rechtsbegriffe aufscheint. 32 Im einzelnen müßte untersucht werden, ob nicht auch andere Faktoren, etwa die Abwesenheit der Juristen bei der Normentstehung, hierzu beigetragen haben. Drittens ist schließlich zu überlegen, ob diese Abwesenheit von Recht und Juristen auch etwas mit den Grenzen der Steuerungsfähigkeit des Rechts als solchem zu tun hat. Weltweit tätige Unternehmen geben Standards vor und bewirken auf diese Weise eine nachhaltige Vereinheitlichung der Lebenswelt Der Markt orientiert sich wie Eisenfeilspäne an einem Magneten an diesen Vorgaben. Der Staat ist gegenüber diesem wirtschaftlich inspirierten Prozeß untätig, wenn nicht sogar machtlos. Er beschränkt sich darauf, besonders eklatante Mißbräuche von Marktmacht zu bestrafen. Die Juristen haben oft wenig Verständnis flir die neu entstehenden Stoffmassen. Nur vereinzelt setzt man sich mit ihnen im Lehrbetrieb oder im Schrifttum des 19. Jahrhunderts auseinander. 33 Schon mancher Zeitgenosse beklagte, daß die Auswirkungen der Erfindungen auf den Rechtsverkehr und die Rechtsanschauungen literarisch zu wenig gewürdigt würden. 34 Erst später bekommt man die neuen Erscheinungen wie die standardisierten Verträge oder den Tarifvertrag als dogmatische Figuren in den Griff, versucht neue Begriffe in Ansatz zu bringen 35 oder reagiert gesetzgeberisch. Das Gesetz über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen [AGBG] etwa datiert von 1976, obwohl das Phänomen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen als solches während der Industriellen Revolution entstanden ist: Auch hier ging es um Vereinheitlichung, Typisierung und Standardisierung der Geschäftsabwicklung. Parallel zu den Industrienormen sind also strukturähnliche Phänomene von Vermassung und Vereinheitlichung auch in den klassischen Rechtsbeziehungen der Rechtssubjekte zu beobachten. Standardisiert werden die Arbeitsverträge 31 Kar/ Bücher, Spezialisierung, Normalisierung, Typisierung, in: Zeitschrift flir die gesamte Staatswissenschaft 76 ( 1921 ), S. 427-439 (433). 32 Rudo/f Luki!s, Regelung technischer Sachverhalte in der Rechtsordnung, in: ders./AdolfBirkhofer (Hrsg.), Rechtliche Ordnung der Technik als Aufgabe der lndustriegesellschaft: Vorträge und Diskussionen einer Arbeitstagung zum Thema Recht und Technik in München-Nymphenburg am 22. November 1979, Köln!Berlin/Bonn/München 1980, S. 81-97 (95). 33 Nachweise flir das öffentliche Recht bei: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1999, S. 44-48 ("Die Industrielle Revolution und ihr Recht"). 34 R. van den Borght (FN 25), S. 58. 35 Otto Jacob, Der Normvertrag als allgemeine Rechtsnorm, Gelnhausen 1928, (Diss. Frankfurt, 1928).

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und die Arbeitsbedingungen in den Fabriken durch Arbeitsordnungen, die Rechtsbeziehungen zu den Lieferanten und zu den Abnehmern mittels einheitlicher Geschäftsbedingungen. All dies geschieht parallel und überformt Staat und Gesellschaft mit einem sich stetig verdichtenden Netz von Uberindividuellen, für den Einzelnen kaum noch abänderbaren Standards. Deren Genese geht an den Parlamenten meist vorbei und markiert doch einschneidender als vieles andere den Schritt in die Welt der Modeme. Inzwischen vollzieht sich über die Revolution der Kommunikationsmedien ein neuer, gleichfalls technologisch inspirierter Umbruch der Lebensbedingungen. Es ist an der Zeit, die langandauernde Zurückhaltung der Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte zu beenden und der rasanten Entstehung von Normgebieten ohne historisches Vorbild nachzugehen.

V. In meinem Projekt soll es zunächst um ein theoretisches Konzept gehen, das es ermöglicht, Rechtserzeugung und Rechtsdurchsetzung vor dem Horizont der Industriellen Revolution auf den für sie typischen Gebieten zu verstehen. Es scheint so zu sein, daß sich in der Welt der Industriegesellschaft weite Bereiche der "gesetzlichen Ordnung" vom Staat lösen, autonom wachsen und durchgesetzt werden. Dies geschieht in einer historischen Phase, die gerade auf die parlamentarische Legitimation des Rechts und seine rechtsstaatliche Kontrolle besonders großen Wert legt. Das gilt gleichermaßen für das autonom gesetzte "kollektive Arbeitsrecht", für das ohne Staat entstehende Rechtsgebiet der Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei Massengeschäften36, aber auch flir die sich autonom entwickelnden Normkomplexe technischer Vereinheitlichung. Was die dabei zu beobachtende Autonomie angeht, so ist zu fragen, wer sie will und wem sie nützt. Laufen Industrie- und Staatsinteressen hier parallel und stützen sich gegenseitig? Wie wirkt sich dies bei der Normsetzung und Normdurchsetzung aus und welche Institutionen zur Durchsetzung werden geschaffen? Zu erklären ist schließlich wissenschaftsgeschichtlich, wieso die etablierte Rechtswissenschaft von diesen Entwicklungen wenig Notiz nimmt: Werden diese Gebiete aufgrund betriebsspezifischer Blindheit der am römischen Recht geschulten Juristen übersehen? Erscheinen sie zu harmlos oder zu unwichtig, um sie ins Parlament zu ziehen und rechtsstaatlicher Kontrolle zu unterwerfen? Wie läßt sich erklären, daß sich das wissenschaftliche Interesse manchen Fragen des Schuldrechts mit großer Energie zuwendet, während es Gebiete modernen Rechts jahrzehntelang übergeht? 36 Robert Pohlhausen, Zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen im 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1978.

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Um dieses Konzept, das mit zunehmender Durchdringung der Quellen schärfer profiliert werden wird, zu erarbeiten, sollten Beispielsfelder ausgewählt werden. Diese müssen so angelegt sein, daß Neues sichtbar wird, also etwa: 1. ein technikrechtliches Beispiel aus dem internationalen Vertragsrecht, 2. ein Beispiel fiir Normierung durch Gesetzesrecht, zum Beispiel Regeln des Straßenverkehrs oder des Eisenbahnwesens, 3. ein Beispiel aus dem Bereich staatlicher WirtschaftstOrderung, bei dem der Staat zur Unterstützung der nationalen Industrie "normierende" Normen erläßt 4. ein Beispiel aus dem Bereich der Vereinheitlichung der Prüfungen und der Schaffung von Prüfinstitutionen zum Zweck der polizeilichen Gefahrenabwehr, 5. ein Beispiel autonomer Normierung durch die Industrie oder die Industrieverbände mit Hilfe von Verträgen oder Absprachen (hier wäre sowohl an kundenorientierte Normierung zu denken als auch an Normierung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge), und schließlich 6. ein Beispiel fiir Normierung durch ökonomischen Zwang, den ein Unternehmen ausübt und dem sich andere unterwerfen, um ihre Marktanteile nicht zu verlieren. Soweit meine Übersicht.

II. Historische Funktionen des Technikrechts

Regulierung bekannter und unbekannter TechnikenTechniksteuerung durch Technikrecht Von Martin Schulte I. Einleitung Technik bezeichnet sachliche Systeme, die aus physikalischen oder chemischen Elementen bestehen. Sie gehört damit zur "Sphäre des Nicht-Sozialen", zur Umwelt der Gesellschaft. In dieser wird sie beobachtet und beschrieben. Mit der ftlr uns relevanten Unterscheidung bekannter und unbekannter Techniken werden dabei Art und Umfang unseres Wissens von der Technik bezeichnet. Dieses bezieht sich gegenständlich vor allem auf drei Bereiche: erstens auf das Wissen um die vielfliltigen Ausgangsbedingungen (Komplexität}, zweitens auf die Wirkungszusammenhänge zwischen ihnen und drittens auf das Vorkommen sprunghafter chaotischer Entwicklungen. Ich möchte dies nachfolgend anband einiger Technikszenarien verdeutlichen, die sich auf einer gleitenden Skala von umfassendem und relativ sicherem Wissen sowie von großen Unsicherheiten und Wissenslücken geprägtem Wissen bewegen. I. Technikszenarien

Als Beispiele fllr heute weitgehend bekannte Techniken möchte ich die Techniken der Müllverbrennung und der Atomtechnik nennen. Die traditionelle Form der Hausmüllverbrennungsanlage existiert nahezu unverändert bereits seit ca. I 00 Jahren. Sie besteht aus einer Rostfeuerung, auf der Hausmüll verbrannt wird. Mit der freigesetzten Energie wird eine Dampfkesselanlage betrieben, die Dampf, Fernwärme oder Strom produziert. Diese Technik ist vergleichsweise wenig komplex, in der Praxis bewährt, die Probleme sind erkannt. Im Normalbetrieb treten Umweltgefahren insbesondere durch Emissionen auf, Störfälle ereignen sich vor allem im Bereich des Müllbunkers (Brandgefahr) und durch Ausfall der Stromversorgung (sog. Schwarzfall). Durch geeignete Maßnahmen kann diesen Gefahren vorgebeugt werden. 1 Ähnlich verhält es sich bei der jün1 Siehe dazu Roßnagel, Rechtliche Risikosteuerung. Juristen und Ingenieure im Prozeß der Technikgenese, Einflihrung in den Workshop am II. und 12. Juni 1999 im Kloster Haydau, noch unveröffentlichtes Manuskript, S. 4 ff.

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geren, erst seit Mitte dieses Jahrhunderts praktizierten Atomtechnik. Auch sie gilt heute als weitgehend bekannt und beschrieben. Sie unterscheidet sich jedoch im Gefahrenpotential gravierend von der Müllverbrennungstechnik. Können dort Unfalle nur zeitlich und räumlich begrenzte Wirkungen entfalten, drohen bei der Atomtechnik, wenn auch probabilistisch wenig wahrscheinlich, 2 Störtalle mit kaum abzusehenden Folgen. Synonym daflir ist der Reaktorunfall von Tschernobyl vom April 1986. Gerade das relativ sichere und praktisch bestätigte Wissen um dieses Schadenspotential könnte der Atomtechnik, wie die aktuelle gesellschaftliche Debatte zeigt, fiir die Zukunft zum Verhängnis werden. Schwieriger einzuschätzen ist dagegen bereits das Wissen um den sich rasant entwickelnden breiten Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik. 3 Meilensteine der Entwicklung sind etwa die Digitalisierung der Informationsverarbeitung, die neuen Möglichkeiten der Übertragung großer Datenmengen ("Datenautobahn") sowie die Herausbildung dezentraler, globaler Netze (Internet, Mobilfunk, Satellitensysteme). Für jeden augenscheinlich werden die neuen technischen Möglichkeiten in den neuen Anwendungen der Übertragung von Sprache, Bildern und Daten ("Multimedia") und der damit verbundenen räumlichen und zeitlichen Entgrenzung von Information. Mit dieser Entwicklung gehen jedoch auch Probleme und Risiken einher. Angesichts der Komplexität und Schnelligkeit der Technik drängt sich die Frage auf: Hat sie der Mensch noch im Griff? Das "Jahr-2000-Problem" und ähnliche Meldungen geben Anlaß zu Zweifeln. Viel diskutiert wird auch der Bereich des Datenschutzes. 4 Wie kann die unberechtigte Dokumentation und Manipulation digitaler personenbezogener Daten unterbunden werden? Welchen Rahmen hat der Staatangesichts der Liberalisierung des Marktes bereitzustellen? Der Bereich des Strafrechts ist mit gänzlich neuen Tatprofilen konfrontiert ("Cyber Crime"V Welchen Beweiswert haben digitalisierte lnformationen?6 Im privaten Geschäftsverkehr 2 Vgl. dazu Breuer, Gefahrenabwehr und Risikovorsorge im Atomrecht, DVBI. 1978, 829, 830, der eine Wahrscheinlichkeit für das Bersten eines Reaktors von 10-7/Jahr annimmt. 3 Vgl. insoweit Di Fabio, Rechtliche Rahmenbedingungen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, in: Schulte (Hrsg.), Technische Innovation und Recht, 1996, S. 177 ff.; Eberle, Medien und Medienrecht im Umbruch, GRUR 1995, 790 ff; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 10 Rdnr. 18; Rieß, Regulierung und Datenschutz im europäischen Datenkommunikationsrecht, 1996, passim; Trute, Der Schutz personenbezogener Informationen in der Informationsgesellschaft, JZ 1998, 822 ti. 4 Siehe dazu Di Fabio (FN 3); Rieß (FN 3), S. 178 ff.; Schutz, Verfassungsrechlieber "Datenschutzauftrag" in der Informationsgesellschaft, DV 1999, 137 ff. ; Trute (FN 3). 5 Vgl. das Szenario bei Halusa, Cyber Crime bedroht das Web, Die Welt vom 25. 5. 1999, S. WW3. 6 Di Fabio (FN 3), S. 121 verweist z. 8. auf die Filmszene aus "Forest Gump... wo Tom Hanks dank Digitaltechnik J. F. Kennedy die Hand schütteln konnte.

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sind Bedingungen fiir Vertragsschluß, Fristen etc. vonnöten. Fragen des Konsumentenschutzes ("Tele-Shopping") und des Urheberrechtsschutzes kommen hinzu. Als Beispiel fl.ir eine (noch) weitgehend unbekannte Technik möchte ich schließlich auf den Bereich der Gentechnik hinweisen. Die Gentechnik beschäftigt sich mit der gezielten Charakterisierung, Isolierung und Neukombination genetischen Materials. 7 Die Möglichkeit, durch gezielten Genaustausch über Artengrenzen hinweg die natürliche Evolution mit wesentlich gesteigerter Geschwindigkeit zu beeinflussen, eröffnet gänzlich neue Chancen, ruft aber auch grundsätzliche Bedenken hervor. Diese Bedenken werden durch das erst fragmentarische Wissen im Umgang mit genetischem Material und die mangelnde sinnliche Wahrnehmbarkeit gentechnischer Veränderungen gespeist. Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion stehen derzeit die Wagnisse der Entwicklung und Anwendung genmodifizierter Getreide- und Gemüsepflanzen8 (z. B. "Anti-Matsch-Tomate", genveränderte Sojabohnen)9 sowie der Bereich der Tier- und Zellzucht 10 (z. B. Klonschaf "Dolly"). Weitgehend ungeklärt sind auch die Folgen und Wechselwirkungen einer Freisetzung rekombinierter Organismen in die Umwelt. Eher erheiternd ist dabei die Vorstellung, daß sich zur Altlastensanierung ausgesetzte öltressende Bakterien in Heizöltanks "vorarbeiten". Ernster zu nehmen sind dagegen die möglichen ökologischen und toxikologischen Folgen des Einsatzes herbizidresistenter Pflanzen. 11 2. Techniksteuerung Fragt man nun nach der "Regulierung" dieser bekannten und unbekannten Techniken, so ist damit der Umgang mit bzw.- genauer gesagt- die Steuerung derselben angesprochen. Herkömmlicherweise wird dabei ein handlungstheoretischer Steuerungsansatz zugrunde gelegt, dem ein im klassischen Sinne technisches Wirkungsverständnis inhärent ist, wonach Steuerung die Herstel-

7 Wahl, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Vorb. Gentechnikgesetz, Loseblatt, Stand März 1998, Rdnr. 3. 8 V gl. z. B. Hoffritz, Die Genküche bleibt kalt, Die Zeit, Nr. 2311999, S. 25. 9 Vgl. z. B. Gi/1/Bizer/Ro//er, Riskante Forschung, 1998, S. 49 f. m. w. Nachw.: durch Paranußgene veränderte Sojabohnen, die zur rationelleren Schweinemästung entwickelt wurden, stellten sich - zufällig - ftir Menschen mit einer Nußallergie als potentiell tödlich heraus. Sojabohnen zur Viehmast und zum menschlichen Verzehr werden nach Mitteilung Gills regelmäßig nicht getrennt angebaut. 10 Vgl. z. B. Schuh, Kopien mit tödlichen Fehlern, Die Zeit, Nr. 23/1999, S. 35. 11 Vgl. die Nachweise bei Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem, VerwArch 84 (1993), 484, 488.

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lung eines Systemzustandes meint, der anderenfalls nicht eintreten würde. 12 Dieses Steuerungsverständnis setzt allerdings die nicht vorhandene Fähigkeit zur ausreichenden Isolierung beabsichtigter Wirkungsketten gegen Störungen voraus, d. h. - anders gesprochen - die Fähigkeit zur Kontrolle der entscheidenden Ursachen einer Veränderung. Damit wird verkannt, daß Steuerung nur als Vergrößerung oder Verringerung spezifischer Differenzen zu begreifen ist. Kurz gesagt: Steuerung darf nicht länger als Zentralsteuerung von außen verstanden werden, sondern erweist sich als Differenzminderung durch Selbststeuerung.13 Damit wird - dies sei auch an dieser Stelle in aller Klarheit hervorgehoben Steuerung weder schlechterdings ftlr unmöglich gehalten noch von vornherein als bloße Donquichotterie ausgegeben. Dies wäre - mit den Worten Niklas Luhmanns - tatsächlich absurd, weil damit geleugnet würde, was faktisch in erheblichem Umfang geschieht. 14 Allerdings ist mit dem hier zugrunde gelegten Autopoiese-Konzept schon· die Vorstellung verbunden, daß das Rechtssystem seine Autopoiesis realisiert, indem es dem Rechtscode folgt und dadurch sich selbst gegen die innergesellschaftliche Umwelt abgrenzt. 15 Demgegenüber läßt das handlungstheoretische Steuerungsmodell sozialwissenschaftlicher Provenienz außer Acht, daß die Reflexion von Steuerungsmängeln ein Internum des Rechtssystems ist und bleibt. Dieser funktionalen Autonomie bzw. operativen Geschlossenheit gesellschaftlicher Subsysteme, d. h. auch des Rechtssystems, zufolge sind diese auf der Grundlage der systemleitenden Unterscheidung von System und Umwelt zur Herstellung eigener Operationen aufihr eigenes Netzwerk angewiesen und reproduzieren sich in diesem Sinne selber. Operative Geschlossenheit darf dabei nicht mit Abgeschlossenheit verwechselt werden; vielmehr bestehen zwischen den Systemen und ihrer Umwelt intensive Systemrelationen. Allerdings bedeutet operative Geschlossenheit schon, daß das System nach Maßgabe seiner eigenen Operationen autonom darüber entscheidet, wie es auf die Systemrelationen und Interdependenzen

12 Zu den unterschiedlichen Steuerungskonzepten siehe insb. Voigt, Staatliche Steuerung aus interdisziplinärer Perspektive, in: König/Dose (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handelns, 1993, S. 289, 290 ff. 13 Luhmann, Politische Steuerungsfähigkeit eines Gemeinwesens, in: Göhner (Hrsg.), Die Gesellschaft fllr morgen, 1993, S. 50, 55, 56; ders., Steuerung durch Recht? Einige klarstellende Bemerkungen, ZRSoz 12 (1991), 142, 143 f.; ders., Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag PVS XXXI ( 1989), 4 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch mit berechtigter Kritik aus systemtheoretischer Sicht am Steuerungsbegriff Di Fabio, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 56 ( 1997), 317 f. 14 Luhmann (FN 13), passim. 15 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 552 ff.; Krause, LuhmannLexikon, 2. Aufl. 1999, S. 21 ff. m. w. N.

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reagiert. 16 Die mit den Begriffen der "Steuerung" oder "Regulierung" verbundene Aufnahme und Verarbeitung empirischer Informationen durch das Rechtssystem wird deshalb nur möglich, wenn und weil es aufgrund autonomer Entscheidung, z. B. über unbestimmte Rechtsbegriffe - wie etwa den des "Standes der Wissenschaft" in § 6 Abs. I GenTG - diesen normative Geltung verschafft. Übertragen wir dieses Steuerungsverständnis nun auf unseren Problembereich der Techniksteuerung, so wird ersichtlich, daß Recht, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft Technik nicht determinieren, sondern sie nur als Medium ihrer Kommunikationen einsetzen. So verwendet beispielsweise die Verwaltung als politisch-rechtliches Organisationssystem einer modernen Gesellschaft digitale Informationstechnik, um eine schnellere und effektivere, interne und externe Kommunikation zu ermöglichen ("vernetzte Verwaltung"). Wenn Technik in diesem Sinne als Medium der Kommunikation genutzt wird, wirkt sie latent. Sie wird vom jeweiligen Kommunikationssystem nicht beobachtet, d. h. auch nicht explizit thematisiert. Weil Steuerung im Sinne von Differenzminderung aber Beobachtung voraussetzt, kann in diesem Sinne auch nicht von einer Steuerung der Technik die Rede sein. Allenfalls ließe sich sagen, daß Technik als Medium der Kommunikation im Laufe der Selbststeuerung des technikverwendenden Systems notwendigerweise mitgesteuert wird. Auf der anderen Seite determiniert Technik allerdings auch nicht die Kommunikation innerhalb der sozialen Systeme, sondern irritiert bzw. stört sie nur. Das tut die Technik, indem sie - in ihrer Erscheinungsform als (nicht funktionierende) Installation- die sozialen Systeme in ihrer Autopoiese, mithin in der Produktion und Reproduktion ihrer eigenen Kommunikation, irritiert. Zum Thema von Kommunikation wird Technik, wenn sie nicht funktioniert. Dies ist der Fall, wenn sie entweder noch nicht funktioniert, weil sie noch nicht eingesetzt ist bzw. genutzt wird, oder wenn sie nicht mehr funktioniert, weil ihr Einsatz bzw. ihre Nutzung gestört ist. Als noch nicht funktionierende Installation irritiert Technik die sozialen Systeme in einer bestimmten Phase des Technikentwicklungsprozesses und zwar in der Phase der Technikgenese. Als nicht mehr funktionierende Installation offenbart Technik ihr SchadenspotentiaL Dies ist vornehmlich bei Konstellationen des technischen Risikos der Fall. Risiko bedeutet dabei die Erwartung, daß ein Schaden eintreten kann. Diese Erwartung von negativen Entscheidungsfolgen wird vom Rechtssystem thematisiert, wenn es Technik als nicht mehr funktionierende Installation beobachtet. Deshalb wird ein großer Teil des Verwaltungsrechts auch als "Recht der Risikoverwaltung" bezeichnet.

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Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal

9 ( 1990), 176, 203f.

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II. Techniksteuerung durch Technikrecht, technische und professionelle Normen

1. Technikrecht Aus rechtlicher Sicht sind im Hinblick auf die Steuerung von Technik insbesondere zwei Fragen zu erörtern. Nämlich: I. Welche Vorgaben fur die einfachrechtliche Gestaltung enthält das höherrangige Recht, also das Völker-, Europaund Verfassungsrecht? und 2. Welche Aufgaben kann und muß das Recht angesichts fortschreitender technischer Entwicklung erfullen? Während auf das Völker- und Europarecht an dieser Stelle nur hingewiesen werden kann, 17 sollen verfassungsrechtliche Vorgaben flir die einfachrechtliche Gestaltung von Technik kurz umrissen werden. Grundsätzlich ist ein "verfassungsrechtliches Dreigestirn" aus staatlichen Schutzpflichten, Grundrechtspositionen der Techniknutzer und -betreiber sowie Anforderungen an die staatliche Daseinsvorsorge zu beachten. 18 Im Hinblick auf den Schutz der Rechte "technikbetroffener Dritter" können dem Staat sog. Schutzpflichten obliegen, die nach überwiegender Ansicht aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte hergeleitet werden. Im Bereich der Gen- und Atomtechnik sowie der Müllverbrennung kann an die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. I i. V. mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Leben und körperliche Unversehrtheit) und im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnik an Art. 10 Abs. I GG (Fernmeldegeheimnis) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (Recht auf informationeHe Selbstbestimmung) angeknüpft werden. Hinzu kommt flir den Bereich der Gen- und Atomtechnik und der Müllverbrennung die an den Staat gerichtete Staatszielbestimmung des Art. 20 a GG (Schutz natürlicher Lebensgrundlagen). Dem gegenüber stehen die Grundrechte der Techniknutzer und -betreiber. Jene können sich insbesondere auf Art. 12 Abs. I GG (Berufsfreiheit) und im Einzelfall auf Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) berufen. Vorgaben können aber auch aus Art. 14 GG (Eigentum), beispielsweise in der derzeitigen atomrechtlichen Diskussion, oder Art. 5 Abs. 3 S. I GG (Wissenschafts- und Forschungsfreiheit), etwa hinsichtlich der Forschung in gentechnischen Labors, resultieren. Einen dritten Eckpunkt bieten schließlich verfassungsrechtliche Vorgaben zur Daseinsvorsorge, die technische Systeme gegebenenfalls voraus-

17 Vgl. z. B. fllr den Bereich der Gentechnik im Lebensmittelsektor Berg. Risikomanagement am Beispiel der Novel-Food-Verordnung (NFV). ZLR 1998. 375 tL für die Kommunikations- und Informationstechnik siehe Hoffmann-Riem. Telekommunikationsrecht als europäisiertes Verwaltungsrecht. DVBl 1999. 125 ff. 18 Vgl. dazu Kloepfer, Recht als Technikkontrolle und Technikermöglichung, DINMitt. 77 (1998), 422, 423 f.; Roßnagel, Die rechtliche Fassung technischer Risiken, UPR 1986, 46 f.

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setzen. So sieht Art. 87 f Abs. 1 GG beispielsweise explizit die angemessene und ausreichende Gewährleistung von Kommunikationsdienstleistungen vor. Angesichts der geschilderten Vorgaben können dem einfachen Recht maßgeblich zwei Funktionen zufallen. Es kann einerseits den Rahmen zur Ermöglichung und Förderung von Technik schaffen. Andererseits kommt dem Recht in Anbetracht der Risiken und Gefahren eine technikbegrenzende und -kontrollierende Funktion zu. 19 Diese Funktion stand und steht im Vordergrund rechtlicher Überlegungen und hat ihren Niederschlag in einem weitverzweigten Gefahrenabwehrrecht gefunden. Um mit der Entwicklung der Technik Schritt zu halten, bedient sich das traditionelle Gefahrenabwehrrecht bei der Beurteilung von Gefahren oftmals unbestimmter Rechtsbegriffe, wie beispielsweise dem des "Standes von Wissenschaft und Technik". Infolge der eingangs skizzierten Ungewißheiten bei neuen Techniken spielt in der juristischen Dogmatik neben dem Begriff der Gefahr zunehmend der Begriff des "Risikos" eine Rolle. Er trägt der Tatsache Rechnung, daß bei bestimmten Techniken auch dann ein rechtlicher Handlungsbedarf gesehen wird, wenn das Gefahrenabwehrrecht mit dem Gefahrbegriff (noch) nicht greift. Dies betrifft Techniken, wo aufgrund von Ungewißheit über die Ausgangsbedingungen oder die Wirkungszusammenhänge die Wissensgrundlage für eine Gefahrenprognose fehlt, und Bereiche, wo infolge ganz geringer Schadenswahrscheinlichkeit oder Schadenshöhe noch nicht von einer Gefahr gesprochen werden kann. Dementsprechend tritt beispielsweise in den §§ 6,7 GenTG das "Risikomanagement" an die Seite der Gefahrenabwehr und nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG ist beim Betrieb atomtechnischer Anlagen trotz ganz geringer Schadenswahrscheinlichkeit die "erforderliche Schadensvorsorge" zu treffen. 20 Mit der bisher dargestellten Techniksteuerung durch Technikrecht soll nun aber nicht der Eindruck erweckt werden, daß sich in diesem Bereich das alleinige Gravitationszentrum der Techniksteuerung befindet. Zwar steht die Bedeutung des Technikrechts fur Technikkontrolle wie technische Innovation im Vordergrund dieses Kolloquiums, doch sollte meines Erachtens der Blick zusätzlich verstärkt auf die Bedeutung der technischen und professionellen Normen gerichtet werden. Hier liegt ein kaum zu überschätzendes Steuerungspotential fur die Techniksteuerung.

K/oepfer (FN 18). 422 f.. 424 ff. Zum Risikobegriff siehe insb. Di Fabio. Entscheidungsprobleme der Risikoverwaltung, NuR 1991. 353 ff.: Gi/1/Bi=er/Ro//er. Riskante Forschung. 1998, S. 49 ff.: Kloepfer (FN 18), 422 f.: Scher=berg. Risiko als Rechtsproblem. VerwArch 84 (1993). 484. 490 ff.; Roßnagel (FN 18). 46 ti 19

20

5 Kloepfer

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2. Technische Normen

Wirtschaftlich ist technische Normung gerade im Bereich der Informationsund Kommunikationstechnik fiir die Zusammenarbeit und fUr den Wettbewerb der am Markt produzierenden Unternehmen von besonderer Bedeutung. Sie unterscheidet - in Konkurrenz zum amerikanischen und asiatischen Markt mit über den Erfolg des europäischen Birmenmarktes auf dem Gebiet der IuKTechnik. Technische Normung dient der Interoperabilität der Produkte unterschiedlicher Hersteller und reflektiert damit die Dynamik des Marktes. 21 Rechtlich wird die technische Normung als kooperatives Verfahren der Standardbesetzung relevant, das sich über unbestimmte Rechtsbegriffe wie diejenigen des Standes der Technik oder des Standes von Wissenschaft und Technik normativ niederschlägt. 22 Die Besonderheit technischer Normung liegt darin, daß die Rechtsetzung praktisch vollständig in den Händen Privater liegt (z. B. DIN, CEN, CENELEC). Dies wirft die Frage nach der Gewährleistungsverantwortung des Staates fiir die Wahrung der sog. diffusen Interessen (Umwelt-, Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz) auf. Ihr wird er mit dem Modell "steuernder Rezeption" gerecht. Dabei beläßt der Staat den privaten Normungsorganisationen uneingeschränkt ihre grundrechtliche Freiheit, d. h. ihre grundrechtliche Normungsautonomie, behält sich aber die Option vor, zur Wahrung der Gemeinschaftswohlverträglichkeit in concreto von den privaten Regelwerken abzuweichen, z. B. im Rahmen behördlicher oder gerichtlicher Rezeption. 23 3. Professionelle Normung

Technikkontrolle, d. h. Sicherheitsgewährleistung und RechtsgUterschutz Dritter, sind aber nicht nur von den Einflüssen des Technikrechts und der technischen Normung abhängig, sondern werden maßgeblich vor allem von der technikgestaltenden Handlungspraxis der Ingenieure selbst beeinflußt. Die damit angesprochenen professionellen Normen 24 sind die "unsichtbaren Fäden"

21 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Betreffend "Nonnung und globale Informationsgesellschaft Der europäische Ansatz", KOM (96) 359 endg. v. 24.7.1996, S. 2. 22 Siehe dazu Lamb, Kooperative Gesetzeskonkretisierung. Verfahren zur Erarbeitung von Umwelt- und Technikstandards, 1995, passim. 23 Zum Modell "Steuernder Rezeption" siehe insb. Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), 160, 203 ff.; ders .. Normierung und Selbstnormierung aus der Sicht des öffentlichen Rechts, ZLR 1997, 249 ff. 24 Zu den sog. professionellen Nonnen siehe ausfUhrlieh Roßnage/, Rechtliche Risikosteuerung, Juristen und Ingenieure im Prozeß der Technikgenese, Einftlhrung in den

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im Hintergrund des Geschehens, die das Wirken der Ingenieure, ihre Bewertung der Technik und ihre Vorstellungen über Sicherheit steuern. Mit diesem filr die Technikkontrolle überaus relevanten Steuerungsinstrument beschäftigt sich seit geraumer Zeit eine Forschungsgruppe zum Thema "Rechtliche Risikosteuerung" an der Universität Gesamthochschule Kassel, die Juristen und Ingenieure im Prozeß der Technikgenese beobachtet. Ihren Untersuchungen zufolge gibt es neben den von professionellen Vereinigungen verabschiedeten Präambeln und Ethikcodizes weiterreichende sog. professionelle Normen, die sich in die Kategorien der Gestaltungsnormen, der arbeitsprozeßbezogenen Normen, der interaktionsbezogenen Nonnen, der berufsrollenbezogenen Normen sowie der Metanonnen einordnen lassen. Unter Gestaltungsnormen werden dabei Verhaltenserwartungen verstanden, die Richtigkeilsstandards fur die Entwurfs- und Bemessungtätigkeit der Ingenieure vorgeben. Ein Beispiel dafür ist, daß der Entwerfer einer technischen Konstruktion die zu erwartende Qualifikation der Bauarbeiter bereits beim Entwurf mit berücksichtigen sollte. Arbeitsprozeßbezogene Nonnen beziehen sich auf die Art und Weise der Ausfuhrung der Tätigkeiten. Hier wäre beispielhaft die Nonn zu nennen, keine Berechnungsart zu benutzen, fllr die es keine Kontrollalternative gibt. Zu den interaktionsbezogenen Normen werden Sollensvorstellungen über Kollegialität und die Art der sozialen Arbeitsorganisation gerechnet. Ein Beispiel dafür ist das innerhalb der Berufsgruppe der Ingenieure völlig selbstverständliche und nicht als Beleidigung aufgefaßte "Sich-aufmerksammachen" auf Fehler. Die Gruppe der berufsrollenbezogenen Normen umfaßt Sollensanforderungen, die an das Verhalten des Einzelnen auch als. Eigenerwartung an sich selbst gerichtet sind. Hierzu zählt etwa die Nonn, eigene Fähigkeiten richtig einzuschätzen und diese nicht zu überschreiten. Schließlich sind in diesem Zusammenhang die Metanormen zu nennen, die Vorzugsregeln beschreiben, welcher Norm im Falle eines Normenkonflikts der Vorzug zu geben ist. 25 Vergleicht man vor diesem Hintergrund die Wirkungsweise professioneller Nonnen mit derjenigen des Technikrechts, so wird nach Auffassung der Kasseler Forschungsgruppe deutlich, daß professionelle Normen vornehmlich in noch unvertrauten, innovativen Technikbereichen und in den frühen Phasen konventioneller Technikprojekte zur Geltung gelangen. Sie sollen zudem eine höhere Affinität zur Entwurfsphase eines Projekts besitzen, während fllr das Technikrecht und für die technische Normung eine höhere Affinität zur Bemessungsphase eines Projekts kennzeichnend seien.

Workshop am II. und 12. Juni 1999 im Kloster Haydau. noch unveröffentlichtes Manuskript, S. 15 ff. 25 Roßnagel (FN 24 ), ebd.

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Mit Blick auf den Rechtsgüterschutz Dritter wird die Steuerungsleistung des Rechts als gering, diejenige der professionellen Normen sehr hoch eingeschätzt, wenn der Rechtsgüterschutz Dritter mit wirtschaftlichen bzw. politischen Interessen und professionellen Qualitätsleitbildern zusammenfallt. Demgegenüber sei die Steuerungsleistung des Rechts hingegen sehr hoch zu veranschlagen, wenn der Rechtsgüterschutz Dritter (z. B. im Arbeits- und Umweltschutz) mit wirtschaftlichen oder ingenieurmäßigen Zielvorstellungen kollidiere. Im Konflikt wirtschaftlicher Interessen und professioneller Handlungsorientierung setze sich aufgrund der stärkeren Druckmittel zumeist der Träger wirtschaftlicher Interessen durch. Allerdings könne es dabei leicht zu einer Gefahrdung des Rechtsgüterschutzes Dritter kommen, wobei dann in diesen Fällen die Wirkung professioneller Normen durch das Recht unterstützt werde. 26 Eine Überprüfung dieser filr die bekannten Techniken der Müllverbrennung, der Abwasserbeseitigung und des Brückenbaus entwickelten Thesen zur Steuerungsleistung von Technikrecht, technischen und professionellen Normen anhand des Bereiches der Infonnations- und Kommunikationstechnik könnte sich dabei vielleicht als wissenschaftlich gewinnbringend erweisen. 111. Entwicklungsbegleitende Normung in der Informations- und Kommunikationstechnik Wie schwierig und problembehaftet sich das dargestellte Zusammenspiel von Technikrecht, technischen und professionellen Normen allerdings in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht im Einzelfall zu erweisen vermag, möchte ich abschließend an einem aktuellen Beispiel aus dem Bereich der Informationsund Kommunikationstechnik verdeutlichen. National wie international vollzieht sich gegenwärtig im Bereich der technischen Norinung ein bislang unbekannter Dynamisierungsprozeß. Dieser erstreckt sich vor allem von der traditionellen zur entwicklungsbegleitenden Nonnung. Beispielhaft seien hier nur die Fachgebiete der Lasertechnik, der integrierten Optik, der Dünnschichttechnologie und der Mikrosystemtechnik genannt. 27 Vor allem ist hier aber die als "computer integrated manufacturing" (CIM) bekannte rechnergestützte Produktion zu nennen. In ihren "Spielarten" des Agile Manufacturing (USA), der Lean Production (Japan) oder des Fraktalen Unternehmens (Deutschland) - steht sie als Synonym flir eine Zukunft Roßnagel (FN 24), ebd. Eichener/Voelzkow/Wegge, Der optimale Zeitpunkt für die Entwicklungsbegleitende Normung (EBN), DIN-Mitteil. 75 (1996), 99 ff.; Rixius, Systematisierung der Entwicklungsbegleitenden Normung (EBN), DIN-Mitteil. 73 (1994), 50 ff.; Lüdtke, Erfahrungen und Ergebnisse der Entwicklungsbegleitenden Normung auf dem Gebiet der Lasertechnik, DIN-Mitteil. 72 (1993), 566 ff.; ders., Entwicklungsbegleitende Normung in der Lasertechnik, DIN-Mitteil. 72 ( 1993), 236 f. 26

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reibungsloser Informationsflüsse und eine damit verbundene neue Gestaltung der Unternehmensprozesse und der Unternehmensorganisation, sah sich aber dem Problem ausgesetzt, daß die Vielzahl der zu vernetzenden Komponenten zu einer noch größeren Zahl von Schnittstellen fllhrte. An diesem Punkt setzte die vom BMBF geförderte entwicklungsbegleitende Normung der Schnittstellen zwischen verschiedenen CIM-Bausteinen an. Das Vorhaben ist vor einiger Zeit abgeschlossen worden, wird aber im Rahmen der "Produktion 2000" nach neuem Konzept fortgeflihrt. 28 Im Gegensatz zur traditionellen Normung besteht nun bei der entwicklungsbegleitenden Normung aufgrund der engen Verzahnung von Normung auf der einen Seite sowie Forschung und Entwicklung auf der anderen Seite die im Vergleich zur traditionellen Normung noch größere Gefahr, daß sich die Beteiligung und Berücksichtigung der sogenannten "diffusen Interessen" kaum realisieren läßt. Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltschutzorganisationen haben hier mit Beteiligungsbarrieren zu kämpfen, die ihre Ursache in der mangelnden Information über laufende und prospektive Normungsvorhaben sowie vor allem in der mangelnden Integration in die informellen Netzwerke der professionellen Fachgemeinschaften finden. Gerade bei der entwicklungsbegleitenden Normung fallen die wichtigen Entscheidungen oftmals in vorgelagerten Expertenkreisen und nicht in den formell zuständigen Normungsausschüssen. Die darin deutlich werdende "Informalisierung der Normung" bringt es mit sich, daß der Status der offiziellen Normungsgremien darauf reduziert wird, die im informalen Vorfeld getroffenen Entscheidungen formell zu ratifizieren.29 Die Bedeutung dieser mit der "lnformalisierung der Normung" verbundenen Beteiligungsbarrieren fiir die Effektivität der Normsetzung und Normdurchsetzung liegt auf der Hand. Sie ist in der Gefahr zu sehen, daß die in unbestimmten Rechtsbegriffen sich niederschlagenden technischen Standards, die ohne Berücksichtigung der sogenannten diffusen Interessen erarbeitet werden, nachträglich in Doppelarbeit und mit Zeitverzug angepaßt werden müssen oder vielleicht sogar wegen "sozialer Unverträglichkeit" überhaupt nicht zu realisieren sind. Doch damit nicht genug! Der soeben beschriebene Dynamisierungsprozeß technischer Normung schreitet in jüngster Zeit mit geradezu ra28 Siehe dazu insb. DIN, Entwicklungsbegleitende Normung f\ir die Produktion im 21. Jahrhundert. Handlungsbedarf und Strategien im Rahmenkonzept ,.Produktion 2000", 1996, passim; vgl. aber auch Pirron, Erfolgsfaktor Integration. Wege und Lösungen f\ir das Informationsmanagement, 1996, passim; Voelzkow, Private Regierungen in der Techniksteuerung, 1996, S. 149 ff.; Rixius, QCIM beendet- Stabsstelle Produktion im DIN setzt EBN in "Produktion 2000" fort, DIN-Mitteil. 76 (1997), 131 f.; Behrens, Grundlagen und Zuarbeit zur Schnittstellennormung flir die rechnerintegrierte Produktion (CIM)- Entwicklungsbegleitende Normung, DIN-Mitteil. 72 ( 1993), 58 ff. 29 Voelzkow (FN 28), S. 181 f.

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santem Tempo voran. So ist in der Abschlußpräsentation des Forschungsvorhabens "QCIM-Qualiätssicherung durch CIM" darauf hingewiesen worden, daß das "zeitaufwendige Normungsprocedere der entwicklungsbegleitenden Normung unnötige Grenzen" setze. Als neuer, erheblich schnellerer Weg wurde deshalb die Erarbeitung und Zulassung sogenannter öffentlich verfligbarer Spezifikationen (PAS - publicly available specification) vorgeschlagen. Auf der Grundlage der Mitteilung der EG-Kommission an den Rat und das Europäische Parlament betreffend "Normung und globale Informationsgesellschaft" wird dieser Weg in ISO und CEN sowie mittlerweile auch im DIN bereits tatsächlich beschritten.30 Hintergrund dafilr ist, daß die formale Normung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik an Bedeutung verloren hat. So war es angesichts der Langwierigkeit der Normungsverfahren und der Notwendigkeit eines Konsenses nicht immer möglich, in offiziellen Normungsverfahren die Normen so rechtzeitig zu liefern, daß sie in die innovative Technik Eingang fanden und marktbeherrschende individuelle Spezifikationen verhindert wurden. Als Reaktion auf die Grenzen formaler Normung entstanden informale Gremien und Konsortien, z. B. Associated Standardization Bodies (ASB), die filr den Gebrauch ihrer Mitglieder Spezifikation aufstellten.31 Soweit sie der Allgemeinheit zur VerfUgung gestellt wurden, sind sie nunmehr als PAS bekannt. Diese erneute Dynamisierung des technischen Normungsprozesses und die damit einhergehende weitere "lnformalisierung der Normung" gibt zu der Frage Anlaß, wie überhaupt im Zuge dieser Entwicklung noch die Berücksichtigung der sogenannten diffusen Interessen sichergestellt und damit zugleich die Effektivität der Normsetzung und Normdurchsetzung gewährleistet werden kann. Gegen den in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen weiteren Ausbau des prozeduralen Steuerungsansatzes, z. B. durch die Integration von Querschnittsgremien in die "rein" technischen Ausschüsse oder durch die Etablierung übergeordneter Gremien, die sich gezielt um die Einbeziehung der interessierten Kreise in die entwicklungsbegleitende Normung bemühen - beispielhaft sei etwa das Europäische Normungsforum genannt -, ist dabei grundsätzlich nicht zu erinnern. 32 Auf mittel- und langfristige Sicht dürften damit aber kaum nennenswerte Tempogewinne verbunden sein. Hoffnungen richten sich deshalb auf die rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung. 33

30 Zu den sog. öffentlich verfiigbaren Spezifikationen (PAS - Publicly Available Specification) siehe insb. die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament (FN 21 ), S. 2 f. sowie Rixius (FN 28), S. 131. 31 Eichener/Voelzkow/Wegge (FN 27), S. 99, 104. 32 Voe/zkow (FN 28), S. 183. 33 Zur Fortentwicklung dieses Konzepts in Richtung auf eine Technikgeneseforschung siehe insb. Dierkes/Canzler, Innovationsforschung als Gegenstand der Technik-

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Hier muß allerdings die entscheidende Frage lauten, ob sich im Zuge der beschriebenen Entwicklung eine Technikfolgenabschätzung überhaupt noch sachund zeitgerecht durchfUhren läßt und welchen Realisierungsbedingungen sie ggf. zu unterwerfen ist. Man wird insoweit davon ausgehen dürfen, daß das herkömmliche Verfahren der Technikfolgenabschätzung nicht mit der Dynamisierung des technischen Normungsprozesses im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik Schritt zu halten vermag. Die Lösung dieses Problems gestaltet sich äußerst schwierig, vielleicht könnte aber ein möglicher Weg darin liegen, filr die Durchführung der Technikfolgenabschätzung zumindest mittelfristig die Informations- und Kommunikationstechnik selbst zu Hilfe zu nehmen, um diese gleichsam mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Insoweit wäre dann einmal darüber nachzudenken, in welchem Umfang sich Technikfotgenabschätzung in elektronischen Netzwerken, z. B. CSSNs (computer-supported social networks), realisieren läßt. 34 Möglicherweise ließe sich dadurch die Technikfolgenabschätzung erheblich zeitnäher an den technischen Normungsprozeß rücken.

geneseforschung, in: Hoffmann-Riem/Schneider (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 63, 64 ff. 34 Siehe dazu im einzelnen Wel/mann/SalafPDimitrowa/Garton/Gulia/Haythornthwaite, Computer Networks as Social Networks: Collaborative Work, Telework and virtual Community, Annual Review of Sociology 22 ( 1996), 213 ff.; Merz, Formen der Internetnutzung in der Wissenschaft, in: WerleiLang (Hrsg.), Modell Internet? Entwicklungsperspektiven neuer Kommunikationsnetze, 1997, S. 241 ff.; Greve, Internet und soziale Bewegungen, in: Werfe/Lang, S. 289, 292, dort mit Hinweis auf sog. Bulletin Billboard Systems (BBS).

Technikentwicklung und -implementierung als rechtliches Steuerungsproblem: Von der administrativen Risikopotentialanalyse zur Innovationsfunktion des Technikrechts Von Rainer Pitschas I. Technikentwicklung als Innovationsproblem I. Innovation und Implementierung als rechtswissenschaftliche Brückenbegriffe

Wer sich dem thematischen Zusammenhang von Technikentwicklung und Innovationssteuerung widmet', gerät leicht auf Glatteis. Denn ihm ist zunächst aufgegeben, den Inhalt des Innovationsbegriffs zu klären. Zumal die Rechtswissenschaft tut sich aber damit schwer. Ihr Interesse gilt zwar (auch) der Steuerung von Innovationen und damit den Wechselwirkungen zwischen dem Recht einerseits und technischen, ökonomischen oder sozialen Neuerungen andererseits.2 Wie aber deren Verständnis beschaffen ist, scheint nicht leicht faßbar. Denn was ist eine "Innovation"? "Den" Innovationsbegriff gibt es nicht. Heute ist offenkundig, daß der Begriffsgehalt neben einer inhaltlichen Deutung auch prozessuale und Strukturaspekte sowie weitere Dimensionen umfaßt. 3 Dessen eingedenk, sollen an dieser Stelle unter "Innovationen" - pauschal betrachtet - Neuerungen aller Art verstanden werden4, also etwa die Erneuerung von Verfahren, Strukturen, Pro-

1 Dazu bereits frühzeitig Stiftung für Kommunikationsforschung (Hrsg.), Techni· sehe Entwicklung und Innovation, Bonn 1986. 2 Wolfgang Ho.flmann-Riem, Vorüberlegungen zur rechtswissenschaftliehen Innovationsforschung, in: ders./Jens-Peter Schneider (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, Baden-Baden 1998, S. II (14 ff.). 3 Jürgen Hauschildt, Facetten des Innovationsbegriffs, in: Hoffmann-Riem/Schneider (FN 2), S. 29 (33 ff.). 4 Klaus Chmielewicz, Unternehmensverfassung und Innovation, in: FS flir N. Szyperski, Stuttgart 1991, S. 83 (84).

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dukten oder auch von persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen. 5 Die spezifisch technologische Konnotation des Innovationsbegriffs knüpft daran an, wenn es in der Literatur heißt: "Unter einer Innovation soll ... der gesamte Prozeß der Erforschung, Entwicklung und Anwendung einer Technologie verstanden werden. Dieser Prozeß besteht definitionsgemäß also aus mehreren logisch aufeinanderfolgenden Phasen (Subprozessen), die sich analytisch unterscheiden lassen."6 Auf eben diesen "Prozeß'' erstreckt sich in seiner Gesamtheit die rechtliche Steuerung der Technikentwicklung. Sie umschließt sowohl die Umsetzung einer Technologie filr ihre Nutzung ("Innovation i.w.S.") als auch die anschließende Phase ihrer Anwendung ("Diffusion")7, ferner aber ebenso die Steuerung dieser Phasen über "Recht", die auch bei dessen Durchsetzung (=Implementierung) einem Prozeß der Rechtsgewinnung8 nach Maßgabe gesetzlich intendierten Verwaltungsermessens unterliegt. So verstanden, bezieht sich der Vorgang der "Implementierung" sowohl auf die technologischen Innovationen als auch auf deren phasenorientierte rechtliche Steuerung. Innovation und Implementierung fungieren damit als Brückenbegrijfe, die das Recht in seiner aktiven Rolle bei der Erzeugung von erwünschten Innovationen und der Begrenzung von unerwünschten Innovationserwartungen mit dem Fachdiskurs darüber verbinden, wie sich die soziale und politische Ordnung denjenigen Veränderungen anpassen muß, die industriell angewandte Technik der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzwingt. 9 2. Gesellschaftliche Innovation als Bedingung von Technikentwicklung Bezugspunkt der rechtlichen Steuerung von Technik ist somit und einerseits die gesellschaftliche Innovation, d. h. ein spezifisches soziales Verhalten in der Bürgerschaft gegenüber einzelnen Technikphänomenen. Die Technikentwicklung selbst, ihr Niveau, ihre Intensität und ihre Leistungsfähigkeit sind von der Fähigkeit der Gesellschaft abhängig, den Prozeß technisch-industrieller Innos Anknüpfend an das Begriffsverständnis in der Verwaltungswissenschaft; dazu siehe etwa Carl Böhret, Innovative Verwaltungspolitik - Chancen flir einen Versuch?, VR 1988,46 (48 f.). 6 L. Uhlmann, Der Innovationsprozeß in westeuropäischen Industrieländern. Ber· lin!München 1978, S. 41. 7 Peter Hanus, Das technologische System als Steuerungsgegenstand, in: Axel Gör1itz (Hrsg.), Politische Steuerung sozialer Systeme, Pfaffenhafen 1989, S. 73 (79 ff., 82). 8 Arthur Kaufmann, Rechtsgewinnung, 2000, passim; Rainer Pitschas, Gerichtsautonomes Sozialrecht?, VSSR 1990, 241 ff. m. w. Nachw. 9 Hierzu siehe auch die eingehenden Überlegungen von Kurt Biedenkopf, Technische Entwicklung und gesellschaftliche Innovation, in: Stiftung flir Kommunikationsforschung (FN 1), S. 9 (ll f.).

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vation und seine Auswirkungen auf die eigengesellschaftliche Wirklichkeit durch einen entsprechenden gesellschaftlichen Prozeß der Interessenklärung und Neubewertung der aufgetretenen technisch-naturwissenschaftlichen Möglichkeiten zu begleiten. Dieser Neuerungsprozeß bedarf einer genuinen Steuerung seiner einzelnen Phasen. Letztlich geht es dabei um die Gesellschaftsverträglichkeit von technischen Innovationen. 10 Die darauf gerichtete staatliche Steuerungsverantwortung11 steht insofern vor zwei grundlegenden Aufgaben. Einerseits ist der ihr erfließenden Innovationspolitik aufgegeben, die mit technischen Entwicklungen verbundenen Veränderungen der Wirklichkeit zu bewältigen und zu gestalten; andererseits setzt sie die Aufgabe frei, Verfahren bereitzustellen bzw. Maßstäbe auszuprägen, mit denen sich die Gesellschaft in die Lage versetzt zu beurteilen, welche der vielfaltigen technischen Entwicklungen gesellschaftlich umgesetzt, angenommen und verwendet werden sollen. 12 Soweit also die Technikentwicklung sich anschickt, neuartige Risiken zu verursachen und damit die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verändern, müssen die gesellschaftlichen Institutionen ein Urteil darüber fallen, ob diese Veränderung sinnvoll, erwünscht oder unter Wertgesichtspunkten jedenfalls hinnehmbar ist. Diese (Risiko-)Bewertung eigener Art ist selbst ein innovativer Prozeß, der von dem gängigen Begriff der "Akzeptanz" 13 nur unzureichend erfaßt wird und deshalb davon abzuheben ist. Es geht in der "Risikogesellschaft" um weitaus mehr, nämlich um die in ihrer Mitte zu fUhrende Auseinandersetzung darüber, wie die Komplexität des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bis hin zu der Schöpfung neuer, verbindlicher Wertvorstellungen oder der Ablehnung bestimmter sozialer Risikopotentiale beherrschbar gemacht werden soll. Damit sind Konflikte verbunden. Denn es soll nicht vorfindliebes anerkannt ("akzeptiert") werden, sondern ein gesellschaftlicher Erklärungs-, Ermöglichungs- und Integrationsprozeß technischer Innovationen in gesellschaftliche Wirklichkeit findet im schmerzvollen Streit statt. Innovationserhebliches Recht gibt diesen

10 Rainer Pitschas, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, DÖV 1989,785 (793, 795 m. Anm. 92), 11 Nachw. im einzelnen bei Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Regulierung, DVBI. 1996, 950 ff. 12 Hoffmann-Riem (FN 2), S. 15, 21. 13 Vgl. aber Hermann Hili, Integratives Verwaltungshandeln -Neue Formen von Kommunikation und Borgermitwirkung, in: Willi Blomel!Rainer Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 339 (345, 353, 357); siehe ferner Bericht der BReg. zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998, BT-Drs. 14/438, S. 26 f.; 0. Renn/M. Zwick, Risiko- und Technikakzeptanz, Berlin/Heidelberg, 1997, s. 36 ff.

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Vorgängen einen konfliktsteuernden Rahmen, um letztlich Konsens für Technikentwicklungen herbeizuführen. 14 Aus alledem folgt andererseits, daß der gesellschaftliche lnnovationsprozeß zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt in einem gewissen Gleichschritt verlaufen muß. Die mehrdimensionale Funktionsverantwortung des (Technik-)Rechts muß flir diesen Gleichschritt sorgen: Das rechtliche Steuerungsgeflecht hat Technikentwicklung im Rahmen des gesellschaftlich verträglichen zu ermöglichen und zugleich in einer Wechselbeziehung dazu entsprechende gesellschaftliche Erklärungs- und Integrationsansätze mit dem Ziel der Konsensbildung zu initiieren - u. a. auch durch ein kompliziertes Zusammenspiel staatlicher Regulierung mit autonomer Risikokontrolle. 15 3. Neue Steuerungsanforderungen an Technikentwicklung a) Sozialabträglichkeit wachsender Technisierung Das letztere wird vor allem deshalb bedeutsam, weil wir es inzwischen mit einem schleichenden Wandel der Steuerbarkeil technologischer Innovationen zu tun haben. Hierflir zeichnen im wesentlichen zwei Momente verantwortlich. Zum einen kommt es im Zusammenhang staatlich-kooperativer Risikosteuerung im Technik- und Umweltrecht 16 bei partieller Internalisierung des Risikomanagements in die Produktionssphäre 17 zu einer neuen Qualität der mit dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt verbundenen Risiken. Deren Grundmuster und Komplexität sehen sich zwar seit längerem erkannt und sowohl im Privatrecht 18 als auch im öffentlichen Recht 19 unter erheblicher Mühe in das "Gehäuse des Rechts" eingefügt. Eine spezifische Risikodogmatik ist im Biedenkopf(FN 9), S. 14. Dazu etwa Wolfgang Köck, Grundzüge des Risikomanagements im Umweltrecht, in: Alfons Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement Form, Funktion und Leistungsfähigkeit des Rechts in der Risikogesellschaft, Berlin 1999, S. 129 ff. 16 Udo Di Fabio, Risikosteuerung im öffentlichen Recht, in: Wolfgang HoffmannRiern!Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, Baden-Baden 1996, S. 143 ff.; Rainer Pitschas, Duale Umweltverantwortung von Staat und Wirtschaft, in: Klaus Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung, Berlin 1997, S. 271 ff. 17 Christion Koenig, Internationalisierung des Risikomanagements durch neues Umwelt- und Technikrecht?, NVwZ 1994, 937 ff. 18 Thomas Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht, Tübingen 1996; J. Schmidt, Steuerung "neuer Risiken" mit Hilfe des zivilrechtliehen Vertragsrechts, KritV 1991, 344 ff. 19 Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, passim; Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985, S. 80 ff., 83 ff.; Pitschas (FN 10), 793. 14

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Entstehen. Sie übergreift hierzu partiell private und öffentliche Rechtszonen. Dabei gelten aus öffentlich-rechtlicher Perspektive solche realen Entwicklungspotentiale in der Umwelt des politischen Aktiv-Systems ("Staat") als "Risiko", die ihren Ursprung in modernen, innovativen Produktionsverfahren finden, im Einsatz moderner Technik von technischen Anlagen ausgehen bzw. aus "verfremdeten" Lebensformen der Industriegesellschaft entstehen - wie etwa durch die Verfütterung von Tiermehl aus Schafskadavern an reine Pflanzenfresser (Rinder). "Risiko" bedeutet dann den Umgang mit dem Ungewissen, das aus diesen Entwicklungspotentialen ersprießt und ggf. zu Schäden führt -, wobei sich mit der Ungewißheit weder zwingend eine negative Prognose im Sinne eines feststehenden Gefahrenpotentials verbinden muß, noch sich eine positive Aussage über eine chancenreiche Entwicklung sicher treffen oder ausschließen läßt. 20 Der Bezugspunkt der darauf fußenden und mittlerweile bereits ausgefächerten Risikodogmatik für die Formulierung rechtlicher Regeln zum Umgang mit Ungewißheit und einem daraus erfließenden "Besorgnispotential" liegt allerdings nach wie vor in der umwelt- und gesundheitsschutzbezogenen Risikokontrolle.21 Keine Rolle spielt dagegen bislang die systematische Wirkungskontrolle der Technikentwicklung, sieht man einmal von der ihr teilweise zuzurechnenden Technikfolgenabschätzung bei der Gesetzgebung ab; deren ehemaliger Glanz scheint freilich ebenso abzunehmen wie heute fraglich sein muß, was Risikopolitik mit der mancherorts wieder favorisierten Gesetzesfolgenabschätzung zu tun haben soll. Diese zählt zu den Instrumenten der Vergangenheit, die nicht in der Zukunft der Risiko- bzw. Innovationsgesellschaft eingesetzt gehören. Bestandteil einer Evaluation muß hingegen und noch jenseits der Prüfung von Rechtsnormen auf ihre Praxistauglichkeit bzw. lmplementationsdefizite vor allem die Frage sein, wie Riskanz verringert werden kann und welche gesellschaftlichen Wirk-, Klärungs- und Überzeugungsprozesse eine neue Technik hervorruft. Dies gilt insbesondere angesichts der aus einer Reihe von Tragödien der Technik inzwischen gewonnenen Erkenntnis, daß mit dem Grad der Technisierung das Risiko der Katastrophe immer größer wird. Es bedarf also der Erkenntnisse zu den wirtschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien ebenso wie zur Entstehung neuer Arbeitsplätze oder auch zur Beeinträchtigung bzw. Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität Zugleich hat das Technikrecht technologische Innovationen diesbezüglich zu ermöglichen, zu stimulieren oder zurückzudrängen - und zwar nicht nur aus ökonomischer, ökologi-

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2 Kari-Heinz Ladeur, Risikobewertung und Risikomanagement im Anlagensicherheitsrecht - Zur Weiterentwicklung der Dogmatik der Störfallvorsorge, UPR 1993, 121 ff. 21 Siehe nur Köck (FN 15), S. 153 m. w. Nachw.

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scher oder gesundheitlicher Perspektiven. Die komplexe Wirkung einer Technologie fordert vielmehr dazu auf, systematisch die Verwirklichung der ihr eigenen Risiken in eben dieser Komplexität zu evaluieren. Solche Risikopotentialanalyse (RPA) in der Form der Risikoeinschätzung und -bewertung bildet das Fundament rechtlicher Technik- und Risikosteuerung. Diese wUrde allerdings ihren verfassungsrechtlichen Auftrag verfehlen, wenn sie sich auf eine bloße gesundheitlich-ökologische Perspektive beschränken wollte. Denn jenseits dieses Rechtsgüterschutzes muß innovationserhebliches Risiko- bzw. Technikrecht in seine Steuerungsintentionen die "soziale Qualität" technologischer Innovationen einbeziehen, um ein zu "spätes Erwachen" der Gesellschaft gegenüber der Technikimplementierung zu vermeiden. 22 Die gleiche Komplexität zu berücksichtigen, obliegt schließlich der rechtlich intendierten Risikoentscheidung als Festlegung des hinzunehmenden bzw. nicht mehr hinzunehmenden Risikos. In alledem zeichnet sich unter dem Leitbild der Innovationsverantwortung von Staat und Gesellschaft eine neue Qualität der Steuerungsbedingungen von Technikentwicklung ab: Es gilt mit Blick auf die wachsende Technisierung der Lebenswelten die Sozialverträglichkeit wissenschaftlich-technologischer Innovationen zu sichern. Die Notwendigkeit dessen gründet letztlich in der Eigenart neuzeitlicher technischer Risiken, vermehrt unbestimmte Ängste zu erzeugen. Angst aber ist ein soziales Phänomen, dessen Existenz die Frage nach der Verantwortbarkeit technischer Entwicklungen an die Gesellschaft als Ganzes richtet. Ihre Beherrschbarkeit (und damit die Legitimität der Techniksteuerung durch Recht) orientiert daher Risikobewertung und -entscheidung auch auf die Sozialverträglichkeit einer Technik. Man mag folglich in dem Übergang der Risikopolitik im Umwelt- und Techniksektor zu einem spezifischen Risikomanagemenf3 den Versuch sehen, nicht ausschließlich umwelt- und gesundheitsschutzbezogene Kriterien in die Techniksteuerung und den konkreten Steuerungsprozeß sowie zur Rationalisierung der fälligen Risikoentscheidung einzubeziehen. Dies zeitigt freilich Konsequenzen: Für das Risikomanagement technologischer Innovationen bedarf es auf der Grundlage einer obligatorischen Risikopotentialanalyse der gesetzgeberischen Verankerung von Konzepten gegenstandsbezogener komplexer Risiko-

22 Vgl. auch Hans-Heinrich Trute, Innovationssteuerung im Wissenschaftsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider (FN 2), S. 208 (233 ff.). 23 Köck (FN 15), passim; siehe ferner Rainer Pitschas, Staatliches Management flir Risikoinformationen zwischen Recht auf informationeHe Selbstbestimmung und gesetzlichem Kommunikationsinhalt, in: Dieter Hart (Hrsg.), Privatrecht im ,.Risikostaat", Baden-Baden 1997, S. 215 (232 ff.).

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politik, so z. B. von Grundsätzen des staatlichen Managements flir Risikoinformationen24 oder auch des Verbraucherschutzes. 25 b) Technische Innovationen als Element der Informations- und Wissensgesellschaft Im Risikomanagement technologischer Innovationen und industriell angewandter Technik begegnen sich die Einwirkungen auf Technikentwicklung und -implementierung mit dem Versuch des Staates, mehr Wissen über die Riskanz bestimmter Technologien verfiigbar zu machen. Das hierzu erforderliche Management von Wissen muß den Zugang zu entsprechenden Risikoinformationen ebenso sichern wie gesellschaftliche Lernprozesse und solche auf Seiten der Technikinnovatoren initiieren. Überlegungen hierzu fUhren nicht nur auf die sinnvolle Nutzung von Informationen sowie der Informations- und Kommunikationstechnik (luK-Technik) zurück26, sondern sie verweisen zugleich und vor allem auf die prinzipielle Bedeutung von "Information" für die Technikentwicklung, also auf eine informationelle Wirkungsperspektive: Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt beruht als forschungsgeleiteter, prozeßhafter angelegter Kreationsakt potentiell umsetzbarer und anwendbarer technischer Problemlösungen auf der Wissensoptimierung durch Zugang und Auswertung von Informationen sowie auf dem Einsatz der luK-Technik zur Wissensgenerierung. Dabei stellt einerseits die "Information" das Grundelement bzw. Verbindungsglied der einzelnen Phasen eines technischen und technologischen Prozeßzusammenhangs von Forschung und Entwicklung bis hin zur Technikimplementierung dar. Wenn man so will, läßt sich in der Wissensgesellschaft diese Rolle der Information in der Verknüpfung mit einzelnen Feldern der Technikentwicklung als die eines "lntelligenzverstärkers" charakterisieren. Dessen hohen Stellenwerts auf der Skala der bedeutsamen Faktoren für die Technikentwicklung hat sich andererseits staatliche Technologie- und Risikopolitik zur Ermöglichung technischer Innovationen zu bedienen und in der Debatte um den Abbau der Skepsis gegenüber neuen und weiteren Technologien zu vergewissern. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen ist in der heranwachsenden Wissensgesellschaft zur Sicherung deren Innovationsfähigkeit der Verbreitungsgrad der luK-Technik zu steigern- nicht zuletzt um die Angst vor 24 Pilschas (FN 23), S. 245 ff. 25 Wolfgang Hoffmann-Riem, Zur Innovationstauglichkeit der Multimedia-GesetzeVorüberlegungen, K & R 1999, 481 (485); Ulrich Kypke, Technische Normung und Verbraucherinteresse, Köln 1982, S. 29 ff., 147 ff., 183 ff. 26 Die Innovationsflihigkeit scheint eine Funktion des Technikeinsatzes zu sein, vgl. Bericht der BReg. (FN 13), S. 47 ff.

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der wachsenden Technisierung zu zügeln. Denn das Ausmaß der Angst in der Gesellschaft vor der wachsenden Anwendung technologischer Innovationen ist eine Funktion des Grades an Wissen oder Unwissenheit des einzelnen über Risiken. Dies gilt übrigens auch und zumal fllr die Beherrschung bzw. Verbreitung der IuK-Technik. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis hilft es solche Wissensvermittlung, also der Vorgang, elektronisch möglichst viele Informationen verfilgbar zu machen und diese wirkungsvon in einen Wissenszusammenhang einzusteHen, die vielfältigen Technikrisiken zu beherrschen, geseiischaftliche Lernprozesse gegenüber der Technikentwicklung zu initiieren und mit Blick hierauf gesellschaftlichen Konsens zu bilden bzw. Akzeptanz in der Gesellschaft zu erwirken. Zum anderen wäre die spezifische Funktionssteuerung der luK-Technik fllr den technologischen Innovationsprozeß staatlicherseits mehr als bisher zu entfalten. Das gilt filr den Prozeß der Konvergenz von luK-Technologie, Netzen und Diensten ebenso wie fllr die Schnittsteile zur allgemeinen Technikentwicklung. Daraufwird zurückzukommen sein.

4. Technikrecht als "Gehäuse" von Innovationen In der Steuerungsverantwortung des Staates liegt es, diese Wirkungsperspektive von "Information" und die daran angebundenen Vorgänge der Informations- und Wissensvermittlung so zu gestalten, daß "der gesellschaftliche Innovationsprozeß in einem angemessenen Gleichschritt zur technischen Entwicklung verläuft, und zwar in einer Wechselbeziehung". 27 Dazu hat auch und vor allem das Technikrecht beizutragen. Denn die Lösung des "doppelten" Innovationsproblems der Technikentwicklung - gesellschaftliche Innovation gegenOber dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt durch Konsensbildung und Akzeptanz herbeizufuhren sowie die oben skizzierten Herausforderungen durch die neue Qualität technologischer Innovationen zu bewältigen - hängt auch davon ab, in welchen Strukturen sich die technischen Optionen künftig verwirklichen. Das Technikrecht steilt hierfür das "rechtliche Gehäuse" zur Verfllgung. Dessen Strukturgefllge muß freilich selbst innovationstauglich sein. 28 Wann aber ist dies der Fall? Ein treffliches Beispiel fllr die insoweit feststellbare Ambiguität technikrechtlicher Regulierung gibt im Feld der Entwicklung und Anwendung der IuK-Technik das moderne Telekommunikations- und Medienrecht. Es findet sich flir die IuK-Dienste (vgl. etwa §§ l, 4 TDG, §§ I, 4 MDStV, §§ 3 ff.

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Biedenkopf(FN 9). S. 21. Ebenso Hoffmann-Riem (FN 2}, S. 25 [in allgemeiner Wendung.

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TDDSG)29 sowie im Telekommunikationsgesetz (vgl. §§ I, 2 TKG)30 mit dem Übergang zu einer stärkeren Eigenregulierung gesellschaftlicher Nutzer unter "Wettbewerb" bei damit verbundenem Selbstdatenschutz und entsprechenden Anforderungen an die Technikentwicklung verankert. 31 Dabei vermittelt die Regulierung durch Selbstregulierung im "aktivierenden" Staat den betroffenen gesellschaftlichen Sektoren auf der Grundlage ihrer Eigenrationalität einerseits die Chance, auftretende Spannungen, Konflikte und Widersprüche selbst abzuarbeiten. Freilich sind immer noch und supplementär einige Ankerpunkte fllr eine staatliche Intervention aus Gründen der fortwirkenden Gewährleistungsverantwortung vorgesehen(§ 19 TKG). Man muß sich freilich und andererseits dessen bewußt bleiben, daß mit alledem nur ein schmaler Ausschnitt der heute aufgegebenen Revision des Technikrechts in das Blickfeld gerät. Aber selbst dieser läßt gewisse Modernisierungsdefizite erkennen: Die Materie des luK-Rechts ist nur begrenzt auf den gegenwärtig ablaufenden und vorangeschrittenen Prozeß der Konvergenz der Technologien, der Netze und der Dienste abgestimmt. 32 Zu diesem Zweck wie auch sonst bedürfte daher das Technikrecht ganz allgemein seiner Angleichung an die Steuerungsbedarfe einer Gesellschaft, die im Globalisierungsprozeß eine hohe Innovationsgeschwindigkeit anstreben müßte und deshalb ihr Recht flir den Umgang mit Technikrisiken (auch) als Innovationsmotor zu gestalten bzw. auf die erforderliche Innovationstauglichkeit hin immer wieder zu überprüfen hätte.

II. Technikentwicklung und Technikrecht Sonach ist eine gewisse "Zurichtung" des Technikrechts auf die Innovationsgesellschaft unumgänglich. Zwei Wege sind hierflir prinzipiell wählbar. Einerseits ließe sich an die in einem spezifischen Regulierungsfeld wie z. B. der Umwelttechnik zum Ausdruck gelangte staatliche Risikopolitik anknüpfen. Deren Probleme wären herauszuarbeiten und Risikobewertung wie Risikoma29 Gesetz über die Nutzung von Telefondiensten (Teledienstegesetz - TDG) vom 22.07.1997 (BGBI. I S. I 870): Staatsvertrag über Mediendienste (MediendiensteStaatsvertrag/MDStV) v. 20.01./12.02.1997 (z. B. BayGVBI. 1997, 226); Gesetz über den Datenschutz bei Telediensten (Teledienstedatenschutzgesetz - TDDSG) vom 22.07.1997 (BGBI. I S. 1870). 30 Telekommunikationsgesetz (TKG) v. 25.07.1996 (BGBI. I S. 1120). 31 Dazu näher Rainer Pitschas. Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlaß. Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?. Verhdlg. 62. DJT. 1998. Bd. Illl (Referate). S. M 9 (18 ff.. 22. 24 f.. 36 ff.); Thomas J'esting. Innovationssteuerung im Telekommunikationsrecht in: Hoffmann-Riem/Schneider (FN 2). S. 246 (257 f.. 259 ff.). 32 Hofmann-Riem (FN 25). 486.

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nagement zu verbessern, etwa durch entsprechende Maßstabsbildung flir Risikoentscheidungen. 33 Dabei handelt es sich um ein Vorgehen, das die bereits oben angedeutete Kurzschlüssigkeil bisheriger Folgenbetrachtung zutreffend überwindet. Denn wenn ein Risiko aus der Natur der Sache heraus "offen" bleibt, läßt sich nicht bestandssicher mit "Folgen" argumentieren; welche sollten das auch sein? Freilich offenbaren sich statt dessen Innovationsgrenzen staatlicher Risikopolitik, die auf dem gewählten Weg kaum erkennbar sind, weil sie weitgehend im Schatten verharren: Risikomanagement und konkrete Risikoentscheidung entbehren nach bisherigem risikorechtlichen Verständnis im Zusammenhang der gradualisierten Zunahme von technologisch induzierter Riskanz der Orientierung an der Sozialverträglichkeit technologischer Innovationen und der Überprüfung von Möglichkeiten weiterer Wissensgenerierung. Beide Defizite heben andererseits die Notwendigkeit einer Ergänzung der gegenstandsspezifischen Risikopolitik durch eine entschiedene Innovationspolitik gegenüber der Technikentwicklung i. S. einer Prüfung hervor, ob diese im konkreten Fall gesellschaftliche wie technologische Innovationen ermöglicht. Innovationssteuerung tritt damit als genuiner Steuerungsmodus des Technikrechts34 ans Licht. Dieser Steuerungsansatz zielt auf die vorgreifliehe und sozialverträgliche Ermöglichung und Regulierung von Technikinnovationen statt auf die nachgängige Bewältigung der durch sie hervorgerufenen Risiken im Wege des Risikomanagements. Und er begreift Technikrecht nicht nur als eine in Rechtsform geronnene Risikopolitik, sondern als innovatives Kommunikationsrecht ftlr Akteursnetzwerke - in diesem Sinne also als ein spezifisches "Netzwerkrecht" fllr innovative Technikentwicklung. 35 Die anschließenden Ausführungen wollen diesen Gedanken entfalten, indem sie zunächst von den erwähnten Innovationsgrenzen staatlicher Risikopolitik ausgehen und sodann die Reichweite der politischen Steuerung aller Technikentwicklung funktional aufflichern. Erkennbar wird eine spezifische Innovationsfunktion des Technikrechts. Ihre maßgeblichen Entstehungsbedingungen 33 Diesen Weg beschreitet am Beispiel des Chemikalienrechts Wolfgang Köck, Die Risikopolitik des deutschen und europäischen Chemikalienrechts - Bestandsaufnahme, Bewertung, Perspektiven-, Report Nr. 25/99 der Forschungsgruppe "Rationale Umweltpolitik", ZiF Bielefeld. 34 Siehe dazu u. a. Meinolf Dierkes u. a., Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen, 1992; H. Kubick/P. Seeger (Hrsg.), Perspektive Techniksteuerung, 1993. 3S Ähnlich Hoffmann-Riem (FN 25), 487 flir den luK-Sektor; ftir die Technologie der Hochtemperatursupraleitung entfaltet beispielhaft Dorothea Jansen, Hochtemperatursupraleitung - Herausforderungen fllr Forschung, Wirtschaft und Politik, Baden-Baden 1998, S. 106 ff. ein sektorbezogenes Modell des Zusammenhangs zwischen Politiknetzwerktyp und Politikergebnissen.

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liegen in der Rolle von Information und Kommunikation, also in einem letztlich prozeduralen Wirkverständnis. Zugespitzt formuliert, offenbart sich deshalb innovationssteuerndes Technikrecht als innovatives Kommunikationsrecht.

I. Technikrecht auf dem Weg zur Innovationssteuerung a) Folgenorientierung des Technikrechts Von einer Innovationsfunktion des Technikrechts war freilich am Beginn seiner Entstehung noch nicht die Rede; ebensowenig von seinem Risikobezug. Statt dessen stand fllr die Gesetzgebung die Folgenorientierung im Vordergrund. Zum Schutz vor erkennbaren, aber unerwünschten Technikfolgen hat sich entsprechend der Logik dieses Ansatzes in Deutschland in einem mehr als einhundertjährigen Prozeß ein komplexes System der Steuerung von Technik entwickelt. 36 Ein zentrales Beispiel hierfiir bildet die staatliche Regulierung der Maschinensicherheit durch das Gesetz vom 17. Juli 1878.37 In dessen Mittelpunkt rückte die Verschärfung der gewerberechtlichen Aufsicht über den technischen Arbeitsschutz. Damit wurde die Geräte- und Maschinensicherheit auf eine gesetzliche Grundlage gestellt, die noch bis vor kurzem nahezu unverändert galt und erst durch das Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie aufgehoben wurde.38 Der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerichteten staatlichen Gewerbeaufsiche 9 und der Regulierung der Maschinensicherheit ging es in diesem Kontext auch um den Beitrag des Staates zur Lösung der damaligen sozialen Frage. Namentlich die Verbesserung des Arbeitsschutzes zählte hierzu.40 Bis zu diesem Moment prägten allein wirtschaftsliberale Ordnungsvorstellungen die vorherrschende geistige Strömung; der wirtschaftliche Liberalismus erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Blütezeit. Ihm zufolge gehörte zwar die Abwehr von Gefahren fiir die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu den unverzichtbaren Aufgaben des Staates. Doch sollte dessen Handeln dort eine Grenze finden, wo staatliche Maßnahmen die gesellschaftli-

36 Andreas Bücker, Von der Gefahrenabwehr zu Risikovorsorge und Risikomanagement im Arbeitsschutzrecht, Berlin 1997, S. 22 ff. 37 RGBI. 1878, S. 199. 38 Gesetz zur Umsetzung der EG-Rahmenricht1inie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien (BGBI. I, 1996, S. 1246 ff.). 39 Dazu der Überblick bei Rainer Wolf, Der Stand der Technik, Opladen 1986, S. 71 ff., 75 ff., 86 ff. 40 Bücker (FN 36), S. 24 ff.

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chen Verhältnisse aktiv Wirtschafts- und sozialpolitisch gestalten würden. 41 Gleichwohl ließ sich in jenen Tagen die Einfiihrung der staatlichen Gewerbeaufsicht nicht mehr verhindern. Die preußische Regierung rang sich zu der Auffassung durch, daß nur eine sorgfaltige Überwachung der Maschinenarbeit ein wirksames Mittel zur Lösung der sozialen Frage darstellen würde. 42 Damit aber setzte politische Techniksteuerung ihren Schwerpunkt im Bereich jener unerwünschten Folgen, die sie abwehren wollte. Risikosteuerung oder gar die "Motorisierung" technologischer Innovationen lag nicht im Horizont dieser Rechtsetzung. Das statt dessen geschaffene und voraufgehend beispielhaft illustrierte Regulierungssystem von Technik, also das Zusammenwirken von Ansatzpunkten, Instrumenten und Institutionen auf der Grundlage des Rechts, wurde von den Folgen her auf den technischen Einzelfall bezogen und erwies sich im wesentlichen als reaktiv. Sein Grundmuster ist denn auch offenbar: Sobald ein Problem auftritt und als regulierungsbedürftig erkannt wird, solange wird es der Regulierung unterworfen, bis es beseitigt ist oder zumindest beseitigt scheint. Diese Regulierungsstrategie gilt teilweise heute noch. 43 Sie ist auch in gewisser Weise unumgänglich. Denn in vielen Bereichen muß Techniksteuerung reaktiv sein - wie bereits oben zum Risikodenken ausgeführt wurde 44 - , weil neues Wissen, aus dem sich regulierungsbedürftige Tatsachen herausbilden, zwar nie vollständig und restlos zu antizipieren sein wird ("Risikoungewißheit"), aber dennoch seine Anwendungskonsequenzen teilweise erkennen läßt. 45 Dazu verhelfen zumal wissenschaftlich-technische Analyse- und Bewertungsverfahren. Rechtlicher Maßstab dieses Räderwerks einer folgenorientierten Steuerungsmechanik sind deshalb seit langem die "allgemein anerkannten Regeln der

Technik" oder ähnliche unbestimmte Rechtsbegriffe. 46 Mit ihnen wird auf die herrschende Auffassung unter den technischen Praktikern bzw. Fachwissenschaftrem abgestellt: Um festzustellen, ob das jeweilige technologische Produkt den rechtlichen Anforderungen der Risikovorsorge genügt, haben Behörden

41 Tillmann Mirit=. Geschichte des Gewerberechts von 1869 bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Erlangen-NOmberg 1983, S. 33 f. 42 Vgl. Bücker (FN 36), S. 24 f. 43 Näher noch Meinolf Dierkes/Weert Can=ler. Innovationsforschung als Gegenstand der Technikforschung, in: Hoffmann-Riern/Schneider (FN 2), S. 63 (77). 44 A. a. 0. (FN 18 ff.). 45 Siehe im einzelnen Wolfgang Bonß, Vom Risiko: Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne. Harnburg 1995. S. 49 ff., 56 f., 275 ff. 46 Dazu der Überblick bei Peter Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, Köln 1979, S. 145 ff.; Rupert Schot=. Technik und Recht, FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin u. a. 1984. S. 691 ff.

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und Gerichte die entsprechend herrschende Auffassung zu ermitteln. Sie wird häufig in technischen Normen (z. B. DIN-Normen), also in privaten, nichtstaatlichen Regelungen abgebildet. 47 b) Technikrecht als Instrument rechtlicher Risikosteuerung Auf dem skizzierten Weg hat sich inzwischen vor allem das Recht der technischen Sicherheit zu einem umfassenden und aus zahlreichen Gesetzen,

Rechtsverordnungen, allgemeinen Verwaltungsvorschriften und privater Normsetzung bestehenden Rechtsgebiet entwickelt. 48 Es steht allerdings derzeit im Begriff, jenseits seiner überkommenen Zentrierung auf Gefahrenabwehr schwerpunktmäßig nunmehr durch rechtliche Risikovorsorge geprägt zu werden.49 Dementsprechend formt staatliche Risikopolitik mittlerweile rechtliche Grundsätze der Risikokontrolle, Risikobewertung und des Risikomanagements aus. 50 Dazu zählen auch Regelungen zur öffentlich-rechtlichen Risikokommunikation sowie zum Management von Risikoinformationen. 51 Rechtlich geordnet sind in diesem Sinne auch Risikoerforschungseingriffe bzw. Auftrag und Grenzen des Vorsorgeprinzips. Insgesamt sind damit ftir das Risikorecht der Technik mehrstufige "Normpyramiden" kennzeichnend, die in einer Art "rechtlicher Versäulung" vom Gesetz über Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, technische Regeln, Aussagen öffentlicher Ausschüsse und Empfehlungen von Beratungsgremien bis hin zur privaten überbetrieblichen technischen Normungjeweils bzw. in ihrer Gesamtheit der Feststellung auswirkungsbezogener Gefährdungspotentiale, der Risikobewertung und der Maßstabsbildung für die Risikoentscheidung im Einzelfall dienen. Ihre allgemeine Rechtfertigung hat diese risikorechtliche Entwicklung des Technikrechts zunächst im geltenden Verfassungsrecht gefunden. Die Risikovorsorge des modernen Staates beruht auf einer ihm erfließenden permanenten

47 Ausfilhrlich dazu jüngst Matthias Schmidt-Preuß, Private technische Regelwerke -Rechtliche und politische Fragen. in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, Berlin 1998, S. 89 ff. ; Thomas Zubke-von Thünen, Technische Normung in Europa, Berlin 1999. 48 Dazu der Überblick bei Marburger (FN 46), passim; Hartmut Voel::kow, Private Regierungen in der Techniksteuerung, 1996, S. 35 ff.. 55 ff., 219 ff., 309 ff. 49 Vgl. Bücker (FN 36), S. 87 ff., 276 ff., 284 ff. 50 Siehe näher R. Wahl/J. Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, Bonn 1995, S. 109 ff. ; Köck (FN 15), S. 169 ff. 51 Rainer Pitschas, Öffentlich-rechtliche Risikokommunikation, UTR Bd. 36 ( 1996), s. 175 (193 ff.).

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Schutzverpflichtung. 52 Prävention ist zur staatlichen Aufgabe geworden, solange nur ein "Vorsorgeanlaß" im Sinne eines "Besorgnispotentials" gegeben ist. 53 Dem Staat obliegt es ferner, i. S. eines "dynamischen Grundrechtsschutzes" durch nachbessernde und nachfassende Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung immer wieder von neuem geeignete Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß bei der Anwendung neuartiger Technologien die höchst mögliche Sicherheit gewährleistet wird, auch wenn ein "Restrisiko" verbleibt. 54 Die Entwicklung des Technikrechts kann daher aus der Risikoperspektive nie abgeschlossen sein. In welchem Ausmaß dabei der wissenschaftlich-technische Fortschritt unter dem Gesichtspunkt der Risikovorsorge als Rechtsprinzip eine dynamische Rechtsentwicklung erzwingt, zeigt sich einerseits im Recht der Gentechnik, 55 andererseits aber auch und wiederum diesseits allfalliger Ethikdiskussionen im Telekommunikationsrecht. 56 So hält etwa das Telekommunikationsgesetz (TKG) 57 spezifische Regelungen für den technischen Vorgang der Telekommunikation bereit. Daneben steht das Teledienstgesetz, welches die Inhalte und Verfahren der Teledienste auf Bundesebene regelt, 58 wohingegen sich im Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) personenbezogene Daten schützende Regelungen finden. 59 Schließlich bleibt das Signaturgesetz (SigG) zu erwähnen, das die digitale Signatur für den elektronischen Informationsaustausch einfllhrt. 60 Auf Länderebene ist schließlich beinahe wortgleich, zumindest doch inhaltsgleich zum TDG und TDDSG das Regelwerk der Mediendienste in dem von den Ländern beschlossenen MediendiensteStaatsvertrag (MD-StV) geschaffen worden.6 1 In allen diesen Regelungskomplexen findet sich das lebensweltliche Risiko gesellschaftlicher Kommunikation "aufgefangen" und durch supplementäre Vorkehrungen staatlicher Intervention gestützt. 62

52 Peter Szczekal/a, Grundrechte, in: Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I: Allgemeines Umweltrecht, Köln u. a. 1998, § 12 Rn. 20 ff. 53 Wahi/Appe/(FN 50), S. 121 ff. 54 BVerfGE 49, 89 (135 ff.); 53, 30 (59). 55 Siehe etwa M. Jörgensen!G. Winter, Rechtliche Probleme der Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen, ZfU 1996, 293 ff. 56 Friedrich Schoch, Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung, VVDStRL 57 (1998), S. 158 (169 ff., 191, 197,208 ff.). 57 A. a. 0. (FN 30). 58 A. a. 0. (FN 29). 59 A. a. 0. (FN 29). 60 Gesetz zur digitalen Signatur (Signaturgesetz) v. 22.07. 1997 (BGBI. I S. 1870). 61 A. a. 0. (FN 29). 62 Vgl. dazu Hoffmann-Riem (FN 25), 486.

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c) Technikrecht als Innovationskonzept Mit diesen und anderen Konfigurationen des Technikrechts befindet sich der Gesetzgeber noch immer in dem bekannt ungleichen Wettlauf zwischen anhaltend vorauseilendem wissenschaftlich-technischem Fortschritt und der Reaktion des Technikrechts. Das wurde bereits oben zur Technikentwicklung als Innovationsproblem näher dargelegt. 63 Einen Gleichschritt zu erreichen bedingt dagegen, zu Innovationskonzepten überzugehen. M. a. W. ist der Innovationscharakter des Technikrechts eine Voraussetzung dafür, daß Technikentwicklung "doppelt", nämlich technologisch und gleichzeitig gesellschaftlich innovativ ist. Wie aber kann Technikrecht technologische Innovationen ermöglichen? 2. Eigenart und Reichweite innovationssteuernden Technikrechts

Insofern das Technikrecht seine Funktion der Sicherung des Bürgers vor der Technik noch immer in den Vordergrund stellt ("reaktive Schutz- und Abwehrfunktion"), ist es freilich eher als Hemmnis technischer Innovationen ausgelegt. Die innovationsorientierte Steuerung der Technikentwicklung wird ihm nur bedingt zugetraut. Mehr noch: Es findet sich sogar die radikale Annahme, die politische Steuerung der Technik sei aufgrund diagnostizierter hermetischer Geschlossenheit sozialer Subsysteme gegenüber staatlicher Intervention unmöglich.64 Freilich ist eine solche Extremposition dann auch gleichgültig gegenüber der empirischen Evidenz von Steuerung - was jene letztlich überhaupt wirkungslos stellt, weil sie (vermeintlich) nicht existiere. Gegenüber diesen und anderen überholten Positionen herrscht heute und vor allem unter dem Druck von Globalisierung und Internationalisierung die Erwartung an das politisch-administrative System vor, gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Probleme der Technikentwicklung durch staatliche Intervention zu lösen und Bedrohungen abzuwenden. Sie ist allen offensichtlichen Steuerungsmängeln zum Trotz gestiegen. In der Zuwendung hierzu bestimmt vor allem eine zentrale These die jüngere steuerungstheoretische Diskussion: Ihr geht es darum, daß im Zusammenhang der schon oben berufenen "Kontextsteuerung"65 die Innovationstauglichkeit der klassischen Steuerungsmechanismen des Staates gegenüber der Technikentwicklung anzustreben sei. Es bedürfe dazu, so heißt es, regulativer Steuerungskonstruktionen, die auf der 63

Siehe oben im Text bei I. 4.

64 Nachweis bei Dierkes/Canzler (FN 43), S. 81 f.

65 Siehe oben im Text bei I. 2; vgl. im übrigen Mallhias Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (185 ff.).

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Eigenrationalität der in den Techniksektoren handelnden individuellen und institutionellen Akteure aufbauten, zugleich aber eine staatliche Interventionskompetenz bereithalten müßten.66 Ebensowenig dürfte innovatives Technikrecht davon absehen, "Grundsätze" feldspezifischer Technikregulierung zu formulieren. Was also nottut, ist die Entwicklung des Technikrechts zu einem fein geknüpften Steuerungsnetzwerk, in dem die Rolle von Informationen und IuKTechnik ebenso bedeutsam ist67 wie dafür die Sicherung der Innovationstauglichkeit durch die Mitarbeit intermediärer und parastaatlicher Institutionen zunehmend wichtiger wird. Gesellschaftliche Selbstregulierung und duale lnnovationsverantwortung für Technikfolgen lösen auf diese Weise den Staat als alleinigen Garanten von Rahmenbedingungen innovativer Technikentwicklung ab.

3. Dimensionale Steuerungsfunktionen a) Schutz- und Abwehrfunktion In der Tat haben diese und weitere steuerungsbezogenen Überlegungen im Hinblick auf das Technikrecht zu der These geführt, es sei selbst "Objekt der Weltveränderungskapazität von Technik" geworden68 ; manche sprechen von der "Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft"69 • Man mag dies gerade im Hinblick auf die unverzichtbare Schutz- und Abwehrfunktion des Technikrechts festhalten wollen, denn eine solche Funktion ist ihm auch in Bezug auf die "technischen Realisation" auf dem Gebiet der Informationstechnik (IT) und Telekommunikation zu eigen. 70 Das darin unzweifelhaft gegebene Gefährdungspotential, das im Internet-Zeitalter noch gewachsen ist, hatte denn auch schon frühzeitig zu dem sog. Volkszählungsurteil des BVerfG vom 15.12.1983 geführt. 71 Ein anderes Beispiel bildet die Beschränkung von Persönlichkeits-

66 Zu diesem Konzept einer "Auffangverantwortung" - bezogen auf den Umweltschutz und die Umwelttechnik - siehe u. a. He/muth Schulze-Fielitz, Instrumente der Innovationssteuerung durch Öffentliches Recht - insbesondere im Umweltrecht, in: Hoffmann-Riem/Schneider (FN 2), S. 291 (326) m. w. Nachw. 67 Siehe auch Bericht der BReg. (FN 13), S. 47 ff. 68 Alexander Roßnage/, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung. Umrisse einer Forschungsdisziplin, Baden-Baden 1993, S. 23. 69 Rainer Wolf, Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, Leviathan 1987, S. 357 ff. 70 Nachw. hierzu bei Rainer Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung zwischen digitaler Ökonomie und Internet, DuO 1998, 139 (146). 71 BVerfGE 65, I; siehe ferner z. B. BVerfGE 67, 100; 92, 191; 93, 181; 100, 313.

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rechten, die infolge der Sicherheitsbedarfe flir den Betrieb von kerntechnischen Anlagen eingeführt worden ist. 72 b) Selbststeuerungs- und Managementfunktion Auf dem Hintergrund der Technikentwicklung als Risikoproblem und im gleichzeitigen weltweiten Wandel des Staatsverständnisses weist Risikopolitik dem Technikrecht weitere Funktionen zu, nämlich eine Selbststeuerungs- und Managementfunktion. Erstere meint die Zuweisung gesellschaftlicher TeilVerantwortlichkeit an die Entwickler und Nutzer von Technik im Sinne einer Selbstverpflichtung zur Durchführung von Risikoabschätzungen und -beratungen bzw. einer Verantwortungsteilung in der Risikovorsorge. In Rede steht ferner die Selbstverpflichtung zur Entwicklung einer sozialverträglichen Technik. Neben hoheitlicher Auffangverantwortung im Falle des Scheiterns solcher Selbstverpflichtungen73 werden auch ökonomische Anreize eingesetzt, um die Verantwortungspartnerschaft für Prävention effektiv zu gestalten. Private Akteure sollen sich im Rahmen einer rechtsförmigen Netzwerksteuerung an aktiven innovativen Problemlösungen in der Technikentwicklung orientieren. Auf diese Weise können Anreizsysteme technische Lösungen befördern und beschleunigen, deren Anwendung nicht mit neuen sozialen oder ökologischen bzw. einschneidenden ökonomischen Gefährdungspotentialen belastet sein würde. Freilich dürfen sich derart "weiche" Regulierungen und Anreizsysteme nicht auf den Bereich der Risikosteuerung von Technik im engeren Sinne beschränken. Auch die gesellschaftliche Innovation ist eine wesentliche Rahmenbedingung der Technikentwicklung. Risikopolitik ist daher gezwungen, den gesellschaftlichen Erklärungs-, Ermöglichungs- und Integrationsprozeß des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts so zu gestalten, daß auch potentiell Betroffene, die nicht am Inventions- und Markteinflihrungsprozeß von Technologien teilnehmen und deren Belange nicht von vomeherein ausreichend einbezogen sind, die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren. Im letzten Jahrzehnt wurde hierzu insbesondere - freilich nur vorübergehend dem Gentechnikrecht ein entsprechender Steuerungsansatz zugrundegelegt Solche akzeptanz- bzw. konsensvermittelnden Steuerungsimpulse, die eine unabdingbare Voraussetzung dafür sind, daß es zu dezentralen Konfliktlösungen kommt, bedürfen ihrerseits konzeptioneller Grundlegung durch gesetzliche 72 Hierzu aus europarechtlicher Sicht Norbert Pe/zer, Das Umweltrecht der Europäischen Atomgemeinschaft, in: Rengeling (FN 52), Bd. II: Besonderes Umweltrecht. Köln u. a. 1998, § 60 Rn. 23. 73 Dazu schon oben im Text um und zu FN 66.

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Festlegung prozeduraler und materiell-inhaltlicher Maßstäbe. Das Risikomanagement setzt diese auf den technologischen Innovationsprozeß um. Von Gesetzes wegen entfaltet das Technikrecht auf diese Weise eine genuine Managementfunktion. c) Wandel des Steuerungsmodus: Innovationsfunktion Allerdings kann es mit dieser Erweiterung der bisherigen Schutz- und Abwehrfunktion des Technikrechts gegenüber unerwünschten bzw. nicht erkennbaren Risiken der Technikentwicklung durch eine Selbststeuerungs- und Managementfunktion des Technikrechts nicht sein Bewenden haben. Dies gilt insbesondere angesichts der neuen Qualität technologischer Innovationen und deren Verankerung in der "Informations- und Wissensgesellschaft", in der es zu einer innovationsproduktiven Koppelung von öffentlichen und privaten Prozeßschritten der Technikentwicklung kommen muß. In der Folge dessen ergibt sich nicht mehr nur eine Grundverantwortung des Staates hinsichtlich der Risiken der technologischen und informationsökonomischen Entwicklung, sondern auch eine Verantwortungszunahme flir die im Zusammenhang der Steuerungs- bzw. Wertschöpfungskette von Technikentwicklung erreichbaren bzw. notwendigen lnnovationen. 14 Dabei geht es etwa um den Ansehub von Technikerfindung ("Invention"), um deren Anschlußfahigkeit an Märkte, um deren Stabilisierung und Nutzung, aber natürlich auch jenseits von Technikgläubigkeit - um die Beobachtung und Bekämpfung unerwünschter Technikrisiken. Damit aber kommt es zu einem erneuten Wandel des Steuerungsmodus von Technikentwicklung: In den Vordergrund tritt nunmehr die Funktion des Technikrechts zur Technikermöglichung durch Innovationsöffnung, also seine Innovations/unktion.

111. Informationen und Kommunikation als Steuerungsressourcen des innovativen Technikrechts Die Innovationsfunktion des Technikrechts zielt darauf ab, zukunftsstimulierende aber sozialverträgliche, dabei ökonomisch und ökologisch akzeptable Technikentwicklung sowie den Gleichschritt der gesellschaftlichen Innovation mit ihr zu bewirken. Informationen und Kommunikation erweisen sich zu diesem Zweck als unverzichtbare Steuerungsressourcen.

74 Zutreffend spricht Trute im weiteren Zusammenhang von der "unzulänglichen Perspektive der Subsidiarität" staatlicher Steuerungsverantwortung, a. a. 0. (FN 22), s. 234.

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1. Technikinventionen als partiell steuerungsresistentes lSntdeckungsver}"ahren

Ausgehend von dieser These bleibt die Frage zu klären, wie die Innovationsfunktion des Technikrechts in eine adäquat rechtsförmige Struktur fiir technische Optionen zu "übersetzen" wäre. Die Antwort geht von der Verknüpfung der Information als Element der Wissensgesellschaft mit der Technik aus; dieser Zusammenhang ist Funktionsbedingung aller technischen Realisation. Er zeigt sich fiir die Herstellung von Erfindungen (Inventionen) im Sinne wissenschaftlich-technischen Fortschritts unverzichtbar. In ihm liegt das Fundament aller technischen Entwicklungen. Denn der "Inventionsprozeß" bestimmt in seinen Phasen und Aktivitäten die Art und Weise der technischen Realisation. Er bildet gleichsam das "technologische Operationsprinzip", das die autonome Ausprägung von Problemlösungspotentialen leitet. Innerhalb dieses Inventionsprozesses verkörpern spezielles technologisches Wissen und Handeln, spezifische Kommunikations- und Handlungsmuster sowie Akteure und Artefakte eine Einheit. Das hieraus geknüpfte Netz der Inventionsvorgänge bzw. -Strukturen ist allerdings nicht letzter rationaler Durchdringung und damit durchweg rechtlicher Steuerung zugänglich: Wissenschaftlichen Entdeckern haftet immer auch eine Spur Wahnsinn an; die Quelle ihrer Beharrlichkeit erkennt der Laie nicht! Deutlich erweist sich diese Irrationalität an der Spezies von Laborbewohnern. Hier wird inmitten von brodelnden Kolben und rauchenden Reagenzgläsern der Prozeß des Entdeckens noch undurchsichtiger - und bei der theoretischen Physik reißt dann auch die letzte Verbindung zum staunenden Fußvolk ab. Hinzu kommt, daß Entdecker nie zufrieden sind. Ihre Erfindungsgabe scheint unversiegbar. Trotz der unendlichen Weite des heutigen Wissens erleben wir zugleich das goldene Zeitalter der Entdeckungen. Nicht von ungefähr hat uns denn auch das vergangene Jahrhundert mit neuen Kontinenten des (Un-)Wissens beschenkt. Dementsprechend verlaufen die der Technikforschung (und dem innovativen Technikrecht) gesetzten Anreize wie Grenzen ins Ungeßhre: Die Außensteuerung z. B. über "Recht" vermag allenfalls wirkungsinduzierend anzusetzen, d. h. sie wird letztlich über technologische Rationalitätsfilter vermittelt, um erst dann indirekten Einfluß auf den Inventionsverlauf zu nehmen. Unmittelbar kann sie Forschung, Entdeckung und also auch Technikentwicklung weder unterbinden noch in eine einzige Richtung lenken. 2. Vom rechtlichen Risikomanagement zur Innovationssteuerung

Gleichwohl bilden Informationen und Informationstechnik das Fundament der technischen Entwicklung und Realisation; technische Innovationen sind,

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wie oben gezeigt wurde 75 , ein Element der Informations- und Wissensgesellschaft: Technikentwicklung aller Art wäre nicht ohne einen entsprechenden Informationsfluß und damit ohne Informationstechnik (IT) denkbar. So läßt sich etwa am Beispiel der Gentechnik zeigen, daß die Natur in der modernen Wissenschaft in erster Linie unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, wie sie in ihren viellliltigen Gebilden Information darstellt, speichert, weitergibt und verändert. Diese "Informationstechnik" stellt denn auch das Verbindungsglied zwischen Natur und Geist dar. 76 Mehr noch: Sämtliche Forschungsprozesse und Nutzung von Technik kommen heute ohne den Einsatz der IT nicht aus. Der informationstechnologische Fortschritt hat dazu geführt, daß die Arbeit nicht nur schneller, sondern auch komplexer wird. Zugleich läßt die Vielzahl der heutigen Möglichkeiten aus dem High-Tech-Paradies schnell einen Daten-Dschungel werden. Wer alles probiert läuft Gefahr, in einer Flut an Informationen zu ertrinken. Kurz gesagt, ist deshalb die Informationstechnik zur maßgeblichen Steuerungsressource der technischen Realisation geworden. Dementsprechend läßt sich heute die Weiterentwicklung der Verfahrenstechnik ohne Rückgriff auf forcierte Informationstechnologien nicht denken. Von Meßwarten aus werden längst moderne Produktionsanlagen durch Mausklick beobachtet und bedient. Über einen Bildschirm können Kessel und Ventile ausgesucht und auf Knopfdruck vorgewählte Mengen an Stoffen eingefüllt werden. Auf Trainingscomputern kann gewissermaßen spielerisch gelernt werden, wann etwa eine Staubmaske anzulegen ist, wo wichtige Ventile liegen und wie man Absperrvorrichtungen bedient. Daraus folgt: Innovationssteuerung durch Technikrecht bedeutet, (auch) innovationstaugliches Informations-(technik-)Recht zu setzen. a) Techniksteuerung durch rechtliches Risikomanagement Formen auf diese Weise Informationen und die Kommunikation darüber das Fundament aller technischen Realisation, so steuert umgekehrt der Staat riskante Technikentwicklung zunehmend durch rechtsförmige Auferlegung von Informationslasten und Risikokommunikation flir die Technikanwender dort, wo der wissenschaftlich-technische Fortschritt ungewisse Risikolagen erzeugt.77 Ihnen tritt das Technikrecht zugleich durch die Vorgabe spezifischer Methoden der Informationserhebung und -verarbeitung entgegen. Die staatliche Steuerung der Technik will m. a. W. durch Risikokontrolle und das Management von Risikoinformationen mögliche Risiken ihres Einsatzes abschätzen, Vgl. zu I. 3. b) und IIJ. I. Thomas Kluge, Gentechnologie als Element der lnformationsgesellschaft. in: Ästhetik und Kommunikation 18 (1988), S. 71. 77 Pitschas (FN 51), passim. 75

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die Risikoprognose durch Szenarien erweitern und aus dem Zusammenhang von Problernen ermitteln. In der Folge dessen kommt es zu einer Techniksteuerung durch rechtliches Risikomanagement 78 Dazu gehört auch, daß der Gesetzgeber versucht, über die rechtliche Ausgestaltung der Information und Informationsverpflichtung von Risikobetroffenen (Institutionen, Gruppen und Bürgern) gegenüber hoheitlichen Instanzen- wie z. B. auf der Grundlage des Arzneimittel- oder des Chemikaliengesetzes -, die Risiken industrialisierter Technik bzw. Wissenschaft durch eine Einschätzung der Risiko-Intensität des Einsatzes zu steuern. 79 b) Innovationssteuerndes Technikrecht Hierin deutet sich bereits methodisch der Übergang zu der dritten Phase staatlicher Einwirkung auf die Technikentwicklung an, nämlich auf die Innovationssteuerung. Das Technikrecht verbleibt zwar in der Risikokontroll- und Wirkungsperspektive von "lnformation",80 sucht aber zur Betätigung seiner Innovationsfunktion zugleich fördernd - und gesellschaftliche wie technologische Innovationen ermöglichend - auf den gesamten Prozeß der Erforschung, Entwicklung und Anwendung einer Technologie steuernd Einfluß zu nehmen. Dadurch gerät es freilich in Überlagerung zum Steuerrecht, Subventionsrecht, Gesellschaftsrecht und zu anderen Rechtsinterventionen: Nicht jedes Recht, so zeigt sich, das Technik ermöglicht, ist also Technikrecht Dieses muß vielmehr über die Regulierung von Rahmenbedingungen der Technikentwicklung hinaus auf das "technologische Operationsprinzip"81 einwirken. Wie dies praktisch möglich ist, ergibt sich u. a. im Telekommunikationsse/ctor. Hier verdeutlicht vor allem das Signaturgesetz82, daß es in erster Linie der Innovationsförderung vertrauenssichernder Technik zur Nutzung digitaler Signaturen im Rechtsverkehr dienen will. 83 Gleichzeitig deutet das Beispiel an, wie Informations- bzw. Kommunikationsrecht zur innovativen Technikentwicklung beiträgt.

Dazu die Beiträge in dem von Bora hrsg. Sammelband, a. a 0 . (FN 15). Damit wird kommunikative Risikosteuerung zur öffentlichen Debatte. Schließlich gehört die Einbeziehung von Expertise hierher: dazu aus europäischer Sicht etwa G. Haibach, Komitologie nach Amsterdam - Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen im Rechtsvergleich, VerwArch. 90 (1999), S. 98 ff. 80 Dazu siehe schon oben im Text bei I. 3. b). 81 Dazu oben im Text bei 111. I. 82 A. a. 0. (FN 60). 83 Vgl. Hoffmann-Riem (FN 25), 484; zur Oberlagernden Signatur-Richtlinie der EU sieheA. Roßnagel, MMR 1999,261 ff. 78

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IV. Techniksteuerung durch innovationssicherndes Kommunikationsrecht 1. Innovationssichernde,. Doppelfunktion" des Kommunikationsrechts Telekommunikationsrecht erweist sich mithin als "doppelgesichtig". Es ist zugleich Multimedia-Recht und spezifisches Technikrecht In dieser Grundausrichtung entfaltet es seine Innovationsfunktion zweigleisig: Technikentwicklung und die informationeHe Transformation des Technikrechts von der Abwehr- und Schutzfunktion über die Selbststeuerungs- und Managementfunktion zur Eröffnung von Möglichkeitsräumen filr Technikinnovationen stehen erstens in einem inneren Zusammenhang mit der Ordnung des staatlichen bzw. gesellschaftlichen Datenverkehrs. Dieser ist als innovatives Kommunikationsrecht aufgegeben, die (infra-)strukturellen Bedingungen im Hinblick auf die Sicherung des Zugangs zu Informationen, die Verwirklichung des Grundrechtsvoraussetzungsschutzes durch staatliche Informationsvorsorge und Verwaltungsöffentlichkeit sowie des Schutzes gegenüber einer verfassungs- bzw. rechtswidrigen Datenoffenbarung und staatlichen Steuerung durch gewährte Informationen zu formulieren. 84 Die Innovationstauglichkeit ist an diesen Zielen und am Grad ihrer Verwirklichung zu messen.

Zweitens erweist sich Kommunikationsrecht aber auch als ein spezifisches Steuerungsrecht der allgemeinen Technikentwicklung. Es ermöglicht oder beschränkt durch die Öffnung, Sicherung oder auch Schließung von Datenflüssen unter Technikentwicklern, im Zusammenhang der Kommunikation dieser mit Techniknutzern sowie mit der Öffentlichkeit den technischen Inventionsprozeß wie die technische Realisation insgesamt. Regelungsgegenstand diesbezüglicher Innovationssteuerung kann bspw. die Informationsinfrastruktur der wissenschaftlich-technologischen Forschungsprozesse und industrieller Technikanwendung sein - z. B. durch die europäische Signatur-, Datenschutz- und Datenbankrichtlinien; zugleich rUckt das Kommunikationsrecht in seiner Steuerungsfunktion im Verhältnis der Technikentwickler zu den Techniknutzern bzw. gegenüber der Informationsgesellschaft die Sicherstellung oder auch Vermittlung einschlägiger Informationen Ober mögliche Risikopotentiale des technischen Fortschritts in den Vordergrund. Insoweit darf der Staat auch "Meinung machen" - freilich nur unter der Voraussetzung legitimierender Gemeinwohlinteressen. 85 Diese geben ihm in Ge84 Näher dazu und m. w. Nachw. Hans-Heinrich Trute, Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung. VVDStRL 57 (1998), S. 216 (224 ff., 249 ff., 257 ff.); Michael Kloepfer, GutachtenD zum 62. DJT, 1998. S. D 80 ff.; Pitschas (FN 31), S. M 17 ff. 85 Str., fUr die hiesige Position vgl. Pitschas (FN 23), S. 236 tT. m. w. Nachw.

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stalt staatlicher Schutzpflichten auf, Schutz-, Geflihrdungs-, Risiko- und Innovationsprofile der Technikentwicklung zu "errechnen", zu publizieren und öffentlich zu bewerten - mit der Konsequenz spezifischer Informationslasten. Auch innovationssicherndes Technikrecht steht damit unter dem Verlangen nach einem umfassenden Informationsmanagement, daß die Steuerung der Datensammlung im Inventionsprozeß und die Verarbeitung der gewonnenen Informationen in den technischen Fortschritt insgesamt einbettet. Zugleich stellt es deshalb Inventionsmanagement dar. Als innovative Verfahrensansätze kommen in dessen Umsetzung AuditingVerfahren oder andere Diskurse über technologische Innovationen in Betracht. Technikrecht als innovationssteuerndes Kommunikationsrecht zu verstehen, begründet dadurch einen neuartigen Strukturwandel der Öffentlichkeit als Steuerungsressource der Technikentwicklung. Freilich gehören auch deliberative Steuerungsansätze - wie z. B. die "Schließung" von Informationsprozessen - in diesen Kontext.

2. Ermöglichungsfunktion kommunikationsrechtlicher Techniksteuerung Bei alledem wohnt dem Kommunikationsrecht eine genuine Funktion der Technikermöglichung inne. Diese liegt jenseits der Selbststeuerungs- und Managementfunktion im Steuerungssegment des innovativen Technikrechts, insofern Entwicklung und Nutzung von Technologien aller Art der Sicherung jener (Freiheits-)Chancen bedürfen, die in der technischen Realisation schlechthin liegen. Die Kommunikations- und Handlungsmuster für die Verknüpfung von Wissenschaft und Technik setzen hierzu den freien Datenverkehr voraus. Diesen hat das innovationserhebliche Kommunikationsrecht zu sichern. Rechtlicher Ausgangspunkt filr diese Ermöglichungsfunktion des kommunikationsgeprägten Technikrechts ist das Verständnis der Wissenschaftsfreiheit gern. Art. 5 Abs. 3 GG als Gewährleistung kommunikativer Freiheitsentfaltung. Hierdurch aktiviert, eröffnet das innovationssteuernde Kommunikationsrecht die informationeile Selbstbestimmung in den Forschungs- und Anwendungsprozessen der technischen Realisation und damit Möglichkeitsräume filr eine Technikentwicklung in Forschungsfreiheit sowie filr die sozialverträgliche Techniknutzung ("gesellschaftliche Innovation"). Dies gilt insbesondere filr die kommunikationsrechtliche Steuerung von Innovationen im wissenschaftlichtechnologischen Sektor, also filr die Erneuerung von technischen Verfahren, Strukturen oder Produkten. Während hierbei dem allgemeinen Technikrecht aufgegeben ist, die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstregulierung einerseits, die staatliche Verantwortung filr Risikolagen aufgrund der Ungewißheit über die Geflihrdungspotentiale technischer Entwicklungen andererseits zu entfalten, will das Technikrecht als Kommunikationsrecht die Informationspro-

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zesse im Rahmen der Technikentwicklung, z. B. in bezug auf Technikinventionen steuern. 86 Seine Kraft zur Ermöglichung des wissenschaftlich-technischen Forschritts liegt dabei speziell in der Orientierung an dem Leitbild der offenen Informationsgesellschaft filr das Wissenschaftssystem. 87 Dieses setzt ebenso hierarchiefreie wie grenzenlose Kommunikation im technischen Inventionsprozeß "ohne Ort", den freien Datenverkehr, offene Anwendermärkte und die gleichzeitige Entwicklung eines technikbezogenen staatlichen Informationsmanagements unter den Bedingungen der "Europäisierung" und Internationalisierung der Informationsvorgänge in der Technikentwicklung voraus.

V. Das Regelungsgeflecht der Telekommunikation als Muster innovationssteuernden Technikrechts I. Innovative Technikentwicklung als Freiheitschance In welchem Maße das Kommunikationsrecht auf diesem Hintergrund freiheitssichernd und techniköffnend wirken kann, zeigt sich wiederum am Beispiel der gesetzlichen Einflußnahme auf die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik durch das innovationssteuernde Telekommunikationsrecht. Die Erkenntnisse Ober das Wachstum der internationalen Telekommunikation, der Entstehung von "Multimedia" oder auch zur Verbreitung von Chipkarten bzw. der neuen Informations- und Kommunikationsdienste verweisen jenseits der dadurch mitgeführten Risiken - auch auf die Chancen, die diese Techniken auf den mittlerweile weithin institutionalisierten globalen und zugleich dezentralisierten Informations- und Wissensmärkten den Nutzern der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten. 88 Dem Bürger werden bislang unbekannte Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Wunsch und Wille nach informationeHer Selbststeuerung durch Informationsaustausch und -teilhabe im öffentlichen und privaten Sektor werden freigesetzt und zugleich von kapazitiven Beschränkungen befreit. Innovative Kommunikationstechnologie gibt auf diese Weise der informationeilen Selbstbestimmung des Bürgers einen bisher fehlenden Raum. 89 Zugleich ft>rdert der

86 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Trute (FN 22). S. 23 7 f.: Pitschas ( FN 31 ). S. M 64 f.

87 Zu solchen Funktionen von .. Leitbildern" flir die Technikgenese siehe näher Dierkes!C'anzler (FN 43). S. 66 ff. 88 Hierzu statt anderer Vesting (FN 31 ). S. 253 fL 257 ff.. 269 ff. 89 Pitschas (FN 31 ). S. M 9 ff.. 17 ff.

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trans-. supra- und internationale Freiverkehr aller Arten von Daten über das Internet auf den Produkt- und Informationsmärkten die Wettbewerbsfähigkeit und dadurch die Aussicht auf Wohlstand und Wachstum der nationalen Marktwirtschaften. Das auf die Steuerung dieser Entwicklung bezogene Informationsrecht, daß - wie dargestellt - die Kommunikationsvorgänge über Multimedia und Internet einbezieht und deshalb eher als Kommunikationsrecht bezeichnet werden sollte, zeigt allerdings Innovationsdefizite in mancher Hinsicht und nicht zuletzt mit Blick auf den Datenschutz. 90 Doch sichert es immerhin und gleichzeitig informationelle Selbstbestimmung als eine Chance zur kommunikativen Freiheitsentfaltung. Freilich sind diesem Verständnis die bisherigen Regulierungsansätze des überkommenen Datenschutzrechts fremd. 91 Aber das ändert nichts daran, daß dem sich gegenwärtig ausprägenden verfassungsrechtlichen Strukturkonzept der kommunikativen Selbststeuerung die staatliche wie gesellschaftliche Verpflichtung nachhaltig eingebunden ist, durch entsprechende Strukturmaßgaben fur Technikoptionen den Zugang zu und die Teilhabe an Informationen über das Gemeinwesen zu ermöglichen sowie den Zugang zu Informationsdiensten und -netzen zu gewährleisten. Im Hinblick hierauf erweist sich das geltende Telekommunikationsrecht prinzipiell als innovationssichernd. Es fördert eine innovative technologische Systemgestaltung. 2. Ermöglichung selbstbestimmter Kommunikationsprozesse

In der Folge dieser grundsätzlichen Technikinnovation durch Kommunikationsrecht gewinnen künftig die selbstbestimmte Information und Kommunikation ihren verfassungsrechtlich geforderten Stellenwert. Hieran vermag die Errichtung einer freiheitlichen Datenverkehrsordnung anzuknüpfen, in deren Mittelpunkt der eigenverantwortete Selbstdatenschutz des einzelnen steht. Zugleich sieht sich das Vertrauen auf marktwirtschaftliche Selbstregulierungsmechanismen der Kommunikationsprozesse - wie etwa in ein künftiges Datenschutz-Audit- gestärkt. 92

Siehe Vesting (FN 31 ), S. 257 ff., 269 ff.; Hoffmann-Riem (FN 25), 485. Kloepfer (FN 24), S. D 59 ff., 69 ff. . 92 Die EU sucht zugleich mit weiteren Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen den Mitgliedstaaten spezifische Standards filr die technische Normung vorzugeben, vgl. nur Rieß, Regulierung und Datenschutz im europäischen Telekommunikationsrecht, 1996, passim. 90 91

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3. Innovation durch .. technischen Selbstschutz" In alledem liegt der Anfang eines langen Weges zu einer innovationstauglichen Umsteuerung des Technikrechts unter den Rahmenbedingungen der multimedialen Welt. Dennoch scheint das dem modernen Kommunikationsrecht zugrundeliegende Leitbild einer technischen Systemgestaltung93 , die der Aneignung personenbezogener Daten der Bürger durch Fremde Grenzen zieht und der Anonymisierung und Pseudonymisierung von Informationen hinreichend Vorschub leistet, ein innovativer Weg zu sein, die kommunikationstechnische Entwicklung in die richtige Richtung zu steuern. In diesem Sinne bildet die rechtliche Ermöglichung selbstbestimmter Kommunikationsprozesse im öffentlichen und privaten Sektor durch dazu geeignete Kommunikationstechnik ein maßgebliches Muster für ein künftiges allgemeines Technikinnovationsrecht. VI. Zusammenfassung Technikentwicklung und -implementierung sind in Deutschland bislang unter dem Blickwinkel der Folgenorientierung sowie der Risikokontrolle bei Einbezug allfälliger Risikopotentialanalysen rechtlich "umhegt" worden. Dieser Modus staatlicher Steuerung hat es aber nicht vermocht, in dem erforderlichen Ausmaß technische Innovationen zu stimulieren bzw. zu ermöglichen und gleichzeitig gesellschaftliche Innovation zu bewirken. Statt dessen sind künftige Blockaden in beiden Innovationsbereichen absehbar. Technikentwicklung ist als dementsprechendes Innovationsproblem nicht ohne den Wandel des Technikrechts zu lösen. Es muß als "Gehäuse" einer innovationssichernden Techniksteuerung dienen. Doch läßt sich das Technikrecht nur innovationstauglich "zurichten", wenn seine gegenwärtige Folgenorientierung und Risikoperspektive durch eine genuine Innovationsfunktion ergänzt werden. Der Beitrag arbeitet deren Eigenart und Reichweite zugunsten eines innovationssteuernden Technikrechts heraus. Als Ergebnis zeigt sich, daß die Innovationskraft technikrechtlicher Steuerung auf der Wirkdimension von "Information" beruht. Technikrecht sollte dementsprechend sein Innovationskonzept auf die Bedeutung von Information, Kommunikation und Wissen filr Technikinventionen gründen. Die gegenwär-

93 Das Stichwort ist der ..technische Selbstschutz", vgl. Andreas Pfitzmann, Warum brauchen wir Technik? - Zum Verhältnis von Technik und Recht, in: Bettina Soko! (Hrsg.), 20 Jahre Datenschutz - Individualismus oder Gemeinschaftssinn, Düsseldorf 1998, S. 13 I ff.

Technikentwicklung und -implementierung als rechtliches Steuerungsproblem

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tige innovationssichemde Gestaltung des (Tele-)Kommunikationsrechts ist ein gewichtiges Beispiel fil.r diese Weise der rechtsilirmigen Technikstimulierung und -ermöglichung. Somit vermittelt das Recht der Telekommunikation nicht nur anschaulich, wie es selbst innovativer Steuerung unterliegt, sondern es kann auch und zugleich als ein Muster innovationssteuernden Technikrechts dienen.

111. Kommunikationstechnik und Technikrechtsentwicklung

Telegrafenverkehr und Technikrecht im 19. Jahrhundert: Wechselseitige Beeinflussungen Von Karl-Otto Scherner I. Technische Entwicklung und Verbreitung der drahtgebundenen elektro-magnetischen Telegrafie Obwohl die moderne Telekommunikation mit der optischen Telegrafie begonnen hat, die erstmals 1794 zwischen Paris und Lilie mit Erfolg erprobt und in anderen Ländern, auch in Deutschland nach den napoleonischen Kriegen übernommen worden war, war diese Technik schon bald durch eine bessere verdrängt worden, die drahtgebundene elektrische 1• Nur diese hat in der Rechtsentwicklung einen deutlichen Niederschlag gefunden, und das langfristig. Nachdem die ersten Erkenntnisse über den Elektromagnetismus, zunächst durch die Beobachtungen Galvanis und 0rsteds, der 1820 die magnetische Kraft des elektrischen Stroms nachwies, die durch Faraday 1831 mit der Entdeckung des Induktionsstroms publik wurden, machten die Arbeiten an einer technischen Umsetzung und praktischen Verwertung rasche Fortschritte. Zu den ersten gelungenen Versuchen in diese Richtung gehört der von den Physikern Kar! Friedrich Gauß und Wilhelm Eduard Weber 1833 entwickelte Telegraf, ein Jahr darauf dessen praktische Anwendung Uber kleinere Entfernungen. Zunächst nutzten die Bahnverwaltungen das neue Kommunikationsmittel und errichteten längs ihres Streckennetzes Telegrafenlinien2 • Die älteste war seit 1844 entlang der Taunus-Eisenbahn von Mainz nach Frankfurt von dem in 1 Hierzu K. Beyrer, Die optische Telegrafie als Beginn der modernen Telekommunikation, in: H. J. Teuteberg/C. Neutsch (Hrsg.), Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Kommunikation, Stuttgart 1998, S. 14 ff., 25 f. 2 Hierzu allgemein A. L. Reyscher, Das Telegraphenrecht, insbesondere die Haftpflicht aus unrichtiger oder verspäteter Te1egrafierung, in: Zeitschrift flir Deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 19, 1859, 271 ff., u. a. mit Hinweis auf die amtlichen Mitteilungen, in: Zeitschrift des Deutsch-österreichischen Telegrafenvereins, seit 1854; zur Entwicklung vgl. auch A. Wolcke, Telegraphenrecht I, Leipzig 1911, S. 9 ff.; ausftlhr1icher R. Seidel, Verkehrsmittel Telegraph. Zur Geschichte der Telegraphie im 19. Jahrhundert bis 1866 unter besonderer Berücksichtigung des Raumes HannoverBremen, phil. Diss., Hannover 1980, S. 108 ff.

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Mannheim lebenden Engländer William Fardely gebaut worden. Die ersten staatlichen Eisenbahnbetriebstelegrafen entstanden etwas später, so von 1847 von Stuttgart nach Cannstatt und von Karlsruhe nach Durlach. Sie waren zunächst der Öffentlichkeit nicht zugänglich3• Anders war es mit den privat betriebenen Telegrafenlienien, die gerade zum Zweck der öffentlichen Nutzung errichtet wurden, bezeichnenderweise im Weichbild der Hansestädte, so von Bremen nach Bremerhaven 1847 und ein Jahr darauf von Harnburg nach Cuxhaven. Organisationsform war die Aktiengesellschaft. Hier war das angelsächsische Vorbild, das von Anfang an die Telegrafie privat betrieb, unverkennbar. Nicht nur die Eisenbahnen, sondern auch die Staaten interessierten sich flir die neue Nachrichtentechnik. Die bayerische Regierung gab nicht nur in Auftrag, Versuchslinien zu bauen, sondern lehnte es auch von Anfang an ab, den privaten Eisenbahngesellschaften pauschal zu überlassen, die Telegrafen flir den allgemeinen Verkehr zu öffnen. Man entschied sich vielmehr für die Einrichtung eines Telegrafennetzes unter staatlicher Regie. 1849 wurde die Linie München-Salzburg sowohl für die Eisenbahn als daneben - über einen zweiten Draht- filr den allgemeinen öffentlichen Verkehr4 eröffnet. Warum Bayern wie auch andere deutsche Einzelstaaten trotz ihrer desolaten finanziellen Situation filr den Aufbau von Telegrafenlinien beträchtliche Mittel bereitstellten, kann man dem 1850 von Ludwig I. erlassenen Gesetz zum Aufbau des bayerischen Staatstelegrafennetzes entnehmen, das von der "Unentbehrlichkeit" der Telegrafie "in polizeilicher, strategischer und politischer Beziehung" 5 spricht. Auch in Wien wollte man den Telegrafen nicht allein der Bahn überlassen, sondern begründete das staatliche Eingreifen in den Telegrafenbau mit einem besonderen Vorzug: "Die Verfolgung von schnell flüchtigen Verbrechern, die Entdeckung großer Übeltaten und die Veranstaltung von Präventiv-Maßregeln könnte der Polizeiverwaltung Vorteile verschaffen" 6 • Man darf nicht vergessen, daß solche Einstellungen während oder kurz nach der 48er Revolution geäußert wurden. In Berlin, wo man noch mißtrauischer war, hatte man schon 1839 auf die Vorteile der Telegrafie bei der Verbrechensbekämpfung hingewiesen, zumal sich Gesetzesbrecher durch den gerade errichteten Eisenbahnverkehr 3 K. Knies, Der Telegraph als Verkehrsmittel. Mit Erörterungen über den Nachrichtenverkehr überhaupt, Tübingen 1857, S. 113; Reyscher (FN 2), S. 273; Wolcke (FN 2), S. 12. AufS. 9 weist er auf die Kompetenzen des preußischen Kriegsministeriums hin; allgemein zur militärischen Bedeutung auch Knies, S. 223 f. 4 F. Kilger, Die Entwicklung des Telegraphenrechts im 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der technischen Entwicklung, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1993, S. 43 f. 5 J Reind/, Partikularstaatliche Politik und technische Dynamik. Die drahtgebundene Telegraphie und der Deutsch-Österreichische Telegraphen-Verein von 1850, in: H. J. Teuteberg/C. Neutsch (Hrsg.), Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Kommunikation, Stuttgart 1998, S. 27 ff., 31. 6 Reindl (FN 5), S. 31.

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leichter der Verfolgung entziehen könnten 7• Daher wollte man neben dem Telegrafenbetrieb, den man den privaten Eisenbahngesellschaften - in Preußen galt das Privatbahnsystem - unter anderem unter der Auflage genehmigte, daß Telegramme der staatlichen Behörden unentgeltlich befördert werden 8, nicht nur einen Staatstelegrafen, sondern den Benutzerkreis auf staatliche Behörden beschränken. 1848 und 1849 baute man in kurzer Zeit ein Netz aus, meist ausgehend von Berlin, nach Hamburg, Stettin, über Köln bis zur belgiseben Grenze, insbesondere auch nach Frankfurt am Main. Gerade die Verbindung nach Frankfurt wurde deshalb so rasch und unter hohen Kosten hergestellt - man verlegt aus Furcht vor Sabotage die Leitung unterirdisch - weil man über die Verhandlungen in der Nationalversammlung auf dem Laufenden sein wollte9 • In anderen deutschen Staaten, wie Baden und Württemberg, ist der Staatstelegraf aus dem staatlichen Eisenbahnbetriebsdienst hervorgegangen, der dort schon seit Mitte der vierziger Jahre eingerichtet worden war 10• ÖsterreichUngarn baute seit 1849 ein umfangreiches Staatstelegrafennetz aus: 1851 war Wien mit Prag, Budapest, Triest, Innsbruck und Mailand verbunden 11 • Der Krimkrieg war eine der Ursachen, daß in Rußland bereits in den funfziger Jahren das Telegrafennetz unter maßgeblicher Mitwirkung von Siemens und Halske (Berlin) ausgebaut wurde 12• Anders als zunächst in Großbritannien und den Vereinigten Staaten waren nicht nur die deutschen, sondern die übrigen kontinentalen Telegrafenlinien staatlich oder gehörten Eisenbahnen, die ihrerseits zum großen Teil wiederum unter staatlicher Regie standen. Auch in Großbritannien wurde seit 1870 die Telegrafie verstaatlicht 1\ und der amerikanische Kongreß strebte eine Integration in das staatliche Postwesen an 14 • Obwohl man also im Deutschen Bund mit Ausnahme der Linien in den Hansestädten Harnburg und Bremen, die privat und aus handelspolitischen Überlegungen angelegt waren 15, sich durchweg von staatspolitischen Gründen hat leiten lassen, hat man auch dort die wirtschaftliche Bedeutung der Telegrafie erkannt, und die sich daraus ergebende nahezu zwingende Folgerung, diese Nachrichtentechnik der Allgemeinheit zugänglich zu machen. In Deutschland machte hier erstaunlicherweise Preußen den Anfang. Bereits 1849 entschloß 7 8 9

10 11 12

13 14

Kilger (FN 4), S. 45. Reindl (FN 5), S. 29 f. Seidel (FN 2), S. 129. Seidel (FN 2), S. 142 ff. Reindl (FN 5), S. 30. Seidel (FN 2), S. 135. A. Wolcke, Telegraphenrecht II, Leipzig 1911, S. 29. F. Meili, Das Telegraphen-Recht. Eine civilistische Abhandlung, Zürich 1871,

S. 20; ders., Das Telephonrecht Eine rechtsvergleichende Abhandlung, Leipzig 1885, s. 37 ff., 44 f. 15 Seidel (FN 2), S. 196 ff., 204 ff.. 215 ff.

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man sich, nachdem liberale Abgeordnete der Ersten Kammer interveniert hatten, den preußischen Staatstelegrafen dem Publikum zu öffnen, also private Depeschen zu befördern 16• Es ging nicht nur darum, die Kosten zu decken, sondern die Investitionskosten rascher zu amortisieren 17 . Andere Staaten folgten rasch, zuerst Bayern im Jahre 1850. Damit hatte sich schon zu Beginn der filnfziger Jahre die ökonomisch angemessene Beurteilung der neuen Nachrichtentechnik auch auf dem Kontinent durchgesetzt. Daß fiskalische Gründe für einen - auch von der Allgemeinheit genutzten - Staatstelegrafen sprechen, hat schon frühzeitig der Freiburger Nationalökonom Kar! Knies in seinem 1857 erschienenen vielbeachteten Werk "Der Telegraph als Verkehrsmittel" dargelegt~'.

Bei einer Kommunikationstechnik, die gerade dadurch charakterisiert ist, große Entfernungen zu überwinden, und deren betriebswirtschaftlicher Wert schon früh erkannt wurde, verwundert es nicht, daß schon in den ersten Jahren der grenzüberschreitende Verkehr ermöglicht wurde und es schon nach anderthalb Jahrzehnten zu großräumigen und bald zu weltumspannenden organisatorischen Regelungen kam: 1850 der Vertrag über den Deutsch-Österreichischen Telegraphenverein, in den 1850er Jahren eine Reihe bilateraler Abkommen zwischen europäischen Ländern, und schon 1865 wurde in Paris die "Union internationale de Telecommunications" (UIT) gegründet und später durch den Vertrag von Petersburg im Jahre 1875 revidiert 19• Nahezu gleichzeitig mit dem Ausbau der Landverbindungen hat man auch Unterwasserverbindungen in Angriff genommen20 • Nach erfolgreichen Versuchen mit Flußkabeln wurde schon 1851 Dover mit Calais verbunden. 1853 und 1855 wurde eine Verbindung von England nach Den Haag und Amsterdam errichtet. Im Mittelmeerraum verzögerte sich die Verkabelung wegen der grösseren Wassertiefe, so daß erst 1857 eine Verbindung von Frankreich nach Algerien über Korsika und Sardinien gelang. Das technische Problem, das neben der sicheren Verlegung vor allem darin bestand, eine elastische, aber haltbare und gut isolierende Ummantelung der Kabel herzustellen, ist im wesentlichen von Werner Siemens gelöst worden. Die Verbindung zwischen Europa und Nordamerika wurde 1856 durch ein Kabel zwischen dem amerikanischen Festland und Neufundland begonnen, und erst nach mehreren mißglückten VersuReind/ (FN 5), S. 31. Seidel (FN 2), S. 137 f. 18 Knies (FN 3), S. 244 ff., 256 ff. 19 Ausfilhrlich Reind/ (FN 5), S. 41 ff. 20 Hierzu zuletzt sehr instruktiv C. Neutsch, Erste "Nervenstränge des Erdballs": Interkontinentale Seekabelverbindungen vor dem Ersten Weltkrieg, in: H. J. Teute16

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berg,/C. Neutsch (Hrsg.), Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Telekommunikation, Stuttgart 1998, S. 4 7 ff.

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eben war dann am 5. August 1866 eine dauerhaft leistungsfiihige Verbindung zwischen Europa und Nordamerika gelungen. In der Folgezeit wurde sukzessive ein weltumspannendes Kabelnetz ausgebaut. Dabei gingen von Großbritannien als größter Kolonialmacht nicht nur die wichtigsten Impulse aus; die Briten behielten auch die Regie. Die Reihenfolge der Verbindungen zwischen den Erdteilen entsprach der Bedeutung der sich zunehmend entwickelnden wirtschaftlichen Verflechtungen21 • Nach Indien kam China, dann Japan, Australien, Südamerika und zuletzt Afrika. Erst 1902 gelang die Überbrückung des Pazifik. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kann man von einem britischen Weltkabelmonopol sprechen; die meisten Verkabelungen werden von britischen Kabelgesellschaften durchgefilhrt, Aktiengesellschaften, die unter staatlicher Aufsicht standen und dem britischen Staat gegenüber Verpflichtungen eingegangen waren. Die Verträge wurden jeweils mit der Regierung der betroffenen Länder geschlossen, wobei den Kabelgesellschaften zugesichert wurde, keine weiteren Konzessionen zu vergeben, eine wesentliche Vorbedingung filr die britische Stärke im Börsenwesen und Zwischenhandel 22• Der Telegrafenbetrieb blieb in den Händen der gleichen Kabelgesellschaften. Da Großbritannien im Burenkrieg 1899 sein Monopol auch politisch ausnutzte, gingen andere Großmächte daran, eigene Kabelnetze aufzubauen. Frankreich begann damit schon im Jahr 1900, mit einer einzigen Gesellschaft unter staatlicher Aufsicht, die mit staatlichen Finanzbeihilfen unterstützt wurde. Von deutscher Seite aus hatte man bereits 1905 30.000 km Kabel verlegt; am 1.9.1900 wurde die Kabelverbindung Deutschland-USA in Betrieb genommen. Wenn in den neunziger Jahren noch der Anschluß der deutschen Kolonien über englische Kabel an das internationale Netz ermöglicht wurde- 1890 hatte das Reichspostamt einen entsprechenden Vertrag mit der East and South-African-Telegraphy-Company abgeschlossen -, hat man später, 1904, zusammen mit den Niederlanden die DeutschNiederländische Kabelgesellschaft gegründet, eine Aktiengesellschaft mit dem Sitz in Köln, um unabhängiger von den britischen Kabelverbindungen zu sein. Die finanzielle Unterstützung durch die beiden Regierungen war von vomherein vorgesehen. In vereinzelten Fällen kam es zu Staatskabeln, wie das 1907 gelegte deutsch-norwegische Kabel, wo jeder Staat über die ihm zunächst liegende Hälfte die Hoheitsrechte ausübte. Innerhalb des zu betrachtenden Zeitraums gab es erst gegen dessen Ende weitere technische Neuerungen, einmal in Gestalt konkurrierender Kommunikationstechniken, zum andem allgemein in der Elektrotechnik, die zu rechtlichen Konsequenzen gezwungen haben: die Entwicklung der drahtlosen Telegrafie Ende der l890er Jahre, der Telefonie in den Achtzigern und der Konflikt 21 22

Neutsch (FN 20), S. 50.

H. Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der

Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 238.

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mit der Starkstromtechnik seit den Neunzigern. Auf sie soll nur eingegangen werden, soweit sie den Telegrafenverkehr beeinflußten. Die drahtlose Telegrafie hat zu rechtlichen Konsequenzen erst im 20. Jahrhundert geführt.

II. Das Recht und die Telegrafie im Entwicklungsstadium Eine Konfrontation von Recht und Technik auf dem Gebiet der Telegrafie 23 gab es im Stadium der Entwicklung der Technik, in der Versuchsphase, so weit ich sehe, nicht. Der Raum, in dem sich ein Erfinder spätestens seit dem 18. Jahrhundert und mit Sicherheit iin 19. Jahrhundert bewegte, war ein nahezu rechtsfreier, wenn nicht gerade gegen feuerpolizeiliche oder nachbarrechtliche Grundsätze verstoßen wurde, denn gewerbepolizeiliche Bedenken setzen allemal ein ausgeübtes Gewerbe voraus. Die politische Führung, schon zu Zeiten des Absolutismus gerade auf dem technischen Sektor innovationsfreudig, nahm hier vielmehr die Rolle eines - zuweilen auch ausgenutzten - Förderers ein. So war es auch noch im 19. Jahrhundert. Charakteristisch ist eine Anekdote über den Bayernkönig Ludwig 1., einem Förderer Carl August von Steinbeils, einem der Pioniere der Telegrafie. Bei einer Vorfiihrung der neuen Technik soll er Steinheil auf die Schulter geklopft und bemerkt haben: "Seien Sie froh, daß Sie nicht vor 200 Jahren gelebt haben, da hätten man Sie als Hexenmeister verbrannt." Daß er Steinheil nicht nur finanziell unterstützt hat, sondern daß den Versuchen innerhalb der Steinheilsehen Werkstätten auch sonst kein Stein in den Weg gelegt wurde, kann man auch daraus ersehen, daß dieser für seine Versuchswerkstätte eine Gewerbeerlaubnis der Stadt München bekam und ihm die bayerische Regierung sogar eine Fabrikkonzession einräumte2\ man ihn mit Legitimationen also geradezu überschüttete.

III. Recht und Telegrafenverkehr 1. Vom Telegrafenregal zu den Telegrafengesetzen Anders war es, als es darum ging, praktisch genutzte Telegrafenlinien zu errichten, also die Frage zu beantworten war, ob sich die Rechtsordnung von 23 Zu diesem Problemkreis neben der Arbeit von Kilger (FN 4) vgl. K. 0. Scherner, Innovation und Recht. Das Beispiel der Einführung der Telegrafie in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 1994, S. 39-57; ders .. Die Ausgestaltung des deutschen Telegraphenrechts seit dem 19. Jahrhundert, in: Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Telekommunikation. hrsg. von Hans-Jürgen Teuteberg und Cornelius Neutsch, 1998, S. 132 ff. Der vorliegende Beitrag stützt sich weitgehend auf diese Vorarbeiten, die allerdings nicht von der spezifischen Fragestellung des Kolloquiums ausgehen. 24 H. Pieper, Carl August von Steinheil, Der vergessene Begründer der wissenschaftlichen Nachrichtentechnik, in: Technikgeschichte,,Bd. 37 ( 1970), S. 323 ff.. 331 f.

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vomherein einem solchen Betrieb verweigert oder sich neutral verhält, und wenn ja, ob dagegen rechtspolitische Bedenken bestanden, die in Recht umgesetzt wurden, mit anderen Worten: ob sich hier ein Zulassungsproblem ergab. Da es kein generelles Verbot des Telegraphenbetriebs gab, kamen hier, soweit nicht Eigentumsrechte tangiert waren, neben allgemeinpolizeilichen nur gewerbepolizeiliche Gesichtspunkte in Frage. Sieht man einmal davon ab, daß schon von der Herkunft des modernen Gewerberechts als Ablösung des alten zünftigen Handwerksrechts nur private Unternehmungen mit Gewinnerzielungsabsicht25 hierher gehören, denen den Regelfall des Staatstelegrafen zuzuordnen sicherlich sehr zweifelhaft ist26, waren dem damaligen Gewerberecht keine Vorbehalte gegenüber der Telegrafie zu entnehmen. Beschränkt man sich auf die preußischen Verhältnisse, dann kommt die preußische Gewerbeordnung von 1845 27 in Frage. Nach § 26 bedürfen Anlagen, von denen erhebliche Nachteile, Gefahren und Belästigungen ausgehen können, einer Genehmigung. Hier handelte es sich allerdings nicht um eine ausfüllungsbedürftige Generalklausel, sondern die Vorschrift beschreibt nur den Regelungszweck des anschließenden § 27, der die einschlägigen Fälle aufzählt. Die Betreibung einer Telegrafenanlage ist dort nicht erwähnt und ist später auch nicht hinzugefugt worden 28 • Auch ist mir nicht bekannt, daß man hier nicht doch, über § 26 hinaus, die Notwendigkeit irgendwelcher Genehmigungsbedürftigkeit sah 29 • Hätte ein Privatunternehmer einen Telegrafenbetrieb eröffnen wollen, hätten sich zusätzliche Schwierigkeiten dann ergeben, wenn das Unternehmen in Form einer Aktiengesellschaft hätte organisiert werden sollen. Da eine Aktiengesellschaft zur Erlangung ihrer Rechtsfähigkeit bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts einer Konzession bedurfte, hätte der Staat hier ansetzen und einen privaten Telegrafenbetrieb verhindern können 30 • Die hanseatischen und angelsächsischen Beispiele zeigen jedenfalls, daß ein privater Betrieb auf aktienrechtlicher Basis möglich war, ebenso die Telegrafen der privaten Eisenbahngesellschaften und der Überseekabelgesellschaften.

25 So dann noch in den neunziger Jahren die Definition des Gewerbes durch Paul Laband, vgl. Kifger (FN 4), S. 87. 26 Laband hat das auch verneint. 27 Preußische Gesetzessammlung (GS) 1845, Nr. 2241, S. 41. 28 Das Gesetz betreffend die Errichtung gewerblicher Anlagen vom I. 7.1861 (GS 1861 Nr. 5427 S. 749) führt in dem maßgeblichen Katalog die Telegrafie nicht auf; vgl. hierzu auch Kifger (FN 4), S. 87 f. 29 So fl.lr die Qualifikationskontrolle vgl. J. Ziekow, Freiheit und Bindung des Gewerbes, Berlin 1992, S. 407. 30 Hierzu und zur Entstehung des heutigen Normativsystems H. Coing, Rechtsvergleichung als Grundlage von Gesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: Jus commune VII (1978), s. 160 ff., 168 ff.

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De facto war allerdings eine gewerberechtliche Genehmigungsbedürftigkeit eines Telegrafenbetriebs in den meisten Territorien auch gar nicht zu erwarten. So bleiben nach § 6 der Gewerbeordnung staatliche Monopole und Regalien von der Gewerbeordnung unberührt, und in Preußen hatte man sich, wie in den meisten deutschen Bundesstaaten, ja fllr den Staatstelegrafen entschlossen. Noch deutlicher war das bayerische Gewerbegesetz von 1868, das sich auf das Telegrafenwesen als nicht anwendbar erkläre'. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 und die aus dieser hervorgehenden Reichsgewerbeordnung änderte an diesem Rechtszustand nichts. Damit ist die Frage der Technikzulassung, bezogen auf den Telegrafenbetrieb, zu einer verfassungsrechtlichen oder bloß politischen geworden. Verfassungsrechtlich dann, wenn die Telegrafie nach geltendem Recht tatsächlich nur vom Staat betrieben werden darf, bloß politisch dann, wenn dies nicht der Fall ist, der Staat aber ein Monopol in Anspruch nimmt. Mit anderen Worten: die Frage der Technikzulassung reduziert sich auf die Bejahung des Betreibens der Technik als Staatsaufgabe. Ob der Staat überhaupt oder gar ausschließlich Telegrafenlinien betreiben darf, war nicht nur eine neue Frage, sondern auch eine, gegen deren Bejahung die damals liberale Gewerbe- und Handelspolitik sprach. Das Problem war keineswegs auf Deutschland beschränkt32 • Die juristischen Kontroversen darüber begannen erst Ende der filnfziger Jahre. Basis der Diskussion war das Regal, ein Begriff, der ursprünglich die ureigenen Rechte des Königs umschrieb, und der in der Staatsrechtslehre des frühen 19. Jahrhunderts immer noch eine große Rolle spielte. Man unterschied die regalia maiora oder essentialia, die filr die Staatsgewalt wesentlichen, unverzichtbaren Rechte, zu denen das "Verwaltungsmonopol" gehört, von den regalia minora, den "bloß" fiskalischen Rechten, an sich privatrechtliche Befugnisse, die auch von Untertanen ausgeübt werden konnten, aber aus besonderen Erwerbsgründen, also "zufällig" mit der Landeshoheit verbunden waren. Als Erwerbsgründe hat man Gesetz, Herkommen oder kaiserliche Verleihung angesehen 33 • Danach hätte die Telegrafie jeder betreiben können, also keine günstigen Voraussetzungen ftir die Einrichtung eines staatlichen Monopols. Das überwiegend geräuschlose Vorgehen der deutschen Regierungen bei der Einführung der Telegrafie dürfte daher als das Schaffen vollendeter Tatsachen im Sinn der Sicherung dieses Monopols auf einem weiteren Sektor des Nachrichtenverkehrs neben der Post zu versteKifger (FN 4), S. 88. Zur Diskussion in anderen Ländern F. Meili, Telegraphen-Recht (FN 14), S. 7 ff.; ders., Telephonrecht (FN 14), S. 10 ff. 33 Dazu Kifger (FN 4), S. 84 ff. mit weiteren Angaben. Hinzuzufligen ist allerdings. daß gerade auch die Ansammlung von Regalien als Begründung der Entstehung der Landeshoheit gedient hat; vgl. dazu D. Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 47 ff. 31

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III

hen sein34. Man ging staatlicherseits von einem Regal aus, sagte es aber nur in wenigen Fällen ausdrücklich, so Österreich mit einem Hofkanzleidekret vom 25. Januar 1847 und Frankreich mit einer Verordnung vom 27. Dezember 1851. Ein preußischer Entwurf aus dem Jahre 1855, nach dem die Befugnis, Telegrafenanstalten zu errichten, ausschließlich dem Staat zusteht, wurde nicht Gesetz, weil Bedenken geäußert worden waren, damit werde die Privatwirtschaft zu sehr eingeengt. Im Königreich Sachsen kam es 1855 zu einem entsprechenden Gesetz. Pragmatischer war die auf einer Art Rechtsvergleichung beruhende Ansicht, ein Regal liege immer dann vor, wenn sich der Staat die Telegrafie als "Thätigkeitszweig" vorbehalte35 . Mit dieser Inanspruchnahme steht nicht in Widerspruch, daß man bei Eisenbahnen Ausnahmen machte. War der Eisenbahngesellschaft die aktienrechtliche Konzession schon vor Einführung der Telegrafie erteilt, so duldete man die Errichtung von Eisenbahntelegrafen und bestand auf einer besonderen Erlaubnis erst seit 1856. Rechtlich waren das vom Regalieninhaber erteilte Konzessionen36, also Privilegien. Schließlich wurden mit einem Beschluß des Norddeutschen Bundes aus dem Jahre 1868 die Eisenbahnen verpflichtet, die Anlage von öffentlichen Telegrafen zu dulden und bei Störung der öffentlichen Anlagen die Depeschen der Bundestelegrafenverwaltung auf der bahneigenen Linie zu bef6rdem37. Sieht man von der Verfassung des Norddeutschen Bundes ab, so erhielt mit Erlaß der Reichsverfassung vom 16. April 1871 das Telegrafenwesen eine neue, nun verfassungsrechtliche Grundlage38 • Art. 48, mit dem der Abschnitt "Post- und Telegraphenwesen" beginnt, lautet: "Das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches als einheitliche Staatsverkehrs-Anstalten eingerichtet und verwaltet" 39 • Nach Art. 4

34 In diesem Sinn wohl Wolcke I (FN 2), S. 16; zum folgenden auch Kifger (FN 4), S. 91. 35 Meili, Telegraphen-Rechi (FN 14), S. II. 36 Meili, Telegraphen-Rechi (FN 14), S. 12. 37 Kifger (FN 4), S. 99 mit weiteren Nachweisen. 38 Die Rechtslage während des Bestehens des Norddeutschen Bundes wird hier nicht gesondert betrachtet. Sie ist flir die Regelung im Reich weitgehend Vorbild gewesen. Mit der hier verwendeten Terminologie "Reichsgründung" soll auch keine Stellung in dem immer noch andauernden Streit bezogen werden, ob die Vorgänge 1870171 zu einer wirklichen Neugründung führten, oder ob das Deutsche Reich nicht nur als bloße Erweiterung des Norddeutschen Bundes anzusehen ist. 39 Und in Absatz 2: "Die im Art. 4 vorgesehene Gesetzgebung des Reichs in Postund Telegraphenangelegenheiten erstreckt sich nicht auf diejenigen Gegenstände, deren Regelung nach den in der Norddeutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung maßgebend gewesenen Grundsätzen der reglementarischen Festsetzung oder administrativen Anordnung überlassen ist."

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Ziff. 10, der zum Abschnitt "Gesetzgebung" gehört, unterliegen das Post- und Telegrafenwesen der Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reichs40 . Obwohl davon auszugehen ist, daß mit Art. 48 der Reichsverfassung gerade das Reichsregal (mit Ausnahme von Bayern und Württemberg) normiert werden sollte - dafiir sprechen die Entstehungsgeschichte und die preußische Dominanz41 - woraus man staatlicherseits folgerte, daß Telegrafen und Telefonanlagen nur im eigenen Gebrauch und auf eigenem Grundstück vom Regal ausgenommen sind42, wurde diese Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung in Zweifel gezogen 43 . Neben einer älteren Ansicht, die schon flir das vorkonstitutionelle Recht das Telegrafenregal analogisch auf das Postregal stützen wollte 44, und neben der Verweisung auf die Reichsverfassung wurde flir ein Telegrafenregal angeführt, zu den wesentlichen Staatsaufgaben gehöre, den "Verkehrsbedarf' der Bürger durch funktionierende Post und Telegrafie zu befriedigen. Dies könne am besten und zweckmäßigsten durch staatliche Anstalten geschehen. Zu den wenigen, aber gewichtigen Autoren, die ein Telegrafenregal in Art. 48 der Reichsverfassung nicht statuiert sahen, gehört ein so bedeutender Jurist wie Paul Laband4S, nach dem Art. 48 nur besagt, daß die bis dahin selbständigen Verwaltungen in den einzelnen Ländern zu einer einheitlichen Verwaltung des Reiches verbunden würden46 • Die herrschende Praxis der Staatstelegrafie sei ein "tatsächlicher Telegraphenzwang" ohne rechtliche Anerkennung. Auch die Rechtsprechung wurde mehrfach mit dem Telegrafenregal befaßt, und auch hier waren die Meinungen geteilt. Das Reichsgericht ging 1890 zwar von einem Telegrafenregal aus, hatte aber keine Einwände gegen Privattelegrafenanlagen, die dem öffentlichen Verkehr dienten 47 • Die Klage der Oberpostdi40 Sieht man einmal von weiteren, hierher gehörigen Verfassungssätzen ab, dann stand nach Art. 4 Ziff. 10 dem Reich und nicht den Einzelstaaten die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf das hier wie auch noch an anderen Stellen mit dem Postwesen gleichbehandelte Telegrafenwesen zu. In Art. 48 hingegen ging es um die reichseinheitliche Einrichtung und Verwaltung des gesamten Telegrafenwesens, also um eine Kompetenzregelung im Exekutivbereich. Das heißt, daß allen Staaten, die frOher Mitglieder des Deutschen Bundes gewesen waren und jetzt dem Zweiten Reich. einem Bundesstaat, angehörten. zugunsten des Reiches grundsätzlich sowohl die Gesetzgebungs- als auch die Exekutivbefugnisse abgesprochen war. Eine Ausnahme galt flir Bayern und WOrttemberg, Art. 52 Abs. I und Abs. 2. 41 Wolcke I (FN 2), S. 32. 42 So ein preußischer Ministerialerlaß vom 15. September 1882, Kifger (FN 4). S. 93. 43 Hierzu näher Kifger (FN 4), S. 92 ff. 44 So die Germanisten Reyscher und Bluntschli, vgl. Kilger (FN 4), S. 88. 45 Kifger (FN 4), S. 95 f. 46 Wem hier rechtzugeben ist. hat der Historiker nicht zu entscheiden; bedenklich daher Kifger (FN 4), S. 97. 47 Zu diesem und den folgenden Fällen Kilger (FN 4), S. 100 f.

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rektion auf Zahlung einer Gebühr für die Anlage einer betriebsinternen Fernsprechanlage wurde vom Zivilgericht abgewiesen, da dies nicht unter das Reichsregal falle. Hierzu ist zu bemerken, daß Telefonanlagen im allgemeinen wie Telegrafenanlagen beurteilt wurden48 , diese Entscheidungen also auch für die Telegrafie von Bedeutung waren. Ebenfalls 1890 erging ein Urteil des Landgerichts Berlin. Hier ging es um die Frage, ob der Staat eine Privatperson vom Errichten und Betreiben von Telegrafenanlagen ausschließen kann. Das Landgericht verneinte dies, weil der Gesetzgeber seine Absicht zur Schaffung eines Telegrafenregals nicht klar genug zum Ausdruck gebracht habe. Art. 48 bedeute nur, daß es als einheitliche Verkehrsanstalt fiir das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches zu organisieren sei. Die Verwaltungen der Bundesstaaten sollten lediglich zusammengefaßt werden49 • Ein Telegrafenregal sei wegen fehlender Rechtsgrundlage zu verneinen. Soweit es an die Zulässigkeit von Privattelegrafenanlagen gehe, gelte die Gewerbeordnung. In die gleiche Richtung ging ein Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. September 189050• In den Urteilsgründen fiihrte es aus, die Polizeibehörden seien nicht befugt, das Telegrafenregal zu schützen, sondern nur, zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Gefahrenabwehr einzugreifen. Die Aufrechterhaltung des bisherigen Zustandes zugunsten des Staates war damit endgültig in Frage gestellt; das Oberverwaltungsgericht wies deshalb darauf hin, daß eine gesetzliche Regelung des Telegrafenregals notwendig sei. Das Urteil ist technikgeschichtlich von großer Bedeutung. Soweit eine Technik ohnehin nicht unter das ältere oder neuere Gewerberecht fiel, war ein Freiraum vorhanden, der fiir die Entwicklung der industriellen Dynamik im 19. Jahrhundert sehr günstig war51 • Daß das fiir den weiteren Ausbau der Telegrafie nur noch in geringerem Umfang erheblich war, spielt hier keine Rolle. Was blieb, war allerdings das allgemeine Polizeirecht Die potentielle politische oder militärische Gefahr, die bei der Durchsetzung der Staatstelegrafie ausschlaggebend gewesen war, hat man in den neunziger Jahren jedenfalls nicht für polizeirechtlich erheblich gehalten. Nicht nur der Streit um die Regalität der Telegrafie, der mit dem Urteil des preußischen Oberverwaltungsgerichts praktisch entschieden war, machte es nötig, das Regal durch den Gesetzgeber festschreiben zu lassen. Mit der Einftlhrung des Telefons im Jahr 1877 wiederholten sich die gleichen Fragen wie Vgl. dazu insbesondere die Zusammenstellung bei Kifger (FN 4 ), S. _102 ff. Urteil des Landgerichts Berlin v. 10.07.1890, Archiv flir öffentliches Recht, Jg. 6 (1891), s. 552. 50 Entscheidungen des Königlichen Oberverwaltungsgerichts 20 ( 1891 ), S. 403 ff., vgl. hierzu Kifger (FN 4 ), S. I 0 I, 121 f. 51 D. Wi/loweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., München 1997, S. 257. 48 49

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bei der Einftlhrung des Telegrafen. Als die amerikanische Bell Company 1880 in Deutschland ein privates Telefonnetz errichten wollte, wurde ihr das von der Reichstelegraphenverwaltung aus verfassungsrechtlichen Gründen verweigert52• Der Gedanke, die Regelungen der Telegrafie grundsätzlich auf die "Telephonie" zu übertragen, lag nahe 53 • Auch das Reichsgericht sah das Wort "Telegraphie" als eine Kollektivbezeichnung an, die alle möglichen Methoden der (elektromagnetischen) Nachrichtenvermittlung abdecke. Auch die Schallschwingungen seien Zeichen, die mit der Telegrafie verbreitet würden 54 • Daß hier der Staat wie bei der Telegrafie ein Regal beanspruchte55 , war zu erwarten gewesen. Hier wird, wie übrigens schon bei der Reyscherschen Analogielösung, eine neue Technik als schon mitgeregelt erklärt, also ein vorhandenes Lösungsmodell einfach übertragen. Damit war aber auch hier eine Entscheidung durch den Gesetzgeber nötig geworden, eine Forderung, die auch im zeitgenössischen Schrifttum erhoben wurde 56 • Denn es kam noch hinzu, daß mit der Ausbreitung der Telefonie wesentlich mehr Leitungen gebraucht wurden und das Netz verzweigter wurde 57 und das Problem eines Enteignungsrechts gelöst werden mußte. Die Lage wurde noch schwieriger, als die zunehmende Zahl der Leitungen auch zu Kollisionen mit anderen elektrischen Anlagen, vor allem den neuen Starkstromanlagen fllhrte 58 : Technikrecht bedeutet auch Lösung der Kollision zwischen mehreren Techniken. Kilger (FN 4), S. 120m. w. Nachw. Dies dürfte auch eine Erklärung daflir sein, daß in der Literatur von Anfang an eine rege Diskussion darüber stattfand, ob es hier nicht im Grunde um das gleiche geht, und daß sich viele Autoren mit dem Verhältnis der Begriffe "Telephonie" und "Telegraphie" auseinandersetzten. Dabei kamen die meisten zu dem Ergebnis. daß die Telephonie zur Telegraphie gehört, oder daß sie zumindest gleichzubehandeln ist. Zu diesem Problem und der Diskussion vgl. näher Kilger (FN 4), S. 102 ff. 54 Kilger (FN 4), S. 106m. w. Nachw. 55 Hierzu Kifger(FN 4), S. 120m. w. Nachw. 56 Meili, Telephonrecht (FN 14), S. 291 ff. 57 Als aber die Telefonie, die im Gegensatz zur Telegrafie fllr die Aufnahme der Nachricht keine Ämter zur Herstellung des Ankunftstelegramms benötigte und sich mit einem besonderen Anschluß beim Empfiinger unmittelbar begnügte, immer weiter anwuchs, mußte das Netz verzweigter werden. Dafl.lr reichten die bisherigen Möglichkeiten (Gelände einer Staatseisenbahn oder Privateisenbahn, die über eine Konzession verpflichtet wurde, oder entlang von Straßenverbindungen) nicht aus. Enteignungsgesetze waren fllr solche Zwecke wenig geeignet. Für die Leitungsflihrung war es nicht notwendig, daß die Telegrafenverwaltung Eigentum an den betreffenden Grundstücken erwarb, sondern es genügte ein entsprechendes Betretungs- und Nutzungsrecht, das billiger war und die Grundstückseigentümer weniger belastete. Vgl. Kifger (FN 4), S. 106 ff. m. w. Nachw. 51 Der Bundesrat legte im Februar 1891 den Entwurf eines Telegrafengesetzes vor, nach dem der Telefon- dem Telegrafenbetrieb gleichgestellt werden sollte, beides sollte zum Reichsmonopol erklärt und Strafen bei Eingriffen in das Monopol angedroht werden. Zu alledem Kifger (FN 4). S. 123 ff. Der Entwurf wurde jedoch allgemein abgelehnt. Eine daraufbin eingesetzte Kommission legte im Mai 1891 ihren Bericht vor und 52 53

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Mit dem Telegrafengesetz vom 6. April 189259 war eine neue Rechtsgrundlage geschaffen. Die von der Vorgeschichte her gesehen wichtigste Einzelvorschrift war der § 1: "Das Recht, Telegraphenanlagen filr die VermitteJung von Nachrichten zu errichten und zu betreiben, steht ausschließlich dem Reich zu. Unter Telegraphenanlagen sind die Fernsprechanlagen mit begriffen." Daraus folgt, daß das Betreiben von Telegrafen- und Fernsprechanlagen durch private Unternehmer eine Verleihung dieses Rechts voraussetzt, die durch den Reichskanzler erfolgt und entweder fiir einzelne Strecken oder Bezirke an Privatunternehmer oder filr den Verkehr innerhalb des Gemeindebezirks erteilt werden kann (§ 2). Genehmigungsfrei waren Telegrafenanlagen filr den internen Gebrauch(§ 3). Sanktionen gegen das unerlaubte Betreiben von Telegrafenanlagen finden sich in den §§ 9-11. Nach § 12 soll derjenige, der durch Anlage oder die später eintretende Änderung der Anlagen die Störung oder die Gefahr einer Störung verursacht, seine Anlage so einrichten, daß eine Störung nicht auftreten kann. Die Rechtswegverweisung zu den ordentlichen Gerichten in § 13 entspricht dem bisherigen Zustand. Nach § 14 erhält das Reich keine weitergehenden als die bisher bestehenden Rechte auf die Verfilgung über fremden Grund und Boden. Keinen Widerspruch zum Regal sah man darin, daß die Post- und Telegrafenverwaltung "zur Förderung des telegraphischen Verkehrs" fiir kürzere Entfernungen Telegrafenleitungen herstellte und an Privatpersonen zu deren eigenem und ausschließlichen Gebrauch mietweise überließ. Insofern kann man auch von "Privattelegraphenanlagen" sprechen60 • Ein Recht der Telegrafenverwaltung auf Herstellung von Linien, war im Telegrafengesetz, insbesondere in Gestalt besonderer Enteignungs- oder gesetzlicher Benutzungsrechte, noch nicht enthalten. Wie schon erwähnt, hatte sich aber mit der zunehmenden Nachfrage nach TelefonanschlOssen die Lage verändert61 • § 12 des Telegrafengesetzes reichte nicht aus. War schon vorher eine Starkstromanlage vorhanden, dann bestand beispielsweise bei den Gemeinden wenig Neigung, Telefonanschlüsse zu erhalten, weil das mit besonderen Kosten verbunden gewesen wäre. Da sich auch die Rechtsprechung sehr zurtickhaltend gegenüber etwaigen Vorrechten der Telegrafenverwaltung aussprach, war eine entsprechende Erempfahl die ursprüngliche Gesetzesvorlage mit einigen Abänderungen zur Annahme. Im Reichstag ist dann der Entwurf beraten und mit wesentlichen Änderungen und Zusätzen versehen worden. · 59 RGBI. 1892, S. 467. Zu den Einzelheiten bei den Beratungen vgl. Kilger, (FN 4) S. 130 ff. 60 Mei/i, Telephonrecht (FN 14), S. 30. 61 Zu diesem und folgenden vgl. Kilger (FN 4), S. 151 ff.

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gänzung des Telegrafengesetzes in Gestalt des Telegrafenwegegesetzes vom 18. Dezember 1899, in Kraft seit dem 1. Januar I 90062 , überfällig geworden. Dort ist in § I die Befugnis der Telegrafenverwaltung festgelegt, "die Verkehrswege fur ihre zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen zu benutzen, soweit nicht dadurch der Gemeingebrauch der Verkehrswege dauernd beschränkt wird", also nicht nur die öffentlichen Wege, Brücken, öffentliche Gewässer nebst deren Ufer, sondern auch der Luftraum und der "Erdkörper". Auch hier wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß unter Telegrafenlinien die "Fernsprechlinien mitbegriffen" sind. Etwaige Kosten und Schäden müssen ersetzt werden (§ 2). Eine dauernde Einschränkung des Gemeingebrauchs nach Errichtung der Linie, der Verhinderung von Unterhaltungsarbeiten oder dem Ausschluß der AusfUhrung einer von den Unterhaltpflichtigen beabsichtigten Änderung des Verkehrswegs, muß die Telegrafenlinie entweder verändert oder gänzlich beseitigt werden. Gegebenenfalls müssen Kosten erstattet oder Schadenersatz geleistet werden. In § 6 ist die Frage der Kollision von späteren mit schon vorhandenen Linien geregelt, in den§§ 7-10 das Verfahren. Von besonderem Gewicht ist § 12, der die Telegrafenverwaltung berechtigt, Telegrafenlinien durch den Luftraum Ober Grundstücke zu fUhren, die keine Verkehrswege sind. In § 13 wird schließlich Verjährungsfrist fur alle Ersatzansprüche festgelegt. Am Schluß finden sich noch Vorschriften über die Verwaltungsgliederung sowie eine Ermächtigung für den Reichskanzler zum Erlaß von Verordnungen.

2. Innerbetriebliche Organisation und grenzüberschreitender Verkehr Zum Recht der Technikermöglichung gehören auch alle jenen Normen, die die innerbetriebliche Organisation eines Telegrafenunternehmens betreffen, ebenso die rechtliche Organisation des grenzüberschreitenden Verkehrs. Die innerbetriebliche Organisation hing in erster Linie davon ab, ob es sich um ein privatbetriebenes Telegrafenunternehmen handelte oder um einen Staatstelegrafen. Im ersten Fall waren es, soweit es nicht ein Einzelunternehmer war, immer Aktiengesellschaften, deren Kapitalbeschaffung, Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle aktienrechtlich organisiert war, und die im übrigen nach dem allgemeinen, jeweils geltenden Recht lebten. Soweit es um die Benutzung geht, ist dies weiter unten zu behandeln. Demgegenüber war der Staatstelegraf eine durch staatlichen Organisationsakt begrUndete- auf solche Verordnungen und Dekrete ist oben hingewiesen worden - und sachlich wie personell ausgestaltete Verwaltungseinheit, die zumeist dem Handels- oder Wirtschaftsministerium unterstellt war, und für deren Personal das allgemeine staatliche Dienst- und Disziplinarrecht anzu62 RGBI. 1899, S. 705. Ausführlich zur Vorgeschichte und Inhalt Kifger (FN 4), S. 153 ff.

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wenden war, durch Sondernormen auch in Gestalt der jeweiligen Telegrafenordnungen ergänzt. Für Eisenbahntelegrafen innerhalb einer Staatseisenbahn galt Entsprechendes. Nach Erlaß der Reichsverfassung wurde der Staatstelegraf zu einer Staatsverkehrsanstalt des Deutschen Reiches mit der Reichstelegrafenverwaltung an der Spitze. Am 1. Januar 1876 wurden die Bereiche Post und Telegrafie zusammengelegt63 • Versteht man unter der praktischen Nutzung der Kommunikationstechnik Telegrafie eine auch wirtschaftlich sinnvolle, dann mußte sie von Anfang an notwendig grenzüberschreitend sein. Die Beispiele von Staaten mit Streubesitz im Deutschen Bund oder die Rolle der Telegrafie innerhalb des Britischen Weltreichs zeigen, daß es auch noch außerökonomische Gründe daflir gab. Deshalb gehören zu den Normen, die die Technik ermöglichen, auch die Instrumente, durch die ein solcher grenzüberschreitender Verkehr nicht nur begründet, sondern auch gesichert werden konnte, in erster Linie also völkerrechtliche Abkommen, ohne die auch der Aufbau anderer internationaler Verkehrsnetze im 19. Jahrhundert nicht denkbar ist. Für die Telegrafie war es in Deutschland der erwähnte, am 25. Juli 1850 zunächst zwischen Preußen, Österreich, Bayern und Sachsen abgeschlossene "Vertrag über die Bildung des Deutsch-Österreichischen Telegraphenvereins"64 • Wesentlicher Inhalt dieses multilateralen Vereinsvertrags, wie auch der folgenden Abkommen, war die gegenseitige Verpflichtung zur Beförderung von Depeschen und die gegenseitige Anerkennung der Berechtigung des Publikums zur Benutzung der Vereinstelegrafen, Gebührenfragen und Regeln über die Abrechnung der einzelnen Telegrafenverwaltungen. Diese Normen wurden dann - wie auch nach dem Revidierten Abkommen von 185765 - jeweils für den innerstaatlichen Verkehr übernommen. Ob dafilr schon die Ratifizierung genügte, wäre im Einzelfall nachzuprüfen66 • Die filr den internationalen Verkehr ebenso wichtigen Überseekabel wurden deshalb als Privatunternehmen, in der Regel in Gestalt von von Aktiengesellschaften gebaut und betrieben, weil ein Staatstelegraf mit den Hoheitsrechten anderer Territorien in Konflikt geraten wäre. Wie die oben skizzierte Entwicklung gezeigt hat, konnten die Staaten dann über Auflagen und Kontrollen ihre Interessen wahren. Wo man ausnahmsweise nicht eine Kabelgesellschaft einsetzte wie bei der Verbindung zwischen dem Deutschen Reich und Norwegen, 63 J. Reind/, Deutsch-Österreichischer Telegraphenverein und die Entwicklung des deutschen Telegraphenwesens 1850-1871, Frankfurt am Main 1993, S. 213. 64 Zeitschrift des Deutsch-Österreichischen Telegraphen-Vereins I, 1854, Heft I, S. I ff. 65 Wo/eire I (FN 2), S. 63 ff. 66 Vgl. hierzu K. 0. Scherner, Die Rheinakten von 1831 und 1868. Die Freiheit der Rheinschiffahrt und das Verhältnis von Integration und Privatrecht um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift flir Europäisches Privatrecht, 1/1997, S. 58 ff., 70

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wurde das Kabel von den beiden beteiligten Staaten auf der Basis eines Abkommens betrieben.

3. Der strafrechtliche Schutz So sehr sich die deutschen Staaten zu Beginn der Entwicklung, also in den vierzigerund ftlnfziger Jahren mit gesetzesförmigen Bekenntnissen zum Telegrafenregal zurückhielten, und das Reich erst spät eine rechtlich klare zulassungsrechtliche Regelung in Gestalt des Staatsmonopols zustande brachte, so selbstverständlich, kompromißlos und prompt wurde der strafrechtliche Schutz ausgestaltet. Das Bedürfnis, die oberirdischen Leitungen zu schützen, die man vorsätzlichen und fahrlässigen Beschädigungen ausgesetzt sah67 , verlangte schnelles Handeln. Nicht nur die herkömmlichen Straftatbestände der Sachbeschädigung, des Diebstahls oder auch des groben Unfugs waren unzureichend, sondern wegen der Gemeingefiihrlichkeit der Störung der Telegrafie auch die vorhandenen Sanktionen68 • Daher gab es schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allen deutschen Staaten Strafbestimmungen gegen Sabotageakte gegen Telegrafenanlagen, entweder sondergesetzlich erlassen oder in das jeweilige allgemeine Strafgesetzbuch aufgenommen. Die erste einschlägige Nonnierung innerhalb des Deutschen Bundes war die preußische Verordnung betreffend die Bestrafung der Vergehen gegen die Telegraphenanstalten vom 15. Juni 184969 • Beispielhaft werden dort in § I Abs. 2 folgende Handlungen genannt: "Handlungen dieser Art sind insbesondere: die Wegnahme, Zerstörung oder Beschädigung der Drahtleitungen, der Apparate und der sonstigen Zubehörungen der Telegraphenanlagen; die Fälschung der durch den Telegraphen gegebenen Zeichen; die Verhinderung der Wiederherstellung einer zerstörten beschädigten Telegraphenanlage; die Verhinderung der Telegraphenoffizianten in ihrem Dienstberufe." Nicht nur Sabotageakte werden also sanktioniert. Strafbar machen können sich nach § 4 darüber hinaus etwa auch Telegrafenbedienstete, die ihre Dienstpflichten verletzen und dadurch die Benutzung der Telegrafenanlagen verhindem oder stören. Die Regelungen dieser Verordnung fanden dann als§§ 296-300 Eingang in das Strafgesetzbuch fllr die preussischen Staaten vom 14. April 1851 70• Auch hier wurden vorsätzliche und fahrlässige Taten erfaßt; ebenso wurde die Erfolgsqualifikation übernommen, falls eine Körperverletzung oder der Tod eines Menschen die Folge waren. Das Großherzogtum Hessen griff zu einem Sondergesetz, dem Gesetz, die den Eisenbahn- oder Telegrafenbetrieb gefiihrdende Verbrechen oder Vergehen 67

0. Dambach, Das Telegraphen-Strafrecht, Der Gerichtssaal, 23 ( 1871 ), S. 243.

Ebd. Gesetz-Sammlung fllr die königlichen preußischen Staaten 1849, Berlin, Nr. 21. 70 C. F. Müller, Das Strafgesetzbuch filr die Preußischen Staaten, Halle/Saale 1852, s. 83 f. 61

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betreffend vom 15. Mai 185271 , während Bayern die Telegrafendelikte mit den Artikeln 358 bis 360 in sein Strafgesetzbuch vom I 0. November 1861 72 auf-

nahm.

Der von Anfang an intensive und von den Tatbeständen her weitgespannte strafrechtliche Schutz des Telegrafenbetriebs, der auch im äußeren Erscheinungsbild, den Rang der Normierung, insbesondere in Gestalt der Aufnahme in die allgemeinen Strafgesetzbücher zum Ausdruck kommt, zeigt, wie hoch auch von Bundesstaaten, die sich auf dem Gebiet der Telegrafie mit Normierungen eher zurückhielten, von Anfang an der ungestörte Nachrichtenverkehr eingeschätzt wurde, auch wenn über Kompetenzfragen wie etwa das Telegrafenregal noch nicht das letzte Wort gesprochen war73 • Das Strafgesetzbuch flir den Norddeutschen Bund von 187074 übernahm die Vorschriften des preußischen Strafgesetzbuchs nahezu wortgleich. Das Telegrafengeheimnis, das hier als neues strafrechtlich geschütztes Gut des Benutzers einer Telegrafenanlage in Frage kommt, taucht als Begriff schon früh auf und wird nach und nach in den Straftatenkatalogen berücksichtigt15• Das Vorbild des Postrechts in Gestalt des Briefgeheimnisses wird hier kurzerhand auf das neue Nachrichtenmittel Telegrafie übertragen Das Briefgeheimnis wiederum wurde von der Sache wie vom Begriff her in der juristischen Literatur seit dem 17. Jahrhundert immer wieder behandelt, während das mittelalterliche Recht weder einen solchen Schutz und schon gar nicht einen entsprechenden Rechtsbegriff kannte, auch noch nicht die frühen Postordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts, die den Schutz immerhin der Sache nach gewährleisteten.76 Strafgesetzbuch flir das Großherzogtum Hessen, Darmstadt 1853. L. Weis, Das Strafgesetzbuch flir das Königreich Bayern, Bd. I, Nördlingen 1863. 73 Von fiskalischer Bedeutung war die strafrechtliche Sanktionierung der Fälschung von Telegraphenwertzeichen, mit denen im voraus Telegraphenleistungen bezahlt werden konnten. Solche Wertzeichen waren erstmals 1864 in Preußen eingeflihrt worden. Obwohl hier mit dem "Betrug" und der .,Urkundenflilschung'' schon herkömmliche Straftatbestände in Frage kamen, griff man hin und wieder zu mehr Wirkung versprechenden sondergesetzlichen Vorschriften. So wurde im Bereich des Norddeutschen Bundes 1869 das "Gesetz betreffend die Einflihrung von Telegraphenfreimarken" erlassen. Darin stellte man in § 2 die Verflilschung dieser Marken unter Strafe, die der Bestrafung der Verfälschung von Postfreimarken entsprach. Dieses Gesetz wurde später im Großherzogtum Hessen übernommen. 74 Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1870, Berlin, Nr. 31 75 So etwa in der erwähnten badischen "Verordnung, die Benutzung der großherzogliehen Telegraphenanstalt betreffend" vom 6. Oktober 1851 (Großherzog). Bad. Regierungsblatt, 185 I, S. 643 ff.), als Überschrift des § 25: "Bewahrung des Telegraphengeheimnisses" hierzu Scherner, Innovation und Recht (FN 23), S. 44 ff. 76 Vgl. hierzu Scherner, Innovation und Recht (FN 23), S. 45 mit weiteren Nachweisen. Während man einmal das "Telegraphengeheimnis" zum Anlaß nahm, den "Telegraphenbeamten" eine lebenslängliche Geheimhaltungspflicht aufzuerlegen, wurde im 71

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Daß es um den Schutz der Nachrichtentechnik selbst ging und nicht um den Schutz der staatlich betriebenen, zeigt sich nicht nur daran, daß in den Strafvorschriften keine Beschränkung auf die Staatstelegrafie findet, sondern auch daran, daß nach dem internationalen Vertrag zum Schutz der unterseeischen Telegrafenkabel vom 14.3.1884 auch diese Anlagen strafrechtlichen Schutz genießen sollten77 . Einen Verstoß gegen das Telegrafenregal selbst konnten dagegen nur die Staaten sanktionieren, die ausdrücklich das Telegrafenregal beansprucht hatten, wie Sachsen, wo das unerlaubte Betreiben einer Telegrafenanlage mit Geldbuße oder Gefängnisstrafe geahndet wurde 78 • Im 1871 erlassenen Strafgesetzbuch fiir das Deutsche Reich, das am 1.1.1872 in Kraft trat und inhaltlich eine Übernahme des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund darstellte, ist im wesentlichen der genannte strafrechtliche Schutz erhalten geblieben und im Hinblick auf Sabotageakte gegen Telegrafenanlagen sogar noch etwas verschärft worden.

4. Die Regelung des Benutzungsverhältnisses Was beim Betrieb eines Telegrafen durch private Gesellschaften sozusagen schon durch den ökonomischen Anlaß bedingt war, ist bei der frühzeitigen Öffuung der Staatstelegrafie fiir das Publikum auch dort nötig geworden: eine praktikable Regelung der Benutzung. In beiden Fällen ging es um eine neuartige entgeltliche Dienstleistung, flir deren Regelung individuelle Vertragsgestalrungen naturgemäß unökonomisch gewesen wären. Auch die bloße Anwendung des allgemeinen Rechts- hier wäre das jeweils geltende allgemeine Privatrecht, genau genommen Werkvertragsrecht, gegebenenfalls auch römisch-gemeines Strafgesetzbuch fiir das Königreich Bayern von 1861 in Art. 387 Abs. 3 die Bestrafung von Telegrafenbearnten, die das Postgeheimnis verletzen, geregelt, wobei im Hinblick auf das Strafmaß auf die Verletzung des Briefgeheimnisses verwiesen wird. Art. 387 Abs. 3 lautet: "Gleicher Strafe unterliegen Telegrafenbearnte, welche die der Telegrafenanstalt zur Beförderung anvertrauten Depeschen den Berechtigten vorenthalten, entziehen, oder dieselben widerrechtliche einem anderen mitteilen". Im schon erwähnten Strafgesetzbuch fiir die preußischen Staaten von 1851 war in§ 328 zwar die Verletzung des Briefgeheimnisses durch Postbeamte geregelt, nicht jedoch eine Verletzung des Telegrafengeheimnisses. Dagegen war im Strafgesetzbuch fllr den Norddeutschen Bund von 1870 (§ 355), die Verletzung des Telegrafengeheimnisses durch Telegrafenbeamte ausdrücklich unter Strafe gestellt. Diese Neuerung wurde in den Motiven mit den gleichen Erwägungen wie die Bestrafung des Postbeamten wegen Verletzung des Briefgeheimnisses begründet, vgl. R. Höninghaus (Hrsg.), Das neue Strafgesetzbuch flir den Norddeutschen Bund mit den vollständigen amtlichen Motiven, Berlin 1870, S. 219. 77 Kilger (FN 4), S. 113. 78 Gesetz Nr. 82, die Anlegung und Benutzung elektromagnetischer Telegraphen betreffend, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, 18. Stück, 1855; eine ähnliche französische Verordnung galt im späteren Elsaß-Lothringen, s. Dambach, Das Telegraphen-Strafrecht nach der deutschen Gesetzgebung, Berlin 1897, S. 4.

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Recht heranzuziehen gewesen - wollte man nicht riskieren. So griff man zu Reglements, Benutzungsordnungen ("Telegrafenordnungen"), in denen alles fUr die Dienstleistung Nötige wie in einem Gesetz geregelt war, aber auch Punkte, die nicht unmittelbar die vertraglichen Pflichten der Telegrafenanstalt einerseits und des Benutzers andererseits betrafen, sondern etwa dienstliche Pflichten des Telegrafenpersonals, aber auch das Recht des Telegrafenbüros, Privatdepeschen mit gesetzwidrigem oder sittenwidrigem Inhalt einzuziehen. Die einzelnen Bestimmungen sollen hier nicht näher dargestellt werden79 • Wichtig sind - fiir die Frage der Wirkung der Telegrafie auf das Recht - vor allem drei Punkte: einmal eine Festlegung zusätzlicher Rechtspositionen fllr das Publikum in den Staatstelegrafenordnungen, zum anderen die Art und Weise der Regelung im Verhältnis zum übrigen geltenden Privatrecht (einschließlich der Vereinheitlichung) und schließlich die Frage der· Haftung und des Haftungsrisikos bei Falschübermittlung. Was die Art und Weise der Regelung der Benutzung angeht, so waren die erwähnten Telegrafenordnungen keine singuläre Erscheinung: genormte Spezialregelungen, auf die besondere Art der Dienstleistung zugeschnitten. Wir finden solche Reglements zur gleichen Zeit im Eisenbahnrecht, aber auch etwa im Binnenschiffahrtsrecht, ganz abgesehen vom traditionellen Postrecht Je nachdem, ob es die Dienstleistung eines Privatunternehmens ist oder, wie diese hier, in staatlicher Regie erbracht wird, handelt es sich dann um allgemeine Geschäftsbedingungen oder um eine an sich öffentlich-rechtliche Benutzungsordnung. Allerdings hat man auch hier die Benutzung als privatrechtliches Verhältnis gesehen, fiir das die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständig ist. Damit hat auch die Nachrichtentechnik Telegrafie als Dienstleistungsangebot für das gesamte Publikum zur zunehmenden Sonderrechtsbildung im 19. Jahrhundert beigetragen. Die Normierung war aber auch deswegen nötig, weil die Telegrafie nahezu von Anfang an grenzüberschreitend eingerichtet worden ist und eine gewisse Vereinheitlichung von Benutzungsordnungen sehr früh eingetreten ist. Sieht man einmal von den Bemühungen der damaligen Rechtswissenschaft um die rechtliche Einordnung vor allem telegrafischer Erklärungen und der telegrafisch abgeschlossenen Rechtsgeschäfte überhaupt ab80, dann ist frühzeitig durch Benutzungsordnungen das Privatrecht inhaltlich in zweierlei Hinsicht zugunsten des Benutzers verändert worden. Damit ist einmal das gemeint, was in einer frühen Regelung im preußischen "Regulativ über die Benutzung der elektromagnetischen Staatstelegrafen seitens des Publikums" von I 849 wie folgt bezeichnet wird: "Die Benutzung des Telegrafen steht jedermann ohne Ausnahme zu." In dieser frühen Phase schon von einem Kontrahierungszwang Hierzu näher Scherner, Innovation und Recht (FN 23), S. 43 ff. Zu den privatrechtliehen Folgen wohl am ausführlichsten Meili, TelegraphenRecht (FN 14), S. 21 ff., 39 ff.; ders., Telephonrecht (FN 14), S. 174 ff., 198 ff. 79

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zu sprechen, wäre voreilig; eine einklagbare Selbstverpflichtung des Staates war damit sicher nicht gewollt. Mit Sicherheit wurde aber durchaus ein Kontrahierungszwang im heutigen Sinne durch das Telegrafengesetz von 1892 geschaffen, wo ausdrücklich von einer Verpflichtung die Rede ist81 • Auch der Kontrahierungszwang paßt in das Gesamtbild des damaligen Verkehrsrechts, wo man ihn schon bei der Post und auch bei der Eisenbahn antreffen kann. Eine zweite, ebenso beachtenswerte Folge der Telegrafie für den Benutzer ist die Normierung des Telegrafengeheimnisses. Mit dessen Stratbewehrung und der damit einhergehenden Erweiterung des allgemeinen Deliktskatalogs wird auch über den Weg des privatrechtliehen deliktischen Schutzes der Schutzbereich der Person erweitert. Die Telegrafenordnungen haben aber schon von Anfang an auch eine Bestimmung enthalten, die für den Benutzer außerordentlich nachteilig war. In der badischen Verordnung aus dem Jahr 1851 lautet das so (§ 26): "Die Telegraphenverwaltung übernimmt weder für die richtige Überkunft einer Depesche überhaupt, noch fiir deren Überkunft in einer gewissen Zeit irgendwie Garantie", ein Satz, der nahezu gleichlautend in jeder Telegrafenordnung zu finden ist. Es geht hier um einen völligen Haftungsausschluß fiir Falschübermittlung oder verspätete Übermittlung, der im damaligen Verkehrsrecht immer wieder versucht worden ist. Bei der Eisenbahn war es spätestens dann mißlungen, als der Gesetzgeber mit dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 dazu Stellung genommen hatte und einen Ausschluß bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit fiir unbeachtlich erklärte. In anderen Bereichen kam es zu einer unabhängigen Haftung mit Summenbeschränkung. Die Rechtswissenschaft hat frühzeitig gegen diesen sogenannten "Garantieausschluß" im Telegrafenrecht Stellung genommen und sich auf den genannten gemeinrechtlichen Satz bezogen, der auch in das französische und preußische Recht übernommen worden war und der heute noch in Gestalt des § 276 Abs. 2 BGB stark eingeschränkt gilt. Da es sich um einen allgemeinen Grundsatz handele, seien totale HaftungsausschlUsse nicht zu beachten82 • Dieser Widerstand war aber ohne Erfolg. Als im Telegrafengesetz der Haftungsausschluß wiederholt worden ist, war spätestens zu diesem Zeitpunkt diese Frage entschieden. Damit ist ftir die Telegrafie neben der genannten postrechtlichen Regelung eine einzigartige Privilegierung im System des Haftungsrechts durchgesetzt worden. 1954 hat der Bundesgerichtshof die entsprechende, damals geltende Regelung für nicht verfassungswidrig, d. h. nicht gegen Art. 34 GG verstoßend erklärt und dies damit

81 Ein Überblick über die Diskussion in den achtziger Jahren bei Meili, Telephonrecht (FN 14), S. 152 ff. 82 Vgl. hierzu Scherner, Innovation und Recht (FN 23), S. 52 ff.

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gerechtfertigt, daß sonst die Kosten der Nachrichtenübermittlung zu hoch würden83. Diese Entwicklung des Haftungsausschlusses hat zu einer weiteren Änderung des allgemeinen Privatrechts gefllhrt, die sich dann auch im BGB niedergeschlagen hat. Da der Schaden aus einer Falschübermittlung außerordentlich hoch sein konnte, beispielsweise bei telegrafisch abgeschlossenen Rechtsgeschäften im Finanzbereich, bedeutete der Haftungsausschluß eine empfindliche Einschränkung der Rechtsposition der Benutzer. Umso wichtiger wurde damit die Frage, wer dann unter den beiden Partnern der Nachrichtenübermittlung das Risiko zu tragen hatte. Nach dem bisherigen gemeinen Botenrecht war dem Boten nicht zu trauen, so daß das Risiko der Empflinger hätte tragen müssen. Das war hier aber offenkundig nicht sachgerecht, so daß man schließlich nach langer Diskussion, innerhalb derer beispielsweise von Ihering vorgeschlagen worden war, dies als ein Fall der culpa in contrahendo zu betrachten, das Risiko der Falschübermittlung dem Absender anlastete. In den Beratungen zum künftigen Bürgerlichen Gesetzbuch wurde das berücksichtigt. Das Ergebnis ist der § 122 i. V. m. § 120 BGB, nach dem der Erklärende daf\lr haftet, daß der Bote eine Nachricht nicht richtig übermittelt, dergestalt, daß er f\lr den Vertrauensschaden haftet, wenn er das Rechtsgeschäft angefochten hat, ohne daß ihm hier eine Regreßmöglichkeit bleibt84 •

IV. Zum Verhältnis von Technik und Recht bei der Entwicklung der Telegrafie im 19. Jahrhundert Beeinflußt nun das Recht die Entwicklung von Technik, reagiert das Recht auf Entwicklungen der Technik, war das Recht eine Hemmnis der Technik oder hat es sie ermöglicht oder gar gefördert? Ich hoffe, auf jede dieser das Kolloquium beherrschenden Fragen aus der Entwicklung der Telegrafie im 19. Jahrhundert Anworten gegeben zu haben, wobei ich mich weitgehend auf die Verhältnisse in Deutschland beschränkt habe. Die Antworten sollen hier kurz zusammengefaßt werden. Beginnen wir mit der Zulassung der Technik "Telegrafie". Nicht nur in der Versuchsphase, sondern auch im Hinblick auf die praktische Anwendung der Telegrafie sind dem alten, damals bestehenden Recht keinerlei Einwendungen gegen diese neue Technik zu entnehmen. Der Telegrafenbetrieb als solcher fiel nicht nur durch die Maschen des Polizeirechts - eine konkrete polizeiliche Gefahr ist, wenn überhaupt erörtert, dann verneint worden -, sondern auch nach den Kriterien des Gewerberechts waren von Anfang an keine Schranken ersichtlich, so daß man sagen kann, daß sich die neue Technik zunächst in einem rechtlichen Freiraum bewegt hat. Zulassungsbe83 BGHZ 12, 89 ff., 91. 84 Vgl. hierzu Scherner, Innovation und Recht (FN 23), S. 55.

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schränkungen konnten überhaupt nur durch neues Recht entstehen. Dies war dann auch- wie wir gesehen haben- in der Weise der Fall, als man mit der Behauptung und der späteren gesetzlichen Absicherung eines Telegrafenregals eine Zulassungsbeschränkung im Sinn eines Staatsmonopols neu schuf. Maßgeblich filr diese von der Privatwirtschaft lange bekämpfte, im übrigen auch von der Rechtsprechung anfangs nicht akzeptierte Beschränkung waren nicht etwa wie heutzutage naturwissenschaftliche Folgen im Sinn ökologischer Gefahren, sondern politische und schließlich auch ökonomische Überlegungen, die man mit der Anwendung der Technik verband. Daß das Telegrafenregal nur ein rechtliches Argument fur eine aus anderen Gründen in ganz Europa getroffenen politischen Entscheidung war, ergibt sich schon aus der Selbstverständlichkeit, daß es ein Telegrafenregal hatte gar nicht geben können. Das Telegrafenregal ist ein, wie es dann auch von der Wissenschaft und der Rechtsprechung so gesehen wurde, altes wiederverwendetes Instrument, das gesetzlichen Absicherung bedurfte, jedenfalls im deutschen Reich. Diese Argumente könnte allenfalls insofern als rechtspolitisch legitim genannt werden, als es sich hier aus der Nähe zu ähnlichen Nachrichteneinrichtungen der Post als schon vorhandenes Verkehrsmittel nahelag, die neue Technik Telegrafie genauso zu behandeln, also als StaatsmonopoL Mit der Einordnung als Regal waren dann, wie wir gesehen haben, gewerbepolizeiliche Überlegungen gegenstandslos geworden. Alte Rechte sind den äußeren Umständen nach erst in einer späteren Phase tangiert worden, als es bei der Einrichtung des Telefonnetzes darum ging, ob und inwieweit Leitungsrechte geschaffen werden müssen, um in Eigentumsrechte eingreifen zu können. Daß das entscheidende Kriterium fiir die Zulassungsbeschränkung nicht Umweltbeeinträchtigungen oder die Wahrung privater Schutzbereiche waren, hängt jedoch nicht nur mit der relativen Harmlosigkeit der Telegrafie auf diesen Gebieten zusammen, sondern ist zeittypisch. Auch in anderen Bereichen, wie etwa bei der Eisenbahn, standen ökonomische oder politische Überlegungen im Vordergrund, und nur in Extremfallen, wie etwa im Hinblick auf den Transport geflihrlicher Güter, hat man -etwa im Binnenschiffahrtsrecht- einschränkende Normen gesetzt. All das ist immer vor dem Hintergrund einer äußerst technikfreundlichen Periode der deutschen Geschichte zu sehen, jedenfalls aus der Perspektive der damals politisch maßgeblichen Kreise. Vom Telegrafenregal abgesehen kann man die weiteren Veränderungen des Rechts nahezu ausnahmslos als technikfOrdernd bezeichnen. Deutlich zeigt sich dies am sehr früh einsetzenden strafrechtlichen Schutz, bei dem es weniger um den Schutz des Telegrafenregals als vielmehr vorwiegend um den Schutz des ungeflihrdeten technischen Ablaufs, aber auch den Schutz der Nutzer in Gestalt des Telegrafengeheimnisses geht. Dieses Ziel ist noch abgesichert worden durch das jeweilige Organisations- und Dienstrecht und schließlich auch in Gestalt der Organisation des grenzüberschreitenden Verkehrs. In allen diesen

Telegrafenverkehr und Technikrecht im 19. Jahrhundert

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Fällen war neues, bisher nicht vorhandenes Recht notwendig. Soweit es um den Staatstelegrafen geht, war dazu der Neuaufbau einer betrieblichen Organisation, verwirklicht durch innerstaatliche Gesetz- und Verordnungsgebung erforderlich und ein grenzüberschreitender Verkehr auf der Basis des Völkerrechts über internationale Abkommen. Eine besondere Wirkung der Telegrafie wie übrigens auch anderer Massenverkehrsmittel jener Zeit war der- sozusagen auf technischen ökonomischen Gründen begründete - Zwang zu einem transnationalen Einheitsrecht Dieses eine neue Technik absichernde und fördernde Recht hat nicht nur quantitativ die Masse des objektiven Rechts erweitert, sondern hat dieses auch um charakteristische neue Formen bereichert, wenn man an die Benutzungsordnungen denkt, im Bereich der staatlichen Telegrafie an die Schaffung eines Staatsunternehmens, das gleichzeitig in ein übernationales Verkehrsnetz integriert ist. Auch dort, wo die neue Technik auf die Rechtsordnung in ihren traditionellen Formen einwirkt, wie z. B. bei der Erweiterung des Straftatenkatalogs wird der vom Bürger geforderte Verhaltenscodex erweitert. Die Technik schafft zwar neue Gefahren, aber das Recht reagiert mit einem spezifischen Schutz, denkt man an das Telegrafengeheimnis. Im Bereich des Zivilrechts hat der Einsatz der Technik Telegrafie nicht nur die Haftung des Absenders einer Nachricht im Sinne der §§ 120, 122 BGB abweichend vom alten Recht geschaffen, die Billigung des Haftungsausschlusses des Telegrafenunternehmens bei fehlerhafter Übermittlung hat indirekt die Technikanwendung auf eine einzigartige Weise gefördert, indem er sie entscheidend verbilligt hat.

Rundfunk und Kommunikationsrecht im 20. Jahrhundert: Etappen der Rechtsentwicklung und die digitale Herausforderung Von Bernd Holznagel I. Einleitung Das Rundfunkrecht hat im Bereich der Juristerei den Ruf einer Geheimwissenschaft. Verwaltungsrecht vernetzt sich in besonderer Weise mit dem Verfassungsrecht und der Politik. Komplizierte Aufsichtsstrukturen und eine atypische Interpretation des einschlägigen Grundrechts erschweren selbst fiir erfahrenere Juristen den Zugang. Nicht zuletzt deswegen wird es heute von vielen als Hindernis filr die Einfiihrung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und deren ökonomische Nutzung angesehen. Erst auf dem letzten nordrhein-westfiilischen Medienforum hat Bertelsmann-Chef Middelhoff fiir eine weitgehende Deregulierung des Rundfunksektors plädiert. Statt öffentlich-rechtlicher Regulierung solle der Staat vielmehr auf die Selbstregulierung der Veranstalter und das allgemeine Wirtschafts- und Zivilrecht setzen 1• Zum Teil läßt sich inzwischen eine Art Rechtsnihilismus feststellen. Es wird uns über kurz oder lang die "Cyberanarchy" vorausgesagt, da das nationale Recht - sei es nun öffentlich-rechtlich oder zivilrechtlich geprägt- aufgrund der Globalisierungstendenzen ohnehin jegliche Steuerungskraft verliere2 • Diese Sichtweise wird zunehmend von der Politik aufgegriffen. Der Abbau des angeblich technikhemmenden Rechts wird so zum Element der Standortpolitik. Was liegt also näher, als dem Verhältnis von Recht und Technik im Rundfunk und Mediensektor nachzuspüren! Der erste Teil dieses Beitrags will die Etappen der Rundfunkrechtsentwicklung nachzeichnen und ihrer Wirkung auf die Technik nachgehen. Daran anknilpfend sollen die Herausforderungen untersucht werden, der sich das Rundfunkrecht aufgrund der explodierenden Digitaltechnik ausgesetzt sieht. Es gilt darzulegen, daß sich hierdurch das Verhältnis von Recht und Technik im Rundfunksektor zwangsläufig verändern wird. 1 Die Rede ist abrufbar unter: http://www.bertelsmann.de/deutsch/news/reden (Stand: 19.8.1999). 2 Zu den Defiziten dieser Argumentation s. instruktiv Goldsmith, Against Cyberanarchy, The University ofChicago Law Review 1998, S. 1199 ff.

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Bernd Holznagel II. Etappen der Rundfunkrechtsentwicklung 1. Anfangsphase: Von ersten privaten Initiativen zur Errichtung eines staatlichen Rundfunkmonopols

a) Der technische Ursprung Rundfunk ist die Veranstaltung und Verbreitung von Darbietungen aller Art in Wort, in Ton und in Bild unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen für die Allgemeinheif. Seine technischen Grundlagen sind bereits im letzten Jahrhundert gelegt worden. Es war Heinrich Hertz, der auf Basis der theoretischen Vorarbeiten des englischen Physikers Maxwell durch Funkentladungen erstmals im Jahre 1888 längere elektromagnetische Schwingungen experimentell erzeugte. Der italienische Forscher Guglielmo Marconi konnte ihren praktischen Nutzen zur Nachrichtenübermittlung 1896 in England demonstrieren. Noch im gleichen Jahr gelang es Slaby und seinem Assistenten Graf von Arco, die drahtlose Telegraphie in Deutschland einzufiihren. In den Folgejahren konnte die Reichweite der Funkanlagen und die Qualität der Übertragungen Schritt fiir Schritt gesteigert werden4 • Noch vollzog sich all das ungestört durch die Juristen. Eine entscheidende Entwicklung der Funktechnik gelang dann aber mit der Erfindung der Elektronenröhre5. Erste Experimente mit Röhrensendem und Rückkoppelungsempfangern wurden mit militärischer Zielsetzung an der deutschen Westfront 1917 durchgefiihrt. In technischer Hinsicht waren diese Versuche der Ausgangspunkt für die moderne Rundfunkentwicklung in Deutschland. Nun hatte die neue Erfindung ein militärisches EinsatzpotentiaL Und dies dürfte den Gesetzgeber dazu bewogen haben, den Betrieb von Funkanlagen unter einen Genehmigungsvorbehalt zu stellen. Die Funkgesetznovelle von 1908, die das Reichstelegraphengesetz von 1892 erneuerte, und den Entwicklungen auf dem Gebiet des deutschen Funkwesens Rechnung tragen sollte, bestimmt in § 3: "Elektrische Telegraphenanlagen, welche ohne metallische Leitungen Nachrichten vermitteln, dürfen nur mit Genehmigung des Reiches errichtet oder betrieben werden."

So die Legaldefinition in§ 2 Abs. I S. I Rundfunkstaatsvertrag (RStV). Matzen, Chronik des Hörfunks und Fernsehens in Deutschland. in: Hans-Bredowlnstitut (Hrsg.), Internationales Handbuch flir Hörfunk und Fernsehen 1998/99. BadenBaden!Hamburg, 1998, S. 222. 5 Die 1913 von Rukop aus der Verstärkerröhre von R. v. Lieben und dem .,Audion" von L. de Forest entwickelt wurde, s. Brockhaus-Enzyklopädie, 6. Band, Leipzig/Mannheim, 1997, S. 282. 3

4

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b) Aufbau eines allgemeinen Unterhaltungshörfunks Zu bremsen war die Technik dadurch nicht. Sie sollte auch gar nicht gebremst werden. Der Aufbau eines allgemeinen "Unterhaltungshörfunks" ist unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg von der Deutschen Reichspost initiiert und unter der Leitung ihres Staatssekretärs Hans Bredow zielstrebig vorangetrieben worden6 • Da es der Reichspostaufgrund der staatlichen Finanzkrise unmöglich war, ihr Vorhaben eigenständig zu fmanzieren, bemühte sich Bredow flühzeitig um eine Beteiligung kapitalkräftiger privater Interessengruppen7• Zu diesem Zweck wurden neun regionale Rundfunkgesellschaften des privaten Rechts gegründet. Die Gesellschaften hatten die Aufgabe, Rundfunkprogramme herzustellen, die mittels posteigener Anlagen aufgenommen und ausgestrahlt werden sollten. Die Berliner "Radio Stunde AG" nahm im November 1923 den ersten regelmäßigen Hörfunkprogrammdienst in Deutschland auf. Damit konnte Deutschland an die internationale Entwicklung anschließen, denn in Frankreich, Großbritannien und den USA waren ähnliche Vorhaben mit einem Vorlaufvon zwei bis drei Jahren durchgefuhrt worden. Der Staat und seine ihn tragenden Gruppen und Parteien waren sich von vomherein darüber einig, daß mit Hilfe des neuen Massenmediums "Hörfunk" die politische Willensbildung in der Bevölkerung erheblich beeinflußt werden konnte. Auch in Deutschland wußte man, im Falle einer Revolution müssten zuerst die Bahnhöfe und die Rundfunkanstalten besetzt werden. Da die neue Technik aber von privaten Programmgesellschaften genutzt wurde, bemühte man sich staatlicherseits darum, wenigstens einen gewissen Einfluß auf die Programmgestaltung sicherzustellen. Dies geschah durch Recht, durch Richtlinien nämlich, die den Genehmigungen beigefugt waren und in denen die Bedingungen der Techniknutzung im einzelnen geregelt waren9 • Für die besonders meinungsbildenden Informationsprogramme wurde vorgeschrieben, daß nur solche Sendungen verbreitet werden dürften, die von der Nachrichtenstelle "Drahtloser Dienst AG fur Buch

6 von Heister, 30 Jahre Königswusterhausen, in: Hans-Bredow-1nstitut (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen 1948-1989, Baden-Baden 1990, S. 25 ff.; Lerg, Funk und Presse 1919 bis 1924. in: ebd .. S. 30 ff.; Bredow, Meine ersten Rundfunkerlebnisse, in: ebd., S. 17 ff. 7 Pohle, Der Rundfunk als Instrument der Politik, Harnburg 1995, S. 27 ff.; Lerg, Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, München 1980, S. 247; Böckenförde/Wieland, Die ..Rundfunkfreiheit"- ein Grundrecht?, AfP 1982, S. 80. 8 Herrmann, 60 Jahre Rundfunkrecht Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht, Sonderdruck aus Band 9711984, Bern 1984, S. 3; Fessmann, Rundfunk und Rundfunkrecht in der Weimarer Republik. Beiträge zur Geschichte des deutschen Rundfunkrechts, Band 4, Frankfurt 1973, S. 19. 9 Hierzu BVerfGE 12, 205 (208, 232); Wieland, Die Freiheit des Rundfunks, Berlin 1984, S. 111 f. ; Fessmann (FN 8), S. 73.

9 Kloepfer

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und Presse" zugeliefert werden 10• Diese Gesellschaft befand sich mehrheitlich im Eigentum des Reichsinnenministeriums. Zudem wurde ein politischer Überwachungsausschuß eingesetzt, in dem Repräsentanten des Reichs und der Länder vertreten waren 11 • Der Ausschuß hatte über alle mit der Programmgestaltung zusammenhängenden politischen Fragen zu entscheiden. Über die Zulässigkeit programmlicher Darbietungen auf dem Gebiet von Kunst, Wissenschaft und Volksbildung befand ein Kulturbeirat 12, dessen Mitglieder von der zuständigen Landesregierung im Benehmen mit dem Reichsinnenministerium berufen wurden. In dieser komplizierten "Kontrollstruktur'' trifft man bereits in dieser frühen Phase des Rundfunkrechts - wenn man es denn schon so nennen möchte - auf das Problem der föderativen Staatsorganisation. So hatten auch die Richtlinien die Funktion, einen offenen Konflikt um die Zuständigkeit im Rundfunkwesen zu vermeiden, der sich mit dem wachsenden Einfluß des Hörfunks auf die öffentliche Meinungsbildung zuspitzte. Die Länder leiteten ihre Regelungskompetenz aus der ihnen zustehenden Kulturhoheit ab, währenddessen das Reich auf seine Funkhoheit verwies. Diese Konstellation wird den Rundfunk- und TK-Rechtlem von heute sehr bekannt vorkommen. Heißt es doch in Art. 73 des Grundgesetzes, daß das Post- und Telekommunikationswesen der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes unterliegt, während bekanntlich auch im Nachkriegsdeutschland die Kultur Ländersache ist. Mit der wachsenden Krise der Weimarer Republik wuchs der staatliche Druck auf das neue Medium. Durch die "Leitsätze fiir eine Neuordnung des Rundfunks" aus dem Jahre 1932 13 wurde der Hörfunk zu einem Staatsrundfunk weiterentwickelt. Die Vorschriften waren durch die Reichsregierung geprägt, die die neue Technik für ihre politischen Interessen direkt einsetzen wollte. Der Hörfunk sollte zukünftig als ihr Sprachrohr genutzt und damit die Bevölkerung im Sinne der herrschenden Sichtweise beeinflußt werden. Die Reichspost, die sich traditionell um eine gewisse Unabhängigkeit des neuen Mediums von parteipolitischen Interessen bemühte, konnte ihre Vorstellungen in der Schlußphase der Weimarer Republik nicht mehr durchsetzen. Die noch in privater Hand befindlichen Anteile der Reichsrundfunkgesellschaft und der Programmgesellschaften wurden auf das Reich und die Länder übertragen und damit ein staatliches Rundfunkmonopol errichtet. Zudem durfte das Reichsin10 BVerfGE 12, 205 (232); Halefeldt, Das erste Medium flir alle? Erwartungen an den Hörfunk bei seiner Einführung in Deutschland, in: Hans-Bredow-lnstitut (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen 1948-1989, Baden-Baden 1990, S. 45 f.; Lerg (FN 7), S. 249. 11 BVerfGE 12, 205 (233); Lerg (FN 7), S. 372 tf.; Gabriel-Bräutigam, Rundfunkkompetenz und Rundfunkfreiheit, Baden-Baden 1990, S. 68 f. 12 Gel/ner, Ordnungspolitik im Fernsehwesen: Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien, Frankfurt!Bern!New York 1990, S. 30; Fessmann (FN 8), S. 66. 13 Hierzu Wieland (FN 9), S. 114 ff.; Fessmann (FN 8), S. 74 ff., 82 ff.; Pohle

(FN 7), S. 118 ff.

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nenministerium einen Reichsrundfunkkommissar einsetzen, der nun ausschließlich fiir die Programmgestaltung zuständig war. Für die regionalen Programmgesellschaften wurden ebenfalls Rundfunkkommissare eingesetzt, die vom Land ernannt wurden und der Weisungsbefugnis des Reichsrundfunkkommissars unterworfen waren. 2. Rundfunk als Propagandainstrument der Nationalsozialisten

Damit war der Weg bereitet fiir die vollständige Instrumentalisierung des Rundfunks durch die Politik. Die Nationalsozialisten begannen sofort nach ihrer Machtergreifung, den Rundfunk systematisch für ihre Propagandazwecke zu nutzen 14 • Das neugeschaffene Reichsministerium fiir Volksautklärung und Propaganda unter Joseph Göbbels erhielt durch Verordnung vom 13. März 1933 alle programmbezogenen Zuständigkeiten, die zuvor das Reichsinnenministerium und die Reichspost innehatten15 • Um eine zentrale Steuerung des Rundfunkwesens zu ermöglichen, übertrugen nun auch die Länder ihre Geschäftsanteile an den regionalen Programmgesellschaften auf die Reichsrundfunkgesellschaft. Damit entstanden regionale Reichssender, die als Zweigstellen der Reichsrundfunkgesellschaft fmnierten 16• Um ein Ausweichen auf ausländische Radiosendungen zu erschweren, trieb das Ministerium die Entwicklung und spätere Vermarktung eines kostengünstigen "Volksempfl!ngers" ohne Kurzwellenteil voran 17 • Im Zweiten Weltkrieg war zudem das Abhören der sogenannten "Feindsender" verboten und mit Strafe bedroht. Das Primat der Politik war vollständig. Technologische Entwicklungen fiihrten nicht zu einer Veränderung der Rundfunkpolitik. Vielmehr wurde das Fernsehen, mit dem seit Mitte der 30er Jahre im Rahmen eines Pilotprojektes experimentiert wurde, sogleich in die Propagandamaschinerie des Dritten Reichs eingebunden. 3. Aufbau eines staatsfreien undföderalen öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Nachkriegszeit

Mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs ging die Rundfunkhoheitauf die alliierten Siegermächte über18 • Die Alliierten nutzten die noch 14 BVerfGE 12, 205 (210); Diller, Rundfunkpolitik im Dritten Reich, in: Bausch (Hrsg.), Rundfunk in Deutschland, Band 2, München 1980, S. 56 ff. 15 Poh/e, Wollen und Wirklichkeit des deutschen Fernsehens bis 1943, in: HansBredow-Institut (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen 1948-1989, Baden-Baden 1990, S. 92 ff.; Diller (FN 14), S. 76 ff. 16 Diller (FN 14), S. 93 ff. 17 Herrmann (FN 8), S. 13. 18 Bausch, Rundfunkpolitik nach 1945, Erster Teil, in: ders. (Hrsg.), Rundfunk in Deutschland, Band 3, München 1980, S. 13 ff.

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funktionstüchtigen Sendeanlagen zunächst als Soldatensender. Deutschen war in dieser Zeit die Aufnahme jeglicher Rundfunktätigkeiten untersagt. Bald darauf wurden jedoch Programme fiir die deutsche Bevölkerung ausgestrahlt. Diese Initiativen waren von dem Ziel getragen, das demokratisches Gedankengut zu verbreiten und die Bürger "umzuerziehen". Dieser paternalistische Ansatz ist durchaus typisch fur die ersten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte des deutschen Rundfunks. Die westlichen Alliierten, die Träger der Reorganisation des deutschen Medienwesens, hatten ein primär funktionales Verständnis von Rundfunk. Sie verfolgten vorrangig das Ziel, den Rundfimk filr den Aufbau einer demokratischen Gesellschaftsordnung zu nutzen. Und dabei kam es nach ihrem Verständnis vor allem darauf an, die Strukturen aus der Zeit der Diktatur zu zerschlagen. Bei der Wahl der Organisationsform orientierten sich die Besatzungsmächtewas sonst hätte nähergelegen - an den in ihren Heimatländern gebräuchlichen Organisationsmodellen 19• Die Amerikaner mußten jedoch bald einsehen, daß der in den USA vorherrschende, kommerziell betriebene Rundfunk in Deutschland zu dieser Zeit keine ökonomischen Realisierungschancen besaß. Sie begannen daher, ihre rundfunkpolitischen Überlegungen- wie die Briten'- am Vorbild der British Broadcasting Corporation (BBC) auszurichten. Diese Vorgehensweise trafauch in der französischen Besatzungszone auf Zustimmung, da die in Frankreich bestehende enge Verflechtung zwischen Rundfunk und Staat der deutschen Situation gerade nicht angemessen war. Die Erfahrungen mit dem zentralistischen Staats- und Propagandafunk der NSDiktatur haben dem Rundfunkrecht drei wesentliche Strukturprinzipien beschert, an denen die Rechtsordnung bis heute festhält - es gilt zu verhindern, daß die Massenmedien von der Regierung oder den sie tragenden Parteien beherrscht werden20, der Rundfunk muß staatsfrei sein und eine dezentrale Struktur aufweisen. Das Recht wird somit eingesetzt, um bestimmte, typische Risiken der Technik unter Kontrolle zu bringen. Um dem Gebot der Dezentralisierung möglichst weitgehend Rechnung zu tragen, wurden in den Besatzungszonen öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gegründet. Die Rundfunkanstalten erhielten Selbstverwaltungsrechte zur Stärkung 19 Bausch (FN 18), S. 46 ff.; Gellner (FN 12), S. 35 f. ; Herrmann (FN 8), S. 18; Roß, Der deutsche Rundfunk - ein Rundfunk der "Alliierten"?, in: Hans-Bredow-lnstitut (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen 1948-1989, Baden-Baden 1990, S. 13 I. 20 Mett/er, Der Nachkriegsrundfunk als Medium der amerikanischen Umerziehungspolitik, in: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen 1948-1989, BadenBaden 1990, S. 139 ff. ; Herrmann (FN 8), S. 18 f.

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ihrer Unabhängigkeit. Aus dem gleichen Grund erfolgte ihre Finanzierung durch Rundfunkgebühren. Die Programmgestaltung wurde durch Richtlinien gesteuerf 1• Hierüber waren die Anstalten u.a. verpflichtet, objektiv zu berichten und keine Sendungen zuzulassen, die Einzelpersonen oder Gruppen wegen ihrer Rasse, Religion oder Hautfarbe diskriminieren. Als Kontrollorgan fungierte ein anstaltlicher Rundfunkraf2, der aus Vertretern gesellschaftlicher Gruppen wie z. 8. den Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bestand. Die Zahl der Mitglieder, die aus staatlichen Bereichen oder politischen Parteien stammen durften, wurde ausdrücklich begrenzt. Die foderale Struktur der bundesrepublikanischen Rundfunkordnung stand am Anfang ihrer Entwicklung. In den ersten Jahren wurde eine sachgerechte Kooperation aufLänderebene vorangetrieben. Die Machtverhältnisse zwischen Bund und Ländern wurden ausgelotet. Bereits 1950 gründeten die Landesrundfunkanstalten die ,,Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands" (ARD)2\ die ihre Tätigkeiten auf Basis einer Satzung aufuahm. Die ARD erhielt keine eigene Rechtspersönlichkeit, um den Gefahren einer Zentralisierung - wie sie nach Gründung der Reichsrundfunkgesellschaft eingetreten war - entgegenzuwirken. Alsbald können wir beobachten, wie sensibel die Rechtsanwendung auf mögliche Machtverschiebungen im Rahmen dieses Systems reagierte. Nachdem die Ausstrahlung eines zweiten nationalen Fernsehprogramms technisch möglich geworden war, startete die Regierung Adenauer eine Initiative, um einen stärkeren Einfluß des Bundes auf den Rundfunk durchzusetzen. Ihr Vorhaben, die "Deutschland Fernsehen GmbH" zu gründen, scheiterte am Bundesverfassungsgerichf4. Die Ministerpräsidenten der Länder entschlossen sich daraufhin im Jahre 1961 zur Gründung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt "Zweites Deutsches Fernsehen" (ZDF). Ihr und nicht der ARD wurde die freie Frequenz übertragen25. Auf diese Weise sollten die programmliehen Wahlmöglichkeiten der Zuschauer erhöht werden. Das Bundesverfassungsgericht formuliert in seiner Entscheidung zum Adenauer-Fernsehen eine hochinteressante Sichtweise des Verhältnisses von Recht und Technik. Immerhin ist in Art. 5 Abs. I Satz 2 GG die Rundfunkfreiheit als Grundrecht verankert. Wegen seiner "fundamentalen Bedeutung fur das gesamte öffentliche, politische und verfassungsrechtliche Leben" wird dieses Grundrecht vom 21 S. z. B. den Amerikanischen Entwurf zu einer Erklärung ilber Rundfunkfreiheit in Deutschland vom Mai 1946, abgedruckt bei Bausch (FN 18), S. 72 f. 22 S. Hesse, Rundfunkrecht, Milnchen 1999, S. 9 f.; Gellner (FN 12), S. 36. 23 Herrmann (FN 8), S. 22 ff. ; Bausch (FN 18), S. 239 ff. 24 Vgl. hierzu die Erste Rundfunkentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 12, 205 ff. 25 Hierzu ausführlich Bausch (FN 18), S. 447 ff.

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Gericht aber nicht - wie sonst bei Grundrechten üblich - primär als Abwehrrecht verstanden, das den einzelnen vor Übergriffen des Staates in seine Freiheitssphäre schützt. Vielmehr dominiert ein funktionales Grundrechtsverständnis. Der Rundfunk wird nicht nur als "Medium", sondern auch als ein eminenter "Faktor'' der öffentlichen Meinungsbildung eingestuft. Der Gesetzgeber habe deshalb den Rundfunk in einer Weise auszugestalten, daß die Grundsätze der Meinungsvielfalt und Staatsfreiheit zur Geltung kommen. Es muß insbesondere Gewähr geboten werden, daß im Rundfunk "alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu Wort kommen, und die Freiheit der Berichterstattung unangetastet bleibt''26 • Soweit diese Aufgabenstellung beachtet werde, sei der Rundfunkgesetzgeber frei, Hörfunk und Fernsehen als öffentlich-rechtliches Monopol oder in Fonn einer Gesellschaft des privaten Rechts zu organisieren. Die Rundfunktechnik wird auf diese Weise durch das Recht filr die Erfilllung bestimmter gesellschaftlicher Allgemeinwohlziele eingesetzt. Von besonderem Interesse ist, in welcher Fonn hier die Technik zur Begründung dieses spezifischen Grundrechtsverständnisses herangezogen wird. Nach Auffassung der Verfassungsrichter ist der Rundfunksektor im Unterschied z. B. zum Pressewesen durch eine Knappheit an Frequenzen und durch einen außergewöhnlich hohen finanziellen Aufwand fiir die Programmherstellung und -verbreitung gekennzeichnet. Diese sogenannte Sondersituation lasse es nicht erwarten, daß - wie im Pressewesen - mehrere verschiedene Angebote miteinander konkurrieren und dadurch Vielfalt hergestellt wird27 • Der Gesetzgeber sei daher verpflichtet, durch eine "positive Ordnung" fur Meinungsvielfalt im Rundfunk zu sorgen. Das Bundesverfassungsgericht liegt mit dieser Sichtweise ganz auf der Linie anderer europäischer Verfassungsgerichte, die in der Sondersituation den bestimmten Anlaß und die Notwendigkeit fur eine spezifische staatliche Rundfunkregulierung gesehen haben. 4. Die duale Rundfunkordnung a) Motive fUr die Zulassung kommerzieller Veranstalter In den 70er Jahren stellte die fortschreitende Technik den Gesetzgeber vor neue Fragen. Mit dem Aufkommen der neuen Verbreitungstechnologien Kabel und Satellit wurde die Knappheitslage aufgeweicht und ein wichtiges Argument fur das damals bestehende öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol geschwächt. Der Streit um die Zulassung kommerzieller Rundfunkanbieter spitzte sich zu. Zudem entstand der Eindruck, daß sich die Verbreitung kommerzieller Rundfunkprogramme durch den nationalen Gesetzgeber ohnehin nicht mehr verhindem ließe. 26

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BVerfGE 12, 205 (262). BVerfGE 12, 205 (261).

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Diese Befiirchtungen wurden bestätigt als Pläne der Verleger bekannt wurden, sich an einem von Luxemburg aus verbreiteten deutschsprachigen Satellitenfemsehprogramm zu beteiligen28 • Die rechtlichen Regeln, die das öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol festschrieben, hatten sich zu einem technikhemmenden Recht entwickelt. Erneut spielten aber auch politische Erwägungen bei den Auseinandersetzungen um den privaten Rundfunk eine gewichtige Rolle. Zu den Befiirwortem im politischen Raum gehörten insbesondere die CDU und CSU sowie die von diesen Parteien regierten Länder9 • Sie warfen den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Hörfunkprogrammen eine ideologisch einseitige Ausrichtung vor, die sogar fiir Wahlniederlagen mitverantwortlich gemacht wurde. lnfolge des Regierungswechsels im Jahre 1982 ordnete der neue, der CDU angehörige Bundespostminister die flächendeckende Errichtung eines Breitbandkabelnetzes mit Kupferkoaxialkabeln an. Die Entscheidung verfolgte primär das Ziel, die Chancen fiir einen erfolgreichen Marktzutritt kommerzieller Rundfunkveranstalter zu vergrößem10• Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum saarländischen Rundfunkgesetz vom 16. Juni 1981 Rahmenbedingungen fiir ein Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Rundfunktätigkeiten aufgestellt hatte31, entschlossen sich die meisten CDU-regierten Länder, die Ausarbeitung von Rundfunkgesetzen zu beschleunigen32 • Da die Harmonisierungsbemühungen im Kreis der Ministerpräsidenten scheiterten, setzten zunächst Niedersachsen, dann Berlin, Bayern, Schleswig-Holstein und schließlich das Saarland im Jahre 1984 entsprechende Gesetzesvorhaben in Kraftl 3 • Dieser Dammbruch blieb nicht ohne Einfluß auf die SPO-regierten Länder. Sie befiirchteten in erster Linie standortpolitische Nachteile, wenn am Privatfunk interessierte Unternehmen aufgrund der bestehenden Gesetzeslage in andere Bundesländer abwanderten34 •

28 Hierzu Gellner (FN 12), S. 227 f. ; Hartstein!Ring/Kreile/Dörr!Stettner, Kommentar zum Rundfunkstaatsvertrag, in: Ring (Hrsg.), Medienrecht, Band II, Stand: Februar 1997, C-0.3, S. l 0 ff. 29 Zu den Argumenten der Befürworter s. insbesondere Gel/ner (FN 12), S. 99 ff.; Hiegemann, Die Entwicklung des Mediensystems in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Privat-kommerzieller Rundfunk in Deutschland, S. 69 ff.; Montag, Privater oder öffentlicher Rundfunk, Berlin 1978, 210. 30 Woldt, Teleshopping. Aktuelle Entwicklungen in vier Ländern, Media Perspektiven 1989, S. 591. 31 BVerfGE 57,295 (319 ff.). 32 S. Hesse (FN 22), S. 27 f.; Herrmann (FN 8), S. 54 ff. 33 Eine Chronologie der Ereignisse findet sich bei Hiegemann (FN 29), S. 30 ff. sowie in Hans-Bredow-lnstitut (Hrsg.), Internationales Handbuch fllr Hörfunk und Fernsehen 1994/95, Baden-Baden 1994, A I ff. 34 Ge IIner (FN 12), S. 213 f.; Hesse (FN 22), S. 28.

s.

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b) Vorgaben fiir die duale Rundfunkordnung durch das Bundesverfassungsgericht Für das Bundesverfassungsgericht ging es nun nicht mehr um die Verhinderung von Staatsfunk Gleichwohl ging es nach wie vor um das funktionale Verständnis von Rundfunkfreiheit, um Rundfunk als einen "Faktor" der öffentlichen Meinungsbildung, um Meinungsvielfalt und um den Zugang aller gesellschaftlich relevanten Kräfte zu diesem Medium35 • Das Bundesverfassungsgericht hegte ein Mißtrauen gegenüber den Leistungen eines an Marktgesetzen orientierten kommerziellen Rundfunks und entwickelt die Grundsätze fiir die Ausgestaltung einer dualen Rundfunkordnung36 • Die Verfassungsrichter sorgten sich insbesondere darum, daß das Vielfaltsziel aufgrundder Werbefmanzierung privater Programme nur unzulänglich erfiillt würde. Es könne - so die Richter- "vom privaten Rundfunk kein in seinem Inhalt breit angelegtes Angebot erwartet werden, weil die Anbieter zur Finanzierung ihrer Tätigkeit nahezu ausschließlich auf Einnahmen aus Wirtschaftswerbung angewiesen seien. Diese können nur dann ergiebiger fließen, wenn die Privaten hinreichend hohe Einschaltquoten erzielen. Die Anbieter stehen deshalb vor der wirtschaftlichen Notwendigkeit, möglichst massenattraktive Programme zu möglichst niedrigen Kosten zu verbreiten. Sendungen, die nur fiir eine geringe Zahl von Teilnehmern von Interesse sind und die oft - wie namentlich anspruchsvolle kulturelle Sendungen - einen hohen Kostenaufwand erfordern, werden in der Regel zurücktreten, wenn nicht gänzlich fehlen (...)"37 . Darüber hinaus weist das Gericht auf die Gefahren hin, die durch Konzentrationstendenzen im kommerziellen Rundfunksektor hervorgerufen werden. Technikbasierte Erwägungen wie z. B. die Knappheit an terrestrischen Frequenzen oder in den Kabelnetzen, die noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierten, spielen in den in den 70er und 80er Jahren ergangenen Rundfunkurteilen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die zu erwartenden Vielfaltsdefizite im Privatfunk sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur darm hinnehmbar, wenn der Rundfunk in seiner Gesamtheit die Ziele des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistef8 • Ausgehend von dem bereits erwähnten funktionalen Grundrechtsverständnis unternimmt das Bundesverfassungsgericht den Versuch, nicht nur den öffentlich-rechtlichen, sondern jetzt auch den kommerziellen Rundfunk fiir die Erfiillung des Vielfaltsziels einzusetzen. Es wird eine Ordnung errichtet, in der die öffentlich-rechtliche und die kommerzielle Säule im publizistischen Wettbewerb stehen. Um zu verhindern, daß der öffentlich-rechtliche Rundfunk aufgrund der Marktkräfte erodiert und zu einem 35 36 37 38

BVerfGE 12, 205 (260). BVerfGE 73, 118 (157 ff.); 74, 295 (324). BVerfGE 73, 118 (155 f.). BVerfGE 57,295 (323); 73, 118 (157 ff.).

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Nischenfunk verkommt, werden ihm eine Bestands- und Entwicklungsgarantie zugestanden39• Zudem erhält er eine Finanzierungsgarantie, die weitgehend dem politischen Einfluß entzogen ist40• In der dualen Rundfunkordnung wird ihm eine besondere Programmaufgabe, nämlich die Sicherstellung der "unerläßlichen Grundversorgung" abverlangt41 • Nur "solange und soweit" der öffentlichrechtliche Rundfunk seine Rollenzuweisung wirksam erfiille- heißt es im Niedersachsen-Urteil - erscheine es gerechtfertigt, "an die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt im privaten Rundfunk nicht gleich hohe Anforderungen zu stellen wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk"42 • Damit wird in Form einer Junktimklausel die Existenz des kommerziellen Sektors insgesamt vom Funktionieren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks abhängig gemacht. Dies alles bedeutet jedoch nicht, daß der kommerzielle Rundfunk sich allein an Marktgesetzlichkeiten- in der Medienbranche gleichzusetzen mit den Einschaltquoten - orientieren kann. Das Programm des privaten Sektors wird vielmehr einem Standard gleichgewichtiger Vielfalt unterworfen43 • Es ist hier ausdrücklich zu betonen, daß das Bundesverfassungsgericht - und dies ist wohl einmalig in Europa - auch im Hinblick auf die privaten Veranstalter an seinem Konzept der dienenden Freiheit festhält In den Rundfunkurteilen dieser Zeit wird explizit betont, daß nicht der einzelne Träger der Rundfunkfreiheit sei, um seine Invidualinteressen zu verfolgen. Vielmehr wird ihm eine Unternehmerische Freiheit zugestanden, weil private Initiativen mobilisiert werden sollen, um das Ziel der Meinungsvielfalt zu fördern. Eine Rundfunkunternehmerfreiheit wird nicht anerkannt44 • Das Rundfunkrecht bleibt im Kern weiterhin ein die Technik funktionalisierendes Recht. c) Rahmenbedingungen für kommerzielle Rundfunktätigkeiten Bei der Ausgestaltung der bundesverfassungsgerichtliehen Vorgaben hatten die Länder weitere Regelungsziele als das Vielfaltsgebot zu berücksichtigen. Aufgrund der harten politischen Auseinandersetzungen um die vom privaten Rundfunk ausgehenden Gefahren, hatten die rundfunkrechtlichen Vorkehrungen auch die Funktion, fiir Akzeptanz im Lager der Kritiker zu sorgen. Daher wird in einer 39 Vgl. hierzu BVerfGE 74, 297 (353 f.); 83, 238 (299 f.); Libertus, Grundversorgungsauftrag und Funktionsgarantie, München 1991, S. 124 ff. 40 BVerfGE, 83,238 (310); 87, 181 (199 f.); 90,60 (90). 41 BVerfGE 74, 297 (324). 42 BVerfGE 73, 118 (158 f.). 43 BVerfGE 73, 118 (159). 44 Vgl. hierzu Hoffmann-Riem, Kommunikations- und Medienfreiheit, in: Benda!MaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1994, § 7 Rn. 33. Kritisch Herrmann, Rundfunkrecht, München 1994, § 7 Rn. 39 f.

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Reihe von Vorschriften der Versuch unternommen, die zu erwartenden negativen Folgen des Privatfunks zu bewältigen. Darüber hinaus bedeuteten die aufgestellten Spielregeln Rechtssicherheit Und dies ist eine wichtige Voraussetzung fiir Investitionstätigkeiten, die selbst wiederum die technische Entwicklung in diesem Sektor vorantreiben kann. In der Folgezeit haben sich die Länder intensiv darum bemüht, den Rundfunk als Mittel der regionalen Standortpolitik einzusetzen45 • Kennzeichnend fiir die den Privatfunk regelnden Landesrundfunkgesetze ist, daß sie zur Sicherung des Vielfaltsziels in hohem Maße auf Elemente der Struktursteuerung zurückgreifen. Zwar soll nach dem Vorbild des außenpluralistischen Modells die erwünschte Vielfalt grundsätzlich durch den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den Rundfunkunternehmen hergestellt werden, die Gesetzgeber verlassen sich aber nicht darauf, daß das Pluralismusgebot allein durch die Marktgesetzlichkeiten und das sie regulierende Wirtschaftsrecht erfiillt wird. Daher gibt es auch keinen freien Zugang zu den Rundfunkmärkten. Der Marktzugang wird vielmehr an den Erhalt einer Lizenz geknüpft, deren Einhaltung ebenso wie die Beachtung der gesetzlichen Pflichten von unabhängigen Landesmedienanstalten überwacht werden soll46 • Im Mittelpunkt der Zulassungsentscheidung steht die Frage, ob die rundfunkrechtlichen Vorschriften über Unternehmensverflechtungen eingehalten werden. Hierdurch sollen Konzentrationstendenzen, die bekanntlich auf den Rundfunkmärkten besonders stark ausgeprägt sind, beschränkt werden. Auch insofern vertraut der Gesetzgeber nicht auf das in anderen Wirtschaftssektoren allein geltende Kartellrecht Für den Fall, daß der Markt versagt und im Rundfunksektor Außenpluralismus nicht hergestellt werden kann, fungiert die herkömmliche imperative Steuerung als eine Art Auffangnetz. Rundfunkrechtliche Ge- und Verbote, wie sie als verhaltenslenkende Maßnahmen aus dem Ordnungs- und insbesondere Gewerberecht bekannt sind, sollen die Einhaltung inhaltlicher Programmstandards wahren helfen. Darüber hinaus ist das Rundfunkrecht um den Schutz der sogenannten nicht kommunikationsbezogenen Schutzgüter bemüht. So ist anerkannt, daß die Rundfunkfreiheit dort ihre Grenze fmdet, wo Rechte Dritter unangemessen beeinträchtigt werden. Beispiele hierfiir sind der Jugend- und der Persönlichkeitsschutz47 . Da die allgemeinen Vorschriften des Bürgerlichen Rechts oder des Jugendschutzrechts häufig nicht ausreichend sind, um diese Rechtsgüter hinreichend zu schütHierzu jUngst Lilienthal, Wer ist der Stärkste im Land?, in: tendenz l/99, S. 4 f[ Zu dem Verfahren vgl. nur§§ 20 ff. RStV; §§ 4 ff. LRG NW; §§ 22 ff. HmbMedienG; s. auch Herrmann (FN 44), § 17 Rn. 47 ff. 47 Gersdorf, Rundfunkfreiheir ohne Ausgestaltungsvorbehalt, BLM-Schriftenreihe, Band 33, München 1996, S. 32 tf., S. 75; Ruck, Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, AöR 117 ( 1992), S. 543 ff. 45

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zen, gibt es traditionell rundfunkspezifische Sonderregeln, wie z. B. das Recht auf Gegendarstellung oder Sendezeitbeschränkungen fiir jugendgefährdende Programme. 5. Zwischenfazit

Die duale Rundfunkordnung hat sich inzwischen nicht nur hierzulande, sondern auch in den europäischen Nachbarländern fest etabliert"8• Auch die aufgestellten Rahmenbedingungen fiir kommerzielle Rundfunktätigkeiten weisen - nicht zuletzt aufgrund von Harmonisierungsmaßnahmen der EU49 - große Gemeinsamkeiten auf. Für die ersten drei Entwicklungsetappen ist das Spannungsverhältnis zwischen autonomer Gestaltung von Hörfunk und Fernsehen und staatlicher bzw. politischer Einflußnahme prägend. Im Vorfeld und vor allem im Verlauf des Zweiten Weltkrieges kam es erst einmal zu einer weitreichenden Instrumentalisierung des neuen Mediums durch die nationalen Regierungen. Dies wurde mit außenpolitischen und nicht etwa ökonomischen Notwendigkeiten begründet. Rundfunk wird in dieser Zeit jedenfalls in Kontinentaleuropa offen als Propagandainstrument eingesetzt. Neue Techniken werden diesem Zweck unterworfen. Es dominiert die Politik. Zum Ende des Krieges hat sich in Deutschland, aber auch in den anderen europäischen Staaten ein öffentliches Rundfunkmonopol herausgebildet, das sich in großer Abhängigkeit zum Staat befand50• In der Nachkriegszeit wächSt dem Recht die·Aufgabe zu, den Mißbrauch der Technik zu verhindern. Die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks von staatlicher Einflußnahme gewinnt ebenso an Bedeutung, wie die Entwicklung eines verläßlichen organisatorischen Rahmens, in dem ein Interessenausgleich fiir die verschiedensten gesellschaftlichen Strömungen gefunden werden kann. Der Rundfunk wird eingesetzt, um die ftlr eine Demokratie wesentliche öffentliche Meinungsbildung zu fördern. Die Technik wird durch das Recht funktionalisiert, um das Vielfaltsgebot zu gewährleisten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird damit Treuhandbindungen unterworfen und einer organisatorischen Reform unterzogen. Für einen Überblick Holznagel, Rundfunkrecht in Europa, Tübingen 1996. Als zentrale Initiativen sind hier vor allem zu nennen das Grünbuch der Kommission über die Errichtung des gemeinsamen Marktes f\lr den Rundfunk, insbesondere über Kabel und Satellit (Grünbuch zum "Fernsehen ohne Grenzen") KOM (84) 300 endg. vom 14 .6.1984 sowie die Richtlinie des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit RL 89/552/EWG (Richtlinie zum "Fernsehen ohne Grenzen") vom 3.10.1989, heute gültig in der revidierten Fassung RL 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.6. 1997 zur Änderung der RL 89/552/EWG. 50 Bausch (FN 18), S. 13 ff. 48

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Im Unterschied zur Presse kam es zunächst noch nicht zu einer Privatisierung der Hörfunk- und Fernsehtätigkeiten, um die Kommunikationsordnung vor staatlichen Übergriffen zu stärken und die Programmvielfalt zu fördern. Diese Option wurde zumeist mit einem Hinweis auf die sogenannte Sondersituation im Rundfunk abgelehnt51 • Mit dem weltweiten Aufkommen des privaten Rundfunks erhielt die Entwicklung eine bisher ungekannte Dynamik, die die Prämissen der bisherigen Ordnung ins Wanken brachte. Die kommerziellen Interessen der neuen Veranstalter fiihrten zum schnellen Einsatz neuer Techniken und zu einer erheblichen Expansion des Fernseh- und Hörfunksektors. Der Ausbau der Kabelnetze und die Inbetriebnahme von Satelliten wurde verstärkt vorangetrieben und hatte eine Vervielfachung der Übertragungswege zur Folge52 • Die bestehende Knappheitslage konnte ein Stück weit aufgeweicht werden. Damit waren die Voraussetzungen fiir das Entstehen eines europaweiten, wenn nicht gar weltweiten Rundfunkmarktes geschaffen. Nutznießer dieser Entwicklung waren nicht nur die Rundfunkveranstalter, sondern auch die Werbeagenturen, Filmproduzenten, Rechteinhaber und Endgerätehersteller. Diesem Trend konnte sich auch die Bundesrepublik nicht entziehen und hat ab Mitte der 80er Jahre private Rundfunktätigkeiten zugelassen 53 • Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht an einem funktionalen Verständnis der Rundfunkfreiheit festgehalten. Die im Entstehen begriffene duale Rundfunkordnung wird in einer Weise ausgestaltet, daß das Ziel der Meinungsvielfalt auch in der Praxis gewährleistet bleibt. Im Unterschied zur Zeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols gewinnen neue Funktionen des Rundfunkrechts an Bedeutung. Die Regelungsaufgaben werden komplexer. Um private Rundfunktätigkeiten und den Einsatz von neuen Techniken in diesem Bereich zu ermöglichen, werden ein Lizenzierungssystem und eine besondere Aufsichtsstruktur geschaffen. Durch Rechtsnormen, welche die Belange Dritter schützen sollen, wird ein Technikfolgenrecht etabliert. Dieses Korsett, mit dessen Hilfe die Rundfunklandschaft in Form gebracht wird, erweist sich in den Folgejahren schon bald als zu eng. Damit das Rundfunkrecht nicht zu einem technikhemmenden Recht wird, muß das Regelungsniveau ft1r neue Dienste wie z. B. fiir den Bildschirmtext durch den Btx-Staatsvertrag54 im Hierzu BVerfGE 12, 205 (261 f.); 31,314 (326); 57,295 (322 f.). Vgl. Herrmann (FN 44), § 4 Rn. 79 ff. 53 Nach dem gescheiterten Gesetzesentwurf des Saarlandes, hat als erstes Bundesland das Land Niedersachsen eine gesetzliche Grundlage für den Privatfunk in Deutschland verabschiedet. S. hierzu BVerfGE 73, 118 ff.; Herrmann (FN 44). § 4 Rn. 97 ff. 54 Der Btx-Staatsvertrag wurde am 31 . Juli 1997 außer Kraft gesetzt. An seine Stelle getreten ist der Staatsvertrag über Mediendienste (MDStV), vgl. § 23 Abs. 3 MDStV. 51

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Jahre 1983 abgesenkt und dem des Presserechts angeglichen werden. Durch das Aufkommen der Digitaltechnik wird das herkömmliche Rundfunkrecht nun aber Anforderungen ausgesetzt, die einschneidendere Reformen verlangen. 111. Rundfunkrecht vor der digitalen Herausforderung 1. Digitaltechnik als Motor der Umgestaltung

Die Digitalisierung hat zunächst zur Folge, daß sich die Übertragungskapazitäten deutlich erweitern. Während z. B. die analoge Übertragung auf dem Prinzip basiert, daß pro Kanal ein Programm gesendet und empfangen werden kann, machen es Datenreduktion und Datenkompression möglich, in einem Kanal je nach Sendequalität zukünftig vier bis zehn Programme zu verbreiten55 • Die Digitaltechnik erlaubt zudem eine preisgünstige Verschlüsselung der Medienangebote. Sendungen können in verschlüsselter Form zusammen mit einem Decoder vertrieben werden. Neben die Finanzierung durch Rundfunkgebühren und Werbeeinnnahrnen tritt die Entgeltfmanzierung. Darüber hinaus werden durch die Digitalisierung sowohl die Übertragungswege als auch die Endgeräte untereinander kompatibel. Die Digitalisierung filhrt zu einer Aufhebung der Trennung einzelner Netzwerke. So erlaubt die sogenannte ADSL-Technologie bereits heute die Übertragung ganzer Spielfilme über das herkömmliche Telefonnetz auf den heimischen Computermonitor6. Umgekehrt ist es möglich, Telefongespräche und Internet-Anwendungen über das Breitbandkabelnetz abzuwickeln. Für den Nutzer der neuen Medien könnten damit Telefon, Fernseher und PC schon bald zu einem Multimedia-Terminal verschmelzen, der alle genannten Kommunikationsformen in sich vereint. Dieser technische Prozeß der Integration verschiedener, bislang getrennter Kommunikationsformen zu einem einheitlichen Bereich "Multimedia" wird mit dem Begriff der Konvergenz bezeichnef7•

55 Hierzu Schrape, Digitales Fernsehen: Marktchancen und ordnungspolitischer Regelungsbedarf, BLM-Schriftenreihe Band 30, München 1995, S. 7 ff.; Hege, Offene Wege in die digitale Zukunft - Überlegungen zur Fortentwicklung des Medienrechts, Berlin 1995, S. II; Holznagel, Probleme der Rundfunkregulierung im Multimediazeitalter, ZUM 1996, S. 16 ff. 56 Zu den Stufen der digitalen Datenübertragung Gersdorf, Der verfassungsrechtliche Rundfunkbegriff im Lichte der Digitalisierung der Telekommunikation, Berlin 1995, S. 21 ff.; Schrape (FN 55), S. 8 ff. Zu den verschiedenen DSL-Technikcn Schulte, Telekommunikation, Band 2, Stand: Oktober 1998, Augsburg 1998, Teil 7-15, S. I ff. 57 Ausführlich zu den Stadien der Konvergenz Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen, KOM (97) 623 endg., Brüssel 1997; Holznagel, Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens, ZDF Schriftenreihe Heft 55, Mainz 1999, S. 59 ff.

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Das neu gewonnene Nutzungs- und Übertragungspotential hat bereits jetzt zu einer starken Ausweitung und Ausdifferenzierung der Medienangebote gefiihrt und wird diese Entwicklung weiter begünstigen58• Davon ist nicht allein der herkömmliche Rundfunksektor betroffen. Neben der Zulassung weiterer Spartenkanäle ist z. B. ein vermehrter Vertrieb von Kanälen im Abonnement (Pay-perChannel) und eine Verbreitung einzelner Sendungen gegen Entgelt (Pay-perView) zu erwarten. Hinzu kommen last but not least die neuen Dienste, wie sie schon jetzt von Online-Anbietem wie T-Online, America-Online (AOL) oder Compuserve vertrieben werden. Zu denken ist beispielsweise an Individualkommunikation in Form von Sprach-, Bildtelefon- und Mailboxdiensten, Chat-Rooms, Teleshopping, Telebanking oder der Zugang zum Internet, insbesondere zu den Homepages des World Wide Web. Damit das Recht nicht zu einem Hemmschuh fiir die technologische Entwicklung wird, hat der Gesetzgeber- dem Vorbild des Btx-Staatsvertrag folgend durch das Teledienstegesetz und den Mediendienste-Staatsvertrag die OnlineDienste von den hohen Anforderungen des Rundfunkrechts befreif9 • Im Zuge der digitalen Revolution entsteht damit ein vielgestaltiger Multimedia-Strom. Der Gesetzgeber steht vor der schwierigen Aufgabe, fiir diese Medienentwicklung eine sachgerechte rechtliche Rahmenordnung zu fmden. Und eine solche Rahmenordnung ist notwendig wie eh und je, wie im folgenden dargelegt werden soll. 2. Vorkehrungen zur Vielfaltssicherung a) Kritik an einer medienspezifischen Regulierung Mit der Einfilhrung der neuen Techniken - so wird allerdings argumentiert würden nun die letzten Knappheitsengpässe gesprengt, so daß der Rundfunk wie die Presse dem Markt überlassen werden könne60 • Die neue Digitaltechnik sprenge die Begrenzungen des analogen Zeitalters und mache auch deren Vielfaltsvorkehrungen obsolet. Auch ein öffentlich-rechtlich getragenes Rundfunkangebot lasse sich perspektivisch nicht mehr begründen, weil zukünftig ausreichende ÜbertragUngswege verftlgbar wären, damit kommerzielle Anbieter auch filr Minderheiten

58 Vgl. Eberle, Digitale Rundfunkfreiheit-Rundfunk zwischen Couch-Viewing und Online-Nutzung, CR 1996, S. 194 f. 59 Wesentlich ist in diesem Zusammenhang das Prinzip der Zugangsfreiheit, vgl. § 4 MDStV, § 4 TDG. 60 Hierfilr hat in der Bundesrepublik besonders plädiert der Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation e.V. (VPRT) in seinem vorgelegten Rahmenkonzept "Medienordnung 2000 plus", VPRT (Hrsg.), Rahmenkonzept für eine Medienordnung 2000 plus, Bonn 1997.

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wie z. B. Opernfreunden ein adäquates Programm präsentieren können61 • Bei einer hinreichenden Nachfrage werde der Markt schon ein entsprechendes Medienangebot bereitstellen. b) Vielfaltsgefahrdungen durch eine Vermachtung der Übertragungswege Es gilt indes zu erinnern, daß der Frequenzknappheit in denjüngsten Rundfunkurteilen des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr die allein entscheidende Rolle zukam, als es darum ging, die hohen Anforderungen fiir die Zulassung neuer Fernsehangebote zu rechtfertigen62 • Dasselbe gilt übrigens auch fiir die Urteile der anderen europäischen Verfassungsgerichte63 • Im Mittelpunkt der Rechtsprechung steht aber nach wie vor das Bemühen, Meinungsvielfalt und Pluralismus zu gewährleisten. Im Amsterdamer Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten haben diese Ziele nunmehr auch im primären Gemeinschaftsrecht Anerkennung gefunden64 • Mit der Einführung der Digitaltechnik entstehen sogenannter Gatekeepersteilungen bei den Vertriebs- und Übertragungswegen, die ein regulatorisches Einschreiten erfordem65 • Bekanntlich muß der Programminhalt z. B. beim pigitalfernsehen in eine digitale Sendeform gebracht werden. Das geschieht im sogenannten Multiplexverfahren, in dem die verschiedenen Dienste in Datencontainer verpackt werden. Und um im Bilde zu bleiben: Wer den Container packt, der entscheidet, was mitgenommen wird und was nicht66 • Die deutlich effizientere Frequenzausnutzung fuhrt außerdem dazu, daß der Zuschauer mit einem weitaus größeren Programmspektrum konfrontiert wird. Das weckt bei ihm ein gesteigertes Orientierungsbedürfnis. Weil mit herkömmlichen Bedienungsinstrumenten und der begleitenden Information durch Fernsehzeitschriften eine solche Programmfülle nicht mehr überschaubar ist und eine gezielte Auswahl nicht mehr getroffen werden kann, sind beim digi61 Ebd., S. 25 ff. Zu einem weiteren Konzept für den künftigen ordnungspolitischen Rahmen im Bereich Rundfunk- und Medien s. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Kommunikationsordnung 2000, Grundsatzpapier der Bertelsmann Stiftung zu den Leitlinien der zukünftigen Kommunikationsordnung, Gütersloh 1997. 62 Das Bundesverfassungsgericht hat indes ausgeführt, daß auch bei einem Wegfall der Sondersituation gesetzliche Vorkehrungen zur Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks zu treffen sind, BVerfGE 57, 295 (322). 63 Nachweise zur Rechtsprechung finden sich bei Holznagel (FN 48); Schellenberg, Pluralismus: Zu einem Leitmotiv in Deutschland, Frankreich und Italien, AöR 119 ( 1994), s. 427 ff. 64 Abi. EG 1997 Nr. C 340, S. I09. 65 Hierzu ausführlich Holznagel, Rechtliche Rahmenbedingungen für digitales Fernsehen, in: Prütting u. a. (Hrsg.), Die Zukunft der Medien hat schon begonnen- Rechtlicher Rahmen und neue Teledienste im Digitalzeitalter, München 1998, S. 39 ff. 66 Schulz!Seufert!Holznagel, Digitales Fernsehen, Opladen 1999, S. 76 f.

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talen Fernsehen elektronische Programmführer erforderlich - die sogenannten Navigationssysteme67 • Und wenn man von der Küste kommt, dann weiß man: In schwierigem Gewässer entscheidet der Lotse, wohin die Reise geht und nicht der Kapitän. Schließlich ermöglicht die digitale Fernsehtechnik aber auch das Angebot von Bezahlrundfunk, das auf einer Einzelabrechnung pro gesehenem Programm oder Einzelbeitrag beruht. Digitales Pay-TV arbeitet deshalb mit einer besonderen Verschlüsselungstechnik, die man als Conditional-Access bezeichnet68• Und hier gilt: Wer den Schlüssel hat, der entscheidet, welche Zimmer geöffnet werden und welche verschlossen bleiben. Die drei technischen Aspekte des digitalen Fernsehens (Multiplexing, Navigationssystem und Conditional-Access) verbindet in rechtlicher Hinsicht ein und dasselbe zentrale Problem. Derjenige, der hierüber allein verfugt, kann letztlich bestimmen, welches Programmangebot die von ihm besetzte Position auf dem Weg vom Veranstalter zum Rezipienten passieren darf- und welches nicht69 • So entscheidet der Multiplexbetreiber darüber, welche Programminhalte er in eine digitale Sendeform transformiert und dadurch fur das digitale Fernsehen überhaupt erst nutzbar macht. Der Anbieter des Navigationssystems bestimmt, welche dieser Programmangebote er in seinen Navigator aufuimmt, so daß sie der Rezipient aus der Fülle der digitalen Fernsehsender auswählen kann. Und schließlich steuert der Inhaber des Conditional-Access, welches Pay-TV-Prograrnm der Zuschauer entschlüsseln und sehen kann. Vornehmliches Ziel aller Regelungsversuche im Bereich des digitalen Fernsehens muß es deshalb sein, diese vielfaltsgefährdenden "Gatekeeperpositionen" oder "Flaschenhälse" durch die rechtliche Gewährleistung eines offenen und fairen Zugangs zu diesen Techniken zu überwinden. Denn nur wenn die Schlüsselpositionen einer Vielzahl von Anbietern offenstehen, kann beim digitalen Fernsehen den Geboten der Meinungsvielfalt und des chancengleichen Wettbewerbs Folge geleistet werden70 • Die fur diese Steuerungsaufgabe eingesetzten Instrumente wie z. B. das Entbündelungsgebot oder die Entgeltregulierung sind jedoch dem herkömmlichen Rundfunkrecht fremd. Sie entstammen vielmehr dem europäischen und a~gloamerikanischen Kartell- und Telekommuni67 Eberle, Öffentlich-rechtliches Fernsehen im digitalen Zeitalter. in: Becker/Lerche/Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift Reinhold Kreile, Baden-Baden 1994. S. 171. 177: Wagner, Rechtliche Aspekte elektronischer Programmflihrer, MMR 1998. S. 243 ff. 68 Holznagel (FN 65), S. 48 ff. 69 Ausführlich hierzu Schulz/Seufert!Hobwgel (FN 66). S. 71 IT. 70 Gersdorf, Chancengleicher Zugang zum Digitalen Fernsehen. Berlin 1998. S. 76 ff., 155 fT.; s. auch Thierfelder. Zugangsfragen digitaler Fernsehverbreitung. München 1999, S. 113 ff. Im Zuge des Vierten Rundfunkänderungsstaatsvertrags. der voraussichtliches im April 2000 in Kraft treten wird. sind auch die Zugangsregelungen des §53 RStV novelliert worden. Der Vertragsentwurf ist abgedruckt in: epd medien. Nr. 36 vom 12. Mai 1999, S. 3 ff.

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kationsreche 1• Soweit das Recht dieser Forderung nachkommt, werden zugleich Anreize geschaffen, die Technik in Richtung auf eine offene Übertragungsplattform weiter zu entwickeln. Das Recht wird dann ein technikstimulierendes Recht. c) Vielfaltsdefizite und deren Kompensation im Programmbereich Aber auch im Hinblick auf das Gebot der programmliehen Vielfalt ist nicht damit zu rechnen, daß die neuen Techniken allein durch marktwirtschaftliche Nutzung den Anforderungen des Grundgesetzes an eine Medienordnung genügen, die der demokratischen Willensbildung in bester Weise dient. Die Vielfaltsdefizite des werbefinanzierten Rundfunks hat das Bundesverfassungsgericht hinlänglich herausgearbeitee2• Dieneuere medienökonomische Forschung hat nun aber auch bei der Entgeltfinanzierung Marktversagen und externe Effekte aufgedecke3• Bei Qualitätsprogrammen im Bereich Bildung und Information handelt es sich um sogenannte meritorische Güter, die dadurch gekennzeichnet sind, daß ein Konsument weniger bereit ist, ftlr ihre Herstellung Geld auszugeben, als dies grundsätzlich im gesamtgesellschaftlichen Interesse oder sogar im eigenen Interesse liegf4 • Damit droht eine Unterversorgung, die nur mit regulatorischen Gegenmaßnahmen zu bewältigen ist. Die Bedingungen fUr die Erzeugung erwünschter Kommunikationsinhalte wird sich jedoch mit der durch die Digitaltechnik ausgelösten Konvergenzentwicklung grundlegend ändern. Die derzeit in Europa und in der Bundesrepublik bestehende rundfunkrechtliche Regulierung im privaten Sektor beruht auf der Prämisse, daß die Aufsichtsbehörden den Zugang zu den Medienmärkten kontrollieren. Als eine Art Gegenleistung fUr die durch die Rundfunklizenz eingeräumten Entfaltungsmöglichkeiten und Schutzräume waren und sind die kommerziellen Anbieter in gewissem Umfang bereit und auch ökonomisch in der Lage, ihre Programmverpflichtungen zu erfUllen. Mit der Intensivierung des Wettbewerbs, der durch eine schrittweise Überwindung der Knappheitslage ausgelöst wird, entflillt die Grundlage flir dieses Tauschgeschäft75 . Hinzu

Vgl. hierzu Holznagei!Grünwald, Multimediaper Antenne, ZUM 1997, S. 417 ff. Siehe z. B. BVertGE 57. 295 (322 ff.); 73, 118 (155 ff.); Röp~. Wettbewerbsrecht, Pressefreiheit und Öffentliche Meinung, in: Schmollers Jahrbuch fiir Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 90 (1970), Berlin 1970, S. 171 ff. 73 Graham!Davies, Broadcasting. Society and Policy in the Multimedia Age, Luton 1997, S. 19 f.; Röpke (FN 72), S. 171 ff. 74 Hierzu Andel, Zum Konzept der meritorischen GUter, Finanzarchiv 42 (1984), S. 630; Holznagel/Vesting, Sparten- und Zielgruppenprogramme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk insbesondere im Hörfunk. Baden-Baden 1999, S. 86 f. 75 Zu diesen Zusammenhängen Collins. Memorandum, in: Culture, Media and Sports Committe, The Multi-Media Revolution, Vol. IJI, London 1998, S. 511 f.; OFTEL, Beyond the Telephone, the Television and the PC II, OFTEL's first submission to the 71

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kommt, daß unter diesen Bedingungen das Rundfunkrecht seine Funktion als Schutzvorkehrung vor ausländischer Konkurrenz nicht mehr wahrnehmen kann. Der Erhalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erscheint angesichts dieser Entwicklungen medienpolitisch als unverzichtbar, damit die Gesellschaft mit bestimmten gewünschten Programmsegmenten versorgt wird76 • Der öffentlichrechtliche Sektor muß insbesondere einen Qualitätsstandard etablieren, der von kommerziellen Anbietern nur unter erhöhtem Legitimationsbedarf unterschritten werden darf. In einer digitalen Kommunikationsordnung hat er zudem die Aufgabe, als glaubwürdiger Informationsmakler zu fungieren, der die Zuschauer durch die neue Wissensflut fllhrt 77 . Die Gebührenfinanzierung und die erwähnten binnenpluralistischen Sicherungen gewährleisten Unabhängigkeit und langfristige Stabilität. Damit kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einer Glaubwürdigkeitsinsel werden, die in Zeiten schnellen gesellschaftlichen Wandels fiir Kontinuität und Orientierung sorgt. 3. Vorkehrungen zur Sicherung von Schutzgütern Dritter

Die Ziele des Drittschutzes, z. B. des Schutzes vor kinder- und jugendgeflihrdenden Programmen oder das Persönlichkeitsrecht verletzenden Sendungen, behalten auch im digitalen Zeitalter unbestritten ihre Gültigkeit. Die herkömmlichen Aufsichtsinstanzen können aber allein schon aufgrund der Vielzahl der zu erwartenden neuen Anbieter nicht mehr allein effektiv von ihrem hoheitlichen Instrumentarium Gebrauch machen. Es bietet sich daher an, stärker auf Selbstregulierung der Veranstalter und auf Selbstschutz der Rezipienten zu vertrauen. Im angloamerikanischen Rechtskreis hat man gute Erfahrungen damit gemacht, Verhaltenskodizes aufzustellen, die dann von der Rundfunkindustrie selbst kontrolliert werden78 • Damit diese Regeln auch von allen hinreichend beachtet werden, können die Verhaltenspflichten von den Aufsichtsbehörden dann in einer hoheitlichen Entscheidung übernommen werden. Das

Culture, Media and Sports Select Committee Inquiry into audio-visual Communications and the Regulations of Broadcasting. Annex 2, London 1998, S. 22. 76 Holznagel (FN 57), S. 116 (; ARD (Hrsg.), ARD-Weißbuch 2000, Chancen, Risiken und Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Medienwelt 1999, S. 100 ff., abrufbar unter: http://www.mdr.de/ard-weissbuch (Stand: 19.8.1999). 77 Eberle, Betätigung des ZDF im Online-Bereich, AfP 1998, S. 272; Holznagel (FN 57), S. 119. 78 Hierzu neuerdings Price!Verhulst, The Concept of Self Regulation and the Internet, Gutachten im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im Rahmen des .,Memorandums zur Selbstregulierung im Internet", abrufbar unter: http://www.stiftung.bertelsmann.de/ intemetcontentlenglish/frameset.htm?contentlc2340.htm (Stand: 19.8.1999); Holznagel, Multimedia zwischen Regulierung und Freiheit, ZUM 1999, S. 434.

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herkömmliche Technikfolgenrecht erweitert auf diese Weise sein HandlungsarsenaL Des weiteren sollten dem BUrger zunehmend Möglichkeiten des Selbstschutzes eingeräwnt werden. Hierbei ist an Filtertechniken und Ratingsysteme zu denken79• Das Recht kann - wie bereits schon im medienspezifischen Jugendschutzrecht geschehen - Anreize dafilr schaffen, daß diese Techniken überhaupt entwickelt werden. Da Ge- und Verbote in globalen Computernetzen notwendig nur beschränkt effektiv sind, bestehen zu diesem Vorgehen kaum Handlungsalternativen. IV. Fazit Die öffentliche und freie Meinungsbildung ist filr eine Demokratie schlechthin konstituierend. Eine demokratische Gesellschaft kann nicht hinnehmen, daß die Medien dem Staat oder einzelnen gesellschaftlichen Kräften ausgeliefert werden. Die Gefahr, daß bei den Vertriebs- und Übertragungswegen Gatekeeperpositionen entstehen und die Vielfaltsdefizite eines allein werbe- oder entgeltfinanzierten Rundfunks fordern, daß der Gesetzgeber auch im digitalen Zeitalter Vorkehrungen filr die Gewährleistung von Meinungsvielfalt in Kraft setzt. Zudem müssen Maßnahmen zur Sicherung von Rechten Dritter gestärkt werden. Die Anwendung neuer Medientechniken kann damit nicht allein Marktgesetzlichkeiten überlassen werden. Die Umsetzung dieser Aufgabenstellung sieht sich vielfaltigen neuen Problemen ausgesetzt. Es ist zu vermuten, daß das Verhältnis von Recht und Technik weiter an Komplexität gewinnt. Schon die duale Rundfunkordnung hat ein die Technik funktionalisierendes Recht, ein technikermöglichendes Recht, ein technikfolgenbegrenzendes Recht und ein technikstimulierendes Recht entwickelt. Im digitalen Zeitalter wird sich das Instrumentarium des Rechts weiter ausdifferenzieren. So standen z. B. der Vertrieb von Rundfunksendungen und die davon ausgehenden neuen Gefahren bisher nicht im Zentrum der regulativen Aufmerksamkeit. Da die Treuhandbindungen des Rundfunkrechts nicht mehr fUr die neuen Online-Dienste passen, bilden sich zudem medienspezifische Teilrechtsordnungen heraus. Im Gegensatz zur technischen Konvergenzentwicklung entsteht eine Ausdifferenzierung sowohl auf der horizontalen Diensteebene als auch auf Ebene der Aufsichtsbehörden80• Die Globalisierung 79 Ein solches System stellt zum Beispiel das PICS (Piatform for Internet Content Selection) dar. Informationen zu PICS sind abrufbar unter: http://www.w3.org/PICS/ iacwcv2 (Stand: 19. 8. 1999). 80 Zu den vielfl!.ltigen Aufsichtsstrukturen Holznagel, Vorfragen zu Rundfunk-, Medien- und Telediensten, in: Hoeren/Sieber (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, München 1999, Teil 3.2, S. 43 ff.; Koenig, Regulierungsoptionen fllr die Neuen Medien in Deutschland, Beilage zu MMR 12/1998; vgl. auch Koenig/Roeder, Plädoyer zur Über-

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der Medienwirtschaft ermöglicht den Unternehmen zunehmend, die ihnen am genehmsten erscheinende Regulierungsordnung auszuwählen. Zudem wird die Durchsetzung des nationalen Rechts erschwert, wenn die fraglichen Handlungen im Ausland oder von Ausländern begangen werden. Schließlich ist auf die hohe Zerfallszeit des nationalen Rechts hinzuweisen. Während das staatliche Rundfunkmonopol nahezu 40 Jahre unangetastet blieb, steht die duale Rundfunkordnungschon ca. 15 Jahre nach ihrer Einfllhrung vor grundlegenden Herausforderungen. Das neu geschaffene Online-Recht steht schon nach wenigen Monaten auf dem Prüfstand einer kritischen Öffentlichkeit. Auf diese neuen Herausforderungen wird das Recht reagieren müssen, will es nicht zum Hemmschuh der Technik werden. So wird zu Recht über einen Abbau von Genehmigungserfordernissen und eine Reorganisation der Rundfunkaufsieht nachgedacht. Auch wird es wichtig sein, das Rundfunkrecht lernoffen zu gestalten und fiir Flexibilität zu sorgen. Regulierungsaufgaben müssen daher zUgig von den Aufsichtsbehörden wahrgenommen werden. Von einer strikten Anwendung der Wesentlichkeilstheorie müssen wir Abstand nehmen. Mögliche Demokratiedefizite sind durch neue Anhörungsverfahren zu kompensieren. Um zu verhindern, daß sich die Veranstalter durch eine Verlagerung ihres Unternehmenssitzes dem nationalen Recht entziehen, müssen die Möglichkeiten des Zugriffs auf ihr im Inland befindliches Eigentum und die hier genutzten Vertriebswege verbessert werden.

windung der zersplitterten Aufsicht Ober neue Informations- und Kommunikationsmedien, K & R 1998, S. 417.

Neue Informationstechniken- neue Aufgaben des Rechts im Staat der Informationsgesellschaft* Von Martin Bullinger I. Wirkung neuer Informationstechniken

auf Gesellschaft und Staat 1. Allgemeines

Der Staat der Informationsgesellschaft 1 steht mit seinem Recht vor neuen Aufgaben. Denn die immer rascher voranschreitende Entwicklung der Informationstechnik ist geeignet, die Kommunikationsstrukturen und mit ihnen wesentliche Grundlagen der Gesellschaft wie des Staates umzuformen. Für den Staat der Industriegesellschaft2 ging es darum, seinen Kernbereich industrieller Produktion nicht nur zu t()rdern, sondern auch von inhumanen Nebenwirkungen freizuhalten 3 • Dazu dienten vor allem umweltschützende und arbeitsschUtzende Rechtsnormen sowie die Sorge für ein "soziales Netz". Diese Staatsaufgaben bleiben auch im Staat der Informationsgesellschaft wichtig. Sollte sich etwa ergeben, daß von den Mobiltelefonen schädliche Strahlenwirkungen auf ihre Benutzer ausgehen, müssen technische Standards und rechtliche Regeln solche geflihrdenden Nebenwirkungen vermeiden helfen. Darin • Vortrag am 24.6.1999 beim Kolloquium "Technikentwicklung und Technikrechtsentwicklung" unter der Leitung von Michael Kloepfer, Humboldt-Universität Berlin, am Forschungszentrum Technikrecht e. V. 1 Im Unterschied zur "Industriegesellschaft" läßt sich die "Informationsgesellschaft" dadurch kennzeichnen, daß - nicht mehr die maschinelle Massenproduktion, sondern die Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen mit Einschluß der erforderlichen Geräte und Programme das größte Wachstumspotential bietet und sich anschickt, den größten Beitrag zum Bruttosozialprodukt zu erbringen, - die Verfilgung über Informationen mehr Einfluß und Macht vermittelt als die Verfugung über Produktion und Produkte. 2 Dazu grundlegende Reflexionen bei Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. 3 Vgl. Murswiek, VVDStRL 48 (1990), S. 207 ff., 209 f. (technikbezogenes Verwaltungsrecht als "Nebenfolgenbegrenzungsrecht"); Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenabschätzung, I. Aufl., Baden-Baden 1993, S. 28 mit Anm. 94.

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wird aber fiir den Staat der Informationsgesellschaft in seinem neuen Kernbereich nicht der Schwerpunkt seiner Aufgaben liegen. Denn das "Beunruhigende" am Fortschreiten der Informationstechnik und der Informationswirtschaft sind nicht deren Nebenwirkungen, sondern deren Hauptwirkungen auf die Kommunikation und damit auf Gesellschaft und Staat. So sprengt etwa die globale interaktive Computerkommunikation über das Internet im Vergleich zur passiven Aufnahme von Fernsehsendungen alle herkömmlichen Vorstellungen einer wohlgeordneten Massenkommunikation unter dem Schirm nationaler Ordnung. Diese Hauptwirkungen gilt es zu erfassen, will man sich darüber klar werden, ob und in welcher Weise das Recht umgestellt werden muß, um unter anderem den Staat der Informationsgesellschaft mit seiner Gesellschaft in ihrer kulturellen und politischen Identität und Integrationskraft zu erhalten. Als vor Jahren der Monarch eines kleinen afrikanischen Staates mit traditioneller Stammeskultur bemerkte, daß der nunmehr technisch mögliche Empfang ausländischer Fernsehprogramme seine Untertanen mit anders entwickelten Kulturen in Berührung brachte und ihrer eigenen Kultur entfremdete, verbot er kurzerhand den Besitz von Fernsehgeräten und ließ die vorhandenen Geräte beschlagnahmen4 • Australien steht nach Presseberichten5 im Begriff, durch Gesetz seine strafrechtlich bewehrte nationale Moralordnung gegen das Eindringen von Pornographie über das Internet abzuriegeln, indem die Rundfunkaufsichtsbehörde beauftragt wird, die gesamte Kommunikation im Internet zu kontrollieren und von Unerlaubtem freizuhalten. Solche Abhilfeversuche bieten sich nicht zur Nachahmung an (s. u. II 1., 2.), lassen aber die Probleme deutlich werden, die aus informationstechnisch erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten filr die politische und kulturelle Identität und Integration einer Gesellschaft und ihres Staates erwachsen können.

2. Einzelanalyse Hinreichende Aufmerksamkeit haben bisher die Probleme gefunden, die neue Informationstechniken flir den tatsächlichen und rechtlichen Schutz der menschlichen Persönlichkeitssphäre und geheimhaltungsbedürftiger wirtschaftlicher Daten mit sich bringen können6 • Viel behandelt ist auch die Digitalisie4 Neuerdings hat ein religiöses Gericht in Israel die Benutzung von Rechnern mit Internet-Zugang verboten, nachdem Rabbiner schon 20 Jahre vorher das Fernsehen untersagt hatten (NZZ v. 6.11.1998, S. 20). 5 Zeitung zum Sonntag v. 26.6.1999, S. 25. 6 Vgl. etwa Roßnagel a. a. 0 . (FN 3), S. 203 ff.; Schlink, VVDStLR 48, 1990, S. 235 ff., 244 ff., 248 ff.; Zöllner, in: Wilhelm (Hrsg.), Information- Technik- Recht, Rechtsgüterschutz in der Informationsgesellschaft, Darmstadt 1993, S. 35 ff, 42 ff.; Kruse, in: ebd., S. 51 ff.

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rung der Speicherung und Übertragung von Rundfunk und anderen medialen Diensten7• Der Blick soll nunmehr auf die noch wenig erörterte Frage gelenkt werden, wie weit die Identität und Integrationskraft eines Staates und seiner Gesellschaft mit der Informationstechnik und ihrer gesellschaftlichen Nutzung zusammenhängen, Veränderungen dieser Technik also möglicherweise zu rechtlichen Ausgleichssicherungen nötigen 8• a) Aufstieg und Fall staatlicher Herrschaft über Informationstechnik und gesellschaftliche Kommunikation Die Verfilgungsmacht über die Informationsmedien und ihre gesellschaftliche Nutzung war fllr den modernen Staat von Anfang an ein wesentliches Instrument seiner Herrschaft. Das faktische und rechtliche Schwinden dieser Verfilgungsmacht berührt daher den Staat und seine Gesellschaft in ihren Grundfesten. Der moderne Staat war nicht mehr Personenverband wie das mittelalterliche Gemeinwesen, sondern Territorialstaat9 • Innerhalb eines bestimmten Gebiets nahm er umfassende Herrschaftsbefugnisse in Anspruch. Um eine ihn tragende territoriale "Gesellschaft" zu schaffen und intermediäre Kräfte wie religiöse Organisationen, den Adel oder das BUrgerturn der Städte in eine allgemeine Herrschafts- und Friedensordnung einzubinden, bediente er sich nicht allein der äußerlich wirkenden Herrschaftsmittel eines stehenden Heeres und einer "stehenden" Verwaltung in Gestalt von Behörden mit festen Zuständigkeiten und berufsmäßigen Amtsträgern. Zugleich griff er nach Herrschaftsmitteln, die auf 7 Etwa von M. Bullinger, Kommunikationsfreiheit im Strukturwandel der Telekommunikation, Baden-Baden 1980; ders., AtP 1996, I ff.; Eber/e, FS Kreile, S. 167 ff.; ders., Autbruch ins digitale Femsehzeitalter, Saarbrücken 1994. 8 Ansätze bei M. Bul/inger, Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks, Gütersloh 1999, etwa S. 15, 50 f., 86. Der Leitgedanke staatlicher Medienpolitik, die kulturelle und politische Identität und Integration von Staat und Gesellschaft zu erhalten, ist in traditionsbewußten Ländern wie Frankreich und Großbritannien stärker ausgeprägt als in Deutschland mit seinem dominierenden verfassungsrechtlichen Leitbild freier pluraldemokratischer Meinungsbildung, obwohl auch damit nicht eine abstrakte, sondern eine gebietsbezogene Vielfalt des konkreten Gemeinwesens der Bundesrepublik, ihrer Länder und Regionen gemeint ist, die deren Identität und Integration mitumfaßt (vgl. BVerfGE 73, 118, 156 ff., 158- Niedersachsen-Urteil- unter Hinweis auf M. Bullinger). Einer besonderen Betrachtung bedarf die administrative Nutzung von Techniken der Speicherung und Übertragung von Informationen als Instrumenten staatlicher Herrschaft; dazu demnächst Corne/ia Vismann, Akten, Medientechnik und Recht, rechtswiss. Diss.. Frankfurt am Main 1999. 9 Die Entwicklung vom mittelalterlichen Personenverband zum Territorialstaat vollzieht sich in vielfältigen Teilschritten und Rückschritten über Jahrhunderte und von Territorium zu Territorium unterschiedlich, vor allem zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert. Vgl. Wi//oweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975, insb. S. 121 fC; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, S. 170 ff., 185 ff

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den Menschen und die Gesellschaft innerlich integrierend wirken, um - modern gesprochen - ein Mindestmaß an Homogenität im religiösen und politischen Denken und Fühlen zu erreichen 10• Vorbei waren die Zeiten, in denen es der Erhaltung der spirituellen und säkularen Einheit diente, in der Sakristei einer Kirche das einzige verfilgbare, handgeschriebene Exemplar der Bibel anzuketten und nur unter der Aufsicht und Anleitung eines Geistlichen die Einsicht zu gestatten. Mit Hilfe des Buchdrucks, der in seiner Breitenwirkung dem Internet des ausgehenden 20. Jahrhundert vergleichbar ist, gelangten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert zunehmend auch Ideen von religiöser oder politischer Sprengkraft zu rascher Verbreitung. Deshalb suchte der Territorialstaat das neue Medium der "Presse" unter seine Kontrolle zu bringen, was nie vollständig gelang, aber auch nicht ohne Erfolg blieb: Druckereien sollten nach dem Reichsabschied von Speyer (1570) außer in Universitätsstädten und großen Reichsstädten nur in Residenzstädten und in Sichtweite der Residenz errichtet werden, damit der Landesherr die Verbreitung geflihrlicher politischer oder religiöser Schriften leicht kontrollieren und verhindem konnte 11 • Die Genehmigungspflicht für den Betrieb einer Druckerpresse und ftlr deren Erzeugnisse mußte im wesentlichen erst im I 9. Jahrhundert nach und nach liberalen Freiheitsideen weichen 12 • Zum Ausgleich wurde das neue Fernmeldewesen in staatliche Obhut genommen 13 • Dank des staatlichen Fernmeldemonopols konnte wenigstens der Telegraphen- und Telefonverkehr so reglementiert und Oberwacht werden, daß so weit wie möglich Mitteilungen ausgeschlossen waren, die dem öffentlichen Interesse zuwiderliefen 14 • Der Rundfunk, der von Anfang an wegen seiner potentiellen Massenwirksamkeit als besonders geflihrlich angesehen wurde und filr die politische und kulturelle Identität und Integration von Gesellschaft und Staat wachsende Bedeutung erlangen sollte, wurde nach 1920, zunächst in Gestalt des technisch allein möglichen Hörfunks, mit Hilfe des Fernmeldemonopols der politischen Kontrolle durch das Reich und der kulturellen Kontrolle durch die Länder unterworfen, wurde also funktionell zum Staatsrundfunk 15 • In Gestalt der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit ihrem Sendemonopol nach 1945 blieb Staatsrundfunk auch fllr das neue Fernsehen insoweit mittelbar erhalten, als die staatstragenden Parteien und Gruppen über Mitbestimmungsgremien (Rund10 Vgl. Forsthojf, a. a. 0. (FN 2) S. 11 tf. , u. a. zur Bedeutung der Souveränität des Landesherrn; Karl Ulrich Mayer/Walter Müller in Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.). Riskante Freiheiten, I. Aufl., Frankfurt am Main 1994, S. 265 tf., 271. 11 Dazu Löffler/Bullinger, Presserecht, 4. Autl. Stungart 1996, Rn. 87 zu § I LPG. 12 Vgl. Löffler/Bul/inger, a. a. 0. Rn. 86, 87. 13 Dazu Schlink. a. a. 0. (FN 6) S. 236. 14 Dazu Bullinger/Mestmäcker. Multimediadienste. Baden-Baden 1997. S. 144 f mit Anm. 418-20. 15 Vgl. M. Bu/linger, HdbStR VI § 142 Rn. 88 m. w. Nachw.

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funkräte, Verwaltungsräte) wesentlichen Einfluß auf die Stellenbesetzung und auf die Grundlinien des Programms ausüben konnten. Neben den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten wurden später eng begrenzt auch private Rundfunkveranstalter zugelassen, doch nach den Rundfunkgesetzen sogleich mit weitreichenden "öffentlichen Aufgaben" belastet. Diese enthielten unter anderem eine Verpflichtung zu gebietsbezogener Darstellung der Meinungsvielfale 6 und forderten damit auch einen Beitrag zur kulturellen und politischen Identität und Integration von Gesellschaft und Staat. Das ursprüngliche Monopol des faktischen Staatsrundfunks und der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowie später die nur begrenzte Zulassung privater Rundfunkveranstalter wurden vor allem damit gerechtfertigt, daß nicht genügend Übertragungsmöglichkeiten bestünden. Die Knappheit zu verringern, wäre technisch möglich gewesen 17• Dies lag aber, genau besehen, nicht im staatlichen Herrschaftsinteresse. Rundfunkveranstaltern lassen sich öffentliche Bindungen leichter auferlegen und von ihnen finanzieren, wenn ihnen daflir drahtlose Frequenzen oder Kabelkanäle als knappes Gut mit der Aussicht auf Oligopolgewinne zugewendet werden können 18 • Ein kostspieliger Ausbau der Kabelnetze lief ohnehin dem finanziellen Interesse der Deutschen Bundespost zuwider, solange zusätzliche Kabelkanäle von Landesmedienanstalten nach weitgehend außerökonomischen gesetzlichen Kriterien vergeben wurden 19 • Fernmeldemonopol und Frequenzverknappung als Mittel staatlicher Herrschaft über den unkörperlichen Informationsfluß sind aber an ihrem histori16 Die Rechtsprechung des BVerfG zum Gebot gebietsbezogener Vielfalt (s. o. FN 8) gilt mit der allgemeinen Abschwächung auch für private Rundfunkveranstalter. solange Rundfunk als solcher tur in hohem Maße verfassungsrechtlich gebunden angesehen wird; dazu grundsätzlich Bullinger. Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks (a. a. 0 .. FN 8) S. 38 ff.: vgl. auch Feh/ing, Die Konkurrentenklage bei der Zulassung privater Rundfunkveranstalter. 1994. S. 34 f. 103 ff. Aus den LMedGen vgl. etwa § 21 111 bwLMedG i. d. F. v. 17.3.1992. 17 Nach sachverständigen Äußerungen wäre es möglich gewesen. die UKWFrequenzen zu verdoppeln und weitere Frequenzen dadurch zu gewinnen, daß der räumliche ..Sicherheitsabstand" (wegen andernfalls auftretender Interferenzen)flir die Wiederverwendung derselben Frequenz auf das Minimum verringert worden wäre. Beides hätte allerdings eine Umstellung der Empfangsgeräte erfordert. Zu weiteren Möglichkeiten M. Bullinger. in: Mestmäcker (Hrsg.). Offene Rundfunkordnung. Gütersloh 1988, S. 45 ff., 71 . 18 Dazu Bullinger. a. a. 0. (FN 17) S. 70 tf. Vgl. nunmehr auch Holznagel. Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), Mainz 1999, S. 74 f., 123 f.. 125 f. 19 So ist es z. B. bei der Abfassung des bwLMedG nicht gelungen. die Wirtschaftlichkeit zu einem der Kriterien für die Kabelbelegung zu machen. Spuren des Bemühens finden sich in § I 0 III des Gesetzes i. d. F. v. 17.3. 1992. Inzwischen ist eine stärkere Berücksichtigung oder finanziellen Interessen des Kabelbelreibers im Gange; die bevorstehende Veräußerung der Breitkabelnetze wird ohnehin eine etwas veränderte Lage schaffen.

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sehen Ende angekommen. Das Fernmeldemonopol ist aufgehoben, nicht ohne rechtliche Nachhilfe aus BrUssel und politische Nachhilfe aus Washington 20 • Komprimierte digitale Übertragung und alternative Netze wie Gedenfalls in absehbarer Zukunft) das Internet, das weltweit Computer verbindet, schaffen eine solche Fülle von Speicher- und Übertragungsmöglichkeiten, daß sich die Annahme einer Frequenzknappheit längerfristig kaum noch aufrechterhalten läßt. Angesichts dieser "Götterdämmerung" traditioneller staatlicher Ordnungsmacht ist zu fragen, ob und wie der Staat der Informationsgesellschaft noch imstande ist, eine gesellschaftliche Kommunikation zu erhalten, die seine politische und kulturelle Identität und Integration im europäischen Zusammenhang fortdauernd bewußt werden läßt21 • Dabei geht es nicht nur um die Identität eines Nationalstaates im ganzen, sondern auch um seine Regionen; beide Ebenen behalten im Rahmen der ebenfalls kommunikativ zu pflegenden Europäischen Union ihre Bedeutung, als politische wie wirtschaftliche Faktoren einer fruchtbaren Pluralität. b) Schwinden staatsintegrierender Elemente gesellschaftlicher Kommunikation Die neuen Informationstechniken lassen die Ordnungskräfte des Territorialstaates aber nicht nur unmittelbar dadurch schwinden, daß sie Herrschaftsinstrumente wie die Frequenzverknappung in Wegfall kommen lassen (oben 2.). Denn mittelbar trägt zu diesem Schwinden territorialstaatlicher Ordnungskräfte bei, daß überindividuelle Fernsehkommunikation im "Frequenzüberfluß" aus dem knappheitsbedingten "Zwangsverband" nationalstaatlich integrierender Vollprogramme heraustritt und in ihren Sparten oder Einzelteilen weltweit zum Direktempfang angeboten werden kann. Soweit dadurch informationeil eine kommunikative "Weltgesellschaft" mit primär interessenmäßiger statt territorialer Gliederung entsteht, wird es schwieriger, staatliche und regionale Identität kommunikativ zu pflegen:

aa) Entterritorialisierung und Globalisierung Jahrzehntelang fand die tägliche kommunikative Integration der Bevölkerung in Gesellschaft und Staat22 vor allem in der Weise statt, daß sich die Be20 Dazu im einzelnen Grew/ich, Konflikt und Ordnung in der globalen Kommunikation, Baden-Baden 1997, S. 83-164, insb. S. 161 ff. 21 Diese Frage stellte sich 1987 nach der absehbaren Entwicklung des Rundfunks und rundfunkähnlicher Dienste noch nicht in voller Schärfe; vgl. Bullinger, in: Offene Rundfunkordnung, a. a. 0. (FN 17). Eindrücklich etwa nunmehr Stolte, u. FN 45. 22 Zu dieser Integration beizutragen wird von jeher als Aufgabe des (insb. öffentlichrechtlichen) Rundfunks verstanden; s. BVerfGE 31, 314, 329 (Mehrwertsteuerurteil),

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völkerung am Abend vor den Fernsehgeräten versammelte, die ein oder zwei nationale Vollprogramme zu Gesicht brachten23 • Anders als im Hörfunk wurde streng darauf geachtet, daß Fernsehsendungen nur fiir das eigene Staatsgebiet ausgestrahlt wurden, mit Ausnahme des unvermeidlichen "spill over" und vertraglich vereinbarter Überlappung der Sendegebiete. Frankreich versuchte Ende der 70er Jahre vergebens, Satelliten fiir den Fernseh-Direktempfang zwar an Saudiarabien zu verkaufen, jedoch fiir das eigene Land und fiir Europa darauf zu verzichten, um nicht die abgeschirmte kulturelle und politische Fernsehordnung kleiner Nationalstaaten in Europa zu gefährden. Mittlerweile erlauben hochleistungsfähige Satelliten und Empfangsgeräte eine nahezu weltweite Verbreitung von Fernsehprogrammen zum Direktempfang. So kann ein globaler Markt fiir Fernsehprogramme und andere audiovisuelle Produkte entstehen. Die nationale Regulierung privater Fernsehprogramme verliert auf diese Weise an Wirkung24 • Die Frage ist, ob und wie Ersatzvorkehrungen geschaffen werden können, um die Identität des in Europa eingebundenen, regional gegliederten Nationalstaates und seiner Gesellschaft inmitten eines weltweiten Marktes filr audiovisuelle GUter kommunikativ zu erhalten und damit in Europa eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Pluralität zu bewahren. Auch die nationale oder regionale Abschottung von Kabelverteilnetzen, deren Angebot von staatlichen Aufsichtsbehörden bestimmt und kontrolliert wird, geht voraussichtlich mit der digitalen Vermehrung der Kanäle und dem Aufbau konkurrierender Netze ihrem Ende entgegen. Es wird dann etwa in Freiburg möglich sein, französische audiovisuelle Darbietungen und andere Informationen, Bahn- und Theaterkarten auch über eine Verbindung zum Minitel zu beziehen, das Frankreich gegen ausländische Systeme und gegen das Internet abzuschirmen suchte und dadurch den Anschluß an die Internet-Entwicklung BVerfGE 47, 198, 225 (Parteienwerbung); vgl. auch oben FN 8. Gegen die Annahme eines verfassungsrechtlichen Integrationsauftrags Vesting, in: Holznagei/V esting, Sparten- und Zielgruppenprogramme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, insbesondere im Hörfunk, Baden-Baden 1999, S. 66 ff, allerdings verbunden mit dem (nicht unbedingt erfolgreichen) Bemühen, die "traditionelle" Integrationsfunktion doch in neuer Form nach Möglichkeit zu erhalten (S. 73 ff.). 23 Ulrich Beck (Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 213) sieht statt dessen m. E. verfrOhend das "Fernsehen" schlechthin als übernationale Standardisierung des Konsums institutionell fabrizierter Programme, weist allerdings zu Recht darauf hin, daß das Fernsehen von Anfang an den Menschen aus ,.traditional geprägten und gebundenen Gesprächs-, Erfahrungs- und Lebenszusammenhängen herausgerissen hat". 24 Neumann-Bechstein, in: Blind/Hallensberger (Hrsg.), Technische Innovation und Dynamik der Medienentwicklung, Siegen 1996 (Sonderforschungsbereich 240 der DFG), S. 106 ff., diagnostiziert eine Abnahme der Integrationskraft des Fernsehens angesichts der Vervielfachung des Angebots von Programmen und will nach anderen "Formen der Konsensproduktion" oder danach suchen, "mit wieviel Dissens wir leben können".

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verzögerte, was nach Presseberichten heute bedauert wird. Je mehr Informationsdienste im weitesten Sinne der Übertragung von Gedankeninhalten auf das Internet übergehen, dessen breitangelegter technischer und kommerzieller Ausbau bevorsteht, desto weniger lassen sich elektromagnetische Angebotssysteme rechtlich noch auf das Gebiet eines bestimmten Staates beschränken.

bb) Stückelung und Individualisierung Die Entterritorialisierung und Globalisierung von elektromagnetisch global übertragenen Informationen wird in ihrer desintegrierenden Wirkung noch dadurch verstärkt, daß Informationen wachsend nach Sparten aufgeteilt oder gar gestückelt nach individuellen Einzelwünschen angeboten werden können. Verspartung, Stückelung und Individualisierung werden dadurch ermöglicht oder doch entscheidend begünstigt, daß die Übertragungsmöglichkeiten mittels digitaler Kompression vervielfacht und alternative Netze aufgebaut werden. So treten in den digitalen Angebotspaketen zu den klassischen FernsehVollprogrammen, sofern sie überhaupt noch erhalten bleiben, zahlreiche Sparten- und Zielgruppenprogramrne, Filmangebote gegen Einzelentgelt und Abrufdienste rur Texte, später auch flir Bewegtbilder. Aus der nationalen "Versorgung" der Bevölkerung mit wenigen, staatlich und regional integrierenden Vollprogrammen wird so tendenziell ein Vertrieb audiovisueller Güter auf dem Weltmarkt, aus informationeHer "Daseinsvorsorge" ein globaler ExpressService fllr Informationen aller Art25 . Dies gilt jedenfalls für die privatwirtschaftliche Verbreitung von Informationen.

cc) Herrschaftsfreie und mittlerfreie Kommunikation aller mit allen Die Einbettung des Einzelnen in umfassend informierende nationale oder regionale audiovisuelle Programme, die ihn in Gesellschaft und Staat integrieren, verliert sich vollends im Internet. Hier erhält jeder Computerbesitzer die Möglichkeit, nicht nur weltweit nach Belieben audiovisuelle und andere Informationsangebote Dritter aufzusuchen und wahrzunehmen, sondern an dieser weltweiten Kommunikation aller mit allen selbst aktiv teilzunehmen. Er macht sich damit, wie bisher schon in der Individualkommunikation, auch bei der überindividuellen Kommunikation frei von organisierten Informationsmittlern wie den Presseorganen oder Rundfunkveranstaltern, die von staatlicher Seite funktionell in den Dienst nationaler und regionaler Identität und Integration gestellt werden können. Der weitgehend "herrschaftsfreie", "grenzenlose" Informations- und Meinungsaustausch, den

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Dazu Bullinger. Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks a. a. 0 . (FN 8). S. 48 f

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Computer-Besitzer über das Internet fiihren können, entzieht sich weitgehend nationalstaatlicher Steuerung. Gewiß werden auch im Internet voraussichtlich professionelle Informationsanbieter und Informationsmittler dominieren. Sie werden aber die individuelle und gruppenmäßige Kommunikation über alle Grenzen hinweg, die vielfach spontan zustandekommt, kaum ganz verdrängen. So bleibt ein schwer steuerbarer globaler Meinungsaustausch von Individuen und Gruppen. Er läßt möglicherweise Ansätze zu einer kommunikativen "Weltgesellschaft" entstehen und stört das herkömmlich integrierende "Selbstgespräch" der regional gegliederten "Nationalgesellschaft" als kommunikative Grundlage des Nationalstaates. Der eine oder andere Beobachter sieht darin eine Gefahrdung verfassungsrechtlich gewährleisteter Bildung der nationalen öffentlichen Meinung durch nationale politische Parteien, nationale Presse und nationalen Rundfunk, unter dem Schutz der durch Regierungen und Parlamente rechtlich gewährleisteten Ordnung26. In dieser nicht unproblematischen Sicht, die auf eine nationale Abschonung hinauslaufen könnte, kommt eine berechtigte Sorge zum Ausdruck, die Sorge um die Identität und Integration des Nationalstaates und seiner Regionen unter den Bedingungen neuer Informationstechniken.

II. Wege zu einerneuen Informationsordnung Desintegrierenden Wirkungen, die möglicherweise von den neuen Informationstechniken ausgehen, läßt sich aufverschiedene Weise begegnen: Man kann versuchen, die Entwicklung oder Nutzung der Informationstechniken als solche anzuhalten oder so zu verlangsamen, daß keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die Informationsordnung zu erwarten sind, vergleichbar einem Anhalten der Genforschung, des Klonens von Menschen oder des Betriebs von Atomkraftwerken (unten 1.)27 . Statt dessen wäre daran zu denken, der Entwicklung und Nutzung neuer Informationstechniken freien Lauf zu lassen, die elektromagnetische Übertragung von Informationen fiir jedermann im Inland aber staatlich so zu re26 In diese Richtung schien Kühnhardt zu tendieren, in seinem Vortrag auf der vom Bundesministerium fllr Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie veranstalteten Fachtagung "Macht Information - Internationale Konferenz über die Werte der Informationsgesellschaft" am 9.9.1996 im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg, Bonn; die veröffentlichte Fassung (Mut Nr. 357, Mai 1997. S. 34 ff., 36 f.) ist eher darauf gerichtet, die Notwendigkeit einer Erhaltung des nationalen politischen Wirkungszusammenhangs neben der globalen Information zu betonen. 27 Positiv zur Verlangsamung der technischen Entwicklung durch das Recht allgemein Schlink. a. a. 0. (FN 6), S. 259 f. Zur flexiblen administrativen Steuerung gentechnischer Forschung und Anwendung in Japan demnächst Saito, in: Wahl u. a. (Hrsg.), Menschen, Technologie, Umwelt.

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gulieren, daß die Identität und Integration des Staates erhalten bleiben. Dies könnte etwa in der Weise geschehen, daß allen inländischen, privaten wie öffentlichen Anbietern von Bewegtbildern auferlegt wird, einen gesteigerten Anteil nationaler Politik und Kultur zu widmen (unten 2.).

- Ein dritter Weg ließe sich darin sehen; zur Erhaltung der nationalen, regionalen oder auch europäischen Identität und Integration verstärkt öffentliche Mittel und Einrichtungen einzusetzen, in Deutschland etwa den öffentlichrechtlichen Rundfunk (unten 3.). 1. Anhalten oder Verlangsamen der Entwicklung neuer Informationstechniken

Eine identitäts- oder integrationsbedrohende Entwicklung oder Nutzung neuer Informationstechniken ließe sich vermeiden, wenn das Staatsmonopol für Telekommunikation wiederhergestellt würde. Denn zu Zeiten dieses Monopols wurde nur entwickelt und eingesetzt, was nach Auffassung des Monopolträgers der Allgemeinheit und dem Bürger frommte. Der Bundespostminister selbst äußerte Ende der 80er Jahre, die Deutsche Bundespost sei in vieler Hinsicht eine Enklave staatlicher Planwirtschaft28 . Eine solche fürsorglich-planerische Ordnung, die jeden beunruhigenden Fortschritt der Informationstechnik aufzuhalten bestens geeignet wäre, läßt sich aber nicht mehr leicht wiederherstellen. Denn Art. 87 f des Grundgesetzes garantiert nunmehr eine privatwirtschaftliche Struktur der Telekommunikation29. Brtissel und Washington drängen eher darauf, den marktwirtschaftliehen Wettbewerb noch effektiver freizugeben. Ohnehin geht das Bestreben der Verantwortlichen in der Bundesrepublik dahin, der Entwicklung und Nutzung der Informationstechnik weitgehend freien Raum zu lassen, um die Informationswirtschaft zu fördern, die in wachsendem Umfang zum Bruttosozialprodukt beiträgt und eine Spitzenstellung einzunehmen beginne0 • Bei der Sicherung staatlicher Identität und Integration geht es auch nicht darum, wie etwa bei der Frage weiterer Nutzung der Atomkraft, untragbare Risiken der Technik ftlr den Menschen zu vermeiden. Auf dem Spiel stehen Formen der Sicherung staatlicher Identität und Integration, die sich historisch auf einem bestimmten Stande der Informationstechnik entwickelt haben und angesichts neuer Informationstechniken angepaßt oder ersetzt werden müssen, 28 Auf einer Sitzung seines rechtswissenschaftliehen Beraterkreises. 29 Damit ist zwar das Staatsmonopol noch nicht ausdrücklich aufgehoben; es ließe

sich aber kaum mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten privatwirtschaftliehen Struktur der Telekommunikation vereinbaren; vgl. etwa Lerche in M/0, GOKommentar, Art. 87 f Rn. 54 f. 30 So Middelhoffauf den Kölner Medientagen 1999. Vgl. auch oben FN I.

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wenn man nicht einen grundlegenden Wandel von Staat und Gesellschaft in Kaufnehmen will.

2. Integrationssichernde Regulierung des Informationsangebots Den alternativen Weg, die staatliche Regulierung so zu gestalten, daß die neuen Informationstechniken jedenfalls rur die nächsten Jahre die staatliche Identität und Integration noch nicht in Frage stellen, suchen vorerst etwa Frankreich und Großbritannien zu beschreiten. Sie vergeben Fernsehfrequenzen weiterhin restriktiv nur an einen kleinen Kreis von nationalen Veranstaltern, die durch verschärfte Auflagen zur Darstellung nationaler kultureller und politischer Identität verpflichtet werden. Ausländische Veranstalter werden möglichst ferngehalten 31 • In Großbritannien ist sich allerdings der zuständige Ausschuß des Unterhauses darüber im klaren, daß die nationale Kommunikationsordnung auf längere Sicht nicht gegen den digitalen Weltmarkt mit audiovisuellen Gütern abgeschirmt werden kann. Er strebt deshalb an, rur den späteren globalen Markt ein neues Konzept zu entwickeln, das eine weitgehende Deregulierung der privaten Informationswirtschaft durch verstärkte Gemeinwohlbindungen der öffentlichen Informationseinrichtungen ausgleichen soll (s. u. III). In der Bundesrepublik müßte sich eine staatliche Politik, die trotz technischer Möglichkeit globaler Direktverbreitung von Informationen auf Dauer eine nationale Abschottung vor allem des publikumswirksamen Fernsehens beizubehalten suchte, an den Verfassungsgarantien messen lassen, die individuelle und gesellschaftliche Freiheiten verbürgen, wie zumindest teilweise auch im Rundfunk. Eine nationale Teii-Abschottung ließe sich möglicherweise rechtfertigen, wenn eine gebietsbezogene Darstellung der Meinungsvielfalt auf andere Weise überhaupt nicht erreichbar wäre. Dies ist aber nicht der Fall.

3. Integration mit Hilfe vorbildgebender öffentlicher Einrichtungen Der Staat der Informationsgesellschaft ist in der Lage und auf längere Sicht wohl auch genötigt, seine kommunikative Selbsterhaltung im wesentlichen nicht mehr direkt durch Befehl und Zwang gegenüber privaten Informationsanbietem, d. h. durch hoheitliche Herrschaft über die gesellschaftliche Nutzung der Informationstechnik zu betreiben, sondern indirekt dadurch, daß öffentliche

31

s. 67.

Vgl. etwa Bullinger, Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks, a. a. 0. (FN 8),

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oder öffentlich finanzierte Einrichtungen zu vorbildhaft integrierendem Informationsverhalten verpflichtet oder in anderer Weise veranlaßt werden 32 • Der Staat kann einmal eigene Einrichtungen wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verstärkt dazu anhalten, Staat und Gesellschaft in ihrer kulturellen und politischen Eigenart und Vielfalt darzustellen und damit zu integrieren. Zusätzlich können für private Einrichtungenfinanzielle Anreize wie etwa Preise für vorbildliche Produktionen geschaffen werden, die sie veranlassen, freiwillig identitäts- und integrationserhaltende Kommunikationsleistungen zu bieten, die zwangsweise und ohne Gegenleistung aufzuerlegen angesichts des globalen Wettbewerbs eine unzumutbare Belastung bedeutete. Der zuständige Ausschuß des britischen Unterhauses hat bereits Überlegungen in dieser Richtung angestelle 3• Dies bedeutet nicht und darf zumindest nach deutschem Verfassungsrecht nicht bedeuten, die politischen Instanzen des Staates oder seine Verwaltung zu dominierenden Teilnehmern an der Bildung einer öffentlichen Meinung werden zu lassen, die sich in einer pluralen Demokratie frei aus der Gesellschaft heraus entwickeln und deren Auffassungsvielfalt wiedergeben soll. Ein politischer Staatsrundfunk und eine politische Staatspresse als Instrumente kommunikativer staatlicher Herrschaft bleiben ausgeschlossen 34 • Worum es geht, ist die Sorge dafür, daß nicht unter dem Einfluß neuer Informationstechniken die überindividuelle Kommunikation völlig globalisiert wird, jeden Gebietsbezug zu Staat und Regionen verliert, damit nicht mehr deren kulturelle und politische Eigenart und Vielfalt wiederspiegelt und so nicht zur Erhaltung einer pluralen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung beiträgt. Wird autonomen staatlichen oder staatlich geförderten öffentlichen Informationseinrichtungen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten diese Aufgabe identitäts- und integrationssichernder gebietsbezogener Vielfaltpflege aufgetragen, ist nur eine gewissermaßen immanente Bindung zur Geltung gebracht, ohne daß unzulässige politische Steuerung betrieben würde. Im einzelnen sind bei diesem Übergang von direkter staatlicher Herrschaft über Informationstechnik und Informationswirtschaft zu indirekter Identitäts32 Solche indirekte Steuerung durch vorbildgebendes staatliches Verhalten wird auch sonst eingesetzt, etwa auf dem Gebiet des Umweltschutzes (s. auch u. mit FN 38). 33 Dazu näher Bullinger, Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks, a. a. 0 . (FN 8}, S. 65 f., 74 f. mit Nachw. 34 Zum verfassungsrechtlichen Ausschluß einer politischen Staatspresse und zu den Schranken staatlicher Öffentlichkeitsarbeit Löjjler/Bullinger, Presserecht 4. Aufl. § I Rn. 43 ff. Dieselben Erwägungen gelten erst recht flir den Rundfunk (BVerfGE 12, 205, 260 ff.; weitere Hinweise bei Gersdorf, Staatsfreiheit des Rundfunks ... , Berlin 1991) und andere "elektronische" lnformationsdienste. Die Einzelfragen werden allerdings möglicherweise im Blick auf eine mehr und mehr presseähnliche Struktur der "elektronischen" Information zu Oberprüfen sein.

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und Integrationspflege zwei Vorgänge zu unterscheiden: die Entlassung privater Informationseinrichtungen in den globalen Markt und die Verstärkung der Identitäts- und Integrationspflege durch öffentliche Informationseinrichtungen. a) Entlassung der privaten Anbieter in den Markt Der Staat der Informationsgesellschaft kommt auf Dauer nicht umhin, die Nutzung neuer Informationstechniken durch die Informationswirtschaft weitgehend in den Markt zu entlassen. Mit der Telekommunikation und den nichtrundfunkmäßigen Mediendiensten ist in der Bundesrepublik bereits der Anfang gemacht worden35 • Rundfunk wird zwar rechtlich immer noch im ganzen als Träger einer weitreichenden "öffentlichen Aufgabe" verstanden, auch soweit er nicht von öffentlich-rechtlichen Anstalten mit weitgehender Gebührenfinanzierung, sondern von privaten Unternehmen betrieben und aus Werbeeinnahmen oder Entgelten am Markt finanziert wird36 • Privater Rundfunk gerät aber faktisch immer stärker in die Notwendigkeit hinein, sich in einem weltweiten Wettbewerb um Publikum, Werbeinteressenten oder zahlende Abnehmer zu behaupten, an dem ausländische Anbieter ohne ebenso weitreichende nationale Bindungen teilnehmen. Der Staat der Infonnationsgesellschaft kann an nationalen Bindungen seines eigenen privaten Rundfunks, die über den weltweiten Standard hinausgehen und trotzdem unentgeltlich zu erflillen sind, kaum auf Dauer festhalten, ohne den privaten Unternehmen ihre Entfaltungsmöglichkeiten im globalen Wettbewerb zu beschneiden. Für fest etablierte Programme mit sprachlich und inhaltlich nationaler Prägung mag zunächst noch etwas anderes gelten, solange hier der globale Wettbewerb noch nicht voll greift. Die privatwirtschaftliehen Informationsanbieter von der nationalen öffentlichen Aufgabe freizustellen, die politische und kulturelle Identität des Staates und seine Integration in Vielfalt zu pflegen, bedeutet nicht etwa, diese privaten Anbieter in die völlige Freiheit ohne rechtliche Bindungen zu entlassen. Inhaltliche Standards etwa des Jugendschutzes müssen erhalten, möglichst weltweit vereinheitlicht und durch den Anreiz zu effektiver Selbstkontrolle ergänzt werden. Hinzutreten müssen nationale wie übernationale Sicherungen dagegen, daß der Zugang fiir neue Wettbewerber versperrt wird ("Offenheitsptlege"), etwa 35 Zur Telekommunikation Art. 87 f II GG i. V. m. dem TKG vom 25.7.1996, BGBI. I, 1120. Zu den von Bund und Ländern koordiniert freigegebenen Mediendiensten vgl. Engei-Fiechsig!Maenne/!Tettenborn, Neue gesetzliche Rahmenbedingungen flir Multimedia, Heidelberg 1997. Die Vorüberlegungen werden deutlich aus Bu/Jinger!Mestmäcker, Multimediadienste, Baden-Baden 1997. Vgl. auch Gounalakis, NJW 1997,2993 ff.; Roßnagel, NVwZ 1998, I ff.; Hochstein, NJW 1997, 2977 ff. 36 Dazu Bu/Jinger, a. a. 0. (FN 8), S. 38 ff.

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dadurch, daß Großanbieter die zahlreichen Informationskanäle flir ihre Angebotspakete belegen37 • Im übrigen aber verbietet es sich fiir den Staat der Informationsgesellschaft auf längere Sicht, inmitten der stürmisch voranschreitenden Differenzierung der Informationstechniken und ihrer wirtschaftlich zunehmend bedeutsamen kommunikativen Nutzung einen Bereich des "Rundfunks" auszusparen, in dem noch in althergebrachter Weise unmittelbar, durch Monopolisierung oder zwangsweise Regulierung, staatliche Herrschaft über die Technik und deren wirtschaftliche Nutzung geübt wird, um die Identität und Integration von Staat und Gesellschaft zu sichern. Damit würde in einem zentralen Anwendungsbereich der Erfindungsreichtum des Wettbewerbs geschwächt und eine durchgehend flexible Gestaltung des Informationsangebots blockiert. Dies wiederum könnte lähmend auf die technische Entwicklung zurückwirken. So muß versucht werden, anstelle traditioneller Direktherrschaft über die Entwicklung, Anwendung und wirtschaftliche Nutzung der Informationstechnik Instrumente indirekter Einflußnahme zu finden, um die Identität und Integration von Staat und Gesellschaft zu sichern. Der Übergang von direkter zu indirekter Steuerung entspricht ohnehin der neueren Entwicklung des modernen Staates38 • b) Integrationserhaltende Techniknutzung als Aufgabe öffentlicher oder öffentlich finanzierter Einrichtungen Nach dem Abzug der privaten Informationsanbieter in den Markt verbleibt dem Staat der Informationsgesellschaft die Einwirkung auf Informations-, Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, die ganz oder teilweise aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, um die Erhaltung der Identität und Integration von Gesellschaft und Staat auch im Wirkungsbereich der neuen Techniken verläßlich zu einem maßgeblichen Handlungsziel zu machen. Aus der direkten staatlichen Herrschaft über die Informationstechnik und ihre Anwendung wird so deren indirekte Steuerung. 37

Dazu M Bullinger, ZUM 1997, 281 ff., 291 ff., 298 ff.; Engel, ZUM 1997,

s. 309 ff.

38 Allgemein dazu etwa Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981; ders., VerwArch 78 (1987), S. 241 ff.; Jürgen Becker, DÖV 1985, 1003 ff.; Dreier, Informales Verwaltungshandeln, Staatswiss. und Staatspraxis 4 ( 1993), S. 647 ff., 656; Eberle, Die Verwaltung 1984, 439 ff. Speziell zur indirekten Steuerung privaten Verhaltens durchs die vorbildhafte Tätigkeit öffentlicher Einrichtungen vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl., 1998, Rn. 379 ("Vorbildwirkung ·freiwilliger Mehr- und Pionierleistungen durch Staat und Kommunen"); Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 1984, S. 52 (mögliches Unternehmensziel die "Anregung der privaten Wirtschaft durch Beispiel und Pionierleistung").

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Die öffentlichen oder öffentlich finanzierten Informationseinrichtungen genießen allerdings vielfach, wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Universitäten, eine verfassungsrechtlich gesicherte Autonomie oder, wie öffentliche Theater, zumindest eine gewisse Selbständigkeit. Dies dient nicht nur dazu, die Bildung der öffentlichen Meinung in einer pluralen Demokratie von politischer Lenkung freizuhalten, sondern auch dazu, daß die öffentlichen Informationseinrichtungen ihre öffentlichen Aufgaben in schöpferischer künstlerischer, pädagogischer oder wissenschaftlicher Eigenständigkeit wirkungsvoller versehen können als unter der Einzelsteuerung durch büromäßig tätige Amtsträger. Diese rechtliche oder faktische Selbständigkeit gilt aber nur im Rahmen und zur Erfullung der öffentlichen Aufgaben, die, soweit erforderlich und legitim, durch staatliche oder staatlich mitbestimmte Ordnungen näher bestimmt werden. Zu diesen Aufgaben gehört es ausgesprochen oder unausgesprochen, die grundlegende Identität und Integration von Gesellschaft und Staat zu wahren39• In Art. 5 III GG kommt dies etwa mittelbar zum Ausdruck, wenn es heißt, die Freiheit der Lehre entbinde nicht von der Treue zur Verfassung. Für die öffentlich finanzierten Informations-, Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen bedeuten die neuen Informationstechniken eine besondere Herausforderung. Auf der einen Seite müssen sie die neuen Techniken nutzen und deren Nutzung weiterentwickeln, um nicht zu veralten und so ihren Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden. Auf der anderen Seite dürfen sie sich nicht einfach allen Nutzungstrends hingeben, die durch die neuen Techniken ausgelöst oder verstärkt werden und sjch als publikumswirksam erweisen, aber ihren Aufgaben nicht entsprechen. So kann die Universität ihre Aufgabe nicht darin sehen, mit Hilfe neuer Inforrnationstechniken isoliertes berufliches Spezialwissen einzelnen Studenten oder Gruppen von Studenten so rasch wie möglich in "Lemlabors" (nach Art der Sprachlabors mit Abspielgeräten und Kopfhörern) zu vermitteln und in eng begrenzten Fachprüfungen abzufragen. Statt dessen muß die Universität gegensteuernd unter Nutzung der neuen Informationstechniken die Einsicht in die Zusammenhänge vermitteln, zu den Grundfragen vordringen und die Studierenden in Arbeitsgruppen aktiv an der Suche nach neuen Erkenntnissen teilhaben lassen. Nur so kann sie ihnen die Fähigkeit vermitteln, in der Informationsgesellschaft den steigenden Ansprüchen an selbständiges, innovatives Denken zu genügen40, ohne das auch die neuen Informationstechniken selbst nicht weiterfuhrend genutzt werden können. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten müssen anders als private Rundfunkveranstalter davon Abstand nehmen, ihr Gesamtangebot mit Hilfe der 39 Dazu ftlr den öffentlich-rechtlichen Rundfunk näher Bullinger, a. a. 0. (FN 8), S. 15 ff., 23 ff., 77 ff., 83 ff. , 99 ff. , I 04 ff. 40 Vgl. M. Bullinger, JZ 1998, I 09 ff., 110 ff.

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neuen Informationstechniken vollständig in gleichzeitig einschaltbare oder abrufbare Teilstücke zu zerlegen, selbst wenn sich damit Abnehmer und Einnahmen maximieren ließen. Denn die Rundfunkanstalten sollen vorbildhaft gebietsbezogen die gesamte Vielfalt ftir alle darstellen. Die darin liegende lntegrationsaufgabe wird nicht mehr wahrgenommen, wenn an Stelle der klassischen Vollprogramme unzählige Parallelangebote treten, aus denen sich jedermann sein "Informationsmenu" zusammenstellen muß. Querverweise und Suchhilfen dürften kaum ausreichen, um ein hinreichend integrierendes Gesamtangebot herzustellen41 • So sollten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten von sich aus anbieten, integrierende Vollprogramme beizubehalten und sie mit Hilfe der neuen Techniken zu ergänzen, nicht aber abzulösen. Dies bedeutet nicht, daß eine integrierende und identitätswahrende Nutzung der neuen Informationstechniken nur von öffentlichen Einrichtungen zu erwarten wäre. Wichtige Beiträge dazu wird auch der Markt beisteuern, solange sie wenigstens mittelfristig Erträge versprechen. Der Zeitungsmarkt und z.T. der Buchmarkt sind dafür gute Beispiele. Will aber der Staat die Sicherheit gewinnen, daß mit den neuen Informationstechniken dauernd und selbst bei Unrentabilität identitätsherstellende und integrierende Informationsleistungen erbracht werden, wird er sich stärker noch als bisher auf seine eigenen und die von ihm finanziell geförderten privaten Einrichtungen stützen müssen. Dabei geht es speziell beim Rundfunk nicht nur darum, daß die öffentlichen Einrichtungen selbst identitäts- und integrationserhaltende Programme anbieten. Ihre Vorbildfunktion soll vielmehr dazu beitragen, daß auch private Anbieter ihrem Beispiel bis zu einem gewissen Grad folgen müssen, soweit sie andernfalls ihr Ansehen aufs Spiel setzen und damit werberelevantes oder zahlendes Publikum verspielen. Diese "Marktwirksamkeit" der Vorbildfunktion wird besonders im McKinsey Report fllr die BBC vom Januar 1999 hervorgehoben42. Danach zeigen die Erfahrungen in anderen Ländern wie etwa in Portugal, daß die öffentlichen Rundfunkeinrichtungen, wenn sie im Wettbewerb um Werbeeinnahmen der Versuchung einer Angleichung an erfolgreiche private Programme erliegen, eine allgemeine Spirale des Niveauverlustes ("spiral of decline") einleiten, weil die privaten Anbieter nun ihrerseits ihr Niveau senken können, ohne allzusehr von einem allgemeinen Standard abzuweichen. Umgekehrt stabilisieren und steigern öffentliche Rundfunkeinrichtungen das Gesamtniveau in einer "Tugendspirale" ("virtuous circle"), wenn sie ihr anspruchsvolles Programm halten oder anheben, vorausgesetzt, daß sie auch ein breites Publikum mit Sendungen von hohem Niveau zu interessieren wissen (Schwedi41

Vgl. demgegenüber Vesting, a. a. 0. (FN 22).

42 Public service broadcasters around the world, insb. S. 15 ff.

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sches Beispiel) und dank adäquater Finanzierung (am besten aus Gebühren) aufrechterhalten können, statt durch eine auch nur teilweise Abhängigkeit von Werbeeinnahmen wachsendem Druck in Richtung auf massenattraktive Durchschnittsprogramme ausgesetzt zu sein. Somit fällt den öffentlichen Rundfunkeinrichtungen eine doppelte Verantwortung zu: einmal flir das eigene Angebot und zum zweiten flir die Qualität des Gesamtangebots43 • So erwachsen flir die öffentlichen Infonnationseinrichtungen gesteigerte öffentliche Aufgaben. Sie rechtlich zu verdeutlichen, könnte sich als unerläßlich erweisen, sollte aber nach Möglichkeit nicht zu einer detaillierten Regelung fUhren. Denn sie könnte die Eigeninitiative zu flexibler Anpassung lähmen, Autonomie ihrer schöpferischen Wirkungen berauben. Der Verzicht auf eine detaillierte staatliche Regelung setzt aber die Bereitschaft der öffentlichen Einrichtungen voraus, ähnlich wie die BBC Projekte filr eine aufgabengerechte Nutzung der ne.uen Informationstechniken selbst zu entwickeln, der demokratischen Öffentlichkeit zu unterbreiten, ihre Reaktion zu berücksichtigen und das Ganze in autonome Regeln umzusetzen 44 • Die bisherigen Erfahrungen sind nur begrenzt ermutigend45 •

43 Diese "dynamische;' Sicht der Rolle des öffentlichen Rundfunks im McKinseyBericht, die der Auffassung innerhalb der BBC entspricht, unterscheidet sich vom eher statischen Ergänzungsmodell von Vesting (Prozedurale Rundfunkfreiheit, Baden-Baden 1997, S. 169 ff., im Anschluß an Hoffmann-Riem): öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunk bildeten eine "wechselseitige Ausgleichsreserve'·; der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei nicht wegen besonderer Leistungen geschützt. sondern deshalb, weil man nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einer Sicherung kultureller Vielfalt allein durch private Veranstalter ausgehen könne. Vollends undynamisch erscheint im Vergleich zum McKinsey-Report die deutsche Verfassungsdoktrin, der auf Massengeschmack verengte private Rundfunk sei zulässig, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk das gesamte Meinungs- und Interessenspektrum abdecke; dazu vgl. A. Hesse, Rundfunkrecht, 2. Aufl., I 999, S. 120. 44 Diese Bereitschaft hat die BBC mit Erfolg eingesetzt, um einen drohenden Verlust ihrer fast reinen Gebührenfinanzierung abzuwehren; dazu näher Bullinger, a. a. 0. (FN 8), S. 69 ff. 45 Eine Ausnahme bildet die Grundeinstellung des ZDF, das unter seinem Intendanten Stolte in seinen Vorüberlegungen ähnlich wie die BBC eine aktive Vorwärtsverteidigung der Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einer starren Verteidigung seiner einzelnen Positionen vorzieht; dazu etwa Stolle, Menschcndämmerung? - Perspektiven der Mediengesellschaft für das 21. Jahrhundert, in: Würtcle (Hrsg.), Zukunn als Aufgabe, Bd. 2, I998, S. 35 I ff., insb. S. 362 ff., 364; weitere Hinweise bei Bul/inger, a. a. 0. (FN 8), S. I 7 mit Anm. I 3. Dies wird auch aus dem Rechtsgutachten deutlich. das I/obnagel für das ZDF erstellt hat (Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens [ZDF], Mainz April 1999).

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111. Abschließende Überlegungen Der Staat der Informationsgesellschaft steht also angesichts der raschen Entwicklung der Informationstechnik mit seiner Rechtsordnung vor einer schwierigen Doppelaufgabe. Auf der einen Seite muß er die Nutzung und Weiterentwicklung der neuen Informationstechniken durch die heimische Informationswirtschaft, deren Gedeihen für ihn essentiell ist, von der Last unzumutbar wettbewerbshemmender öffentlicher Aufgaben freistellen und ihr Funktionieren rechtlich erleichtern, etwa durch Einführung der elektronischen Signatur46 • Insoweit stellt er sich sozusagen als rechtliche "Servicestation" seiner Informationsgesellschaft47 und ihrer vorwärtsdrängenden Informationstechnik dar. Auf der anderen Seite darf er sich, will er "Staat" im Sinne einer politischen und kulturellen Einheit bleiben, nicht mit der Servicefunktion begnügen. Er muß seine Identität als politisches und kulturelles Gemeinwesen mit höchster Bestimmungsmacht im Rahmen einer pluralen europäischen Ordnung wahren, die Identität und Integration der Gesellschaft erhalten und diese Ziele auch bei der Nutzung der neuen Informationstechniken zur Geltung bringen. Dies kann er aber nicht mehr, wie in früheren Epochen, durch eine Herrschaft über die Informationstechniken und ihre gesellschaftliche Nutzung erreichen, da die Einschränkungen verfassungsrechtlich gewährleisteter Freiheiten nicht mehr mit technischen Gegebenheiten gerechtfertigt werden können und die Informationswirtschaft außerdem um ihres wohlstandsfbrdemden Gedeihens willen und unter europäischem wie internationalem Einfluß dem Markt überlassen werden muß. An die Stelle direkter Herrschaft müssen indirekte Steuerungsinstrumente treten, vor allem der vorbildhafte Einsatz eigener staatlicher oder öffentlich finanzierter Einrichtungen, etwa der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Universitäten. Deren Autonomie sollte dabei in schöpferische Initiativen umgesetzt werden, um eine problembehaftete staatliche Detailregelung zu vermeiden. Dies stellt hohe Ansprüche an die Flexibilität und Steuerungskraft der technikanwendenden Informationsgesellschaft.

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Bundesrechtlich geregelt durch das Gesetz zur digitalen Signatur, erlassen als

Art. 3 des Informations- und Kommunikationsdienstegesetzes vom 22.7.1997, BGBI. I S. 1870. Dazu Engel-Flechsig/Maennei!Tettenborn, a. a. 0 . (FN 36), S. 29 ff.; dies.,

NJW 1997,2981 ff., 2988 ff. 47 Ähnlich Forsthoff, a. a. 0. (FN 2), S. 43, 164 f.: Staatlichkeil als Komplementärfunktion zur Industriegesellschaft

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Bul/inger, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhl für Verwaltungs- und Verfassungsrecht mit den Schwerpunkten Wirtschafts- und Medienrecht, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren sowie Rechtsvergleichung, 79085 Freiburg Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Wolfram Fischer, Freie Universität Berlin, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Institut fllr Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte, Hittorfstr. 2-4, 14195 Berlin Pro( Dr. Bernd Holznagel, LL.M., Westfiliisehe Wilhelms-Universität Münster, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Institut fllr Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht, Universitätsstraße 14-16, 48143 Münster Prof. Dr. Michael Kloepfer, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl fllr Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht, Umweltrecht, Finanzrecht und Wirtschaftsrecht, Forschungszentrum Technikrecht, Unter den Linden 9-11 (Palais), 10099 Berlin Prof. Dr. Rainer Pitschas, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Lehrstuhl fllr Verwaltungswissenschaft, Entwicklungspolitik und Öffentliches Recht, Freiherr-vom-Stein-Sir. 2, 67324 Speyer Prof. Dr. Karl-Otto Scherner, Universität Mannheim, Lehrstuhl fllr Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte, Schloß Westflügel, 68131 Mannheim Prof. Dr. Martin Schulte, Technische Universität Dresden, Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt- und Technikrecht, 1nsitut fllr Technik- und Umweltrecht, Bergstraße 53, 01069 Dresden Dr. Mi/os Vec, Max-Planck-lnstitut fllr Europäische Rechtsgeschichte, Leiter der Wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe "Recht in der Industriellen Revolution", Postfach 93 02 27, 60457 Frankfurt